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(c) Stefan Thiesen, 21. Oktober 2004, thiesen@uni-muenster.

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Politik und Wirklichkeit

Der verrückte Kapitän

So abgedroschen und durchgekaut das Titanic Beispiel auch ist, so passend ist es doch nur allzu
häufig hinsichtlich des Handelns der hohen und weniger hohen Politik - und das durch den größten
Teil der bekannten Geschichte hindurch. Stellen Sie sich vor, der Kapitän der Titanic wäre über die
leidlich bekannten Tatsachen hinaus rechtzeitig über den Eisberg informiert gewesen. Malen wir
uns eine Titanic des einundzwanzigsten Jahrhunderts aus, eine Titanic ausgerüstet mit modernsten
Kommunikations- und Radarsystemen, - eine Titanic, die ständig die Meldungen der Eiswacht
empfängt und deren Brückenoffizier in jedem Augenblick in Echtzeit die Bilder von Wettersatteliten
vor Augen hat. Und da ist er, der Eisberg, klar zu sehen auf den Monitoren. Und die Eiswacht warnt
eindringlich: Kurs ändern. Sofort. Ansonsten kommt es zur totalen Katastrophe. Der
Brückenoffizier informiert den Kapitän, der aber ist besorgt über den richtigen Glanz seiner Schuhe
zum Kapitänsdinner. Er muß sich auch um das Orchester kümmern, und darum, daß der Ballsaal
korrekt geschmückt ist. Vor allem die wichtigen Leute an seinem Tisch dürfen nicht mit solchen
Nebensächlichkeiten wie dem möglichen Untergang des Schiffes belästigt werden. Der Kapitän
sagt: weiter beobachten. Eine Kursänderung aber kommt nicht in Frage, weil die wichtigen
Passagiere wichtige Geschäfte zu erledigen haben…

Eine gute Staatsführung ist unsichtbar...

Wenn man den alten Chinesen Glauben schenken darf, und ich denke man darf, dann ist eine gute
Staatsführung unsichtbar, unbemerkbar. Gleichgewicht ist das wichtigste Stichwort taoistisch-
konfuzianischer Politikideale – Gleichgewicht und Orientierung an der Realität. Nun lieferte Philip
K. Dick eine interessante Definition der Wirklichkeit: "Wirklichkeit ist das, was nicht verschwindet,
wenn man aufhört daran zu glauben." Ich selber sage gerne, der Natur (oder dem Universum) sind
unsere Ansichten, Meinungen, Theorien und Hypothesen herzlich egal. Politik und Wirtschaft der
Zukunft werden allerdings nicht umhin kommen, sich mit den Realitäten der sie umgebenden Welt
auseinanderzusetzen – etwas, das sie schlichtweg nicht tun und möglicherweise sogar noch nie
konsequent getan haben.

Dieselben Formeln
Die Politik der Vergangenheit war von religiöser und ideologischer Verblendung geprägt, und die
Führer der Wirtschaft träumen seit Jahrtausenden von einem Weg, die Vermehrung von Macht und
Reichtum von den Beschränkungen der realen Welt loszulösen. Politik und Wirtschaft der
Gegenwart sind in keiner Weise anders. Immer wieder werden gebetsmühlenartig dieselben
Formeln rezitiert. Es gibt scheinbar kein anderes Thema in der Politik als Wirtschaftswachstum und
Arbeitsplätze (zwischenzeitlich folgt vielleicht einmal die Politik dem populistischen Druck des
Bild lesenden Mops und erlässt z.B. ein Hundegesetz, in dessen Rahmen mit unheilvoller

