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Herausgeber

G. Arentzen
Schriftsteller
Schulstraße 1
76761 Rülzheim

Internet: www.g-arentzen.de
Email: mail@g-arentzen.de

© by G. Arentzen
Alle Rechte vorbehalten

Lizenz
Creative Commons (by-nc-nd)
Url: http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/

Covergestaltung:
Deborah White
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Das Relikt des Todes

G. Arentzen

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Prolog

13. Dezember 1998, 21:40 Uhr/ New York City (Queens)

„Weißt du, was sich meine Tochter wünscht, Rebecca?


Einen Computer. Ich meine, ist das ein gutes Geschenk für ein
dreizehnjähriges Mädchen? Ein Computer? Und ich wollte ihr
eine Barbie-Puppe schenken. So eine mit Ballettkleid. Die
kann ich mir nun in die Haare schmieren!“
Die Stimme meines Partners Louis Walker klang frustriert. Er
hob den Becher mit dem Milchshake und sog etwas von der
cremigen Masse durch den Strohhalm in seinen Mund. Das
dabei entstehende Geräusch klang furchtbar.
„Die Mädchen von heute sind eben emanzipiert“, gab ich ki-
chernd zurück. „Sie wollen Computer, keine Puppe.“
„Ja“, knurrte er. „Und nach dem College wird sie Automecha-
nikerin. Neulich kam ich nach Hause und was sehe ich? Da
liegt sie unter dem Abfluss und repariert den Müllschlucker.
Sie ist dreizehn.“
„Und? Geht er wieder?“
„Ja“, nuschelte Walker. „Besser, als wenn ich es gemacht
hätte. In solchen Dingen bin ich eine Flasche.“

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Ich lachte laut auf. Walker gab sich gerne bärbeißig, war
aber eigentlich ein netter Kerl. Raue Schale, weicher Kern.
Das war mir bereits in den ersten Tagen beim NYPD klar ge-
worden. Frisch von der Academy hatten sie mich ihm zugeteilt.
Damit er mich unter seine Fittiche nehmen und mir die Welt ei-
nes Polizisten erklären konnte. Vergiss alles, was sie dir bei-
gebracht haben. Das hier ist die Wirklichkeit. Und die stimmt
nie mit den theoretischen Fällen der Lehrbücher überein.
Nun, drei Jahre und acht Monate später musste ich ihm
recht geben. Das Leben war das Leben und die Academy war
die Academy. Dazwischen gab es eine Kluft, in die man die
Rockys hätte dreimal stecken können.
„Was deine Tochter wird, ist doch nicht so wichtig. So lange
sie sich nur zu einem guten ... Moment.“
Das Krächzen des Mikrofons hatte mich unterbrochen. Wa-
gen 18, bitte kommen.
„Hier Wagen 18 – Officer Cohen. Wir hören.“
„Ein Anrufer hat Schüsse, Schreie und Lärm aus einem
Nachbarhaus gemeldet. Das betroffene Gebäude liegt in Fo-
rest Hills. 69. Straße, Hausnummer 7-2-4.“
Ein Eisschauer jagte mir über den Rücken. „Wiederholen Sie
die Adresse, Zentrale“, bat ich mit zittriger Stimme.
„Forest Hills. 69. Straße, Hausnummer 7-2-4. Fahren Sie un-
verzüglich dorthin und checken Sie die Lage. Zentrale Ende.“

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Ich gab Gas. Der Wagen schoss aus der Parkbucht, die Si-
rene auf dem Dach erwachte aus ihrem Tiefschlaf. Zuckendes,
rot-blaues Licht umgab uns, während ich das Auto den Yellow-
stone-Boulevard entlang trieb. Dieser kreuzte die 69. Straße,
so dass wir es nicht sonderlich weit hatten.
„Ist alles in Ordnung, Becca?“ Walker hielt sich fest, während
ich einem LKW auswich. Wir gerieten kurz auf die Gegenfahr-
bahn, ein Lincoln musste ausweichen. Er hupte und schüttelte
die Faust. Respekt vor der Polizei? Höchstens in alten Roma-
nen.
„Nichts ist in Ordnung“, blaffte ich meinen Partner an. „Gar
nichts!“ Damit trat ich auf die Bremse, riss gleichzeitig das
Lenkrad herum und ließ den Wagen in die 69. schlittern. Dort
gab ich noch einmal Gas.
„Du kennst du Adresse?“
„Scheiße, ja!“
Er nickte. Es gab Momente, in denen konnte man sich unter-
halten. In denen war es ratsam, Fragen zu stellen und sie zu
beantworten. Und es gab auch Augenblicke, in denen hielt
man besser die Klappe. Walker war ein schlauer Bursche – er
erkannte, wann was gefragt war.
Die Häuser rund um 7-2-4 waren hell erleuchtet. Menschen
standen auf der Straße und auf den Gehwegen, als ich den
Wagen abermals abbremste. Walker machte sich bereit aus-
zusteigen. Auch mein Gurt schnellte zurück, noch ehe wir

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standen. Kaum war dies geschehen, rissen wir die Türen auf
und stürmten los.
Schon als ich den Eingang des kleinen, weißen Einfamilien-
hauses sah, ergriff mich blanke Panik. Das Holz gesplitterte,
das Schloss mit brachialer Gewalt herausgerissen. Es sah fast
so aus, als habe jemand eine Dampframme benutzt, um sich
Zugang zu verschaffen.
Stimmen umgaben uns. Die Gaffer gestikulierten, riefen
Worte wild durcheinander und gaben sich hemmungslosen
Spekulationen hin. Junkies, Einbrecher oder ein Verrückter.
Jemand wollte einen Bär gesehen haben, wieder ein anderer
einen Wolf.
Klar, ein Wolf. Er zerstört die Tür, um in ein Haus einzudrin-
gen. Das machen die immer, diese Wölfe.
Meine sarkastischen Gedanken blieben mir im Halse ste-
cken, als ein lautes, deutlich an ein Raubtier erinnerndes Brül-
len aus dem Inneren des Hauses drang.
Walker blieb zurück, während ich weiterhin auf den Eingang
zu hetzte.
„Ich hole das Gewehr“, rief er mir zu. „Außerdem rufe ich mal
besser Verstärkung.“
Was er tat, was mir in diesem Moment völlig egal. Mein Herz
schlug bis zum Hals. Schweiß ließ meine Hände feucht wer-
den. Zum ersten Mal in meinem Leben spürte ich diese Angst

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in mir. Wie eine kalte Klauenhand schien sie sich um meine
Lunge zu legen.
Wieder ertönte das Brüllen. Der Schnee im Vorgarten fiel mir
auf. Fußabdrücke zeichneten sich in ihm ab. Keine Schuhe,
sondern Füße. Was in aller Welt ist hier los?
Mit einem langen Sprung katapultierte ich mich in den Gang,
rollte über die Schulter ab und ließ meinen Blick schweifen.
Vor mir lag die Treppe, links das Wohnzimmer, rechts die Kü-
che. Dahinter ein kleines Bad sowie die Kammer.
Ich kannte all diese Räume so verflixt gut.
Neu war für mich das Blut. Es lief die Stufen der Treppe hin-
ab und bildete an deren Ende eine Lache. Mein Magen ver-
krampfte sich und schien einen einzigen, großen Klumpen zu
bilden. Nein, schoss es mir durch den Kopf. Nein, bitte nicht.
Ein drittes Mal heulte und knurrte es aus dem ersten Stock.
Dazwischen ein Schrei, gefolgt von einem lauten Knacken.
Dann herrschte Ruhe.
„Polizei“, kreischte ich. Meine Stimme überschlug sich. „Ich
komme hoch, bin bewaffnet und werde schießen.“
Damit hetzte ich nach oben, das Blut dabei meidend.
Schon auf dem Treppenabsatz sah ich die erste Leiche. Die
Frau lag, mit weit überstrecktem Kopf, halb vor dem Geländer,
halb auf der ersten Stufe. Ihre Augen glotzten mich tot an.
Dort, wo sich ihr Hals befunden hatte klaffte eine tiefe Wunde.
Es sah aus, als habe ihr jemand die Kehle herausgerissen.

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Das Blut aus den zerfetzten Schlagadern hatte Spritzer an der
Wand hinterlassen. Sie musste sich in Todesqualen gewun-
den haben. Zumindest kurz.
Erst auf den zweiten Blick fiel mir auf, dass ihre Bluse und
auch die Haut sowie das Fleisch darunter aufgerissen worden
waren. Ihre Brüste hatten sich in eine fleischig-rote Masse ver-
wandelt.
Tränen schossen in meine Augen. Es fiel mir schwer, über-
haupt weiterzugehen. Meine Hand mit der Pistole zitterte.
Heute weiß ich, dass ich auf Walker hätte warten müssen.
Aber an diesem Abend kam es mir nicht in den Sinn. Trotz des
Schmerzes tief in mir.
Ein leises Wimmern erklang aus dem zweiten Bad. Die Tür
stand offen, Licht fiel in den Gang. Langsam näherte ich mich
dem Raum. „Polizei“, rief ich erneut, während Walker ange-
rannt kam. Noch befand er sich im Erdgeschoss, sah aber
auch das Blut. Ein Fluchen erklang.
Mit dem Fuß stieß ich den Eingang zum Badezimmer
vollends auf. Die Szene, die sich mir bot, verschlug mir fast
den Atem.
Über den Rand der rechts an der Wand befestigten Bade-
wanne lag das nächste Opfer. Blut und Eingeweide quollen
aus dem aufgerissenen Bauch des jungen Mannes heraus.
Sein Glied war abgerissen worden, ebenso ein Ohr. Seine Au-
gen drückten das unsagbare Grauen aus, welches ihn in den

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letzten Sekunden seines Lebens heimgesucht hatte. Er war
nackt, Wasser lief aus dem Brausekopf. Es staute sich, da et-
was den Abfluss verstopfte. Die Hoden, wie ich zu meinem
Entsetzen erkennen musste.
Die Arme und Hände des Mannes zeigten Abwehrverletzun-
gen. Er musste sich gegen ein Messer oder eine scharfe Har-
ke verteidigt haben. So zumindest deutete ich die Wunden zu-
erst.
Mein Blick glitt nach links. Noch ein Toter. Das Gesicht des
älteren Mannes war grausam entstellt, seine Augen halb aus
dem Kopf gerissen und seine Brust mit tiefen Wunden zer-
kratzt. Er trug eine blaue Cordhose. Reste eines rot-schwarz-
karierten Hemdes waren zu erkennen. In seiner rechten Hand
hielt er einen .22er. Es roch nach Pulver. Also hatte er damit
geschossen.
Seine Lippen bebten, schaumiger Speichel, vermischt mit
Blut, floss darüber.
Sein linker Arm war unnatürlich verdreht. Erst nahm ich an,
er sei gebrochen. Doch dann musste ich erkennen, dass er
ihm halb abgerissen worden war.
Der Mann hustete. Blut kam einer Fontäne gleich aus sei-
nem Mund ... dann sackte er zusammen.
Ich wirbelte herum, als wieder ein Knurren erklang. Walker
lief den Gang entlang und riss eine Tür auf. Ein erschrockener
Schrei war zu hören, gefolgt von zwei rasch aufeinander fol-

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genden Schüssen. „Scheiße“, brüllte mein Kollege noch. „Wie-
so lebt ...“
Ein weiteres Knacken, und er schwieg. Ich hetzt los und er-
reichte den Ort des Geschehens nur Sekunden später.
Mein Partner lag auf dem Boden. Seine entsetzten Augen
starrten mich an. Und das, obwohl er auf dem Bauch lag. Vor
ihm, keinen Meter entfernt, stand der Killer.
Was in drei Teufels Namen ist das?
Mein Verstand schien für einen Moment auszusetzen. Fell,
schoss es mir dann durch den Kopf. Und gelb lodernde Au-
gen.
Ich begriff nicht, was mir gegenüberstand. Alles was ich sah,
war ein aufrecht stehendes, wolfähnliches Vieh mit gebleckten
Zähnen, geifernden Lefzen und Krallen, die scharfen Messern
glichen. Er starrte mich hasserfüllt an. Oder war es eher Mord-
lust, die in seinen Pupillen zu glänzen schien?
Ein weiterer Wagen fuhr vor. Die Sirene erstarb, Türen wur-
den aufgestoßen.
Der Wolf brüllte. Reflexartig riss ich meine Pistole hoch und
schoss. Kugel um Kugel jagte in seinen Leib und trieb ihn zu-
rück. Blut spritzte dabei. Mit seinen Tatzen hieb er unbeholfen
nach mir. Aber er blieb stehen.
Das ist doch nicht möglich. Mein neues Ziel war sein Kopf.
Ein Geschoss zerfetzte seine Schnauze. Dann war das Maga-

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zin leer. Nur noch ein Klicken war zu hören, als mein Finger
den Druckpunkt des Abzugs überwand.
Zum Nachladen kam ich nicht mehr. Ein weiterer Kollege eil-
te herbei. Seine Schritte hallten im Flur wider. Das Monster
begriff wohl, dass er fliehen musste. Es wandte sich um und
sprang einfach durch die Scheibe des Fensters hinter ihm.
Dann verschwand es im Dunkel der Nacht. Unten, vom Vor-
garten her erklang entsetztes Geschrei sowie ein Schuss.
„Was war das?“, rief mein Kollege. Er stand neben mir, un-
gläubiges Staunen in seinen Augen. Langsam steckte er die
Pistole wieder weg. „Rebecca – was war das?“
Ich hob meinen Kopf und starrte ihn an. Es war, als würde in
diesem Moment die grauenvolle Realität dessen auf mich ein-
prasseln, was das Adrenalin und der Wille, den Killer zu
schnappen, zuvor einigermaßen von mir ferngehalten hatten.
Langsam wandte ich mich um und tappte an ihm vorbei, zu-
rück ins Bad. Dort besah ich mir die beiden Toten. Eine heiße
Welle des Schmerzes durchzuckte mich. Mein Magen bäumte
sich auf und schon musste ich mich übergeben. Wieder und
wieder würgte ich, bis mein Magen leer war. In meinem Kopf
schien jeder klare Gedanke verschwunden zu sein. Lachen
dröhnte in meinem Schädel wieder. Ich liebe dich, Sweety,
hörte ich eine Stimme sagen. Mach nicht wieder so viele Über-
stunden.

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Kraftlos sank ich nieder. Es war mir egal, dass ich in diesem
Moment in meinem Erbrochenen und im Blut hockte. Es spiel-
te keine Rolle. Nichts spielte mehr eine Rolle.
„Scheiße, Becca“, fuhr mich mein Kollege an. „Was ist denn
los mit dir? Ist doch nicht dein erster Tatort. Die Spurensiche-
rung wird sauer sein, wenn sie die Scheiße hier sehen.
Schwing deinen Arsch aus dem Bad.“
Der Cop sprach mit mir, aber es ging an mir vorüber. Mein
Blick war ins Leere gerichtet. Im Kopf hörte ich noch immer
Stimmen. Sie übertönten die Ankunft des Rettungswagens,
dessen charakteristisches Blaulicht vor dem Haus erstarb.
Tante Eleonore hat uns eingeladen. Wir sollen Chanukka bei
ihr feiern. Also tausch mit keinem deine freien Tage.
Kannst du einen Strafzettel löschen lassen? Ich habe nur
zwei Minuten im Halteverbot gestanden, um die Medikamente
für deine Mutter zu besorgen. Nur zwei Minuten.
Wir sollten unsere Beziehung festigen. Meinst du nicht auch,
Becca? Möchtest du mich heiraten?
Ein Schrei riss mich aus meinen Gedanken. Mein Schrei. Ich
hatte ihn ausgestoßen. Meine Hand hieb wieder und wieder
gegen den Sockel der Wanne.
„Scheiße, die flippt völlig aus. Ist wohl doch kein Job für sie.
Sieht ein paar Leichen und bekommt einen Ausraster.“ Mein
Kollege griff derbe nach meinem Arm, um mich in die Höhe zu

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ziehen. Mehr Menschen kamen. Stimmen, ein erschrockener
Ruf.
„Lass sie“, herrschte eine Stimme meinem Kollegen an.
„Weiß du nicht, was hier passiert ist?“
„Nein“, blaffte der Mann zurück. „Ist mir auch egal. Wenn sie
drei Verstümmelte nicht abkann, ist sie im falschen Job. Dann
sollte sie besser Fahrkarten kontrollieren oder den Verkehr re-
geln.“
„Du Arschloch.“ Wieder die andere Stimme. „Das sind ihre
Eltern und der in der Wanne ist ihr Verlobter Patrick. Ihre Fa-
milie und ihr Verlobter wurden ausgelöscht und sie war als
Erste am Tatort.“
„Oh ... mein Gott.“ Erneut mein Kollege, bedeutend leiser.
„Das ... konnte ich doch nicht wissen.“
„Leck mich. Hol den Notarzt hoch, aber schnell.“
Noch immer schlug ich mit meiner Hand gegen die Wanne.
Der Schmerz kroch meinen Arm empor und hatte meine
Schulter erreicht. Aber er war angenehmer als die unendliche
Qual in meiner Seele.
Ein Arzt erschien. Er griff nach mir, klopfte mir auf die Hand.
Dann ein Einstich.
Noch ein paar Sekunden schlug ich auf die Wanne ein, ehe
meine Lichter ausgingen. Nicht schlagartig. Sie wurden bis zur
absoluten Finsternis gedimmt.
Das Beruhigungsmittel wirkte.

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Kapitel 1

13. Dezember 2005, 23:35 Uhr/ New York City (The Bronx)

„Hey, hast du nicht Bock auf ein paar unbeschwerte Minuten


im Reich der Träume? Mein Stoff ist so gut, dass du den Trip
von der ersten bis zur letzten Minute genießen kannst. Außer-
dem kostet er dich nur ein paar lausige Bucks. Den Nickel gibt
es schon für unter fünf.“
Die Stimme des jungen, abgewrackten Dealers klang schrill
und flehentlich, während er vor mir her hüpfte. Seine dürren
Beine steckten in dünnen Leggings. Nicht wirklich die passen-
de Kleidung bei dieser Kälte, die mit ihren eisigen Klauen den
Big Apple im Griff hielt. Auch sein Oberteil war nicht sonderlich
wärmer. Eine Jacke trug er nicht und das schmutzig-rote Shirt
war völlig unzureichend. Seine nackten Arme waren blau ge-
froren. Da in der Luft der Geruch nach verbrannten Abfällen
lag nahm ich an, dass er irgendwo eine brennende Mülltonne
hatte, an der er sich wärmen konnte. Pusteln überzogen sein
Gesicht, zwischen Nase und Mund war die Haut verkrustet.
Besser nicht drüber nachdenken, welche Krankheiten er hat.
Sonst kotze ich gleich hier und jetzt. Er war einer dieser Jun-

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kies, die sich ihre Sucht mit dem Verhökern von Crack ver-
dienten.
Ohne ihm eine Antwort zu geben ging ich weiter. Hoffte, er
würde mein Desinteresse erkennen. Doch dem war nicht so.
Statt aufzugeben setzte der Typ nach. Zwei schnelle Schritte,
und er hatte mich erreicht. Mit seiner mageren Hand griff sie
nach mir. „Bitte, kauf mir doch ein paar Steine ab. Ich ... brau-
che das Geld, um meine Mutter durchzubringen. Sie hat Fie-
ber. Es ist mir wirklich wichtig. Und du siehst echt aus, als
könntest du ein bisschen Entspannung gebrauchen. Nur drei
beschissene Dollar. Bitte ...“
„Nein. Ich will nicht, verstanden? Verschwinde!“ Damit schob
ich meinen Mantel ein Stück zur Seite. Eine Beretta kam dar-
unter zum Vorschein.
Die Augen des Junkies wurden rund. Er hob die Arme und
wich ein paar Schritte zurück. „Okay, okay. Kein Problem, al-
les easy. Von welcher Gang bist du denn?“ Er kniff die Augen
zusammen. „Lorenzo schickt dich. Scheiße. Also macht der
Spaghettifre... Italiener Ernst und will Mike ausschalten.“
„Ich sag es nur noch einmal – verschwinde.“ Meine Geduld
war erschöpft.
Der Pisser wich wieder zurück, nickte dann und lief davon.
Seine hektischen Schritte trampelten über den festgestampf-
ten, überfrorenen Schnee. Kurz darauf bog er in eine Hofein-
fahrt ein und war verschwunden.

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Mein Blick glitt in die Runde. Die Bronx war ein Furunkel am
Arsch dieser Stadt, Soundview1 der Eiterknubbel obenauf. Die
Menschen, die hier wohnten, waren am Ende ihrer Hoffnungen
angelangt. In einem Artikel hatte ein Reporter das Viertel als
Hauptstadt des Autodiebstahls bezeichnet. Das mochte stim-
men oder auch nicht. Sicher war nur, dass hier das Verbre-
chen wohnte. Crack und andere Drogen waren hinter jeder Tür
zu finden, dazwischen Prostitution, Diebstahl und Mord.
Gangs regierten die Nachbarschaft, die einen der bekanntes-
ten Serienmörder der Stadt hervorgebracht hatte – den Son of
Sam.
Dazwischen ein Elend, wie man es sich kaum vorstellen
konnte. Trotz der niedrigen Temperaturen qualmten längst
nicht alle Schornsteine. Eine Frau um die fünfzig wühlte in ei-
ner Mülltonne nach ein paar Krumen Essbarem. Sie trug ein
geblümtes Kleid, darunter alte Hausschuhe. Ihre Haare waren
strähnig, ihr Augen schauten stumpf. Hoffnung und Freude
waren schon vor Jahren einer Leere gewichen, die jenseits
des Menschlichen lag. Komisch. Kommt mir verdammt be-
kannt vor.
Ich hasste die Bronx. Und dennoch waren ich hier, um mein
Ding durchzuziehen.
Schnee fiel. Kleine, weiße Flocken. Manche hatten sich in
meinen Haaren verfangen. Sie übertünchten mit ihrer Reinheit
1
Besonders verrufener Teil der Bronx

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den Dreck dieser Gegend. Streut man auf eine verschimmelte,
madendurchsetzte Torte genug Puderzucker, sieht sie nett
aus. Verschimmelt und madig bleibt sie trotzdem.
Für mich war die Bronx in jener Nacht so eine Torte. Fuck –
sie war es in jeder lausigen Nacht.
Mein Informant hatte mir gesagt, es sei in der Lacombe Ave.
Das dritte Haus hinter der Ecke zur Soundview. Dann müsste
es dieses hier sein, überlegte ich. Mein Blick glitt an einem al-
ten Backsteinbau in die Höhe. Früher mochte er rot gewesen
sein, doch inzwischen hatte ihn der Dreck in der Luft schwarz
werden lassen. Die Fenster im Erdgeschoss waren eingewor-
fen worden. Im Dritten brannte ein dünnes Licht. Außerdem
dudelte aus diesem Stockwerk Musik. Taschenlampen und
Ghettoblaster vermutlich, die beide keine Steckdosen brauch-
ten. Nur Batterien, und die konnte man in jedem Laden klauen.
Mich wunderte ohnehin, dass hier die Straßenbeleuchtung
funktionierte. Keine einzige Lampe war defekt oder zerstört. Ist
es ein Wunder? Etwa, weil wir Chanukka haben?
Noch einmal schaute ich mich um, stieß dann jedoch die Tür
zu dem Haus auf. Abgeschlossen war sie nicht. Aber dies hat-
te ich auch nicht erwartet.
Wie ein düsterer Schlund präsentierte sich mir der Eingangs-
bereich. Eine Treppe führte nach oben, eine zweite nach un-
ten. Die Musik war nun lauter zu hören, gepaart mit leisen
Worten, Stöhnen und Kichern. Männer und Frauen, mindes-

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tens sechs verschiedene Stimmen. Schwach schimmerte ein
heller Schein von oben ins Treppenhaus. Er schaffte es kaum,
die Stufen zu erhellen. Aber es reichte, um Graffiti an den
Wänden sichtbar werden zu lassen. Ein paar Tags, obszöne
Bilder und Sprüche. Die Lewinsky bläst den Pimmel von Clin-
ton und ich lutsche den Schwanz von Giuliani. Er schmeckt
wie Scheiße.
In meiner Tasche steckte ein Mag-Lite. Aber noch genügte
mir die schwache Beleuchtung, um mein Ziel zu finden. Zumal
sie mir sehr genau zeigten, wohin ich musste. Außer, mein In-
formant hätte mich an der Nase herumgeführt. Doch dem war
klar, dass dies seinem Geldbeutel äußerst schlecht bekom-
men wäre. Darum erschien mir dies unwahrscheinlich.
Vorsichtig nahm ich eine Stufe nach der anderen. Gestank
kroch mir in die Nase, je weiter mich die Treppe nach oben
führte. Zigarettenqualm, alter Schweiß und ausgedünsteter Al-
kohol. Meine Hand lag bereits am Griff der Pistole. Trotz be-
dächtig gesetzter Schritte knarrte das alte Holz der Stiegen
unter jedem Tritt. Aber noch war niemand auf mich aufmerk-
sam geworden. Zumindest reagierte niemand.
Im ersten Stock hielt ich inne und schaute in einen finsteren
Gang. Die Türen zu den einzelnen Appartements standen of-
fen. Doch nichts regte sich dort.
Im Zweiten war es nicht anders. Auch hier herrschte absolu-
te Dunkelheit und Stille. Erst in der dritten Etage änderte sich

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dies. Das Licht war nun heller, der Gestank noch intensiver.
Reste von frisch gerauchtem Crack klebten in der Luft. Eine
Frau stöhnte laut. Dazwischen war rhythmisches Klatschen zu
hören, unterbrochen von hart ausgestoßenen Sätzen. Ich be-
sorg es dir, du Schlampe. Oder auch jetzt bekommst du, was
du brauchst. Gleich spritz ich dir deine Fickfotze voll.
Wer immer hier Sex hatte, gehörte zu den ganz großen
Charmeuren. Seiner Partnerin schien es recht zu sein, denn
sie grunzte wie ein zufriedenes Schwein.
Die Treppe lag hinter mir. Schon der Gang war erleuchtet.
Eine große Campinglampe hing an einem in die Wand ge-
schlagenen Haken. Vielleicht sollte sie anderen, die noch
nachkommen wollten, den Weg weisen.
Die Action spielte sich in der ersten Wohnung auf der linken
Seite ab. Von dort kamen die Geräusche und dort klirrten nun
Gläser. Zudem zog eine Rauchwolke hervor. Sie wirkte wie
eine Nebelwand.
Mit einer fließenden Bewegung brachte ich meine Beretta
hervor. Der Griff lag gut in meiner Hand. Im Geiste stellte ich
mir dabei noch einmal das Bild des Mannes vor, den ich finden
und festsetzen wollte. Schwarz, wilder Bart und Naturlocken
auf dem Kopf. Eine Narbe unter dem rechten Auge, die von ei-
ner Messerstecherei herrührte, und ein Tattoo in Form eines
roten Dreiecks auf dem Arm.

