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Unterwegs – Mit dem Dampfzug auf der Eifelbahn

Die langgezogenen Pfiffe, der schwarzen Loks mit den riesigen roten Rädern,
die im engen Tal vielmals widerhallten, hatten schon als kleines Kind meine Aufmerk-
samkeit erregt. Wenn sie den Kyllburger Tunnel in Richtung Erdorf verließen und
unterhalb des „Hahns“, mit wehender weißer Mähne, dem Wilsecker Tunnel
zustrebten, oder aus Trier kommend, vor dem Einfahrsignal stehen blieben und
lautstark, mit abblasenden Sicherheitsventilen, vom Fahrdienstleiter ihr Recht auf
Einfahrt in den Bahnhof Kyllburg forderten, konnte alle Arbeit, alles Spielen, warten.
Dann gehörte ich ihnen und war ihnen schutzlos ausgeliefert.
Freilich verstand ich damals noch nichts von solchen Dingen. Für mich stand
fest, dass die Dampfloks mir zuriefen: „He du! Schau mal her zu mir rüber! Sehe ich
nicht wunderschön aus?!“ Das alles konnte man auf unserer kleinen Bergwiese, im
Flur „Hinter Kyllburg“ erleben, wenn die Eltern dort für Karnickel und Ziegen Gras
mähten, Heu machen, oder im Spätsommer Äpfel und Birnen pflückten. Bei der
anschließenden Fahrt heim, auf dem Leiterwagen, nach Malberg war ich dann stets
der Lokführer und das Rattern der Räder auf dem Kopfsteinpflaster im Dorf erinnerte
ein wenig an das Auspuffknallen der Dampfmaschinen auf Rädern. Auf halber Stecke
wurde oft in der Schenke Thul „Wasser“ gefasst; bevor es dann mit frisch gestärkten
„Loks“ vorbei an der Bruchsteinmauer, mit ihren vielen kleinen Treppchen zum
Neidenbach runter und über die Bogenbrücke durch den „Julenecken“ zur
Hauptstraße und endlich nach Hause ging.

Ich mochte so um vier Jahre alt gewesen sein. An diesem kalten, nebligen
Novembermorgen weckte mich meine Mutter in aller Herrgottsfrüh und sagte, dass
ich mich anziehen soll, weil wir heute nach Trier fahren würden. Für ihre Eile hatte
ich so gar kein Verständnis. Schließlich war ich immerhin schon mal in Kyllburg
gewesen und das war ja zu jener Zeit, als man sich die Autos im Dorf noch an einer
Hand abzählen konnte, doch eine kleine Weltreise. Das Anziehen gestaltete sich
dann wohl etwas schwierig und auch langwierig. Anders kann ich mir nicht erklären,
dass ich kurzerhand beim Schopf gepackt und angekleidet wurde. Die feinen Sachen
gefielen mir gar nicht. Darin durfte man nicht spielen und außerdem war heute kein
Sonn- oder Feiertag, an dem man sich in so etwas einzwängen musste und den
ganzen Tag in diesem unbequemen Zeug ausharren. An gewöhnlichen
Wochentagen, und ein solcher war heute, trug man „in meinen Kreisen“ eine
Texashose; heute würde man Jeans dazu sagen! Auch Mama hatte die
obligatorische Kittelschürze abgelegt und sich in ihren Sonntagsstaat, ein rotes
Kostüm –so etwas trug man damals- geworfen und machte sich fein.
Schließlich war es doch geschafft, nur die Schnürsenkel der schwarzen
Lackschuhe (damals sehr modern) bereiteten mir letzte Probleme. Das Binden
derselben hatte ich mir von den Erwachsenen abgeschaut. Nur leider waren die alle
Rechtshänder und ich bin Linkshänder und da ist halt nun mal alles seitenverkehrt.
So blieb es nicht aus, dass meine Schleifen zu Knoten wurden, die sich dank meiner
damals schon recht beachtlichen Kraft, nur sehr schwer lösen ließen.
In der Dämmerung ging es über den „Messenweg“ nach Kyllburg. Es herrschte
ein, für die damalige Zeit, reger Autoverkehr und wir mussten uns hinter den weißen
Randsteinen mit den schwarzen Streifen am Abhang zur Kyll durchzwängen, um
nicht überfahren zu werden. An den vielen Wallnussbäumen, welche die Straße
talseitig säumten, blieben wir des öfteren stehen. Ihre Stämme waren so dick, dass
wir auf die Fahrbahn mussten um sie zu umgehen. Rechts führte kein Weg vorbei;
steil fällt das Gelände zum Fluß ab, ein schmaler Uferstreifen bildet die Grenze zum

