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Theologische Skizzen

von Heinrich Westphalen


Diese theologischen Skizzen sind entstanden auf Grund einer intensiven Beschäftigung
mit der Theologie. Gleichzeitig sind sie auch Ausdruck einer Suchbewegung und eines
Unbehagens an meiner bisherigen Sichtweise.

Ihren eigentlichen Bezugspunkt haben sie jedoch in vielen gemeinsamen Gesprächen und
auch kontroversen Diskussionen im Freundeskreis.
Dies ist der Ausgangspunkt und daraus entstand die Motivation, Gedanken zu einzelnen
Themenbereichen der Theologie auch einmal schriftlich zu fixieren.
Damit erheben diese Skizzen keinen Gültigkeitsanspruch, sicher auch nicht den Anspruch
theologisch immer korrekt zu sein. Sie stellen einen Versuch dar, der zum mitdenkenden
Nachdenken einladen soll.

1
Was kann ich glauben?
oder
Was Ich glauben kann?

Einleitung

Gleich zu Beginn eine Frage zu stellen, bedeutet das nicht, gleich das Thema selbst in
Frage zu stellen? Eine Einleitung mit einer Frage zu beginnen, ist immer ein mehr als
fragwürdiges Unterfangen. Gibt es denn überhaupt – so kann man einwenden – bei dem
Thema Glauben etwas zu fragen und wenn man den Glauben befragt, lässt sich damit
auch eine Frage beantworten? Gibt der Glaube seinerseits denn eine Auskunft über
wesentliche Fragen, kann Glaube das leisten? Kann der Glaube heute auf Fragen noch
entscheidende Antworten geben, da er selbst zutiefst fragwürdig geworden ist? Oder ist
der Glaube immer noch ein fragloser Glaube? Ein fragloser Glaube, der ohne ein Fragen
auskommt, der keine Fragen mehr stellt, auch so kann ein fragloser, weil fester Glaube
sein.

Wenn der Glaube aber nun einmal – so die These der Moderne – selbst fragwürdig
geworden ist, heißt das, dass es sich denn nicht mehr lohnt über den Glauben Fragen zu
stellen in der Hoffnung eine Antwort zu bekommen? Zeichnet es nicht den Glauben
vielmehr aus, dass man ihn befragen kann und dass er sich in Frage stellen lässt? Ist es
gerechtfertigt über den Glauben nachzudenken und bringt das Nachdenken über den
Glauben etwas? Und was kann dieses Etwas sein, eine Einsicht oder eine Zuversicht oder
nur eine andere Sichtweise?

Fragen über Fragen, die sich schon in der Einleitung aufdrängen, die aber gleichwohl
mitten in das Thema Glauben einführen. Auf diesem Hintergrund lautet meine erste
Frage: was kann ich glauben oder was ich glauben kann. Diese erste Frage hat zwei
Seiten, zwei Richtungen, zwei Pole: einmal richtet sich die Frage auf das, was kann ich
glauben und zum zweiten richtet sie sich auf das Ich, indem gefragt wird: was ich
glauben kann. Vorausgesetzt ist hierbei, dass es so etwas wie einen Glauben gibt.
Glauben wird hierbei als ein Überzeugtsein bestimmt, welches auf Vertrauen basiert. Die
Religiosität des Menschen, die in seinem Selbstbewusstsein wurzelt, ist Bedingung der
Möglichkeit für den Glaubensakt als Anerkennungs- und Zustimmungsakt.1 Aus dieser
Religiosität als Gefühl, als Deutungsperspektive, als Existenzweise und als Haltung des
Subjekts erwächst Religion, sie entspringt dem Selbstvollzug des Menschen als
bewusstes Leben, indem er sich transzendiert auf das Unbedingte hin, von dem er sich
verdankt fühlt.2 Religion ihrerseits ist im Unterschied zur Religiosität, was aus der
Religiosität erwächst- gelebte Religiosität. Somit ist es die kulturelle Praxis und der

1 Wendel, Saskia Offenbarung als Selbstmitteilung Gottes 2008- Vorlesung


2 Wendel, Saskia. Religiosität und Religion 2006

2
kulturelle Kontext, die materialiter Religion bestimmt und sie inhaltlich füllt. Somit wird
davon ausgegangen,dass der Glaube im Sinne einer universalen Religiosität zum
Menschen gehört und dass er eine anthropologische Konstante ist. Der Mensch glaubt,
auch wenn er nicht glaubt, denn er ist religiös musikalisch. Dieses Glauben-Können ist
die Bedingung der Möglichkeit, um überhaupt über den Glauben sprechen zu können und
ihn zu befragen.

Die gestellte Frage: was kann ich glauben, bezieht sich auf den Glaubensinhalt oder
theologisch gesprochen fides quae creditur und die zweite zielt auf mich als Person und
fragt hier explizit nach meinem Glauben, genauer die fides qua creditur, wodurch ich
glaube. So sind einmal die Glaubensinhalte zu benennen und zum anderen ist zu fragen,
welche Glaubensinhalte denn meinen Glaubensinhalt wesentlich ausmachen, welche ihn
fundieren, worin und worauf er sich gründet? Für jede dieser beiden Fragestellungen gilt
es Kriterien aufzuzeigen und diese zu werten, um dann festzulegen, welche dieser
Kriterien für das Glauben-Können eines Glaubensinhaltes entscheidend sind, um dieses
Glauben-Können als Glauben zu kennzeichnen. Und zum zweiten gilt, ob sich denn für
dieses Glauben-Können auch belastbare Kriterien finden lassen, die es ermöglichen dann
von meinem Glauben-Können zu sprechen. Und dies im Sinne einer antwortenden
Zustimmung, diesen Glaubensinhalt beantwortend. In diesem doppelten Kontext steht die
Frage: „Kann ich das glauben?“

Der Mensch ist angewiesen auf eine Hoffnung, auf ein Sich- Einlassen, auf Vertrauen, so
könnte man den Glauben biblisch beschreiben, gleichzeitig ist er ausgelegt auf eine
Selbsttranszendenz, ein Hinaus langen über sich selbst. Dies ist die Weiterführung der
ersten These von der allgemeinen Religiosität. Im Zusammenspiel von Glaubensinhalt
(fides quae) und Glaubensakt (fides qua) gibt es ein Voraussetzung für das persönliche
Glauben-Können. Glauben-Können stellt die Frage nach der Zustimmungsfähigkeit der
Glaubensinhalte, die in der jeweiligen personalen Entscheidung zum Glauben führen
können. Diese dann in Freiheit gegebene bejahende Zustimmung zum Glauben ist die
Voraussetzung für die fides qua. Eine weitere Voraussetzung ist aber auch der Wille zum
Glauben selbst und gleichzeitig die Gnade, die zum Glauben führt.

Der Glaube, das Zusammenspiel der beiden fides quae creditur und fides qua creditur hat
immer entscheidend mit dem jeweiligen Ich, dem Glaubenssubjekt zu tun. Das Subjekt
kann muss sich nicht zum Glauben entscheiden, es kann diesen Glauben auch
zurückweisen, ihn ablehnen. Darin besteht die Freiheit des Subjekts. Und genau dies
meint dieses Kann. Dieses in Freiheit entscheidende Subjekt ist die Bedingung und
gleichzeitig die Voraussetzung für den Glauben, denn es gibt keine Verpflichtung zum
Glauben. Auf der anderen Seite handelt es sich beim Glauben-Können, wenn denn der
Glaube in Zustimmung angenommen wird um eine Selbstaussage des Glaubenssubjekts.
Diese Selbstaussage ist aber nur erfahrbar aus der Selbstmitteilung des Glaubenssubjekts,
indem dieses auf einen Glaubensinhalt eine Antwort gibt. Und diese Glaubens-Antwort
wird sprachlich und handelnd vermittelt, seine Antwort wird hörbar und aus der
Handlung ersichtlich. So antworte ich in einer Glaubensaussage, die eine Aussage über

3
meine Person ist und gleichzeitig beziehe ich mich antwortend auf die Glaubensinhalte,
die ich gehört habe. Ich sage also gleichzeitig etwas über den Glaubensinhalt und mich
als Person aus. Es verbleibt dennoch eine Spannung zwischen dem jeweiligen
Glaubensinhalt und Person. Denn nicht jeder Glaubensinhalt zeigt eine
handlungsbezogene Relevanz, denn manche Glaubensinhalte sind in der Hierarchie der
Wahrheiten peripher und damit für einen Handlungskontext nicht erheblich (Beispiel
Engel). Dagegen lassen sich die Kernwahrheiten des Glaubens nicht ablehnen, denn dann
wäre die betreffende Person nicht glaubend.

Demnach bleibt festzuhalten, dass es Grundbedingungen für den Glauben gibt: die
allgemeinen Religiosität, die Selbsttranszendenz des Menschen, seine Freiheit, die
Zustimmungsfähigkeit zum Glaubensinhalt, der Wille zum Glauben und die Gnade.

Das (glaubende) Ich

Damit stellt sich die Frage nach dem Ich in dem Satz: Was ich glauben kann. Im Zentrum
dieser Frage steht also das Ich. Es wird ein Ich vorausgesetzt, ein Ich, das einmalig und
unvertretbar ist und das sagt: Ich bin ich. Und insofern der Mensch sich aus der
Ichperspektive beschreibt ist er Subjekt. Sofern er sich aber aus der
Beobachterperspektive beschreibt ist er Person. 3Subjekt- sein bedeutet ein Bewusstsein-
Seiner-Selbst zu haben. Selbstbewußtsein meint damit nichts anderes als mein Wissen
darum, das ich überhaupt bin.4 Selbstbewußtsein ist als praereflexives Mit-Sich-Vertraut-
Sein aufzufassen und besteht in der Einsicht, das ich bin und nicht, vielmehr nicht. Dem
Ich eignet jedoch nicht nur Singularität und damit Subjektivität. Das Ich gewahrt sich
vielmehr auch zugleich als In- der Welt-Sein. Da das In- der Welt-Sein ein Sein mit
Anderen einschließt, die mit dem Ich in der Welt sind, gewahrt das Ich auch jenes Andere
und zugleich ist das Ich deren Teil. Und in dieser Hinsicht ist das Ich nicht Subjekt,
sondern Person, da Personalität identisch ist mit einem In-Beziehung -Sein zu Anderen
und Anderem. In diesem Spannungsverhältnis zwischen dem Ich der Subjekt- und dem
Ich der Beobachterperspektive steht der Glaube. Der Glaubensinhalt und Glaubensakt
und mithin die Religion stellen Vermittlungsgestalten von je einer dieser beiden Seiten
Subjekt und Person her und sind miteinander in der personalen Entscheidung zum
Glauben verzahnt. Und bei der Frage, was kann ich glauben, wird gleichzeitig nach
diesen beiden Perspektiven gefragt, dem Ich als Subjekt und nach dem Ich als der Person.
Am Beispiel des Leides in der Welt, das mich als Subjekt nicht betrifft, aber als Person
doch angeht, wird diese doppelte Perspektive, die den Glauben fordert, ersichtlich. Damit
wird entscheidend im Akt des Glaubens nach diesen beiden Dimensionen gefragt. Es gilt
diese beiden Positionen offen zu halten, ansonsten gibt es keine Solidarität, nur ein
beziehungsloses Neben-Einander.

3 Henrichs, Dieter: Das Selbstbewusstsein und seine Selbstdeutung . Philosophische Essays; Frankfurt
1982
4 Wendel, Saskia: Christliche Mystik, Topos 2004 S. 16

4
Wenn ich denn glaube, was macht mich als Glaubender aus? Denn als Glaubender folge
ich keinem Urteil, keiner logisch einwandfreien Ableitung, keinem gegenständlichen
Wissen. Ist es also ein Sprung in den Glauben? Die gläubige Haltung selbst, also das
geneaologische Aufkommen der religiösen Existenz ist weder begründungsfähig noch
begründungspflichtig; vielmehr eröffnet das Aufkommen des Glaubens die Möglichkeit
für eine theologische Interpretation dieses Aufkommens als ungeschuldetes Geschenk
und Gabe Gottes, das niemals erzwungen oder durch theoretische Spekulationen
hergestellt werden kann. In geltungstheoretischer Hinsicht jedoch gilt es, die Zustimmung
zu einer religiösen Welt- und Selbstdeutung und damit das freie Sich-Übereignen an eine
religiöse Tradition vernünftig zu rechtfertigen, um vor sich selbst und anderen die
Tragfähigkeit der eigenen Überzeugungen einsichtig zu machen. Unterbleibt diese
Rechtfertigung, könnte der Verdacht entstehen, dass es sich bei der Übernahme religiöser
Existenz lediglich um einen weiteren Akt der Verzweiflung heraus handeln könnte, die
das ganze Unternehmen unter den Generalverdacht der Absurdität stellt.5 Vergleiche
Camus „Der Mythos des Sisyphus”. Aus geltungstheoretischen Gründen suche ich als
Glaubender nach guten Gründen, nach der Wahrheit, die dieses Wagnis des Glaubens
rechtfertigen und seinen Einsatz tragen kann.6 Als Glaubender erfahre ich meine
Existenzgestaltung und existentielle Verankerung als auf Gott bezogen. Erst in dieser
Dimension kommen die unterschiedlichen Bezüge zum Tragen: Glauben an (Gott) ihm
glauben und an das glauben, was er mitteilt. In der Scholastik unterscheidet man eine
credere Deum von credere Deo. Ersteres bedeutet nur die Überzeugung, dass es Gott gibt.
Es handelt sich demnach um die natürliche Gotteserkenntnis, die in der Vernunft
gegründet ist. Das Credere Deo sagt aus, dass die christliche Botschaft als von Gott
geoffenbart für wahr gehalten wird.7

Glaubensinhalte

Die nächste Frage, die sich entsprechend dem Thema stellt, ist die Frage nach dem
Glaubensinhalt, entsprechend dem: Was kann ich glauben? Diese Frage setzt nun,- wie
bereits dargestellt -, das Glauben-Können von Glaubensinhalten voraus. Unter dieser
Voraussetzung ist nun die Frage nach dem Was des Glaubens, seinen Gegenstand zu
beantworten. Um beantwortet zu werden, muss der Gegenstand des Glaubens aber
zunächst inhaltlich beschrieben werden. Um aber den Gegenstand des Glaubensinhaltes
vor Unglaubwürdigkeit und Aberglauben zu schützen, muss der Gegenstand des
Glaubens, sein Glaubensinhalt, sich zu aller erst der Vernunft stellen. Die Überprüfung
durch die Vernunft macht den Glaubensinhalt erst glaubwürdig. Es gilt also das
Kriterium der Vernunft einzuführen, um die Glaubwürdigkeit für jeden Glaubensinhalt
aus zuweisen. Denn die Abkoppelung einer Begründungsdimension von der Rationalität
relativiert jedweden Vernunftsanspruch bis zur Beliebigkeit und führt geradewegs in den

5 Wendel, Saskia, Gefährdung oder Verheißung, Grünewald 2006, 95


6 Werbick, Jürgen: Den Glauben verantworten, eine Fundamentaltheologie , Herder 2005 S. 179
7 Knauer, Peter, Fundamentaltheologie S.162

5
Fideismus.8 Denn abgrenzbar muss der Glaube sein gegenüber einem puren
Rationalismus und Fideismus. Unter Rationalismus versteht man die Tatsache, das der
Glaube auf Vernunfteinsicht beruhe, er lasse sich also aus Vernunftgründen ableiten. Der
Rationalismus wird nur dadurch vermieden, wenn konsequent durchgehalten wird: nicht
nur die Wahrheit des Glaubens, sondern auch seine positive Glaubens-Würdigkeit
können nur geglaubt werden und dürfen keiner anderen Erkenntnis zugänglich sein. Das
Gegenteil ist hier der Fideismus, der behauptet, das man für überhaupt alle
Glaubenswahrheiten auf Offenbarung und Überlieferung und den Glauben andererseits
angewiesen ist, und es sei nicht möglich, den Glauben gegenüber der Vernunft als solcher
zu verantworten.9 Denn im Fideismus gilt als einzige Quelle der Erkenntnis die
Offenbarung. Rationalität aber besteht gerade darin, sich mit Annahmen kritisch
auseinander zusetzen.

Entsprechend muss jeder Glaubensinhalt unterscheidbar von den Aussagen sein, für die
ein rational verantworteter Glauben nicht notwendig ist. Er ist damit aber auch
unterscheidbar von Aussagen und Inhalten für die ein Glauben nicht sinnvoll und eher
schädlich ist. Gemeint sind hier Aussagen und Inhalte, die nicht zu glauben sind, weil sie
primär unglaubwürdig sind. Primär unglaubwürdig sind Glaubensinhalte, wenn gegen
folgende Kriterien verstoßen wird: die Vernunft, die Kohärenz und Konsistenz von
Inhalten und das Fehlen von internen Widersprüchen und die Aussagen sind mit
alltäglichen Annahmen zu verbinden. Damit ist der Glaube von einem Aberglauben
unterscheidbar. Das bedeutet aber auch, der Glauben ist keine gegenstandslose,
unbezogene Größe im Leben des Menschen.

Ein weiteres Kriterium von Glaubensinhalten ist die Glaubwürdigkeit. Sie sagt etwas dem
Glauben Würdiges aus und, das man seinem Inhalt Glauben schenken kann. Allein der
Ausdruck Glauben schenken besagt, dass es keine ableitbare Notwendigkeit des
Glaubens gibt, sondern dass die Person, diesem Glaubensgegenstand ein Vertrauen und
eine damit sich verbindende Hoffnung entgegenbringt.

Bei jeder Aussage über den Gegenstand des Glaubens, seinem Inhalt, ist ferner aber auch
zu prüfen, in welchem Verhältnis dieser Inhalt zu anderen Kognitionen,
naturwissenschaftlichen und philosophischen steht. Glauben steht somit immer letztlich
auch in einem Spannungsverhältnis zu jedem empirischen Wissen von etwas und über
etwas. Und dieses Spannungsverhältnis zwischen dem Wissen und dem Glauben ist
insofern entscheidend, da das, was ich empirisch weiß, dies ist nicht zu glauben. Das
Verständnis religiöser Überzeugungen und damit auch das des Glaubens als eine Form
des Wissens zu betrachten ist problematisch. Es bedeutet einen Rückfall hinter die
Metaphysikkritik Kants, denn die Inhalte auf die sich religiöse Überzeugungen beziehen,
können nicht gewusst werden, sie sind keine Gegenstände möglicher Erfahrung, auf die
sich das Wissen beziehen kann. Gleichwohl sind sie deswegen nicht irrational oder
Resultat bloßen Meinens oder Ausdruck eines rein subjektiven Gefühls, denn diese

8 K. Müller Gottes Dasein denken Pustet 2001 S. 153


9 Knauer Peter, aaO 379

6
Inhalte lassen sich der anderen Erkenntnisform, der des Glaubens zuordnen.

Der Glaube selbst soll vernunftgemäß sein und andererseits als übernatürlicher alle
Vernunft übersteigen, so die theologische Kernthese. Und einerseits soll der Glaube ein
freie Entscheidung sein, andererseits jedoch von einer eindeutigen Gewissheit sein. 10 Der
Glaube steht gleichwohl somit in einem positiven Verhältnis zur Vernunft. Er fordert und
fördert den Gebrauch der autonomen Vernunft. Der Glaube ist um seiner selbst und der
Vernunft willen daran interessiert, dass die Vernunft ihre Eigenständigkeit wahrt. Nur so
kann man Glauben und Aberglauben unterscheiden. Andererseits zeigt der Glaube, dass
er die unvernünftig gewordene Vernunft, die gegen ihre eigenen Gesetze verstößt, mit
Vernunftargumenten widerlegt. 11

Folgt man dieser Kantschen Perspektive so sind religiöse Überzeugungen dem Feld der
praktischen Vernunft zuzuordnen und damit steht die Lebensführung und das Handeln im
Zentrum und die Wahrheitsfrage religiöser Überzeugungen unter dem Vorzeichen der
Praxis.12

Ein weiteres Kriterium für die Glaubensinhalte ist die Frage nach ihrer Sinnhaftigkeit für
die Lebenspraxis, liefern sie einen Bezug zur Daseinsakzeptanz und machen sie das
Dasein des Menschen so zustimmungsfähig? Dies ist eine zentrale Forderung an die
Leistungsfähigkeit der Theologie und des Glaubens. Nach christlicher Überzeugung
können Glaubensinhalte eine Sinnperspektive liefern, indem sie bestreiten, dass das
Leben sinnlos ist und dass der Tod das letzte Wort hat. Allein wenn Glaube
Sinnakzeptanz und Zustimmungsfähigkeit bietet und sich so gegen die Sinnlosigkeit aus
guten Gründen zur Wehr setzt, ist ein Dennoch der Hoffnung und des Vertrauens
möglich. Die Entscheidung gegen das Nichts zugunsten des Seins kann theologisch-
anthropologisch glaubhaft vertretbar gemacht werden. Allerdings verkürzt die Theologie
ihren Inhalt, wenn sie bei ihren Antwortversuchen nur vom Gottesverhältnis des
glaubenden Menschen handelt. Es muss davon gesprochen werden, was das Dasein aller
Menschen ausmacht und dies kann nicht im theologischen Monolog gelingen.13

Außerdem weisen Glaubensinhalte einen geschichtlichen Bezug auf und gleichzeitig


stehen sie im Jetzt ihrer eigenen Geschichte. Damit sind sie aber nicht nur Geschichte.
Denn sie müssen inhaltlich aktualisiert werden. Ihre Bedeutungsgeschichte muss
erkennbar werden, um damit zu beantworten, wie sie sich transponieren lassen in eine
Aussage des Heute. Das Objekt des Glaubens, sein Inhalt, ist aber allein mit historischem
Wissen (Tatsache dass Jesus gelebt hat) und mit Wissen allein nicht angebbar. Denn
Wissen ist eine wahre Überzeugung einer Person a über einen Sachverhalt p. Demnach
gilt, wo und wenn alles schon gewusst wird, hat der Glaube keinen Platz, hier kann und
braucht man nicht mehr zu glauben. Dann ist Offenbarung für den Menschen nicht mehr

10 Knauer Peter, Fundamentaltheologie, Kösel 1977, 382


11 Knauer, Peter aaO 389
12 Wendel, Saskia Wissen und Glauben
13 Höhn, Hans-Joachim, zustimmen . Echter S.37

7
notwendig und seine Freiheit zu glauben ist verloren. Glaube geht damit keineswegs im
Wissen auf, gleichwohl bedarf es aber auf der anderen Seite durchaus eines Wissens und
der Vernunft, um das Geglaubte argumentativ zu vertreten. Also kann man sagen, dass
das Was, das Objekt des Glaubens und damit sein Inhalt auf etwas zielt, das es vom
Wissen unterscheidbar macht, das es aber doch eines Wissens bedarf, um zu überzeugen.

Wenn es denn wie gesagt grundlegende und begründete Kriterien für die Glaubensinhalte
gibt: wie Kohärenz, Konsistenz, die ihrerseits als Wahrheitskriterien fungieren und die
Vernunft, so müssen diese Kriterien wiederum Bedingungen erfüllen, um als Kriterien zu
taugen und als solche zu tragen. 14 Zuerst einmal müssen die Gesetze der Logik erfüllt
sein, d.h. es darf nicht gegen sie verstoßen werden. Das bedeutet ich kann nicht etwas
glauben, was gegen die Logik verstößt und in sich widersinnig ist. Hier sei der Satz des
Widerspruchs genannt. Wenn es also nicht nur die allgemeinen Sätze der Logik sind
gegen die nicht verstoßen werden darf, gibt es noch andere Sätze, die als Kriterium für
das, was ich glauben kann, gelten können und gelten müssen? Müssen diese Kriterien als
allgemein gültige Kriterien anerkannt sein und damit eine allgemeine Verbindlichkeit
aufweisen oder müssen sie nur für mich, für meine Sicht der Glaubensinhalte als
Kriterium gültig sein? Um nicht in einen Individualismus zu verfallen, müssen dann aber
meine Kriterien sich wiederum allgemeinen Kriterien unterwerfen und auch befragbar
sein und sich so in Frage stellen lassen. Daraus folgt:
Für den Glaubensinhalt gibt es Kriterien, die für den Glaubensinhalt als ihr Maßstab
gelten.

Die Quellen des Glaubensinhalts

Als Quellen von Glaubensinhalten, auch Bezeugungsinstanzen genannt, sind gemeinhin


die Schrift, die Tradition und das Lehramt genannt. Welche Quelle nehme ich zum Maß
meines Glaubens, sind alle gleich wichtig und gleichwertig, wie ist das Verhältnis dieser
Quellen zueinander? Und zum anderen, was haben mir die unterschiedlichen Quellen und
ihre Inhalte heute zu sagen? Wenn mir ein Inhalt etwas sagt, spricht dieser mich an, er
fordert mich, er berührt mich, er verlangt nach einer Antwort. In der Zusage eines
Glaubensinhaltes ist immer auch eine entschiedene personale Antwort mit gefordert.
Glauben als fides qua ist somit eine Antwort auf einen Glaubensinhalt im Hinblick auf
die besagten Quellen (Schrift und Tradition und Lehramt).

Der Glaubensinhalt stellt damit immer eine Frage, die sich an mich als ganze Person
richtet und die eine Antwort erfordert, die aus meiner ganzen Person spricht. Also
spreche ich mich in der Reflexion und Beantwortung von Glaubensinhalten immer selbst
aus, spreche von mir und über mich. Ich spreche somit von meiner Lebenspraxis und
Lebensorientierung. Und hier spreche ich über etwas in mir, das nicht einem Wissen
gleich kommt. Denn Wissen ist immer ein empirisches Wissen über etwas. Es ist damit

14 Müller, Glauben verantworten

8
etwas Gegenständliches, denn das Wissen ist immer nur gegenstandsbezogenes Wissen.
„Die in die Lebenswelt eindringenden wissenschaftlichen Theorien lassen den Rahmen
unseres Alltagswissen, der mit dem Selbstverständnis sprach- und handlungsfähiger
Personen verzahnt ist, im Kern unberührt.“ 15 Und da der Glaube immer ein personalen
Kern hat, stellt er einen direkten Bezug zur jeweiligen Lebenswelt des Subjekts dar. Er ist
damit immer ein antwortender und verantworteter. Verantwortet stellt sich dann die
Frage: kann ich diesem Glaubensinhalt glauben?

Wenn ich diese Glaubensinhalte bejahe, dann spreche ich diesem Inhalt eine Konsequenz
für mein Leben zu. Diese bejahende Konsequenz bedeutet, dass mein Glaube daraus
seine lebensweltliche Legitimation ableitet. Dies bedeutet, dass der so erlebte Glaube sich
aber nicht selbst legitimiert, sondern er begründet sich durch den Gegenstand seines
Glaubens und den Glaubensakt. Dieser so gedachte Vollzug setzt aber voraus, dass der
Gegenstand meines Glaubens glaubwürdig ist, mit anderen Worten, er ist vor der
Vernunft zu verantworten. Es gilt also gegenüber der Vernunft die Sache des Glaubens
und gegenüber dem Glauben die Sache der Vernunft zu verantworten.16 Die einzige
Nötigung, die die Vernunft kennt, besteht in der unnachgiebigen Forderung, dass
Behauptungen in Begründungen umgewandelt werden und Geltungsgründe von
Argumenten gestützt werden.17 Ob etwas glaubwürdig ist, ist aber keine Entscheidung,
die durch Wissen allein erreichbar ist, dieses wird zwar vorausgesetzt und ist eine
conditio sine qua non, sondern die Entscheidung ist nur aussagbar in Form einer
bejahenden Aussage, eines Sprung in das Unbekannte, es ist ein Sich-Verlassen und ein
Sich- Einlassen. Es handelt sich um ein Vertrauen auf und ein Hoffen dass. Und um
dieses verantwortete Ja zum Glauben tragfähig zu halten, gehört der Zweifel und die
Kritik dazu. Zweifel und Kritik sind Elemente des Glaubens, da die geschichtlichen
Bedingungen unter denen das Glauben sich ereignet, sich immer auch verändern. Mit
anderen Worten Glaube muss sich bewähren, er muss Zeugnis ablegen und bezeugen.

Reflexion über Glaubensinhalte

Ich kann glauben, aber ich habe auch die Pflicht, das was ich glaube, zu kritisch zu
überprüfen, auf Glaubensfragen zu antworten und diese dann auch existentiell zu
verantworten. Und diese personale Antwort ist eine Aussage im Nachgang einer
Reflexion seines Gegenstand, dem Was des Glaubens. Das Kann ist also so zu befragen,
ob der reflektierte Gegenstand, man könnte auch formal sagen, das zu Glaubende, der
Glaubensinhalt denn nur so geglaubt werden muss ist wie Schrift, Tradition und Lehramt
es immer schon materialiter vorgeben und vorgegeben haben. Die Antworten, die diese
drei Quellen immer gegeben haben und geben, unterliegen auch dieser personal
antwortenden Reflexion. Reflexion bedeutet aber keine in sich selbst gründende
Reflexion und sich damit selbst begründende Reflexion, sondern sie ist gebunden an eine

15 Habernmas
16 Höhn Glaube und Vernunft
17 Höhn, Glaube und Vernunft, Vorlesung SS 2007 Köln

9
reflexive und kritische Untersuchung von Schrift, Tradition und Lehramt. Wobei die
Tradition sicher, da sie auch geschichtsbelastet ist, die schwierigere und damit auch
kritischere Komponente darstellt. Das heißt mit anderen Worten, das, was die kritische
Exegese für die Schrift geleistet hat und was sich als wesentliche Befragung und auch
Bereicherung derselben darstellt, ist auch für die beiden anderen Quellen Tradition und
das Lehramt zu leisten. Das bedeutet die Frage zu stellen, ob Tradition und Lehramt in
ihren Aussagen sich nicht der Kritik von Seiten der kulturellen, zeitgeschichtlichen,
philosophischen und auch anthropologischen (psychologischen, soziologischen) und auch
theologischen Einwänden und Erkenntnissen stellen müssen? Und diese Einwände und
Erkenntnisse sollten analog zur kritischen Exegese zum NT fungieren.

Es ist also die Frage, ob es hier kriteriale Elemente gibt, die tragfähig sind, Fehlformen in
Tradition und Kirche (Lehramt) aus zuweisen? Als unveränderlicher Bezugspunkt bei
den genannten Quellen gilt aber die Schrift, und in den letzten Jahren ist neben der
historisch-kritischen Exegese noch die kontextuelle Bibelauslegung getreten. Das heißt,
der Lesende und zugleich Hörende nimmt die Bibel wahr in den konkreten
Lebensbedingungen seiner Existenz. Gleichzeitig fließt hier das hermeneutisches
Vorverständnis des jeweiligen Lesers mit ein.

Muss und kann ich alles glauben?