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Das Stöhnen wurde lauter. Ich hörte, dass etwas über den
Boden rutschte. Dann die erregte Stimme des Mannes. „Ja,
komm schon, du kleine Hure. Ich besorg es dir gut, oder? Sag
schon, wie gut ich es dir besorge.“
„Oh ja, Moe. Du besorgst es mir wahnsinnig gut. Fick, fick
mich härter, das brauch ich jetzt. Komm schon, gib es mir.
Fick mich richtig durch. Dein Schwanz ist so hart!“
Einstudiert? Oder die Wahrheit?
So leise wie eben möglich betrat ich das Appartement. Es
gab keinen Flur, man stand sofort im ersten Raum.
Die Szene war beeindruckend.
Links von mir trieb es das Pärchen. Sie lagen auf einer alten
Matratze und gaben sich ihrer Wollust hin, während ihnen zwei
weitere Paare zuschauten. Sie waren ebenfalls nackt, ließen
eine Flasche mit Rum kreisen und zogen manchmal an einem
Joint. Auf dem Boden lag Crack-Besteck sowie ein Tütchen
mit den weißen, harten Klumpen.
Rechts, an der Wand, standen zwei Bierkästen sowie unzäh-
lige leere Flaschen. Ein Pizza-Karton klemmte zwischen ih-
nen.
„Du bist nicht eng genug“, beschwerte sich Moe. „Scheiße,
deine Fotze ist schon ganz ausgeleiert von den vielen Freiern.
Los, komm hoch. Ich will dich in den Arsch ficken.“
Er zerrte die Frau hoch, so dass sie doggy-style vor ihm knie-
te. Anschließend ließ er Spuke auf ihren Hintern laufen. Mit

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dem Finger verrieb er den Speichel auf ihrem Anus, ehe er
seinen Schwanz ansetzte.
Zum Reinstecken kam er nicht mehr. Sein Blick glitt herrisch
durch den Raum und blieb an mir kleben. Für einen Moment
stierte er mich an. Es dauerte, bis sein vernebeltes Hirn be-
griff. Da steht eine Frau, vollständig bekleidet und hält eine
Pistole in der Hand. Was könnte das bedeuten?
„Moses ‚Moe’ Wilson. Ihr Kautionsagent hat mich mit Ihrer
Festnahme betraut. Verschränken Sie die Hände hinter dem
Kopf und rühren Sie sich nicht, bis ich Ihnen Handschellen an-
gelegt habe. Bei Widerstand bin ich berechtigt, von der
Schusswaffe Gebrauch zu machen.“
Noch immer glotzte mich der Mann an. Schließlich reagierte
er doch. „Siehst du nicht, dass ich gerade meine Freundin na-
gele? Scheiße, warte wenigstens, bis ich gespritzt habe.“
Seine Kumpels, die noch immer neben der Matratze hock-
ten, nun aber zu mir schauten, nickten beifällig. „Eben“, mur-
melte einer. Er schaffte es kaum, sich zu artikulieren. „Hier
wird gefickt. Warte, bis du an der Reihe bist.“
Mit zwei schnellen Schritten war ich bei Moe und hämmerte
ihm die Pistole gegen den Kopf. Er schrie auf. Blut floss, wäh-
rend er zur Seite kippte. Hart riss ich ihm erst die eine, dann
die andere Hand auf den Rücken. „Du kannst die schwulen Är-
sche in Rikers ficken. Die sind auch viel enger als deine Nutte
hier.“ Die Handschellen klickten. Mit einem Auge behielt ich

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seine Freunde im Blick. Aber die waren viel zu stoned, um et-
was zu unternehmen. Lediglich seine Freundin protestierte.
„Hey, und was wird aus mir. Ich bin noch nicht gekommen,
verdammt. Das ist doch alles Scheiße.“
Sie wollte aufspringen, erhielt aber von mir einen Stoß ge-
gen die Brust, so dass sie es sich anders überlegte und sich
auf die Matte legte. Nur kein Risiko eingehen.
Ich griff nach einer Hose und einem Hemd, das achtlos zu
Boden geworfen war. „Wenn du dich wehrst, schleif ich deinen
nackten Arsch durch den Schnee zu meinem Wagen. Hast du
das verstanden, du Penner? Also spiel bloß nicht den Helden.
Ich bekomme mein Geld auch dann, wenn dein Hirn hier über-
all an der Wand klebt.“ Zur Sicherheit versetzte ich ihm einen
zweiten Hieb. Er röchelte und sank zurück, während ich ihm
die Hose überzog. Anschließend zerrte ich ihn in die Höhe. Er
schwankte. Eine Wolke von Schweiß, Alkohol und Mundge-
ruch kam mir entgegen. Verärgert schleuderte ich das Hemd
weg. Sollte er auf dem Weg zum Wagen frieren. Sollte er sich
eine Erkältung einfangen. Was scherte es mich?
Noch einmal versuchte Moses aufzubegehren. „Du bist eine
verdammte Hexe. Ich werde mich über dich beschweren. Die
Schläge wären nicht nötig gewesen. Gleich zweimal.“
„Dreimal“, korrigierte ich ihn.
„Dreimal?“

24
Er erhielt einen weiteren Hieb, diesmal mit der Hand hinter
die Ohren. „Dreimal!“

25
Kapitel 2

14. Dezember 2005, 02:35 Uhr/ New York (Brooklyn)

Das Licht in dem kleinen Club flackerte. Dies war nicht auf
eine defekte Birne zurückzuführen, sondern pure Absicht. Es
verstärkte den gewollten Effekt.
Plüsch und rote Bezüge auf weichen Sesseln, Liegen und
Betten dominierten das Ambiente im Pleasure’s Finest – ei-
nem der weniger bekannten Sexclubs in New York City. An
der Decke drehte sich träge der dreiflügelige Propeller eines
Ventilators, aus den Boxen an der Wand drang künstliches
Gestöhne. Es stammte von einer Blonden, die sich von einem
Schwarzen ficken ließ. In Großaufnahme waren ihre Möse und
sein Pimmel auf der zwischen den beiden Lautsprechern an-
gebrachten Leinwand zu sehen. Der Film stammte aus den
Achtzigern Jahren, wie ihr Busch zwischen den Beinen be-
wies.
Mit einem Auge schaute ich hin, mit dem anderen starrte ich
in das Glas vor mir. Fuck. Du bist eine elende Schlampe, Bec-
ca.

26
Es war einer dieser Momente der stillen Einkehr, die man an
einem Ort wie diesem nicht unbedingt erwarten würde. Den-
noch traf meine Einschätzung zu.
Neben mir hockte ein Mann, bekleidet nur mit einem schwar-
zen Slip. Er hatte einen Steifen, sein Blick klebte auf mir. Er
wollte Sex, ich in diesem Moment nicht. Als Frau hatte ich
zwar freien Eintritt zum Pleasure’s Finest. Dennoch erschien
es mir als ein Fehler, hierher gekommen zu sein. Zumindest in
dieser Nacht. Noch während ich meine Zielperson ins Gefäng-
nis gebracht hatte, war mir nach Erotik gewesen. Jetzt, auf
dem Hocker sitzend und in mein Glas starrend, waren diese
Gefühle verflogen. Du bist eine elende Schlampe, dachte ich
wieder und leerte den Champagner, der ohnehin kaum noch
perlte. Das Stöhnen ging mir auf die Nerven, die Blicke des
Mannes ebenso. Auch das fröhliche Lachen eines Paares, das
gerade aus dem Darkroom kam, widerte mich an. Natürlich
konnten sie nichts dafür. Mir allein war der Vorwurf zu ma-
chen. Für mein versautes Leben, für die Scheiße Tag und
Nacht. Mir – und diesem Ding, das meine Eltern und vor allem
Patrick abgeschlachtet hatte.
Jener eine Abend sechs Jahre zuvor hatte mich verändert.
Es war, als würden Gefühle nur noch in hohen Dosen zu mir
durchdringen. Ich suchte die Extreme. Normaler Sex gab mir
nichts mehr; so wenig wie mir normal gewürztes Essen
schmeckte. Der Dienst beim NYPD hatte mich gelangweilt und

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selbst mit der Versetzung zum S.W.A.T. war der gewünschte
Kick ausgeblieben. Ich hatte mir überlegt, zu den Marines zu
gehen. Aber stupide Befehle zu befolgen war nicht mein Ding.
Also hatte ich begonnen, mich als Kopfgeldjägerin und Pro-
blemlöserin zu betätigen. Keine illegalen Sachen zwar, aber
hart an der Grenze.
Mein Leben ist zu einem einzigen Haufen Scheiße verkom-
men. Die nächste, bittere Erkenntnis. Vielleicht war es, weil
sich der Tod meiner Lieben mal wieder jährte. Oder weil ich
hier saß und dieser Penner neben mir noch immer auf meine
Titten starrte. Am liebsten hätte ich mich umgedreht und ihm
meine Faust ins Gesicht geschlagen. Statt dessen hob ich das
Glas, damit mir Nancy noch einmal auffüllen konnte. Sie und
ihr Mann betrieben diesen Club, hatten verschiedene Rechtss-
treitigkeiten mit der Stadt ausgefochten und sie alle gewon-
nen. Sie kam zu mir, lächelnd. Die Flasche gluckerte, als et-
was von der rosa Flüssigkeit in mein Glas floss. Der Champa-
gner perlte und schäumte. „Du siehst traurig aus“, erkannte
sie.
„Ja“, gab ich nur zurück. Sie kannte meine Story nicht. Für
sie war ich nur eine kleine, geile Tussi, die sich hin und wieder
in diesen Räumen austobte, sonst aber keine Beziehung zu-
stande brachte.

28
Ich kippte den Alkohol runter. Er würde mich nicht auf Dauer
betäuben. Das wusste ich. Aber es half mir zumindest vorläu-
fig, meine trüben Gedanken aus dem Kopf zu bekommen.
Auf der Leinwand hatte die Szene gewechselt. Nun lagen
zwei Frauen in der 69er und leckten sich die Mösen. Sie sa-
hen leidlich erregt aus. Vermutlich dachten sie an die Gage,
die sie sich nach dem Dreh abholen konnten.
„Leckst du auch eine Pussy?“, wollte mein Nachbar wissen.
„Meine Frau treibt sich hier irgendwo rum. Sie steht auf Dreier
mit einer zweiten Frau.“ Seine Hand rutschte ganz aus Verse-
hen auf mein Bein; das übliche Signal.
Ich schob ihn weg – auch ein Signal.
„Sex mit dir und ich müsste kotzen.“ Damit ließ ich ihn sitzen
und schlenderte durch den Barraum. Du solltest gehen, ehe es
völlig grotesk wird. Hier findest du nicht, was du heute
brauchst.
Da es das, was ich brauchte nirgendwo gab, blieb ich. Meine
Eltern wurden nicht mehr lebendig, was immer ich auch tat. So
wenig wie es Patrick wurde. Nicht einmal den Killer hatten
meine Kollegen schnappen können. Niemand, auf dessen Hin-
richtung ich mich freuen konnte. Dieses Biest hatte sich aus
dem Staub gemacht und dabei war es geblieben. Obwohl es in
der Folge immer mal wieder zu ähnlich gelagerten Morden ge-
kommen war, hatte man die Bestie an sich niemals wieder ge-
sehen. Die meisten Augenzeugen im und vor dem Haus mei-

29
ner Eltern hatten beschlossen, sich an nichts zu erinnern.
Nicht an das Fell, die lodernden Augen und auch nicht an das
Heulen. Müssen Sie sich eingebildet haben, Cohen. Der
Schock, ihre Familie so zu sehen ... Ich erinnerte mich noch
an das mitfühlende, debile Grinsen meines Captains, während
er dies gesagt hatte. Und ich erinnerte mich an meine Erwide-
rung. Schieben Sie sich Ihre Einbildung tief in den Arsch. Die-
ser Satz hatte mein Ausscheiden aus dem Dienst letztlich er-
heblich beschleunigt.
Eine schmale Wendeltreppe führte hinauf in den ersten
Stock. Dort befanden sich die Spielzimmer – Räume, in denen
man Sex haben konnte. Manche waren nach einem bestimm-
ten Motto eingerichtet, andere boten einfach viel Platz für klei-
ne Orgien. Auch die Dunkelkammer lag im Ersten.
Ignorierte man die Treppe und ging weiter, erreichte man
einen Flur. Zwei Türen führten hier ab. Eine führte zu den Toi-
letten und den Duschen. Der zweite Durchgang brachte einen
in die Folterkammer. S/M vom Feinsten wurde hier geboten.
Zumindest, wenn man die Spiele selbst spielen wollte. Weder
Nancy noch ihr Mann legten dort Hand an, denn dies wäre
verboten gewesen. Weiß der Geier, warum. Sex und Gewalt
gingen in New York und den meisten anderen Bundesstaaten
der USA nicht zusammen. Weder auf Videos noch in Clubs
wie diesen. Außer, die Gäste kamen selbst auf die Idee ...

30
Mein Blick fiel genau in dieses Zimmer. In einem Käfig hock-
te ein Mann, dem jemand eine Ledermaske übergestreift hat-
te. Seine Augen verschwanden hinter geschwärzten Gläsern.
Er sah aus wie Puck, die Stubenfliege aus Maya the Bee.
Ihn schien dies jedoch nicht zu stören. Auch seine seltsam
anmutende Körperhaltung machte ihn an, wie seine Erektion
bewies.
Neben dem Käfig an der Wand hing eine Frau; gefesselt an
Händen und Füßen. Sie schaute zu einem Mann, der die Peit-
sche schwang. Noch benutzte er das Gerät eher, um ihre
Brüste zu liebkosen. Doch plötzlich zog er durch. Rote Strie-
men entstanden auf ihrer Haut.
Für einen Moment glaubte ich, ihren Schmerz nachempfin-
den zu können. Ein Seufzen kam über meine Lippen, als sich
die Fremde in Schmerzen und Lust zu winden begann.
Ihr Peiniger trat inzwischen hinter sie, um sich ihren Hintern
vorzunehmen. Sie litt. Und gerade das brachte sie mit jedem
Schlag näher an einen Orgasmus heran.
Ihre Augen blitzten, als sie mich sah. Vielleicht wollte sie
auch von mir geschlagen werden, während ihr Partner andere
Dinge mit ihr anstellte. Oder sie wollte sehen, wie ich mich in
den Ketten wandte.
Ein Gedanke, der mir nicht einmal unangenehm war. Darum
betrat ich den Raum vollends. Es gibt kaum ein reineres, ehrli-
cheres Gefühl als den Schmerz. Hin und wieder genoss ich

31
ihn, da er zu anderen Empfindungen führen konnte und gleich-
zeitig mein Gehirn zu leeren vermochte.
Hin und wieder gefiel es mir jedoch auch, anderen Leuten
Schmerzen zuzufügen. Kam wohl auf die Tagesform an.
Aus einer Ecke links von mir löste sich eine Frau. Sie lächel-
te auf eine kesse, sichere Art. Ihre Brüste steckten in einem
engen Korsett, in der Hand hielt sie eine kleine Reitgerte. Zu-
dem besaß sie den Schlüssel für den Käfig mit dem Typ.
„Lust, ein wenig zu spielen?“, fragte sie leise. Dabei strich
sie mit der Gerte über meine nackten Beine, dann über den
Slip und schließlich über meine Brüste. Ich merkte, dass sich
meine Nippel aufrichteten.
„Ich will es hart. Nicht mit diesem Ding, sondern mit einer
Peitsche. Keine Spiele, keine Unterwerfung. Nur den
Schmerz.“
Sie wunderte sich. „Du weißt, was du willst. Ungewöhnlich,
aber okay. Spiele ich mal den Service Top.“
Sie führte mich zu einem weiteren Paar Ketten, um mich dort
anzubinden. Erregung erfasste mich, während sie mir meinen
Slip hinunter streifte. „Möchtest du, dass dich mein Sklave
leckt?“, fragte sie.
Der Mann im Käfig merkte auf.
„Nur den Schmerz. Der Rest ergibt sich von selbst. Wenn ich
mehr will, sage ich es dir.“

32
Mit den Fingern strich sie über meinen Rücken. Dabei kam
ein leiser Pfiff aus ihrem Mund. „Nicht deine erste Session,
oder? Diese Narben hier ...“
„Nein“, unterbrach ich sie. „Wir brauchen auch kein Code-
wort. Wenn ich sage, dass es reicht, dann meine ich es auch
so.“
Mir gefiel das Gefühl der Berührung auf meinem Körper. Es
berührte etwas in mir. Wärme, Zärtlichkeit. Das Falsche in
dem Augenblick. Und doch bog ich mich ihrer Hand entgegen,
um mit geschlossenen Augen den ersten Hieb zu erwarten.
Er kam und es war, als würden meine Nerven auf dem
Rücken explodieren. Ich spürte ihn in meinem Innersten. Ein
leiser Schrei entfloh meinen Lippen. Meine Nippel wurden
noch härter, jede Faser in meinem Körper spannte sich. Un-
willkürlich ließ ich mich in die Ketten fallen.
„Gut so?“, fragte die Frau hinter mir.
„Fester“, forderte ich sie auf. „Sei nur nicht zimperlich.“
„Wie du meinst“, gab sie zurück. Ich spürte den Luftzug, als
die ausholte. Dann der nächste Schlag. Ich wurde nach vorne
gedrückt. Schweiß lief mir über den nackten Körper.
Es war eine Qual.
Es war ein Genuss.
Wieder ein Hieb. Ich spürte, wie die Gedanken in meinem
Kopf verschwammen. Nicht mehr lange, und sie würden für
Minuten in einem absoluten Nichts zerfließen. Nur noch ich,

33
der Schmerz und die Lust. „Fester. Komm schon, du hast doch
Kraft.“
Ich schrie, als die Riemen erneut meinen Rücken und auch
meinen Hintern trafen. Noch einmal, dann ist es so weit.
Komm schon Süße, du kannst es doch. „Stärker, los.“
Meine Gedanken wurden mir aus dem Schädel gepeitscht.
Mein Körper glühte, alle Sinne konzentrierten sich auf einen
Punkt; meinen Unterleib. Meine Hände umklammerten die Ket-
ten, als es mir kam. Meine Schreie – teils aus Qual, teils aus
Lust. Es gab nichts anderes, und das war wunderbar. Eine
Droge, wie sie besser nicht hätte wirken können.
„Reicht es?“, fragte die Fremde, als ich wieder zur Besin-
nung kam. Sie stand vor mir. Ich sah, dass die Riemen der
Peitsche feuchte schimmerten. Nicht nur mein Schweiß klebte
an ihnen, sondern auch Blut.
„Ja, es reicht. Danke.“
Mit einem argwöhnischen Blick löste sie die Fesseln. Seuf-
zend sank ich zu Boden. Noch immer durchflossen Schmer-
zen meinen geschundenen Rücken. Meine Hände und Beine
zitterten.
„Bist ein Freak, oder? Hab noch niemanden bis aufs Blut ge-
schlagen. Aber dir scheint es Spaß gemacht zu haben.“
„Wäre ja auch sonst kein Freak“, gab ich zurück. „Kümmere
dich nicht weiter um mich. Bin gleich verschwunden.“ Mein
Haar klebte an mir, der zuvor stechende Schmerz wandelte

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sich. Er würde bleiben, dumpf und mahnend. Meine Haut hatte
erneut gelitten, doch darauf kam es nicht an. Langsam erhob
ich mich und wankte aus dem Raum. Meine Lust war fast ge-
stillt. Es fehlte noch das Normale. Etwas, das mir zeigte, dass
ich nicht völlig den Verstand verloren hatte.
Trotz der Wunden fand ich mich nur Minuten später im Dar-
kroom wieder; ein Raum, der seinem Namen alle Ehre mach-
te. Es war derart finster, dass ich die Hand nicht vor Augen
sah.
Aber drauf geschissen – was wollte ich irgendwelche Hände
sehen? Hier kam es darauf an, zu fühlen. Nicht nur Hände,
sondern auch Zungen, Füße und Schwänze, manchmal auch
Fötzchen. Noch hielt die Droge aus dem S/M-Raum an, war es
mir möglich, mich fallen zu lassen. Der Schmerz, der durch die
Berührungen erneut ausgelöst wurde, die zärtlichen Streichel-
einheiten und schließlich ein Typ, der mit seinem Gerät umzu-
gehen wusste, ließen mich ein letztes Mal kommen. Laut, un-
gezügelt, ungebremst. Jemand schrie, als ich ihm den Rücken
aufkratzte. Musste die Kleine gewesen sein, deren Schnecke
ich geleckt hatte. Dunkelheit konnte ein Segen sein.
Als ich den Club verließ und in meinen Wagen stieg, hatte
sich der Himmel bereits grau verfärbt. Nicht mehr lange, und
die Sonne würde ein trübes Licht durch die dichte Wolkende-
cke schicken..

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Es war mir kaum möglich, mich richtig zu setzen. Mein
Rücken fühlte sich an, als würde er in Flammen stehen. Der
Flush war vorbei. Keine Spur von Nachgefühl, geilen Empfin-
dungen oder Erotik war zurückgeblieben. Ich hasste das Le-
ben, ich hasste mich. Die Kleine in der Folterkammer hatte
recht – aus dir ist nichts anderes geworden als ein beschisse-
ner Freak. Geht es so weiter, bist du in ein paar Jahren tot.
Na, wäre nicht die schlechteste aller Lösungen. Vielleicht so-
gar die Beste – wer weiß.

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Kapitel 3

14. Dezember 2005, 10:30 Uhr / New York City (Queens)

„Fahr schon zu, du Penner. Kommst du aus New Jersey,


oder was ist los?“ Meine Stimme klang wütend, während ich
den Kopf zum Wagenfenster raus streckte und den völlig ver-
datterten Fahrer eines Vans anschrie. Der hatte vor einem
kleinen Lebensmittelladen den Motor seines Wagens abge-
würgt und gestikulierte nun hilflos. Er startete, ein Köff-Köff er-
klang – dann ging der Motor wieder aus. Abermals wedelte er
hilflos mit der Hand.
Mein Blick fiel auf die im Armaturenbrett eingelassene Uhr.
Die Zeit drängte. Einen Kunden warten zu lassen war noch nie
eine gute Idee gewesen.
„Jetzt bekomm die Karre in Gang, ehe ich dir den Arsch auf-
reiße“, brüllte ich. „Pisser!“
Hinter mir hupte ein Taxifahrer wie verrückt. Auch er ging mir
auf die Nerven. Zur Strafe bekam er den schlimmen Finger zu
sehen.
Ein weiterer, fruchtloser Versuch, den Van zum Laufen zu
bringen verwandelte die Situation vor mir allmählich in ein Dra-
ma. Schwer seufzend sank ich zurück. Etwas, das ich auf-

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grund meiner Wunden sofort bereute. Obwohl eine Schichte
Dexpanthenol sowie eine Lage Mullbinden die Striemen ab-
deckte. Lori, meine Mitbewohnerin, hatte mich versorgt. So
wie stets nach solch einer Session.
Das Appartement, in dem ich lebte, war eines der wenigen in
Maspeth, Queens. Es gehörte zu den Co-Ops in der Maurice
Avenue. Der Besitzer hatte es vermutlich erworben, um sein
Geld vor dem Fiskus zu verstecken. Nicht gerade ein Loch,
aber Luxus sah anders aus.
Eine kleine Küche, ausgestattet mit dem absolut Notwen-
digsten. Ebenso das Wohnzimmer. Glotze, ein DVD-Player
und ein Schrank, in dem man ein paar Sachen unterbringen
konnte.
In den Schlafzimmern war es so eng, dass man sich zwi-
schen Bett und Wäscheregalen hindurch zwängen musste.
Die Fenster im Bad ließen sich nicht öffnen, der Hahn der Du-
sche tropfte und aus dem Abfluss roch es faulig.
Schaute man aus der Wohnung hinaus auf die Straße, sah
man ein kleines Einkaufscenter sowie meist auch Herby den
Penner, der hier bereits zu einer Institution geworden war. Nie-
mand wusste, wie er wirklich hieß. Sie hatten ihn schon Herby
gerufen, als ich hier eingezogen war und vermutlich würden
sie ihn noch so rufen, wenn mich die Würmer fraßen. Voraus-
gesetzt, mein Ende kam vor seiner Leberzirrhose. Denn wenn
Herby etwas konnte, dann war es das Trinken.

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Da ich mir die Miete nicht alleine leisten konnte, teilte ich mir
die drei Zimmer, Küche und Bad mit einer Stripperin – eben
Lori. Kaum erwachsen, aber mit einem Körper gesegnet, der
die meisten Männer schwach machte. Und manche Frauen
auch.
Wickelte sie sich nicht gerade um eine Stange, hing sie ihren
Träumen nach. Nur noch ein paar Monate, dann gehe ich aufs
College. Oder ich suche mir einen wohlhabenden Mann, ver-
drehe ihm den Kopf und lebe glücklich bis zum Ende aller
Tage.
Inzwischen wohnten wir seit drei Jahren zusammen. Und sie
tanzte noch immer.
Im Grunde genommen war sie eine Liebe. Man durfte ihr nur
nicht zu deutlich zeigen, dass man sie mochte. Tat man es,
wich sie einem nicht von der Seite. Ihre Eltern betrieben in
Wyoming eine kleine Farm. Von New York City aus war das
weiter entfernt als der Mond. Entsprechend groß war ihr Ver-
langen nach etwas Nähe. Vielleicht hätten wir einander Halt
geben können. Aber damals war ich für solche Dinge nicht be-
reit und später ergab sich dazu keine Gelegenheit mehr. Aber
das ist eine andere Geschichte.
Der Van vor mir verwandelte sich in ein Känguru. Zumindest
erweckte er den Anschein, als er mit drei, vier Sätzen auf eine
Parkbucht zuhüpfte und dort mit einem letzten Köff sein Leben
auszuhauchen schien. Zumindest ist die Straße frei. „Danke

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für die Verspätung“, rief ich dem Fahrer zu, der wieder ent-
schuldigend gestikulierte. Offenbar war es nicht sein Tag.
Am liebsten hätte ich Gas gegeben, auf die Geschwindig-
keitsbegrenzung gepfiffen und es so zumindest einigermaßen
pünktlich zu meinem Termin geschafft. Aber der einsetzende
Schneefall machte auch diese Idee zunichte. Dichte, weiße
Flocken fielen vom Himmel. Sie wurden vom Wind, der seit
Stunden durch die Gassen fegte, aufgewirbelt und bildeten
einen derart dichten Vorhang, dass man kaum noch etwas
sah. Die Scheibenwischer schafften es nicht, die Menge an
gefrorenem Wasser beiseite zu schaffen. Auch das Gebläse,
welches unaufhörlich warme Luft gegen das Glas pustete,
schien hoffnungslos überfordert. Das darf doch alles nicht
wahr sein.
Stück für Stück ging es weiter. Ein Glück, dass Brooklyn di-
rekt an Queens grenzt. Sonst müsste ich meinen Termin absa-
gen. Vor mir tauchte die Silhouette eines anderen Autos auf.
Es gelang mir gerade noch, rechtzeitig zu bremsen. Keine
zwei Zentimeter trennten unsere Stoßstangen.
Im Radio spielten sie Let it snow. Humor hatte der Moderator
...
Noch einmal dachte ich an Lori. Sie konnte nicht begreifen,
warum ich mich hin und wieder peitschen ließ. So wenig, wie
sie etwas mit meinem Spruch hatte anfangen können, den sie
in solchen Fällen zu hören bekam: Der Schmerz befreit.