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Signalwirkung gleich wesentliche Grundrechte wie die Unverletzlichkeit der Wohnung mit
aufgehoben werden – aber das ist eine andere Geschichte). Und man hört von keinem anderen
Ansatz zur Lösung des Problems der Arbeitslosigkeit als eben dem, das Wachstum der Wirtschaft zu
fördern.
Dem sprechen allerlei Fakten entgegen, die praktisch überall auf der Welt geflissentlich ignoriert
werden. Zum einen gibt es nachweislich nur einen sehr vagen und indirekten Zusammenhang
zwischen Wirtschaftswachstum und Anzahl der Arbeitsplätze. Zum anderen ist es auf lange Sicht
vollkommen unmöglich, dass die Wirtschaft immer weiter wächst – einmal ganz abgesehen davon,
dass man sich fragen muss, weshalb dies überhaupt nötig sein sollte. Dass man in einer halbwegs
aufgeklärten und gebildeten Zeit überhaupt erklären muss, weshalb irgend etwas in einer begrenzten
Welt nicht ewig und zudem auch noch exponentiell sich ständig selbst verstärkend weiter wachsen
kann, ist bereits sehr bedenklich.
Eine der guten Nachrichten der letzten Jahre war die Feststellung, dass das Bevölkerungswachstum
der Menschheit sich reduziert hat. Für die Wachstumsphantasten ist das natürlich keineswegs eine
gute Nachricht, denn ein quantitatives Wachstum der Wirtschaft ist auf Dauer letztlich natürlich nur
dann möglich, wenn die Zahl der Konsumenten ebenfalls immer weiter wächst. Spätestens an dieser
Stelle sollte auch dem Einfältigsten einleuchten, weshalb derlei vollkommen absurd ist!
Auch in anderen Bereichen wird an solchem Unfug notorisch festgehalten. Die Diskussion um die
Altersversorgung in den Ländern mit stabiler oder stagnierender Bevölkerung ist ein Beispiel. In
Deutschland etwa wird aus allen politischen Ecken argumentiert, man brauche mehr
Bevölkerungswachstum, um die Renten finanzieren zu können. Zu diesem Zweck werden
wirtschaftliche und rechtliche Anreize geschaffen, damit die Menschen sich für mehr Kinder
entscheiden. Zugleich versucht man, die Zahl der arbeitenden Bevölkerung durch eine gezielte
Einwanderungspolitik zu erhöhen. Nun sind aber Deutschland und die meisten anderen Länder mit
ähnlichen Problemen bereits jetzt nicht unbedingt unterbevölkert.

Zwölf Milliarden Deutsche


Wenn wir für das Funktionieren der Altersversorgung, der Wirtschaft, ja der Gesellschaft, ein
kontinuierliches Wachstum benötigen: Wie weit soll denn dieses Wachstum gehen? Und wie viel
Bevölkerungswachstum benötigen wir? Ist ein Prozent genug? Denken wir doch zur Abwechslung
einmal ein klein wenig in historischen Dimensionen – ein in politischen Kreisen mit der Ausnahme
ideologischer Phantastereien weitestgehend unbekanntes Unterfangen. Bei einem
Bevölkerungswachstum von nur einem Prozent hätte Deutschland in nur 200 Jahren eine
Bevölkerung zu beherbergen, die größer ist, als im Jahr 2000 die von Russland und den Vereinigten
Staaten zusammen. Selbst bei der durchschnittlichen Wachstumsrate der neunziger Jahre des
zwanzigsten Jahrhunderts – sie lag bei rund 0,5% - stiege die Bevölkerung Deutschlands in 200
Jahren noch immer auf weit über zweihundert Millionen Menschen, und in tausend Jahren gar 12
Milliarden. Ein wahrhaft infernalisches Gedränge!
Wer mag, der kann diese Zahlen gerne mit der einfachen Zinseszins Formel nachrechnen, die jeder
spätestens im neunten Schuljahr lernen sollte.
Die Bilder, die mir in den Sinn kommen, wenn ich mir das zukünftige Leben in einer solchen
schönen Wachstumswelt vorstellen soll, sind etwas anders, als die naiven Traumvisionen vieler
zukunftsgläubiger Technokraten. Ich sehe nicht das von vollautomatischen Robotern verwaltete
Superhaus, in dem jeder von uns glücklich und mühelos lebt. Ich sehe nicht, dass unsere
Nachkommen jederzeit mit ihren Familien in einem umweltfreundlichen Fahr- oder Flugzeug zu
den Traumzielen ihrer Wahl transportiert werden. Abgesehen davon, dass, zu Ende gedacht, auch
solche Vorstellungen für eine Welt mit einer Bevölkerung jenseits der zehn Milliarden Marke etwas
höchst Beklemmendes an sich haben, schweben mir eher die apokalyptischen Visionen eines