Gilt es alles und jedes zu glauben? Oder kann ich nur dieses glauben und jenes nicht?
darf ich berechtigte Zweifel an diesem und jenem Glaubensinhalt haben? Ich meine man
darf Fragen stellen und auch in Frage stellen, man muss weiter fragen und man darf und
muss zweifeln. Viele Fragen sind und bleiben ohne Antwort bleiben oder zumindest
werden sie nicht durch die bisherigen vorgefertigten Antworten (s. Weltkatechismus)
ausreichend beantwortet. Und so bleiben viele Fragezeichen. Dies ist notwendig, weil
zum Fragen das Suchen gehört. Und wenn man sucht, findet man vielleicht eine Antwort.
Aber die, die alles schon gefunden haben, haben vieles nicht für sich gefunden, sondern
es wurde für sie gefunden, damit sie unbesehen dies glauben. Hier wird oft Glauben mit
Wissen verwechselt, hier wird Gehorsam und Für-Wahr-Halten eingefordert. Und das
unterscheidet die Fundamentalisten von den Suchenden, das unterscheidet ein Für-Wahr-
Halten im instruktionstheoretischen Modell des I. Vaticanums vom einem zu
verantwortenden Glauben.

Denn allein Problempunkte wie die Kurie, der Papst (Küng unfehlbar?), die Mariologie,
die Sexualität einschließlich Empfängnisverhütung, Evolutionstheorie, Erbsündenlehre
werfen heute eher Fragen auf, als dass sie durch ihre bisherigen Aussagen befriedigende
Antworten geben. Somit sind etliche dieser genannten Themen nach wie vor hoch
problematisch und wie sie bislang ausgesagt wurden nur schwerlich vermittelbar und
zustimmungsfähig und so zu glauben. Ja sie stellen eine Herausforderung für den eigenen
Glaubenskontext dar, aber sie können die eigenen religiöse Überzeugungen schärfen, sie
verdeutlichen.

10
Glaubensinhalte sind nur in ihrer Interpretation und als ihre Interpretation gültig.

Das heißt nicht, dass ich die ausgesagten Sätze über einzelne Glaubensinhalte ablehne,
aber ich zweifele, ob man diese Sätze so und nur so sagen kann, oder ob man sie nicht
doch auch anders sagen kann und sagen muss. Und hierin liegt zumindest primär einmal
auch ein sprachliches Problem. Das bedeutet, dass die bisher so gesagten Sätze in den
drei Quellen Schrift, Lehramt und Tradition, die ja alle auch eine zeitgeschichtlichen
Kontext haben, in sich ein semantisches Problem aufweisen. Das bedeutet nichts anderes
als, dass gesprochene Sätze immer auch auf einer Interpretation des Bisherigen beruhen
und somit sind sie in ihrer jeweiligen Aussage unter gewissen Voraussetzungen
(zeitgeschichtlicher Kontext) gesprochen worden. Die lehramtlichen Aussagen sind ja
nicht in sich geschichtslos, sie sind aber auch nicht nur eine Geschichte.

Daran schließt sich die Frage an, ob der jeweilige Glaubensinhalt und damit seine
Aussage, sein Kern nicht wieder in die jeweilige Zeit hinein gesprochen werden muss,
dass er hinein interpretiert wird ins Heute, um verstanden zu werden. Ich meine wir
müssen versuchen, viele Inhalte für uns neu zu sagen und das bedeutet, sie müssen sich
für uns übersetzen lassen in einen Kontext des Heutigen. Sie müssen einer Hermeneutik
des Heutigen standhalten. Sie müssen im Heute für uns neu interpretierbar sein und
interpretiert werden und dies in unserer Sprache. Damit meine ich aber auch, dass diese
Fragen nicht allein auf der theologischen Ebene zu beantworten sind, wenngleich sie im
wesentlichen theologische Probleme sind, aber sie sind es nicht nur. Denn sie haben
einen sprachlichen und philosophischen und geistesgeschichtlichen Kontext. Damit
müssen die befragten Inhalte und Sätze in eine universale hermeneutische Gesamtschau
gestellt werden. Rückführbar sein müssen die jeweiligen Aussagen, die sich aus den
Quellen ergeben, aber auf das NT und hier auf die Person Jesus. Alle Aussagen haben
hier ihren Bezugspunkt und damit ihr kriteriales Element schlechthin.

Auf dieser Folie einer sich immer auch rückerinnernden Hermeneutik müssen die oben
genannten Aussagen, aber besonders die Aussagen, die schwer verständlich sind (Papst,
Kurie, Sexualität, Empfängnisverhütung usw.) sich prüfen lassen. Denn die Tradition und
die Schrift und lehramtlichen Sätze sind kein in sich mehr oder weniger geschlossenes
und abgeschlossenes System. Abgeschlossen wären die Tradition und die Schrift und die
lehramtlichen Sätze in sich verschlossen und dann nicht mehr kommunizierbar. Als
abgeschlossene Sätze können sie nicht mehr, sondern müssen geglaubt werden, aber dies
ist dann wieder nur ein Für Wahr Halten. Und dieses Für-Wahr-Halten gleicht doch eher
einem abfragbaren Wissen, ja einem in sich abgeschlossenem System von Sätzen und
einem sich dogmatisch gebenden Wissen. Eine Vermittlung in Schrift, Tradition und
Lehramt ist aber immer auch eine, die sich ihrer sprachlichen Begrenzung und damit ihrer
zeitgeschichtlichen Bedingungen ausgesetzt weiß. Und um glaubwürdig zu sein, muss sie
dies immer neu bedenken.

Dies bedenkend bedeutet, dass der Glaube nie in sich sicher und unanfechtbar ist,
sondern der Glaubensakt ist immer ein gelebter. Denn der im Glauben Lebende lebt in

11
seinem gelebten Glauben die Nachfolge Jesu. Damit ist die Orthodoxie nicht alles, aber
ohne Orthopraxie ist alles nichts. Daraus leitet sich die These ab:

Der Glaubensakt ist gelebter Akt.

Dieses bedeutet, dass mein Glaube nur in meiner Lebenspraxis zu finden ist und sich dort
bewähren muss. Und so wird so aus der jeweiligen Handlung ersichtlich und deutlich, aus
welchem Grund ich wie handele. Der Modus meines Handelns wird sichtbar, der Grund
meines Handelns, sein Motiv wird individuell erkennbar. Das jeweilige Wie und Was des
Tuns ist einmalig und einzigartig. Aber das individuelle Handeln ist bezogen und
gerichtet auf einen Kontext, dieser individuelle Handlungskontext steht im Kontext des
NT, der Tradition und des Lehramtes, aber wesentlicher noch in der Person Jesus als
Nachfolge.

Dieser so gegebene Kontext ist als der kriteriale Bezug meines Handelns zu begreifen
und steht damit in einem unmittelbaren Kontext zu den jeweiligen Glaubensinhalten.
Wenn ich etwas tue und dieses Tun hat Jesus als Gradmesser, dann ist dieser Gradmesser
eben kein beliebiger, sondern ein entschiedener. Entschieden wird mein Tun durch die
Entscheidung für ein wegweisendes und hinweisendes Tun im Exempel von Jesus. Wenn
der Glaubensakt aber nur als gelebter gedacht werden kann, dann ergibt sich daraus, dass
mein Glaubensakt die jeweiligen Glaubensinhalte seinerseits lebenspraktisch
individualisiert.

Die Interpretation von Glaubensinhalten im Glaubensakt stellt immer eine


individuelle, lebenspraktische Beantwortung von Glaubensinhalten dar.

Allein die Frage, wie verstehe ich die Glaubensinhalte, setzt eine Antwort in Gang, die
ich nur in meinem Kontext auf der oben genannten Folie beantworten kann. Ich kann sie
nur für mich stimmig machen, da nur ich sie verstehen kann und ihre Bedeutung für mein
Leben aussagen kann. Es mag sein, dass dies eine extreme Individualisierung darstellt
und dass dies den Vorwurf eines Relativismus nach sich zieht. Aber ich kann nie einen
anderen als mich selbst erleben. Das bedeutet, ich kann nie etwas Begriffliches wie zum
Beispiel Wahrheit, Freiheit, Gott, Welt usw. anders denken, als ich es denke. Erst im
Aufweis und Nachweis meiner Erkenntnis kann ich eine Abgleichung vornehmen, kann
entscheiden, ob meine Überzeugung sich als durch das NT, die Schrift und das Lehramt
gedeckt erweist.

Auch gilt es zu fragen, ob diese meine Erkenntnis mit der Lehre verträglich ist, will
heißen, ob sie sich mit den tradierten Glaubensinhalten deckt. Damit ist aber auch
gemeint, dass ich mein Erkennen und mein Handeln dialogfähig halten muss, es muss
sich kommunikativ bewähren. Ich muss meine Präpositionen, meine Folgerungen messen
am Grad ihrer allgemeinen nicht nur ethischen Verbindlichkeit. Und diese
Verbindlichkeit muss sich in konkreten Situationen befragen lassen und sie hat ihren
Bezug und das Maß ihres Handelns in der Person Jesu. Daraus leitet sich ab, dass es für

12
mich gültig sein kann, so zu handeln und zu denken, dass es aber auch so sein kann, dass
ich mich dem Tradierten in seiner jeweiligen Ausformung nicht angleichen kann und
muss. Dies wäre dann die Position des Gewissens.

Da der Glaube immer auch einen Wahrheitsanspruch darstellt, stellt sich die Frage:

Die Wahrheit als ontologische Kategorie oder die Wahrheit in ihrer jeweiligen
Interpretation? 18

Wittgensteins Analyse religiöser Glaubenssätze macht deutlich, dass ihre Bedeutung erst
verständlich wird, wenn deutlich ist, auf welche Weise diese Glaubenssätze das Leben
der Gläubigen regeln. Die Bedeutung von Weltbildern erschließt sich eben nicht durch
eine semantische Analyse, sondern nur in der Beachtung der Art wie sie mit der
jeweiligen Sprachspielpraxis korreliert sind. Sprachspiel bezeichnet ein kohärentes und
komplexes System von interaktionellen menschlichen Handlungen. Seine Struktur wird
bestimmt durch: erstens die Bedeutung der Handlungen, zweitens durch die Regeln,
sowie drittens durch die Informationsmuster, die der Bedeutung zugrunde liegt. So ist
Handeln immer, wenn dieses Wahrheit beansprucht, dialogisch strukturiert. Wahrheit ist
nur vermittelbar, wenn sie in einem Sinnzusammenhang gestellt ist, wenn die Beteiligten
im Sprachspiel das Gleiche auch kommunizieren. Als die Wahrheit ist sie ein
Containerbegriff, der kommunikativ diffus wirkt.19 Der gleiche Begriff von Wahrheit
(Containerbegriff: jeder versteckt etwas anderes in diesem Container und nennt es
Wahrheit) und damit was Wahrheit als Begriff meint, dürfte somit aber aufgrund der
Heterogenität dieses Begriffes und der unterschiedlichen Konnotation fast unmöglich zu
erreichen sein (Religion, Naturwissenschaft und Philosophie).

Die größte Herausforderung der Kirche besteht im Anspruch der Wissenschaften, als
einzige Quelle der Wahrheit zu gelten. Die Idee in der Kirche ist, dass die Wahrheit, die
uns frei macht und von der die Bibel berichtet, nur die objektive Wahrheit sein kann. Die
einzige Chance für die Kirche besteht darin, die evangelische Botschaft als Prinzip der
Auflösung aller Objektivitätsansprüche aufzunehmen. Denn es ist kein Skandal zu sagen,
dass wir nicht an das Evangelium glauben, weil wir wissen, sondern dass wir an Christi
Auferstehung glauben, weil wir von ihr im Evangelium lesen. Möglich wird ein solcher
Satz im Zeitalter der Interpretation nur durch Reduktion der Wirklichkeit daraufhin
Aussage und nur Aussage zu sein20.

Die Wahrheit, der die Glaubenden zustimmen und über die Theologie nachdenkt, ist nicht
abstrakt. Sie ist in Zeit und Geschichte eingeschrieben. Sie ist menschgewordenes Wort
Gottes. Wahrheit konkretisiert sich nicht zuerst und allein in der denkenden
Glaubenszustimmung, sondern vor allem im Tun der caritas.21

18 Vattimo, Gianni: Christentum und Interpretation – in Anlehnung an diese Schrift


19 von Stosch Einführung in die Systematische Theologie Schöningh, Paderborn 2006
20 Rotry, Richard und Vattimo, Gianni in Die Zukunft der Religion, Suhrkamp 2006 S. 58
21 Vattimo, Gianni, Schröder, Richard, Engel, Ulrich: Christentum im Zeitalter der Interpretation,

13
Daraus folgt: die Wahrheit, die in dem Satz des Johannesevangeliums gesprochen ist:
„Ich bin die Wahrheit” ist nie eine abstrakte, sondern konkrete. Objektiviert und damit
abstrakt aber ist dieser Satz, wenn er umgeformt wird in den Satz „Jesus ist die
Wahrheit.“ Das bedeutet, dass sich Wahrheit als Wahrheit nur in der jeweiligen Situation
konkreten Handelns aussagt. Also kann das, was man unter Wahrheit versteht nur
sichtbar werden an der jeweiligen Handlung selbst. Erfahrung der Wahrheit geht einher
mit Hören und Interpretieren von Aussagen. Und die Überzeugungskraft dieser Wahrheit
liegt darin, dass wir uns bewusst werden und bewusst sind, dass unsere geschichtliche
Existenz nur so einen Sinn hat. 22Jesus als Wahrheit wird sichtbar nicht im Substantiv
sondern im Adverb, Wahrheit ereignet sich. Die einzelne Handlung hat, indem sie
Wahrheit aussagt und beansprucht ihren Gradmesser in der sich in der jeweiligen
Handlung zeigenden Liebe und damit in dem Satz des Johannesevangeliums: Ich bin die
Wahrheit.

So ist jede Handlung als meine Handlung immer auf eine interpretatorische Vermittlung
dieses „Ich bin die Wahrheit” angewiesen und sie hat damit ihren konkreten Bezug. Jesus
ist die Wahrheit ist letztlich die Gewissheit ihrer eschatologischen Bestätigung. Sie ist
eine Gewissheit des hoffenden Glaubens und nicht eine Gewissheit, die sich in wissende
Evidenz übersetzen lässt. Und diese hoffende Gewissheit braucht den Dialog, braucht das
Handeln. Und nur dialogisch strukturiert, hat das Ich bin die Wahrheit auch
Konsequenzen für das Handeln, dann hat Orthopraxie Vorrang vor der Orthodoxie. Der
Konsens in der Orthodoxie, d.h. im Sinne eines Jesus ist die Wahrheit, gibt sich abstrakt
und objektiv, sie ist nicht einklagbar, weil der Konsens letztlich in einem Glaubensakt
verwurzelt ist und dieser ist nun mal ein individueller.

Die Rede über die Wahrheit des Jesus Ist die Wahrheit ist aber immer ein hoffende Rede
und nie eine sichere, weil evidente. Sie ist auf Sinndeutung und Sinngebung ausgelegt.
Das bedeutet letztlich, dass die einzig evidente und damit sichere Aussage, die wir
glaubend machen können, besagt: wir sprechen nicht Jesus nach, wir sprechen nicht dem
Jesus ist die Wahrheit nach, sondern wir folgen dem nach, der sagt: Ich bin die
Wahrheit.

Es ist schwer zu verstehen, warum die Aussage des Johannes-Evangeliums „Ich bin der
Weg, die Wahrheit und das Leben“, ontologisiert wurde und das Bin durch ein Ist ersetzt
wurde. Bei den Worten Weg und Leben, die im Kontext mit der Wahrheit genannt
werden, ist es schwer vorstellbar, das diesbezügliche Bin durch ein Ist zu ersetzen. Wenn
man dies so aussagten würde, wäre sofort deutlich, dass dann keine dialogische Dynamik
mehr gegeben ist und sich eine andere statische Begrifflichkeit einschleicht. Jede
Selbstaussage hat als Rede von sich selbst nur dann einen Sinn, wenn sie in einem
dialogischen Kontext steht, wenn ich mich angesprochen weiß und antwortend auf diese
Selbstaussage beziehen kann. Es ist also zuerst eine personale Rede, die aber nur im

Passagen-Verlag 2004 S.66


22 a.O.

14
dialogischen Kontext verstanden werden kann und sich nur dialogisch bewährt. Ohne
Adressat ist jede subjektive Rede irrelevant. Sie ist nur zu verstehen als gehörte Rede und
nur als Hörer des Wortes weiß ich mich angesprochen.

Wenn ich diese Aussage des Jesus Ist die Wahrheit als objektive und metaphysische
Wahrheit schlechthin ausgebe, die aber nur eine geglaubte Wahrheit ist und nur in diesem
Glaubenskontext Sinn macht, entziehe ich ihr jede Dynamik und Geschichtlichkeit und
unterschlage auch ihr Geschichte. Es handelt sich dann um ein dogmatisch statisch-
metaphysisches Denken, das die Geschichtlichkeit jeder Aussage objektivierend aufhebt,
und sie transformiert in ein zeitloses und absolutes Sein. Die Selbstaussage Jesu ist
anfangs nicht als eine ontologisierte Rede verstanden worden und als solche wäre sie
auch gar nicht verstanden worden. Jesus war der Verkündiger und er wurde zum
Verkündigten. Die Jünger, die Jesus folgten, taten dies nicht, weil sie an Wunder
glaubten, sondern sie glaubten Jesus aufs Wort, weil sie gehört hatten. 23 Wer glaubt hat
verstanden, und begriffen, dass Jesu Wort ein Wort des ewigen Lebens ist. Diese Aussage
über Jesus, dass er die Wahrheit ist, ist auch das Produkt eines längeren geschichtlich
gewordenen Glaubensprozesses, jedenfalls gilt das für die Apostel und die erste
Gemeinde in Jerusalem. Denn das Johannes-Evangelium ist erst zwei Generationen nach
dem Tod Jesu entstanden und aus diesem Evangelium sind die entnommenen Zitate.

Die Selbstaussage der bin ich oder so bin ich ist eine zutiefst personale dialogische
Aussage in einem geschichtlichen Moment, sie ist ein dialogisch strukturiertes
Offenbarungsgeschehen, das unüberbietbar und einmalig, aber nicht abgeschlossen ist,
sondern immer auch als weiter fortwirkend gedacht werden muss. Und aus diesem
dynamischen Beziehungsgeschehen wird ein statisches, metaphysisches Moment, indem
man den Satz Jesus ist die Wahrheit ontologisiert und dogmatisiert. Aus einem
Wahrheit-Werden und Wahrheit-Sein für andere, das aus dem Ich bin der Person Jesu
entspringt, daraus wird dann ein dogmatisch festgeschriebenes Ist. Aber ist eine solche
Dogmatisierung auch unbedingt lebenspraktisch relevant? Denn die Dogmatisierung
richtet sich mehr auf eine Abgrenzung und Abwehr gegenteiliger Auffassungen
(Chalcedon). Und deutlich weniger ist dann im Blickfeld das zentrale Motiv: das sich im
Ist zeigende dialogisch motivierte und so orthopraktisch strukturierte Handeln. Die
Unmöglichkeit gleichzeitig eine Christologie von oben und unten zu betreiben, macht die
Vermittlung beider Positionen schwierig und macht jeweils die eine oder andere damit
angreifbar.

Gelingender Dialog und damit menschliches Leben ist nie im Singular der Wahrheit des
Ist zu erfahren, sondern nur im Plural, im Wir. Jedes so bezogene Handeln in der
Wahrheit manifestiert sich dialogisch als Liebe und gipfelt in dem Wort Ich bin die
Wahrheit und hat damit ihren Maßstab. Aber gerade diese im Dialog sich
konstituierende Zeigefunktion auf das jeweilige, momentane Handeln geht in der
Ontologisierung unter. Eine Ontologisierung entindividualisiert, da sie die Person aus
ihrem Handlungskontext und aus dem dialogischen Prozess löst. Das bedeutet auch: nur

23 Vattimo, Gianni

15
in den lebensweltlichen Dingen täglicher Praxis kommt das pneumatische Element, durch
welches das Wirken Jesus gekennzeichnet ist und sich offenbart, wesentlicher nur in der
Orthopraxie zum Vorschein. Daraus leitet sich die These ab:

“Jesus ist die Wahrheit“ ist Wahrheit im gelebten Glauben.

Theologie sollte sich verstehen als Theologie des Zeugnisse und als Reflexion der Praxis
der Nachfolge Jesu.24 Denn nur im Kontext des Glaubens hat der Satz Jesus ist die
Wahrheit seinen Geltungsanspruch. Nur im Glauben und aus diesem seinem Glauben
kann der glaubende Mensch diese Wahrheit im Handeln bezeugen. Das bedeutet, dass nur
in der Koinzidenz von Glauben und Handeln sich Wahrheit ausdrückt. Dieser
Wahrheitsanspruch hat sich kommunikativ zu bewähren. Der Anspruch der katholischen
Kirche allein die Wahrheit an sich zu haben und sie allein zu besitzen, bedeutet aber, dass
jeder Dialog nur als Monolog möglich ist. Damit wird gesagt, wenn Gott in seiner
Immanenz der radikal Transzendente bleibt, steht das von ihm Sprechen noch dort unter
Vorbehalt , wo wir ihn in äußerster Positivität in Jesus so bekennen, dass in ihm Gott als
Mensch auftritt.25

Aus diesem Wahrheits-Monolog leitet sich dann ab, dass alle, die nicht diese
ontologisierte Rede über die Wahrheit an sich teilen, in ihren jeweiligen
Wahrheitsaussagen einem Relativismus verfallen. Aber gerade darin wartet die
entscheidende Relativierung jeder Theologie. Denn ihre im weitesten Sinn ökumenische
Verständigungsversuche in unserer theologischen Tradition und zwischen den Kirchen
stehen von daher in der Herausforderung, sich im Bekenntnis zu den eigenen
Glaubensüberzeugungen so selbst zu übersteigen zu können, dass die anderen
Gottessprachen und Gottespraktiken eine reale Bedeutung für die eigene religiöse
Wissensform annehmen können. Erst das erlaubt so etwas wie handlungsfähige,
differenzierte Konsense, erst das gestattet auch die kritische Auseinandersetzung im
Konflikt der Interpretationen und Geltungsansprüche.26

Kritische Anfrage an die Ontologie

In dieser ontologisierenden Aussage des Ist wird das pneumatische Wirken Jesu, das eine
Heilszusage für alle darstellt unterbewertet oder zumindest nicht vollgültig erfasst wird.
Der Geist wirkt wie und wo er will. Er wirkt nicht nur dort, wo ich ihn schon immer
vermute und verorte, nämlich in der Kirche und in der Verbindung Jesu und der Kirche,
sondern auch außerhalb und überall. Offenbarung in diesem Sinn ist ubiquitär. Sie beruht
auf der Erfahrung des Menschen, sie ist der Person eingeschrieben und stellt eine

24 Wendel, Saskia in Hardt, Peter und Stosch, Klaus a.a.O.


25 Hoff, Georg Maria in Hardt, Peter, von Stosch, Klaus ( Hg) Für eine schwache Vernunft Grünewald S.
35
26 Hoff a..a..O.

16
Fähigkeit des Menschen dar, für Offenbarung empfänglich zu sein.27 In dieser
Selbsterfahrung übersteigt der Mensch seine eigenen Grenzen, die sowohl der
Vernunftimmanentismus der Aufklärung und auch der Erfahrungsimmanentismus der
empirischen Wissenschaften nicht zureichend deuten können. Der Mensch wird somit auf
einen Dialogcharakter der Offenbarung hin verwiesen.28 Wenn ich nicht unterstelle, dass
der Geist Jesu in jedem Menschen wirkt und auch verborgen wirkt, manchmal
unerkennbar, aber immerhin anwesend ist, dann verkürze ich die Heilszusage Jesu auf die
wenigen, aber alle anderen sind der, wie immer dieser gedachten Gnade, nicht teilhaft.

Um aus diesem Dilemma heraus zu kommen, ist es nicht sinnvoll, allein einen
eschatologischen Bezug auszumachen und zu hoffen, dass alles doch auf Jesus
hinausläuft, dass alle dann die Aussage Jesus ist die Wahrheit zustimmend glauben und
dass sein Reich kommen wird. Unsere Präpositionen für dieses eschatologische
Heilszusage sind maßgebend, will heißen, gilt diese eschatologische Zusage für alle
Menschen und jeden oder nur für wenige Auserwählte? Gilt sie jetzt oder nur für die
Zukunft und galt sie auch in der Vergangenheit? Wir müssen glauben, dass Jesus aber
allen sich offenbart und zwar immer und überall. Und so gilt, dass wir weniger
dogmatisch denken sollten, sondern dass wir die Liebe als Zentralmotiv des Ich bin die
Wahrheit nehmen und dieses dialogisch handelnd beleben. Dieses Zentralmotiv des Ich
bin die Wahrheit erfordert eine Interpretation des Heute und ein Handeln im Heute.

Die Differenzen in der Christologie (Christologie von oben und von unten) sind immer
wieder zu begegnen und damit ist Chalcedon nie zu Ende. Auch beim Begriff der
Wahrheit, die bei der Ontologisierung des Jesus ist die Wahrheit treten Differenzen auf.
Wahrheit als eine ontologische Kategorie oder Wahrheit als Selbstaussage der Person, als
ihr Handeln in Bezeugung und aus Überzeugung? Wahrheit in ihrer
fundamentaltheologische Fragestellung und Beantwortung und damit als eine Aussage in
der Orthodoxie oder Wahrheit als eine orthopraktische Bekundung? Es ist doch eher so,
dass man beide Ebenen nicht sauber und stringent trennen kann, da sich die Wahrheit
nicht ohne ihren jeweiligen konkreten Bezug zum Handeln aussagen und bestimmen
lässt. Man kann formulieren, dass sich die Wahrheit immer aussagt, dass sie sich aber
nicht im alleinigen Sagen erschöpft. Denn das Schisma zwischen Sagen und Tun wäre
damit zementiert. Denn wenn ich von der Wahrheit rede und nur rede, wird sie irrelevant
und nichtig, da sie nicht durch eine Tun gerechtfertigt wird. So meine ich, dass es einer
Kritik der Ontologie bedarf, einer Ontologie, die statisch und nicht dynamisch ist.
Statisch ist sie, wenn sie eine aus grenzende und abgrenzende Funktion ausfüllt.

Mit anderen Worten: Sie ist als Moment der Differenzierung gegen Häresien und
Fehlentwicklungen notwendig, um die eigene Identität als Kirche zu schützen und diese
damit zu klären. Sie taugt aber nicht als verordnete Wahrheit, der sich die Person immer
und überall unterwerfen muss, die es in jedem Fall zu befolgen gilt, da damit die
Autonomieansprüche der jeweiligen Person tangiert werden. Ob man diese geltend

27 Höfer Die vielen Dogmen und der eine Glaube, Karl Rahner Akademie Köln 2006
28 Lumen gentium

17
gemachten Autonomieansprüche allerdings als Relativismus anprangern soll und muss
wie vom Papst (Wahrheit als definitive, allein gültige Aussage) immer wieder gesagt,
bleibt im Kontext der Moderne und in der Beachtung des allgegenwärtigen Pluralismus
fraglich. Denn durch die Behauptung eines Wahrheitsanspruches an sich wird die
katholische Sicht exklusivistisch und ist im Set der pluralen Religionen kaum
dialogfähig.

Da nur diese Sicht der in Jesus sich zeigenden Wahrheit als absolut gilt, wird diese Sicht
dogmatisiert und als Orthodoxie erklärt, alle anderen Wahrheitsaussagen ist hieran
gemessen dann relativ. Im Sinne aber einer dialogisch sich verstehenden Wahrheit, die
Maß nimmt an Jesu Handeln und aussagt Ich bin die Wahrheit und letztlich ein Handeln
in und aus Liebe bedeutet, sind sie weniger oder gar nicht exklusiv, im Gegenteil ihnen
kann ein universeller Geltungsanspruch zukommen.29 Das Liebesgebot ist die Wahrheit
und nicht die Wahrheit ist das Gebot.

Theologie und Wahrheit sind somit im obigen dogmatischen Fall des Ist nur im Singular
denkbar. Und sie schließt jeden anderen Begriff der Wahrheit aus, sie macht jeden
anderen Wahrheitsbegriff auch defizitär. Hierbei vergisst man aber, dass in der Kirche
schon immer Theologie im Plural betrieben wurde (Ostkirche- Westkirche, Kirchenväter
usw.) Aber man muss auch anmerken und als Kritikpunkt erkennen, dass alle
Glaubenssätze menschliche Sätze sind und sie können nie alles aussagen. Insofern meine
ich, dass eine dialogisch konzipierte Wahrheit, die auf das Ich bin die Wahrheit
reflektiert und die sich im Handeln exemplifiziert, eher verbindend und dialogfähig ist als
eine ontologisierende Rede des Jesus ist die Wahrheit.

29 Vattimo, Gianni: Christentum im Zeitalter der Interpretation 2005

18
Offenbarung

Im Catechismus Romanus (1566, erschienen nach dem Trienter Konzil 1545-48) wurde
Offenbarung definiert als: „est occultae et supranaturalis veritatis manifestatio”. Lange
Zeit war damit der Topos Offenbarung in der Theologie ein selbstverständlicher Ort. Das
hat sich aber grundlegend gewandelt. Allein die Pluralismusdebatte stellte für den
Offenbarungsglauben eine entscheidende Herausforderung dar. Offenbarung mit einem
eindeutigen und einheitlichen Begriff zu präzisieren ist schwierig, denn Offenbarung hat
es mit dem Sagen des Unsagbaren zu tun.30 Gott als der ganz Andere. Die bisherigen
theologischen Deutungs- und Erklärungsversuche über das Wesentliche des
Offenbarungsbegriffs ergeben keinen einheitlichen und eindeutigen Befund. Denn je nach
dem jeweiligen Focus wird mal die Innenwelt des Subjekts (Rahner), mal Gott der als
Sich-Offenbarender aber nicht vom Menschen aus erkennbar ist (Barth), mal das
Geschichtliche (Tillich) betont. Die dialektische Balance zwischen Sagen und Unsagbar,
Bedingt und Unbedingt, Konkretion und Verborgenheit, zwischen Außen- und
Innenperspektive kann kaum ohne Einseitigkeiten auf der einen oder anderen Seite und
zu Lasten der einen oder anderen gehalten werden. So ist letztlich auch jeder Versuch
aufgrund der Komplexität des Themas immer nur vorläufig und in sich begrenzt und
zudem zeitgeschichtlich gebunden. Es stellt sich also immer wieder neu die Frage nach
den Offenbarungsorten und der jeweiligen Offenbarungsform. Trotz aller dieser
genannten Schwierigkeiten ist und bleibt Offenbarung aber dennoch der zentrale
Glaubensbegriff, geradezu das Kernstück christlichen Glaubens, fundamentaltheologisch
als demonstratio christiana bezeichnet.