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Solche Dinge waren ihr völlig fremd. Sie tanzte, trieb es nicht
mit den Besuchern des Clubs und suchte die große, wahre
Liebe. Etwas, das ich einst gefunden hatte. Bis es mir von ei-
ner Bestie genommen worden war. Seitdem konnte mich die
wahre Liebe am Arsch lecken.
Das Lied war zu Ende, der Sprecher vermeldete Stau. An-
schließend riet er uns, auf die Bahn umzusteigen. Depp.
Ich schaute aus dem Fenster - und wich erschrocken zurück,
als ein Typ mit rotem Mantel und ebensolcher Mütze in den
Wagen starrte. Scheiße, Santa, schoss es mir durch den Kopf.
Er hob eine Spendendose und rappelte damit. Auf mein Kopf-
schütteln hin rappelte er lauter, verzog sich aber dann.
Zwei Jugendliche liefen über die Straße. Dabei bewarfen sie
sich gegenseitig mit Schnee. Einer strauchelte und schon lag
er auf der Schnauze. Das ist New York City, Baby. Die Stadt,
die niemals schläft. Love it or leave it! Okay, ich packe dann
mal ...
„Wissen Sie, wo Sie Weihnachten verbringen werden? Und
wie? Versuchen Sie es doch einmal mit einem köstlichen, tra-
ditionellen Dinner in festlicher Umgebung. Das Delikatessen-
haus Chez Henry erwartet Ihrer Reservierung. Jeder Gast er-
hält ein hochwertiges Geschenk.“
Ein Jingle zeigte das Ende des kurzen Werbeblocks an. Auf
ihn folgte Meat Loaf. Wie eine Fledermaus aus der Hölle ...

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Es ging weiter. Für einen Moment ließ das Schneetreiben
nach, die Sicht war frei.
Ich gab Gas. Queens blieb zurück, Williamsburg lag vor mir.
Ein Viertel, das sich in den letzten Jahren gemausert hatte. In-
zwischen war es ein Hochzentrum für Kultur, Künstler und
Querdenker. Eine neue Selbstverständlichkeit, die sich beson-
ders in einem Graffiti ausdrückte. Willkommen im wahren New
York stand an einer Wand zu lesen. Aber bei diesem Wetter
war kein Unterschied zu erkennen zwischen dem wahren und
dem unwahren New York. Die Menschen hetzten die Gehwe-
ge entlang. Ein Räumfahrzeug türmte Schneemassen rechts
der Straße auf. Kinder genossen das Chaos, Erwachsene ver-
fluchten es.
Ich nahm die Bedford Ave aus Williamsburg raus und hielt
auf den Prospect Park zu. Rechts von mir führte eine Bahnli-
nie entlang. An ihr orientierte ich mich, bog schließlich ab und
gelangte in eine kleine Nachbarschaft, in der die Menschen
nicht gerade mit finanziellen Mitteln gesegnet waren. Alte Häu-
ser, teils windschief und schmutzig. Dazu ungepflegte Vorgär-
ten und rostige Wagen. Eine Wäschespinne stand vor einem
der Gebäude. Natürlich war sie nicht bestückt, doch mit ihren
vier Armen und den teils gerissenen Seilen dazwischen wirkte
sie wie ein Menetekel.
Suchend ließ ich meinen Blick schweifen. Schließlich fiel mir
ein blauer Lieferwagen auf. Er parkte vor einem grauen Alt-

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bau, aus dessen Schornstein dunkler Rauch stieg. Die Fenster
im Erdgeschoss waren vergittert, im Ersten hingen leere Blu-
menkübel außen an den Fensterbrettern.
Langsam fuhr ich an dem kleinen LKW vorbei. Jay-Jay Sum-
mers – Repossession Agent2 stand auf der Fahrertür. Der
Mann in der Kabine winkte mir zu. Noch während ich meinen
Wagen vor seinem zum Halten brachte, stiegen er und ein
Kollege aus. Kaum stand ich neben ihm, schüttelte er meine
Hand.
„Jay-Jay Summers, Miss Cohen. Schön, dass Sie da sind.
Bei dem Mistwetter war es nicht einfach, oder?“
Zu meiner Erleichterung zeigte er Verständnis. Etwas, dass
man wahrlich nicht bei allen Kunden voraussetzen durfte.
„Nein. Erst blockierte ein Idiot mit einem Van die Fahrbahn,
dann kam der Schnee. Aber jetzt bin ich ja da. Worum geht es
denn?“
Der Repo-Man deutete mit dem Finger auf das graue Haus.
Hinter der Scheibe konnte ich ein Gesicht ausmachen. Es ge-
hörte einem Kind, kaum älter als zehn. „Sie haben eingekauft
und nun kommen sie mit den Raten nicht nach. Ich hab eine
Liste, was wir holen sollen. Wir hatten es vor drei Tagen schon
einmal versucht. Damals schoss der Spinner auf uns. Nun ha-
2
Umgangssprachlich „Repo-Man“. Holt im Auftrag von Banken
oder Geschäften geleaste oder auf Raten gekaufte Ware zurück,
wenn der Kunde binnen einer gewissen Frist nicht zahlt.

43
ben wir nicht nur den Pfändungstitel von Macy’s, sondern auch
einen Gerichtsbeschluss, um uns die Sachen notfalls mit Ge-
walt zu holen.“
„Macy’s?“, fragte ich. „Dort haben die Leute eingekauft? Wie
kamen die denn auf die Idee?“
„Weiß der Geier. Noch unverständlicher ist mir aber, wieso
sie beliefert wurden. Eigentlich müsste man dem Sachbearbei-
ter in deren Kreditabteilung auch in den Arsch treten. Na, mich
kümmert es nicht. Wir arbeiten die Liste ab – fertig.“
„Sie haben Kinder“, gab ich zu bedenken. Er nickte betrof-
fen.
„Ich weiß. Spielzeug steht auch auf der Liste. Traurig. Wirk-
lich traurig.“
Zu dritt machten wir uns auf den Weg durch den Vorgarten.
Das Gesicht am Fenster war verschwunden. Dafür wurde die
Tür geöffnet. Eine Frau und ein Mann traten vor. Zu meinem
Entsetzen hielt er ein Gewehr in der Hand.
„Was wollen Sie?“, schnarrte der Schuldner. Noch hielt ich
mich dezent im Hintergrund. Erst war der Repo-Man dran.
Hatte er keinen Erfolg, würde mein Einsatz kommen – notfalls
mit Waffengewalt. Möge der Himmel verhindern, dass das nö-
tig wird. Hier, vor den Kindern ...
„Mister Bradock. Sie sind mit Ihren Raten im Rückstand. Wir
sind hier, um gewisse Dinge abzuholen. Ist ja nicht das erste
Mal.“

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„So?“, fragte Bradock lauernd. „Diesmal zu dritt? Ihr denkt
wohl, auf eine Frau würde ich nicht schießen. Aber das ist ein
Irrtum. Verpisst euch lieber. Das Zeug bekommt ihr nicht. Wir
treiben das Geld irgendwie auf, aber wir lassen euch nicht
rein,“
„Wir haben einen Pfändungsbeschluss und sind autorisiert,
notfalls Gewalt anzuwenden.“
Die Stimme des Repo-Mans hatte sich verändert. Ich sah,
dass das Gesicht am Fenster wieder da war. Mehr noch – nun
waren es zwei. Das eines kleinen Mädchens war hinzu ge-
kommen. Ich hasse solche Jobs. Herr, lass Geld vom Himmel
regnen, damit die Spinner zahlen können. Alles was kam war
noch mehr Schnee. Scheiße.
„Gewalt?“, fragte Bradock. „Wie das?“
Ich trat vor und öffnete meinen Mantel. Die Pistole wurde
sichtbar. „Machen Sie keinen Ärger, Mann. Nicht hier vor den
Kids. Wir gehen rein, erledigen unseren Job und verschwinden
wieder. Alles ganz friedlich. Sollte es Probleme geben, werde
ich keine Sekunde zögern, sie auf meine Art zu lösen.“
Etwas in meiner Stimme musste ihm gesagt haben, dass ich
es verdammt ernst meinte. Sein Blick flackerte. Dann ließ er
die Waffe sinken. Seine Frau, die sich bisher bei ihm unterge-
hakt hatte, brach in Tränen aus. „Lassen Sie uns wenigstens
das Spielzeug. Es ist doch bald Weihnachten.“

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Der Repo-Man sagte nichts. Er hatte seine Liste und der
Kram stand darauf.
Gemeinsam betraten wir das Haus. Meine Kunden machten
sich daran, die noch nicht vollständig bezahlten Dinge einzu-
sammeln. Ich schaute mich derweil um, behielt aber vor allem
die Schuldner im Blick. Noch immer umklammerte Bradock
sein Gewehr. Kam es zu einer Kurzschlusshandlung, konnte
die Situation binnen einer Sekunde kippen.
Es lag in der Luft. Ich konnte es förmlich wittern. Schließlich
war dies nicht mein erster Job dieser Art.
Mrs. Bradock schluchzte noch immer. Sie hätte die Kinder
wegschicken sollen, doch statt dessen hielt sie diese umarmt,
als seien es ihre Rettungsanker. Vielleicht wollte sie auf diese
Art an das Mitleid in uns appellieren.
Vielleicht auch nicht. Warum nimmst du immer das Schlech-
teste von den Leuten an, Becca? Ach ja – weil die Welt aus
lauter Scheiße besteht.
Ihr Mann verfolgte die Arbeit der Repos. Er schwieg, aber in
seinem Gesicht arbeitete es. Ein Sektkorken, kurz bevor er
aus dem Flaschenhals schießt. So kam er mir vor.
Ich hatte die Jacke geöffnet. Beide Hälften schwangen lo-
cker. Doch nun schob ich die rechte Seite nach hinten und leg-
te die Hand so, dass die Waffe jederzeit erreichbar war. Eine
Geste, die er verstehen musste.
Schade, dass ich nicht verstand.

46
Vorsichtig schaute ich mich noch einmal um. Das Elend wirk-
te beklemmend. Küche und Wohnzimmer waren eins, geteilt
nur durch eine kleine Theke. Auf dem Herd stand kalter Ein-
topf. Alte Comics lagen herum, dazwischen ein schmutziger
Slip. Es stank nach Nikotin. Briefe stapelten sich. Manche
steckten noch in ihren Umschlägen, andere lagen offen. Rech-
nungen, Mahnungen, Drohungen. Die gesamte Palette.
Das zweite Mal binnen kürzester Zeit, dass ich mit solchem
Elend konfrontiert werde. Gestern die Bronx, heute das. Kann
mich nicht mal wieder ein Millionär als Bodyguard buchen?
Die Farbe an den Wänden war vergilbt. Alte Bilder hingen an
krummen Nägeln. Wie lange mochte der Mann schon ohne Ar-
beit sein? Oder die Frau? Die Möbel sahen aus, als würden
sie jeden Moment auseinander fallen. Dem Fernseher erging
es nicht besser. Allerdings klemmte an dessen Antennenan-
schluss ein kleiner, silberner Kasten. Illegales Kabel-TV, wie
es schien. Einen Videorecorder haben sie auch. Sogar recht
neu und... Okay, sie hatten ihn. Noch während ich ihn im Geis-
te begutachtete hatte, war einer der beiden Repos zu ihm mar-
schiert. Nun befand sich das Ding auf dem Weg zum Lieferwa-
gen.
Bradock regte sich kaum. Seine Hand umklammerte den
Griff des Gewehrs, sein Kiefer bewegte sich hektisch. Sonst
stand er still.

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Ich konnte ihm nicht befehlen, die Waffe abzulegen. Nicht,
ehe er uns damit erneut bedrohte. Schließlich war es sein
Haus.
„Gut“, erklärte mein Kunde nach einer Weile. Nacheinander
waren neben dem VCR auch ein Radio, eine Mikrowelle, ein
Satz antihaftbeschichteter Pfannen, ein Staubsauger sowie
vier Stühle hinausgetragen worden. Eine Terrakotta-Vase hät-
te in den Wagen sollen, war aber letztlich stehen geblieben.
Ein Riss machte sie unbrauchbar. „Und nun noch zwei Dinge.
Die elektrische Eisenbahn und ein Puppenhaus. Wo finden wir
diese Sachen? Im Kinderzimmer?“
Sofort brachen die Kinder in Geschrei aus. Durchdringend
und schrill. Sie klammerten sich an ihre Eltern und begannen,
Schlagworte zu skandieren. Die bösen Männer sollen gehen.
Es sind unsere Sachen, ihr habt sie uns geschenkt. Ich gebe
meine Eisenbahn nicht her. Das schöne Puppenhaus. Mama,
tu doch was. Papa – bitte.
„Ja, ich werde etwas tun“, schrie Bradock. Er stand kurz vor
der Explosion. Darum reagierte ich nun.
„Nein, das werden Sie nicht. Sie und ihre Familie gehen jetzt
in ein anderes Zimmer, bis wir fertig sind. Das ist mir zu heiß.“
Ich griff unmissverständlich nach meiner Waffe. „Also – Ab-
marsch.“

48
Zum Glück reagierte in diesem Moment Mrs. Bradock beson-
nener als ihr Mann. Sie nickte und wandte sich ab, die Kinder
mit sich nehmend. Der Schuldner fixierte mich indes wütend.
„Gehen Sie, Mister Bradock. Oder wollen Sie vor ihren Kin-
dern wirklich derart die Beherrschung verlieren?“ Ich versuch-
te, eindringlich zu klingen.
„Lecken Sie mich am Arsch, Sie blöde Kuh.“ Er folgte seiner
Familie in einen anderen Raum. Ich sah, dass es sich dabei
um das Bad handelte. Die Tür fiel ins Schloss, die Gefahr war
gebannt.
Während sich die beiden Repos auf die Suche nach dem
Kinderzimmer machten, blieb ich im Flur stehen. Sie konnten
dort drinnen aufs Klo gehen und Wasser trinken. Es gab also
keinen Grund, hinaus zu kommen. Nicht, bis wir fertig waren.
Hinter mir wurde Geschrei laut. Mrs. Bradock beschimpfte ih-
ren Mann, an der Misere Schuld zu sein. Warum hast du nicht
um deinen Job gekämpft, dein Schwager hat dir was angebo-
ten, dein elender Stolz bringt uns ins Armenhaus.
Sie feuerte ihren Hass in rascher Folge auf ihn ab. Zu
schnell, als dass er hätte antworten können. Die Kinder, die
bis zu diesem Moment gejammert hatten, verstummten.
„Ich habe die Schnauze voll“, kreischte Mrs. Bradock nun.
„Sieh nur, wie weit wir gekommen sind. Sie nehmen unseren
Kindern das Spielzeug weg. Du bist ein Versager. Ein elender
Versager.“

49
Für einen Moment herrschte Stille. „Du hältst mich für einen
Versager?“, giftete ihr Mann zurück. Ich schaute zu meinen
Kunden. Wie lange brauchen die denn? Ich will verschwinden.
„Und was ist mit dir? Hast du dich mal um eine Stelle bemüht?
Putzen kann sogar eine blöde Kuh wie du.“
Und das vor den Kindern. Man sollte sie alle beide mit den
Köpfen gegen die Wand schlagen.
„Leck mich“, schrie seine Frau. „Ich werde meine Kinder
nehmen und zu meinen Eltern ziehen. Dann kannst du in dei-
nem Elend ersticken. Wenn die Scheidung durch ist, wirst du
unter der Brücke hausen, du Versager!“ Wieder trat eine kurze
Stille ein. „Ach komm, das kann doch nicht dein Ernst sein.
Was willst du denn mit dem ...“
Ein Schuss fiel, etwas polterte.
Fluchend wirbelte ich herum, trat die Tür ein und erfasste die
Situation. Bradock hatte tatsächlich seine Frau erschossen.
Sie lag merkwürdig verkrümmt vor einem Waschbecken und
der Toilette. Zwischen den Augen war das Einschussloch zu
sehen, doch hinter ihrem Kopf floss Blut hervor. Sie war tot,
daran bestand kein Zweifel.
Der Mann wirbelte herum. Sein Blick war der eines Irren. Ich
glaubte nicht, dass er bewusst gehandelt hatte. Vielmehr wirk-
te es auf mich, als sei er am durchdrehen. Seine Hände mit
dem Gewehr beschrieben einen Bogen. Ich wusste, dass er

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auch auf mich schießen würde, vermutlich auch auf seine Kin-
der, die Repos und am Ende vielleicht auf sich.
Dazu kam es nicht mehr.
Abermals fiel ein Schuss, diesmal jedoch aus meiner Beret-
ta. Die Kugel traf den Mann in die Brust und schleuderte ihn
nach hinten in die Dusche. Zwar feuerte er noch einmal, doch
das Geschoss hieb in die Decke. Putz und Steine regneten
hinab.
Die Kinder standen reglos in einer Ecke. Sie starrten mich
an. Versteinert. Sie schrien nicht, sie weinten nicht. Sie starr-
ten nur. Für einen Moment erfasste mich eine Welle heißen
Mitleids. Wie verdammt genau wusste ich um den Schmerz,
wenn einem die Familie genommen wird. Nur dass ich kein
Monster war, sondern nur meinen Job getan – und ihnen ver-
mutlich das Leben gerettet hatte.
Ich schaute auf Bradock. Auch er war tot. Hinter mir tauchten
die Repos auf. „Scheiße“, flüsterte Summers.
„Ja, Scheiße“, gab ich zurück. „Hätte ihm das Gewehr abho-
len sollen. Aber das wäre nicht so einfach gewesen.“
„Scheiße“, wiederholte Summers. „Und die Kinder? Was wird
mit denen?“
„Nicht meine Sache“, murmelte ich, holte mein Handy hervor
und wählte die 9-1-1. Meine ehemaligen Kollegen würden sich
freuen, die Sache zu übernehmen. So, wie sie sich über einen

51
Besuch beim Zahnarzt freuen würden, dem das Novocain aus-
gegangen war.

„Frank – das Leben ist nichts als eine beschissene Müllhal-


de. Ist dir das klar? Eine stinkende Anhäufung widerlicher Ab-
fälle. Hin und wieder findet man ein paar mit Eiter besprenkel-
te Fäkalien darunter und alles zusammen ergibt eine Masse,
die einen auf Dauer umbringt.“
Der Wirt der kleinen Kneipe starrte mich streng an. „Noch so
ein paar detaillierte Ausführungen, und ich kotze hinter meinen
Tresen.“ Er schob mir eine zweite Flasche Budweiser zu.
„Hier, damit du die Schnauze hältst. Nuckel dran.“ Er griff nach
einem Handtuch und begann, die Theke abzuwischen.
Hinter ihm hing ein Spiegel an der Wand. Ich konnte mich
selbst darin sehen. Heineken stand meinem Spiegelbild quer
über die Nase und Wangen geschrieben, der rote Stern der
Brauerei prangte auf der Stirn wie das Mal einer Inderin.
Es war kurz vor sechs. Perfekt, um den Tag zu beenden.
Nach all dem Mist, den dieser eine Auftrag gebracht hatte, war
mir verdammt nach einen Absacker.
Countrymusic dudelte aus den Boxen einer Wurlitzer; dem
einzig Wertvollen in dem Schuppen. Sie stammte aus den
Fünfzigern und enthielt noch einige Raritäten. Die ganz
großen Stücke waren allerdings bei einem Einbruch in den
90ern gestohlen worden.

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Was in drei Teufels war das heute? Dieser verdammte Job!
Die Gesichter der Kinder gingen mir nicht aus dem Kopf. Ihre
Blicke, ihre versteinerten Mienen. Sie hatten einen Schrecken
erlebt, den Kinder nie erleben sollten. Und sie hatten keine
Bestie, der sie die Schuld dafür geben konnten. Vielleicht wür-
den sie mich hassen, vielleicht Summers und seinen Kollegen.
War das besser, als einem unbekannten Wesen die Verant-
wortung für all den Mist in die Schuhe zu schieben? Ich nahm
einen tiefen Schluck Bier. Das Budweiser war kalt, mein Zorn
auf die Gesellschaft, Politiker und all die anderen Penner da
draußen loderte hingegen heiß.
Warum nehme ich nicht einfach die Knarre und mache es
wie dieser Pisser heute? Ein kleiner Amok-Lauf, ein paar Hu-
rensöhne zum Teufel gejagt, die es verdient haben... Irgend-
wann wird mich die Polizei schon stoppen.
Mein Rücken schmerzte. Es waren keine wirklichen Pläne,
die Sache mit dem Amok-Lauf. Eher eine Art schräger Humor.
Nie wäre mir der Gedanke gekommen, Unschuldige abzuknal-
len. Wenn, dann nur mich.
In den Wochen nach dem Tod meiner Eltern und Patrick hat-
te ich mehr als einmal das kalte Metall der Dienstwaffe ge-
schmeckt. Mir war der Gedanke tröstlich erschienen, mir ein-
fach das Hirn aus dem Schädel pusten zu können, um all mei-
ne Schmerzen mit einem letzten Knall zu beenden.
Getan hatte ich es nicht. Weiß der Himmel, warum.

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Überlebenswille?
Selbsterhaltung?
Feigheit?
Faulheit, Abschiedsbriefe zu schreiben oder Rücksicht auf
die Kollegen, die mich gefunden und aus dem Haus hätten
schleppen müssen?
Drauf geschissen.
Vor mir verschwammen die Eindrücke. Die Theke, das Bier,
die Musik. Stimmen im Hintergrund, jemand lachte und ein Kö-
ter kläffte auf der Straße. Meine Händen zitterten, die Strie-
men auf meinem Rücken brannten, als würde das Alien durch-
brechen. Schweiß lief mir über die Stirn. Becca, du bist am
Ende. Nicht mehr lange, und sie kratzen dich von der Straße
ab.
Fahrig fischte ich eine Xanax aus meiner Tasche und spülte
sie mit dem nächsten, tiefen Schluck hinunter. Mein Arzt ver-
schrieb mir das Zeug, wie ich es brauchte. Hin und wieder gab
ich Lori was davon ab. Immer dann, wenn sie mal wieder
glaubte, ihr Leben versaut zu haben.
„Mann Becca, du siehst so scheiße aus“, ließ mich Frank
wissen. „Völlig am Ende. Du solltest Urlaub machen. Fahr
doch mal in die Berge.“
„Noch so ein Spruch – Nasenbruch“, presste ich mit ge-
schlossenen Augen hervor. „Merk dir eines, Frank: Frauen

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wollen nicht hören, dass sie scheiße aussehen. Und Urlaub ist
was für Leute, die es sich leisten können.“
„Wie du meinst. Mach so weiter, dann landest du mit einem
Zusammenbruch im Krankenhaus. Ist neulich erst meinem
Schwager passiert. Birne durchgeknallt – weg war er.“
„Neulich? Die Story gibst du zum Besten, seit ich hierher
komme. Manchmal frage ich mich, ob sie nicht nur eine Aus-
geburt deiner Fantasie ist.“
Der Wirt knurrte und begann erneut, über die Theke zu wi-
schen. „Fantasie“, grummelte er dabei. „So was ...“
Grinsend leerte ich das Bud. Der Sound aus der Wurlitzer
hatte sich verändert. Kein Country mehr, sondern harter Rock.
Er dröhnte zwischen den Wänden des Lokals wider, aber auch
in meinem Schädel.
Perfekt, um die Kinder aus dem Kopf zu bekommen.

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Kapitel 4

15. Dezember 2005, 08:00 Uhr / New York City (Queens)

Charlie Lane hat angerufen. Er will dich sehen.


Es geht um einen Job, hat er gesagt. Du sollst
morgen um zehn in sein Büro kommen.
Lori
Der Kaffee – es war löslicher, da ich keine Lust auf Maschi-
ne, Filter und den Mist hatte – schmeckte abgestanden. Drau-
ßen tappte Herby herum. Spuren hinterließen seine Füße kei-
ne mehr, denn den Schnee, der über Nacht gefallen war, hat-
ten schon andere festgetreten. Er schob einen Einkaufswa-
gen, in dem ein paar Dinge lagen. Seine braune Jacke war
ihm zwei Nummern zu groß, sein Hut wies ein Loch auf.
Mit dem Finger strich ich über den Zettel. Charlie vermittelte
mir hin und wieder Aufträge. Kautionsflüchtlinge, aber auch
Leibwächterjobs, Problemfälle und Ermittlungen. Eine Lizenz
als Privatdetektiv kostete in New York City knapp 20 Dollar.
Darum besaß sie fast jeder Kopfgeldjäger . Es gab einfach
nicht genug Spinner, die ihrer Verhandlung fern blieben. Also
musste man für alles offen sein. Eine der Grundregeln, die ich
sehr schnell begriffen hatte, als ich auf eigene Kappe zu arbei-

56
ten begann. Dass man dabei an Leute wie Charlie gerät, hatte
mir hingegen niemand gesagt. Er behauptete zwar, Geschäfts-
mann zu sein. Doch wann immer ich zu ihm fuhr kam es mir
vor, als sei er mein Zuhälter.
Die Schmerzen auf meinem Rücken ließen mehr und mehr
nach. Dennoch war die Haut längst nicht verheilt. Mal sehen,
was er für mich hat. Hoffentlich nicht noch so einen Scheiß wie
gestern. Würde mich ankotzen.
Laut Verkehrsbericht waren die Straßen einigermaßen frei.
Außerdem hatte der Himmel aufgeklart. Nur noch vereinzelt
zogen Wolken über die Stadt hinweg. Die Chancen standen
gut, in keinen weiteren Sturm zu geraten.
Ich kippte den Rest des Kaffees weg und schlenderte, nur
mit meinem Sleepshirt bekleidet, ins Bad. Zu spät bemerkte
ich, dass dieses bereits besetzt war. Ein Mann stand vor der
Toilette und pinkelte. Er drehte den Kopf, als ich eintrat. Sein
Erstaunen wich einem obszönen Grinsen. Das verstärkte sich
noch, als ich ihn ignorierte, mein Shirt über den Kopf streifte
und unter die Dusche ging. Lori brachte öfters Freunde mit in
die Bude. Früher hatte ich sie gebeten, mich zumindest zu
warnen. Inzwischen ließ es mich kalt. Immerhin war dieser hier
angezogen.
„Wen haben wir denn da?“, rief der Fremde gegen das Rau-
schen des Wassers an. Was dagegen, wenn ich mit dir unter
die Brause schlüpfe?“

57
„Nein“, gab ich zurück, zog den Vorhang zur Seite und rich-
tete den Wasserstrahl auf ihn. Sein Hemd und seine Hose
wurden nass, er zuckte zur Seite – und pinkelte sich dabei auf
die Schuhe.
„Scheiße“, schrie er. „Was für ein Miststück bist du denn?“
„Eins, das dir gleich in den Arsch tritt. Verpiss dich bloß, ehe
ich handgreiflich werde. Und bevor du einen Spruch machst –
ich bin ein Ex-Cop und eine Kopfgeldjägerin.“
Es war ein Standard-Satz in solchen Fällen. Bisher hatte er
noch nie seine Wirkung verfehlt. Auch hier griff er. Der Typ
schluckte ein paar Beleidigungen runter, zog den Reißver-
schluss seines Hosenstalls in die Höhe und stürmte aus dem
Bad. „Deine Freundin ist völlig durchgeknallt!“, kreischte er zu
Lori, die ebenfalls aus dem Zimmer gekommen war. „Fuck, ich
habe mir auf die Schuhe gepisst!“
Die Abschlusstür fiel ins Schloss, noch ehe meine Mitbewoh-
nerin etwas erwidern konnte. Ratlos kam sie ins Bad. „Was
war denn mit dem?“
„Fragte, ob er mit mir duschen dürfe. Also bekam er eine Du-
sche. Scheint ein ziemlicher Spinner zu sein.“
Sie zuckte mit den Schultern. „Mag sein. Aber er leckt we-
nigstens. Die meisten Typen stehen drauf, wenn man ihnen
einen bläst. Aber lecken tun sie nicht. Ihn brauchte ich nicht
mal zu bitten. Kaum lagen wir um Bett, krabbelte er auf mich
und schob mir seine Zunge zwischen die Lippchen.“

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Sie nahm auf der Toilette Platz und ließ es laufen. „Hast du
meine Nachricht gesehen?“
„Ja, danke. Bin schon so gut wie auf dem Weg. Der Dezem-
ber ist immer flau. Das wird nächste Woche noch schlimmer.
Vielleicht kann ein Auftrag von Charlie was reißen. Weihnach-
ten scheint die Leute zu lähmen. Plötzlich erstarrt alles im
Taumel, weil man sich mit Punsch und Braten vollstopfen
kann. Von den Geschenken ganz zu schweigen.“
„Du verstehst das nicht“, gab meine Mitbewohnerin lachend
zurück. „Du bist Jüdin. Solltest du nicht Chanukka feiern?“
„Sollte ich. Aber da mir Jahwe den Buckel runter rutschen
kann, feiere ich auch kein Lichterfest. Wo war der Sack, als
meine Eltern umgebracht wurden? Hielt er seine Hand über
Patrick? Nein. Also werde ich auch keine Gebete sprechen
und ihm keine Lieder singen. Soll er sich an die anderen, gläu-
bigen Deppen halten. Die bereiten ihm viel mehr Freude als
ich. Er hat mir auch nie welche bereite.“
„Schön, wenn jemand im Reinen ist mit seiner Religion.
Mach es wie ich – werde eine Wicca.“ Damit war das Thema
vorerst erledigt, denn sie putzte sich ihre Zähne.
So bescheiden ich auch lebte, so viel Wert legte ich auf mei-
ne Pflegeserie. Ein gutes Shampoo, damit meine Haare glänz-
ten und ihre Spannkraft behielten. Dafür sorgte auch die Kur-
spülung, die ich mir ins Haar schmierte.