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Wasser. Kurz vor Kyllburg geht die Straße bergan. Mitten im Ort, auf schmalem
Grad, dem „Hiewel“, verläuft sie dann mit gleichgroßem Gefälle, schräg zum
Berghang, der „Korbescht“, dem Tal zu.
Wie froh war ich als es wieder bergab ging, schließlich musste ich zwei Schritte
tun, wenn meine Mutter einen machte und der Arm, an dem sie mich hinter sich
herschleppte, war schon ganz taub. Nun konnte es bis Trier ja nicht mehr weit sein.
Zur linken zeigt sich das Portal des Kyllburger Tunnels, mit seinen zinnenbewehrten
Türmchen, dahinter der senkrecht aufstrebende blanke Fels; hier und da mit
Bruchsteinen (Hammerrechte) ausgemauert. Und dann, wo der Berg ein wenig
zurück weicht, steht das Stellwerk Kf, davor die Spannwerke der Signale und
Weichen.
Aus den geöffneten Fenstern des oberen Geschosses, schauten zwei, mir
wohlbekannte, Gesichter zu uns herab und grüßten kopfnickend meine Mutter, die
mich immer noch, diesmal an der anderen Hand, da wir die Straßenseite gewechselt
hatten, hinter sich herzog, als sei das wilde Heer uns dicht auf den Fersen. Es waren
Rudi und Karl-Heinz aus der Nachbarschaft, damals beide um die 20 Jahre alt, die
dort ihre Arbeit verrichteten, und ganz offensichtlich an dem komischen Gespann,
das da an ihnen vorüberzog, ihre Freude hatten. Erst viele Jahre später lernte ich
ihre Arbeit kennen. Doch für lange Betrachtungen blieb keine Zeit. Es ging über den
Bahnübergang in Richtung Bahnhof. Je näher wir unserem Ziel kamen, um so mehr
beschleunigte meine Mutter ihr Tempo und ich hatte größte Mühe ihr mit meinen
kurzen Beinen zu folgen; nur nicht die Schuhe über den Boden schleifen lassen,
wenn da Striemen rein kamen, waren „Belobigungen“ in den nächsten Tagen und
Wochen sicher. So wurde ich schließlich in das Empfangsgebäude gezogen, und
gelangte an den Fahrkartenschalter, wo unsere Fahrt abrupt endete und meine
Mutter schön silbern glänzende Geldstücke gegen zwei braune Pappstreifen
eintauschte.
Dann ging es weiter, hinaus auf den Bahnsteig. Inzwischen war es hell geworden
und der Nebel wich langsam der Sonne, die sich nach vielen grauen, verregneten
Tagen, heute das erste Mal wieder sehen ließ. Ein Stück weiter zurück war der
Güterschuppen, lagen dort viele Gleise! Es herrschte emsiges Treiben. Lkw und
Waggon wurden ent- und beladen. Und war das nicht Papa, der schwere Kisten in
einen Wagen schob? Er arbeitete doch in der „Hütte“ in Malberg, und warum fuhr er
nicht mit uns, sondern schuftete dahinten zusammen mit den anderen Männern?
Dann stiegen sie in den Laster und fuhren auf dem Weg, der uns gegenüber lag,
heran. Als er uns erblickte, winkte er kurz zu mir herüber, und da waren sie auch
schon vorbei. Auf meine Fragen warum er denn nicht mit uns kommt, bekam ich
keine befriedigende Antwort und ich bemerkte, wie Mama, je mehr die Zeit verstrich,
immer nervöser wurde. Lange Zeit hatten wir so gestanden, zulange für ein kleines
Kind.
Der Bahnsteiglautsprecher krächzte einige unverständliche Worte und meine
Mutter begann unruhig um sich zu blicken, so als ob sie nicht wüsste, was als
nächstes geschehen würde. Mit ihrer Nervosität steckte sie die ganze Umgebung,
einschließlich mich an. Inzwischen betraten immer mehr Menschen den Bahnsteig.
Bim bim bim hörte man von fern und in dieser Richtung waren auch die Schranken-
bäume, die sich langsam zu Boden senkten und dann noch zwei dreimal fröhlich in
die Luft hopsten. Die Schienen vor uns begannen zu „singen“. War es vorher nur
eine Ahnung, so hörte ich nun deutlich von links einen lauten Pfiff und ein Stampfen
auf mich zukommen, das immer lauter wurde. Erst sah ich graue Wolken, hinterm
Berg, die im Rhythmus zum tsch tsch tsch zu Himmel stoben. So kam sie um die
Kurve, erst noch halb verdeckt durch die Bahnmeisterei, dann in ihrer ganzen Pracht:

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Groß, und schwarz, fettglänzend schob sie sich mit ihren zwei Meter hohen,
filigranen roten Speichenrädern an mir vorüber, eine bedrohliche Hitze überflog mein
Gesicht. Tak tak tak hämmerte die Luftpumpe und die Strahlpumpe förderte, mit
rauschendem Strahl Wasser in den Kessel. Unter ihrer Last knirschte das Gleis,
Stangen wirbelten und Bremsen quietschten. Nun griff ich Mamas Hand doch etwas
fester; sicher ist sicher! Aus der Ferne wirkten die Dampfloks nicht so riesig.
Der Geruch von heißem Öl und Schwefel verbreitete sich rasch, ein „Parfüm“,
dass mich noch heute magisch zu sich hin zieht. Der brodelnde Kessel spendete
wohlige Wärme in der nasskalten Novemberluft. Die mattgrünen Wagen waren
wesentlich uninteressanter für mich und doch wurde ich von der schaurigschönen
Szene weg gezogen und musste dort hinein und durfte nicht hoch oben in das
zischende Ungetüm. Mein Entschluss in den Wagen einzusteigen, wurde mir durch
den schwarz gekleideten Mann mit speckiger Mütze und dem rußigem Gesicht, der
zu mir herabblickte und mit seinen weißen Zähnen anlächelte, sehr leicht gemacht.
Das war bestimmt ein Verwandter des „Pelzenbocks“ (Belzebub), der mit dem
heiligen Sankt Nikolaus kam, wenn er es denn nicht gerade persönlich war.
Weniger befriedigte mich, dass meine Mutter durch den Zug immer weiter nach
hinten lief, obwohl die besten Plätze im ersten Wagen gleich hinter dem Tender fast
alle frei gewesen waren und ich sicher einen guten Blick auf die Lok gehabt hätte! Als
sie endlich eine Bank in einem der hinteren Wagen für gut befunden hatte, musste
ich dem Objekt meiner Begierde auch noch den Rücken zudrehen, da sie, wie sie
sagte nicht „rückwärts“ fahren könnte, weil ihr dann schlecht wird. Das Fenster, aus
dem ich hätte rausschauen können, durfte ich auch nicht öffnen.
Ich war noch ganz von den Eindrücken der letzten Minuten gefangen, da
überschlugen sich schon wieder die Ereignisse. Neben unserem Fenster ertönte eine
Trillerpfeife, - nicht so eine billige aus Plastik, wie meine, nein die hier war aus Metall
– und der Zugführer in blauer Uniform mit rotem Schultergürtel hob eine weiße
grüngeränderte Kelle in die Höhe. Die Lok antwortete mit einem langen hellen Pfiff.
Und schon setzten wir uns mit leichtem Rucken in Bewegung. Erst ging es ganz
langsam. Wuff.....wuff.....wuff bellte die Lok, während sie mit dem schweren Zug
kämpfte. Dann wurden die Schläge kürzer, leiser und schneller so wie unsere Fahrt.
Wieder ein Pfiff und schon umgab mich finstere Nacht. Noch bevor ich richtig begriff
was geschah, war es wieder taghell, auf der einen Seite ein Berg auf der anderen tief
unter uns ein Fluß, der uns in entgegengesetzter Richtung entgegen floß.
Meine Mutter interessierte das alles offensichtlich nicht. Sie untersuchte ihre
Nylonstrümpfe auf eventuelle Laufmaschen, die sie sich im Gestrüpp heute früh auf
dem Weg geholt haben könnte. Ein Ritual, das in der Regel nach jedem Sonntags-
spaziergang, der durch den Wald führte, stattfand. Der Schaffner kam, fragte nach
den Fahrkarten, und drückte eine Zange in die zuvor teuer erstandenen Pappstücke,
die ihm meine Mutter auch noch willig reichte und machte sie kaputt. Schon wieder
wurde es dunkel. „Der Wilsecker Tunnel!“, sagte meine Mutter, während sie
zusammen zuckte, ohne noch weiter etwas dazu auszuführen.
Während der ganzen Fahrt fiel mir auf, dass sie bei jeder Tunnelein- und
ausfahrt zusammen zuckte, und derer gab es reichlich auf unserer Reise. Dieser
Tunnel aber schien gar kein Ende nehmen zu wollen. Einen Tunnel hatte ich auch
auf meiner Spielzeugeisenbahn und damals fand ich es sehr schön, dass die
Bahnlinie extra so gebaut worden war, dass sie durch den Berg führen musste und
nicht drum rum. So fuhren wir noch eine ganze Weile durch Tunnel, Dörfer, am Fluß
entlang, der nun mit unserem Zug in die gleiche Richtung lief, über ungezählte
Brücken und in schmucke Bahnhöfe, die den Tunneln gleich, den ganzen Stolz ihrer
Erbauer, der Rheinischen Eisenbahngesellschaft, widerspiegelten. Mich