Offenbarungsmodelle
Im katholischen Raum gibt es vereinfacht drei Offenbarungsmodelle, das älteste ist das
frühpatristische, auch das epiphanische genannt. Hierbei wird Offenbarung als göttliche
Erscheinung verstanden. Das nächste Offenbarungsmodell ist das instruktionstheoretische
des I. Vaticanums. Hier wird Offenbarung als eine auf übernatürlichem Wege von Gott
her kommende angesehen. Denn die ewigen Ratschlüsse seines Willens sollen den
Menschen offenbart werden. Dem Menschen sind sie aber aus sich heraus nicht
zugänglich. Es gibt zwei Erkenntnisquellen für die Offenbarung: die natürliche-
menschliche Vernunft und die übernatürliche, dies sind Offenbarungswahrheiten, die nur
Gott mitteilen kann. Hier ist dann der Begriff der Gnade angesiedelt. Die Aufgabe der
Kirche ist es, den sorgfältigen Transport dieser Wahrheiten in den Sätzen, in denen sie
verpackt sind, durch alle Zeiten zu übernehmen. Es ist also eine belehrende Mitteilung
über Sätze, deren Übernahme soll garantiert werden. Die Beziehung zwischen Lehramt
und Gläubigen ist hier das sogenannte Delegationsmodell: das kirchliche Amt lehrt, die
Theologie erklärt, und der Gläubige hört.

30 Hoff Gregor Maria Offenbarungen Gottes? Pustet 2007, 32

19
Abgelöst wurde dieses Modell durch das kommunikationstheoretisch geprägte
Offenbarungsverständnis des II. Vaticanums. (1962-65) Offenbarung als Selbstmitteilung
Gottes. Die Beziehung zwischen dem Lehramt und den Gläubigen ist hier das
Interaktionsmodell. Das Lehramt der Kirche, die Theologie und die Gläubigen stehen als
Bezeugungsinstanzen in enger Korrelation zueinander. Jede ist zugleich lehrend als auch
hörend.

Grundlagen des Offenbarungsbegriffs

Nach der Vorstellung dieser wesentlichen Modelle kann man den Kernbestand des
Offenbarungsbegriffs aber festschreiben, wonach alle Aussagen über den Begriff
Offenbarung einen gemeinsamen Bezugs- und Angelpunkt haben. Offenbarung hat
zentral mit Transzendenz, mit Gott und dem Verhältnis Gott/ Mensch in seiner
Selbstmitteilung in Jesus Christus in der Geschichte zu tun. Heilsgeschichte ereignet sich
in der Weltgeschichte. Und das heißt: die Mitteilung Gottes als des Heils schlechthin
ereignet sich unter jener freien Annahme dieser Mitteilung, die wir Glaube, Hoffnung
und Liebe nennen in der Freiheit des Menschen.31 Heilsgeschichte ist von der
Profangeschichte verschieden, weil die Porfangeschichte keine eindeutige Interpretation
auf Heil und Unheil gestattet, das in ihr geschieht. 32

Es sind also drei Größen Gott/ Jesus/ Mensch in der Geschichte als Offenbarungsorte
auszumachen. Christliche Offenbarungstheologie steht vor der Aufgabe, die Offenbarung
Gottes in der Singularität eines geschichtlichen Ereignisses und der Universalität seiner
bleibenden Bedeutung so zu bestimmen, dass sie das in Jesus Christus erschlossene
Gottesverhältnis jenseits von Ausschließungsmustern zur Sprache bringt.33 Offenbarung
bezeichnet einmal das Unnennbare, Unaussprechliche, was jenseits unseres Zugriffs liegt
und der letzte Grund des Glaubens ist (Gott). Auf der anderen Seite bezeichnet
Offenbarung aber die reflexive, in Begriffen gefasste Manifestation der prinzipiell
unbegreiflichen Offenbarung (Mensch). 34

Bei dem Begriff Offenbarung geht es aber nicht nur um eine begriffliche Klärung von
Transzendenz und des Sich offenbarenden Gottes in der Geschichte, sondern bei
Offenbarung geht es zentral auch um die Frage nach der Wesensbestimmung des
Menschen. Der Begriff Offenbarung hat also neben der theologischen, eine historische
und wesentlich auch eine anthropologische Kernkomponente, die es zu klären gilt. Es gilt
nach den Möglichkeitsbedingungen zu fragen unter denen der Mensch als Subjekt in der
Geschichte überhaupt das Wort Gottes vernehmen kann. Die Offenbarung ereignet sich
im Weltinnenraum des Subjekts, gebunden an die menschliche Vernunft, die ihren
Begriff prägt. Damit wird Offenbarung im präreflexiv geschalteten Selbstbewusstsein

31 Rahner, Karl, Schriften zur Theologie, Band V, Benziger 1962, 116


32 Rahner, Karl aaO 119
33 Hoff Gregor Maria aaO 12
34 Schillebeeckx , Eduard: Menschen, die Geschichte von Gott, Freiburg, Herder 1990. 38- 52

20
transzendental verortet, denn in der Möglichkeit des Hörens auf eine göttliche
Offenbarung liegt bereits die verborgene Gegenwart Gottes, der im Menschen ankommen
will. 35 Offenbarungserfahrung tragen bei zu einer Selbstvergewisserung über den
eigenen Weg, sie haben damit einen identifikatorischen und identitätsstiftenden
Charakter. Wenn im Christentum etwas „Besonderes“ geoffenbart worden ist, so liegt es
gewiss nicht auf der Ebene der Information, sondern der Performation: es geht nicht um
neue Inhalte, die man so nicht gewusst hätte, sondern es geht ganz und gar um eine
endgültige Ernstnahme und Veränderung der menschlichen Existenz.36

Wenn der Mensch für religiöse Erfahrungen offen ist, dann weisen diese seine religiösen
Erfahrungen aber keine andere Struktur auf als andere menschlichen Erfahrungen auch.
Das Wort Erfahrung, das in sich mehrdeutig ist, wird in diesem Zusammenhang als
ontologische Berührung37 verstanden. Es ist eine Erfahrung, die unser innerstes Sein
transformiert, man fühlt sich von einer stärkeren Wirklichkeit gefangen. Wenn sie
religiösen Erfahrungen aber die gleiche Struktur wie andere Erfahrungen aufweisen, sind
sie dann aber-, so wird zu fragen sein-, als genuine religiöse Erfahrungen unterscheidbar
von den anderen Erfahrungen?

Offenbarung hat – und das ist fundamental – keinen anderen Darstellungs- und
Erfahrungsmodus als die menschliche Sprache. In Sprache sagt sich das eigene Ich und
die eigene Person aus, wobei diese Selbstaussage aber dialogisch strukturiert ist, in einen
Dialog münden muss, um als Selbstaussage auch erfahrbar sein zu können. Dieser Dialog
ist aber nie ein rein verbaler, sondern im Dialog sagt sich gleichzeitig immer das
jeweilige Handeln mit aus. Denken und Handeln sind nicht trennbar. Sie sind elementar
miteinander verbunden. Das Subjekt erzählt handelnd seine Überzeugungen, somit
beweist die Orthopraxie des jeweiligen Subjekts immer gleichzeitig auch seine
Orthodoxie.

Und neben dieser Sprache, die wir im alltäglichen Kontext benutzen, gibt es auch die
Sprache der Poesie, die Sprache des Symbols. Worte wie Wasser,
Luft, Erde sagen neben dem Informativen noch etwas Affektives aus. Dieses Affektive
konstruiert neben der Sachinformation, die dieses Wort trägt, eine weitere persönliche,
und auch eine kulturelle, und kulturell-geschichtliche, archätypische Information, die zu
der Sachinformation dazu kommt, die eben im Gebrauch solcher poetischen Worte
mitschwingt. Und hier gilt zu fragen, ob es nicht auch eine christliche Symbolsprache
gibt, die auf der Ebene der Bilder und nicht auf der Ebene der Ratio angesiedelt ist? Die
sich wesentlich in ihrer vor-sprachlichen Tiefenstruktur aussagt? Die sich nicht
intellektualisieren und dogmatisieren lässt. Religionspsychologisch ist dies sogar
wahrscheinlich. Und es wäre zu fragen, ob denn nicht in diesem vor-sprachlichen, nicht-
rationalem Raum der Poesie die oben erwähnte ontologische Berührung stattfindet? Mit
anderen Worten: welche Grundlage hat die religiöse Symbolsprache, ist sie Ausdruck

35 Hoff Gregor Maria aaO 23


36 Drewermann, Eugen, Glauben in Freiheit oder Tiefenpsychologie und Dogma, Walter 1993, 213
37 Panikkar, Raimon, Christophanie, Erfahrung des Heiligen als Erscheinung Christi, Herder, 2006, 41

21
innerer Erfahrung oder ist sie der Eindruck einer äußeren Setzung?38

Im alltäglichen Sprachgebrauch versteht man unter Offenbarung soviel, wie:


Entschleiern, Aufklären, Verborgenes lichten, ein Licht geht einem auf, man wird
erleuchtet, es wird einem etwas klar. Als Modell für eine solche Sprache wäre die
Heilung des Blinden nach Mk 8, 22-26 anzusehen. Kann man diese Vokabeln des Sehens
und Hörens auch für die Offenbarung gebrauchen, speziell für die religiöse
Offenbarungserfahrung? Solche in Mk 8,22-26 geschilderte Offenbarungserfahrung kann
nur unter der Voraussetzung erlebt werden, wenn die Botschaft Jesu keine Deformation
in Form einer Intellektualisierung seines Glaubensbegriffs und Substanzialisierung und
metaphysische Objektivierung seiner Glaubensinhalte erfährt. 39 Als Offenbarung Gottes
darf sie nicht in dieses Korsett eingespannt werden und letztlich, da objektiviert-
entsubjektiviert werden. Hierbei geht es nicht um eine Selbsterlösung, wohl aber um eine
Selbstfindung als Ausdruck der Erlöstheit des Daseins im Anruf der Liebe Gottes.40

Bezogen auf die religiösen Erfahrung ist demnach Offenbarung Gottes Wort im
geschichtlichen Dialog Gott/Mensch. Entscheidend ist hierbei aber, dass es authentische
Erfahrung des Transzendenten, des Wortes Gottes an den Menschen gibt, die aber nur im
Zuge einer Interpretationsleistung im menschlichen Bewusstsein als Manifestation der
Transzendenz verarbeitet werden. Sie sind aber nie als Ereignisse der rein affirmativ
beschreibbaren Unmittelbarkeit Gottes zu bestimmen. Sie müssen sich diskursiv
bewähren. Diskursiv ist die Offenbarung Gottes in zweifacher Hinsicht mit einem Akt
der Bestreitung verbunden. Sie widerspricht der Erwartung einer unvermittelten
Unmittelbarkeit von Gottes Wirklichkeit ebenso wie der Gleichsetzung mit seiner
Abwesenheit oder Nicht-Existenz. Bestreitung meint hier: davon auszugehen, dass an
dem bisher Gesagten etwas fehlt und dass es noch aussteht. 41

Im Folgenden möchte ich den Begriff Offenbarung und die entsprechenden


Offenbarungsmodelle näher untersuchen und vorstellen. Ich beschränke mich auf die
Darstellung der zwei wesentlichen Offenbarungsmodelle des I. Vaticanums und des
II.Vaticanum. Diese beiden nehme ich als Grundlage, um dann das ein drittes Modell, das
analog dem II. Vaticanum die Kommunikation zur Grundlage hat, zu erörtern. Und als
Ergänzung zu diesem Modell und als Ausblick führe ich dann noch ein Modell von
Vattimo an. Bei dem Modell von Vattimo gilt zu fragen, ob nach der Aufklärung und
dem sogenannten linguistic turn das Sprechen über Offenbarung nicht ein anderes sein
muss. Auf dieser kurzen zeitgeschichtlichen Hintergrundskizze möchte ich die beiden
Modelle über Offenbarung des I. und II. Vaticanums diesen beiden Modellen
entgegenstellen und sie so kontrastieren.

Bei der Darstellung der einzelnen Modelle von Offenbarung sind zunächst die allgemein

38 Drewermann, Eugen, Glauben in Freiheit oder Tiefenpsychologie und Dogmatik, Walter 1993, 204
39 Drewermann, Eugen aaO 246
40 Drewermann, Eugen aaO 249
41 Höhn, Hans Joachim, der fremde Gott, Echter 2008, 101

22
anerkannten Quellen von Offenbarung vorzustellen.

Offenbarungsquellen

In der christlichen Offenbarung sind ihre wesentlichen Quellen die Schrift und die
Tradition. Sie stehen an erster Stelle. Sie sind die Bezeugunsginstanzen des Glaubens, die
in der Vergangenheit liegen. Als weitere Bezeugungsinstanzen und Quellen der
Offenbarung sind die Kirche mitsamt dem kirchlichen Lehramt, die wissenschaftliche
Theologie und der allgemeine Glaubenssinn der Gläubigen zu nennen. Die Heilige
Schrift ist die in der Kanonbildung zusammengefasst. Sie ist nicht ergänzungsfähig. Zur
katholischen Überzeugung, die niemals in Abrede gestellt wurde, gehört deswegen der
Primat der Heiligen Schrift für die Glaubensbestimmung. Genauso gehört zur
Glaubensbestimmung die Tradition als die Manifestation der Aussagen der Konzilien,
Dogmen und Überlegungen der Kirchenväter, also der Theologie. Als weitere Quelle der
Offenbarung gilt die Gemeinschaft der Glaubenden, die die Kirche Jesu Christi genannt
wird. Sie ist als die in der Nachfolge Christi entstandene Institution aufzufassen, die aus
der Vergangenheit den Glaubenssinn und für die Zukunft das Lehramt aufweist. Das
bedeutet sie, die Kirche, hat auf der einen Seite die Schrift als ihren Bezugspunkt und auf
der anderen Seite ist jedes Denken immer auch eingebettet in die Tradition. Die Kirche
als die Bewahrerin der Offenbarung hat ihrerseits nun einen vierfach unterschiedlichen
Auftrag. Es ist einmal ein universeller Auftrag an alle Menschen, das Heil für alle
Menschen zu sein, dann ein sakramentaler, der sich in der Taufe vollzieht, zudem einen
doktrinalen Auftrag, eine Lehre fürs Leben soll entwickelt werden, dann einen
christozentrischen, denn alle Verkündigung hat ihren Bezug auf Jesus Evangelium und
viertens ist dieser Auftrag pneumatologisch gesichert, durch den Heiligen Geist ist das
Bleiben Christi während der geschichtsidentischen Auftragserfüllung garantiert.42

Die Schrift als Offenbarungsquelle

In der Schrift unterscheidet man drei Kategorien: die Verbalinspiration, die


Realinspiration und die Personalinspiration. Trotz der Aussage, dass die
Verständniskategorien alle inspiriert, das heißt geistgewirkt sind, muss man dennoch
einschränkend sagen, dass die Bibel nicht identisch mit dem Wort Gottes ist, sondern sie
ist der authentische, kirchlich rezipierte und damit verbindliche Niederschlag des
Gotteswortes. Und die Geistgewirktheit der Bibel stellt eine einzigartige und
unwiederholbare Tatsache dar, deren sie nach der Festlegung des Kanons als oberste und
absolute Norm des Offenbarungsglaubens für alle Zeiten gelten muss. Und damit ist sie
die hierarchisch erste Bezeugungsinstanz des Christusglaubens. Alle anderen Instanzen
sind auf sie bezogen.43

42 Beinert, Wolfgang: Kann man dem Glauben trauen? Grundlagen theologischer Erkenntnis, Pustet 2004
S.16
43 Beinert aaO 88

23
Die Tradition als Offenbarungsquelle

Hier muss man unterscheiden zwischen den verbindlichen Offenbarungsinhalten –


Überlieferungen, die es zu bewahren gilt als Gottes Wort – und deren Ausgestaltung und
Vermittlung (Traditio und traditiones). Tradition zeigt die Identität, Kontinuität und
Entfaltung der Offenbarung durch die Geschichte bis heute an. Sie ist damit als
Überlieferung der Selbstmitteilung Gottes Bezeugunsinstanz für den Glauben, die
verbindlich aussagt, was zu Inhalt und Bedeutung einer Glaubensaussage zu rechnen ist.
Zur Problematik der Tradition sagt Rahner: „Selbst wenn wir nämlich annehmen, dass es
eine Quelle neben der Schrift gäbe, die uns materiale Glaubensinhalte bezeugen würde,
die nicht auch in der Heiligen Schrift zu finden sind, so wäre diese Traditionsquelle doch
faktisch nicht so, dass in ihr nur das von Gott als rein garantiertes Zeugnis der eigentlich
offenbarungsmäßigen, apostolischen Überlieferung mit menschlicher Überlieferung
unvermischt gegeben wäre. Denn von Anfang des geschichtlichen Ganges der
Offenbarung an war sie begleitet von menschlich theologischer Reflexion, von rein
menschlichen Wissen und Minen, von Irrtümern.44

Das Geltendmachen der Überlieferung als kritische Instanz bedarf einer wachen
Sensibilität. Das Gespräch über Tradition in synchroner und diachroner Communio kann
sich nicht darauf beschränken, den Späteren aufzubürden, einfach die Texte der Früheren
nach zusprechen. Bei der Tradition ist zu fordern, dass sie eine befreiende-kritische
Funktion einnimmt. Die Differenziertheit der Überlieferungsprozesse und das eigene
Beteiligtsein gilt es ihm Auge zu behalten. Das sich-heraus-halten aus
Modernisierungsmomenten verhindert Authentizität, denn es verstärkt die
Marginalisierugsprozesse religiöser Traditionen, da das Ineinander von Inkulturation und
Überlieferung als verhängnisvoll angesehen wird. Unter der Voraussetzung eines
instruktionstheoretischen Traditionsverständnisses kommt es innerhalb der
gesellschaftlichen Entwicklung zu einem extraterritorialen Traditionsprozess als Ideal. 45

Nach diesem Traditionsverständnis ist das depositum fidei ein Kompendium himmlischer
Wahrheiten, die als solche identifizierbar sind, dass sie in der Kirche von Anfang an als
solche in Geltung standen und- jedenfalls der Tendenz nach- unbestritten waren. In
diesem Modell ist Diskontinuität und Individualität das von vornherein das Nicht- Sein-
Sollende, möglichst Auszuschaltende. 46 Kirchliche Traditionsprozesse müssen im ganzen
aber als Dienst an lebensnotwendigen In- Erinnerung-Bringen dessen erkennbar sein, was
nicht vergessen werden darf. Das setzt aber voraus, dass Tradition nicht als ein
Antwortreservoir, sondern als Erinnerungsraum eröffnet ist. Wo aber Traditionen
lebendig sind, führen sie zu Spannungen, Diskontinuitäten und Krisen auch zu
gefährlichen Erinnerungen47 des vielfach Verdrängten. Als gefährliche Erinnerungen
bezeichnet Metz, die in ihrer geschichtlichen und gesellschaftlichen Vermittlung

44 Rahner, Karl , Schriften zur Theologie Band V, Benziger 1962, 78


45 Werbick, Jürgen, den Glauben verantworten, eine Fundamentaltheologie Herder 2004 ,820
46 Werbick aaO S 822
47 Metz, Johann Baptist, Erinnerung161,

24
ausgearbeitete Gestalt von eschatologischer Hoffnung.48 Nur so können neue
Glaubenserfahrungen entstehen. Der kirchliche Traditionsbegriff könnte entscheidend
profitieren von dem Konzept des „kulturellen Gedächtnisses”, welches besagt:
Gedächtnis konstruiert Zeit als Interferenz zwischen Vergangenheit und Zukunft.49

Und so gibt es nicht nur die Traditio, sondern es gelten die traditiones. Deshalb bedeutet
die Rückführung auf das konkrete Heilshandeln Gottes, das in Jesus Christus gebündelt
ist, zugleich eine kritische Befragung der Traditionen, welche in der kirchlichen Tradition
verankert sind. Diese sind als Teil christlichen Lebens in den Begrenztheiten
menschlicher Möglichkeiten integriert und deshalb immer auch auf Verkürzungen zu
untersuchen. Dort, wo die Bejahung und Erfüllung nur um ihrer selbst willen- mit Bezug
auf die sie stützende Autoritäten- eingefordert werden, ist an die stete Vor- und
Überordnung des Gotteswortes zu erinnern.50

Lebendige kirchliche Traditionsprozesse vollziehen sich als ein „Sich-Einfädeln” in einen


Dialog und sind deshalb selbst Kommunikationsversuche auf dem Feld ekklesialer
Selbstverständigung im Geist der schriftgewordenen Überlieferung.51 Und dieser
Überlieferungsprozess des christlich Kennzeichnenden kann nicht instruktionstheoretisch
verstanden werden.

Auf die anderen Bezeugungsinstanzen des Glaubens wie Lehramt, Theologie und
Glaubenssinn kann ich hier nicht näher eingehen.

Um meine Kernthese von der notwendig anthropologischen Grundlage für Offenbarung


darzustellen, gehe ich auf diese nun näher ein.

Existentielle Daseinserfahrung als Offenbarungsquelle

Der Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist die These, dass der Mensch für
Offenbarungen offen ist, dass er sie vernehmen kann, dass er aber damit auch Offenbartes
verstehen kann. Und das Medium der Offenbarung ist die Sprache. Sprache im hörenden
Dialog. Der anthropologische Rekurs ist insoweit legitim, als er die Ansprechbarkeit des
Menschen gleichsam als seine innere Disposition für Gottes Offenbarung in menschlicher
Selbsterfahrung freilegt.

Der Begriff Offenbarung, den ich hier verwende, hat insgesamt drei Funktionen. Im
religiösen Kontext ist er eine Sammelbezeichnung für alles, was Inhalt des Glaubens ist.
Eine weitere Funktion des Offenbarungsbegriffes ist, dass er eine Legitimationskategorie
und einen Geltungsgrund für die christliche Botschaft darstellt, und er ist

48 Metz, Johann Baptist, aaO


49 Assmann, A. Erinnerungsräume, 1992 S. 7
50 Knoch, W. Offenbarung, Schrift und Tradition, Paderborn 1997 , 236
51 Werbick, Jürgen aaO 826

25
Rechtfertigungsgrund für die christliche Botschaft.52

Bezogen auf den Menschen bedeutet Offenbarung in ihrem religiösen Kontext,- und die
Schrift und insbesondere das AT deuten Offenbarung so-, die Darstellung einer
existentiellen Erfahrung mit Gott. Kampf Jakobs, brennender Dornbusch, Abraham,
Noah und generell die prophetischen Aussagen. Zu den Propheten und ihren
eschatologischen Aussagen sagt K. Rahner folgendes: „Der Mensch wird nämlich durch
die Auffassung der eschatologischen Aussagen als einer antizipierenden Reportage
künftiger Ereignisse selbst enteschatologisiert, d.h. ein Wesen, das in seiner Gegenwart
als solcher selbst durch das Künftige nicht betroffen ist, weil das Künftige dann nur noch
als das abständige Ausständige und nicht mehr als Künftiges Anwesendes ist, und so wird
die eschatologische Aussage zu einer Aussage, die uns jetzt gar nichts angeht, weil sie ja
eindeutig auf eine spätere Zeit als selbständig ausständige und sonst nichts bezieht. Es
muss also nach einem apriorischen Raum eschatologischer Aussagen gefragt werden,
nach einem eigentlichen Verständnishorizont.“53 Existentiell wesentlich und erfahrbar ist
Offenbarung nach Rahner nicht die Überführung des bisher Nichtgewußten in das
Stadium des nun Gewussten und durchschaut Verfügbaren, sondern das erste Aufgehen
und Nahekommen des Geheimnisses als solchen.54

Die Bedeutung des Textes (Schrift) und seine jeweilige Interpretation, wenn von
Offenbarungen gesprochen wird, ist die eine Seite, die es zu beachten gilt und die andere
ist die im Text geschilderte existentielle Erfahrung. Ich möchte hierbei nicht auf
grundlegende Probleme der kritischen Exegese eingehen, denn dieses würde den Rahmen
sprengen. Dennoch kann man soviel sagen, dass es in diesen jeweiligen Ebenen, der
Ebene der Exegese und der der Erfahrung zweierlei Grammatiken gibt. Die Grammatik
der Sprache, die sich als Exegese zeigt und die Offenbarung interpretierbar macht und
zum anderen die Grammatik der Existenz und damit als Interpretation des Daseins. Im
letzteren Fall bedeutet Offenbarung dann die Eröffnung eines Daseinshorizontes. So
verweisen Offenbarungsschilderungen in ihrem Text auf die dahinter liegende
existenzerhellende Grunderfahrung mit Gott. Und zu dieser Grunderfahrung sagt Rahner
„das Wissen um das Zukünftige wird das Wissen um die Zukünftigkeit der Gegenwart
sein, das eschatologische Wissen ist das Wissen um die eschatologische Gegenwart. Die
eschatologische Aussage ist nicht eine additiv zusätzliche Aussage, die zur Aussage über
Gegenwart und Vergangenheit des Menschen noch hinzugefügt wird, sondern ein inneres
Moment an diesem Selbstverständnis des Menschen, denn das Wissen um die Zukunft ist
ein Moment am Wissen um seine Gegenwart.“ 55

Offenbarung steht aber auch in der Korrespondenz von Erfahrung und Vernunft.
Offenbarung ist also nicht etwas, was fernab der Vernunft sich ereignet und damit die
Vernunft überflüssig macht oder sie sogar sinnlos macht, sondern Offenbarung steht

52 Höhn, Karl-Heinz ,Offenbarung Vorlesung SS 2007


53 Rahner, Karl Die Theologie der Zukunft 35
54 Rahner, Karl aaO 36
55 Rahner, Karl aaO 38

26
immer im Kontext der Vernunft. Man kann sagen, dass sich die Vernunft durch die
Offenbarung weitet. Offenbarung verhält sich zur Vernunft also additiv, wobei die
Vernunft aber nicht außer Kraft gesetzt ist und außer Kraft gesetzt wird. Wenn
Offenbarung etwas ist, das additiv zum Erfahrung des Menschen dazukommt, gilt dies
auch für die Offenbarung religiöser Erfahrungen?

Daraus leitet sich die Frage ab, gibt es eine Eigengesetzlichkeit religiöser Erfahrung, die
nicht an ihrem Inhalt oder ihrer Deutung, sondern an der Struktur einer besonderen
Korrelation von Vollzug und Gehalt festzumachen ist? Das heißt mit anderen Worten
gesagt, dass religiöse Offenbarungsinhalte nicht dadurch gekennzeichnet sind, weil sie
auf Grund ihres Inhaltes als solche gedeutet werden und von der Offenbarung her
gedeutet werden, sondern die Frage ist, ob sie den Menschen, dem etwas geoffenbart
wurde, in seinem So-Sein so verändern, dass man aus dieser sich dann existentiell
zeigenden Veränderung auf eine Offenbarung schließen kann?

Daraus leiten sich einige Grundfragen zur Offenbarung ab. In welcher spezifischen
Gestalt muss sich die Transzendenz zeigen, um als sich offenbarend verstanden zu
werden und als religiöse erfahrbar zu werden? Wie kann ich sicher sein, dass ich in
Menschenwort Gottes Wort höre? Wie kann ich erfahren, dass mich Gott direkt oder
indirekt anspricht? Dass er redet und nicht schweigt? Und wie muss der Mensch sein, um
für Gottes offenbarendes Wort empfänglich zu sein? Diese Möglichkeit des Menschen
für Offenbarung offen zu sein nennt Rahner das übernatürliches Existential.56 Dieses
Existential beschreibt Rahner wie folgt: „Aus seinem Wesen heraus ist der Mensch
Fragender, ja absolute Frage, die an keinem Punkt halt macht. Eine objektive Neugier ist
ihm gegeben, der, noch bevor er zu fragen beginnt, immer schon mit der
zuvorkommenden, in der Mitte seiner Existenz ein gesenkten Gnade des Heiligen Geistes
begabt ist, d.h. begabt, die Frage nach dem Unendlichen zu stellen und sich auf die
Unbegreiflichkeit Gottes zu öffnen.“ 57 Dieses ist die anthropologische
Grundvoraussetzung für Offenbarung und ist begründet in der Selbst-Transzendenz des
Menschen. Kann der Mensch und konnte er schon immer Hörer des Wortes sein? Gibt es
also dieses anthropologische Korrelat im Binnenraum des Subjekts für Offenbarung? Das
Subjekt als erfahrendes Bewusstsein? 58 Damit erscheint aber die Welt und der Mensch
selbst als ein locus theologicus. Dieser ist damit eine konstitutive Größe, um überhaupt
von Offenbarung sprechen zu können. Wenn man das bejaht, dann wäre die Möglichkeit
und auch die Notwendigkeit die Zeichen der Zeit als Manifestation einer universellen und
gültigen Offenbarung zu lesen. Damit wäre Offenbarung als im universellen Heilsplan
Gottes immer und überall gegebene vor auszusetzen! Damit wäre aber nicht nur das
Subjekt, sondern auch die Geschichte eine signifikante Offenbarungsgröße, weil sich die
Spuren des Transzendenten in der Geschichte ausbilden. Offenbarung ist dann also die
schon immer sich geschichtlich zeigende und sich darstellende Beziehung von Gott zum
Menschen! Wenn Jesus Selbstmitteilung Gottes ist, dann besitzt alles in seinem Leben

56 Rahner, Karl Grundkurs des Glaubens


57 Rahner, Karl, Glaubensbegründung heute Band XII der Theologie Benziger, 24
58 Schillebeeckx, Eduard Erfahrungen und Glaube, Herder 1980, 86

27
Offenbarungsqualität. Man kann ihm überall begegnen. Die Identität Gottes wird also in
der Differenz von Gott und Mensch, von Schöpfer und Geschöpf offenbar. 59 Christliche
Anthropologie und und christliche Eschatologie sind letztlich Christologie in der Einheit
der verschiedenen Phasen des Anfangs, der Gegenwart und des vollendeten
Endes.60

Um die aufgeworfenen Fragen wie und wo kann Offenbarung als Offenbarung bestimmt
werden, wo findet sie statt und wie wird das bestimmende Verhältnis Offenbarung Gottes
und Wesen des Menschen deutlicher und verständlicher, gilt es den Ort des Dialoges
Gott/Mensch genauer zu markieren. Ausgegangen wird hierbei vom phänomenologischen
Grundgesetz nach Husserl. Zwischen der Struktur eines Erkenntnisaktes und der
Weseneigentümlichkeit in der in diesem Akt bestimmte Inhalte orginär gegeben sind,
besteht eine enge Korrelation. Noesis und Noema entsprechen einander. Im Beispiel nur
das Auge kann Farben als Farben erkennen. Diese phänomenologische Korrespondenz
wäre eine Möglichkeit um das, was sich zwischen Mensch und Gott ereignet und das,
was man Offenbarung nennt, näher zu beschreiben. Möglich wäre auch Offenbarung als
Erfahrung einer Resonanz zu verstehen. Dann nämlich, wenn in mir als Person etwas
zum Schwingen gebracht wird und mitschwingt, wobei ich selbst aber nicht die
Tonquelle bin. Sondern in mir wird lediglich etwas angestoßen, und weil sich in mir eine
Resonanz bildet, weil ich als Mensch Resonanzraum bin, gerate ich ins Schwingen.