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Das Duschgel war garantiert rückfettend, roch angenehm
und verlieh meiner Haut etwas Samtenes. Eine Bodylotion
sorgte für die Feuchtigkeit, ein neutrales Deo absorbierte Kör-
pergeruch und ein herber Duft aus der Parfümabteilung bei
Bloomingdale’s rundete die Sache ab. Nicht zu aufdringlich,
nicht zu dezent.
Meine Zähne pflegte ich ebenfalls mit einer teuren, von mei-
nem Zahnarzt empfohlenen Creme sowie einem Mundwasser,
dass mir einen minzfrischen Atem verschaffte. Make-up nutzte
ich kaum; war nie ein Freund davon gewesen. Meist nur etwas
Hauttöner, um nicht zu blass auszusehen. Ist man in der Pri-
vatwirtschaft tätig, muss man als Frau zu solchen Dingen grei-
fen. Männer können nach Schweiß stinken und bekommen
doch den Auftrag, einen Kautionsflüchtling zu schnappen.
Frauen nicht. Die müssen dem Auftraggeber auch noch gefal-
len. Holt der sich nachts einen runter, wenn er an eine Kopf-
geldjägerin denkt, bekommt sie den nächsten Job. Spritzt er
gut, auch den übernächsten. Charlie bildete da keine Ausnah-
me.
„Willst du den Kerl verführen?“, kicherte Lori. Sie machte
sich auf den Weg unter die Dusche.
„Wen? Charlie? Für kein Geld in der Welt. Der ist derart
schmierig, dass man ihm nicht einmal die Hand geben möch-
te. Wäre er der letzte Mann auf der Welt, dann würde ich so-
fort lesbisch werden. Das garantiere ich dir.“

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Sie lachte. „Na, wenn du das sagst. Bei manchen Typen, die
in meinen Club kommen, denke ich das auch.“
„Dann mach es mal gut, mein Schnuddel-Wuddel. Heute
Abend werde ich dir meine unsterbliche Liebe gestehen und
dich anschließend bei Kerzenschein in den siebten Himmel
befördern.“
Wir lachten. „Das sagst du ja nur“, rief sie mir zu. „Und am
Ende wird es doch wieder die schnelle Nummer.“
Grinsend verschwand ich in mein Zimmer, um mich anzuzie-
hen. Geschäftlich, dachte ich dabei. Also keine schlampige
Jeans, ausgelatschten Stiefel und Norweger. Eher etwas, das
meine ‚robuste Natur’ unterstreicht.
So zumindest hatte es mal jemand ausgedrückt, als er mich
in meinen Lederklamotten sah. Auch an diesem Tag entschied
ich mich dafür. Eine schwarze Hose mit Innenfutter, eine blaue
Bluse und ein schwarzer Ledermantel. Meine Pistole fand ih-
ren Platz auf der rechten Seite, die Handschellen blieben zu
Hause. Ausweis und Portemonnaie fanden ihren Platz in der
Innentasche des Mantels. Zum Schluss schlüpfte ich in meine
Westernstiefel aus echtem, schwarzen Kunstleder. Sie hatten
keine 40 Dollar gekostet, sahen aber bedeutend teurer aus.
Wer sie sah, tippte sicherlich auf 49,99.
Im Spiegel betrachtete ich mich. Sehe ich aus wie 32? Meine
Haare waren nun zu einem Zopf geflochten. Ringe lagen unter
meinen Augen, die Nase stach etwas spitz hervor. Blasse Lip-

61
pen, hohe Wangenknochen und ein kleines Kinn. Niemand, in
den man sich vom Fleck weg verlieben würde. Zumal meine
Brüste klein und mein Hintern kaum vorhanden waren.
Schneewittchen – hat weder Arsch noch Tittchen.
Das, was von meinem Körper ansehnlich war – die Beine
vielleicht, die Oberarme sowie die athletischen Füße, trainierte
ich dreimal die Woche in einem billigen Fitnesscenter unweit
der Wohnung. Dort gab es keine Massage, keinen Whirlpool
und keine Sauna. Ja, nicht einmal eine Kunststoffbahn zum
Laufen hatten sie. Dafür ein paar Maschinen, Schweißgeruch
in der Luft, eine motivierte Trainerin und eine kleine Theke, an
der sie den wohl besten Fruchtcocktail der Welt servierten.
Und das zu einer monatlichen Pauschale, die ich mir leisten
konnte.
Schmuck fehlt noch. Ohrringe waren nicht mein Ding. Ich be-
saß nicht einmal welche. Dafür allerdings eine hübsche Aus-
wahl an anderen Zierden für Finger und Hals. Schließlich fiel
meine Wahl auf ein Set aus Obsidian, gefasst in Silber. Beides
– Ring und Kette – sah gut aus an mir.
Fertig, um einen neuen Auftrag an Land zu ziehen. So lange
es kein Repo-Man ist, bin ich zu allen Schandtaten bereit.
Glaubte ich zumindest ...

62
Kapitel 5

15. Dezember 2005, 10:10 Uhr/ Downtown Manhatten

Charlie Lane war seit meinem letzten Besuch noch schmieri-


ger geworden. Obwohl ich dies kaum für möglich gehalten hät-
te. Eine Schnecke am Arsch ist bedeutend trockener.
Er saß mir in seinem abgewetzten Bürostuhl gegenüber und
schien mich mit seinen Augen zu verschlingen. Ein debiles
Grinsen umspielte seine Lippen, aber dieser Eindruck täusch-
te. Dumm war Charlie nicht. Gierig, schleimig, widerlich und
meistens ein Arschloch. Aber nicht dumm. Obwohl er gerne
diesen Eindruck erweckte, um sich so einen Vorteil zu ver-
schaffen. Unterschätz mich, und ich reiß dir am Ende den
Arsch auf.
Unter normalen Umständen hätte ich mich nie mit ihm abge-
geben. Nur das Geld trieb mich zu ihm; sonst nichts. Dafür
nahm ich eben auch sein Schleimen in Kauf. Seine Aufträge
waren meist recht gut dotiert. Mit kleinen Fischen gab er sich
erst gar nicht ab. Darum fuhr ich zu ihm, sobald er anrief.
Einmal, aber das lag nun auch schon zwei Jahre zurück, war
ich mit ihm Essen gegangen. Um mich für einen Job zu be-
danken, der mir drei Monatsmieten gezahlt hatte. Aus einem

63
mir nicht völlig klaren Grund hatte er die Signale falsch gedeu-
tet und geglaubt, meine Dankbarkeit würde bis über die Bett-
kante reichen. Den ganzen Abend sülzte er mir die Ohren voll,
präsentierte sich im seiner Meinung nach besten Licht und
schien regelrecht entsetzt, als ich nach dem Dinner in meinen
Wagen stieg und ohne ihn nach Hause fuhr. Vermutlich muss-
te er anschließend eine halbe Stunde unter die kalte Dusche.
„Du siehst nicht gut aus, Becca“, erklärte er nun und riss
mich damit aus meinen Erinnerungen. „Harte Woche gehabt?“
„Ja. Musste einen Typen stoppen, der erst sein Frau er-
schossen hat und anschließend auf mich zielte. Das Schlimme
war, dass seine Kinder daneben standen. Also mach keine
dummen Witze, bagger mich nicht an und unterlasse jeden
Versuch, charmant zu sein. Sonst kotz ich dir hier auf den
Tisch.“
Er hob die Hand. „Habe ich je versucht, dich anzumachen?“
„Falsche Frage, Charlie. Hast du es jemals nicht versucht?“
Er lachte leise. „Ach Becca. Du bist halt eine hübsche Frau.
Manchmal kommst du mir vor, wie eine kleine, ungezähmte
Raubkatze. Das reizt einen Mann, glaub mir.“
„Ich bin keine Raubkatze. Du kennst mich eben nicht. Sonst
würdest du anders denken.“ Niemand kennt mich – die Tragik
meines Lebens. „Also, was hast du?“
Die Wintersonne schien hinter ihm durch das breite Fenster.
Die Gegend, in der sein Büro lag war alles andere als gut.

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Eine Seitenstraße des Broadways. Zwei Nachtclubs in der
Nachbarschaft, nach Einbruch der Dunkelheit flanierten die
Nutten auf der Straße und im Sommer stank es nach Abfällen.
Glanz und Glamour der Musicals und Shows blieben zurück,
sobald man in die Gassen einbog. Niemand wollte sehen, was
sich an diesen Orten hier abspielte, keiner mochte ein Teil da-
von sein. Andererseits waren die Mieten für Geschäftsräume
billig und die Adresse leicht zu finden. Den Broadway kannte
jeder. Bieg eins vor der 42. Richtung Midtown ab, und schon
siehst du mein Schild – Charlie Lane, Spezialdienste. Das
Büro ist im ersten Stock eines ehemaligen Theaters.
Was genau er unter diesem Begriff zusammenfasste, gehör-
te zu seinen Geheimnissen. Die Tatsache, dass Louis ‚Red
Hand’ Cardone, ältester Spross der Cardone-Familie, hin und
wieder bei ihm zu Gast war, ließ die Gerüchte allerdings ins
Kraut schießen.
Sein Büro war einigermaßen aufgeräumt, der Boden stets
sauber und die Fenster geputzt. Eine Mexikanerin, deren Auf-
enthaltsgenehmigung ich gerne mal gesehen hätte, putzte bei
ihm. Einzig sein Schreibtisch spottete jeder Beschreibung. Un-
ter einem Stapel Magazine, Unterlagen und loser Blätter
schaute die Tastatur seines Computers hervor, während sich
der TFT-Monitor empor reckte wie die Hand eines im Treib-
sand Versinkenden.

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Charlie wühlte sich kurz durch sein Ablagesystem, ehe er
einen roten Ordner fand und vor sich ausbreitete. Mein Name
stand darauf, mehrere Kopien und Faxe lagen darin.
„In den letzten Tagen kamen ein paar Sachen rein, die dich
interessieren könnten.“ Er nahm ein Fax zur Hand. „Eine Erd-
ölgesellschaft sucht einen Ermittler. Offenbar kam es in ver-
schiedenen Einrichtungen zu Sabotage und anderen, seltsa-
men Vorkommnissen. Ex-Polizisten würden bevorzugt einge-
stellt.“
„Klingt nicht schlecht. Leg es mal zur Seite.“
Er nickte und griff nach dem nächsten Zettel. „Jemand sucht
seine Freundin, die wohl mit einem anderen durchgebrannt ist.
Bei Erfolg winkt eine hohe Prämie.“
„Wer ist der Auftraggeber?“
Charlie schaute mich nachdenklich an. Noch ehe er etwas
sagte, begriff ich.
„Vergiss es, für die Mafia arbeite ich nicht. Wer weiß, was
die mit dem Typen machen, wenn ich das Turtelpaar gefunden
habe. Ich will nicht Schuld dran sein, wenn sich einer mit Be-
ton an den Füßen im Hudson wiederfindet.“
„Okay, okay. Aber es steckt viel Geld in der Sache. Cardone
ist nie geizig,“
„Charlie – nein. Sonst noch was?“
„Ja, ganz aktuell. Ein Typ hat angerufen. Er braucht dringend
einen Leibwächter. Sein Leben ist in Gefahr, er will aber noch

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nicht sterben, wimmer und schluchz. Hab ihm erstmal zwei
Jungs geschickt, die vor seinem Haus Wache stehen. Aller-
dings sind es keine richtigen Bodyguards. Ist ein Millionär, wie
es aussieht.“
Meine Gebete wurden erhört. Hatte ich mir nicht genau das
gewünscht? „Gekauft. Gib mir die Adresse von dem Mann,
und schon bin ich unterwegs.“ Charlie reichte mir seine Noti-
zen. Ich überflog sie. Albert Spector, Bloomfield – New Jersey.
„Hat er gesagt, warum sein Leben in Gefahr ist? Politiker?
Skandal-Journalist?“
„Nein, das wollte er mir nicht verraten. Er sagte, das Wissen
allein würde auch andere in Gefahr bringen. Wichtig sei nur,
dass ihn jemand beschützen müsse. Könnte aber sein, dass
es um Enthüllungen geht. Spricht ja einiges dafür.“
„Gut. Dann fahre ich jetzt nach Hause, packe sicherheitshal-
ber ein paar Sachen zusammen und mache mich anschlie-
ßend auf den Weg. Soll ich deinen Jungs etwas ausrichten?“
Charlie nickte. „Sie sollen sich auf die Suche nach der ver-
schwundenen Freundin von Cardone machen. Die wissen
dann schon Bescheid. Wenn du die Kohle nicht willst, verdie-
nen eben andere daran. Allerdings wäre es mir lieber gewe-
sen, wenn du ...“ Er sah meinen Blick. „Okay, kein Problem.
Dann rufe ich Spector an und sage ihm, dass du kommst.“
Beim Rausgehen hielt er mir die Hand hin. Widerwillig ergriff
ich sie. Er war einer der Männer, die man einfach nicht berüh-

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ren will. Da ich die Hand, die mich fütterte aber nicht beißen
wollte, biss ich stattdessen in den sauren Apfel.
Auf dem Weg die Treppe hinunter gelangte ich zu der Über-
zeugung, dass er mich aus der Tiefe seiner Seele hasste. An-
ders konnte es nicht sein. Ich behandelte ihn mies, berührte
ihn nicht und ließ keine Gelegenheit aus, ihn in den Dreck zu
ziehen. Dass er mir dennoch Aufträge verschaffte, lag wohl an
meinen bisherigen Erfolgen. Er konnte es sich vermutlich gar
nicht leisten, mich nicht zu engagieren. Und das schürte den
Hass in ihm vermutlich noch mehr. Pass nur auf – sonst
schickt er dich eines Tages auf ein Selbstmordkommando,
und du merkst es nicht.
Der kalte Wind blies mir ins Gesicht, als ich auf die Straße
trat. Eine Frau schlurfte an mir vorbei. Sie sah völlig fertig aus,
doch ihre Kleidung war ordentlich. Nachtschicht, wie ich ver-
mutete. In manchen Nachtclubs endete der Betrieb nicht mit
dem Sonnenaufgang.
Sie warf mir einen knappen Blick zu. Ein kurzes Lächeln,
dann Gähnen und sie war vorbei, die Straße runter. Kurz dar-
auf verschwand sie im Eingang einer U-Bahnstation.
Eines Tages werde ich ein Buch über all den Mist schreiben,
der mir so unterkommt. Sie wird auch als Randnotiz erwähnt.
Kichernd über den Gedanken schlenderte ich zu meinem
Wagen. Irgendwo polterte etwas, dann bellte ein Hund. In der
Ferne heulte die Sirene eines Rettungswagens. Er erinnerte

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mich an Spector. Mit etwas Glück würde es ein leichter Job
werden. Seit dem 11. September fühlten sich sehr viele Men-
schen bedroht. Die Angst vor Terroristen war omnipräsent.
Nicht nur, weil New York in seinem Herzen getroffen worden
war, sondern weil die Bush-Regierung die Angst konsequent
schürte. Hier eine kleine Terror-Warnung, dort eine Anspra-
che. Moore hatte dies in seinen Büchern und Filmen sehr klar
dargestellt. Die Angst wird geschürt, um die Menschen zum
Konsum zu bewegen. Denn wer sich fürchtet, der kauft. Alarm-
anlagen, Gasmasken, Konserven. Er baut seine Keller zu Pa-
nik-Rooms aus. Verstärkt die Fenster, Türen und das Dach.
Vor allem aber nickt er jedes Gesetz ab, welches ihm ein biss-
chen Sicherheit verspricht. Privatsphäre? Recht auf freie Mei-
nungsäußerung? Drauf geschissen. Fragt Bin Laden nach dei-
ner Privatsphäre und deinem Recht, deine Meinung zu sagen?
Nein! Also halt die Klappe und sei froh, dass wir dich beschüt-
zen. Alle Gesetze dienen deiner Sicherheit, Buddy. Sei uns
dafür dankbar und wähle Bush!
Interessant, dass dieses Beispiel nicht nur in den USA funk-
tionierte. Viele Länder stürzten sich auf die Terror-Gefahr, um
unter dem Deckmantel der Sicherheit neue Gesetze und Vor-
schriften zu erlassen, die Rechte des Bürgers einzuschränken
oder einen Überwachungsstaat aufzubauen. Und die Wähler
sagten auch noch danke dafür. Es ist eben kein Schaden zu
groß, als dass nicht ein Vorteil dabei wäre.

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Während ich Gas gab und Charlies Büro zurück blieb, dach-
te ich an Spector. Der Name war mir unbekannt. Kein Enthül-
lungsjournalist der New-York-Times, kein Klatschreporter aus
der Glotze. Hatte ich Freizeit, schaute ich mir den Tratsch
ganz gerne an. Hin und wieder ergaben sich daraus Aufträge.
Mein Tochter ist schon seit einem Jahr verschwunden, bu-hu-
hu ... Detektive suchen verschwundene Personen, oder? Ein
Albert Spector war mir dabei noch nie untergekommen.
Vielleicht so ein Spinner, der mehr einen Prestige- als einen
Body-Guard braucht.
Manche Kunden ließen sich nur darum beschützen, weil es
gerade schick war und jeder einen Leibwächter hatte. Oder
um den Eindruck zu erwecken, wichtiger zu sein als man war.
Mir gefielen solche Aufträge. Kein Risiko, gute Bezahlung
und man kam in die feinsten Restaurants und Clubs. Wozu
einen Prestige-Guard, wenn man ihn nicht zeigt?
Als hoffte ich, dass dieser Spector genau so einen Auftrag
zu vergeben hatte. Aber hey – seit wann werden Hoffnungen
erfüllt?

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Kapitel 6

15. Dezember 2005, 15:15 Uhr / New Jersey (Bloomfield)

„Heilige Scheiße – ich bin im gelobten Land.“


Ich konnte kaum an mir halten, als ich Spectors Prachtbau
vor mir sah. Es war kein Haus, sondern eine Villa. Nicht neu,
dafür aber verspielt und derart weiß, dass es mich fast blende-
te. Offenbar konnte weder der Dreck in der Luft noch der Win-
ter diesem Gebäude etwas anhaben. Es war eine Wucht; nicht
mehr und nicht weniger.
Der Wagen rollte auf ein Tor zu. Ein Mann stand davor und
schaute mir neugierig entgegen. Neben ihm kam das Auto
zum Stehen.
Die Scheibe surrte hinunter. Muss einer von Charlies Leuten
sein. Mal sehen, ob er sein Handwerk versteht. „Hallo, mein
Name ist Anita Blake.“ Laurell K. Hamilton möge mir verzei-
hen, dass ich mir den Namen ihrer Protagonistin ausleihe.
„Mister Spector erwartet mich.“
„Sicher. Fahren sie die den Weg hinauf. Man wird sich Ihrer
annehmen, Miss Blake.“
Das Tor glitt geräuschlos zur Seite und ich konnte wieder an-
fahren. Idiot. Muss Charlie anrufen, damit er den Spinner zur

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Schnecke macht. Kies knirschte unter den Reifen, vermischt
mit Schnee. Links und rechts erstreckte sich ein weitläufiger
Garten. Hecken säumten die Auffahrt. Jemand hatte sie in
Form gebracht.
Vor dem breiten Portal befand sich ein Rondell, in dessen
Mitte ein Brunnen stand. Natürlich war er zu dieser Jahreszeit
nicht in Betrieb. Die Figur auf seiner Spitze war jedoch trotz
des Schnees zu erkennen; ein springendes Reh.
Ich ließ das Auto ausrollen, schloss die Jacke wieder und
stieg aus. Sofort pfiff mir ein kalter Wind um die Ohren. Die
Wolkendecke hatte sich wieder verdichtet. Ist es ein Zeichen
von oben? Schweben‚dunkel Wolken’ über mir? Mene, mene
tekel u-parsin?
Ich streckte mich etwas, ließ dabei meinen Blick für ein paar
Sekunden an der Vorderfront der Villa empor gleiten. Am Ge-
länder eines Balkons im ersten und einzigen Stock hing eine
Santa-Claus-Figur und seilte sich ab. An seinen Stiefeln und
dem Sack auf seinem Rücken waren bunte, blinkende Lichter
angebracht. Die Fenster waren allesamt vergittert. Wasser-
speier in Form von Drachenköpfen verliehen dem Haus etwas
Mystisches. Dazu passten auch die kleinen Erker an den vier
Ecken. Einerseits waren sie nett anzuschauen und passten
zum Baustil des frühen 20. Jahrhunderts. Andererseits hatten
solche Häuser zu oft für Kulissen in Serien wie Twilight Zone

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oder Tales from the Crypt herhalten müssen. Das hübsche Äu-
ßere beherbergt das große Grauen.
Mir lief ein Schauer über den Rücken. Dieser wurde noch
durch den Umstand verstärkt, dass sich die zweiflügelige Tür
wie von Geisterhand bewegt öffnete. Beide Hälften glitten ge-
räuschlos nach innen. Tretet frei und freiwillig ein.
Vorsichtig nahm ich die drei Stufen, die nach oben führten.
Erst jetzt fiel mir die Kamera über dem Portal auf. Sie schien
mich im Blick zu haben.
„Hallo? Mister Spector?“
Meine Stimme wurde von den Wänden der Halle reflektiert.
Zwei breite Treppen waren zu sehen; eine führte hinauf, eine
nach unten. Die Wände waren hier drinnen so weiß wie au-
ßen. Säulen trugen die hohe Decke, die zudem durch ein
Fresko verziert worden war. Sie zeigte jedoch nicht die Schöp-
fung, sondern eine Herde wilder Mustangs, die über die Prärie
galoppierten.
Es roch nach Tannen. Ein Weihnachtsbaum stand in einer
Ecke, darunter lagen Geschenke. Eine Krippe, hell erleuchtet,
zeigte die Szene um die Geburt Jesu. Dennoch schien Raum-
spray verwendet worden sein, denn derart aufdringlich konnte
keine geschlagene Tanne mehr duften.
Eine weitere Kamera fiel mir auf, da sie mich leise surrend
aufs Korn nahm. Dem Klang nach zoomte sie heran. Doch
noch während ich mich fragte, ob dies vielleicht eine Falle war

73
– Feinde hatte ich mir in meinem Job schließlich genug ge-
macht – erschien ein Mann im blauen Anzug und kam mit ei-
nem verhaltenen Lächeln auf mich zu. Wenn das Spector ist,
bin ich Hillary Clinton.
„Miss ...?“, fragte er höflich.
„Shriver“, erwiderte ich. „Pam Shriver3. Mister Spector erwar-
tet mich. Wo kann ich Ihn finden?“
„Er ist im Salon. Soll ich Sie hinbringen?“
„Bitte, das wäre nett. Ich würde ihn gerne erschießen.“
Sein Gesicht verfinsterte sich. Doch dann sah er mein ge-
winnendes Lächeln, und lachte ebenfalls. „Natürlich, davon bin
ich überzeugt. Also, kommen Sie.“
Wir durchquerten die Halle und gingen schließlich die Stufen
der Treppe hinauf. Im ersten Stock setzte sich der Stil fort. Die
Decke zeigte Stuck-Elemente, die Türen bestanden aus
Esche. Ein Läufer lag auf dem Boden, so dass unsere Schritte
gedämpft wurden.
Am Ende des Ganges blieben wir stehen. Der von Charlie
geschickte Wachmann klopfte. Kurz darauf erklang ein leises,
nervöses Herein.
„Bitte, Miss Shriver.“
Ich trat ein und fand meinen Klienten hinter einem breiten
Schreibtisch kauernd vor. Sein schütteres Haar stand in alle
3
Ex-Tennisspielerin. Gehörte in den 80er Jahren zu den Besten
weltweit.

74
Richtungen ab, seine kleinen Knopfaugen musterten mich
ängstlich und in seiner Hand hielt er einen Revolver, der be-
reits die beiden Weltkriege gesehen zu haben schien. „Keinen
Schritt weiter“, rief Spector. Seine Stimme bebte. Schweißrän-
der verunzierten das weiße Hemd, welches er trug. Dicke
Tropfen standen auf seiner Stirn oder rannen die etwas feisten
Wangen hinab. Er war nicht dick, aber auch nicht schlank. Um
die fünfzig Jahre alt, mit kleiner, spitzer Nase, schmalen Lip-
pen und blasser Hautfarbe. Glaubte man den Medizinsendun-
gen in der Glotze, so ließen die Furchen in seinem Gesicht auf
ein Magenproblem schließen.
„Mister Spector – mein Name ist Rebecca Cohen. Charlie
Lane schickt mich. Sie suchen noch einen Leibwächter?“
Er entspannte sich etwas. „Oh, ja ja. Kommen Sie rein und
machen Sie die Tür zu.“
Ich betrat den Raum, wandte mich aber noch einmal zu je-
nem um, der mich hier hinauf gebracht hat. „Charlie sagt, er
habe eine andere Aufgabe für euch. Ihr könnt verschwinden.
Oh, ehe ich es vergesse – Anita Blake ist die Hauptfigur einer
Romanserie, Pam Shriver war Tennisspielerin. Und ihr beide,
ihr seid Luschen. Aber das kläre ich mit Charlie selbst.“
Die Tür fiel ins Schloss, ohne dass der Typ noch etwas erwi-
dert hätte. Spector hatte davon ohnehin nichts mitbekommen.
Er stand noch immer hinter seinem Schreibtisch, die Waffe in
der Hand.