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beschäftigte vielmehr was vorne an der Zugspitze passierte, doch war mir ja der
Blick nach vorne verwehrt und so tauschte ich freiwillig meinen Platz mit dem Schoß
der Mama, als ein fremder Mann zustieg und sich setzen wollte; zumal sich der
Wagen immer mehr füllte, je öfter wir hielten. Früher mussten Kinder ihren Sitzplatz
halt noch räumen, wenn Erwachsene zustiegen. Nun war der Tausch aber nicht so
gut gewesen. Mein Hochsitz war im Gegensatz zu meinem vorherigen Platz hart und
ungefedert; vergleichbar mit den Sitzen der heutigen Regionalbahnen. Außerdem
war mir der Blick nach vorne weiter verwehrt, nur ab und zu flog eine Dampfwolke
vorbei und nur in scharfen Kurven konnte ich etwas schwarzes an der Spitze
erahnen. In Ehrang weitet sich das Tal zu einer breiten Ebene und nach wenigen
Kilometern überquerten wir die Mosel und liefen in den Trierer Hauptbahnhof ein.
Das war schon eine beeindruckende Stadt mit der Porta Nigra und dem Dom. Mich
zog es zur Lok, was mir durch eine unvermittelte Richtungsänderung, mit kurzem,
kräftigem Ziehen durch meine Mutter verwehrt wurde. Das war um so schlimmer, da
es auf den anderen Gleisen genau so zischte, fauchte, brodelte und dampfte.
Unsere Ziele lagen zu weit voneinander entfernt. Sie wollte Kaufhäuser
besuchen und für mich war die Fahrt und vor allem die Zugmaschinen weitaus
wichtiger, als in, mit Menschen vollgestopften Läden, Rolltreppe zu fahren.
Erschwerend kam hinzu, dass ich das, von mir auserkorene Blechspielzeug; eine
Kutsche, deren Pferde immerzu auf und ab sprangen, während sie über den
Verkaufstisch fuhr und dazu Hufgeklapper nachahmte, nicht haben durfte, dafür aber
ein, von meiner Muter ausgesuchtes, von dem ich heute nicht mehr weiß was es war
und welches zu Hause vermutlich ins Eck flog und nie wieder angeguckt wurde.
Tröstlich war einzig, dass die Chance bestand am Abend wieder mit dem Zug
zurück nach Hause zu fahren und das die Lok wieder auf mich wartete.
Es war schon stockdunkel, als wir wieder in Kyllburg ankamen. Von der
Rückfahrt weiß ich nicht mehr viel. Der Tag war zu anstrengend für einen kleinen
Menschen, wie mich, gewesen. Die Nacht wurde nur durch die erleuchteten
Bahnhöfe erhellt. In Kyllburg wartete mein Vater mit meinem älteren Bruder, der
schon zur Schule ging und deshalb nicht mitfahren durfte, im Bahnhof auf uns und
holten uns ab. Gemeinsam gingen wir heim. Der Tag sollte aber noch eine
Überraschung bringen. Zwischen den Wallnussbäumen, auf halben Weg nach
Malberg, tauchte plötzlich eine grau getigerte Katze auf, die vor uns herlief, auf die
Bäume sprang, uns passieren ließ und dann wieder vorbei huschte und den
nächsten Stamm erklomm. So lief sie mit bis zu unserem Haus, ließ sich mit einer
Schale Milch zum Bleiben bewegen und lebte viele Jahre bei uns. Onkel Hubert aus
Thüringen hatte mir zu Geburtstag ein Kinderbuch mit dem Titel „Kater Mohrle“
geschickt, und so erhielt sie diesen Namen von mir. Er hätte wohl besser zu einer
schwarzen Katze gepasst, aber der Unterschied war mir damals noch unbekannt.
Der Tag war nicht ganz so verlaufen, wie ich mir das vorgestellt hatte, doch die
Bilder des erlebten, tauchen auch heute noch immer wieder auf.

Das ganze Jahr über ging es zur Feldarbeit auf den Flur zwischen Malberg und
Mohrweiler. Da mussten auch wir Kinder schon nach Kräften mit anpacken. Das war
damals nichts außergewöhnliches und für uns gehörte das mit zum Leben. Doch
zwischendurch durften mein Bruder und ich uns auch mal eine längere Pause
gönnen, und während sich die Erwachsenen nach Butterbrot und Kaffee aus dem
Feldgeschirr am Ackerrand ausruhten, liefen wir für eine Stunde ein Stück in
Richtung Sankt Thomas zum „Hasenknopp“, wo man einen herrlichen Blick über das
tiefeingeschnittene Kylltal mit dem „strengen Hals“ und dem Dechentunnel hatte. Der
Berghang war vor vielen Jahren, so wie meist in Kyllburg, Malberg und St. Thomas,