Auf der menschlichen Seite gibt es nun wesentliche Erfahrungen, die man
Erschließungserfahrungen nennt, sogenannte disclosure. Solche Erfahrungen lassen
plötzlich die Welt in einem anderen Licht sehen. Sie erschließen mir die Welt. Diese
diclosures umfassen viele Erfahrungen: Erfahrung von Sachverhalten bzw. das Aufgehen
von Einsichten. Sie betreffen das, was jenseits dessen liegt, was bislang im Umkreis der
Bedingungen und Möglichkeiten und verbindlichen Gewissheiten meines Wissens und
Handelns gegenwärtig war. Mit anderen Worten: ich bin außer mir und doch bei mir.

So stellt sich die Frage, ob Offenbarung etwas ist das immer jenseits der Bedingungen
und Möglichkeiten meiner selbst liegt? Und die zweite Frage wäre, ob Offenbarung
immer jenseits der Vernunft und der Kohärenz liegt?

Auf die erste Frage ist sicher mit einem Nein zu antworten. Offenbarung ist also immer
etwas, was mit mir als Person, mit meiner Erfahrung zu tun hat. Meine Erfahrungen
müssen vorausgesetzt werden, um Offenbarung wirksam werden zu lassen. Offenbarung
spricht die gleiche Sprache, sie ist immer in menschlicher Sprache vermittelt.
Offenbarung heißt dann Übersetzung, denn Gott übersetzt sich, seinen Willen sein
Versprechen in die Sprache, die Menschen sprechen. Deswegen bedarf es der
Hermeneutik, die im Text der Ereignisse, in menschlichen Sprechversuchen Gottes Wort
zu verstehen und zur Sprache zu bringen. Offenbarung ist nie außerhalb der personalen
Welterfahrung möglich.

59 Hoff, Gregor Maria aaO 137


60 Rahner, Karl Theologie der Zukunft 41

28
Bei der Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und Offenbarung ist davon auszugehen,
dass hier ein additives Verhältnis von Vernunft zur Offenbarung besteht. Offenbarung ist
nicht etwas von der Vernunft zu trennendes, etwas das jenseits der Vernunft angesiedelt
ist, sondern sie bedeutet immer eine neue Deutungskompetenz der Wirklichkeit
gewonnen zu haben. Eine neue Perspektive und eine neue andere Sicht. Im Sinne der
Frage nach der Bedeutung der Offenbarung für das Dasein des Menschen, heißt dies, dass
der Mensch hierdurch Daseinakzeptanz und Sinndeutungsakzeptanz erfährt. Es ist eine
Erfahrung des Unbedingten. Offenbarungen haben aber auch einen Prozesscharakter im
Leben des Einzelnen. Offenbarung ist dann nicht situativ begrenzt und nur Episode,
sondern Richtungsänderung, sie ist Vorkommnis und Vorgang. Es geht um dem
Menschen unverfügbare Geschehnisse im alltäglichen Leben, die dem Empfänger neue
Sachverhalte erschließen, die betroffen machen oder die den tieferen Sinn einer Situation
aufleuchten lassen, dass man nicht einfach wie bisher weiterleben kann.61

Im Folgenden möchte ich aufbauenden auf diese Überlegungen die zwei Modelle über
die Offenbarung das des I. Vaticanums das des II.Vaticanum näher ausführen.

Das Offenbarungsmodell des I. Vaticanum

Nimmt man diese bislang dargestellte Einleitung über Offenbarung zur Grundlage des
Diskurses, so stellt man fest, dass es zwingend anthropologische Grundbedingungen für
die Offenbarung gibt und auch geben muss, ohne die Offenbarung als Offenbarung nicht
möglich ist. Der Offenbarungsbegriff im I. Vaticanum erklärt den Menschen aber zu
einem reinen Empfänger von Offenbarung, denn die Grundlage für das
Offenbarungsverständnis des I. Vaticanums und des Weltkatechismus ist das
dekretorisch-instruktiontheoretische Modell. Offenbarung hat hier eine vertikale
Dimension, vergleichbar einem Sender und Empfänger, wobei die Eigenständigkeit des
Empfängers nicht gewahrt ist. Seine Abhängigkeit vom Sender ist vorausgesetzt. Aber
dieses Modell hat die geschichtlich sich personal existentiell erschließende
Gotteswahrheit nicht im Blick. Damit wird Offenbarung und geoffenbarter Glauben als
das Für-Wahr-Halten einer Lehre beschrieben, dieser hat der Mensch zu gehorchen und
gehorchend zu glauben. Das bedeutet, dass der Kommunikationsraum der Offenbarung
ganz aus der Innenperspektive der Kirche bestimmt wird. Sie verfügt über die Sagbarkeit
der Offenbarung. Gleichzeitig wird eine Pluralismus der Meinungen abgewehrt. Der Ort,
an dem sich Gott offenbart, ist eben die Kirche.

Gleichzeitig wird neben dem dekretorischen Modell auch das extrinsezistische Modell
aufrecht erhalten. Dieses Modell beschreibt, dass der Glauben aufgrund von Wundern
nicht durch Vernunfteinsicht begründet ist. Im I.Vaticanum wird bezüglich der Wunder
folgendes gesagt: „Wer sagt, Wunder können nicht geschehen, deshalb seien alle
Wunderberichte, auch die in der Heiligen Schrift enthaltenen, unter die Legenden und

61 Schmitz, Josef: Offenbarung, Leitfaden, Düsseldorf, Patmos 1988, 21

29
Mythen zu verweisen... der sei ausgeschlossen.” 62

Der Vernunft, da erbsündlich, muss die übernatürliche Offenbarung als Korrektiv


entgegengestellt werden. Trotzdem kann „mit dem natürlichen Licht der Vernunft Gott,
als Ziel und Grund aller Dinge, mit Sicherheit erkannt werden.” Und „wer sagt, die
göttliche Offenbarung könne durch äußere Zeichen nicht glaubwürdig werden, sie müsse
durch rein innere Erfahrung eines jeden oder durch persönliche Erleuchtung die
Menschen zum Glauben bewegen, der sei ausgeschlossen.” (DH 3009 und 3033) Man
geht soweit zu sagen, dass man die Vernunft falsch gebrauche, wenn sie der
Glaubenslehre widerspreche. Denn der übernatürliche Offenbarung gründende Glaube ist
der Vernunft übergeordnet. Im Konfliktfall zwischen Glauben und Vernunft ist das
Unrecht auf Seiten der Vernunft zu suchen. Übernatürliche Erkenntnis und natürliche
Erkenntnis verhalten sich wie zwei weitgehend selbständige Stockwerke, die zwar durch
eine Treppe – die Gottesbeweise, Wunder und Prophezeiungen – miteinander verbunden
sind, aber ein Gespräch zwischen diesen ist nicht möglich.

Die im Glauben angenommene Gottes-Offenbarung ist nicht von der menschlichen


Vernunft einholbar. Sie ist auch dort wahr, wo menschliche Argumente diesen
Wahrheitsanspruch nicht überzeugend legitimieren können. In der Abgrenzung gegen die
natürliche Vernunft und ihren Monopolanspruch für gesichertes Wissen wird das
Geoffenbarte dann als ein Wissen sui generis eingeführt. Offenbarung soll also ein
Wissen hervorrufen, deren Kenntnis und Anerkenntnis über die Heilszukunft des
Menschen entscheidet. Es kommt damit zu Exklusivitätsansprüchen der Offenbarung, da
Gottes Offenbarung als einzige und absolute Quelle des Wissens von Gott dem Menschen
gegeben wird.63

Da alle anderen Wissensquellen dem Menschen keine sicheren und heilsrelevanten


Informationen liefern, ist eine Offenbarung notwendig, die über Exklusivinformationen
verfügt. Gottes Offenbarung gilt hier als die absolute und einzige Quelle eines Wissens,
das niemand haben kann, dem es nicht von Gott selbst und dem vom ihm Beauftragten
übermittelt worden ist. Entsprechend sind die Träger dieses Wissens privilegiert. Der
offenbarungstheologische Exklusivismus wird aber auch mit dem ekklesialen
Exklusivismus verzahnt. Die wahre Kirche ist im Besitz eines Offenbarungswissens, an
der man nur teilhaben kann, wenn man sich dieses Wissen von ihr auslegen lässt. Sie, die
Kirche sieht es als ihre Aufgabe, dieses ihr exklusiv anvertraute Offenbarungswissen
gegen Verfälschungen zu schützen. Über den katholischen Glauben hinaus, kann Gott
nicht wirklich heilsrelevant zur Sprache gebracht werden. Das heißt es gilt: „extra
ecclesiam nulla salus”. Prekär ist diese Haltung, da sie bei anderen religiösen
Überzeugungen nur den Defizit-Charakter ausmacht und für sich selbst einen
Heilsexklusivismus festlegt. Dieser forcierte Supranaturalismus des I. Vaticanums ist
heute schwer zu verstehen.

62 Werbick, Jürgen Fundamentaltheologie Herder 2005, 269


63 Werbick, Jürgen Fundamentaltheologie Herder 2005 365 ff.

30
Auch im Weltkatechismus, immerhin fast 40 Jahre nach dem II. Vaticanum
herausgegeben, ist das dekretorische Offenbarungsmodell zu finden. Um das zu
verdeutlichen sollen die entsprechenden wesentlichen Passagen kurz aufgezählt
werden?64

Im Weltkatechismus wird die Offenbarung mit folgenden Schritten dargestellt:


• Gott gibt so eine überreiche und endgültige Antwort auf die Frage nach dem
Sinn und Ziel des Lebens, die sich der Mensch stellt. (Kurztext WK 68)
• Gott offenbart sich dem Menschen dadurch, dass er ihm sein Mysterium
stufenweise durch Taten und Worte mitteilt. (Kurztext WK § 69)
• Gott hat sich selbst unseren Stammeltern kundgetan. (Kurztext WK § 70)
• Christus ist das endgültige Wort des Vaters. (Kurztext WK § 73)
• Die Weitergabe geschieht durch apostolische Überlieferung, welche mündlich
und schriftlich sich darstellt. (Kurztext WK § 76)
Hier ist also schon wieder oder noch immer das hierarchologische Kirchenmodell zu
finden. Doch davon später.

Geschichtliche Grundlagen zum Verständnis des I. Vaticanums

Die Kirche hatte im 19. Jahrhundert einen Rückzug angetreten und sich bewusst in eine
Gegendarstellung zur Welt positioniert. Dies führte zu einem Auseinderfallen von
Lebens- und Glaubenserfahrung des Einzelnen und der Kirche mit ihrer offiziellen
Glaubensdoktrin. Mit anderen Worten: seitdem stehen sich autoritative Glaubenslehre der
Kirche und authentische Glaubenserfahrung des Menschen nahezu unversöhnlich
gegenüber. Die Offenbarung wurde in dieser Zeit dann selbst dogmatisiert. Sie wurde als
von Gott geoffenbart erklärt. Die Autorität des offenbarenden Gottes wurde damit zum
formalen Glaubenskriterium. Die Doktrin des Lehramtes von der Abgeschlossenheit der
Offenbarung bzw. die grundlegende Normativität des Dogmas bilden nun den
Legitimationsgrund des christlichen Glaubens.65

Dieser Prozess der Doktrinalisierung der amtlichen Theologie im allgemeinen, vor allem
aber der auf seinen doktrinalen Informationsgehalt reduzierte Offenbarungsbegriff sind
Zeichen des Ausklinkens der kirchlichen Administration aus der Erfahrungs- und
Freiheitsgeschichte der damaligen Zeit. Theologie und Kirche gerieten damit
notwendigerweise in eine Kontraststellung zum Individuum, das sich immer mehr als
autonom im Sinn eines selbständigen Verantwortungsträger begriff. Die von der Kirche
geforderte Tugend des Glaubens als gehorsames Für-Wahr-Halten von uneinsichtigen
veritates relevatae stand diesem Freiheitspathos diametral entgegen. Für das neuzeitliche
Bewusstsein war die theologische Konstruktion eines übernatürlich begründeten
Wahrheitsanspruchs, der die menschliche Geist-Natur übersteigende Wahrheitsanspruch
unannehmbar. Und so wurde die Autorität des offenbarenden Gottes zum formalen

64 Beinert, Wolfgang Kann man dem Glauben trauen 20


65 Jansen, Franz-Wilhem: Von der Menschlichkeit Gottes und der Göttlichkeit des Menschen, 2004 28/29

31
Kriterium, zur unfehlbaren göttlichen Autorität sich geschichtlich vermittelnd durch die
kirchliche Lehrautorität.66 So hat sich im I. Vaticanum die Kirche gegen die neuzeitliche
Freiheitsgeschichte defensiv-apologetisch verschlossen und sich somit der Aufgabe
entzogen, die Herausforderung der Neuzeit in einem Prozess geistig-konstruktiver
Auseinandersetzung und Aufarbeitung anzunehmen.67

Die entscheidende Figur für das Offenbarungsverständnis des I.Vaticanums und den
Texten über die Offenbarung im Weltkatechimus ist und war die Superiorität der
übernatürlichen Offenbarung über die menschliche Vernunft. Der Offenbarungsbegriff
wird als gewissheitsbegründendes Fundament des christlichen Glaubens eingeführt und
damit als direkter Gegenbegriff zur Vernunft ausgewiesen. Damit war die Trennung von
vernunftbezogenen Wissen und offenbarungsbezogenen Glauben vollzogen. Da aber
Offenbarung nur als normative Lehre vermittelbar ist, ist logischerweise nur der
Gehorsam die Tugend gegenüber der kirchlichen Autorität. Die Frage stellt sich dann
aber, ob ein Mensch, der nur deshalb moralisch handelt, weil es Gott befiehlt, auch
moralisch handelt? Denn Gehorsam verbürgt noch keine Moralität. Bei diesem
dekretorischen instruktionstheroretischen Offenbarungsbegriff wird auch klar, warum die
Unfehlbarkeit des Papstes als sich eine von der Autorität Gottes ableitende zu verstehen
ist. Diese gleiche Denkfigur findet sich auch in der Schriftauslegung, und somit steht die
Schriftauslegung unter der kirchlichen Lehre. Dies bildet dann eine theologische
Kampfzone, denn das Problem der Irrtumslosigkeit der Schrift ist damit gegeben.

Kritische Fragen an das Offenbarungsverständnis des I. Vaticanums

Das Modell des I.Vaticanums ist streng hierarchisch konzipiert. Die Offenbarung wird als
eine Offenbarung in Sätzen vorgestellt und diese Offenbarung wird vermittelt durch das
Lehramt. Die übrige Kirche ist eine hörende Kirche, die dieser Offenbarung gehorsam
folgen muss. Aber dieses Modell wird der geschichtlichen Offenbarung nicht gerecht.
Denn Offenbarungsgeschichte ist immer in der Tradition verhaftet und zeigt vielfältige
Unterschiede. Unterschiede die sich aus unterschiedlichen Kulturepochen,
unterschiedlichen Schwerpunkten und interpretatorischen Ansätze ergeben. Offenbarung
wird ohne ihre eigene Geschichte zu Merksätzen, die immer gültig sind. Diese
Auffassung von Offenbarung ist zu vergleichen mit einem von einer Autorität
geschickten, verschnürten Paket. Man öffnet es und gehorcht. Man bekommt etwas
gesagt, aber der Inhalt ist satzhaft, immer der gleiche. Dieses Modell wird aber der
Wirklichkeit der Kirche nicht gerecht, denn hierdurch wird die Ekklesiologie verkürzt zu
einer Standardlehre, in der einer einzigen, relativ kleinen Gruppe faktisch alle Macht und
alles Recht zukommt. Also hat die kleine Gruppe die Bestimmung dessen übernommen,
was Gottes Offenbarung ist. Dieses gilt sowohl für die Schrift als auch für die Tradition,
den beiden Glaubensquellen, wird aber noch akzentuiert durch das ekklesiale
Kirchenmodell und das Lehramt. Für alle diese Bezeugungsinstanzen gilt das

66 Eicher, Peter Concilium 3/78 144


67 Essen Georg

32
instruktionstheoretische Modell. Aber ausgeklammert wird die Frage, was in der Kirche
gelte und woher man das ersehen kann. Diese Frage aber ist in der Struktur des
Christentums angelegt. Es gehört hierzu die Pluralität, die sich sowohl synchron in der
Gegenwart, also innerhalb der Glaubensgemeinschaft findet und die sich diachron durch
die Epochen und durch die ganze Kirchengeschichte als Bestandteil des Glaubenslebens
erweist. Hierdurch ist eine Polarität von Bestand und Wandel gegeben. Sie gehört zur
Kirche und ist daher mit der Zeit der Kirche koexistent. Damit ist die Frage gestellt, was
gilt in der Kirche, wenn man ein Gläubiger in der Kirche ist?68 Und genau diese Frage
wird im Offenbarungsverständnis des I. Vaticanums zu kurz beantwortet. Offenbarung
wird dekretiert.

Dieses instruktionstheoretische Offenbarungsverständnis stärkt den Fundamentalisten


und wirft die Frage auf, was ist ein Fundamentalist und was dagegen ein Modernist? Als
fundamentalistisch kann man demnach solche religiösen Bewegungen und
Gemeinschaftsbildungen der Moderne bezeichnen, die eine von ihnen wahrgenommene,
dramatische Krise durch eine exakte Rückkehr zu vermeintlich ewig gültigen, heiligen
Prinzipien, Geboten und Gesetze zu überwinden suchen. Sie gehen davon aus, dass es
eine zeitlos gültige Ordnung der Welt sowie eine darauf beruhende, religiöse verbindliche
fromme Lebensführung gibt, die einst in einer exemplarischen Gemeinschaft verwirklicht
waren. 69 Diese Beschreibung fundamentalistischer Grundüberzeugungen war in der Zeit
des I. Vaticanums virulent. Erinnert sei an den Syllabus errorum (1864) und die
Antimodernisten. Die Antimodernisten verweigern sich der Wende zum Subjekt, die
Ansprüche der aufgeklärten Vernunft auf autonome Selbstbestimmung werden durch die
Auslegungsautorität des Lehramtes festgelegt. Dem Fundamentalisten ist alles was und
wie es war, unverrückbar und nicht diskursfähig. Dennoch und gerade deswegen fühlen
sich Fundamentalisten wohl, da sie ohne eigene Denkanstrengungen sich zu eigen
machen, was der Heilige Vater sagt und was die Bischöfe wiederum erklären, denn sie
erklären, was geglaubt werden muss. Und so landen diese zielsicher im
fundamentalistischen Territorium. „Im Grunde hatten die Päpste und die Hierarchien des
19. Jahrhunderts Angst vor der Freiheit des Christenmenschen”.70 Man kann verstehen,
dass die Fundamentalisten den Offenbarungsansatz des I. Vaticanums favorisieren. Man
kann sogar soweit gehen und sagen, dass der Offenbarungsfundamentalismus verlangt,
wo er einen Auslegungs- und Klärungsbedarf der Heiligen Schrift nicht ausschließt, den
Lehramtsfundamentalismus, die Tabuisierung einer normativen Auslegung. 71 Denn er
bietet Sicherheit, Fraglosigkeit wie denn das Leben des Einzelnen zu gestalten ist. Der
Glaubenssinn der Gläubigen, der sensus fidelium ist aber entsprechend dem obigen
Modell des I. Vaticanums nicht vollgültig erfasst, da er diesen in eine rein passive Rolle
des Gehorchenden zwingt.

Für ein rational verantwortbares Nachdenken über Offenbarung – und das war das Fazit

68 Beinert, Wolfgang aaO


69 Riesebrodt, Martin: Was ist religiöser Fundamentalismus? 18 , nach Hoff
70 Beinert, Wolfgang aaO 183
71 Werbick, Jürgen: Den Glauben verantworten. Herder, 2007, 298

33
der einleitenden Überlegungen – ist der Rekurs auf die menschliche Erfahrung
wesentlich. Und diese Erfahrungswirklichkeit des Menschen ist in diesen Dokumenten
des I. Vaticanums und auch des Weltkatechismus schlicht unterbelichtet. Ja es ist die
Behauptung zu wagen, dass in diesem Kontext eine pessimistische, antiaufklärerische
Anthropologie zum Zuge kommt. Und genau diese Haltung bedingt ein Sich-
Verabschieden der Kirche aus der Moderne, da sie dem Menschen nur unter der
Bedingung der Offenbarung traut.

Fragen muss man, ob Offenbarung so gedacht und gelehrt werden kann wie sie in ihrem
instruktionstheoretischen Modell sich präsentiert? Als Mitteilung von Inhalten und Daten
an einen gehorchenden Empfänger. Dieses Modell ist so nicht haltbar. Abweisen muss
man also die Auffassung von Offenbarung in ihrem instruktionstheoretischen Modus,
denn hier wird die Erfahrung und der Freiheitsraum des Menschen nicht ausreichend
mitsamt seiner Verantwortlichkeit und der menschlichen Entscheidungsmöglichkeiten
und mithin seine Autonomie und seine Vernunft nicht ausreichend gewürdigt. Auch wird
die Geschichtlichkeit der theologischen Aussage nicht gesehen, da Offenbarungssätze
eben auch geschichtlich interpretiert werden müssen. Sie müssen sich einer Hermeneutik
des Heute stellen. Und einen Satz von Adorno aus seiner Negativen Dialektik beschreibt
dies so: „Was an Metaphysischem ohne Rekurs auf die Erfahrung des Subjekts, ohne sein
unmittelbares Dabeisein verkündet wird, ist hilflos gegenüber dem Begehren des
autonomen Subjekts, nichts sich aufzwingen zu lassen, was ihm selbst nicht einsichtig
wäre.“72

Demnach kann man sagen, dass die Aufklärung die Losung ausgegeben hat: Oberste
Instanz verantwortlicher Lebensführung, zuverlässiger Weltorientierung und
unhintergehbare Erkenntnisbegründung muss die Vernunft in ihrer Autonomie sein. Ihre
Autonomie verlangt die Lösung von den Autoritäten der Tradition und den Widerspruch
gegen ihre Auffassung, dass die Vernunft nochmals eine Autorität über sich habe, von
der sie Wahrheiten, die ihr selbst unerreichbar sind, auf dem Weg der Offenbarung
entgegenzunehmen habe.73

Dennoch muss man sagen, dass gerade heute dieses doch scheinbar überholte
Instruktionsmodell von Offenbarung doch noch erhebliche Bedeutung hat. Denn wenn
man erlebt, wie fundamentalistische Bewegungen wie opus dei und die
Petrusbruderschaft und Lefevre an Bedeutung und Zuspruch gewinnen, ja an Macht und
Einfluss zunehmen, dann kann man unschwer erkennen, dass mit diesen
rückwärtsgewandten Positionen doch eine Versuch der Rettung der Tradition in einer
mariganlen Gruppierung, die dies unumstößliche Glaubensreservoir präsentiert,
unternommen wird. So wird man zumindest in heutiger Sicht davon ausgehen dürfen,
dass die Tradition nicht als positives belebendes Element zu begreifen ist, sondern eher
als ein Korsett, das eint.

72 Adorno, Theodor, Negative Dialektik, Frankfurt 1982 , 367


73 Höhn, Hans Joachim: der fremde Gott, Echter 2008, 40

34
Gegenströmungen zum I. Vaticanum kurz dargestellt: Brunner „Wahrheit in Begegnung“,
Tillich „Offenbarung ist das, was uns unbedingt angeht“, Rahner „Offenbarung realisiert
sich im Geschehen dessen, was mitgeteilt werden soll: Gott offenbart sich selbst. Die
menschliche Natur ist ansprechbar für eine mögliche Offenbarung des sprechenden
Gottes, der dann nur im menschlichen Wort sprechen kann, wenn er denn vom Menschen
gehört werden soll.“74

Das Offenbarungsmodell des II. Vaticanums

Das kommunikationstheroretische Modell, wie es im II. Vaticanum vorgestellt wurde,


lässt sich als ein relationales Modell verstehen, wenngleich im II. Vaticanum die
Relationen zwischen den einzelnen Bezugspunkten: Schrift, Tradition und Lehramt,
Glaubenssinn der Gläubigen und Theologie nicht so deutlich werden. In der
dogmatischen Konstitution die verbum heißt es: „Es hat Gott in seiner Weisheit und Güte
gefallen, sich selbst zu offenbaren und als Geheimnis seines Willens auszumachen, dass
die Menschen durch Christus das Fleisch gewordene Wort, im Heiligen Geist Zugang
zum Vater haben und der göttlichen Natur teilhaftig werden. In dieser Offenbarung redet
also der unsichtbare Gott aus dem Übermaß seiner Liebe die Menschen wie Freunde an
und verkehrt mit ihnen, um sie zur Gemeinschaft mit sich einzuladen und in sie
aufzunehmen.”75 Demnach fordert das Konzept des II. Vaticanums den Einzelnen
wesentlich stärker heraus, indem es ihm auf bürdet die Balance zwischen Gottes Wort
und dem einzelnen Leben und seiner Wirklichkeit aufrecht zu erhalten. Christentum ist
dann kein gesicherter Besitz, sondern die stete Herstellung einer instabilen Balance
zwischen Offenbarung und Glaube.76 Es verschafft aber die Möglichkeit unterschiedliche
Weisen des Glaubensverstehens zu ertragen und in eine gegenseitige Spannung zwischen
den Bezeugunsinstanzen einzutreten.

Offenbarung als communio, als kommunikationstheroretisches Modell wie im


II.Vaticanum ausgesagt, berücksichtigt das Ineinander- und Aufeinander- Bezogen sein
der einzelnen kommunikativen Größen wie Schrift, Tradition und Lehramt aber auch den
sensus fidelium. Communio ist damit der Schlüsselbegriff in der Gott/ Mensch/
Beziehung. Aus ihr leitet sich der Dialog ab, ein Dialog aber in unterschiedlicher
Bezogenheit. Die Aufgabe der Glaubensfindung und der Glaubenssicherung und der
Interpretation kommt also allen Instanzen in gleicher Weise zu. Sie ist aber eine dem
Ursprung und Ziel nach, aber in ihrer Durchführung mehrgestaltig. Diese Pluralität
schützt vor Einseitigkeiten. In diesem Modell empfängt aber das Lehramt selber keine
Offenbarung, es ist mitnichten inspiriert.77 In diesem Modell ist die Kirche Werk des
Heiligen Geistes und hiermit ist der Geist Geist für alle Gläubigen. Gerade daraus leitet
sich dieses Modell ab und wird so legitimiert. Es ist also im Unterschied zum I.

74 Rahner, Karl: Griechische Mythen in christlicher Deutung, Basel 1985


75 Zweites Vatikanische Konzil dei verbum DH 4202
76 Beinert. Wolfgang aaO 188
77 Beinert, Wolfgang Kann man dem Glauben trauen 137

35
Vaticanum ein anderes Kirchenmodell zu finden, kein hierarchologisches sondern ein
kommunikales Modell. Damit ist Christentum kein gesicherter Besitz, den man in einem
Tresor ablegen kann. Dieses instabile Gleichgewicht ist Ausdruck von Lebendigkeit und
Autonomie. Die Kraft des Geistes ist ja gerade nicht parzelliert, sondern universell und
gültig. Das Kirchenverständnis, das sich parallel zu dem Offenbarungsverständnis des II.
Vaticanums verhält, ist ein kommunikatives. Dies entspricht auch dem
Fundamentalgesetz der Inkarnation und diese ist dialogisch strukturiert.78

Auch bezüglich der Schrift findet sich im II: Vaticanum eine Differenzierung, denn die
biblischen Schriften sind nicht einfach hin die Wahrheit, sondern sie lehren und
vermitteln, denn das Offenbarungsgeschehen ereignet sich in Wort und Tat, die
miteinander verknüpft sind. In der Schrift kann ihre Bedeutung nur interpretativ ermittelt
werden, weil die Schrift eben kein abgeschlossenes Produkt ist, sondern sich jeweils in
ihre Zeit hinein adressiert. Das Lehramt verbürgt normativ den engen Konnex von Schrift
und Tradition in jeweiligen Auslegungsprozess. So kann die hermeneutische
Interpretation auch Verständnisfortschritte generieren. Die Lizenz für eine historisch-
kritische Exegese unterbricht den Versuch, sich der Wahrheit der Schrift zu bemächtigen,
sie diskurspolitisch zur Verfügung zu stellen und wie eine Waffe gegen Andersgläubige
einzusetzen. 79 Offenbarungsglaube kann von seinem Inhalt wie seiner Form her nur
geschichtlich konfiguriert sein. Damit wird aber Kritik zum Modus seiner Vermittlung.

Nach der Darstellung der Grundzüge dieser beiden Offenbarungsmodelle des I. und II.
Vaticanums möchte ich nun ein weiteres Modell vorstellen und dies den beiden
gegenüberstellen.

Offenbarungsmodell – Selbstoffenbarung Gottes im Verhältnis Gott/ Mensch/ Welt.