75
„Können ... Können Sie sich ausweisen?“
„Sicher. Auch wenn die Frage zu spät kommt. Wäre ich eine
Killerin, dann würden sie nun tot auf dem Boden liegen. Sie
haben Glück.“ Damit griff ich in meine Jackentasche und fisch-
te dort meine Geldbörse hervor. In ihr steckte mein Ausweis,
der mich als Detektivin und Kopfgeldjägerin auswies. Das
Wort Bodyguard stand nur auf meinen geschmackvoll gehalte-
nen Visitenkarten. Edelster Karton, gedeckte Farben und ein
verspieltes Lilienmotiv – 50 Stück für zwei Dollar aus dem Au-
tomat an der Grand Central Station. „Wer oder was bedroht
Sie denn?“
Spector schaute sich meinen Ausweis an. Dabei schüttelte
den Kopf. „Das kann ich Ihnen nicht sagen. Wüssten Sie es,
wären Sie in der gleichen Gefahr wie ich. Nur so viel – man
will mir etwas stehlen und mich töten. Ich fliege morgen nach
Memphis, um mich dort mit einem Experten zu treffen. Sobald
dieses Treffen vorbei ist, wird die Gefahr gebannt sein. Sie be-
gleiten mich. Mister Lane sagte, Sie seien eine gute Leibwäch-
terin. Eine ehemalige Polizistin, nicht wahr?“
Ich nickte und hoffte, ihn später dazu bringen zu können, mir
mehr über die Art der Bedrohung mitzuteilen. Dabei glitt mein
Blick durch den Raum. Wir befanden uns in einem großen,
modern eingerichteten Arbeitszimmer. Zu dem schweren
Schreibtisch gehörte auch ein Drehstuhl sowie zwei Plätze für
Besucher und eine kleine Sitzgruppe. Hinter Spector befand

76
sich ein Regal, in dem sich Bücher und Schriftrollen stapelten.
An den Wänden hingen ein paar Diplome, aber auch Fotogra-
fien. Landschaftsaufnahmen, Gruppenbilder, Portraits. Dazwi-
schen Waffen verschiedener Art. Eine Machete, ein Gewehr
und mehrere Pistolen. Der Geruch von Papier lag in der Luft,
aber auch Staub schwamm in ihr mit. Der Anrufbeantworter
auf dem Schreibtisch blinkte aufgeregt. Drei Nachrichten wa-
ren eingegangen, wie die rote Digital-Anzeige bewies. Darun-
ter standen drei Telefonnummern. Das heißt – im Grunde war
es nur eine, aber die drei Mal. Jemand, mit dem Spector ganz
offensichtlich nicht hatte reden wollen.
„Ihre Tochter?“ Damit deutete ich auf ein kleines Bild, das
links neben den Regalen hing. Es zeigte ein etwa zehnjähriges
Mädchen.
„Nein“, knurrte Spector. Doch dann schien er es sich anders
zu überlegen. „Ja.“ Er kramte in einer Schublade und warf mir
schließlich eine DVD-Hülle vor die Füße. „Ich wünschte, sie
wäre es nicht. Ihre Mutter würde sich im Grabe umdrehen, be-
käme sie diese Schande mit. Die besten Schulen, die teuers-
ten Kleider. Ihr mangelte es an nichts. Und was tut sie? Gibt
sich für diesen Schund her.“
Ich bückte mich und hob die Hülle auf. Geheime Triebe blut-
junger Cheerleader. Darauf vier Mädchen in rot-weißen Kostü-
men. Sie hielten Pompons in den Händen, deren Ende jedoch
als Dildo ausgeführt war. Unter ihren allzu knappen Röcken

77
waren sie zudem nackt, so dass man ihre Mösen sehen konn-
te.
Ich drehte das Cover. „Welche ist denn ihre Tochter? Die
Rothaarige?“ Sie hatte Ähnlichkeit mit dem Mädchen auf dem
Foto.
„Ja, die Rothaarige. Grauenvoll, finden Sie nicht? Pornofil-
me. Als ob das Leben nichts Besseres zu bieten gehabt hätte.
Ich habe mir diesen Film angesehen. Es ist widerwärtig. Sie
lässt sich von drei oder vier Kerlen besteigen. Von den Frau-
en, mit denen sie treibt, ganz zu schweigen.“
Er nahm das Kinderbild von der Wand, betrachtete es traurig
– und schleuderte es schließlich zornig quer durch den Raum.
Es zersprang beim Aufprall gegen die Wand. „Ihre Mutter ist
seit vielen Jahren tot. Krebs – sie starb nicht leicht. Es war
hart, sie so leiden zu sehen. Nur acht Monate später erzählte
mir Claire von ihrem Nebenjob. Wir waren stets eine ordentli-
che Familie. Mein Vater war Reverend, meine Mutter eine an-
ständige Hausfrau, die gut für uns sorgte. Ich genoss eine
gute Erziehung – genau wie Claire. Das Glück war mir in frü-
hen Jahren hold, und ich machte ein Vermögen mit einer Erfin-
dung. Meine Tochter hätte es wirklich nicht nötig gehabt, ihren
Körper für ein paar lausige Dollar zu verkaufen. Aber sie tat es
– und so verlor ich auch sie. Das Leben kann hart sein.“ Die
Mischung von Trauer und Wut konnte seine Angst nur für
einen Moment überdecken. Nun kehrte sie zurück.

78
Er kam um den Tisch herum. „Wir fliegen morgen nach
Memphis. Aber mir wäre es lieb, wenn wir heute schon ver-
schwinden könnten. Ich habe ein Hotel in der Nähe des Flug-
hafens gebucht. Ist das ein Problem für Sie?“
„Nein, das ist kein Problem“, gab ich zurück. „Aber wenn Sie
mir nicht erzählen, worum es bei dieser ganzen Sache geht,
dann ist das ein Problem. Ich kann Sie nur dann beschützen,
wenn mir die Umstände bekannt sind. Wenn ich weiß, aus
welcher Ecke die Gefahr droht. Verstehen Sie?“
„Sicher verstehe ich das.“ Er musterte mich nachdenklich.
„Also gut – es geht um ein Artefakt. Eine Figur, um genau zu
sein. Sagen wir einfach, dass sie sich in meinem Besitz befin-
det und andere daran interessiert sind. Morgen wird sie in
Memphis den Besitzer wechseln. Nach der Übergabe wird
man mich in Ruhe lassen.“
„Woran kann man Ihre Verfolger erkennen? Tragen sie eine
Tracht, Uniform oder etwas in der Richtung?“
„Nein, so einfach ist es nicht. Es ist vielleicht schwer zu glau-
ben, aber nicht nur meine Verfolger sind gefährlich. Auch die
Figur selbst kann zu einer Bedrohung werden. Zumindest,
wenn man den alten Hinweisen glauben schenken darf. Bitte,
fragen Sie mich nicht weiter! Sie wissen schon zu viel, Miss
Cohen.“
Ich seufzte resignierend. „Wie Sie meinen. Wo ist die Figur
jetzt?“

79
„Ich habe sie verpackt. Dort hinten, in dem kleinen Metallkof-
fer, zusammen mit meiner Kleidung. Wir sollten aufbrechen.
Je schneller wir aus dem Haus kommen, umso lieber ist es
mir. In einem Hotel fühle ich mich doch sicherer.“
„Wir nehmen meinen Wagen! Sie werden auf dem Beifahrer-
sitz Platz nehmen und sich nicht anschnallen. So können Sie
rasch abtauchen, wenn es sein muss. Welches Hotel?“
„Das Days Inn. Es liegt direkt am Flughafen in Newark. Wir
nehmen morgen früh eine Chartermaschine nach Tennessee.
Können wir aufbrechen?“
Die Angst stand Spector noch immer ins Gesicht geschrie-
ben. Aber zumindest hatte er seinen Revolver eingesteckt und
fuchtelte nicht mehr damit herum.
„Jederzeit.“ Ich reichte ihm den Film, den ich noch immer in
Händen hielt. Aber er winkte ab. „Behalten Sie ihn und schau-
en Sie rein. Damit Sie meinen Zorn auf das Mädchen begrei-
fen, das mal meine Tochter gewesen ist. Das alles hier hätte
ihr gehören können. Aber nach diesem Mist ... Warten Sie ...“
Er ging noch einmal zu seinem Schreibtisch, kam jedoch
nach wenigen Sekunden zurück. Dabei reichte er mir einen
braunen Umschlag.
„Was ist das?“, wollte ich von ihm wissen.
„Die Änderung meines Testaments. Sie steht noch als Al-
leinerbin drin. Aber so lange sie Pornos dreht, soll sie keinen

80
Cent bekommen. Wenn ... mir etwas passieren sollte, geben
Sie den Umschlag meinem Anwalt. Die Adresse steht drauf.“
„Warum schicken Sie ihn nicht gleich ab? Ändern können
Sie es später noch immer.“ Es gefiel mir nicht, als Kurier miss-
braucht zu werden.
„Niemand soll wissen, dass ich mit meiner Tochter gebro-
chen habe. Auch nicht mein Anwalt. Die Schande ist schon so
groß genug. Es gibt keinen Grund für mich, sie noch zu mei-
nen Lebzeiten zu vergrößern.“
„Also schön.“ Obwohl mir seine Erklärung etwas seltsam vor-
kam, schob ich den Umschlag in die Innentasche meiner Ja-
cke. „Hoffen wir, dass es nicht nötig wird.“
„Wem sagen Sie das?“ Spector griff nach dem Metallkoffer,
zog aber noch einmal die Hand zurück. So, als sei dessen
Griff heiß. Doch dann nahm er seine Schultern zurück. Seine
Finger umschlossen nun fest den Lederring, und wir konnten
das Zimmer verlassen.
Während wir die Treppe hinunterstiegen, zog ich ein erstes
Resümee. Meine Hoffnung hatte sich nicht erfüllt; dieser Spec-
tor wollte mich eindeutig nicht als Prestige-Guard. Seine Angst
– seine schiere Panik war echt. Ob das, wovor er Angst hatte,
tatsächlich eine reale Gefahr darstellte oder nicht, würde sich
zeigen. Mein Job jedenfalls war es, ihn so schützen, als sei
genau dies der Fall.

81
„Lassen Sie mich in Zukunft vorgehen. Ich öffne die Türen,
checke die Situation und gehe zuerst zum Wagen. Sie folgen,
sobald ich es Ihnen sage; durch Worte oder Gesten.“ Damit
legte ich einen Schritt zu und war nun an Spector vorbei.
Mein Klient nickte. Er wartete, bis ich mich vor der Villa um-
geschaut und die Tür zu meinem Wagen geöffnet hatte. Erst
dann folgte er mir ins Freie und nahm sofort auf dem Beifah-
rersitz Platz.
„Ich habe Angst“, bekannte er, als wir die Auffahrt hinab zur
Straße rollten. „Ich habe mehr Angst, als ich jemals in meinem
Leben gehabt habe. Verstehen Sie das?“
„Sicher. Manche Situationen überfordern einen. Ist das eige-
ne Leben bedroht, gehört das sicherlich dazu.“
„War Ihr Leben schon in Gefahr?“
„Es ist mein Beruf, mich in Gefahr zu begeben. Hätte ich kei-
ne Angst, wäre ich längst tot. Aber das bedeutet auch, dass
ich darauf vorbereitet wurde, sowohl mit der Gefahr als auch
mit der Angst umzugehen. Darum ist es bei mir etwas anders.
Machen Sie sich also keine Gedanken. Angst ist normal.“
Er nickte. Ein schmales Lächeln huschte über sein Gesicht.
Das Eis war gebrochen, und dies war mir wichtig gewesen.
Ein Klient sollte seinem Leibwächter vertrauen. Sonst gerät er
in einer brenzligen Situation in Panik und das kann sich im
entscheidenden Moment als fatal erweisen. Vertraut er seinem
Bodyguard hingegen, so befolgt er auch dessen Anweisungen.

82
Er geht nicht auf Abstand, sieht ihn nicht als notwendiges
Übel. Es macht den Job leichter. Nicht, dass es mir immer ge-
lang, dieses Basis zu einem Kunden aufzubauen. Aber zumin-
dest versuchte ich es stets.

83
Kapitel 7

15. Dezember 2005, 17:30 Uhr / New Jersey (Newark)

Das Days Inn war ein Haus der gehobenen Klasse. 191 Zim-
mer, Flimmerkiste und all die anderen Dinge, die man bei ei-
ner Übernachtung im Hotel keinesfalls missen möchte. Das
Haus war offensichtlich nicht nur auf Besucher aus, die hier
eine Zwischenlandung machten und nur eine Nacht blieben.
Die Konferenzräume und die Ausstattung der Zimmer waren
für Tagungen bestens geeignet.. Die Nähe zu Downtown Ne-
wark, dem Business District von New Jersey, sorgte wahr-
scheinlich für eine gute Auslastung.
Spector hatte ein Doppelzimmer gebucht. Dies bedeutete je-
doch nicht, dass er mit mir in einem Bett schlafen wollte. Viel-
mehr standen zwei Doppelbetten in den dem Raum, getrennt
durch einen Arbeitsplatz samt Telefon. HBO4 war kostenfrei,
ebenso die Sportsender. In dieser Situation interessierte sich
Spector jedoch herzlich wenig dafür, welche Sender in diesem
Hotel eingespeist waren.
Wir fuhren mit dem Aufzug hoch in den sechsten Stock.
Kaum hatten wir unser Zimmer betreten, schloss er ab und
4
Pay-TV-Sender in den USA. Produzierte unter anderem „Sex and
the City“

84
setzte sich an den Schreibtisch, um ein paar Notizen in ein fla-
ches Notebook zu tippen.
„Nehmen Sie das linke Bett?“, fragte er mich gedankenverlo-
ren und ohne von der Tastatur aufzuschauen.
„Nein. Ich nehme gar kein Bett, sondern den Sessel.“ Mein
Blick fiel auf den Koffer. „Mr. Spector, möchten Sie die Figur
nicht lieber im Safe deponieren?“
Spector nickte und stand auf, griff nach dem Gepäckstück
und trug es in den Vorraum des Zimmers. Dort war der Safe
hinter einer Schranktür angebracht.
„Wir ordern das Dinner über den Roomservice. Das mini-
miert das Risiko. Ein öffentliches Lokal stellt stets eine Gefahr
dar.“
„Was immer Sie sagen“, stimmte er zu. „Sie sind die Leib-
wächterin.“ Während sich mein Kunde wieder an den Tisch
setzte, trat ich ans Fenster und schaute hinaus. Der Wetterbe-
richt hatte nicht geirrt; das Wetter wurde besser. Nicht wär-
mer, ganz im Gegenteil – eher kälter, wie es bei klarem Win-
terhimmel stets der Fall ist. Ich jedenfalls fand trockene Kälte
um ein Vielfaches angenehmer als das nasskalte Wetter der
letzten Tage.
Als Bodyguard zählte es meinen Pflichten, den Klienten
möglichst wenig zu stören. Darum ließ ich Spector in Ruhe ar-
beiten. Obwohl mich die Sache mit der Figur interessierte.

85
Was konnte an dem Ding derart wichtig sein, dass jemand da-
für töten würde.
Von meinem Platz aus konnte ich den Eingangsbereich des
Hotels überblicken. Zwar konnte das Fenster nicht geöffnet
werden, worauf ein kleines Schild unter dem Fenstergriff hin-
wies. Aber bereits seit unserem Eintreffen hatte ich mich be-
müht, mir die Örtlichkeiten möglichst genau einzuprägen. Ken-
ne die Fluchtwege. Am Ende des Flurs befand sich eine Feu-
ertreppe, daneben stand ein Eisautomat.
Auf dem Parkplatz und vor dem Hotel war bereits die Nacht-
beleuchtung aktiv. Die Sonne war noch nicht vollends unterge-
gangen. Ein merkwürdiges milchiges Zwielicht herrschte.
Das leise Summen der Klimaanlage erfüllte den Raum. Hin-
zu kam das Tippen meines Kunden auf dem Notebook. Be-
fand man sich allein mit seinem Klienten in einem abgeschlos-
senen Raum wie eben einem Hotelzimmer, konnte die Arbeit
furchtbar langweilig sein. Also nahm ich auf einem Sessel
Platz und begann, in einem bereitliegenden Magazin zu blät-
tern. In meiner Reisetasche befand sich nicht nur Wäsche,
sondern auch ein neuer Roman um die Vampirjägerin Anita
Blake. Obwohl ich dem Grauen einst ins Auge geschaut hatte,
gefielen mir diese Bücher. Der Horror hielt sich in Grenzen, es
ging daneben auch um Liebe und Leid, Lust und Frust einer
Frau, die wie ich einen seltsamen Beruf ausübte.

86
„Glauben Sie an das Übersinnliche?“, wollte Spector unver-
mittelt wissen. „An Dinge, die man nicht mit dem normalen
Verstand begreifen kann.“ Er wandte sich um und schenkte
mir einen abschätzenden Blick. Angst flackerte darin. Doch
nicht jene, die er zuvor gezeigt hatte. Es war die Angst davor,
von mir für verrückt gehalten zu werden. Davor, Häme und
Spott zu ernten, wenn er sich zu weit aus dem Fenster lehnte
mit seinen Gedanken.
Es war nicht der Moment für eine humorige Erwiderung. Ob-
gleich mir eine solche auf der Zunge lag. Dann jedoch besann
ich mich anders. „Ja, das tue ich, Mister Spector. Ich habe
dem Unfassbaren ins Auge geschaut und weiß, dass manche
Dinge nicht auf normale Art erklärt werden können – vielleicht
auch nicht sollten. Allein schon, weil sie den Menschen Angst
bereiten. Es ist leichter, manche Dinge zu verdrängen, statt
sich ihnen zu stellen.“
Er nickte langsam. „Da haben Sie vollkommen recht, Miss
Cohen. Genau das ist des Pudels Kern. Sehen Sie – nach
dem Tode meiner Frau habe ich viel Zeit und Geld darauf ver-
wandt, mich mit dem Paranormalen zu befassen. Es ist zu ei-
ner Obsession geworden. Ich konnte und wollte den Verlust
meiner Frau nicht akzeptieren. Die Religion konnte mir keine
Antworten geben. Meine Güte – all die obskuren Zirkel, Grup-
pen, Sekten und Medien, die ich in dieser Zeit besuchte! Ver-
schwendete Zeit, verschwendetes Geld. Doch dann, eines Ta-

87
ges, las ich von dieser Figur. Man sagte ihr nach, sie könne
eine Tür ins Jenseits öffnen. Über sie könne man Kontakt mit
Verstorbenen aufnehmen, sie sogar zurück ins Leben rufen. In
den folgenden Wochen und Monaten begann ich, die Ge-
schichte der Figur und die ihr zugrunde liegende Sagen zu
studieren. Es war nicht leicht herauszubekommen, wo sie sich
befand. Der Gedanke, sie zu besitzen, ihre Macht in Händen
zu halten, ließ mich einfach nicht mehr los. Zumal es in gewis-
sen Szenen Gemunkel darüber gab. Diese Tatsache machte
mich fast verrückt. “ Er leckte sich über die Lippen. „Es wurde
zur Obsession. Daher beschloss ich, eine Expedition auszu-
statten, um die Figur zu finden. Es dauerte ganze zwei Jahre,
aber schließlich erreichte mich die Kunde von ihrem Fund.“
Seine Augen blitzten, aber diese Erregung verschwand sofort
wieder, als er fort fuhr: „Ab dann begannen die unheimlichen
Vorfälle. Alpträume, seltsame Geräusche im Haus, Gesichter
in Spiegeln. Erst glaubte ich, mir all das nur einzubilden. Doch
als die Statue vor zwei Tagen an mich geliefert wurde, ver-
schlimmerten sich die Vorkommnisse noch. Bilder fielen von
der Wand, eine Tür schlug zu, als ich gerade hindurchgehen
wollte. Es wurde unerträglich. Sie zu benutzen, eine der be-
schriebenen Beschwörungen vorzunehmen oder sie auch nur
zu untersuchen war ausgeschlossen. So sehr ich auch hinter
dieser Figur her war; inzwischen will ich nur noch eines: das
Ding so schnell wie möglich loswerden! Darum übergebe ich

88
die Figur morgen einem Professor für Archäologie an der Uni-
versität in Memphis. “
„Sie sagten, dass noch jemand hinter ihr her ist? Wissen Sie,
wer?“
„Zusammen mit den seltsamen Begebenheiten begannen
auch die Telefonanrufe. Eine Organisation, die sich Söhne des
Iz nennen, trat mit mir in Kontakt. Sie sehen sich in der Traditi-
on jener, welche die Figur einst schufen. Anhänger einer Gott-
heit aus Europa, die einerseits aufgrund ihrer Boshaftigkeit ge-
fürchtet wird, andererseits aber auch als Geist der Toten gilt..“
Er unterbrach seinen Bericht. „Wir sollten Dinner bestellen. Sie
haben sicher auch Hunger, Miss Cohen?“
„Wie Sie meinen. Aber noch einmal zurück zu diesen Söh-
nen des Iz. Wurden Sie konkret bedroht?“
Spector lachte freudlos. „Sie sagten, sie würden mir die Ein-
geweide aus meinem Leib reißen und mich daran aufhängen,
sollte ich ihnen die Figur nicht geben. Ja, das könnte man als
Morddrohung auffassen.“
Er griff nach der Speisekarte, die auf dem Schreibtisch aus-
lag, und reichte sie mir. „Bestellen Sie sich, was immer Sie
möchten.“
Während wir auf das Essen warteten – ich hatte mich für ein
Lachssteak mit Gemüse und Reis und zum Dessert für ein
Mousse aus feiner Schokolade entschieden – arbeitete mein
Kunde wieder. Wie besessen tippte er einen Text in das kleine

89
Notebook. Ich hingegen versuchte, mich in das Magazin zu
vertiefen. Aber so richtig gelang es mir nicht. Seine Erzählung
ließ mir keine Ruhe.
Was hatte es mit dieser Figur auf sich, was mit den Söhnen
des Iz. Wer oder was war überhaupt ein Iz? Ein Gott? Ein Dä-
mon? Ich hatte diesen Namen noch nie gehört. Nicht, dass ich
mich mit diesen Dingen ausgekannt hätte. Mir reichte schon
Jahwe, seine Cherubim und all das. Von Werwölfen ganz zu
schweigen. Doch der History-Channel brachte ständig Doku-
mentation über solche alte Mythen. Hinzu kamen die Berichte
über Sekten und alte Kulturen, die wahlweise Geld, Aliens
oder andere Götter und Dämonen anbeteten – nur auf eine
sehr eigenwillige Art und Weise. Bei uns in den USA nimmt
man es mit der Glaubensfreiheit sehr ernst. Zwar darf in den
Schulen keine Religion unterrichtet werden. Aber jeder konnte
sich zu einem Priester seines eigenen Glaubens weihen las-
sen. Wobei ich mich fragte, was schlimmer war – echter Irr-
glaube oder eine scheinheilige Kirche, die unter dem Deck-
mantel der Religion ihre Mitglieder bis aufs Blut aussaugte. Zu
letzteren zählte ich etwa Scientology.
Wer also war Iz? Ein Gott irgendwelcher Gruppen oder doch
etwas anderes? Das Magazin, in dem ich blätterte und das die
Schönheit New Jerseys pries, gab mir auf diese Frage jeden-
falls auch keine Antwort.
Erst als es an der Tür klopfte, schauten wir auf.

90
„Bleiben Sie sitzen – ich schaue nach.“ Um ihm ein wenig Si-
cherheit zu geben, legte ich meine rechte Hand auf den Griff
der Pistole. „Ist vermutlich nur das Essen.“
„So schnell?“ Er warf einen Blick auf den im Kopfteil des Bet-
tes eingelassenen Radiowecker. „Keine zwanzig Minuten.“
„Vielleicht wird es doch nicht so frisch zubereitet, wie in der
Karte versprochen?“
Er stieß ein kurzes Ha aus, während ich bereits durch den
schmalen Flur gegangen war und nun vor der Tür stand. „Bit-
te?“
„Roomservice“, erklang eine sonore Stimme. „Sie hatten
Abendessen bestellt?“
„Ja, Moment.“ Ich griff nach dem Knauf, der als Schlüssel-
Ersatz diente und wollte ihn gerade drehen, als Spector ange-
laufen kam. Dabei schüttelte er heftig den Kopf.
„Was?“
„Ich erkenne die Stimme“, zischte er panisch. „Von den An-
rufen, verstehen Sie?“
„Gut. Gehen Sie zurück ins Zimmer und legen Sie sich hinter
das Bett am Fenster. Sollte es hier Probleme geben, rutschen
Sie drunter. Verstanden?“
Sein Blick flackerte, während er nickte und sich auf den Weg
machte. „Was gibt es denn?“, rief ich nach draußen. Gleichzei-
tig warf ich einen Blick durch den Spion, der etwa in Augenhö-
he angebracht worden war. Durch ihn war zwar ein schmaler

91
Ausschnitt des Flurs zu sehen und auch der Mann, der sich
nun etwas vorbeugte. Nicht aber ein Servierwagen. Stand die-
ser zu dicht vor der Tür, war das auch nicht möglich.
„Ähm ... Lachs, Suppe, Pudding und das hier ist ... Ein
Steak. Blutig, wie es aussieht.“
Die Order stimmte. Also stand das Essen vor der Tür. Die
Frage war nur, ob auch der Kellner echt war.
So aussehen tat er. Schwarzes, kurz geschnittenes Haar.
Glatt rasiert, brauner Teint und eine weiße Jacke.
„Moment, ich mache auf. Würden Sie bitte drei Schritte von
der Tür zurücktreten?“
„Warum?“, kam die logische Frage.
„Weil ich Sie darum bitte. Darum. Also – tun sie es. Erst
dann werde ich öffnen.“
Der Mann knurrte etwas, kam aber der Aufforderung nach.
Ich konnte nun auch seinen Unterleib sehen, ebenso die
Schuhe. Schwarze Hose, schwarze Schuhe. Das musste doch
der Etagenkellner sein.
Wieder umfasste ich den Knauf, um zu öffnen und wieder
kam ich nicht dazu. Doch diesmal hinderte mich nicht Spector
daran, aufzuschließen. Und auch nicht der Mann vor der Tür.
Rechts neben mir, aus dem Schrank, war ein seltsames Ge-
räusch erklungen. Automatisch drehte ich den Kopf. Hinter
einen braunen Klappe befand sich der Tresor, und in ihm
lag ...

92
Die Figur.
„Was ist nun mit dem Essen? Soll ich es wieder mitnehmen?
Berechnet wird es Ihnen trotzdem.“ Die Stimme des Kellners
klang ungeduldig.
„Einen Moment noch.“ Auch weiterhin war mein Blick auf den
Schrank gerichtet. Hier stimmt etwas nicht.
Dieser Eindruck wurde noch durch die Tatsache verstärkt,
dass plötzlich dichter, grünlicher Qualm aus dem Fach drang.
Okay, jetzt wird es Zeit, die Ghostbusters zu rufen.
Meine Hände wurden feucht. Angst erfasste mich. Noch
nicht greifbar. Es war nicht die Furcht vor dem Qualm. Viel-
mehr galt die aufkeimende Panik der Tatsache, dass ich zum
zweiten Mal in meinem Leben mit etwas konfrontiert wurde,
dass ich absolut nicht zu begreifen vermochte. Und das ängs-
tigte mich zutiefst.
„Also, was wird das jetzt?“, klang die Stimme von draußen.
„Haben Sie da drinnen vielleicht Probleme?“
Irrte ich mich, oder schwang in den Worten des Kellners
Häme mit? Das darf doch alles nicht wahr sein. Bin ich heute
Morgen in der Twilight-Zone aufgewacht, oder was?
Der Druck auf mich wuchs. Der Kellner benahm sich sonder-
bar, der grüne Qualm wehte deutlich in meine Richtung und
hinter mir begann Spector ängstlich zu wimmern. Sterben,
drang zwischen den Lauten hervor, und wusste es genau.