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Hieronymus Bosch vor Augen.
Doch das relative Bevölkerungswachstum der Erde hat sich ja verlangsamt. Allerdings bedeutet
reduziertes Bevölkerungswachstum noch lange keine Entwarnung, denn die Bevölkerung wächst
nach wie vor, und gerade bei so gewaltigen Anfangszahlen ist auch ein scheinbar geringes
prozentuales Wachstum mehr als bedenklich. Selbst bei nur einem Prozent wären es noch immer ca.
16 Milliarden Menschen im Jahre 2100 – eine Zahl, die weit jenseits der langfristigen Tragfähigkeit
der Erde liegt, die tatsächlich längst überschritten ist. Und bereits für 2025 wird eine
Weltbevölkerung jenseits der acht Milliarden Marke erwartet. Es gibt seriöse Schätzungen, nach
denen beim Lebensstil des westlichen Massenkonsums die Erde lediglich eine Bevölkerung in der
Größenordnung von zwei bis fünfhundert Millionen tragen kann – eine Bevölkerungszahl in der
Größenordnung der Bevölkerung der USA oder der Europäischen Union.

Politische Illusionen
Der Präsidentschaftswahlkampf in den USA zeigt allerdings mehr als deutlich, worum es in der
Politik wirklich geht: ums Verkaufen. Die Kandidaten werden mit den Mitteln modernsten
Marketings beworben, wobei die ihnen angedichteten Eigenschaften in etwa so zutreffend sind, wie
die Vermutung, ein gewöhnliches Familienauto könne lässig über das Wasser sausen, nur weil dies
in der Fernsehwerbung zu sehen ist. Es geht nicht um Realitäten, sondern um die Vermittlung von
Illusionen. Dabei scheint es auch, dass in unseren Demokratien die Realität niemanden wirklich so
recht interessiert – jedenfalls lassen sich mit dem ehrlichen Streben nach Realität und Wahrheit
offenbar keine Mehrheiten gewinnen.
Zu den längst bekannten aber höchst unbeliebten und in der tatsächlichen Politik kaum beachteten
Realitäten gehört eben auch, dass Wirtschaftswachstum sich nur in sehr unzuverlässiger Weise als
irgendwie gearteter Vorteil für den Durchschnittsbürger niederschlägt. Ich sage hier bewusst
"irgendwie", denn die amerikanische "trickle down" Theorie geht eben davon aus, dass der
Reichtum der Superreichen und Megakonzerne "irgendwie" bis auf die untersten Ebenen hinunter
tröpfelt, wie das Wasser in einer Tropfsteinhöhle. Selbst wenn dies so wäre, so ist es auf den
untersten Ebenen der Höhle noch immer dunkel, feucht und kalt...
Wali Osman, Professor für Ökonomie mit Spitznamen "Greenspan des Pazifik" und ehemals
Direktor der volkswirtschaftlichen Forschungsabteilung der Bank von Hawaii, analysierte den
Zustand der US-Wirtschaft bereits Anfang der 90-er treffend. Demnach – wen sollte das wundern –
wurden seit den Siebzigern in den USA die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer.
Trotz Wirtschaftswachstum sanken in dieser Zeit die realen Einkommen der unteren und mittleren
Einkommensklassen. Osman sagte schon Mitte der Neunziger zu mir: "Auf Dauer funktioniert es
nicht – kann es nicht funktionieren."