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hopfenbestanden. Nun wuchsen hier in weiten Schonungen junge Fichten empor.
Andere Terrassengärten waren verwildert und mit Haselnuss- und Brombeerhecken
übersäht. Dort setzten wir uns auf die erste Bank, von der aus man auf Kyll,
Bahnlinie, Eisenbahnbrücke und Tunnel eine wundervolle Aussicht genoss, und
harrten oft lange bis sich der Flügel des Einfahrsignals vorm Tunnel hob und der
erste Dampfzug dahergeschnauft kam. Zu jener Zeit erkannte man noch gut das
Schotterbett des zweiten Gleises, dass nach dem verlorenen Krieg, auf Befehl der
französischen Besatzungsmacht, als Reparationsleistung abgebaut worden war. In
St. Thomas lag noch die zweite Stahlträgerkastenbrücke, die nun ohne Schienen
war, über die Kyll und das Schrankenwärterhäuschen stand direkt dahinter. Aus der
großen Höhe wirkte die Szene, wie eine perfekt gestaltete Modellbahnlandschaft,
deren Erbauer wirklich etwas von seinem Handwerk verstand.

Heute denke ich noch oft an die Geschichte, die Opa früher manchmal vom
Bahnbau erzählte, als die Trasse durch den Annenberg verlaufen und ein Bahnhof
„Kyllburg – Malberg“ im Wiesental entstehen sollte. Die Malberger Schöffen aber
wehrten sich, weil durch den Dampf der Loks der Hopfen einginge! Wahrheit? –
Dichtung? – Wer will es heute beweisen?
Ich erinnere mich auch noch gerne der Herbsttage, an denen man, von der
anderen Talseite hinterm Berg, die Loks pfeifen hörte, wenn sie, aus St. Thomas
kommend, in den Dechentunnel einfuhren. Dann wusste die Oma, dass nun große
Kälte kam, denn die Lok hörte man nur bei Ostwind pfeifen.
In Begleitung meines Bruders ging ich, wenn es Arbeit und Zeit erlaubten, zum
Kyllburger Bahnhof. Hier verbrachten wir oft ganze Tage bis zur Dämmerung. Dort
lernte ich die verschiedenen Baureihen zu unterscheiden. In den ersten Jahren liefen
noch Jünkerather 39er, die preußische P 10 vor einem D-Zug. Sie wurden bald durch
01vom Bw Ehrang; der großen deutschen Schnellzugdampflok schlechthin, ersetze,
die mit ihren fast 24 m Länge und einem Gewicht von 171 t bei zweidrittel vollen
Vorräten den Boden erzittern ließ. Vor Güterzügen liefen BR 50, manchmal eine
41er, die auch vor Personenzügen anzutreffen war. Seltener ließen sich die
mächtigen 44er mit ihrem Dreizylindertriebwerk zu sehen. Und dann war da noch die
preußische P 8, Baureihe 38, das „Mädchen für alles“; das Aschenputtel. Es gab
wohl keine Zuggattung vor der sie nicht anzureffen gewesen wäre. Was war damals
alles auf Schienen zu sehen. Wer nur das triste Bild des heutigen Fahrzeugparks
kennt, kann sich keine Vorstellung von der Vielfalt des Eisenbahnbetriebs in der
Vergangenheit machen.
Doch immer mehr Dieselloks machten sich im „Revier“ der geliebten Dampfer
breit. V 100 und 180 traten an ihre Stelle und bliesen ihre giftigen Abgase in die Luft.
In jener Zeit konnten sich meine Eltern nur alle drei Jahre einen Sommerurlaub, fern
ab von zu Hause erlauben. In den anderen Jahren wurden emsig auf dieses Ziel
gespart. Zwei Wochen dauerte diese schönste Zeit des Jahres und es wurde
natürlich mit der Bahn gefahren. Damals war es üblich mindestens eine halbe
Stunde vor Abfahrt des Zuges im Bahnhof zu sein, so als ob er jemals auch nur eine
Minute vor Plan gefahren wäre. Mit der 215 ging die Reise bis Trier, von dort mit ein
bisschen Glück dampfgeführt über die Moselbahn bis Koblenz. Die Fahrt verlief
weiter von einer E-Lok gezogen, über Mainz und Wiesbaden, in die Nähe von
Würzburg, wo in einem kleinem Städtchen eine Schwester meines Vaters einen
großen Bauernhof bewirtschaftet. Meine Mutter war während der ganzen Reise
vollkommen orientierungslos, und alleingelassen, wäre sie wohl noch heute auf der
Fahrt. Sie verließ sich in allem voll auf meinen Vater, der anders als sie, im Stande
war einen Fahrplan zu lesen und den richtigen Bahnsteig zu finden. Ich erinnere