93
„Nein, hier ist alles im grünen Bereich“, log ich. „Weiß nur
noch nicht, ob das unsere Bestellung ist.“
„Das ist sie bestimmt“, kam es zurück. Hämisch, ich wusste
es ja. Durch den Spion sah ich den vermeintlichen Kellner
einen Schalldämpfer auf eine Pistole schrauben. „Jeder be-
kommt, was er verdient.“
Dann wäre ich Millionärin. Bin ich Millionärin? Nein. Also be-
kommt man nicht, was man verdient.
Dumpfe Schläge erklangen aus dem Inneren des Tresors.
Der Rauch hatte mich nun erreicht. Er stank bestialisch. Wo-
nach genau, konnte ich nicht sagen. Moder vielleicht, Verwe-
sung und Tod. Aber das in einer derart starken Konzentration,
dass es mir den Magen umdrehte. Nichts, was ich jemals ge-
rochen hatte, was damit vergleichbar.
„Sie sollten die Tür öffnen und uns geben, was wir wollen.
Das würde die Dinge bedeutend vereinfachen. Sicherlich ha-
ben Sie keine Lust, für jemand anderen zu sterben. Oder für
eine Figur, die Ihnen nicht einmal gehört.“
„Ihr bekommt sie nie, ihr Schweine“, stieß Spector hervor.
„Sie gehört mir. Wer weiß, was ihr damit machen wollt. Das
kann ich nicht zulassen.“
Das Rumpeln im Tresor wurde stärker. Durch die Schwaden
hindurch konnte ich sehen, dass die Tür sich aus den Angeln
löste.
Scheiße – die bricht aus.

94
Noch während mir diese Erkenntnis durch den Kopf zuckte,
geschahen mehrere Dinge zugleich.
Spector kam von hinten angerannt und wollte zum Tresor.
„Ich gebe sie nicht her. Egal was passiert. Aber ich gebe sie
nicht her“, kreischte er dabei. Seine Angst, die er seit meiner
Ankunft in seiner Villa gezeigt hatte, schien dem Mut der Ver-
zweiflung gewichen zu sein.
Gerne hätte ich ihn zurück ins Zimmer gestoßen, aber just in
dem Moment flogen gleich zwei Türen gleichzeitig auf – ein-
mal jene des Tresors und zum zweiten jene zum Flur. Und bei-
de wurden mit großer Wucht in meine Richtung geschleudert.
Ich wurde getroffen.
Allerdings hatte ich mit einem Fluggeschoss gerechnet – je-
nem von rechts. Darum erwischte es mich nicht, da ich gedan-
kenschnell in die Hocke ging.
Die Tür, die von vorne auf mich zuraste, war freilich ein an-
deres Thema. Nicht nur, dass, dass sie bedeutend größer war.
Sie hatte auch ein beträchtliches Gewicht, war fast so breit wie
der Gang und ließ mir so keine Chance, davonzukommen. Ob-
wohl ich meine Hände hob und den Anprall damit etwas dämp-
fen konnte, wuchtete sie mich nach hinten. Der Schmerz in
meinen Händen pflanzte sich über meine Arme fort und breite-
te sich in meinem ganzen Körper aus. Zudem machte mir die
unsanfte Landung auf meinem Rücken zu schaffen.

95
Meinem Kunden erging es noch schlechter. Da er gerade auf
den Tresor zulief, als der Zauber begann, hatte ihn die Tür voll
erwischt, nach hinten geworfen und damit hinein in die Flug-
bahn des zweiten Geschosses.
Nun lag er neben mir und stöhnte. Blut floss aus einer Platz-
wunde am Kopf, doch auch die Nase und der Mund waren in
Mitleidenschaft gezogen worden. Ich erkannte es während ei-
nes raschen Seitenblicks. Doch sehr schnell wurde meine Auf-
merksamkeit wieder auf den Eingang gelenkt. Dort erschien
der Kellner.
Und er war nicht allein.
Zwei weitere Männer kamen in den Raum. Sie kümmerten
sich nicht um die Menschen, die hinter ihnen aus ihren Hotel-
zimmern gekommen waren, angelockt vom Lärm. Sie interes-
sierten sich auch nicht für die Waffe in meiner Hand. Zwei von
ihnen zielten auf Spector und mich, während sich der Dritte –
eben der Roomservice – am Tresor zu schaffen machte. Da
es keine Tür mehr gab, konnte er einfach hinein greifen.
„All dieser Aufwand, die Furcht und die Flucht!“, erklärte er
dabei, „Warum haben Sie uns nicht einfach gegeben, was wir
wollten?“
Die Tür lag auf meinen Beinen. Auf ihr stand einer der drei
Typen und blockierte mich so. Seine Pistole wies auf meine
Stirn. Was immer mir auch hätte einfallen können, um die An-
greifer auszuschalten und meinen Klienten zu schützen, wurde

96
durch ihn verhindert. Sein Finger war flinker als mein Fuß oder
Arm, die Kugel schneller als jede Attacke von mir. Zumindest
unter diesen Umständen.
Neben mir stöhnte Spector. Ich war mir nicht einmal sicher,
ob er die Abläufe überhaupt wahrnahm. Seine Augen schwol-
len zu, Speichel mischte sich mit Blut und floss aus seinem
Mund. Der erste Treffer musste ihm verdammt stark zugesetzt
haben.
Der Etagenkellner beendete sein Tun in aller Ruhe. Er nahm
etwas aus dem Tresor und ließ es sofort in einem schwarzen
Sack verschwinden. Dabei murmelte er leise Worte, die ich
nicht einmal im Ansatz verstand. Qualm folgte seinen Bewe-
gungen. Er drang zunächst noch aus dem Beutel hervor, ver-
siegte dann jedoch.
„Fertig“, erklärte er überflüssigerweise. „Nur ihn. Sie ist ohne
Bedeutung – nur eine Leibwächterin.“
„Nein!“, rief ich. „Sie haben doch, was Sie wollen. Verschwin-
den und lassen Sie ihn am Leben!“
„Würden wir gerne. Aber Mister Spector verfügt über Geld
und Einfluss. Er könnte auf die Idee kommen, uns das Leben
schwer zu machen. Wir werden dieses Risiko nicht eingehen.“,
sagte er mit einer Stimmlage, als würde er über das Wetter
plaudern.

97
„Bitte, ich ...“ Weiter kam ich nicht. Ein Plopp erklang; nicht
einmal als Schuss zu erkennen. Die Wirkung jedoch war frap-
pierend.
Neben mir explodierte der Kopf meines Kunden. Knochen-
splitter seines Schädels, Blut und Hirn spritzten davon. Ein
Großteil davon traf mich. Eine Blutfontäne jagte gleichzeitig in
das Hotelzimmer hinter uns.
Spectors sterbender Körper bebte. Seine Beine und Arme
zuckten, selbst sein Unterleib bäumte sich auf. Dann lag er
still.
„Er kann froh sein“, ließ sich sein Mörder mit hämischem Un-
terton vernehmen, „dass wir ihn nicht an seinen Eingeweiden
aufgehängt haben.“ Er musterte mich teilnahmslos. „Und Sie
sollten Ihrem Schöpfer danken, dass wir Ihr Leben schonen.“
Ich wischte den Schmodder aus meinem Gesicht. Mir stand
es Oberkante Unterlippe. Statt über eine deftige Erwiderung
nachzudenken, musste ich mit dem Erbrechen kämpfen. Das
Hirn von jemandem auf und leider auch im Mund zu haben, ist
wirklich eine widerliche Angelegenheit. Aber vielleicht rettete
mir das das Leben. Mein loses Mundwerk hätte mich jeden-
falls in Teufels Küche gebracht.
Sie gingen. So, als sei nichts geschehen, verließen sie das
Zimmer. Spring auf, setz ihnen nach und bring sie alle drei zur
Strecke. Der Impuls war da. Doch dann sah ich all die Gaffer
auf dem Flur. Jede Aktion von mir hätte sie in Gefahr ge-

98
bracht. Diesen Killern war es egal, wer starb. Sie gingen ein-
fach ihren Weg. Was kümmerte es sie, ob noch jemand er-
schossen wurde? Ein Zeuge, ein Schaulustiger oder ... ich. Ein
Mensch war gestorben. Das Risiko, die Opferzahl zu erhöhen
durfte ich einfach nicht eingehen. Darum kämpfte ich den
Drang, es mit ihnen aufzunehmen nieder. Heldenmut tat nie-
mals gut, wie meine Mutter einst gesagt hatte. Ganz abgese-
hen davon, dass es nicht mein Job war, die Mörder meines
Kunden dingfest zu machen. Dies war Aufgabe der Polizei von
Newark. Der Eingangsbereich des Hotels und auch die Park-
plätze wurden via Videokameras überwacht. Die Killer muss-
ten das Gebäude verlassen. Taten sie das, konnten die Ermitt-
lungsbeamten eine Fahndung einleiten. Stiegen die Pisser
auch noch in einen Wagen, würden die Cops sogar ihr Num-
mernschild kennen.
Mühsam wuchtete ich die Tür von mir herunter und kam
schwankend auf die Beine. Meine Brust schmerzte, denn dort
hatte sich die Oberkante des Blattes hinein gedrückt, als der
Typ mich mit seinem Körpergewicht darunter eingeklemmt hat-
te. Mein Rücken schien indes in Flammen zu stehen. Doch all
das nahm ich nur am Rande wahr.
Spector war tot. Sein Kopf fehlte nahezu völlig. Das, was
noch auf seinem Hals saß, war kaum der Rede wert.
Versagt. Becca, du hast auf ganzer Linie versagt. Wie konn-
te das passieren? Wieso hast du nicht mit Spector im Bad ver-

99
krochen und auf jeden geschossen, der durch die Tür hätte
kommen wollen? Warum bist du im Gang geblieben, als sich
die Situation zuspitzte? Du weißt es doch besser.
Zwei stumme Tränen liefen über meine Wangen; Ausdruck
meiner ungezügelten Wut. Wut auf diese Typen, aber noch
mehr auf mich selbst. Ich hasste mich für mein Versagen.
Auf dem Weg zum Fenster fiel mir das Notebook auf. Noch
immer stand der Text dort, den mein Kunde so eifrig eingetippt
hatte. Könnte wichtig sein für die Beamten.
Unten vor dem Eingang hielten Polizei und Rettungswagen.
Zu hören war nichts. Dazu waren die Fenster zu gut isoliert.
Kein laut drang von draußen herein, Jetzt beginnt der Tanz.
Und alles nur, weil du deinen Job nicht erledigt hast, Becca.
Du müsstest eigentlich da liegen. Nicht dein Klient.

100
Kapitel 8

15. Dezember 2005, 23:55 Uhr / New York City (Queens)

Der eisige Wind schien mich nicht zu berühren, während ich


meine Kneipe ansteuerte. Es tangierte mich nicht – nichts tan-
gierte mich. Weder der Verkehrslärm noch das Geschrei eines
Typen, der eine Frau nieder brüllte. Ja, nicht einmal die dicke
Wolke aus Nikotin und winterlich-trockener Heizungswärme
störte mich, welche mir aus dem Lokal entgegen wehte, kaum
dass ich die Schwelle übertreten hatte. Wie betäubt nahm ich
am Tresen Platz und hob die Hand, um ein Bud zu ordern.
Frank schob es mir zu, enthielt sich aber sonst jeden Kom-
mentars.
Versagt, hämmerte es in meinem Kopf wider. Immer und im-
mer wieder. Du hast versagt, und darum musste ein Mensch
sterben. Dein Kunde musste sterben, Becca. Der Tiefpunkt,
seit du bei der Polizei aufgehört hast.
Es gab nicht viele Jobs, die ich derart versemmelt hatte. Und
noch nie war einer meiner Klienten auch nur zu Schaden ge-
kommen.
Mir fiel auch keine Entschuldigung ein, die mich entlastet
hätte. Für ein paar Sekunden war ich völlig von der Rolle ge-

101
wesen. Das hatte Spector das Leben gekostet. Wir hätten uns
im Bad einschließen müssen. Sie hätten ihn vielleicht leben
lassen. Und wenn sie es doch durch die schmale Tür geschafft
hätten, wäre es ein hoher Preis für sie gewesen.
Das und nur das wäre die richtige Lösung gewesen.
Was war es gewesen, dass mich derart falsch hatte handeln
lassen? Die Tatsache, dass diese beschissene Figur ein selt-
sames Eigenleben im Tresor geführt hatte? Der stinkende
Qualm? Oder all das zusammen? Dass ich zum zweiten Mal in
meinem Leben mit etwas Unfassbarem konfrontiert worden
war? Und wie beim ersten Mal, so war es mir auch in diesem
Fall nicht gelungen, die Situation zu beherrschen. Sie hatte
mich beherrscht und abermals war jemand gestorben.
Am liebsten hätte ich die Flasche mit dem Bud quer durch
den Raum geschleudert. Fahrig holte ich eine Xanax aus der
Packung und spülte sie mit etwas Bier hinunter. Schon die
zweite an diesem Tag; die erste war noch vor der Befragung
durch die Cops in Newark fällig gewesen.
„Hör auf dein Herz, Süße. Nur auf dein Herz hören, dann
wird alles leichter.“
Erschrocken fuhr ich zusammen. Neben mir, auf einem eben
noch freien Hocker, saß Herby. Er grinste mich schief an. Fau-
lige Zähne, stinkender Atem und mindestens drei Hemden
übereinander.

102
Frank musterte ihn schräg, stellte ihm dann aber ein Heine-
ken vor die Nase. Herby griff danach und nahm einen tiefen
Schluck. „Nur auf das Herz hören, Mädchen. Wie heißt er
denn?“
„Wer?“, fragte ich verständnislos. Weder begriff ich, wovon
der Penner faselte noch, warum ihn Frank bewirtete statt auf
die Straße zu setzen.
„Der Typ, der dir Sorgenfalten aufs Gesicht treibt. Unglück-
lich verliebt, wie?“
Eine Antwort wartete er nicht ab. Plötzlich, als sei ein Schal-
ter umgelegt, schaute er sich um und begann, etwas in seinen
buschigen Bart zu brabbeln. Er nahm das Bier und verzog sich
in die hinterste Ecke der Kneipe. Dort hockte er sich an einen
Tisch, senkte den Kopf und setzte seine Unterhaltung mit sich
selbst fort.
„Warum schmeißt du ihn nicht raus?“, wollte ich von Frank
wissen, als er verärgert über die Theke zu wischen begann. In
seinem Gesicht stand Wut geschrieben, aber auch Resignati-
on.
„Kann ich nicht. Der Laden gehört ihm“, kam es leise zurück.
„Bitte?“ Für einen Moment waren meine eigenen Sorgen ver-
flogen. „Diese Kneipe hier gehört Herby?“
„Ja“, gab Frank widerwillig zu. „Ich führe sie nur. Becca – der
Typ hat mehr Kohle als wir beide je haben werden. Aber er ist
auch verrückt. Schizophren oder so. Will lieber auf der Straße

103
leben, schiebt seinen Einkaufswagen umher und macht auf
Penner. Manchmal erinnert er sich daran, dass er hier eigent-
lich zu Hause ist. Dann kommt er, lässt sich von mir bedienen
und verschwindet wieder.“
„Er ist aber nicht dein ...“
„Nein, Gott bewahre. Ich war sein Barkeeper. Als er durch-
drehte übernahm ich den Schuppen. Aber er gab ihn nie an
mich ab. Tja, so ist das. Nun weißt du es. Aber posaune es
nicht raus, okay?“
Ich versprach es. Frank galt als Inhaber, Besitzer und Grün-
der der Kneipe. Es hätte seinem Image verdammt geschadet,
wäre die Wahrheit ans Licht gekommen. Frank hat ein Herz für
Penner wäre seinem Image noch abträglicher gewesen. Dar-
um hatte er es mir wohl erzählen müssen.
Nachdem das geklärt war, kehrte ich gedanklich zu meinem
eigenen Problem zurück.
Das Medikament begann zu wirken. Die Selbstzweifel und
der Hass auf mich traten in den Hintergrund, die dunklen Wol-
ken verschwanden. Es war Betrug an meiner Seele, aber es
tat so verflixt gut. Spector wurde nicht wieder lebendig; ganz
egal was ich tat. Noch einmal dachte ich an seine nahezu
kopflose Leiche. Das Geschoss, welches die Killer benutzt
hatten, war eine reine Tötungswaffe. Keine Selbstverteidigung.
Wer derart starke Explosivmunition einsetzt, der will seinen

104
Gegner auf jeden Fall töten. Ein Treffer, und das war es dann.
Ein weiteres Zeichen für die Kaltblütigkeit dieser Männer.
Und doch hatten sie mich nicht ermordet. Obwohl ich in der
Lage war, sie zu identifizieren.
Das konnte mehrere Dinge bedeuten. Sie glaubten nicht,
dass ich bei der Polizei eine Aussage machen würde. Doch so
dämlich waren die bestimmt nicht.
Oder es waren ohnehin so viele Menschen drumherum ge-
wesen, dass es auf mich nicht mehr ankam. Diese These war
schon griffiger, führte aber zu der Frage, wieso sie sich derart
ungeniert gegeben hatten. Und damit kam ich auch schon zu
Punkt drei meiner Überlegungen – es war ihnen egal, weil sie
sich ohnehin nicht davor fürchteten, verhaftet zu werden. Viel-
leicht fühlten sie sich zu mächtig. Oder sie waren es sogar. Ein
Gedanke, der mich erschauern ließ.
„Noch ein Bud?“
„Gib her. Der Tag war beschissen. Das, was ich neulich sag-
te, gilt heute dreifach. Die Welt besteht nur aus widerlichem
Eiter, der an allen Ecken und Enden aus den Ritzen quillt. Di-
cker, gelber Eiter, manchmal mit flüssiger Scheiße versetzt.
Ich hasse das Leben. Ich hasse mich, ich hasse meinen toten
Kunden und ich hasse jene, die ihn umgebracht haben. Am
liebsten würde ich auf das Empire State Building steigen und
einfach in die Tiefe springen. Aber wozu? Am Ende würde ich
in einem Bottich mit noch mehr Fäkalien landen.“

105
„Hör auf, Becca“, knurrte Frank. „Immer, wenn du in meinen
Laden kommst, ziehst du mich runter. Warum kommst du
nicht, wenn es dir gerade gut geht? Wenn das Leben sonnig
und deine Laune ganz oben ist? Wer bin ich? Dein Seelen-
Pisspott?“
„Ja, das bist du. Wozu sind Bartender sonst da? Sie hören
sich die Sorgen ihrer Gäste an, geben weise Ratschläge und
schenken nach, bis ihr Kunde vom Hocker kippt.“
„Leck mich! Nuckel an deinem Bier und halt die Klappe. Her-
by reicht mir.“
Er ist eine Seele von einem Mensch. Schade, dass es ihm
noch keiner gesagt hat. Ich kam seiner Aufforderung nach und
leerte auch das zweite Bud. Anschließend das dritte, vierte
und fünfte. Dazwischen schob ich eine weitere Xanax rein,
und als Frank den Laden abschloss, hätte mich auch das Auf-
tauchen von King-Kong nicht mehr aus der Fassung gebracht.
Alles war so weich, so friedlich und gut.

Als Lori nach Hause kam, fand sie mich auf dem Sofa sit-
zend vor. Vor mir stapelten sich leere Schokoladenpackungen,
eine halb geleerte Tüte mit Chips sowie drei Flaschen Wasser
– ebenfalls leer. Nur mit meinem Sleepshirt bekleidet kauerte
ich auf der Couch und starrte auf den Bildschirm. Dort flimmer-
te der Porno über die Mattscheibe, den mir Spector in die
Hand gedrückt hatte. Seine Tochter Claire war gerade im Bild.

106
„Hey Becca“, begrüßte mich meine Mitbewohnerin erstaunt.
Träge blinzelte ich auf die Uhr. Es war kurz vor sechs. „Dach-
te, du hättest einen Job und wärst bis morgen oder übermor-
gen weg.“
„Drei Typen kamen und haben meinen Kunden erschossen.
Sein Hirn spritze überall in dem Hotelzimmer rum.“
Lori riss die Augen auf. „Willst du mich verarschen?“
„Sehe ich so aus?“ Unmotiviert stopfte ich ein paar Chips in
den Mund. „Ich hab es voll versaut. Das ist die traurige Wahr-
heit. Eigentlich geht sein Tod auf mein Konto.“
„Oh Becca, das ist schrecklich! Aber ich bin froh, dass dir
nichts passiert ist.“ Sie kam zu mir, setzte sich und nahm mich
einfach in den Arm. Eine Geste, die mir gut tat. „Aber sag“,
fuhr sie nach ein paar Sekunden fort, „seit wann schaust du so
einen Kram, wenn du am Boden bist?“
Im Moment waren zwei Frauen und ein Mann zu sehen.
Während Claire die Möse ihrer Partnerin leckte, lutschte diese
hingebungsvoll am Pimmel des Typen. Dieser wieder schlab-
berte aufgeregt über Claires Möse. Ihre Körper bildeten ein
Dreieck, das erst aufgelöst wurde, als ein zweiter Mann hinzu
stieß. Pärchen wurden gebildet. Claire und ihr Partner doggy,
die anderen beiden missionierten.
„Die Rothaarige dort ist die Tochter meines Kunden. Er woll-
te sie enterben. Ich hab einen Brief an seinen Anwalt in der

107
Tasche. Falls ihm etwas zustößt. Ich wollte nur mal schauen,
was genau ihn derart auf die Palme gebracht hatte.“
„Herb“, bekannte Lori. „Und? Wirst du den Brief abgeben?
Oder vergisst du die Sache?“
„Keine Ahnung.“ Gerade schluckte Claire das Sperma ihres
Partners. Dabei schaute sie genießerisch grinsend in die Ka-
mera. „Tue ich es, versetze ich ihr zwei harte Schläge binnen
kürzester Zeit. Tue ich es nicht, breche ich mein Wort dem
Kunden gegenüber. So oder so werde ich mich dafür hassen.“
„Die Lebenden sind wichtiger als die Toten. Lass ihr das
Erbe. Lohnt es sich denn überhaupt?“
„So weit ich das überblicken kann, war Spector Millionär.
Das heißt, es lohnt sich ganz entschieden.“
Müde streckte ich mich. Die Darsteller des Streifens ließen
sich auch nichts Neues einfallen. Nachdem die Männer ge-
kommen waren, leckten sich die Frauen ihre Fötzchen. Zuvor
hatten sie sich mit verschmierten Mündern geküsst. Der Lip-
penstift von Claires Partnerin hatte dabei abgefärbt, so dass
die Tochter meines Kunden nun wie eine Squaw auf dem
Kriegspfad aussah. So erhielt der Streifen zumindest eine hu-
moristische Note. Kussecht, aber nicht spermaecht.
„Oh Becca. Kann ich etwas für dich tun?“, fragte Lori. Sie
war müde und wollte vermutlich nur eines – ins Bett. Darum
schüttelte ich auch den Kopf.

108
„Nein, danke. Ich mach die Kiste jetzt aus und verschwinde
in die Falle. Morgen werde ich eine Sondereinheit auf den
Steppern absolvieren und mich mit den Gewichten foltern. An-
schließend knicke ich es für dieses Jahr. Bald ist Weihnach-
ten, dann Neujahr. Alle kommenden Aufträge können bis ins
nächste Jahr warten. Scheiß drauf!“
„Guter Plan“, grinste meine Mitbewohnerin. „Komm doch
morgen Abend mit in den Club. Ist ohnehin nicht viel los, in
dieser Zeit. Die anderen Mädchen freuen sich bestimmt. War
das letzte Mal doch ganz lustig.“
„Ja, das klingt gut. Warum auch nicht – ein bisschen Abhän-
gen kann nicht schaden. Und später in den Club ...“
Sofort hob Lori die Hand. „Aber Finger weg von der Peit-
sche. Dein Rücken braucht Erholung.“
Schade. Dabei wäre genau das jetzt das Richtige. Ein paar
kräftige Schläge, bis mein Hirn leergefegt ist und mein Unter-
leib in Flammen steht.

109
Kapitel 9

16. Dezember 2005, 13 Uhr / New York City (Queens)

And Jesus was a sailor


When he walked upon the water
And he spent a long time watching
From his lonely wooden tower ...5

Die Musik drang aus den Kopfhörern des kleinen Walkmans,


während ich auf dem Rad saß und mich der Zehn-Meilen-
Grenze näherte. Schweiß lief über meinen Körper. Das graue
Shirt klebte bereits an mir, die Hose nicht minder. Die Strie-
men auf meinem Rücken brannten, die Luft entwich stoßweise
aus meiner Lunge. Meine Beine fühlten sich bereits an, als
seien sie mit Pudding gefüllt. Und doch strampelte ich mich
ab, bemüht, keinesfalls an Spector zu denken. Leonard Co-
hen, der nur dem Namen nach mit mir verwandt war, sollte mir
dabei helfen.
Um mich herum wurden Gewichte gestemmt, Stepper be-
nutzt und Verrenkungen auf dem Boden ausgeführt, die wohl
eine besondere Form der Gymnastik sein sollten.