Grundzüge einer relationalen Ontologie.80

Wenn man Offenbarung mit den traditionellen Begriffen von Substanz und Akzidenz zu
beschreiben versucht, zeigt sich, dass das Denken in Kategorien des Seins im Sinne einer
Substanzmetaphysik, wenn man Offenbarung als Selbstoffenbarung Gottes denken will,
erhebliche Schwierigkeiten mit sich bringt. Denn Substanz steht für einen unwandelbaren
Wesenskern bzw. für einen Selbstbezug, der ohne Bezugnahme auf ein Anderes
auskommt. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Auffassung einer Selbstoffenbarung
Gottes als Offenbarung seines Wesens nicht als ein Geschehen in der Welt plausibel
machen. Wie aber kann man von Jesus reden als Ereignis der Offenbarung Gottes in der
Geschichte, das heute Geltung beansprucht und diesen Anspruch heute noch einlösen?
Und so gilt die zentrale Frage, wie ist die Erfahrung der Jünger tradierbar, die diese mit
der Person Jesu gemacht haben? Wie ist die Gotteserfahrung einer unbedingten
Zuwendung, welche die Jünger mit seiner Person und seiner Botschaft gemacht haben,
für uns übersetzbar? Dies ist nur möglich, wenn der Inhalt der Offenbarung mit seinem

78 Beinert, Wolfgang aaO 188


79 Hoff, Gregor Maria aaO 107
80 Höhn, Hans Joachim Vorlesung Offenbarung SS 2007 Köln

36
Akt, dem Vollzug koinzidiert. Um heute eine Geltung von Offenbarung zu beanspruchen,
muss der Zugang zu diesem Akt re-aktualisiert werden. Wenn die Offenbarung Gottes in
Jesus bestimmt ist durch die Koinzidenz von Vollzug und Gehalt unbedingter
Zuwendung, dann kann es eine Weitergabe und Vergegenwärtigung dieser Offenbarung
nur geben, wenn diese Koinzidenz tradiert wird. Und somit gilt: Vollzug und Gehalt sind
voneinander nicht ablösbar, wenn der Gehalt unbedingter Zuwendung vergegenwärtigt
werden soll.81 Die Pointe dieses Ansatzes ist, dass Gottes Wirklichkeit, sein Gott-Sein in
seinem Vollzug besteht. Das Göttliche ist in diesem Ansatz kein höchstes Seiendes, kein
transzendentaler Grund allen Seins, sondern ein Geschehen, das Geschehen unbedingter
Zuwendung. Außerhalb dieses Vollzuges bleibt Gott verborgen. 82 Der Gottesgedanke
wird hier nicht mehr gegenstandsontologisch, sondern ungegenständlich-
vollzugstheoretisch gefasst, d.h. er kann geortet werden über die relationale Struktur
menschlicher Selbstvollzüge.83

Aus diesem Grunde ist es notwendig einen Paradigmenwechsel vorzunehmen, wenn man
Offenbarung, wie sie oben kurz dargestellt wurde, beschreiben will. Deswegen wird im
Folgenden versucht, Offenbarung als Relation Gott/Mensch/Welt zu darzustellen. In
einer Relationalen Ontologie geht es darum, die Wirklichkeit, um die es jeweils geht,
durch und als Beziehung konstituiert zu denken. Das nun vorzustellende relationale
Offenbarungsmodell versucht zu verdeutlichen, wie das Kommunikationsmodell des II.
Vaticanums ausgeleuchtet werden kann, wie es transparent gemacht wird und welche
existentielle Bedeutung es für den Einzelnen hat.84

Der erste Gesichtspunkt hierbei ist der, dass Offenbarung immer auch als Bestreitung
gesehen wird. Und zwar in doppelter Hinsicht: sie widerspricht der Erwartung einer
unvermittelten Unmittelbarkeit von Gottes Wirklichkeit ebenso wie der Gleichsetzung
seiner Verborgenheit mit seiner Abwesenheit oder Nicht-Existenz. Offenbarung ist auch
die Bestreitung des Vermissens eines Bezugspunktes, einer Transzendenz oder Gottes.
Von Offenbarung zu reden, heißt aber auch zu fragen, wer oder was hat es verdient, Gott
genannt zu werden. Angemessen von Gott zu reden in einer relationalen Ontologie heißt,
Gottes Wesen und Sein als Liebe zu denken, d.h. er ist in sich und für sich das Geschehen
einer Beziehung. Offenbarung im christlichen Sinne meint damit nicht die Aufhebung der
schlechthinnigen Verborgenheit Gottes oder Konkretion der Verborgenheit Gottes.
Sondern Offenbarung ist immer Konkretion und Verborgenheit, das Miteinander von
Unsagbar und Sagbar, Bedingt und Unbedingt. Bezogen auf Jesus meint Offenbarung:
Jesus will nicht wie Gott sein, indem er Gott Gott sein lässt und sich schlicht als den
bestimmt, der Gott sein lassen will, schafft er die Voraussetzung, dass Gott mit ihm und
durch ihn und in ihm da sein kann. Jesus macht in seinem eigenen Welt- und
Menschenverhältnis Gottes Menschenverhältnis offenbar, indem er es praktiziert im
Modus unbedingter Zuwendung. Von dieser Praxis her kann Jesus nicht ohne Gott und

81 Höhn, Hans Joachim, der fremde Gott, Echter 2008, 226


82 Höhn, Hans Joachim aaO 231
83 Höhn, Hans Joachim aaO 232
84 Höhn, Hans Joachim, der fremde Gott, Echter 2008, 138

37
Gott nicht mehr ohne Jesus identifiziert werden, Jesus gehört also in die Identifikation,
wer und wie Gott ist, hinein.85

Um Offenbarung als das Vergegenwärtigen des Gott/ Welt-Verhältnisses im


Lebensverhältnis des Menschen verstehen zu können, müssen die einzelnen Verhältnisse
beleuchtet werden. Dass es Überschneidungen zwischen den einzelnen Verhältnissen
gibt, liegt an der hierbei notwendig mit zu denkenden Verschränkung der einzelnen
Komponenten.

Gott als Liebe ist die relationale Wirklichkeit im Modus der Selbstüberschreitung. Die
Welt ist als die Welt restlos auf Gott bezogen ist aber ihrerseits in restloser
Verschiedenheit von Gott.86 Dies ist die Grundthese.

Offenbarung ist somit Selbstmitteilung, da Gott in sich selbst ein Verhältnis ist. Der
Inhalt der Selbstoffenbarung Gottes ist ein Verhältnis: ein Zugewandt sein zum
Menschen, das nicht am Menschen Maß nimmt, sondern un-bedingt ist. Zur Logik,
Struktur und Realität eines Verhältnisse gehört, das man es nicht als solches wahrnehmen
kann, vielmehr ist es darauf angewiesen, dass es sich in anderen Verhältnissen
manifestiert. Offenbarung ist also das Offenbarwerden von Verhältnissen, da Gott der
Welt zugewandt ist und diese Zuwendung ist als Relation zu sehen und nur als solche
erfahrbar durch Zugewandt sein und Zuwendung Gottes. Offenbarung ist das Ergebnis
unbedingter Zuwendung. Das Ereignis dieser Zuwendung ist die Inkarnation.

Die obige Darstellung von Verhältnissen im Sinne der Relationalen Ontologie ist aber im
Genus einer Substanz-, Vorhandenheits-, oder Gegenstandsontologie nicht adäquat
beschreibbar; denn Verhältnisse sind nichts „Substantielles” und nichts
Gegenständliches, sondern transzendieren alles substanziell oder gegenständlich
Existierendes.87 Man kann nicht über das Sein von Verhältnissen an sich nachdenken oder
deren Substanz erfassen wollen. Zwei Personen mögen miteinander ein Verhältnis haben,
aber dass sie einander nahe stehen, wird sich nicht in der räumlichen Nähe, aus ihrem
räumlichen Beieinander ablesen lassen. Wie Menschen zueinander stehen, kann man
nicht unabhängig von der Relation bestimmen, der Relation nämlich, worin ihre
Beziehung auf scheint.

Was sind die Inhalte des christlichen Offenbarungsbegriffes als Selbstoffenbarung


Gottes?

Zu den Inhalten von Offenbarung ist zu sagen, dass es eine weit verbreitete Ansicht in der
Theologie ist, dass die Offenbarungen Gottes das Ende eines Streits, die Beseitigung von
Unklarheiten und Zweifeln bedeutet. Und ebenso sei der Vorgang der Offenbarung selbst
ein unzweideutiges Geschehen. Theologisch steht Offenbarung nicht für etwas, das

85 Höhn, Hans Joachim aaO 149


86 Knauer Peter: der Glaube kommt vom Hören
87 Höhn, Hans Joachim, der fremde Gott, Echter 2008, 141

38
verborgen und jetzt enthüllt ist, sondern ihre Pointe ist gerade, aufzudecken, was vor aller
Augen liegt, aber nur den Glaubenden in die Augen springt: dass die Welt und das
menschliche Leben aus einem Geheimnis leben, das sie mehr sehen lässt, als sie
scheinen. Es lässt sich auch nicht direkt als Phänomen in der Welt und im Leben zeigen,
sondern alles weltliche Sich zeigen und erlebte Leben als Hintergrund begleitet. Deshalb
kann es auch nur so zur Sprache kommen, das es nicht von ihm selbst, sondern von der
Welt und vom Leben in seinem Licht geredet wird, und das heißt: von ihnen neu und
anders geredet wird als zuvor.88

Die Selbstoffenbarung ist wie schon dargestellt ein relationaler Begriff und meint: im
Verhältnis Gottes zur Welt wird sein Selbstverhältnis als das Geschehen unbedingter
Zuwendung Gottes offenbar. Wie wird aber vermieden, dass da ein Widerspruch zur
Sinnstruktur des Welt/ Gottesverhältnisses entsteht? Das Selbstverhältnis und Wesen
Gottes ist eine relationale Wirklichkeit, es realisiert sich als ursprungloses Woher (vom
Vater) ungeschaffenes Woraufhin (Sohn) unüberbietbares Was (Geist).
Selbstoffenbarung bedeutet: Gott verhält sich zu den Menschen wie Gott sich zu sich
selbst verhält. Dieses Zugewandtsein zum Menschen nimmt nicht am Menschen Maß,
sondern ist unbedingt.

Zur Wahrnehmung von Verhältnissen ist man darauf angewiesen, dass es sich in anderen
Verhältnissen manifestiert. Ein Verhältnis ist nur real in der Übersetzung in andere
Verhältnisse. Gottes Selbstoffenbarung besteht in der Übersetzung seines
Selbstverhältnisses in die Lebensverhältnisse des Menschen. Die Verlaufsform dieser
Übersetzung ist das Geschehen unbedingter Zuwendung zum Menschen im Kontext
seiner Weltbezüge. In der Übersetzung wird nicht etwas hergestellt, sondern dargestellt,
was seit Beginn der Welt schon gilt: Gott ist ihr unbedingt zugewandt. Moses, Noah,
Abraham und Israels Bund.

Das Geschehen unbedingter Zuwendung ist sowohl Form als auch Gehalt der
Offenbarung, jedoch nicht identisch mit dem Woher dieser Zuwendung, wird aber über
das Geschehen der Zuwendung identifizierbar.89 Am Leben Jesu lässt sich das wahre
Menschenverhältnis Gottes als Verhältnis unbedingter Zuwendung zum Menschen
ablesen und das wahre Gottesverhältnis des Menschen erkennen und insofern ist der
Mensch „imago dei”. Gottesebenbildlichkeit sagt etwas über Gott aus, indem vom
Menschen gesprochen wird. Der Mensch ist darin Bild Gottes, dass er in seinem Welt-
und Menschenverhältnis dem Welt- und Menschenverhältnis Gottes entspricht. Das Welt-
und Menschenverhältnis Gottes besteht im Setzen wohltuender Unterschiede zwischen
Sein und Nichts zugunsten des Seins, im unbedingten Gewähren von Freiheit und Würde.
Ebenbild Gottes ist der Mensch, wenn er in seinem Menschenverhältnis Gottes
unbedingtes Ja zur Welt und zum Menschen nach- und mit vollzieht. In diesem Vollzug
realisiert er die Wahrheit und Eigentlichkeit seines Menschseins. Ist Gottes Wesen
unbedingte Zuwendung, dann heißt Gott zu entsprechen für den Menschen letztlich nichts

88 Dalfert, Ulrich: Religiöse Erfahrung und Offenbarung,


89 Höhn, Karl-Heinz Vorlesung über Offenbarung

39
anderes, als Gottes Zuwendung bei sich ankommen zu lassen und an sich wirklich
werden zu lassen. Er ist Adressat unbedingter Zuwendung.90 Die biblische Offenbarung
ist an das Muster einer verborgenen Gegenwart Gottes geknüpft. Offenbarung ist die
menschliche Interpretation einer göttlichen Initiative, die in Jesus Christus ihr
Interpretationskriterium hat.91

Zusammenfassung der These einer relationalen Offenbarung:


Offenbarung ist das Vergegenwärtigen von Verhältnissen von Gott-Trinität-/ Gott-
Mensch/ in der Selbstmitteilung Gottes in Jesus.

In dem beschrieben Modell einer Offenbarung wird davon ausgegangen, dass es


notwendig ist, die Ebene der Transzendenz und die der Immanenz zu verzahnen, um
Offenbarung überhaupt zu denken und erfahrbar werden zu lassen. Einmal die
menschliche Erfahrung, die einen Resonanzraum für die Selbstmitteilung Gottes von
seiner Trinität her darstellt, diese Selbstmitteilung Gottes als Inkarnation ist aber
ihrerseits unbedingt und unüberbietbar. Nur in einem relationalen Kontext, in seinen
Verhältnissen und Entsprechungen kann von Offenbarung die Rede sein. Offenbarung
bedeutet aber auch Daseinserfahrung und Daseinakzeptanz und deren Deutung in
Daseinserfahrung und gedeuteter Daseinsakzeptanz. Offenbarung heißt somit
Erschließungserfahrung, als Lichtung des Daseins.

Aber bislang habe wurde nicht gesagt, wie sich Offenbarung ereignet, wie sie zu
erkennen ist, welche Kriterien es gibt, um die Sprache als Sprache Gottes und damit als
seine Offenbarung bestimmen zu können: als eine theologische , historische oder
existentielle? Ich neige dazu, Offenbarung als eine existentielle Grund- und
Grenzerfahrung des Glaubens zu verstehen. Offenbarung ist immer dann eine
existentielle Erfahrung, wenn sie eine existentiell verändernde, bestimmende ist. Was
immer dann offenbart wurde und und wie es offenbar wurde, das lässt sich aber nicht
immer material ableiten und leicht formal bestimmen, es lässt sich nur reflexiv aussagen,
oder vielleicht nur erahnen, andeuten, aber gleichwohl ist es existenzbestimmend und
existenzerhellend.

Offenbarungen werden als ein Zeichen aufgefasst und in Zeichen interpretiert. Das „Wie”
einer Offenbarungsvermittlung ist demnach nur unter den Bedingungen der
entsprechenden (existentiellen) Wissensform und (Vergewisserungsform) zu
bestimmen.92 Aber gerade deswegen gilt, dass das Offenbarte sich auch diskursiv
bewähren muss. Gotteserfahrung als Offenbarungserfahrung setzt Selbsterkenntnis
voraus.93 Aber Selbsterkenntnis ist immer auch ein Selbstbekenntnis. Theologische Rede
und historische Daten über Offenbarung, also auch die Wunder, bleiben hinter der
persönlichen, existentiellen Offenbarungserfahrung notwendigerweise zurück. Ja sie sind

90 Höhn, Hans Joachim, der fremde Gott, Echter 2008, 145


91 Hoff, Gregor Maria aaO 139
92 Hoff, Gregor Maria aaO 266
93 Wendel, Saskia Christliche Mystik 16

40
nur loses Beiwerk, sie liefern noch nicht einmal eine Argumentationshilfe, denn sie
können Offenbarungserfahrungen aus sich heraus eben nicht in ihrem jeweiligen
existentiellen Lebenskontext plausibilisieren. Sie erklären nur dass Offenbarung
stattfindet, aber nie wie, wo und wann genau dies geschieht. Denn die transzendente
Gegenwart Gottes in der Geschichte realisiert sich in seiner Verborgenheit und nicht in
seiner Konkretion. Für die Offenbarung Gottes bleibt die Spannung zwischen
Verborgenheit/Konkretion, zwischen Bedingt/Unbedingt, zwischen Sagbar/Unsagbar
konstitutiv.

Offenbarungsmodell nach dem Ende der Metaphysik

Nachdem ich die beiden Offenbarungsmodelle des I. und II. Vaticanums und das Modell
einer relationalen Ontologie dargestellt habe, möchte ich eingehen auf ein
Offenbarungsverständnis, wie es sich in der Zeit der Moderne und Postmoderne und
damit der immer noch fort wirkenden Aufklärung zeigt. Will man der Aufklärung gerecht
werden, so darf man sie nicht generell als Vertreterin einer vom rationalem Denken allein
zu erstellenden Vernunftreligion ansehen. Ihr wirkliches Charakteristikum besteht darin,
keinen Offenbarungsglauben zuzulassen, der sich einer Überprüfung anhand von
universal gültigen Vernunftkriterien entzieht.94 Und die Aufklärung wirkt in der Moderne
und Postmoderne weiter. Wodurch zeichnet sich die Moderne aus und was unterscheidet
sie von der Postmoderne? Beide gehen letztlich darauf zurück, dass sich der Mensch seit
dem späten Mittelalter nicht mehr in einer natürlichen Ordnung und in einer Tradition
geborgen erfährt, deren Zuverlässigkeit er bislang aufgrund göttlicher Offenbarung
garantiert glaubte. Während der Grundzug der modernen Mentalität aber in dem
Vertrauen besteht, dass die menschliche Vernunft eine stabile Ordnung in dieser Welt zu
errichten imstande ist, zeichnet sich die postmoderne Mentalität geradezu durch das
Fehlen dieses Vertrauens in die rationalen Kräfte des Menschen aus. 95Die Postmoderne
ist nach Lyotard als die Zeit nach dem Ende der Metaerzählungen zu bestimmen.

Es gilt zu fragen, ob nach der Ablösung der Metaphysik, und nach der Dezentralisierung
des Subjekts noch im gleichen Maße mit der gleichen Sicherheit von Gott und seiner
Offenbarung geredet werden kann und darf? Denn für die Theologie steht trotz
postsäkularer Konstellationen von Religion und Gesellschaft nicht zur Disposition, ob sie
die Auseinandersetzung mit der neuzeitlichen Religionskritik, mit der Rede nach dem
Tod Gottes, mit der Absage an ein onto-theologisches Paradigma (welches Gott an die
Spitze der Seinspyramide setzen will) oder mit den Protagonisten eines
nachmetaphysischen Denkens abbrechen darf.96 In diesen Kontext sei erinnert an die
Bestimmung der religiösen Signatur unserer Zeit, die Bonhoeffer im Angesicht seines
Todes formulierte: „Gott gibt uns zu wissen, das wir leben müssen als solche, die mit
dem Leben ohne Gott fertig werden. Der Gott, der uns in der Welt leben lässt ohne die

94 Verweyen, Jürgen, Theologie der schwachen Vernunft, Pustet 2000, 16


95 Verweyen, Jürgen, Theologie der schwachen Vernunft, Pustet 2000, 53
96 Höhn, Hans Joachim, der fremde Gott, Echter, 2008, 73

41
Arbeitshypothese Gott, ist der Gott, vor dem wir dauernd stehen. Vor und mit Gott leben
wir ohne Gott.” 97

Vor und mit Gott leben wir ohne Gott bedeutet, dass er nicht mehr als Arbeitshypothese
für das bislang Nicht-Verstandene zu gebrauchen ist, dieser Gott ist tot. Dennoch heißt
vor und mit Gott auch in der Moderne, dass es darauf ankommt, die Verbindlichkeit und
den Realitätsgehalt der religiösen Bilder dort zu suchen, wo deren eigentlicher Ursprung
liegt: im Inneren des Menschen, nicht im Äußeren der Geschichte. Und so gilt es die
Wahrheit der Religion wieder dort zu platzieren, wo es nicht mehr um die Verwaltung
eines Wissens geht, sondern sie zurückzuführen auf die Ebene der Existenz, aber diese
steht vor und mit Gott. Die katholische Theologie der Moderne ist weithin geprägt von
einem tief greifenden Schisma zwischen Lehre und Leben, zwischen Theologie und
Religion, zwischen Dogmatik und Mystik. hier ist nicht die private Versöhnung von
Lehre und Lebensgeschichte gemeint, sondern die Tatsache, dass die Versöhnung nicht
selbst Theologie wurde, dass sie gewissermaßen nicht öffentlich-kommunikativ gelang. 98

Um diese Sicht der Postmoderne zu erläutern, will ich näher auf den italienischen
Philosophen Vattimo eingehen, der in vielen Publikationen sich mit christlicher Thematik
befasst und dessen Philosophie auf Heidegger und Gadamer fußt. Seine theologischen
Aussagen stehen in der Tradition der negativen Theologie.

Um in Vattimos Denken einzuführen, müssen einige seiner Begriffe näher beschrieben


werden. Vattimo liest die Geschichte der Religion als eine Geschichte der
fortschreitenden Entsakralisierung, genauer Säkularisierung. Mit diesem Begriff
bezeichnet Vattimo den Prozess der Schwächung des Wahrheits- und Subjektbegriffes.
Kennzeichen der Postmoderne ist ontologisch gesehen, die Negation der stabilen
Seinstrukturen und das Ende aller Adäquationswahrheit, nach der Wissen in der richtigen
Angleichung an das Objekt besteht. Die objektive Wahrheit der Metaphysik hat
ausgedient und auch das Ende des metaphysischen Gottesbegriffes ist eingeläutet. Das
gegenständliche gedachte „summum ens” wird unhaltbar. Und seine Grundthese lautet:
Mit diesem Prozess der Dekonstruktion des metaphysische Seins korreliert der Prozess
der Wiederkehr des Christentums.

Das Ende des metaphysischen Gottes ist der Anfang der Wiederentdeckung des
christlichen Gottes. Es findet sich hier eine Formulierung der kenotische Christologie
wieder, die ihren Ursprung im Philipperhymnus (Phil 2,6-11) hat. Die Entäußerung
(kenosis) heißt, Christus wurde ganz Mensch. Die Frage hierbei ist, wie kann ein und
derselbe Jesus Gott und Mensch sein? Die Antwort auf diese Frage: um Mensch werden
zu können, musste die zweite göttliche Person zumindest auf einige göttliche
Eigenschaften verzichten, um stattdessen die menschliche Natur annehmen zu können.
Die Grundidee der kenotische Christologie ist also der Verzicht der göttlichen
Eigenschaften zugunsten von menschlichen. Und nach dieser Einleitung möchte ich

97 Bonhoeffer, Dieter: Widerstand und Ergebung Gütersloh 1980, 178


98 Metz, Johann Baptist, Memoria passionis, Herder 2006, 119

42
Vattimo zitieren:
„Es ist nicht anstößig, an die Offenbarung als eine Geschichte zu denken, die weitergeht,
eine Geschichte, in die wir einbezogen sind und die sich somit nicht der
„Wiederentdeckung“ eines Kerns von Lehren darbietet, der ein für allemal und immer
gleich gegeben ist. (und damit in der Lehre einer priesterlichen Hierarchie, die zu ihrer
Wahrung ermächtigt ist.)” 99 „Denn die Offenbarung“, so Vattimo weiter, „offenbart
keine Wahrheit nach Art eines Objekts. Sie spricht von der Erlösung in ihrem Vollzug.
Hier zeichnet sich ab, in welchem Sinn das Autoritätsdenken der katholischen Kirche an
die Metaphysik gebunden ist: nicht nur an eine bestimmte Metaphysik, wie sie die
gesamte abendländische Tradition durchzieht, an die Idee es gebe eine objektive
Wahrheit des Seins, die einmal erkannt, auch die feste Grundlage für eine Dogmen- und
vor allem Morallehre bietet, die beansprucht sich auf die ewige Natur der Dinge zu
stützen.“ 100

Heilsgeschichte und Interpretationsgeschichte sind viel enger miteinander verbunden, als


die katholische Orthodoxie es wahrhaben will. Die Erlösung macht in der Geschichte
auch eine Entwicklung durch zu immer „wahreren” Interpretationen der Schriften und
dies in der Fortsetzung der Beziehung Jesus AT: „Ihr habt gehört, dass gesagt ist... Ich
aber sage Euch.” Und vor allem: „Ich nenne Euch nicht mehr Knechte, sondern Freunde.“
Der Leitfaden der Interpretationen die Jesus vom AT gibt, ist der neuere und intensivere
Bezug der Liebe zwischen Gott und den Menschen und dementsprechend auch unter den
Menschen. So gesehen, ist die Erlösung das Ereignis, das die kenosis, die Herablassung
Gottes, immer vollkommener verwirklicht. Das heißt: die metaphysischen Träume der
natürlichen Religionen, die ihn als absolut, allmächtig, transzendent- kurz: als das ipsum
esse subsistens, denkt, Lügen straft, ist die Säkularisierung, d.h. die progressive
Auflösung aller naturalistischen Heiligkeit, die eigentliche Essenz des Christentums. 101

Ausgangspunkt für diese dargestellte Überlegung ist, dass Gott in der kenosis sich seiner
metaphysischen Attribute entledigt hat. Die kenotische Selbstentäußerung ist der Modus
der Inkarnation. In der Inkarnation zeigt sich die kenosis als ein säkularer Einbruch. Also
ist Gott nicht mehr als das absolute Sein zu denken, sondern als kenotisches, den
Menschen sich verbindendes Wort. Ist aber Gott dann als das absolute Sein nach der
Moderne noch denkbar? Hat Gott als der Absolute sich nicht durch die kenosis selbst
entabsolutiert?

In eine ähnliche Richtung denkt Levinas, der ebenfalls von einer kenosis,
Selbsterniedrigung des Schöpfers, ja von einer Transsubstantiation des Schöpfers in das/
im Geschöpf gesprochen hat und auf Seiten des Menschen die radikale Stellvertretung
betont, die alle Verantwortlichkeit des Menschen bis hin zur Verantwortung für die
Erlösung der Welt begründet.102

99 Vattimo, Gianni , Glaube-Philosophieren, Reclam 1997 S. 47


100 Vattimo, Gianni aaO 49
101 Vattimo, Gianni aaO 55
102 Wolmuth, Josef, Für eine schwache Vernunft, Grünewald 2007, 23

43
Vattimos Offenbarungsbegriff

Basierend auf Vattimo ist der Kernpunkt seiner Überlegungen für sein neues
Offenbarungsverständnis noch anzugeben. „Die Schwächung des Seins ist ein
konstitutives Merkmal in der Epoche des Ende der Metaphysik. Denn das Sein ist in
keiner Weise so zu denken, dass mit der für das Objekt charakteristischen Präsens
identifiziert werden kann. Wenn man das Sein in nicht-metaphysischer Weise denken
will, gelangt man dazu, dass seine Reduzierung, sein Sich-Entziehen, seine Schwächung
derjenige Zug an ihm ist, der uns in unserer Epoche gegeben ist. Die Säkularisierung als
Essenz der Moderne und des Christentums.

Hat es aber Sinn so fragt Vattimo, die christliche Lehre von der Menschwerdung des
Gottessohnes als Verkündigung einer Ontologie der Schwächung zu denken? Die
Menschwerdung Gottes ist als Zeichen dafür zu interpretieren, dass er selbst als der nicht
absolute Gott der postmetaphysischen Epoche selbst zur selben Schwächung bestimmt zu
sein.103

Das einzige große Paradox, das einzige Skandalon der christlichen Botschaft ist eben die
Menschwerdung Gottes, die kenosis, und d.h. die Aussetzung aller transzendenten,
unverständlichen, geheimnisvollen und auch bizarren Züge. Wir alle sollten uns dagegen
verwahren, im Namen einer Opferung der Vernunft, die nur durch eine naturalistische
menschlich-allzumenschliche und letztlich nicht christliche Vorstellung der
Transzendenz Gottes gefordert wird, von der Wahrheit des Evangeliums ferngehalten zu
werden.104

Offenbarung zielt auf die Wahrheit, die nur diejenige ist, die sich im Dialog mit der
Geschichte ereignenden „Beglaubigungen” und wie Jesus gelehrt hat, unter dem
Beistand des Heiligen Geistes herstellt.

Es ist also nicht ein Besitzstand ein für allemal festgelegter Lehren, an die man sich
halten kann, um endlich im Meer der Ungewissheiten und in der babylonischen
Sprachverwirrung der nachmetaphysischen Welt festen Boden unter den Füßen zu finden:
es liefert jedoch ein hinreichend klares kritisches Prinzip für die Orientierung, sei es
gegenüber der Welt, sei es vor allem gegenüber der Kirche, sei es schließlich gegenüber
dem Prozess der Säkularisierung selbst. Die Kenosis kann in der Tat nicht als indefinite
Negation Gottes gedacht werden, noch kann sie jede beliebige Interpretation der Schrift
rechtfertigen. Es ist also beides parallel zu sehen: die Theologie der Säkularisierung und
die Ontologie der Schwächung.
Als Offenbarungsinhalt bleibt nur übrig: Dilige, et quo vis fac. Und dieser letzte Sinn, ist
eben dadurch, dass er caritas ist eben dadurch nie letzter Sinn, niemals der wahrhaft
letzte, hat nicht die Letztgültigkeit des metaphysischen Prinzips.

103 Vattimo, Gianni aaO


104 Vattimo, Gianni Glaube und Philosophie 56

44
Denn die Liebe ist dadurch begründet, dass die Liebe als letzter Sinn der Offenbarung
keine wahre Letztheit hat.105

Zusammenfassung und Ausblick

Wie dargestellt weichen die Offenbarungsmodelle des I. Vaticanums und des II.
erheblich voneinander ab. Das kommunikale Offenbarungsmodell des II. Vaticanums ist
gegenüber dem Modell des I. Vaticanums ein deutlicher Fortschritt. Dennoch bleiben
Jahrzehnte nach diesem Ereignis etliche Fragen, die damals diskutiert wurden weiterhin
unbeantwortet, sodass man sagen kann, dass die Dokumente zwar einen Fortschritt
ausweisen, dass aber die Realität deutlich hinter den Hoffnungen und Erwartungen
zurückbleibt. Die Angst vor der Freiheit des Christenmenschen ist ungebrochen. Die
Teilhabe und die unterschiedlichen Charismas werden zwar verbal verkündigt, nur
bleiben diese ohne ihre wirkungsvolle Realisierung, da ihnen nicht zugemutet wird, dass
sie sich auch als sensus fidelium verwirklichen können.

Das vorstellte relational konzipierte Modell beweist die Möglichkeit Offenbarung ohne
substanzontologische Begriffe wie Gott als absolutes Sein zu denken. Da Gott nichts
anderes als Liebe ist und Liebe ist immer Beziehung braucht diese Liebe, dies ist der
zentrale Ansatz der These von Vattimo keine Letztbegründung, ja sie ist selbst die
Letztbegründung. Wenn die Liebe keine wahre Letztheit hat, dann ist sie der zentraler
Kern der Offenbarung. Ihr Kern ist die Verschränkung von Gottes- und Nächstenliebe,
das oberste Gebot. Und Liebe ist nur relational denkbar, sie ist kein metaphysischer
Seinsbegriff, sondern Liebe ist das Ineinsfallen von Denken und Handeln im Vollzug in
der Perspektive und Nachfolge Jesus. An dieser Stelle decken sich die
Offenbarungsmodelle der relationalen Ontologie und das von Vattimo. Beide kommen
ohne eine metaphysische Begriffsbildung aus. Ein ähnliches Gottesbild wird bei Nikolaus
von Kues vorgestellt. In seiner „De visione Dei“ beschreibt er das Sehen Gottes als
doppelten Genitiv, als genitivus subjectivus und objektivus, Gott als Sehenden und
Gesehenen, der im Vollzug des Sehens sich sehen lässt. „Was anders, Herr, ist die Sehen,
wenn Du mich... anschaust, als dass Du von mir gesehen wirst?“ Cusanus ist damit nicht
von mehr von der ihm vorausgehenden Tradition zu deuten, insofern er Gott nicht als für
sich Seiendes ansetzt, sondern ihn entsubstantialisiert und in wesenhaft unauflösbaren
Bezug zur Welt und Mensch setzt. Aber gerade dieser Gott ist nicht auf den Menschen
reduzierbar, denn er ist die Macht, die den Menschen in seinem Selbstbezug trägt und
durchwaltet.“ 106

105 Vattimo, Gianni, aaO


106 Schulz, W. Der Gott der neuzeitlichen Metaphysik, Tübingen 1991, 22

45
Pfingsten als Offenbarung des Geistes nach dem Abschied Jesus

Pfingsten und der Heilige Geist sind die unterbewertesten und auch in ihrer
Wirkmächtigkeit unterbelichtesten Momente der christlichen Lehre. Über Gott, Jesus
wurde hinlänglich nachgedacht. Aber der Heilige Geist ist kaum erwähnt, er ist
unvorstellbar und auch nicht in Worten fassbar. Dennoch beschreibt das Wort Atem seine
Funktion hinreichend. Wie wir die Luft zum Atmen immer zum Leben brauchen, so
brauchen wir die Luft des sich offenbarenden Geistes. Man könnte sagen, er ist die zweite
Luft, die man dann bekommt, wenn man eigentlich nicht mehr kann. Und mit der zweiten
Luft gelingen Dinge, die eigentlich nicht gelingen dürften. Christus sagte bei seinem
Abschied, ich schicke Euch den Heiligen Geist. Kann man also sagen, dass der Heilige
Geist sich in uns Menschen inkarniert? Ist das als eine dauernde Offenbarung zu
verstehen? Ist das die Transzendenz in der Immanenz?