Der eiserne Würgegriff


Es gibt nichts umzuverteilen sagen die, die von der Situation profitieren und alles daran setzen, den
Boden unter ihren Füßen so zu versiegeln, dass ja nichts nach unten hindurch sickert. Dabei hat
etwa Bernhard Lietaer, der unter anderem den Euro mit entwickelte, nachgewiesen, dass unser
gesamtes Kredit- und Geldsystem ständig Reichtum von Unten nach Oben umverteilt. Das ist auch
leicht nachzuvollziehen. Die, die haben, verleihen ihr Geld gegen Zinsen an die, die nichts haben.
Zinsen mit Zinseszinsen aber sind nichts anderes, als eine ständig andauernde Umverteilung des
Reichtums von denen die Nichts haben zu denen, die haben – eine Situation, vor der Dichter und
Denker aller Epochen immer wieder eindringlich gewarnt haben. Das irgendwie im Laufe des
neunzehnten Jahrhunderts sang und klanglos vergessene katholische Dogma des Zinsverbotes etwa
hatte durchaus seine Begründung. Zinseszinsen produzieren sowohl Macht als auch Reichtum

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absolut aus dem Nichts heraus. Zinseszinsen sind nicht nur Zinsen auf Kapital, sondern obendrein
eine Verpflichtung auf etwas, das aus sich selbst entstanden ist. Sehr reale Macht eines vollkommen
virtuellen Konzeptes – eines Konzeptes, das die gesamte Welt in einem eisernen Würgegriff
gefangen hält und zu einer ewigen Wachstumsspirale zwingt.

Beispiel Peak Oil


Nun mag die Ursache des Wachstumszwangs unserer Wirtschaftsordnung eine virtuelle sein, aber
das Wachstum selbst ist letztendlich real. Jede Art von Wirtschaftswachstum – auch im
Dienstleistungsbereich und im "Cyberspace" – ist letztendlich mit einem Mehrverbrauch an Energie
und Rohstoffen verbunden und somit prinzipiell begrenzt. Dabei ist es vollkommen gleichgültig,
wie sehr Produktivität, Energieeffizienz und Recyclingrate der Rohstoffe verbessert werden: diese
können aus physikalischen Gründen niemals auch nur nennenswert an 100% heranreichen, während
die Wachstumsforderung der kreditfinanzierten Weltwirtschaft letztendlich rein mathematischer
Natur und damit unendlich ist. Das bedeutet aber, dass jedes politische Streben nach immer
weiterem Wachstum eine gefährliche Selbstlüge ist – sie wäre es sogar dann, wenn dadurch der
allgemeinen Bevölkerung tatsächlich Vorteile zuwachsen würden.
Ein Beispiel für die begrenzten Rohstoffe sind die Ölreserven. Öl ist in unserer Wirtschaft wie sie
ist, einfach unverzichtbar, und es gibt realistischer Weise keinen nennenswerten Ersatz für die
unvorstellbaren Energiemengen, die der Energieträger Erdöl bereitstellt. Dasselbe gilt für Öl als
Rohstoff für die Agrarindustrie (Düngemittel) und die chemische und pharmazeutische Industrie.
Nachwachsende Quellen sowie erneuerbare Energien können nur einen winzigen Bruchteil dieser
Märkte bedienen.
Tatsächlich geht das Öl zur Neige. Das ist keinerlei Spinnerei oder Weltuntergangsprophezeiung
grüner Aktivisten, sondern beispielsweise eine Einschätzung des renommierten industrienahen
Institutes für Erdölstudien in Paris (Institut Français du Pétrole). Das Stichwort hierzu heißt "Peak
Oil." Gemeint damit ist der Punkt, an dem die Welt-Erdölproduktion ihr Maximum erreicht und
anschließend nur noch absinkt. Nach der Einschätzung eines ganzen Heeres von Ölexperten ist
dieser Punkt irgendwann zwischen dem Jahr 2005 und 2010 erreicht. In vielen Ölländern, etwa
Norwegen und den USA, ist er schon lange überschritten. Die USA saugen derzeit gerade noch mit
Mühe die letzten Tropfen aus den staubigen Böden der Südstaaten.
Bemerkenswert daran ist, dass die am leichtesten zugänglichen Reserven natürlich zuerst
erschlossen wurden, und mit zunehmender Ausbeutung wird der Zugang zu den verbleibenden
Ölvorkommen immer schwieriger, technisch aufwendiger, teurer und vor allem
energieaufwendiger! Der letzte Punkt ist hier besonders bedeutend, denn der erfundenen Welt der
Wirtschaft steht die reale physikalische Welt gegenüber bzw. sie ist vielmehr in diese vollkommen
unbestechliche Welt der Physik und Naturgesetze eingebettet. An irgend einem Punkt, lange bevor
die tatsächlichen Ölreserven erschöpft sind, hilft auch noch so viel Geld nicht mehr, denn der
Energieaufwand der Ölproduktion ist je Fass an dieser Stelle größer, als die Energie, die dieses Fass
Öl enthält. Und was man braucht ist nicht das Öl an sich, sondern was man braucht ist Energie.
Spätestens wenn Kapital nicht mehr umhin kommt, sich mit Thermodynamik zu messen, wird
deutlich werden, wie illusionär unsere globalisierte Welt geworden ist.