5
Leonard Cohen - Suzanne (Songs of Leonard Cohen, 1967)

110
Gerade, als zwei junge Typen das Gym betraten und ziel-
strebig zu einer Muskelbank gingen, begann mein kleines,
schwarzes Täschchen neben mir zu hüpfen. In diesem Ding,
das normalerweise im dauerhaft angemieteten Spind des Fit-
nessstudios liegt, bewahre ich während meinen Trainingsein-
heiten das Handy, die Geldbörse und ein Päckchen Taschen-
tücher auf. Außerdem steckt eine kleine, handliche Pistole dar-
in; für alle Fälle. Wer Feinde hat, der sollte sich schützen.
Das Mobiltelefon, welches ich zu dieser Zeit nutzte, hätte mit
seinem Vibrations-Akku jedem Dildo Konkurrenz machen kön-
nen. Damit war es nicht nur Gegenstand unzähliger Witze,
sondern auch ein echter Hingucker. So wie in diesem Moment,
als meine kleine Tasche zu hopsen begann. Eine Frau, die ne-
ben mir auf dem Laufband stand, starrte das kleine Ding an,
als vermutete sie darin einen Hund oder eine Katze. Hey, das
ist New York City. Hier stopft jeder seinen Hund in einen
schmalen Beutel.
Enttäuscht, mich nicht völlig verausgaben zu können, been-
dete ich meine kleine Radtour und griff nach dem Handy. Ein
Knopfdruck, und das Oberteil klappte auf.
Die im Display angezeigte Nummer war mir unbekannt. Je-
doch handelte es sich um einen Festnetzanschluss hier in
New York.
„Cohen?“

111
Knapp, präzise und ohne störende Schnörkel. Außerdem mit
einem Unterton in der Stimme, der jeden Werbeanruf zum Auf-
geben bewegte. Eine Strategie, die meist half.
„Rebecca Cohen?“, fragte eine leise, weibliche Stimme. Ein
ungutes Gefühl beschlich mich.
„Nein, Sie haben sich verwählt. Tut mir leid, aber mein Name
ist Flora Cohen.“
„Glaube ich nicht.“ Die Erwiderung klang bedeutend kräfti-
ger. „Ich möchte mich gerne mit Ihnen unterhalten, Miss Co-
hen.“
„Was glauben Sie gerade zu tun, Miss ...?“
„Spector. Claire Spector.“
Vorn ferne erklang bereits die Götterdämmerung. Einem ers-
ten Impuls folgend wollte ich das Handy zuklappen, auf die
Straße tragen und dort von einem LKW überfahren lassen.
Aber dies tat ich nicht. Was konnte das arme Mobiltelefon da-
für?
„Miss Spector – es gibt nichts, worüber wir uns unterhalten
könnten. Ihr Vater war mein Kunde und ich konnte sein Leben
nicht retten. Das ist traurig; mein herzliches Beileid zu Ihrem
Verlust. Mehr werden Sie von mir nicht hören.“
„Miss Cohen“, erwiderte die junge Frau rasch, „bitte – nur ein
paar Minuten. Ich will wissen, was genau passiert ist. Können
wir uns sehen? Ich zahle Ihnen notfalls die Auslagen. Es ist
mir sehr wichtig.“

112
Und mir ist es wichtig, die ganze Sache vergessen zu kön-
nen. Scheiße, die letzten Tage waren grauenvoll und du
machst es nicht besser, Porno-Queen. Natürlich tat sie mir
leid. Sie hatte all mein Mitleid, wenn man so will. Aber ich woll-
te keinesfalls mit ihr leiden. Wie sollte es mir gelingen, den
Tod ihres Vaters zu verdrängen, wenn sie sich mit mir treffen
wollte? Das war schlicht unmöglich.
Andererseits verstand ich natürlich ihr Bedürfnis, die ganze
Geschichte zu hören. Sie wollte wissen, wie ihr Dad gestorben
war. Vielleicht glaubte diese Claire auch, es würde ihre Trauer
mindern. Ein Trugschluss, aber diese Erfahrung musste sie
letzten Endes selbst machen.
„Wie Sie meinen. Nennen Sie Ort und Zeitpunkt, dann kön-
nen wir uns treffen. Sollten Sie jedoch meinen, mir Vorwürfe
machen zu müssen, werde ich das Treffen sofort abbrechen.“
„Schon verstanden. Sie waren für das Leben meines Vaters
verantwortlich und nun ist er tot. Warum also ihnen einen Vor-
wurf machen?“
Kleine, ich halte dein künftiges Glück in meiner Hand. Noch
ein Wort, und der Brief geht an den Anwalt deines Vaters. „Se-
hen Sie – das ist der Grund, warum ich einem Treffen skep-
tisch gegenüber stehe. Wenn es nur darum geht, dann lassen
wir es besser.“

113
„Nein, nein. Bitte, ich ... weiß nicht, wie lange ich arbeiten
muss. Ich habe später eine kurze Pause, die wir nutzen könn-
ten. Allerdings gibt es in der Nähe keinen guten Platz.“
Hättest du dir das nicht überlegen sollen, ehe du mich ange-
rufen hast? „Ich kann ja auf Ihrer Arbeitsstelle vorbeischauen.
Sagen Sie einfach die Zeit an.“ Okay – das war jetzt gemein.
„Sie ... wissen sicherlich nicht, wo ich arbeite. Es wäre nicht
so gut, wenn Sie hier vorbeischauen würden. Könnte ein we-
nig seltsam sein. Für Sie sogar mehr als für mich.“
Zeit, die Kleine zu schocken. „Schade. Wollte schon immer
mal sehen, wie Pornofilme entstehen.“
Schweigen.
Es hielt länger als erwartet. Meine Hoffnung wuchs, dass sie
nun auflegen und niemals wieder anrufen würde. Aber dieser
Wunsch ging nicht in Erfüllung.
„Oh.“, erklang es nach ein paar Sekunden. „Also hat Ihnen
mein Vater gesagt, womit ich mein Geld verdiene. Erstaunlich.
Sonst redete er nie darüber. Haben Sie mich ... Ich meine,
kennen Sie einen meiner Filme?“
„Geheime Triebe blutjunger Cheerleader. Ihr Vater drückte
ihn mir gestern in die Hand, damit ich mir ein Bild davon ma-
chen könne. Ich habe ihn mir angesehen. Nun ja, zumindest
einen Teil.“
Wieder Schweigen. Verdammt, wie sehr muss ich dich noch
demütigen, damit du auflegst und die Sache vergisst?

114
„Das Studio befindet sich in Brooklyn. Ich habe gegen fünf
eine Drehpause, da wir den Film heute noch in den Kasten be-
kommen wollen.“
„Okay. Wo genau muss ich hin?“
„Canarsie. Nehmen Sie die Remsen Avenue. Die letzte
Querstraße vor dem Beach Park ist es. Ein altes Haus. Im
Erdgeschoss ist ein indischer Schnellimbiss, daneben eine Fi-
liale der Citibank. Sie können es gar nicht verfehlen. Außer-
dem steht der Studioname an der Tür. Golden-Pics-Producti-
on. Wenn ich noch nicht fertig bin, warten Sie einfach in unse-
rem Aufenthaltsraum.“
„Sind Sie sicher?“
Sie stieß ein seltsames Geräusch aus. Es erinnerte mich an
das Quicken von Ferkel, dem Schwein bei Winnie the Poo.
„Sie haben mich schon in Action gesehen. Vielleicht dient es ja
meiner Ehrenrettung, wenn Sie einen Blick hinter die Kulissen
werfen. Außerdem ist es nur ein Job, und ich habe ihn mir
ausgesucht.“
„Wie Sie meinen, Miss Spector. Also, bis um fünf. Auch
wenn ich nicht glaube, dass dieses Treffen zu etwas führt.“
„Wir werden sehen.“ Damit legte sie auf. Frustriert schaute
ich das Handy an. Verdammt, ich hätte es doch nach draußen
tragen und unter einen LKW legen sollen. Jetzt habe ich die-
ses Treffen an der Backe. Du bist zu weich, Becca.

115
Das Schreiben an Spectors Anwalt fiel mir wieder ein. Es
steckte noch immer in meiner Tasche. Es war gemein, meine
Entscheidung von dem Treffen abhängig zu machen. Diese
Claire ahnte nicht einmal, was ich gegen sie in der Hand hatte.
Andererseits musste ich mich für eine der beiden Varianten
entscheiden – den Brief abliefern oder ihn vernichten. Viel-
leicht fiel es mir leichter, wenn sie keine Fremde auf dem Co-
ver eines Hardcorefilms mehr war.
Eine Hexe lässt man lieber enterben als ein nettes Mädchen,
das lediglich einen dem Vater nicht genehmen Job ergriffen
hatte.
„Brauchen Sie das Rad noch?“, riss mich eine ungeduldige
Stimme aus den Gedanken. Vor mir stand eine Frau und tapp-
te mit dem Fuß auf.
„Ja, ich brauche es noch. Später fahre ich damit sogar nach
Brooklyn zu einem Treffen. Warten Sie also nicht darauf, dass
es frei wird.“ Damit schaltete ich die Musik wieder ein. Leonard
versuchte vergeblich, gegen die Angst in mir anzukämpfen.
Dieses Treffen hing nun wie ein Damoklesschwert über mir.
Es konnte in einem furchtbaren Geschrei enden. Konnte,
wohlgemerkt. Musste nicht.
Vielleicht war es gerade das, was mich so nervös machte.
Die Ungewissheit. Fast schon wäre mir die Gewissheit lieber
gewesen, dass es zu einem handfesten Streit kommt. Dann
hätte ich mich darauf vorbereiten können.

116
Während die Ungeduldige mit einem wütenden Blick abzog,
trat ich in die Pedale. Sehr schnell lief der Schweiß wieder
über meinen Körper. Fast war es, als wollte etwas in mir wirk-
lich vor dem Treffen davonfahren.
Als ich mich schließlich an die Bar schleppte, war ich am
Ende meiner Kraft.
Genutzt hatte es nichts, die Angst war geblieben. Und das
Treffen auch. Das Dumme an diesen Rädern – sie sind fest
am Boden verankert. Wie soll man darauf die Flucht ergreifen
können?

Früher einmal war Canarsie von italienisch-stämmigen Ein-


wanderern besiedelt gewesen. Ende der Sechziger kamen die
Schwarzen, doch nun lebten hier überwiegend indische Ein-
wanderer. Man sah es, wenn man an den Geschäften vorbei
fuhr und man roch es, wenn man an den offenen Verkaufsthe-
ken der Schnellimbisse entlang schlenderte. Man hörte es
auch, wenn sich die Leute um einen herum lautstark unterhiel-
ten.
Das Studio zu finden, war in der Tat nicht schwer gewesen.
Genauso leicht war es, hineinzugelangen. Überraschend, wie
mir schien, denn schließlich war dies keine Versicherungs-
agentur. Doch es reichte, kurz zu klingeln. Ein Mann öffnete,
musterte mich kurz und schon war der Weg frei.

117
Es war ein ehemaliges Wohnhaus, in dem die Filme gedreht
wurden. Das wurde mir klar, als ich durch den schmalen Flur
ging. Ein Bad, eine Küche, die als Aufenthaltsraum diente und
drei Räume, über deren geschlossenen Türen rote Lampen
angebracht waren. Eine davon leuchtete.
An der Wand neben einem letzten Zimmer stand Büro auf ei-
nem schlichten Schild. Jener, der mir geöffnet hatte, stand da-
vor und wartete auf mich.
„Ehe wir auch nur ein Wort wechseln, füllst du am besten
den Fragebogen aus. Geh in den Aufenthaltsraum, hol die ein
Wasser aus dem Kühlschrank und denk genau über die Ant-
worten nach, die du auf den Zettel schreibst. Es geht nicht dar-
um, einen guten Eindruck zu machen. Es geht darum, ehrlich
zu sein. Verstanden?“
Damit reichte er mir ein Klemmbrett samt Kugelschreiber,
wandte sich ab und war im Büro verschwunden, noch ehe ich
etwas sagen konnte. Etwas ratlos betrachtete ich den Frage-
bogen für neue Darsteller.
Im Aufenthaltsraum saß lediglich eine Frau an einem run-
den, silbern glänzenden Tisch. Sie blätterte in einem Magazin,
nippte hin und wieder an einem Kaffee oder biss in einen Do-
nut pur; also ohne Zucker und Glasur. Als ich eintrat, schaute
sie auf. Ihr Blick fiel auf das Klemmbrett in meiner Hand.

118
„Oh, eine Neue? Ich bin Cindy. Wenn du Fragen hast, dann
immer raus damit. Haben wir alle gemacht, solch einen Bogen
ausgefüllt.“
„Danke, aber eigentlich habe ich nicht vor, in die Branche
einzusteigen. Ist Claire Spector noch beschäftigt?“
„Ja. Sie hat gerade eine Szene mit Ramon und Beatrice.
Dauert wohl länger. Ist schon Ramons dritte Aufnahme heute.“
„Und das ist viel?“
Cindy lachte. „Für einen Mann schon. Bei uns Frauen muss
ja nichts stehen, damit es weitergehen kann. Ein bisschen
Gleitmittel und abends Salbe auf die Möse, das reicht. Aber
bei den Jungs muss der Körper mitspielen.“ Sie fixierte mich.
„Du bist echt nicht aus der Branche. Bist du eine Freundin von
Claire?“
„Kann man so nicht sehen. Wir haben etwas zu besprechen
und sie wollte, dass ich hierher komme. Ich warte auf ihre
Drehpause oder so.“
„Ja, klar. Nach ihr bin ich dran.“ Eine Tür wurde geöffnet.
Stöhnen drang daraus hervor. Kurz darauf erschien ein ange-
zogener Mann im Aufenthaltsraum und musterte mich.
„Probeaufnahmen? Im Keller befindet sich unser Magazin.
Such dir einen Fummel raus und komm anschließend in die
Zwei. Erst eine Solo-Nummer, dann eine mit Carl. Falls der je-
mals wieder aus der Pause zurück kommt. Hast du schon ein-
mal Hardcore gedreht?“

119
„Nein“, erklärte ich wahrheitsgetreu. „Eigentlich ...“
„Ist egal. Komm mit in die Eins. Dann siehst du, wie das
läuft. Den Wisch kannst du später ausfüllen. Klappt es nicht
vor der Kamera, ist ohnehin alles für’n Arsch gewesen.“ Er
nahm sich ein Wasser aus dem Kühlschrank und winkte mir
ungeduldig, ihm zu folgen.
Es wäre sicherlich korrekt gewesen, ihn aufzuklären. Aber
wann bekommt man schon einmal die Gelegenheit, sich eine
solche Produktion anzuschauen? Zudem hätte er mich ja fra-
gen können, ob ich wirklich für Probeaufnahmen gekommen
war. Wobei das Wort gekommen in diesem Zusammenhang
natürlich eine besonders pikante Note erhält. Oh, und versucht
hatte ich es auch. Mein Eigentlich war von ihm lediglich über-
hört worden.
Cindy grinste, als ich aufstand, ihr ein Petzauge zuwarf und
mich auf den Weg in die Eins machte; jenem Raum, über des-
sen Tür das rote Licht brannte.
Das Studio sah aus wie ein Wohnzimmer. Sofa, Tisch und
Sessel. Dazu ein billiger Schrank aus Nussbaumholz. An der
Decke hingen Strahler, die ein helles Licht lieferten. Ein Mikro-
fongalgen schwebte dazwischen.
Unter ihm lag Claire auf dem Tisch, die Beine weit gespreizt.
Es wirkte alles andere als bequem. Zwischen ihren Schenkeln
kauerte ein Mann. Er hielt ihre Füße, während sich sein Be-
cken rhythmisch vor und zurück bewegte. Er fickte die Kleine

120
mit geschlossenen Augen. Sie selbst keuchte, aber dieses Ge-
räusch ging unter, da eine zweite Frau in der 69er auf ihr lag
und sich beide leckten. Schweiß lief über ihre Körper.
Rechts von ihnen befand sich die Kamera. Ein Mann stand
hinter ihr, eine Frau saß auf einem Regiestuhl und schaute auf
einen kleinen Monitor, der mit der Kamera verbunden war.
„Ihr schaut aus, als würde euch die Sache stressen. Darf ich
um ein bisschen mehr Lust bitten“, rief sie unvermittelt. Sofort
stöhnten die Frauen lauter. Auch bewegten sie sich natürli-
cher. „Besser“, kommentierte die Regisseurin. „Ramon, wenn
du so weit bist, kannst du spritzen. Aber sag Bescheid, wir
wollen den Cumshot aufnehmen. Am besten in Salmas Ge-
sicht. Ein Facial zum Abschluss wäre eine gute Sache.“
Die Drei trieben es noch ein paar Sekunden, ehe Ramon die
Augen aufriss. „Oh Baby, ich komme. Das ist so gut. Ich spritz
euch beide voll. Ja, jetzt, ich komme, jaaaa ...“ Salma, wie
Claires Partnerin wohl hieß, zuckte zusammen. Zwar stöhnte
sie noch lauter, aber es klang sonderbar.
„Und cut. Alles klar, die Szene ist im Kasten. Gut gemacht,
Leute. Geht duschen. Wir sehen uns später zur Abschluss-Or-
gie wieder.“
Die Kamera wurde abgeschaltet. Aus dem Hintergrund
schälte sich eine junge Frau mit feuchten Tüchern, um sie den
Darstellern zu reichen. Vor allem Salma brauchte eins, denn
sie tropfte. „Kannst du das nächste Mal auf meine Nase oder

121
den Mund zielen? Ich hasse es, wenn mir Sperma ins Auge
läuft“, bat sie ihren Partner.
Dieser nickte.
Claire stand ebenfalls auf, nahm sich ein Handtuch und
wischte sich damit zwischen den Beinen ab. Unsere Blicke tra-
fen sich.
„So, nun hast du gesehen, wie es bei uns zugeht. Mit Erotik
hat das wenig zu tun“, erklärte jener, der mich in den Raum
mitgenommen hatte. „Manche denken, das sei alles pure Lust
und Spaß. Aber es ist Arbeit. Zieh dich aus, dann können wir
ein paar Aufnahmen machen. Ganz ungezwungen.“
„Danke, aber ich behalte meine Kleider lieber an“, erklärte
ich bestimmt. „Eigentlich bin ich hier, um mit Claire Spector zu
sprechen. Aber es war sehr interessant, hier zuzuschauen.“
„Das glaube ich“, knurrte mein gegenüber. „Obwohl wir
Zaungäste in der Regel nicht mögen. Haben Sie einen Grund,
unsere Darstellerin zu stören?“
Er erhielt von mir meine Visitenkarte. „Der gewaltsame Tod
ihres Vaters dürfte ein ausreichender Grund sein, finden Sie
nicht? Zudem lud sie mich ein, in ihrer Drehpause vorbeizu-
schauen.“
Er kniff die Augen zusammen. Dann wandte er sich an Claire
Spector. „Dein Vater wurde gestern ermordet? Stimmt das?“
„Ja“, gab sie zu. „Erschossen, wie es heißt. In einem Hotel in
Newark. Die Polizei hat es mir gestern gesagt.“

122
„Und da drehst du heute? Spinnst du? Wir hätten jedes Ver-
ständnis gehabt, wenn du nichts ans Set gekommen wärst.“
Ein freudloses Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Danke,
Phil. Aber mein Vater hatte vor vielen Jahren mit mir gebro-
chen. Eigentlich redeten wir seit dem Beginn meiner Karriere
gar nicht mehr miteinander. Er hasste mich aus tiefstem Her-
zen, und mir war es egal. Sein Tod ließ mich seltsam kalt. Also
dachte ich mir, ich könne auch den Film zu Ende bringen.“ Sie
schaute wieder zu mir. „Lassen Sie mich schnell duschen.“
Sie verschwand.
Phil hingegen musterte mich nachdenklich. „Sind Sie Poli-
zistin? Ermitteln Sie in dem Fall?“
„Privatdetektivin. Mein Name ist Rebecca Cohen. Und nein –
ich ermittele nicht in dem Fall. Ich war Mister Spectors Body-
guard. Leider konnte ich ihm am Ende nicht helfen.“ Weil ich
versagt habe. Aber das verrate ich dir nicht.
„Oh.“ Er drehte die Karte in seiner Hand. „Das tut mir leid.
Nun ja, dann sprechen Sie mal mit Claire. Sollte sie doch nach
Hause wollen, habe ich nichts dagegen. Die Orgie bekommen
wir auch ohne sie hin. Wir haben noch Schnittmaterial.“
Damit ließ er mich allein. Erneut glitt mein Blick in die Runde.
Mit Erotik hatte solch eine Produktion wirklich nichts zu tun.
Ob ihr Vater es gewusst hatte? Oh ihm klar war, wie solch ein
Film entsteht? Beide Frauen hatten jedenfalls nicht den Ein-

123
druck gemacht, den Sex vor der Kamera als besonders geil zu
empfinden. Es war eine Form des Schauspiels – fertig.
Cindy saß noch im Aufenthaltsraum, als ich dorthin zurück-
kehrte. Auch Ramon und Salma. Sie nickten mir knapp zu, un-
terhielten sich dann jedoch weiter.
„So, da bin ich.“ Claire erschien kurz nach mir. Sie trug einen
weißen Bademantel und Socken. Ihr Haar war noch nass.
„Gehen wir in die Zwei, die wird heute nicht mehr benutzt.“
Der Raum, der mir nun präsentiert wurde, war einem Kerker
aus dem Mittelalter nachempfunden. Käfige, Peitschen, Ketten
und Kerzen. „Hier werden auch härtere Filme gedreht. S/M –
das aber ohne Sex. Nicht meine Welt.“
Mein Rücken zuckte beim Anblick dieser Gegenstände.
„Kommen Sie, wir gehen da rüber.“ Claire deutete auf zwei
schwarze Ledersessel. Mit der Hand strich ich über die Ober-
fläche. Ein leises Lachen erklang. „Keine Angst, hier wird alles
nach dem Dreh desinfiziert. Sauberer geht es nur noch im
Krankenhaus zu.“
Wir setzten uns gegenüber. „Also – was haben Sie auf dem
Herzen, das dieses Treffen notwendig macht?“
Sie schien unsicher zu sein. Ihre Hände waren in Bewegung,
ihr Blick glitt an mir vorbei ins Leere. Claire sah hübsch aus.
Jung, gepflegt. Eine Frau, die auf sich achtet. Doch dies war
bei diesem Job wohl Voraussetzung.

124
„Es geht um das, was meinem Vater widerfahren ist“, erklär-
te sie leise. „Auch wenn wir kein gutes Verhältnis zueinander
hatten, war er doch mein Dad. Viele Jahre lang fühlte ich mich
von ihm geliebt.“
„Ja, das verstehe ich. Es war wohl nur diese eine Sache, die
Sie und ihn entzweit hat.“
„Eben. Er sprach mit Ihnen über mich. Hat er gesagt, ob er
mir letztlich ... Ich meine, war so etwas wie Verständnis zu
spüren gewesen?“
Sie bettelte um ein Ja. Sie wollte diese Bestätigung, auch
wenn sie es nicht direkt äußerte. Diese bekam sie von mir
nicht. Mehr noch – ihr alter Herr war mit Zorn in seinem Her-
zen gestorben. Ein Zorn, den er sie über seinen Tod hinweg
hatte spüren lassen wollen. Darum schüttelte ich den Kopf.
„Nein, leider nicht. Er war unversöhnlich, wie mir schien.“ Mich
interessierte, wie sie an diesen Job gekommen war. Sicher
nicht durch ihren Studienberater.
„Schade. Nun ja ...“ Plötzlich lief eine Träne über ihre Wan-
ge. Sie wischte sie weg. „Bis eben dachte ich, sein Tod würde
mich nicht berühren. Als die Polizei gestern vor meiner Tür
stand, ließ es mich kalt. Auch heute, während des Drehs dach-
te ich nicht an ihn. Aber jetzt ...“
Einen Augenblick lang hatte sie sich noch im Griff – dann
brach es auch ihr heraus. Zu meiner Überraschung warf sie

125
sich dabei nach vorne, um ihren Kopf gegen meine Schulter
zu drücken. Hemmungslos ließ sie ihren Gefühlen freien Lauf.
Ein wenig unbeholfen tätschelte ich ihre Schultern. Ich wollte
nicht zulassen, dass ihre Trauer mich berührte. Das würde nur
alte Wunden in mir aufreißen. In Selbstmitleid zu versinken
war bedeutend einfacher.
„Geht schon wieder“, murmelte Claire schließlich. „Es ist
nur ... erst habe ich meine Mutter verloren. Sie starb an einem
Tumor. Dann wandte sich mein Vater von mir ab. Und nun ist
er tot. Ich habe niemals wieder die Chance, mit ihm über mei-
ne Entscheidungen zu sprechen. Das ist nicht fair.“
„Das Leben ist selten fair“, gab ich zurück. „Oft merkt man
seine Versäumnisse erst, wenn es zu spät ist. Das ist leider
so.“
Sie nickte und wischte sich wieder über ihre Augen. Vor mir
verwandelte sie sich vom Pornosternchen zu einem Häufchen
Elend. Stärke ihrerseits wäre mir lieber gewesen.
„Also schön“, murmelte sie schließlich. Es klang wie ein Ab-
schluss ihres kurzen Zusammenbruchs, war aber nur eine
Pause. Wieder weinte die junge Frau. Es dauerte Minuten,
ehe sie sich im Griff hatte und endlich zum Kern kommen
konnte. „Ich möchte, dass Sie die Mörder meines Vaters fin-
den. Sie sind Detektivin. Die Polizei ist chronisch überlastet.
Außerdem meinte der Beamte schon gestern, die Chancen
stünden nicht gut.“

126
Das wunderte mich. Es gab Kamera-Bilder von den Tätern.
Zumindest war dies mein Wissenstand. Warum also sollte es
nicht gut aussehen? „Hören Sie – ich kann Ihre Wut und Ihren
Schmerz sehr gut nachvollziehen. Aber ich habe es nicht ge-
schafft, Ihren Vater zu beschützen. Warum wollen Sie also ge-
rade mich mit der Jagd auf seine Mörder beauftragen?“
„Warum?“ Mit einem Kleenex, die auf einem kleinen Wand-
regal standen, putzte sie sich die Nase. „Sie haben eine
Scharte auszuwetzen. Sie konnten die Killer nicht daran hin-
dern, meinen Pa zu ermorden. Umso wichtiger für Sie, die Tä-
ter zu erwischen.“
Ihre Worte trafen mich wie eine Ohrfeige. Dennoch ließ ich
mir nichts anmerken.
„Ich hoffe, Sie erwarten nicht, dass ich umsonst arbeite. Aus
Mitleid, wegen Gewissensbissen oder solchen Dingen. Ja, ich
fühle mich schlecht. Aber mein Vermieter wird hierfür nur sehr
wenig Verständnis haben. Und bei Wal Mart bekomme ich
deswegen mein Essen auch nicht geschenkt.“
„Niemand sagt, dass Sie umsonst arbeiten sollen. Ich habe
etwas auf der hohen Kante. Mein Dad und ich – wir haben
nicht mehr geredet. Es bedeutet nicht, dass ich ihn nicht mehr
geliebt hätte. Auch wenn mir das erst in den letzten Minuten
klar geworden ist.“
Die Vorstellung, diesen eiskalten Killern nachzujagen, berei-
tete mir Magenschmerzen. Einerseits wollte ich diese Bastar-

127
de nicht nur ins Gefängnis bringen, sondern auch dabei sein,
wenn man sie auf die Liege schnallte und ihnen das Gift in den
Körper pumpte. Andererseits wollte ich keinesfalls, dass sie
mir den Kopf vom Körper pusteten. Eine durchaus realistische
Gefahr, wie mir schien.
„Miss Spector, ich ...“
„Bitte – lassen wir doch die Förmlichkeiten. Ich heiße Claire.
Himmel, du hast mich beim Dreh beobachtet.“
„Also schön, Claire. Ich bin ehrlich – die Sache gefällt mir
nicht. Es wäre besser, wenn wir diesen Fall der Polizei über-
lassen. Ich arbeite allein und sah gestern ziemlich alt aus. Sie
ließen sich durch meine Anwesenheit nicht gerade abschre-
cken. Mehr noch – sie ließen mich am Leben, obwohl ich sie
jederzeit identifizieren kann. Das bereitet mir Kopfzerbrechen.
Die Tatsache, dass dir die Polizisten trotz meiner Aussage und
Videobänder keine Hoffnung machen konnte, lässt in diesem
Zusammenhang gewisse Vermutungen zu.“
„Also lehnst du den Auftrag ab? Ist es das?“
Sie klang nicht verärgert. Eher traurig. So, als würde sie sich
im Stich gelassen fühlen. Allerdings kann ich nicht ausschlie-
ßen, dass es mir nur so erschien. Eben weil ich mich ihr ge-
genüber so verdammt schuldig fühlte; mit jeder Sekunde ein
bisschen mehr.
„Nun, deine Anfrage kommt überraschend. Ich würde gerne
darüber nachdenken. Gib mir deine Telefonnummer.“ Ich

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nahm mein Handy hervor und tippte die Zahlen ein, die mir
Claire nannte. Anschließend holte ich den Brief aus der Ta-
sche, den ich Spectors Anwalt hätte schicken sollen. Ein
Ratsch, und er ging entzwei.
„Was war das?“, wollte Claire wissen.
„Deine Zukunft. Eigentlich wollte dein Vater, dass den sein
Anwalt bekommt. Zumindest, wenn ihm was zustößt. Aber das
kann ich nicht.“
Sie starrte mich an. „Er ... er wollte, dass ich aus seinem
Testament verschwinde. Oder? Und du hast ...“
„Ich konnte nicht verhindern, dass dir der Vater genommen
wird. Aber ich bin keine derart verdammte Hexe, dass ich dir
auch noch dein Erbe nehme.“ Mir war es unangenehm, ihrem
Blick in dieser Situation zu begegnen. Darum beeilte ich mich,
aufzustehen. „Wir telefonieren morgen.“
Fast fluchtartig verließ ich den Raum, wollte nur noch raus –
nur weg von ihr. Jemand rief etwas hinter mir her, aber das
bekam ich schon nicht mehr mit. Claires Trauer, ihre Hoffnung
darauf, dass ich den Job annahm und ihr Entsetzen über die
Absicht ihres Vaters, sie zu enterben einerseits, die Erleichte-
rung darüber, dass diese nicht umgesetzt werden würde, hat-
ten bei mir zu Beklemmungen geführt; weiß der Geier, warum.
Lausige Kälte und Dunkelheit umfingen mich, kaum dass die
Treppe und die Tür hinter mir lagen. Aber da war noch mehr.
Der würzige Duft einer indischen Delikatesse.