Das Pfingstfest, das Fest des Heiligen Geistes war nicht nur reines Wunder und damit nur
für den Glauben fassbar, sondern es waren für den Glauben der anwesenden Jünger das
fundamentale Ereignis. Hierdurch gewannen sie eine neue Deutungskompetenz. Sie
wurden erleuchtet. Es war das Offenbarungsereignis schlechthin. Das bedeutet, nicht das
Wunder als supranaturales Geschehen war für die Jünger bedeutsam, sondern es war ein
Ereignis in ihrem Heute: denn in der Offenbarung des Geistes ereignete sich eine neue
Sichtweise, eine neue Perspektive, eine neue andere, geistgewirkte Daseinweise der
Jünger und nachfolgend für jeden Christen. Das Ereignis wurde zu ihrem pneumatischen
Lebenselement. Pfingsten hat aber kein Damals, Pfingsten ist ein dauerndes Sich –
Ereignen. Dieses Sich-Ereignen des Ereignisses beschreibt Offenbarung, Offenbarung
als Pfingstereignis durch den Heiligen Geist. Nach Jesu Abschied sind wir unter die
Führung des Geistes gestellt. Er ist das movens und weht wo er will. Dieser ermächtigt
uns zur Freiheit und er offenbart sich uns immer wieder, wenn wir denn hören und sehen.
Dieser Geist des Heiligen Geistes erlaubt uns Menschen Kritik, Demut und er fordert und
fördert unsere Autonomie in seinem sich offenbarenden Geist.

Und abschließend nochmals Vattimo: „Wenn wir denken, wie wir es auf der Grundlage
des Evangeliums tun müssen, dass der Sinn der Schöpfung und der Erlösung die kenosis
ist, werden wir wahrscheinlich anerkennen müssen, dass die Kontinuität, welche die
klassische Metaphysik zwischen Gott und der Welt herstelle, kenotischer ist als die
Transzendenz, die man ihm zuerkennt, wenn man ihn den vollkommen anderen nennt.
Und weiter „Es handelt sich um ein metaphysisches Missverständnis, wenn man die Idee
einer radikalen Trennung von Heilsgeschichte von der säkularen Geschichte vornimmt,
vor der die Offenbarung nur eine apokalyptische Bedeutung hätte: nämlich die
Enthüllung der Sinnlosigkeit der weltlichen Geschichte im Lichte eines völligen anderen
Geschehens, für das die Zeiträume und Rhythmen der weltlichen Geschichte bestenfalls
einen negativen Sinn haben: im Paradox des Sprunges in den Glauben zu verbrennen
oder allenfalls als Zeit der Prüfung zu gelten.“ 107

107 Vattimo, Gianni aaO

46
Und das Gleiche sagt Rahner, wenn er Heilsgeschichte und Pofangeschichte wie folgt
beschreibt: „Diese Heilsgeschichten sind erst in der Dimension der menschlichen
Geschichte als solche anwesend, also selber geschichtlich sind, wenn das sie aussagende
und interpretierende Wort hinzutritt und also dieses nicht ein äußerliches und
nachträglich hinzutretendes Wort ist, das über etwas gesagt wird, was auch ohne es schon
im Bereich der menschlichen Geschichte greifbar vorhanden ist, sondern ein inneres
konstitutives Moment am Heilshandeln Gottes als eines Ereignisse der menschlichen
Geschichte als solcher.“108

Sicher aber ist, dass die ganze Rede von der Überwindung der Metaphysik, die dazu führt
nicht mehr vom Sein als von einer ewigen Struktur sprechen zu können, sondern nur das
Sein als Ereignis, mithin als etwas das initiiert wird und zwar durch eine Initiative, die
nicht die meine ist. Aber sie hat sich auch nicht als die letzte Enthüllung der
Prophezeiungen verstanden, denn er versprach den Heiligen Geist zu senden, den Geist
der Wahrheit, da die Offenbarung weitergehen muss.109

So schließt sich der Kreis der Gedanken über die Offenbarung: ohne die Erfahrung des
Menschen kann Gott nicht sprechen und handeln, kann er sich nicht offenbaren.
Offenbarung ist dialogisch, sie braucht den Menschen, sie hat die Sprache der Poesie, des
sprachlichen Symbols, sie ist ubiquitär und universell. Bezogen auf das Subjekt bedeutet
Offenbarung eine neue daseinserhellende, aber auch eine daseinsanalytische und
sinnstiftende Perspektive. Somit ist die Offenbarung Gottes, seine Selbstmitteilung als die
Inkarantion des präexistenten Logos im Gottmenschen Jesus Christus und im Heiligen
Geist, der immer der Geist Jesu Christi ist, die alles entscheidende Größe. Von daher lässt
sich die Inkarnation im Sinne einer kommunikationstheoretischen unterfassten
Offenbarungstheologie als Sprache Gottes für den Menschen kennzeichnen. 110 Wenn
man diese Selbstmitteilung, als kenosis Gottes denkt und damit eine Schwächung der
Ontologie seines absoluten Seins mitdenkt, und das Pfingstereignis als
Offenbarungsereignis, als Inkarnation des Heiligen Geistes als eine weitere
Selbstmitteilung Gottes ernst nimmt, und so erfahrbar wird, dass die Offenbarung
weitergeht, dann ist entsprechend die Verquickung – christliche Anthropologie und
christliche Eschatologie als Christologie 111 – für den Menschen wegweisend. In dieser
Verquickung liegt ihr anthropologischer Bestimmungs- und Bezugspunkt. Und diese
Offenbarung lässt sich nur innerhalb einer relational begründeten Ontologie der Liebe
denken, die aber dann wesentlich kenotischer und weniger metaphysisch im Sinne der
Substanzontologie verfasst ist. Die Essenz des Christentums ist in der Liebe begründet,
die als letzter Sinn der Offenbarung keine wahre Letztheit hat. Hier hat christliche
Anthropologie und die christliche Eschatologie ihren Punkt Omega.112

108 Rahner, Karl zur Theologie der Zukunft 19


109 Vattimo aaO
110 Hoff, Gregor Maria aaO 224
111 Rahner, Karl Theologie der Zukunft 41
112 Teilhard de Jardin

47
Die Erbsünde

Einleitung

Die Grundlage für die Erbsündenlehre ist die biblische Erzählung vom Sündenfall. Sie
beschreibt, dass unsere Stammeltern Adam und Eva sündigten, weil sie das göttliche
Gebot, nicht vom Baum der Erkenntnis zu essen, übertraten. Zur Strafe für die Ursünde
(peccatum orginale) wurden sie des Paradieses verwiesen, gleichzeitig wurde der Mensch
sterblich. Die Folgen des Sündenfalls betrafen erstmals nur Adam und Eva. Paulus
brachte die Sünde Adams im Römerbrief 5,12 in eine kausale Reihenfolge mit dem Tod
Jesu und seiner Erlösungstat. Augustinus stellte auf dem Römerbrief aufbauend eine
Erbsündentheologie auf und das Konzil von Trient 1546 dogmatisierte diese Aussage im
decretum de peccato orginale. Dies ist die geschichtliche Kurzfassung der
Erbsündenlehre.

Die Frage, die mich bei meinen Überlegungen leitete war, ob und in wie weit sich die
allgemein tradierte und die speziell durch Augustinus rezipierte Erbsündenlehre noch
heute als tragfähig erweist. Insbesondere galt es der Frage nachzugehen, woher die in
dieser Lehre sich durchgängig zeigende negative, pessimistische Anthropologie stammt
und dass sie für jede theologische Anthropologie eine schwer lastende Hypothek darstellt.
Es geht mir aber in keiner Weise bei der Erörterung der Erbsündenlehre darum, ihre
Kernaussage zu leugnen.

Um zum Kern der Erbsündenlehre vorzustoßen, gilt es zunächst den theologischen Ort
der Erbsündenlehre zu beschreiben. Herkömmlicherweise wird die Erbsündenlehre nicht
innerhalb der Schöpfungstheologie behandelt, sondern entweder für sich allein oder im
Rahmen der Gnadenlehre. Das ist aber nicht unproblematisch, denn die isolierte
Behandlung der Erbsündenlehre nämlich bedeutet zweierlei: einmal einen
anthropologischen Pessimismus, die Annahme der Tatsache der Verderbtheit der
menschlichen Natur, eine negative Vorherbestimmtheit jedes Menschen durch seine nicht
von ihm selbst begangene Schuld und die Unfähigkeit sich aus ihr zu befreien. „Wir sind
ein Nichts, wir sind klein vor Gott, wir müssen uns selbst verneinen, wir sind schuldig
und wertlos.“113 Zum zweiten bedeutet eine Abhandlung der Erbsündenlehre im Rahmen
der Gnadentheologie auch, dass die Gnadentheologie nur als ein Gegenstück zur
Erbsündenlehre aufgefasst wird. Vereinfacht gesagt: je dramatischer die
Sündenverfallenheit des Menschen, umso leuchtender die Gnade.114 Auf der anderen
Seite bedeutet die alleinige Behandlung der Schöpfungstheologie, dass sie auf die
Gottesebenbildlichkeit des Menschen und auch auf die Auseinandersetzung mit den
Naturwissenschaften (Evolutionstheorie, Darwin) reduziert wird. Damit kommt aber ihre

113 Andrade, Barbara, Erbsünde oder Vergebung aus Gnade S. 71


114 Andrade , Ebd. 2002, 11

48
soteriologische Ausrichtung zu kurz.115

Mein Referenzrahmen ist, die Erbsündenlehre nicht für sich allein, sondern in einen
Kontext mit der Schöpfungsgeschichte abzuhandeln, damit bleibt die
Schöpfungsgeschichte als Bezugspunkt der Erbsündenlehre erhalten. Ich möchte
versuchen aufzuzeigen, welche schwerwiegenden Konsequenzen sich für das Gottes- und
Menschenbild ergeben, wenn es nicht gelingt den Kern der Erbsündenlehre neu
verstehbar zu machen.

Begriffliche Klärung

Die wesentliche Ausformung über die Erbsünde ist erst in einem theologischen Nachgang
durch Augustinus im 4. Jahrhundert n. Chr. ausgearbeitet, plausibilisiert und dann im
Konzil von Trient 1546 n. Chr. dogmatisiert worden. Im folgenden möchte ich die
theologische Aussage der Erbsündenlehre verdeutlichen und aufzeigen, wie der Begriff
des Bösen in der Welt erklärend noch hinzugekommen ist.
Das Wort Erbsünde ist ein schwer verständliches Wort. Theologisch gesprochen heißt die
Erbsünde – peccatum originale. Sie wird auf den Sündenfall bezogen und meint eine
aversio hominis a Deo und gleichzeitig eine aversio Dei ab homine. Unbefangen meint
das Wort Erbsünde: eine Sünde, die vererbt wird. Aber kann denn eine Sünde vererbt
werden? Ist Sünde nicht vielmehr immer etwas Personales? Eine Tat? Sünde ist also in
diesem Kontext eine allgemeine, generalisierte, nicht individuelle Sünde. Auf der
anderen Seite wie kann aber mein Erbe sündhaft sein? Und dies Wort Erbsünde meint
aber nicht nur mein Erbe, sondern das Erbe jedes Menschen, der gesamten Menschheit!
Wie kann man sich ein solches sündhaftes Erbe, ein peccatum originale und was immer
auch der Begriff der Erbsünde meint, denn vorstellen? In welchem Kontext macht diese
Rede einen Sinn, hat damit eine vermittelbare Bedeutung? Und in welchem
Zusammenhang ist der dogmatisierte Begriff Erbsünde zu verorten und zu denken und in
welchen Zusammenhang ist er zu stellen?

Erbsünde ist – wenn beide Bestandteile des Begriffs ernst genommen werden – eine
contradictio in adjecto, der gegenüber sich noch niemand anders, als dadurch hat helfen
können, dass er den einen oder andern dieser Begriffsteile faktisch eskamotiert hat.
Erbsünde in dieser Begrifflichkeit ist naturalistisch, deterministisch und sogar
fatalistisch.116

115 Andrade Erbsünde oder Vergebung 2002, 14


116 Baumann: Erbsünde , Herder 1970 S. 86

49
Schwierigkeiten in der Interpretation des herkömmlichen Begriffs der
Erbsünde

Die erste Fundstelle für die Erklärung des Sündenfalls und der Erbsünde stammt aus dem
Lexikon der christlichen Morallehre von 1963. Hier heißt es bezogen auf den Sündenfall:
„Die Tatsache des sittlich ungeordneten Strebens im Menschen(Begierlichkeit) zeigt,
dass der Mensch nicht in jener Einheit mit Gott lebt, für die er nach Auskunft der
Offenbarung bestimmt ist. Diese Einheit mit der Gnade zu erlangen ist die dem
Menschen gestellte Lebensaufgabe. Als Ursache für den jetzigen Zustand des Menschen
können wir aus der Offenbarung die Erbschuld erkennen.“117 Das Wesen der Erbsünde
liegt im Abgewandtsein des Menschen von Gott, das durch die freie Abwendung Adams
(aversio hominis a Deo) begründet ist und von Gott (aversio die ab homine) belassen
wurde.118

Die zweite Bezugspunkt zur Erklärung des Begriffs Erbsünde und Sündenfall bezieht
sich auf den Weltkatechismus von 1993. Er gibt die amtliche kirchliche Lehre über die
Erbsünde wieder. „Der Bericht vom Sündenfall verwendet eine bildhafte Sprache,
beschreibt jedoch ein Urereignis, das zu Beginn der Geschichte des Menschen
stattgefunden hat“ und „durch den Neid des Teufels kam der Tod in die Welt und der Tod
ist die Folge der Sünde“ und „Adam und Eva haben ihren Nachkommen die durch die
erste Sünde verwundete, also der ursprünglichen Heiligkeit und Gerechtigkeit
ermangelnde menschliche Natur weitergegeben. Dieser Mangel wird Erbsünde
genannt.“119 „Die Erbsünde wird mit der menschlichen Natur durch Fortpflanzung
übertragen und nicht etwa bloß durch Nachahmung und dass sie jedem Menschen als ihm
eigene innewohnt.“120

Wo liegen die gedanklichen Schwierigkeiten, die bei diesen Sätzen über die Erbsünde
und den Sündenfall nach diesen Fundstellen heute einem unvermittelt aufkommen und
welche sind dies?

Dieser erste Text aus dem Lehrbuch der christlichen Morallehre von 1963 Text zeigt
bereits ein wesentliches Problem auf. In der Darstellung wird zweimal als Begründung
für die Begierlichkeit des Menschen einerseits und zweitens für den Erbschuld die
Offenbarung genannt. Offenbarung als feststehendes geschichtliches Faktum.
Offenbarung damit als Handeln Gottes in der Welt im Rahmen einer
Schöpfungstheologie.

Im Weltkatechismus heißt es: „Der Bericht vom Sündenfall verwendet eine bildhafte
Sprache, beschreibt jedoch ein Urereignis, das zu Beginn der Geschichte der Menschheit
stattgefunden hat.“ Das bedeutet, dass hier dem Sündenfall eine Realität zugesprochen

117 Hörmann, Karl Lexikon der christlichen Morallehre 1969, 300 - 303
118 Ebd.
119 Weltkatechismus 1993
120 Ebd.

50
wird. Er ist kein Mythos, sondern ein Urereignis. Im ersten Text aus dem Lexikon der
christlichen Morallehre wird dem Sündenfall Offenbarungscharakter zugesprochen, im
zweiten Text aus dem Weltkatechismus wird dem Sündenfall Realität zugewiesen. Im
Grunde läuft aber beides auf das Gleiche hinausläuft. Offenbarung = Realität.

Das ist nun die Entscheidung, die jedem Einzelnen abverlangt wird und die für den
Fortgang der Überlegungen entscheidend ist, Genesis als Realitätsaussage und damit
geoffenbarte Wahrheit Gottes, Gottes Wort, oder Ursprungsmythos. Im ersten Fall gerät
man notgedrungen, wie noch zu zeigen sein wird, in einen Konflikt mit den
Naturwissenschaften (Glaube gegen Wissen). Im zweiten Fall, das Paradies als
Ursprungsmythos mit Verweischarakter über den Beginn und Anfang des Daseins, tritt
kein entsprechender Konflikt auf. Von dieser zweiten Variante wird später noch
eingehend zu sprechen sein..

Aus dem bislang Gesagten, Sündenfall als Realität, ergeben sich folgende
Inkongruenzen, Paradoxien und Verständnisprobleme:
• Das Paradies ist eine Realität
• Diese Realität des Paradieses hat Offenbarungscharakter
• Der Mensch im Paradies lebt in der Einheit mit Gott, er war unsterblich
• Unsterblichkeit als menschliche Realität Adams und Evas
• Der Mensch ist aber als Mensch sterblich
• durch den Neid des Teufels kam der Tod in die Welt
• und der Tod ist Folge der Sünde

Der Glaube – oder besser gesagt der Glaube des Weltkatechismus – spricht von der
Realität des Sündenfalls. In der Genesis lebt ein heiles, nicht sündiges, unsterbliches
Menschenpaar in der heiligmachenden Gnade, in Harmonie mit Gott. Ist die Aussage
über einen heilen, nicht sündigen, unsterblichen und begnadeten Menschen nun ein
irrtumsfreier Satz, dem auf Grund der Offenbarung unbedingte Realität zugesprochen
werden muss? Ist diese Aussage dann eine durch die Offenbarung (Schrift) geoffenbarter
Glaubenssatz? Oder darf man dies bezweifeln? Denn zweifellos wird so der fraglos
vorhandene Ursprungsmythos, der in der Genesis geschildert wird, zu einem
Glaubenspostulat umgepolt, indem dem Genesisbericht irrtumsfreie Realität mit
Offenbarungscharakter zugewiesen wird.

Alle Menschen stammen von Adam und Eva ab so die allgemein akzeptierte und auch
von Thomas von Aquin rezipierte Auffassung. Und dagegen ist auch nichts einzuwenden.
Wenn wir als Menschen alle sterblich, sündhaft, unvollkommen sind, warum soll es
unsterblichen Menschen (Adam und Eva unsterblich im Paradies) gegeben haben?
Aus der Erfahrung des Menschen mit sich selbst kann man nicht unterstellen, dass die
ersten Menschen anders als die heutigen sind, genauso wenig wie ich sagen kann, dass
die kommenden Menschen anders sein werden. Bei der Behauptung und Feststellung
eines ursprünglich heilen und unsterblichen Menschen handelt es sich aber demnach um
einen Glaubenssatz, der durch unsere menschliche Erfahrung unserer Realität allerdings

51
nicht gedeckt ist. Ja er wird durch die Realitätserfahrung jedes Einzelnen widerlegt. Denn
zur Kategorie Mensch, zu allen Lebewesen gehört bestimmend ihre Endlichkeit, ihre
Zeitlichkeit, alles Geschaffene unterliegt dem factum brutum, dass es sterblich ist.
Entsprechend der Offenbarung in der Genesis bedeutet die den Menschen konstituierende
Sterblichkeit in der obigen Sicht, dass diese Sterblichkeit erst durch die aversio a Deo
Adams und Evas entstanden ist, der Mensch wurde sterblich, sündig. Erst nach dem
Sündenfall ist er erst unvollkommen, gemeinhin Mensch geworden. Adam und Eva
wurden als unsterbliche Menschen geschaffen, sind dann aber nach dem und durch den
Sündenfall sterblich.

Dieser Wechsel von Unsterblichkeit zu Sterblichkeit ist zumindest nach unseren


menschlichen Verständniskategorien schwer vorstellbar. Die primäre menschliche
Unsterblichkeit und die durch den Sündenfall verursachte menschliche Sterblichkeit
enthält aber erhebliche Inkongurenzen in Bezug auf die Kategorie Zeit und die
naturwissenschaftliche Kenntnis über den Ablauf der Evolution. Dieser Schwierigkeit
entkommt man nur, wenn man das Paradies entzeitigt und als ein Jenseits der Kategorie
Zeit-Raum denkt. Das bedeutet im Fall eines Realitätspostulats für das Paradies, das ja
als Schöpfung nicht zeitlos gedacht werden kann, da die Zeit selbst als
schöpfungsimmanent gedacht werden muss, dass diese Darstellung in sich
zusammenfällt, da sie mit der Vernunft inkompatibel ist.

Diese Definition des Menschen als ein durch die Erbsünde bedingtes sündiges,
sterbliches Mängelwesens, macht aber nur dann einen Sinn, wenn ich davon ausgehe,
dass der Mensch ursprünglich ein anderer war und dass er als ein anderer erschaffen
wurde. Der Maßstab für das „Defizitäre“ des jetzigen Menschen ist im Falle der Genesis
das erste Menschenpaar, bevor es eine aversio a Deo begangen hat. Nach der Genesis
waren sie anders im Sinn von vollkommen, heil, nicht gebrochen, nicht dem Tod
geweiht, sie waren im Stande der heiligmachenden Gnade und in einer Harmonie mit
Gott und der Welt. Bei der Definition des heutigen Menschen als Mängelwesen wird aber
das zu einem Mangel erhoben, was ihn, den Menschen konstituiert. Von einem Mensch
als Mängelwesen zu sprechen bedeutet aber auch, an ihn einen Maßstab zu legen, der
alles Unvollkommene des Menschen als das Nicht-So-Sein-Sollende definiert. Aber dann
ist dies kein beschreibender, sondern ein wertender Maßstab. Hier wird das, was der
Mensch ist, auf Grund seiner Unvollkommenheit im Hinblick auf eine gedachte
Vollkommenheit abgewertet, da es nur im Defizitmodus des Vollkommenen beschreibbar
ist. Man muss sich die Frage stellen, ob man denn beim ersten Menschenpaar, auf das
man sich erzählend und dann wertend bezieht, noch von einem Menschen sprechen kann?
Zumindest ist dies eine kategoriale Schwierigkeit.

So lautet die Antwort auf die Frage, war dieses erste Menschenpaar vor dem Sündenfall
dann auch ein Mensch wie wir, nein. Sie waren es nicht. Denn das für den Menschen
schon immer Konstitutive lässt sich für das erste Menschenpaar nicht in Anschlag
bringen. Tod, Endlichkeit, Unvollkommenheit und Begrenztheit, eben ein Mängelwesen.
Muss man aber eine solche auf einen vormals heilen unsterblichen Menschen

52
rekurrierende Konstruktion vornehmen, diese zum Maßstab machen, um dem heutigen
Menschen in seinem Menschsein zu verstehen? Kann man auf der anderen Seite die
zeitliche Geschichte der Evolution, die als ein Kontinuum gedacht und erlebt wird,
anhalten, um irgendwo und irgendwann das Paradies samt diesem ersten Menschenpaar
zu platzieren? Ist dieser Mythos des Paradieses und der theologische Rückbezug des
heutigen Menschen auf das erste Menschenpaar und das Paradies notwendig, um eine
erlösende Heilsaussage Jesus zu denken? Mit anderen Worten: braucht man die Folie des
in der Genesis beschriebenen ersten Menschenpaares, um eine gültige Aussage über die
Erlösungsbedürftigkeit und die Gnade Gottes für den Menschen zu machen? Lässt sich
nur so ein gültiges, anthropologisches Konstitutivum beschreiben- unsterblich gedacht,
sterblich durch den Sündenfall? Hierbei wird ein wichtiger Inhalt -, die Konversion von
unsterblich zu sterblich-, zu einem den Menschen definierenden und die theologische
Anthropologie bestimmenden Satz erhoben. Auch nach dem irdischen Tod beginnt
eschatologisch wieder die Unsterblichkeit. So bietet sich ein Dreierschritt an:
vollkommen- paradiesisch, unvollkommen- weltlich, vollkommen-himmlisch, wobei das
Zwischenreich- die Welt-, die eindeutig schlechteste Variante in dieser Abfolge darstellt.

Aber wenn das Paradies nach allgemeiner theologischer Auffassung keine Realität,
sondern verweisender Ursprungsmythos ist, ist zu fragen, ob diese Sicht dann
Auswirkungen für eine theologische Anthropologie hat oder haben muss? Wird die
Realität des Paradieses als ein Postulat deswegen eingebracht, weil sich die jetzige
Realität nur so ausreichend beschreiben und verstehen lässt, ist aber das paradiesische
Kontrastmodell zur Beschreibung des Heute tauglich? Und was ist für das Verständnis
des heutigen Menschen durch die Vorstellung des ersten Menschenpaares im Paradies
gewonnen, dient dies einem vertieften anthropologischen Verständnis? Ist das, was man
in einem vertieften Verständnis des Menschen erreichen kann nicht immer nur eine
Deutungsmöglichkeit, aber im Falle einer Realitätsaussage des Paradieses wird daraus in
seiner naturalistischen Ausdeutung, eine Denkunmöglichkeit. Was wäre verfehlt, wenn
die Genesiserzählung nur ein ätiologischer Mythos wäre? Ist denn die immer wieder
vorgestellte und auf Paulus aufbauende Sicht- Paradies, Sündenfall, Erlösung -, ist eine
solche Dynamik des Eschatologischen eine zwingende Denknotwendigkeit?

Diese Denknotwendigkeit erweist sich deswegen als zwingend und sinngebend, wenn
davon ausgegangen wird, dass die Erschaffung der Welt und des Menschen eine
Erschaffung Gottes und damit schöpfungstheologisch einem idealtypischen
Gott/Welt/Mensch Zustand meint. Das ist deswegen denknotwendig, da Gott nur das
Gute schaffen kann und geschafft hat. Um das Gutsein Gottes jetzt denknotwendig zu
sichern, wird damit aber der Erzählung der Bibel eine Realität unterstellt und damit wird
das Paradies – geschildert in der Genesis – als Urtext wörtlich genommen und nicht als
einen ätiologischer Mythos. Ist das aber nicht ein ungerechtfertigter Rekurs, der allein
von Gott her die Welt erklärt? Was ist wenn man Gott/Welt zusammen denkt, als eine
Beziehung denkt, die schon immer bestanden hat?
Diese in der Genesis zugrunde gelegte mythologische anthropologische
Zustandsbeschreibung des sündenlosen und nicht dem Tod geweihten Menschen stehen

53
Aussagen in der Genesis entgegen, in welcher der Darstellung keine Realität zukommt,
die allgemein als Basis einer mythologischen Erzählung, als Ursprungsmythos angesehen
werden. Welterschaffung in sieben Tagen. Diese Welterschaffungsthese als sieben Tage
Realität glaubt keiner mehr. Also ist zu fragen, wenn denn ein Teil der Genesis eindeutig
einem mythologischen Ursprungsdenken entspringt und nur so konsistent zu verstehen
ist, warum wird das Paradies und der Sündenfall dann als reale Größe eingeführt? Um
das Warum zu verdeutlichen: die Beschreibung des Paradieses in der Genesis muss
deswegen glaubend als real vorausgesetzt und auch als Erbsündenlehre dogmatisiert
werden, weil die Erschaffung des Menschen und die Erschaffung der Welt von Gott her,
nur idealtypisch gedacht werden kann, und weil davon in der Genesis gesprochen wird.

Dies ist die gleiche Argumentationsfigur wie oben. In diesem idealtypischen Fall wird
Gottes Gottsein nicht gefährdet, da ansonsten ob des Elendes und der Unvollkommenheit
der Welt die Frage nach dem Warum dieser Welt gestellt wäre, damit aber auch die Frage
auch, warum es denn keine bessere Welt gibt? Der Mensch, so wie er sich uns zeigt,
erlebt sich als ein gefallener, der Sünde verfallener, erlebt die Realität des Täglichen als
eine Konfrontation mit der eigenen Limitierung und dem Tod. Da aber Gott als Schöpfer
immer nur als der gedacht werden kann, der das Gute schlechthin schafft, ist das Böse
und der Tod und das Fortbestehen des Todes als ein Ausdruck der Ur-Sünde und diese
dann als Beweis für die Abkehr des Menschen von seinem Gott zu begreifen. Dies ist
bereits die kurz gefasste Version der Erbsündenkonzeptes Augustinus.

Damit ist die geschaffene Welt als eine Welt, die sich von Gott in einer aversio a Deo
abgewandt hat, zu begreifen und gleichzeitig ist die aversio Dei ab homine zu verstehen.
Denn dieser Kontext bedingt eine Rechtfertigung des Menschen, er muss getauft werden,
um das Heil zu erlangen und gleichzeitig aber auch die Rechtfertigung Gottes für die so
geschaffene Welt, denn er muss seinen Sohn senden, um diese Welt zu retten.

Schwierigkeiten mit dem Begriff Erbe

Keine Plausibiltät hat der Begriff in einem biologische, naturalistischen Kontext, wenn
man die Erbsünde in den Zeugungsakt verlegt. Wenn man somit meint, dass die Gene,
die sich bei der Zeugung vereinen, ein naturalistischer Fehler innewohnt, eben die
Erbsünde. Heute im Zeitalter der Molekularbiologie kann man die Erbsünde nicht mehr
auf eine biologische und damit naturalistische Weise denken. Man kann nicht plausibel
machen, dass eine Sünde bei der Entstehung eines Menschen entsteht. Allenfalls wenn
man davon ausgeht, – und dies ist ein abstruse Vorstellung – dass der Samen sündhaft ist,
aber warum ist die Eizelle nicht ihrerseits genauso sündhaft? Oder kommt bei der
Zeugung etwas Sündhaftes dazu, als Dreingabe, als Draufgabe oder wie immer man sich
diesen Vorgang der Vermittlung sich vorstellt? Hier sei nochmals als Beweis für diese
naturalistische Deutung das Konzil von Trient genannt, dass die Erbsünde zusammen mit
der menschlichen Natur durch die Fortpflanzung übertragen sieht. „Wir halten dem
Konzil von Trient daran fest, dass die Erbsünde zusammen mit der menschlichen Natur

54
durch Fortpflanzung übertragen wird und nicht bloß durch Nachahmung, und dass sie
jedem Menschen als ihm eigen innewohnt.” (WK 419, S. 137)

Wenn man diese biologisch orientierte und damit naturalistische Deutung der Erbsünde
aber heute nicht denken kann und sie nicht mehr glaubhaft machen kann, kann man die
Erbsünde denn anders als ein anthropologisches Konstitutivum denken? Was aber kann
dann mit dem Begriff der Erbsünde im anthropologischen Kontext als Konstitutivum
gemeint sein? Er meint und nur so hat er einen Sinn, dass der Mensch in seinem Dasein
unvollkommen ist, dass er gebrochen ist, dass er sündig ist, dass er nie ganz und heil ist,
und dies als anthropologisches Konstitutivum der Erbsünde.