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mich, dass sie die Namen der Orte, durch die der Zug fuhr, wieder und wieder von
den Bahnhofstafeln ablas und meinen Vater fragte ob der Zug denn auch in die
richtige Richtung fahre.
Nach wenigen Tagen Rast ging unsere Reise weiter in Richtung Saalfeld. Das
liegt in Thüringen. Zu jener Zeit gab es noch die DDR. So nannte sie damals aber
keiner. Man fuhr in die „Ostzone“. Gut in Erinnerung geblieben ist mir der Grenzbahn-
hof Probstzella. Hier musste alles aus dem Zug aussteigen und wurde durch die
Pass- und Zollkontrollen geschleust. Schäferhunde wurden unter den, nach Westen
fahrenden, Zügen durchgejagt, um eventuelle „Grenzverletzer“ aufzuspüren. Dann
durfte wieder in den Interzonenzug, oder „internationaler Reisezug“, wie er im DDR-
Jargon hieß, eingestiegen werden. Beim Einsteigen hatte sich dieser kostbare Duft in
den Wagen niedergelegt. Hier gab es sie wieder; diese Mischung aus Dampf, Kohle,
Schwefel und heißem Öl, die mich seit meiner ersten Zugfahrt nicht mehr loslässt.
Unser Zugpferd hatte gewechselt. Die E-Lok aus Bayern brachte den Gegenzug
zurück und wir wurde nun von einer 41er durch Loquitz- und Saaletal unserem Ziel
näher gebracht. In schneller Fahrt ging es nach Bad Blankenburg. Dort wohnte mein
Großvater in einem kleinen Häuschen oberhalb der Bahnlinie nach Arnstadt. Und
hier fuhren die Dampfloks noch täglich. Was sind wir Kinder gerannt, wenn eine im
Bahnhof abfuhr. Dann gab es kein Halten mehr. Ich denke der Rasen, auf dem
schmalen Pfad, der zu unserem Aussichtspunkt führt, hat in jener Zeit sehr gelitten.

1978 begannen meine Lehrjahre. An eine Arbeit bei der geliebten Eisenbahn
war in diesen Jahren nicht zu denken. Mein Vater war nur ein einfacher Arbeiter und
ohne die nötigen Kontakte ging gar nichts. Die Wirtschaftskrise warf ihre ersten
Schatten bereits voraus und so war man froh überhaupt eine Lehrstelle zu
bekommen. So begann ich eine Lehre als Maurer bei der Bitburger Brauerei.
Lehrjahre sind keine Herrenjahre! Dieser alte weise Spruch bewahrheitete sich im
vollem Umfang. War etwas in der Bauabteilung schiefgelaufen, war in der Regel der
„Stift“ daran schuld; selbst wenn er an jenem Tage gar nicht im Betrieb gewesen war.
Ein Polier, der Mätti, der auch in Malberg wohnt, erwies sich als Freund, und nahm
sich meiner an. Er duldete keine Ungerechtigkeiten und stand mir oft zur Seite; ein
wahrer Freund.
Jeden zweiten Monat musste ich, für drei bis vier Wochen, in die Aubildungs-
werkstatt des Bauhauptgewerbes nach Kenn bei Trier. Also fuhr ich täglich mit dem
Uwe aus Neidenbach, dem das Schicksal das gleiche Los zugeteilt hatte, mit dem
Zug bis nach Ehrang. Dann liefen wir zu Fuß mit einigen Kumpeln, die in Ehrang und
Speicher zugestiegen waren, bis zur Mündung der Kyll in die Mosel, dann ging es
weiter über die lange Brücke der B 50 ans andere Flussufer. Dann hatten wir unser
Ziel fast schon erreicht. Am Abend führte uns der gleiche Weg zurück. Während
meine Kollegen die Heimfahrt regelmäßig verschliefen, musste ich alles, was der
damalige Bahnbetrieb und die Landschaft boten, genau besehen. Nun konnte mir
niemand mehr verbieten aus dem Fenster zu schauen. Die wichtigsten Punkte prägte
ich mir damals ein; ja ich wusste gar die Meereshöhen der einzelnen Bahnhöfe und
die Länge der neun Tunnel zwischen Kyllburg und Ehrang. Da meiste davon ist mir
heute entfallen. Doch die Reihenfolge weiß ich noch. Kyllburg 271 m.ü.NN Kyllburger
Tunnel, Wilsecker Tunnel, der längste auf der Eifelbahn. Gleich hinter der Wilsecker
Schlucht biegt die Strecke wieder ins malerische Kylltal. Dort stand die untere
Fließemer Mühle, die heute der Autobahnbrücke der A 60 gewichen ist. Es folgen
Erdorf – Mettericher Tunnel, Haltepunkt Hüttingen, Philippsheim, wo dereinst die
Schmalspurbahn nach Binsfeld ihren Anfang nahm. Es kommen der Philippsheimer
Tunnel, mit der riesigen Statue eines Uhus auf der Portalskrone und Friedrich-