Einstein, Orwell, Huxley und Goethe


Im physikalischen Institut in Münster hing einmal ein Poster mit folgendem Spruch: "E=mc^2 – It's
not just a good idea – it's the law!" Politik und Wirtschaft täten gut daran, die Naturwissenschaften
nicht nur als geistige Sklaven und Ideenlieferanten für Unternehmen anzusehen, als bloße
Denkfabriken zum Ersinnen immer neuer Produkte für die Befriedigung immer neuer künstlich

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geschaffener Bedürfnisse und Märkte. Auch sind sie nicht irgend eine Randerscheinung unserer
Gesellschaft, sondern vielmehr eine der Säulen, auf denen sie ruht. Nur hier, und nicht in Ideologien
und künstlichen Glaubenssystemen – auch der blinde Glaube an Geld und ewiges Wachstum gehört
dazu – lassen sich vielleicht Lösungen für die Zukunft finden. Diese Zukunft ist global, und sie lässt
sich nur durch Toleranz und intensivste Kooperation gewinnen. Konkurrenzdenken führt an dieser
Stelle der Geschichte nur zu Gewalt und Konflikt, und das mittelfristig womöglich in einem
Ausmaß, das es bisher noch nicht gegeben hat.
Derzeit allerdings riecht und schmeckt unsere Zukunft nach den Szenarien eines George Orwell und
eines Aldous Huxley. In den USA können Eltern wegen Kindesmisshandlung verklagt werden,
wenn sie ihnen Psychodrogen verweigern. Und die dort von Präsident Bush weitgehend unbemerkt
just geschaffene "Freiheitskommission für Geistige Gesundheit" (Freedom Commission for Mental
Health) will durchsetzen, dass alle US-Bürger sich regelmäßig psychiatrischen Untersuchungen
unterziehen müssen, um abnormales Verhalten durch Gabe von Medikamenten korrigieren zu
können. Natürlich definiert der Staat, was abnormes Verhalten ist. Auch hat der Präsident der USA
jüngst kurzerhand vorgeschlagen, des Terrors verdächtigte Menschen auch dann zu lebenslanger
Haft zu verdammen, wenn "...die vorliegenden Beweise nicht zur Eröffnung eines ordentlichen
Gerichtsverfahrens ausreichen" (zitiert aus der Wochenzeitung 'Baltimore Chronicle').
Was sich derzeit auf der Welt entwickelt, hat den schalen Beigeschmack totalitärer Kontrolle
jedes Lebensaspektes. Die vorgeschobenen Begründungen sind praktisch überall Arbeitsplätze,
Wirtschaftswachstum, Terrorismus und Gesundheit, gewürzt mit einer Prise Religion. Es scheint,
als hätte die Welt auch 200 Jahre nach Kant und trotz Atombomben, zahlloser Katastrophen und
zweier Weltkriege, absolut nichts dazu gelernt – mit der Ausnahme eines Haufens technischer
Tricks.
Auch Goethe hat das Wesen der Wirtschaft klar erkannt. Im Faust war es Mephisto, der das
Papiergeld erfunden hat, und er lässt diesen im zweiten Teil an Faust gewandt sagen:
"(...) Nur mit zwei Schiffen ging es fort
Mit zwanzig sind wir nun im Port
Was große Dinge wir getan,
Das sieht man unserer Ladung an.
Das freie Meer befreit den Geist,
Wer weiß, was da besinnen heißt!
Da fördert nur ein rascher Griff,
Man fängt den Fisch, man fängt ein Schiff,
Und ist man erst der Herr zu drei,
Dann hakelt man das vierte bei;
Da geht es dann dem fünften schlecht,
Man hat Gewalt, so hat man Recht.
Man fragt ums Was und nicht ums Wie.
Ich müsste keine Schiffahrt kennen:
Krieg, Handel und Piraterie,
Dreieinig sind sie, nicht zu trennen."