Eine Generalisierung des Sündenfalls hat aber Einfluss auf jedes theologische
Nachdenken über Gott und den Menschen. Denn durch diese strafende Generalisierung
werden die Prädikate Gottes und die des Menschen allzu leicht nur negativ pointiert.
Strafender, zorniger Gott, der Mensch von Sünde befallen und wertlos. Wie sich ein
solcher Gedanke über den Sündenfall als Strafaktion zum Ausgangspunkt für die Lehre
der Erbsünde wird, kann man an der Entstehungsgeschichte der Erbsündenlehre
nachzeichnen. Dieser Gedanke ist wie folgt bestimmbar. Für Augustinus und das Konzil
von Trient ist die Heilsgeschichte nur bedingt ein wirkliches und echtes
Entscheidungsgeschehen. Sie scheint schon im voraus durch Adam entschieden. Hier
wird augustinisch eine Eschatologie und eine heilsgeschichtliche Dynamik aufgestellt,
angefangen bei Adam über Christus bis zum Jüngsten Tag. Diese Ur-Tat des Sündenfalls
muss dimensional so groß, so schwer gewesen sein, dass die Folgen dieser Tat alle und
jeden Menschen betreffen und zwar schon immer und für immer.

Alles nach dem Sündenfall, der jetzige Zustand des Menschen, wird nun als Folge der Tat
des paradiesischen Menschenpaares verstanden – und dies ist eine Denkmöglichkeit –
dennoch ist es schwierig, die Auswirkungen, die diese Ur-Tat hatte, nämlich die
Vertreibung aus dem Paradies als logische Straftat eines liebenden Gottes zu begreifen.

Evolutionskritische Bemerkungen

Nicht nur in der bisherigen Darstellung sondern speziell im Rahmen einer


naturwissenschaftlich orientierten Evolutionstheorie ergeben sich weitere
Schwierigkeiten, die eine Vermittlung der Erbsünde schwierig machen. Hat es denn eine
Unterbrechung in der Kette der Evolution gegeben? Hat es in der Evolution einst ein
Paradies gegeben? Denn die ersten Menschen lebten nie in einem Paradies? Es gab
evolutionsgeschichtlich auch nie nur das erste Menschenpaar. Die Monogenie ist
gescheitert. Ist damit denknotwendig das Paradies etwas Vorzeitliches oder etwas Nicht-
Zeitliches? Auch dieser Gedanke des Vorzeitlichen erweist sich als absurd, da die Zeit
nur als anfanghaft gedacht werden kann und es kein Vorher in der Zeit gibt. Die Zeit
muss als Zeit mit der Schöpfung synchron verlaufen. Die lineare Zeit. Dass es damit
etwas Vorzeitliches oder Unzeitiges wie das Paradies in unserer Raum- Zeit- Kategorie

55
gar nicht geben kann, ist zumindest hoch wahrscheinlich. Gleichzeitig gibt es
Schwierigkeiten sich einen zeitlosen Raum (Garten Eden) vorzustellen.

Der oben beschriebene Kern der Erbsünde ist aber in seiner naturalistischen Ausdeutung
keine Denkmöglichkeit, Übertragung der Erbsünde durch Zeugung, der Kern der Lehre
aber ist eine unbedingte Denknotwendigkeit. So ergeben sich erhebliche Divergenzen
zwischen der Denknotwendigkeit dieses Lehre und seiner Denkmöglichkeit. Mit
anderen Worten: es ist schwierig das Dogma der Erbsünde, wie dargestellt in einem
evolutionsbiologischen Kontext zusammen zu denken und ihre Deutung ist aufgrund der
heutigen Kenntnisse nicht widerspruchsfrei darstellbar. (Paradies in der Evolution?
Paradies – Mythos oder Realität?)

Augustinus und die Folgen

Augustinus war als Erfinder der Erbsündenlehre mit zwei religiösen Strömungen seiner
Zeit konfrontiert. Einmal dem Manichäismus und zweitens dem Pelegianismus. Der
Manichäismus ist eine gnostische Erlösungsbewegung der Spätantike. Sie vertrat einen
Dualismus, gleichursprünglich das Prinzip des Guten und des Bösen, beide stehen sich
gegenüber, ebenso Geist und Materie. Die Welt selbst ist Schöpfung eines Demiurgen,
auf den das Böse zurückzuführen ist. Durch den kosmischen Kampf beider Gottheiten
kommt es zur Vermischung, aus der nur die erlösende Erkenntnis (Gnosis) über den
guten Ursprung der Seele und ihren rettenden Aufstieg in das Reich des Lichts führen
kann.

Im Laufe des 4. Jahrhunderts n. Chr. wurde heftig zwischen Augustinus und den
Pelegianern über die Kindertaufe, die damals in Nordafrika üblich war, gestritten. Der
Punkt um den es ging ist der: man fragt sich, da die Kindertaufe die gleiche Formel und
den gleichen Ritus hat wie die Erwachsenentaufe, was es bedeutet, wenn Kinder, die
nicht sündigen können, aber zur Vergebung der Sünden getauft werden? Was war mit den
Kleinkindern, die noch nicht sündigen konnten, muss man diese auch taufen? Denn wenn
man sie nicht tauft, sind sie vom Himmelreich ausgeschlossen und werden nicht in
Christus wiedergeboren. Augustinus ging sogar in diesem Streit noch weiter und erklärte
die Kindertaufe sei notwendig, weil in den Kindern die menschliche Natur verderbt sei,
denn sie sei schon immer durch die Erbsünde verdorben.

Nach pelegianischer Auffassung hat der Mensch auch nach der Sünde Adams die
Möglichkeit behalten, nicht zu sündigen (posse non peccare). Die menschliche Natur ist
also intakt und nicht verdorben. Und im weiteren Streit mit den Pelegianern brachte
Augustinus dann das Argument ein, dass die Ursprungssünde von Adam auf alle
übergegangen ist. Augustinus musste also beweisen, dass wenn die Kindertaufe
notwendig sei, um das Heil zu erlangen, dass alle Kinder- also auch alle Menschen- in
der Sünde Adams geboren sind. Um den Beweis für die Kindertaufe zu rechtfertigen
muss es in der Argumentation eine Ursprungssünde geben. Denn die ungetauften Kinder

56
können nicht in das Heil eingehen. Sie gehen also in einen Ort der Verdammnis, wenn
auch der leichtesten.

Da er darlegen musste, was es mit der Ursprungssünde auf sich hat, tat er dies in der
Interpretation von Römer 5. Augustinus konnte kein Griechisch, also ergänzte er den
Römerbrief 5, 12 übersetzend das peccatum als Subjekt des Verbs transiit. Es geht also
nicht wie im Original der Tod, sondern die Sünde von Adam auf alle Menschen über.
Dazu kommt noch ein schwerer Übersetzungsfehler: Augustinus versteht das „in quo“ in
Vers 12, das für griechisch „eph ho“ steht, statt als „insofern“ oder „weil“ relativistisch
als „in dem“ oder „durch den“ und bezieht es auf Adam. Damit erhält er: „So ging die
Sünde auf alle Menschen über von Adam, in dem alle sündigten.“121

Weiter argumentierte er, so wie aus dem Menschen Adam Menschen hervorgegangen
sind, sind auch aus dem Sünder Adam, dem Sklaven des Todes und dem Verdammten,
Sünder, Sklaven des Todes und Verdammte hervorgegangen. Dies ist durch Zeugung
geschehen. Zeugung geht nicht ohne den Geschlechtstrieb. Geschlechtstrieb nicht ohne
Lust. Dies ist die Begierlichkeit oder die Konkupiszenz. Damit ist die Erbsünde ein
unabtrennbares Element der Konkupiszenz, sie ist das Gesetz der Sünde. Mit dem Kind
zugleich geboren, macht sie die ungetauften Kindern zu Kindern des Zorns und liefert sie
in die Verdammnis. Auch die menschliche Natur ist verdorben, denn sie wird durch
Zeugung weitergegeben. Er betont zwar immer wieder die Gnade, aber der Preis für den
Vorrang der Gnade ist hoch, alle Menschen sind sündiges Fleisch, der Verdammnis
anheim gefallen und weil der Mensch ein Sünder ist jeder Mensch vor Gott ein Nichts.

Augustinus hat die Freiheit des Menschen nicht verneint, aber auch so recht auch keinen
Platz für sie. Der freie Wille reicht von sich aus zum Bösen, aber zum Guten nur, wenn
ihm die Gnade zur Hilfe kommt.122 Nur durch die frei geschenkte Gnade Gottes besitzen
wir den freien Willen, Gott zu dienen, aber letztlich gebraucht auch der Getaufte seinen
freien Willen zum Sündigen.123

Dieser anthropologische Pessimismus macht zu schaffen, er ist zutiefst destruktiv. Auch


wenn die Gnade der Sünde entgegensteht, ist doch die Überbetonung der Sünde
gegenüber der Gnade eine theologisch Verkürzung und die Frage nach der Vergebung
durch Gott ist erst einmal gar nicht gestellt. Der schwerwiegendste Fehler in der
Ursündentheologie ist der, dass man sich einen anthropologischen Pessimismus zu eigen
gemacht hat, dass dieser schlechthin zu unser Vorbefindlichkeit gehört.124

Außerdem findet sich in den Darlegungen Augustinus neben deutliche Zeichen eines
Manichäismus, ein Dualismus in seiner zwei Reiche-Lehre (civitas die und civitas terena)
und gnostische Elemente.

121 Augustinus in De gratia Christi II, 29, 34


122 Augustinus, de corruptione et gratia 11,31
123 Ebd.6,9
124 Andrade , Barbara Erbsünde und Gnade 132

57
Aber damit nicht genug, es schließen sich für Augustinus weitere Argumentationslinien
die Erbsündenlehre betreffend an. Denn er stellte die Frage nach dem Bösen in der Welt,
das durch Adam in die Welt kam. Und Augustinus bediente folgende gedankliche
Konstruktion zur Erklärung des Bösen. „Unde malum“, fragte er? Nach seiner Trennung
von den Manichäern begegnet Augustinus dem Plotinismus und damit dessen Lehre von
der Nichtigkeit des Bösen. Die Wirklichkeit versteht Augustinus fortan als eine
konsequente Abstufung vom Sein(Gott) selbst bis hin zum Nichts, dem Bösen, das aber
keinen Seinsrang mehr hat. Diese neue Erkenntnis hat Folgen. Denn daraus leiten sich
einmal die Leibfeindlichkeit ab und zweitens die Tendenz das Böse zu verharmlosen. Das
Böse ist nun als Strafe für den Menschen zu verstehen und damit ist die rein moralische
Sicht des Bösen gegeben. Das Böse selbst ist Nicht-Sein oder – weil alles Seiende gut ist
– Mangel an Gutem. Logisch ist also der Schritt folgender: Erbsünde- Schuld des
Menschen und das Böse ist Nichts.

Mit dieser Auffassung, die er von Plotin übernimmt, ist die Verantwortung für die
Existenz des Bösen beim Menschen gelandet. Vom Übel aber wird Gott mit Hilfe der
Privationstheorie freigesprochen. Im Rahmen der Vergeltungslogik fällt es auf den
Menschen zurück. Aber im Gegensatz zu Plotin ist für Augustinus das Böse nicht
notwendig, denn der gute Gott hat die Welt gut geschaffen.125 Und daraus folgt: alles
Leiden(das Böse) als Vergeltung für die ersten Sünden! Augustinus macht aus posse non
peccare ein non posse non pecare.126 Um der Gerechtigkeit Gottes willen muss der
Mensch persönlich an allem Übel, das er erleidet, schuld sein. Der Mensch ist nicht mehr
von Natur aus gut, sondern besitzt eine fatale Neigung zum Bösen. Und dafür macht
Augustinus den Menschen haftbar. So wurde er der Vater der klassischen Lehre von der
Erbsünde. Und um diese Sicht der Erbsünde glaubwürdig zu machen, dass alles Leiden –
so ungerecht es auch verteilt ist – eine Vergeltung für Sünde sei, muss er diese auf eine
überindividuelle Ebene heben, es wurde zur Erbsünde und damit auf eine Ebene gestellt,
die mit der Geschichte und der Fortpflanzung zu tun hat. Die Gnosis wird rekonstruiert in
einem rationalisierten Mythos.127 Im Rahmen der Vergeltungslogik bestraft Gott für
etwas, für das er aber selbst verantwortlich ist.

Auch die Lehre von der absoluten Prädestination des Menschen greift Augustinus auf,
denn die Menschheit ist eine massa dammnata, Masse des Todes und des Zornes. Denn
Gottes Gnade rettet nur den, den er erretten will. Seine Gnadentheologie steht gegen
seine Sündentheologie.

Problematisch, weil unserem aufgeklärten Menschenbild nicht entsprechend, ist auch die
Anschauung Augustinus, wenn er die Menschen als massa peccati ansieht und von Plotin
inspiriert das Böse als Mangel an Sein definiert. Somit wird aber das Böse selbst
bonisiere und in einer weiteren Stufe moralisiert und pädagogisiert, wenn es wie bei
Augustinus als privatio boni verstanden wird. Damit wird das Böse kategorial auf und

125 Robert Haag : Vor dem Bösen ratlos? Piper 1978


126 Ebd.
127 Paul Riocouer: Das Böse 2001

58
auch umgewertet. das Böse als Vergeltung für das Leiden, die Sünde hat hier ihren
Ursprung. Leiden als individualisiertes Leiden dem jede Solidarität fehlt.

Auch in den folgenden Synoden von Karthago und Orange wird dieser Pessimismus
festgeschrieben, indem die Darstellung des Augustinus übernommen wird. Die negativen
Auswirkungen seiner Sündentheologie bleiben virulent bis zum heutigen Tag.

Auf der Basis dieses Erbsündenkonzeptes schließen sich Fragen an, die heute immer
wieder zu stellen sind und an denen sich die Theologen abarbeiten. Denn auch unser
Sündenverständnis ist wesentlich durch das Verständnis der Erbsünde geprägt. Und aus
diesem und in diesem Zusammenhang wird die Sünde allzu leicht nur moralisiert, der
Moralkodex als Verletzung einer lex aeterna. Der Sünder als der moralische
Schwächling. Das bedeutet, dass es notwendig ist alle Komplexe, die irgendwie mit der
Erbsünde begrifflich zu tun haben: Gott/Welt, Sünde, Moral, Wertigkeit des Menschen
als Sünder vs. Wertigkeit des Menschen als von Gott geliebt zusammen zu denken.
Glauben Menschen oder glauben wir nur unter den Bedingungen der Erbsünde, dass wir
auf Grund des Sündenfalls erlöst sind, dass uns Vergebung widerfährt? Gibt es wirklich
die Konstruktion einer Heilsgeschichte: Paradies, Sündenfall, Heilstat Christi als
Wiedergutmachung? Welches Prädikat hat dann aber ein solcher Gott?

Insgesamt muss man sagen, dass das in der augustinischen Erbsündentheologie


vermittelte Gottes- und Menschenbild zumindest heute kaum noch oder nur sehr
schwierig zu verstehen ist, da es zu erheblichen Schwierigkeiten im jeweiligen Gottes-
und Menschenbild führt.

Wie können wir heute in der Kenntnis der Evolution ein Paradies, den ersten Menschen
denken, der entsprechend der Schöpfungsgeschichte ein anderer gewesen war?
Augustinus, hat aber, wie beschrieben, ganz offensichtlich einen Interpretationsfehler in
seiner Darstellung und Herleitung der Erbsünde begangen, der wurde aber nie
ausreichend korrigiert.

Wie man heute die Erbsünde erklärt, dazu möchte ich den heutigen Papst zitieren. Der
Papst, damals noch Kardinal in München, schreibt in seinen Predigten mit dem Titel: im
Anfang schuf Gott, über die Erbsünde: „Was bedeutet Erbsünde, wenn wir sie richtig
auslegen? Um hier eine Antwort zu finden, ist nichts Geringeres nötig, als den Menschen
wieder besser verstehen zu lernen. Wir müssen uns wieder klarmachen, dass kein Mensch
in sich selbst geschlossen ist, dass keiner von sich allein und für sich allein leben kann.
Sünde aber bedeutet die Beziehung zu stören, Sünde ist Leugnung der Beziehung, weil
sie den Menschen zu Gott machen will. Und wenn ich Beziehung zerstöre, dann trifft
dieser Vorgang auch die anderen Beziehungsträger, das Ganze. Weil es so ist, gilt, wenn
das Beziehungsgefüge des Menschseins von Anfang her zerstört wird, tritt jeder Mensch
fortan in eine von der Beziehungsstörung geprägte Welt ein. Und „ das Verfehlte seines
Daseins besteht ja gerade darin, dass er sich allein will. Erlöst, d.h. frei und wahr werden
können wir nur, wenn wir aufhören ein Gott sein zu wollen. Weil die

59
Schöpfungsbeziehung gestört ist, darum kann nur der Schöpfer selbst unser Erlöser sein.“
128

Ratzingers Denken rezipiert ein augustinisch-platonisches Denken, das aller Wirklichkeit


und Vielfalt eine Einheit voraussetzt. Die Vielfalt kommt aus dem Einen und findet darin
ihren Ursprung. Das Eine hat einen ontologischen und überzeitlichen Vorrang vor der
Pluralität. Dieses Grundmuster findet sich auch in der obigen Argumentation Ratzingers.
Es liest sich fast wie eine mathematische Gleichung oder die Vorstellung eines
physikalischen Versuchs. Vorausgesetzt wird schon im Anfangssatz ein „richtiges“
Auslegen – und dies in einer konditionalen wenn-dann-Beziehung. Und dann folgen
Sätze mit Bedingungen des Müssens und daraus abgeleiteten Folgerungen weil- darum.
Gut es ist eine Predigt, aber genau darin zeigt sich die theologische Sprache, die immer
das Abgeleitete, mithin den Menschen erklärt, indem sie vorher behauptet, nur in ihrer
Perspektive könne der Menschen besser, eben richtig verstanden werden. Aber in dieser
Argumentationsreihe wird ja nur dargelegt, was vorher schon als ein besseres Wissen
vorausgesetzt ist, nämlich dass der Theologie.

Im weiteren wird zuerst der Mensch beschrieben, dann folgend die Sünde als
Beziehungsstörung, daraufhin wird diese Störung auf das Ganze übertragen, und dann
heißt es, weil es so ist, gilt wenn das Beziehungsgefüge des Menschseins von Anfang her
zerstört ist, tritt jeder Mensch fortan in eine von der Beziehungsstörung geprägte Welt
ein“. Auch der Satz: „ Mit dem Menschsein selbst, das gut ist, fällt ihn zugleich eine von
der Sünde zerstörte Welt an. Jeder von uns tritt in eine Verflechtung ein, in der die
Beziehungen verfälscht sind. Jeder ist deshalb schon von seinem Anfang her in seinen
Beziehungen gestört, empfängt sie nicht, wie sie sein sollten“.129

Auch hier zeigt sich: der vorherige, ursprüngliche Idealzustand der Menschheit ist
verfälscht, und das, was ist, soll nicht so sein. Wenn es aber mit dem Menschen sich so
verhält, wie es ist, so kann man fragen, ist es dann schon wert- und sinnlos, weil es
verfälscht ist? Gilt es nicht zu fragen, ob das Vorhandene nicht in sich seinen Wert hat?
Oder ob der Wert des Menschen und der Welt nur seinen Wert als eine vom Ideal
abgeleiteten Wert hat? Platon Ideenlehre lässt grüßen. Ist das Vorhandene, der Mensch
selbst, der er sein will wie Gott-, so wird die aversio hominis ab Deo begriffen-, letztlich
nur als pure Negativität, als das Nicht-Sein-Sollende definierbar und zu beschreiben? Das
ist das gleiche Denkmuster, das schon Augustinus in seiner Beschreibung des Bösen als
das Nicht-Sein-Sollende bediente. So ist zu fragen, ob der Mensch als ein
Beziehungswesen, als eine Person, die in der Ich-Du-Beziehung mit anderen Menschen
lebt, ob dieser Mensch diese menschlichen Beziehungen als eine a primo gestörte,
verfälschte Beziehung erlebt? Ob er nicht mehr erfährt, als das „Menschsein selbst, das
ihn in einer von Sünde zerstörten Welt anfällt?“

Das Menschsein selbst, von dem Ratzinger spricht, gibt es nur als ein abstractum, als

128 Ratzinger, Benedikt, im Anfang schuf Gott, Johannes 2002, 72 f


129 Ebda. 72

60
Idee. Denn die menschliche Beziehungsfähigkeit, wie gestört sie auch immer sein mag,
ist dennoch Grundlage jeder Solidarität, jeder Zwischenmenschlichkeit, jeder
Liebesbeziehung. Die hier mitschwingend ausgesagte, latente Abwertung des immanent
Zwischenmenschlichen ist schwierig nachzuvollziehen. Denn nicht alles menschliches
Tun kann in der Aussage klassifiziert werden, dass der Mensch sein will wie Gott. Das
beschreibt allerdings nur eine Extremform menschlichen Handelns, beschreibt allerdings
nicht ausreichend positive menschliche Möglichkeiten wie Solidarität, Mitleid,
Vertrauen, denn dieses ist eine gelebte Mitmenschlichkeit konstitutiv. Hier zeigt sich
meines Erachtens das Dilemma der Theologie auf. Denn der Mensch ist gerade deswegen
wert- und würdevoll, weil er ein Mensch, eine Person ist, weil er Freiheit und
Liebesfähigkeit hat. Hier ist nicht zwingend ein theologischer Begründungsrekurs auf
Gottesebenbildlichkeit und Geschöpflichkeit für diese menschlichen Eigenschaften
anzumahnen, wenn man ihre Werthaftigkeit konstatiert. Damit meine ich, dass in der
theologische Anthropologie sein Menschsein oft zu kurz kommt, weil der Mensch nur in
theologisch Sicht beschrieben wird. Damit werden aber alle anderen anthropologischen
Beschreibungen aus sich heraus als defizitär erklärt.

Jede Liebesbeziehung gründet auf Erfahrung des Vertrauens und dieses ist zuerst
zwischenmenschlich gelernt. Nicht umsonst ist das Gelingen eines Ur-Vertrauens in der
Mutter-Kind – Beziehung das Thema jeder Psychologie. Und diese lehrt, dass es für
jeden Menschen existentiell entscheidend ist, ob sie gelingt oder versagt. Sie ist
fundamental. Und erst auf der Erfahrung dieser Folie des gelungenen
zwischenmenschlich erfahrenen Ur-Vertrauens gelingt Beziehung, auch die Gottes-
Beziehung. Ist also das Nicht-Sein-Sollende, die gestörte Beziehung des Menschen zur
Welt, wie Ratzinger sie darstellt, nicht vielmehr nur ein Postulat, weil man den Menschen
richtig verstehen müsse? In der Theologie Ratzingers geht es immer auch um Platon und
die Synthese mit dem Christentum im Rahmen der Hellenisierung. Es geht nicht darum
Relationen zu denken, sondern Seinskategorien. Die Vielfalt des Humanen ist eben nur in
der ontologisch übergeordneten Einheit zu verorten. Nur in der Einheit lässt sich
Pluralität denken. Deswegen muss im obigen Denkweg das Paradies und der Sündenfall
notgedrungen eine unabweisbare Realität darstellen, denn sonst greift der Begriff der
verfälschten Beziehung nicht.

Man sieht, die Lernkurve seit Augustinus bezüglich der Erbsünde steigt nicht an.
Ratzinger ist schließlich jemand, der diesen Kirchenvater schätzt, auch das augustinische
Menschenbild?

Kritische Überlegungen und Folgerungen

Grundvoraussetzung:
Nach gängiger Auffassung ist der Mythos Ursprungsdenken. Er fragt nicht nach dem
Warum, vielmehr nach dem Weswegen etwas ist. Der Mythos führt an einen Punkt vor
der Zeit. Er ist selbst zeitlos, nicht datierbar, aber beschreibt eine Grundkonstante

61
menschlichen Daseins.130

Zur Grundaussage einer theologischen Anthropologie gehört die beiden Begriffe


Geschöpf Gottes zu sein und geschaffen nach Gottes Ebenbild. Diese beiden Aussagen
beziehen sich auf die Genesis, sie haben dort ihren Ursprung und sind das Kennzeichen
jeder theologischen Anthropologie. Für diese beiden Kategorien ist es aber keineswegs
relevant, ob das Paradies real war oder nicht. Denn im Mythos-, so die These -, wird die
Grundbefindlichkeit und Konstante menschlichen Daseins ausreichend und hinreichend
beschrieben. Auch und gerade im Mythos wird die Essenz der Erbsünde gewürdigt. Aber
ist die augustinische Konstruktion der Erbsünde, die als eine Vergeltung für die Sünde
angesehen wird und damit die moralische Sicht des Bösen in die Erbsünde verlegt als ein
Muss des Glaubens darzustellen? Muss man an einen solchen prädikativ vergeltenden-
wieder- gut- machenden Gott glauben? Wird dadurch nicht einem Gottesbild Vorschub
geleistet, das in sich zwiespältig ist, einen guten und strafenden Gott vorstellt, das also
nicht einheitlich, ohne in Aporien zu verfallen, gedacht werden kann.

Ist es also notwendig und zwingend die Erbsünde eschatologisch und soteriologsich in
eine entsprechende Finalität einzubetten? Genügt es nicht, dass wir als Menschen durch
Jesus erlöst worden sind? Müssen wir auch noch erst zusätzlich erbsündig geworden sein,
um dann mit der Last der Ursünde erst recht noch erlöst zu werden? Erbsünde kann doch
auch als beschreibendes Konstitutivum des Menschen, als Verfallenheit im
Heidegger`schen Sinne gedacht werden. Eine solche anthropologische, erbsündige
Zustandsschilderung sagt alles über den Menschen aus. Aber gegen die augustinische
Konstruktion des moralischen Bösen, für das der Mensch haftbar gemacht wird, das als
Strafe für die Ursünde, und als Vergeltung für diese Ursünde eingebracht wird, ist
Widerspruch anzumelden. Sie stellt ein zusätzliches Gewicht dar, eine den Menschen
pathologisierende Last.

Ein weiterer Schritt für die logische Bedingung Erbsünde und Erlösung durch Jesus ist
die allseits bekannte Satisfaktionstheorie, die Anselm von Canterbury im 11. Jahrhundert
n. Chr. aufstellte. In ihr wird die soteriologsiche Konzeption eingebracht, in der Jesus
zwischen Gott und dem nicht satisfaktionsfähigen Menschengeschlecht selbst eine
Leistung erbringen muss. Denn es sollte Genugtuung geleistet werden für eine schwere
Schuld, wie sie die Rebellion des Menschengeschlechtes angehäuft hatte. Durch die
Gehorsamsleistung des Sohnes wurde eine adäquate Ersatzleistung für den Ungehorsam
der Menschen erbracht, damit so die Gerechtigkeit in ihrer ursprünglichen Ordnung – als
restitutio ad integrum – wieder hergestellt wurde. Damit wurde der Gehorsam des
Erlösers zu einer Leistung, deren Würdigung durch den, dem sie erbracht wurde, nicht
nur angemessener weise die Nachlassung der geschehenen Sünden nach sich ziehen
konnte, sondern darüber hinaus einen Gnadenschatz erwarb, der in der Kirche ausgeteilt
werden sollte, wo immer sich die von neuem in Sünde gefallenen Getauften im
Sakrament der Buße vor Gott demütigten.131 Dieser Theorie gründet auf der Idee einer

130 Höhn, Hans Joachim, zustimmen Echter 2001 S.56


131 Werbick, Jürgen, Fundamentaltheologie 2207 S. 441

62
Beleidigung der Ehre Gottes.

Auch die Konzeption eines Rache-Gottes ist hier zu nennen. Diese Konzeption sagt aus,
dass Gott durch die Sünden der Menschen zornig geworden ist und dass er sie mit ewigen
Höllenstrafen straft.

Die obige Beschreibung des konstitutiv erbsündigen Menschen ohne einen Rekurs auf
einen reales Paradies würde helfen, den Menschen in seiner Geschichtlichkeit, in seinem
Geworden-Sein und auch in seinem personalen Sein ernst zu nehmen und ihn zu
verstehen. Dieses Modell würde nicht von einem primär defizitären, gefallenen
Menschen ausgehen, dieses Modell wäre nicht primär ein pessimistisches, sondern
tauglich und belastbar, denn es verkürzt nicht unser Verständnis vom Menschen. Denn
die postparadisiesichen Bedingungen unter denen der Mensch lebt, sind Bedingungen des
sowohl als auch. Bedingungen für das Gut-Sein wie für das Böse-Sein. Es können somit
nie die Bedingungen des Paradieses gelten, da diese Bedingungen a priori ahistorisch
sind.

Aus der Offenbarung in der Genesis aber abzuleiten, dass der Mensch ursprünglich von
Gott anders bestimmt war, dass er in einer Einheit mit Gott lebte, bedeutet, dass man die
Offenbarung hier wörtlich und real nimmt und ihr nicht den Rang eines Mythos zubilligt,
eines Ursprungsmythos. Erstaunlicherweise ist hierbei aber, dass die
Schöpfungsgeschichte der Welt in der Genesis durchaus nicht so wörtlich genommen
wird. Hier ist die Erschaffung der Welt in sechs Tagen durchaus als Mythos zu nehmen
und es kommt ihr trotzdem Offenbarungscharakter zu (Evolutionstheorie kontra
Kreationismus).

These:
Nur unter der radikalen Annahme der Freiheit des Menschen, die Gott achtet, ist Gott als
der in seiner Freiheit sich selbst schenkende Liebe. Sich selbst schenkt er im logos, indem
er sich kenotisch inkarniert. Diese Liebe ist grundlos, zwecklos, nicht bedingt und nicht
instrumentalisierbar. Eine Sündenlogik und eine Vergeltungslogik aus der heraus erst die
Erlösung sich rechtfertigt, ist abzulehnen und gegenstandslos.