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Wilhelm Tunnel. Der Bahnhof Speicher liegt in einer langen Linkskurve. Nun
erscheinen Loskyller und Heintzkyller Tunnel und die Mühlen die ihnen den Namen
gaben. Es folgen Auw mit seinem reizvollen Empfangsgebäude und der Kyller
Tunnel. Hier verlassen wir den Kreis Bitburg-Prüm und erreichen in Daufenbach den
ersten Bahnhof im Kreis Trier-Saarburg. Ab Kordel verläuft die Strecke zweigleisig;
ein letztes Überbleibsel aus der Zeit als die Eifelbahn auf ihrer Gesamtlänge von gut
180 km durchgehend zweigleisig war. Das Tal weitet sich und rechts liegt auf steiler
Felsenklippe die Burgruine Ramstein. Links passieren wir den aufgelassenen,
gleichnamigen, Haltepunkt. Nur ein kurzer Blick ist uns auf die saftigen Wiesen
vergönnt, dann umgibt uns Dunkelheit. Unser Wagen wird nach recht gezogen und
wehrt sich mit kreischenden Radreifen. Wir durchfahren den Ehranger Tunnel. Bald
ist der Bahnhof Ehrang 125m.ü.NN erreicht; ein Mekka der Dampflokfreunde in den
siebziger Jahren bei der DB. Kurz vor Pfalzel grüßt der Wasserturm vom ehemaligen
Bw herüber. Wir sind in Ehrang nach 39 km Fahrweg ausgestiegen und folgen der
Kyll die zwischen den Schwemmlandwiesen ihrem Ziel entgegen fließt.
Meine Kumpel hatten für meine „Eisenbahn-Marotte“ nur wenig übrig, und so
durfte ich mir manche Spitze anhören. Ihre Interesse beschränkte sich auf Mädchen,
den aktuellen Hit, wo am nächsten Wochenende ein Discoabend stattfand oder ob
man sich in der Dorfkneipe vollaufen lassen musste.
Das war nicht meine Welt. Verrückte, wie mich, muss man in Ruhe spinnen
lassen. Mir wurde es auf keiner unserer Fahrten langweilig, immer gab es etwas
neues zu entdecken. Viel zu schnell verging die Zeit.

Ein Ereignis ist in meinem Gedächtnis haften geblieben, als wäre es erst gestern
geschehen. Es war ein lauer Abend, Ende Mai 1979. In den Dörfern saßen alte
Leutchen auf der Bank vor ihren Häusern, philosophierten über ihr langes Leben und
genossen die letzten Sonnenstrahlen. Die Lok hatte sich tapfer bis nach Phillipsheim
gegen den Berg gestemmt. Doch der schwierigere Teil lag erst noch vor ihr. Die
letzten Reisenden hatten den Zug verlassen, krachend fielen die eisernen Türen in
die Schlösser. Der Fahrdienstleiter hatte den Fahrweg gestellt, Das Ausfahrsignal
zeigte „zwei Flügel“ Hp 2 Langsamfahrt. Der Zugführer gab Achtungspfiff und hob die
„Kelle“, als Abfahrauftrag. Der Lokführer hob den Arm zum Zeichen das er
verstanden hat, und verschwand wieder im Führerstand.
Mit lärmendem Motor setzte sich die 215 langsam in Bewegung. Wir fuhren
vorbei an den Leuten, die den Zug hier verlassen hatten und nun in einer langen
Prozession dem Dorf zustrebten, und bogen wieder in das Streckengleis ein. Meine
Kollegen dösten, nach dem täglichen Feierabendbier, friedlich vor sich hin, und ich
genoss die Fahrt durch die blühende Natur. Saftig standen die Wiesen, Wildblumen
erstrahlten als bunter Teppich in der Abendsonne. Nur ein kurzes Stück waren wir
gefahren, als der Zug plötzlich und ohne erkennbaren Grund, durch eine scharfe
Bremsung zum Stehen gekommen war. Ein Signal, das die Fahrt hätte hemmen
können, gab es auf diesem Streckenabschnitt nicht. Hatte vielleicht jemand die
Notbremse gezogen? Das abrupte Halten hatte gar meine Kumpel geweckt. Was war
geschehen? Schnell hatte ich die obere Hälfte des Fensters herabgelassen und
blickte in beide Richtungen am Zug entlang. Erst konnte ich nichts ungewöhnliches
feststellen, aber dann erkannte ich doch den Grund für unseren außerplanmäßigen
Halt. Ein ausgewachsener Braunbär saß auf den Hinterbeinen nur wenige Meter vor
der Lok und patschte seine vorderen Tatzen zusammen. Nun waren in jener Zeit
selbst in der Eifel die freilebenden Bären schon lange ausgerottet. Des Rätsels
Lösung war, dass wir uns auf Höhe des Tierparks Gondorf, direkt unterhalb des
Bärengeheges, befanden und Meister Petz hatte es irgendwie geschafft zu flüchten.