Enorme Gewinnspannen
Die modernen Nachfolger Mephistos sind keine Personen mehr, sondern seltsame Strukturen,
genannt Banken. Diese Banken haben das Geld selbst zur Ware erhoben und machen unvorstellbare
Gewinne. Dabei ist den meisten Menschen in keiner Weise bewußt, welche enormen
Gewinnspannen wir diesen im großen und ganzen vollständig unnützen Organisationen selbst für
simpelste Transaktionen und Vermittlungen zugestehen. Ich habe den Test des öfteren gemacht und
Leute unterschiedlichsten Bildungsstandes gefragt: "Wenn Sie einer Bank Geld in Form eines mit

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2% verzinsten Sparguthabens leihen, und diese verleiht es für 10% in Form eines
Konsumentenkredites weiter - wieviel Prozent Gewinn macht die Bank?" Nun ist das
allereinfachste Schulmathematik, und die Antwort lautet fast immer: 8%. Diese Antwort ist ebenso
rührend wie falsch. Tatsächlich sind es natürlich 400%!

Es geht um Nichts
Wieso fragt sich niemand, weshalb unsere Gesellschaft den Banken für eine Tätigkeit, die
haarscharf am Nichtstun vorbei geht, solche phänomenalen Einkünfte zugesteht? Und wieso
bemerkt es scheinbar niemand? Derlei ist eine systematische Vernichtung von Reichtum, die wir
uns auf Dauer wirklich nicht leisten können. Wir bezahlen im wesentlichen für Nichts. Bereits 1998
stand dem tatsächlichen täglichen Welthandel von rund $ 80 Milliarden ein Handel mit rein
virtuellen Devisenspekulationen in Höhe von etwa zwei Billionen Dollar gegenüber. Täglich. Und
wir haben die Macht über unsere Welt und Zukunft auf Gedeih und Verderb Menschen und
Organisationen übergeben, die sich im Grunde genommen ebenfalls weitgehend mit Nichts
beschäftigen. Wir müssen aufpassen, dass uns dieses Nichts nicht mit Haut und Haaren verschlingt.
Es ist bereits jetzt längst zum Selbstzweck geworden, der jedes Handeln auf dieser Welt vollständig
dominiert.
© Dr. Stefan Thiesen

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