Basierend auf dieser These ergeben sich notwendigerweise auch Konsequenzen für eine
theologische Anthropologie. Die theologische Anthropologie blickt auf den Menschen
aus einer jeweils eschatologischen, oder soteriologischen, harmatologischen und
protologischen Perspektive. Dieses ist die Grundposition ihrer Anthropologie.132 Bei
dieser Grundposition der theologischen Anthropologie gilt es aber zu fragen, was das
Unterscheidende zwischen einer philosophischen und einer theologischen Anthropologie
ist, ob es hier Unterscheidendes gibt und falls Unterschiede denn vorliegt, was das
entscheidend Unterscheidende denn ist? Beide sowohl die philosophische als auch die
theologische Anthropologie sind zweifellos dem Humanum, dem Wesen des Menschen
verpflichtet, für beide ist dies materialiter ihre Basis. Demnach gilt, dass die theologische

132 Beinert, Wolfgang, Leib-Seele-Problem, Karl Rahner Akademie Köln 2003

63
Anthropologie als Kernaussage über den Menschen seine Geschöpflichkeit und seine
Gottesebenbildlichkeit einzufordern und auszusagen hat.

Diese beiden Begriffe fehlen in jeder philosophischen Anthropologie, dennoch dürfen


diese Begriffe nicht ohne ihre gleichzeitig philosophische Reflexion über das Wesen des
Menschen eingebracht werden. Denn die Grundposition einer oben beschriebenen
persepktivisch ausgerichteten theologischen Anthropologie mit soteriologischen oder
sonstigem Angelpunkt greift zu kurz, falls sie alleinbestimmend und nur von dieser
Position ihre theologische Anthropologie entfaltet. Sie erfasst den Menschen allein aus
dieser Position und unterschlägt oder vernachlässigt hierbei allzu leicht ein Denken über
den Menschen in der Welt. Mit anderen Worten: ohne eine grundiernde philosophische
Anthropologie auf der die theologische Anthropologie basiert, gerät sie in Gefahr sich
jenseits der philosophischen Frage, was ist der Mensch, zu bewegen. Es kommt dann
notwendigerweise zu einer Verkürzung des Humanums. Die Bestimmung der
Personenwürde und des menschlichen Daseins ist primär erst einmal unterhalb der
theologischen Ebene zu leisten, sie darf nicht auf Kosten der theologischen übersprungen
werden. Eine solche perspektivische Verkürzung lässt sich beispielhaft für eine
Theologie der Erlösung darstellen. Eine Theologie der Erlösung ist ohne Vermittlung und
Auseinandersetzung mit der philosophischen Anthropologie und den Human- und
Geisteswissenschaften heute weder angemessen vertretbar noch hinreichend verständlich.
Sie muss, um gegenwärtig zu werden, nicht nur zur fundamentaltheologischen
Argumentation bereit, sondern von dieser Bereitschaft auch in ihrem systematischen
Ansatz orientiert sein.

Eine Theologie der Erlösung hat, um die Engführung und Folgen ihrer Tradition zu
überwinden, schon im Ansatz der Tatsache Rechnung zu tragen, dass das Heil, Gottes
Liebe zu den Menschen, in der Geschichte Jesu begann, die Geschichte der Menschheit
betrifft, und in ihr seine Entsprechung sucht in einem Glauben, der sich an Weg und
Verkündigung Jesu orientiert und der in seinem Tod und seiner Auferweckung bewährte
Zusage Gottes vertraut. Das aber setzt Kategorien der Freiheit voraus, die
Intersubjektivität und Geschichte als Stätte eines von Gott kommenden Heils und als Ort
seiner Darstellung zu denken erlauben.133

In diese Perspektive der Vermittlung und Auseinandersetzung mit der philosophischen


Anthropologie und den Humanwissenschaften ist auch jede Rede über die Erbsünde, die
ja auch eine anthropologische Aussage ist, zu stellen.

Für das Thema der Erbsünde kann in dieser Hinsicht geltend gemacht werden, dass eine
zu starke Sündenzentrierung auch häufig mit einer kreuzestheologischen Engführung
verbunden ist, welche die Heilsbotschaft Jesus auf das Sterben Jesus für uns verkürzt,
ohne die Reich -Gottes-Botschaft und das befreiende Handeln Jesu entsprechend zu
würdigen. Insofern ist gegen die Soteriolgie zu wenden, ob sie in einer einseitigen
Betonung des Kreuzestodes Jesu die Rede vom Heil nicht auf die Erlösung von Schuld

133 Pröpper, Thomas Erlösungsglaube und Freiheitsgeschichte, München 1988 S. 33

64
und Sühne reduziert hat.134 Hat die klassische Erlösungslehre – in den Spuren Anselms
von Canterbury – hinreichend zur Sprache gebracht, dass die Botschaft vom Heil nicht
nur die Erlösung von Sünde und Schuld, sondern auch die Befreiung aus Unrecht und
Leid umschließt?135

Jede dualistische Aufteilung der Welt in Gut und Böse, in Gott und Welt, Materie und
Geist, Gott und Teufel zeigt zuerst einmal ihre manichäistische Reste und außerdem
dichotomiert sie die Wirklichkeit. Es gilt also zu fragen, wo sich manichäistische Reste
zeigen, wie dualistischen Fallen aussehen, wie man sie erkennt und wie man ihnen
ausweichen kann? Ganz besonders gilt das für die theologische Anthropologie. Wenn sie
den Menschen von Gott her erklärt, entsprechend der Schöpfungsgeschichte aus Erde und
dem Odem Gottes gemacht, dann muss der Erkenntniszugewinn, der ihr aus den
Humanwissenschaften erwächst auch in eine theologische Anthropologie eingebracht
werden. Hier genügt es nicht eine für die eigenen Aussagen kompatible Philosophie als
tragendes, anthropologisches Grundmodell einzubringen, sondern beide müssen
miteinander konsistent verbunden werden.

Allerdings artikuliert die Theologie ihre Aussagen über den Menschen, die sie aus ihren
theologischen Kategorien ableitet zu schnell als alleingültige, unabänderliche
Letztaussagen oder sie erklärt solche zu Letztaussagen. Damit stellt sie sich wie ein
Bollwerk gegen jeden Diskurs. Dies ist aber zuallererst einmal nur eine rein
apologetische Haltung. Die Diskursmöglichkeit einzelner Fragen zum Beispiel in der
Bioethik wird als unmöglich und verwerflich angesehen, ja die Fragen werden selbst als
unethisch abgewiesen. Aber nur in der Diskursfähigkeit mit humanwissenschaftlichen
Ergebnissen und naturwissenschaftlichen Erkenntnissen wird sich eine theologische
Anthropologie bewähren und ihre Pluralismusfähigkeit beweisen können.

Entsprechende theologisch ausformulierte Verkürzungen finden sich immer wieder im


Kontext der Rede von Leid als Bewährung, vom Tod als Übergang in ein ewiges Leben.
Hier darf zwar Trauer auch mal sein, aber zu leicht greift eine Umdeutung der Trauer und
des Leides und des Todes als theologisch gedeuteter Trost. „Wir leben um zu sterben,
aber wir sterben um zu leben“ ist ein bekannter Satz bei Trauerreden. Diese Rede mag
zwar theologisch korrekt sein, aber wird damit nicht das Diesseits nur zu einem mehr
oder minder wichtigen Durchgangsstadium erklärt und damit abgewertet? Solche
theologischen Argumentationsfiguren bedienen einen theologisch ausgestalteten
Reduktionismus des Humanen. Wenn in dieser Perspektive immer nur das Humanum und
die Welt, als das Gefallene gesehen wird, als das Abgefallene, Sündige, das wiederum
schon immer der Gnade Gottes bedurfte und sich ihr verdankt, dann ist jede theologische
Anthropologie auf der Basis dieses Denkansatzes nur eine Perspektive von oben. Es zeigt
sich hier, wie Metz das nennt, eine „erblüffungsresistente Theologie“.136

134 Tück, Jan Heiner, die Kunst es nicht gewesen zu sein 584
135 Ebd.584
136 Metz, Johann Baptist, memoria passionis

65
Gegen eine Perspektive von oben, die ja keine a primo verkürzte Perspektive ist, ist aber
zu sagen, dass sie immer nur in der Sprache verstanden wird, die allgemeine Erfahrungen
widerspiegelt. Sie darf nicht nur ihre eigenen Sprachspiele bedienen, wenn sie denn
kommunikabel sein will. Das bedeutet, dass die theologische Anthropologie einen
Sprach- und Perspektivwechsel vornehmen muss, denn es geht ihr bei ihrer Sprachspielen
zu selten um eine Sprechen in der Welt von dieser Welt, sondern mehr um ein Sprechen
von Gott her über diese Welt. Die Sprache der Empathie, der Unsicherheit, der
Bestürzung wird zugunsten einer theologischen Gewissheit, die allerdings oft nicht als
Trost, sondern als Vertröstung fraglos daherkommt, geopfert.

Mit anderen Worten das Leben, der Mensch, das Diesseits der Welt, darf nicht allein
unter sub specie aeternitatis gesehen werden.Der Mensch darf nicht nur in seiner
soteriologischen, protologischen und hamartologischen Beziehung gedacht und artikuliert
werden. In vielen Theologien und speziell der Erbsündenlehre nach Augustinus ist immer
noch die Rede von einer weltlichen Minderwertigkeit des Menschen, der sündigen Welt..
Und diese theologisch gedachte Minderwertigkeit des Menschen oder Minderwertigkeit
des Lebens findet ihren Abgleich und ihren Ausgleich im Diesseitigen. Die Spannung
jeder manichäistischen verfassten Dualität ist nur dann auszutarieren, wenn es gelingt,
das „ Zwischen“ den Dualitäten nicht zu vergessen, ja es muss artikuliert und ausgehalten
werden. Und dieses „Zwischen“ den Dualitäten muss positiv ausformuliert und
ausreichend gewertete werden. Ansonsten verbleibt eine schwer erträglicher Rest
Manichäimus über die Jahrhunderte erhalten.

Im Folgenden möchte ich immer noch anzutreffende manichäistische Reste im


theologischen Gedankengut vorstellen. Wenn ich Gott und Jesu Heilstat nicht ein Mehr
an Wirklichkeit und Wirksamkeit zutraue, sondern den Teufel als ein Geistwesen
postuliere, dann mache ich damit den Teufel zum Antipoden Gottes, und so gibt es zwei
Mächte, die um den Menschen kämpfen – Gott und Teufel. Über den Teufel sagt der
Weltkatechismus folgendes:

„Satan ist Geschöpf, reiner Geist, aber doch nur Geschöpf. Sein Tun bringt schlimme
geistige und mittelbar selbst physische Schäden über jeden Menschen. Und doch wird
sein Tun durch die göttliche Vorsehung zugelassen. Dass Gott das Tun des Teufels
zulässt ist ein großes Geheimnis. Und durch den Neid des Teufels kam der Tod in die
Welt.“137

137 Weltkatechismus 1993

66
Teufel nur als Metapher für das Böse und den Tod?
Oder Teufel als Realität?

Wenn der Weltkatechimus so den Tod beschreibt dann bedeutet das auf der anderen
Seite, dass der Tod das Nicht-Sein-Sollende ist, denn durch den Neid des Teufels erst
kommt er in die Welt. Demnach ist es durchaus in diesem Schritt logisch, dem Teufel die
Verantwortlichkeit für den Tod zuzuschieben, da falls Gott dafür verantwortlich gemacht
würde, sein Gut-Sein wiederum tangiert wäre. Da das aber Gottes Allmacht und Güte
nicht entsprechen würde, ist die Verantwortung hierfür, nämlich der Tod, an den Teufel
zu delegieren. Das Warum dieser Konstruktion wird mit dem Mantel des Geheimnisses
zugedeckt. Das bedeutet, nicht mehr weiter zu fragen. Aber da wäre doch zu fragen, ob
dieses Konstrukt denn stimmig ist, ob die Tatsache des Todes und des Bösen denn nur so-
teuflisch- gedacht werden kann? Ob der Manichäismus und der Dualismus nicht doch
bleibend ihre Spuren hinterlassen haben?

Ein weiteres Beispiel für die dauerhafte kirchlich gewürdigte Existenz des Teufels ist die
Taufe. Auch in ihr bei der abrenuntiatio diaboli, der Absage an den Teufel, ist ist die
Formel zu finden: „Widersagt Ihr dem Satan, dem Urheber des Bösen?“ – „Wir
widersagen,“ antwortet der Pate oder die Gemeinde. Getauft wird also nicht nur auf den
Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, sondern es wird dem Teufel
widersagt. In der Betrachtung dieses Rituals wird klar, dass das Böse der Welt und das
Böse im Menschen im Geistwesen des Teufels verortet werden.

Beide Gott und Teufel ringen um den Menschen, aber ringt nicht der Mensch zuerst nur
in sich selbst? Muss ich denn den Teufel postulieren, um das Böse zu erklären? Ist durch
die Existenz des Teufels das Böse überhaupt erklärbar? Der Teufel ist allenfalls eine
schlechte Metapher und damit eine ungenügende Deutungsmöglichkeit für das Böse.
Durch die Postulierung und die Einführung eines Teufels und das Dogma des gefallenen
Engels, der über den Menschen her fällt und ihn bedroht, wird die menschliche
Wirklichkeit selbst verändert. Was internal sich in Widersprüchlichem und auch als
Böses im Menschen zeigt, wird hierdurch externalisiert. Die Macht des Teufels kann
sogar über den Mensch die Oberhand gewinnen, er wird sogar vom Teufel besessen. Der
noch immer geübte Exorzismus ist Relikt eines magischen Denkens. Dieser Exorzismus
postuliert eine Besessenheit des Menschen durch den Teufel und die Kirche erklärt sich
für die Heilung der Besessenen zuständig. Dabei ist in diesen Fällen seit langem die
klinisch fundierte Psychotherapie und Psychiatrie das medizinisches Problem- und
Kompetenzfeld. Aber durch diese Externalisierung des Bösen, die Teufelsbesessenheit,
wird der Manichäismus im anthropologischen Modell auf Dauer etabliert! So zeigt sich
der Mensch von zwei Mächten beherrscht, den Mächten des Guten- Gott und den
Mächten des Bösen-Teufel. Aber spätestens seit der Psychoanalyse wissen alle, dass die
Verortung des Teufels im Menschen eine sinnlose Option ist. Diese dualistische Deutung
des Menschen gefährdet jeden einheitlichen personalen Selbstbezug des Menschen und
etabliert damit auch eine Dualität seiner Selbstbezüge. Das bedeutet, eine gelingende
Selbstvertrautheit des Menschen wird höchst fraglich.

67
Der Grundzug einer gelingenden Selbstvertrautheit ist aber der, dass ich als Mensch
immer die Welt als meine Welt in meiner personalen Ganzheit erlebe. Und in dieser
Welterfahrung ist immer auch schon eine Erfahrung von beiden Anteilen des Guten und
des Bösen in mir gegeben. Beide Anteile gehören zu der Person, machen sie aus, beide
Anteile sind immer anwesend, gleichzeitig wirkend. Und so kann diese Erfahrung der
personalen Ganzheit, ihre ethische Verantwortlichkeit und Rechtfertigung nicht
parzelliert werden in Teilmengen von Gut und Böse, für das Gute ist Gott und für das
Böse der Teufel zuständig. Dieses Menschenbild, das das Böse des Menschen durch den
Teufel bedingt sieht, das Böse somit als teuflisch ansieht, betrachtet seinerseits den
Menschen als durchtrieben, getrieben und aus dem Paradies vertrieben. Diese Sicht
bedient ein schizophrenes Denken des Menschen über sich als Person und macht den
Betroffenen schlicht verrückt. Die gleiche Denkstruktur findet sich in der Anthropologie
des Augustinus. Ich bin ein Nichts, ein Wurm, Abschaum, und nur allein durch die Gnade
bin ich. In diesem Menschenbild gelingt es nicht, die Dualität von Gut und Böse als
personale Einheit zu denken. Ich bin ich. Bin Subjekt, einmalig und einzigartig, erfahre
mich. Das Subjekt ist Ausgangs- und Konstruktionspunkt seiner Welt. Und dieses Ich ist
das praereflexive Bewusstsein meiner selbst.138 Dieses Ich lässt sich nicht dualistisch
aufspalten, erst recht nicht die Person. Spätestens seit der Aufklärung lässt sich ein solch
dualistisch, pessimistisches Menschenbild nicht mehr plausibel vermitteln, ja ein solche
Anthropologie ist bedrohlich und zerstörerisch.

Was diese zutiefst negative anthropologische Aussage bedeutet, einerseits dem Menschen
eine Erbschuld an zulasten, die durch die Konkupiszenz erklärt wird und andererseits den
Teufel, dem Urheber des Bösen in der Taufe auch abschwören zu müssen. Was dieses
bedeutet und welche schwerwiegenden psychischen Konsequenzen dies mit sich bringt,
sollte doch auch bedacht werden. Bedacht werden sollte, ob der Mensch denn überhaupt
so zu denken ist, ob diese Anthropologie denn tragfähig, zustimmungsfähig ist und zur
Daseinsakzeptanz beiträgt. Ich meine eine solche Sicht ist zutiefst destruktiv und nur mit
einem maximalen Gnadenaufwand Gottes auszutariern. Aber dennoch und gerade darin
bleibt diese Sicht dann auch dualistisch.

Ist es wirklich vorstellbar, dass ein schöpfungstheologisch gesprochen gut konstruiertes


Universum durch den menschlichen Ungehorsam aus dem Gleichgewicht geriet? Und
dieses Fehlverhalten des ersten Menschen hat Gott mit seinem Zorn bedacht. Um
Apologeten zu bemühen sprechen diese dann von einer felix culpa, denn nun war Gott
gefordert, alles wieder in eine Ordnung zu bringen (Satisfikation).

Schwierigkeiten aus dem manichäistischen Gedankengut ergeben sich auch beim


Prädikat Gottes, er sei allmächtig und gerecht. Beide Begriffe allmächtig und gerecht
unterstellen, dass die Allmacht Gottes böse Dinge geschehen lässt, und das beeinträchtigt
seine Allmacht und Gerechtigkeit. Und in diesem Fall kann er auch nicht gut sein, da er
ja in seiner Allmacht das Böse auch verhindern könnte. Aus dieser Denkrichtung leitet
sich der gnostische Mythos ab. Für das Böse in der Welt ist Gott nicht verantwortlich,

138 Henrich, Dieter Subjekt und Reflexion

68
sondern ein Demiurg, für das Gute ist Gott zuständig. Die Aufteilung in das Gute und
Böse ergab einen Dualismus, er unterschied das Schlechte der Materie vom Guten des
Geistes. Daraus leitet sich dann in der Folgezeit die christliche Askese ab. Der Leib sei
wie ein Tier, das zu züchtigen sei.139

Blumenbergs These von der Aufklärung als der Versuch die Gnosis zu überwinden ist
hier wegweisend. Denn die Gnosis, der Manichäismus, die Leibfeindlichkeit sind weiter
unerledigte Reste aus dem 4. Jahrhundert n. Chr.

Also ist der Versuch angezeigt jeden immanenten Dualismus und Manichäismus dort zu
suchen, wo er sich zeigt und ihn gegen eine Anthropologie zu stellen, die aufklärerisch
die Autonomie des Subjekts denken kann. Und dieses Ich des Subjekts ist nicht
dualisierbar, nicht teilbar.

Meine These zum Verständnis der Erbsünde

Erlösung des Menschen durch die Heilstat Jesu gründet sich allein auf das liebende
Zusagewort Gottes, geschichtlich geworden als Kenosis. Sie setzt ihrerseits nichts voraus,
sondern ist Handeln Gottes am Menschen. Sie ist vorrausetzungslos und sie ist nicht
bedingt. Als Liebe kann sie nicht instrumentalisiert werden, sie kann nicht verzweckt
werden. Sie ist grund- und bedingungslos und als Liebe auch nicht verzweckbar.
Somit ist die Frage zu stellen: ist die Heilstat Jesu nur als Reparatur einer ursprünglich
vollkommenen Schöpfung, als die Heilstat Gottes, der die Ordnung wiederherstellte, zu
denken? Oder auch anders? Ich meine: ja.

Zur Stützung dieser bejahenden Antwort sind folgende Überlegungen leitend: wird der
Sündenfall nicht alleinig als eine Strafe Gottes, ausgelöst durch die Stammeltern Adam
und Eva, gesehen, sondern der Freiheit des Menschen zugesprochen, dann lässt Gott
diese Freiheit als Bedingung seiner Freiheit liebend zu. Dann ist ein solches
Freiheitsverständnis konstitutiv für den Menschen. Dann ist es die Freiheit, die Gott dem
Menschen geschenkt hat, die Bedingung für die Tat Adams. Dann ist diese Freiheit
Adams eine Freiheit, die Gott gewollt hat und die er in seiner Freiheit letztlich achtet und
nicht in Frage stellt. Es ist also nicht um den Ungehorsam Adams und Evas, der letztlich
von Gott bestraft wird und damit um die Sünde, die Gott zugelassen hat und für die er die
Menschheit bestraft. Sondern der Sündenfall beschreibt die existentielle Tragik
menschlicher Freiheit, beschreibt sie in ihrer Begrenztheit, ihrer Gleichzeitigkeit
zwischen Können und Wollen, zwischen Scheitern und Gelingen.

Wenn man denn den Sündenfall und die daraus resultierende Erbsünde der Freiheit des
Menschen zurechnet, besteht die Möglichkeit diese Freiheit nicht allein als Strafe zu
denken, als ein Defizit darzustellen, sondern man kann sie als die Grundbedingung des

139 Gilliam R. Evans: Wie kommt das Böse in die Welt 2008 Kreuzverlag

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Gott/Welt-Verhältnisses ansehen. Dann ist der Sündenfall Adams aber nicht mehr etwas
Individuelles, nur Adam und Eva zuzurechnen, sondern er ist in der Freiheit des
Menschen zu verorten. Damit ist es möglich den Sündenfall und die Erbsünde auch
generalisiert zu denken. Damit umgeht man die Konstruktion einer Realität des
Paradieses, hat aber doch den auf den Menschen hinweisenden, verweisenden Sinn eines
Mythos gewahrt.

Folgt aus der Logik des Sündenfalls die Logik der Erlösung?

Ist die Erlösung durch Christus, die Tatsache seines Sterbens und seiner Auferstehung
nicht auch ohne das Konstrukt einer augustinischen Erbsünde und der Vertreibung aus
dem Paradies denkbar? Die Schrift spricht dagegen, denn in ihr wird von Paulus der
Kontext Adam- Jesus aufgestellt, aber dieser Kontext ist ein anderer als wie ihn
Augustinus dann darstellt. Paulus beschreibt die Sünde Adams als glückliche Schuld,
felix culpa. Mit diesem zweifellos schwierigen Begriff der glücklichen Schuld versucht er
eine kausale Erklärung über das zu liefern, was in der Geschichte der Menschheit
geschehen ist. Zuerst die Erbsünde und dann die Erlösungstat Jesus. Mit dem Begriff der
felix culpa wird dann über die Gnade ein logischer Zusammenhang konstruiert, der aber
erst im Nachher, nach der Erlösungstat Jesus sich zeigt, also retrospektiv, aus der
geschichtlichen Situation gedeutet wird und werden kann. Diese Deutung der felix culpa
erfolgt aber nur aus einer Beobachterposition, die eine Heilsdynamik als objektivierbares,
kausales Ereignis beansprucht. Das Problem dabei ist allerdings, dass so aus der
Unverfügbarkeit der Gnade Gottes, ein Bedingung, ein zwingendes geschichtliches
Postulat der Erlösung wird. Dass es eine Heilsdynamik in Jesus gibt, ist ja gar nicht die
Frage und dies wird auch gar nicht in Abrede gestellt, sondern nur die von Paulus
aufgestellte Kausalität, die geschichtliche Reihung, hier Adam, da Christus. Musste Gott
aber so handeln? Ist damit seine Freiheit gewahrt? Unterliegt Gott unseren logischen
Deduktionen? Das ist zumindest fraglich, denn auch eine unterstellte Heilslogik ist
zumindest erst einmal nicht mehr als ein logisches Konstrukt! Erfasst unsere Logik die
Logik Gottes, gibt es eine für uns Menschen nachvollziehbare Logik im Handeln Gottes?
Ist es nicht vielmehr die unlogische, bedingungslos zugesagte Gnade Gottes? Wird nicht
durch die Erbsünde, die eine Erlösung erforderlich macht, die Alterität Gottes massiv in
Frage gestellt?

Fernerhin glaube ich, dass der Mensch, weil er erlösungswürdig ist, in sich ein Mehr des
Guten und ein Weniger des Böse verwirklicht. Das ist wie folgt zu begründen: eine
pessimistische Sicht des Menschen reduziert auch die innerweltlichen Möglichkeiten des
Gut-Seins des Menschen als immer nicht genügend, da das Böse obsiegt. Die Sünde ist
zwar allgegenwärtig, aber auch die Caritas. Eine christliche Eschatologie ist ohne den
Sieg der Caritas über die Sünde nicht denkbar. Die Zukunft ist dann keine
Heilswirklichkeit des Guten mehr, sondern der dauernde Kampf zwischen dem Guten
und dem Bösen. Wenn ich aber denn annehme, dass das Gute gewinnt und über das Böse
siegt, dann muss es in der Dynamik des Zukünftigen, in seinem eschatologischen Bezug

70
liegen, dass das Gute höherwertiger und beständiger sein muss als das Böse. Gerade diese
Grundsituation des Menschen, eingespannt zwischen Sünde und Caritas, beschreibt
meines Erachtens nach die Erbsünde. Nicht nur gut, aber auch nicht nur böse, aber in
seiner Freiheit bedürftig der Erlösung. Das Paradies ist hierbei als ein aetiologischer
Mythos zu denken, dem aber keine Realität zukommt. Wohl aber ist die Geschöpflichkeit
und damit die Freiheit als das den Menschen Konstitutive in seinem Gott/Welt/Verhältnis
im aetiologischen Mythos des Paradieses zu verorten. In der Mitte der Hl. Schrift steht
aber nicht die Sünde Adams, sondern die Heilstat Jesu. 140

Nach diesen Überlegungen wird aber die Eingangsfrage nochmals zu stellen sein: ist die
Erbsündenlehre einzeln als Solitär und damit losgelöst von anderen theologischen
Disziplinen zu behandeln? Ich meine nein. Denn sie führt zu Aporien. Sie bedient eine
anthropologischen Pessimismus. Sie bonisiert das Böse auf der einen Seite und auf der
anderen lastet sie das Böse dem Menschen an. Im Rahmen einer Vergeltungslogik wird
eine Soteriologie betrieben. Das so gedachte Gottesbild bedient einen Schuldnerbegriff.
Gott handelt dann immer in einer logischen Kausalität, die aber immer anthropomorph
und unserem Kausalitätsbedürfnis entsprechend ausgesagt ist.

Aber dennoch ist festzuhalten, dass die Erbsündenlehre in ihrem Kern Entscheidendes,
Richtiges über das Wesen des Menschen aussagt nur die Ausformung augustinischer
Prägung zeigt Implikationen, die höchst fragwürdig sind, nämlich
• eine zutiefst pessimistische Anthropologie
• der Sündenfall als Strafe Gottes
• eine Bonisierung des Bösen als dem Nicht-Sein- Sollenden, das Böse wird
durch die Sünde dem Menschen zugesprochen
• die Sünde wird hierdurch moralisiert
• Gott wird im Rahmen einer Privationstheorie vom Bösen freigesprochen
• Gott ist das summum ens im Rahmen der Substanzmetaphysik
• die Heilstat Jesu wird funktionalisiert, da Gott vorher gestraft hat, gilt es
wiedergutzumachen (Satisfaktion)

Deswegen bedarf es dringend einer tragfähigen theologischen Anthropologie, die sich


diskursiv den Humanwissenschaften stellt, die sich von manichäistischen, dualistischen
Resten verabschiedet. Es bedarf auch einer Schöpfungstheologie, die sich nicht gegen die
Naturwissenschaften stellt. Nur so sind die oben aufgeführten und dargestellten Probleme
der Erbsündenlehre augustinischer Prägung auszuräumen und ihre dogmatische Essenz
kann vermittelt und ausgesagt werden. Hierbei darf die Erbsündenlehre nicht gegen die
Gnadentheologie gestellt werden, denn es kann keine Konkurrenz der beiden um das Heil
des Menschen geben nach dem Motto: je erbsündiger desto gnadenreicher. Nur in dem
Fall einer gleichzeitigen Gesamtsicht von Erbsünden- und Gnadentheologie lässt sich
auch eine stabile theologische Anthropologie buchstabieren. Und es ist die Frage zu
stellen, ob die Gnadentheologie nicht doch auch so gedacht werden kann, dass die
Erfahrung von Vergebung und Umkehr inmitten des Schrecklichen dieser Welt die

140 Robert Haag, Der Urzustand nach dem Zeugnis der Bibel, 400

71
eigentliche Essenz der Ursünde ist. Dann wäre die Ursünde die Metapher für eine
Anthropologie der Umkehr.141 Dann wäre Umkehr, das metanoiete, das Kommen des
Reichs Gottes das Ziel, dann wäre die Gnade der Vergebung hochwertiger, das Vergeben
würde über der Strafe für den Ungehorsam stehen.

Diese so gedachte und ausformulierte Anthropologie der Umkehr ist aber schlechthin die
Voraussetzung für ein wie immer geartetes christliches Leben. Nur eine solche
Anthropologie, die sich auch den Anforderungen der Human- und Sozialwissenschaft
stellt und diese bereichern kann, macht das theologische Argument des Kommen des
Reiches Gottes plausibel und tragfähig. Leider bleiben aber noch immer augustinisch
gefärbte anthropologische Negativitäten im Kontext einer theologischen Anthropologie
haften, denn einen Kirchenvater zu entthronen, dies ist ein Sakrileg.

Insgesamt leidet die Theologie daran, dass sie von Gott her die Welt und den Menschen
denkt, wie speziell die Tradition nach Thomas von Aquin zeigt. Zu Beginn der Summa
Theologica bemerkte er: „In der heiligen Lehre wird alles unter Bezug auf Gott
abgehandelt: entweder, weil es sich um Gott selbst handelt, oder weil es einen Bezug zu
Gott als Ursprung oder Ziel hat. Das heißt also, dass Gott der Gegenstand dieser
Wissenschaft ist.“142

Dabei unterlässt sie es, beides Gott und Welt so zusammenzudenken, dass im Kontext
eines Gott/Welt-Verhältnisses vermittelbar sich zeigt, dass und wie beide miteinander in
einer Liebesbeziehung stehen, die sich in Gottes Selbstmitteilung kenotisch inkarniert
hat. Diese Beziehung ist nur im Sinne einer relationalen Ontologie zu denken.
Schlussendlich muss die Theologie begreifen und der Tatsache ins Auge schauen, dass
die Kritik der Metaphysik kein Zurück hinter diese Kritik mehr erlaubt. Dies aber kann
sie als eine Aufforderung und Chance zu einem dauerhaft gelingenden Dialog sehen.

141 Alison
142 Beinert, Wolfgang , Wenn Gott zu Wort kommt, Herder 1976 S. 19

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