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Erst nach einem lauten Pfiff aus dem Loktyphon besann sich der Waldbewohner
anders und ergriff die Flucht. Aber anstatt in den Wald zu laufen, trabte er in
schnellem Lauf, mitten im Gleis, vor dem Zug her, der sich seinerseits nun wieder
langsam in Bewegung setzte. Das Laufen hier war wohl bequemer; gab es doch
keinerlei Hindernisse, denen man ausweichen musste. Nach einer Weile ist er dann
doch nach rechts in den Wald gerannt und der Lokführer erstattete am nächsten
Streckenfernsprecher, nur wenige hundert Meter entfernt von dem Ort wo der Bär
verschwand, Meldung an den nächsten Bahnhof. War das Mut oder nur Dummheit?

Viele Jahre sind seit damals ins Land gegangen. Vieles könnte ich noch
berichten. Von der Murre, die 1982 in der Wilsecker Schlucht abging und von der V
100, die sich wie auf einem Keil, in Schlamm und Geröll mit ihrem Personenzug, vor
der Tunnelkrone wiederfand. Ab 1985 wichen die Form- den Lichtsignalen und die
einst weit verzweigten Gleisanlagen der Bahnhöfe nach und nach einem reichen
Distelbestand. An Stelle der schön gestalteten Güterschuppen wurden kastengleiche
Einkaufsmärkte gebaut. Und die einst ungeliebten Dieselloks, die das Ende der
Dampfloks brachten, weichen allmählich den Triebwagen. Anstatt die Strecke wieder
durchgängig zweigleisig auszubauen, setzte man Neigetechnikzüge ein. Der Erfolg
war das der Triebwagen den Fahrzeitgewinn in Kyllburg ganze elf Minuten lang
aufbrauchen durfte, bis der Gegenzug zur Kreuzung einlief. Das ist schon wieder
Geschichte. Die Neigetechnik ist von deutschen Gleisen fast überall verschwunden.
Über die ungezählten Nebenbahnen verlaufen heute Radwege. Wer kennt noch
Erdorf – Igel, Gerolstein – Prüm – Pronsfeld – St. Vith oder Waxweiler, Daun
-Wengerohr - Bernkastel oder das „Saufbähnchen“ Trier – Bullay. Es kommen keine
schweren Güterzüge mehr vom Rheintal über Ahrweiler nach Lissendorf und von dort
weiter an die Saar oder nach Luxemburg. Während anderswo über Wiederinbetrieb-
nahme stillgelegter Strecken nachgedacht wird, feiert man in der Eifel jeden Meter
Gleis der rausgerissen wird. Zuletzt waren das die Strecke Jünkerath – Losheim oder
die alte Eisenbahnbrücke in Bitburg.
Geblieben ist nur die „arg gerupfte“ Eifelhauptbahn Köln – Trier. Auch hier
verläuft ein Radweg auf Teilstücken mit auf dem Bahndamm, über Brücken und
durch Tunnel. Auch ich gehöre zu den „Frevlern“, die in heutiger Zeit die neuen
Radwege befahren. Heute schnaufen und keuchen die Menschen, früher die
Dampfloks den Berg hinan.
Vieles aus der alten Zeit ist verschwunden. Nur selten fährt eine Dampflok mit
Sonderzug durchs Kylltal. Die Berghänge „Hinter Kyllburg“ und der „Hasenknopp“
sind zugewachsen und verwildert. Nur noch selten findet sich im Dickicht eine Stelle,
von der man auf die Bahnlinie sehen kann. Der Bach in Malberg ist seit 1970
zubetoniert. Kein Fisch findet mehr den Weg im November zu seinen Laichgründen.
Der Boden im Kanal bietet keinen Halt, so gleiten sie zurück in die Kyll. Die
Walnussbäume auf dem „Messenweg mussten einem Gehweg weichen. Die Eifel hat
vielerorts ihren Reiz verloren.

Inzwischen fahre ich in Süddeutschland selbst Lok. Eine Fahrt auf der Eifelbahn
blieb mir bislang verwehrt. Von Zeit zu Zeit setze ich mich in Kyllburg in den Zug
nach Trier, schließe die Augen und dann höre ich das Stampfen der Dampfzylinder;
schöne alte Dampflokzeit, schöne alte Eifelbahn!
Vieles ist neu, aber ist es auch immer besser?

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