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Ich wandte mich um und sah das lächelnde Gesicht einer In-
derin hinter einer Verkaufstheke im Erdgeschoss des Studio-
Gebäudes. Was auf dem Grill schmorte, war nicht zu erken-
nen.
„Scharf?“
Sie nickte. „Sehr.“
„Dann nehme ich eine Portion. Und geben Sie noch etwas
Curry zu.“ Mein Rücken verheilt. Zeit, meinen Mund zu quälen.
Es wurde eine Tortur, die mir die Tränen in die Augen trieb.
Gleichzeitig war es aber auch so köstlich.

130
Kapitel 10

17. Dezember 2005, 08.20 Uhr / New York City (Queens)

Der Kaffee schmeckte an jenem Morgen fade. Doch dies lag


wohl daran, dass das indische Essen meine Geschmacks-
knospen vollständig zerstört hatte.
Ohne Genuss kippte ich ihn hinein. Auch die Bagle, die Lori
auf dem Heimweg gekauft hatte, konnten meinen Gaumen
nicht mehr reizen.
„Liegt dir die Sache mit deinem toten Kunden noch immer
derart schwer auf dem Magen?“, wollte meine Mitbewohnerin
wissen. „Du siehst aus, als würdest du jeden Moment in tiefste
Depressionen verfallen.“
„Lori, ich bin vor vielen Jahren in Depressionen verfallen und
habe mich nie davon erholt. Allerdings ist es nicht die Tatsa-
che, dass mein Klient gestorben ist. Deswegen war ich ges-
tern betrübt. Heute stellt sich mir die Frage, ob ich seine Mör-
der jagen soll. Seine Tochter kam auf mich zu mit der Bitte,
dies zu tun.“
„Sie engagiert die Frau, die ihren Vater ...“ Lori sah meinen
Blick und hob die Hand. „Das sollte keine Anklage sein. Him-

131
mel, Becca – ich habe größten Respekt vor deiner Arbeit. Es
mutet nur seltsam an, dass sie dir vertraut.“
„Ja, das dachte ich mir gestern auch schon. Diese Claire ist
ohnehin eine seltsame Person.“
„Das Pornosternchen, nicht wahr? Muss komisch sein.
Kommt man sich da nicht vor wie eine Nutte?“
„Glaub ich nicht“, gab ich zurück. „Hab gestern bei Drehar-
beiten zugesehen. Die machen ihren Job, fertig. Und zwar alle
Beteiligten.“
„Trotzdem ... Obwohl ich mal ein Angebot erhielt, in einem
solchen Film mitzuspielen. Hab es dann nicht getan. Ich war
einfach zu feige.“
„Tja ...“ Mehr fiel mir im Moment nicht dazu ein. Zumal es mir
nicht half, zu einer Entscheidung zu gelangen.
„Also, was wirst du tun? Deinen Vorsatz, dieses Jahr nicht
mehr zu arbeiten über Bord werfen? Oder erteilst du ihr eine
Absage?“
„Keine Ahnung“, gab ich zu. „Eigentlich wäre es vernünftig,
die Sache zu kicken. Andererseits könnte es mir eine gewisse
Genugtuung verschaffen, die Killer zu schnappen. Ihnen zu
zeigen, dass meine Kunden besser nicht erschießt. Scheiße,
die haben Spector den Kopf vom Körper geschossen. Überall
das Blut und Hirn und Knochen. Selbst in meinem Mund, ver-
stehst du?“

132
Lori würgte. Sie hielt sich eine Hand vor den Mund und
sprang auf. Wut blitzte in ihren Augen. Fast glaubte ich, sie
müsse sich übergeben. Aber dies geschah nicht. Nach drei,
vier tiefen Atemzügen hatte sie sich wieder im Griff und saß
mir erneut gegenüber „Mist, Becca. Tu das nicht. Du weißt
doch, wie empfindlich ich bin!“
„Tut mir leid.“ Es fiel mir schwer, nicht laut aufzulachen. „Je-
denfalls – einerseits wäre es cool, diese Bastarde zur Streckte
zu bringen. Andererseits glaube ich, dass da ein ganz dicker
Hund begraben liegt. Zudem ist die ganze Sache sehr ... bi-
zarr. Immerhin entwickelte diese Figur, um die es ging, ein
seltsames Eigenleben.“
„Spooky“, murmelte Lori. „Aber vielleicht auch nur ein Trick.
Du hast das Ding nie gesehen, oder? Wer sagt dir eigentlich,
dass dich Spector nicht angelogen hat? Vielleicht war die Fi-
gur keine Figur, sondern ein hoch entwickelter Roboter? Und
die Killer waren keine Killer, sondern Agenten der CIA, des Mi-
litärs oder des KGB.“
„Der KGB existiert nicht mehr. Aber die Grundidee ist nicht
schlecht. Allerdings wäre es ein zwingender Grund, die Sache
nicht weiter zu verfolgen. Sich mit solchen Leuten anzulegen,
ist eine der sichersten Methoden, Selbstmord zu begehen.“
Wieder fielen mir Claires Worte ein. Außerdem meinte der
Beamte schon gestern, die Chancen stünden nicht gut. Was,
wenn dies ein Fall war, den die Behörden niemals lösen wür-

133
den; einfach, weil es für die kein Fall war? Eigentlich Mord,
doch in Wahrheit die Exekution eines Verräters. Wer war der
Mann wirklich gewesen, den Spector in Memphis hatte treffen
wollen? Ein Wissenschaftler? Oder ein Krimineller? Vielleicht
der Vertreter eines anderen Landes, das meinen Kunden viel
Geld für die Erfindung gezahlt hatte.
„Hast du niemanden, den du fragen könntest? Was ist denn
mit diesem Cop aus deinem alten Revier. Du weißt schon –
dieser schleimige, der letzten Sommer geheiratet hat.“
„David?“ Mach dir eine Notiz – öfters mit Lori sprechen. Sie
hat manchmal gute Ideen. „Ja, das wäre eine Möglichkeit. Wir
waren zusammen auf der Academy.“
„Nicht nur dort“, lachte meine Mitbewohnerin. „Nachdem,
was du mir erzählt hast ...“
Es stimmte, David und ich waren für nahezu sechs Monate
ein Paar gewesen. Lange nach meinem Ausscheiden. Er hatte
mir helfen wollen, ich brauchte eine starke Schulter. Am Ende
klappte es nicht. Nun war er mit Sonya verheiratet, der perfek-
ten Ehefrau und Lehrerin an einer Highschool auf Staten Is-
land. Auch er war dorthin gezogen, arbeitete als Detective auf
dem 123. Polizeirevier.
Zwar lag Newark nicht nur nicht in seinem Zuständigkeitsbe-
reich, sondern sogar in einem anderen Bundesstaat. Aber ein
kleiner Plausch unter Kollegen, eine Anfrage oder Ähnliches
musste doch drin sein.

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Lori gähnte und stand wieder auf, um ins Bett zu gehen. „Bis
später. Es war eine lange Nacht und die nächste wird nicht
kürzer werden. Kommst du später mit in den Club?“
„Mal sehen. Ich werde erstmal David anrufen, dann überlege
ich, wie der weitere Tag ablaufen wird. Schlaf gut, Süße.“
Sie nickte und verschwand, während ich erst den Tisch ab-
räumte, dann zum Telefonhörer griff. Dabei fiel mein Blick auf
die Uhr. Kurz nach neun. Mit etwas Glück hat David Früh-
dienst. Ansonsten muss ich ihn aus dem Schlaf holen.
Es dauerte etwas, bis sich mein alter Freund meldete. Hin
und wieder muss es eben wirklich Glück sein. „Hallo David.
Wie geht es dir?“
„Becca? Schön, deine Stimme zu hören. Wie geht es dir?
Was treibst du gerade?“
„Hier sitzen und an dein zauberhaftes Lächeln denken. Wie
geht es Sonya?“
„Gut, gut. Und jetzt verrat mir, warum du wirklich anrufst.
Was willst du wissen?“
„Du kennst mich verdammt gut“, musste ich beschämt zuge-
ben. „Also, hör zu ...“
Es wurde kurze Abhandlung dessen, was sich im Days Inn
abgespielt hatte. Weder kam die seltsame Figur zur Sprache,
noch wurden meine Überlegungen hinsichtlich fremder Mächte
oder Geheimdienste erwähnt. Es erschien mir keine gute Idee
zu sein, ihn schon im Vorfeld in diese Richtung zu lenken. Er

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sollte sich einfach umhören und mir sagen, was so gemunkelt
wurde. Sofern er überhaupt etwas erfuhr.
David versprach, sich um die Sache zu kümmern. Gleichzei-
tig machte er mir jedoch klar, dass es mich etwas kosten wür-
de. Unter zwei Glas Stoud im Irish Shelter würde es nicht ab-
gehen. Ein Preis, den ich verschmerzen konnte. Darum ver-
sprach ich ihm sein Bier und legte auf. Er war niemand, der
andere ausnutzte. Wäre ich damals etwas offener gewesen,
hätte es vielleicht mit uns klappen können. Wäre das gut ge-
wesen?
Eher nicht.
Machte ich meine Entscheidung von dem Rückruf meines
Bekannten abhängig? Was, wenn wirklich geheime Dinge am
laufen waren? Was, wenn die Polizei von New Jersey die Or-
der erhalten hatte, den Fall nicht zu verfolgen?
Mir hatte niemand eine solche Order gegeben. Weder telefo-
nisch, noch per Brief oder Fax. Sollte also jemand etwas ge-
gen Ermittlungen haben, wusste ich von nichts.
Söhne des Iz, fiel mir ein. So hatte mein Kunde die Gruppe
genannt, die ihm nach dem Leben trachteten. Wer oder was
ist ein Iz?
In meinem Büro, einer kleinen Ecke des Wohnzimmers,
stand ein älterer PC. Mit modernen Maschinen konnte er nicht
mehr mithalten. Aber verschiedene Dinge erledigte er noch im-
mer klaglos. Das Internet ließ sich mit ihm erforschen, Rech-

136
nungen und Berichte schreiben und mit etwas Geduld konnte
er sogar Bilder bearbeiten. Doch damit endeten seine Möglich-
keiten auch schon.
Während das Startbild des Betriebssystems erschien,
schenkte ich mir ein Glas Kola aus. Die schwarze Brühe
schmeckte genauso fade wie der Kaffee und das Gebäck zu-
vor. Aber es war zumindest kalt und prickelte.
Kurz darauf konnte ich bereits den Begriff Iz in die Maske
der Suchmaschine eingeben. Keine Sekunde später wurden
die ersten Treffer angezeigt. Ungarischer Dämon des Todes
und der Schattenseelen. Gilt als Personifizierung des bösen
Zaubers und der Seuchen.
„Okay“, murmelte ich. „Das ist gruselig. Ein ungarischer Dä-
mon also.“ Es lenkte meine Überlegungen in eine neue Rich-
tung. Satansjünger, Sekten und Spinner, die zu viele Horror-
Filme gesehen hatten und nun mit dem Teufel tanzen wollten.
Ebenfalls niemand, mit dem man sich gerne anlegte – aller-
dings bei weitem nicht so brisant wie der Geheimdienst.
Schließlich stand hinter religiösen Deppen nicht der Staat mit
all seiner Macht.
Ich klickte einen weiteren Link an und stieß auf eine Abbil-
dung dieses Iz.
Es war erschreckend.
Nur der Oberkörper war zu sehen, und dieser nicht einmal
ganz. Ein aufgerissener Brustkorb, blanke Knochen und Arme

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ohne Hände. Den Kopf hatte der Dämon in den Nacken ge-
worfen. Sein Mund weit geöffneter Mund sah aus, als würde er
schreien. Scharfe Zähne waren zu sehen. Eine Nase besaß
das Biest nicht, ebensowenig Augen.
Hallo Iz. So also siehst du aus. Ob deine Figur auch so be-
schissen hässlich war?
Ein letztes Mal macht ich mich auf die Suche nach Iz. Mög-
lich, dass dieser Ausdruck noch andere Bedeutungen hatte.
Ein paar Treffer gab es, aber keiner konnte auch nur annä-
hernd mit diesem Fall zu tun haben. Söhne des Iz – das pass-
te nur auf den Dämon. Auf sonst nichts.
Also ein Dämon. Sollte ich den Fall annehmen, werde ich
mich vor allem im Haus von Spector umsehen. Wenn er etwas
über den Dämon musste, besaß er sicherlich Aufzeichnungen.
Bücher, Berichte – all das. Etwas, dass mir hilft, diesen Kram
zu verstehen.
Langsam stand ich auf uns trat ans Fenster und schaute hin-
aus in die Winterwelt. Ein Dämon. Für einen Moment dachte
ich darüber nach, ob es sich um einen echten Dämon handeln
könnte. Einer, der durch die Figur lebendig wird. Etwas hatte
in dem verdammten Tresor gerumpelt und diesen bestialisch
stinkenden Qualm produziert. Und etwas hatte die Tür ge-
sprengt. Gut, dafür konnte es auch andere Möglichkeiten ge-
ben. Eine ätzende Flüssigkeit, die aus der Figur ausgetreten
war und das Metall geschmolzen hatte. Der dabei entstehende

138
Dampf hatte den Geruch verströmt, die Hitze und der Druck im
Inneren des Tresors für das scheinbare Eigenleben der Figur
gesorgt.
Sicher. Und es war auch gar kein Werwolf gewesen, der
meine Familie ausgelöscht hat. Nur ein verkleideter Spinner.
Mit schusssicherer Weste und all diesem Kram, so dass ihm
unsere Kugeln nichts anhaben konnten. Dazu Gummiknochen,
die bei dem Sprung aus dem ersten Stock nicht brachen. So,
wie es mir die Leute auf dem Revier erzählen wollten. ‚Es gibt
keine Werwölfe, Becca.’ Scheiße – es gibt sie. Ich habe einen
gesehen. Aber was ist mit Iz? Gibt es ihn auch? Oder ist er
eine Stufe höher? Werwölfe – Ja. Dämonen – nein.
Es klang nicht sehr logisch, wie ich mir selbst eingestehen
musste. Nein, ganz und gar nicht.
Mit dem Finger schrieb ich Iz auf die beschlagene Scheibe,
gefolgt von den Umrissen seiner Gestalt. Okay, Malen war nie
meine Stärke gewesen.
Ist es wichtig, ob es einen echten Iz gibt oder nicht? Spielt
nicht allein die Tatsache eine Rolle, dass ein paar Leute an ihn
glauben und dafür sogar morden?
Das Telefon riss mich aus meinen Gedanken. David, wie die
Stimme des Mannes verriet. Er kam sofort zur Sache.
„Becca – in welches Wespennest hast du denn da gesto-
chen?“

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„Eigentlich haben die Wespen mich gestochen. Was ist denn
los?“ Mein ungutes Gefühl verstärkte sich.
„Die Kollegen in Newark wiegelten ab. Erst erzählten sie mir,
es sei ein Familiendrama gewesen. Dann meinten sie, eine
Nutte sei durchgedreht und habe ihren Freier erschossen. Da-
bei fiel dein Name. Als ich ihnen erzählte, dass ich dich kenne
und du keine Nutte bist, gab der Detektive schließlich auf und
erzählte mir etwas von einem Bund, der sich seltsamen Riten
verschrieben hätte. Er deutete an, ein paar recht einflussrei-
che Leute seien in diesem Bund Mitglied und würden den
Daumen auf die Sache halten. Schon kurz nach der Tat hätte
die Polizei seltsame Dienstanweisungen bekommen. Inzwi-
schen seien sie den Fall ohnehin los, da sich eine besondere
Abteilung des Justizministeriums darum kümmern würde.“
„Vertuschung.“
„Natürlich“, bestätigte David. „Das war auch dem Kollegen in
New Jersey klar. Machen konnte er nichts. Wer auch immer
die Fäden zieht, sitzt am längeren Hebel. Pass also auf, als
würdest du mit dickschwänzigen Skorpionen spielen.“
„Dickschwänzig? Sind die besonders giftig?“
„Ja, sind sie. Also, geh mit Bedacht an die Sache ran und
zieh dich zurück, ehe es zu heiß wird.“
„Danke für die Infos und deine Warnung. Wir treffen uns
heute Abend im Tropical Fun. Du kennst ja den Schuppen, in
dem Lori tanzt. Bis dann.“

140
Kaum war das Telefonat beendet, wählte ich erneut – dies-
mal Claires Nummer. Es dauerte nicht lange, ehe sie sich mel-
dete.
„Lass uns über die Sache sprechen“, bat ich sie. „Arbeitest
du heute?“
„Nein“, kam es leise zurück. „Hab mir den Rest des Jahres
Urlaub genommen. War kein Problem. Wir könnten zusammen
einen Happen essen. Hier ganz in der Nähe gibt es ein kleines
Restaurant.“
„In deiner Nähe bedeutet was?“
Ein leises, trauriges Lachen erklang. „In der Nähe meines
neuen Hauses. Wenn du verstehst.“
„Klar.“ Sie hatte offenbar ihr Erbe angetreten. Ob offiziell
oder inoffiziell wusste ich nicht. „Um eins?“
„Okay. Du kannst auch erst zur Villa kommen. Wir fahren
dann zusammen. Ciao.“
Toll, Becca. Nun hast du einen neuen Fall. Und dazu noch
einer, bei dem dich ein Dämon in den Hintern beißen kann.
Genau das Richtige zum Jahresende.

Das Essen im Pisa war – wie der Name bereits vermuten


ließ – italienisch. Da sich meine Geschmacksknospen so lang-
sam wieder blicken ließen, schmeckten die überbackenen Nu-
deln sogar nach überbackenen Nudeln – nicht nach einer un-
definierbaren Masse.

141
Claire saß mir gegenüber. Sie trug schlichte Kleidung, kaum
Make-up und ihre Haare wirkten, als sei sie damit in einen Wir-
belsturm der Stärke zehn gekommen. Dennoch machte sie
keinesfalls einen ungepflegten Eindruck.
„Ich war heute bei der Polizei in Newark. Sie sagten, mein
Dad sei wahrscheinlich von einer Nutte erschossen worden.
So ein Quatsch.“ Ihre Stimme klang leise, während sie in ih-
rem Salat stocherte.
„Ja, die Story habe ich auch schon gehört. Im Moment sehe
ich noch nicht klar. Aber wie es scheint, hat sich dein Vater mit
den Falschen angelegt. “
„Als ich heute die Sachen von Dad abgeholt habe, schauten
alle ganz komisch. So, als sei ich eine Aussätzige. Es war
grauenvoll.“
Mir kam ein Gedanke. „War unter den Sachen auch ein klei-
nes Notebook? Silbern, mit einem Sony-Schriftzug?“
Sie nickte. „Ja, das war auch dabei. Sein Handy und alles.
Hab den ganzen Kram in sein ... in das Büro gelegt. Denkst
du, es hilft dir weiter?“
„Kann ich noch nicht sagen. Aber in der Stunde vor seinem
Tod schrieb er einen Text darauf. Vielleicht erfahren wir mehr,
wenn wir ihn lesen. Kannst du mir das Notebook für einen Tag
überlassen?“
Sie gab ein undefinierbares Geräusch von sich. „Meinetwe-
gen schenke ich dir das Ding auch. Was soll ich damit? Ich

142
habe selbst ein Notebook und mein Dad besaß einen Compu-
ter im Büro. Behalte es einfach, dann brauche ich mich nicht
damit zu befassen. Außerdem schulde ich dir was. Vaters An-
walt rief heute an. Er teilte mir mit, dass es außer mir keine Er-
ben gäbe.“ Ihr Blick fraß sich in meinen. „Danke“, erklärte sie
dabei leise. „Hättest du den Brief abgeschickt, wäre der Anruf
anders verlaufen. Aber so ...“
Wir schwiegen, bis die Teller leer waren. Das Gespräch hat-
te sich in die falsche Richtung entwickelt.
„Ich muss mich im Büro deines Vaters umsehen“, nahm ich
die Unterhaltung auf, nachdem ein Kellner die leeren Teller
abgeräumt, dafür das Dessert gebracht hatte. „Vielleicht gab
es Aufzeichnungen oder Bücher, die mehr über die Figur ver-
raten. Um sie ging es schließlich.“ Oder ich finde Anhaltspunk-
te, dass diese ‚Söhne des Iz’ lediglich eine Tarnung für eine
CIA-Aktion ist. Wie einst ’Air America’. Dann bin ich weg wie
der Wind.
„Kein Problem. Da ich viel unterwegs sein werde, bis dieser
ganze Mist überstanden ist, bekommst du die Ersatzschlüssel.
Schau dich in Ruhe um. Es gibt vier oder fünf Gästezimmer.
Fühl dich wie zu Hause. Mir gelingt es nicht; obwohl ich in dem
Haus aufgewachsen bin.“
„Wirst du weiterhin Filme drehen? Oder hast du andere Plä-
ne?“ Irgendwie muss ich das Thema ja mal auf was Erfreuli-
cheres bringen.

143
„Es ist noch zu früh für Pläne. Allerdings habe ich letzte Wo-
che einen Vertrag über fünf Filme unterschrieben und um Mo-
ment wüsste ich keinen Grund, diesen zu brechen. Nur, weil
ich plötzlich mehr Geld auf dem Konto habe, werde ich nicht
meine Karriere beenden.“
Sie musste meinem Gesicht angesehen haben, was ich
dachte und verzog sie den Mund. „Weder hat mich Armut noch
Protest vor die Kamera getrieben“, erklärte die junge Frau dar-
um. „Auf dem College macht man ziemlich verrückte Sachen.
Eines Tages antworteten meine Freundin und ich auf eine An-
zeige. Erotik-Produktion sucht Darsteller und Darstellerinnen.
Gute Bezahlung, auch nebenberuflich.
Meine Freundin brauchte dringend Geld. Ihre Noten waren
zu mies für ein Stipendium, ihre Eltern hatten kaum Kohle. Sie
wollte es wirklich tun, ich unterstützte sie nur. Nur zwei Tage
später trudelte eine Einladung zum Casting ein. Anfangs sah
ich es als Scherz. Doch dann, als die Kamera anging und die-
ser Typ zu mir kam, machte etwas Klick in meinem Kopf. Die
Vorstellung, dass mich Hunderte, vielleicht Tausende Männer
so sehen würden, sorgte für einen Rush. Es war nicht der Sex,
der mich reizte. Aber in mir schlummert wohl eine exhibitionis-
tische Ader, die hier voll auf ihre Kosten kommt.
Inzwischen, nach einigen Preisen und Auszeichnungen, ho-
hen Gagen und einem gewissen Ruf in der Branche, kam
auch das Karrieredenken hinzu. Ganz ab gesehen davon,

144
dass ich solche Filme nicht für schmutzig, anstößig oder
schlimm erachte. Manche sind richtig gut gemacht. Mit Hand-
lung und all das.“
Klasse. Eine tolle Handlung. Fick mich – fick mich – ah, Fot-
ze. Warum Action, Horror oder Liebesfilm? Nehmen wir einen
Porno mit zum nächsten Videoabend. „Du musst es wissen.
Weder geht es mich etwas an, noch beurteile ich jemandem
nach seinem Beruf. Du bist meine Klientin. So lange du mich
bezahlst, kannst du auch auf den Strich gehen.“
„Für manche Leute ist es das Gleiche“, gab sie zurück. „Kei-
ne Angst, dein Geld bekommst du. Obwohl ich deine Preise
noch nicht kenne. Schließen wir einen Vertrag ab?“
„Ja. Darin steht auch, dass solche Essen auf deine Rech-
nung gehen.“ Wir lachten, ehe sie artig zahlte. Man muss sich
seine Klienten erziehen.

Die Heiterkeit hielt, bis wir zu ihrem Anwesen zurückkehrten.


Doch es waren nicht die Erinnerungen an ihren Vater, ihre
Kindheit oder den Familienstreit, die unsere Laune drückten.
Vielmehr war es der dunkle Wagen, der vor der Zufahrt stand.
Zwei Männer saßen darin, stiegen allerdings aus, als wir vor
dem Tor warteten.
„Bitte?“, fragte Claire, nachdem sie das Fenster hinab gelas-
sen hatte. In ihrer Stimme schwang Angst mit.

145
„Justizministerium“, erklärte einer der beiden. Sie trugen
dunkle Anzüge und Mäntel. Dennoch konnte ihre Kleidung
nicht die Waffen verbergen, die sie besaßen. „Wir benötigen
einige Dinge aus dem Haus ihres Vaters, um den Fall klären
zu können.“
Geschickt, dachte ich. Um die Wohnung des Opfers zu be-
sichtigen, benötigt man keinen Durchsuchungsbeschluss. Das
heißt, sie können einfach rein. „Frag sie, ob sie sich auswei-
sen können“, wisperte ich.
Claire kam meiner Aufforderung nach.
„Wir sind keine Polizeibeamten“, erklärte jener freundlich,
der nun direkt vor der Fahrertür stand. Sein Partner baute sich
auf der anderen Seite auf. Dabei beobachtete er mich miss-
trauisch. „Darum tragen wir auch keine Marken oder Dienst-
ausweise mit uns.“
„Dann kommen Sie auch nicht in die Villa. So einfach ist das.
Könnte ja jeder kommen, und uns eine Geschichte erzählen.“,
nahm ich mich der Sache an. Meine Stimme klang laut und si-
cher. Beide Männer verloren für einen Moment das Lächeln –
das konnte ich deutlich erkennen.
„Sie sollten nicht auf den Rat ihrer Freundin hören“, erklärte
der angebliche Beamte schließlich. Dabei bemühte er sich um
Freundlichkeit. „Sicherlich ist Ihnen an der Aufklärung des Fal-
les gelegen.“

146
„Ja“, giftete Claire. „Darum habe ich auch eine Ermittlerin
eingeschaltet. Bisher glaube ich nämlich, dass die Sache ver-
tuscht werden soll.“
„Dumm“, grummelte jener, der neben meiner Tür stand.
„Sehr dumm. Privatschnüffler sollten ihre Nase aus solchen
Fällen halten. Wer weiß, was ihnen sonst passiert.“
„Ach ja?“ Ich ließ die Scheibe hinab und beugte mich leicht
aus dem Seitenfenster. „Pass auf, du Scheißer – mir machst
du keine Angst. Und jetzt verschwindet ihr wieder, ehe ich un-
gemütlich werde.“
Er grinste überheblich. Dabei bewegte sich seine Hand zum
Mantel hin.
Eine Drohung? Der Beginn eines Angriffs? Egal – mir reicht
das.
Mit großer Wucht stieß ich die Tür auf. Die Kante erwischte
den Mann fast zeitgleich an Oberkörper und Kopf. Ein über-
raschter Schrei erklang, während er nach hinten taumelte.
Noch während der Gurt zurück schnappte, sprang ich bereits
aus dem Wagen und zog meine Pistole. Abwechseln richtete
ich sie auf die Männer. „Und jetzt verschwindet. Schön, wenn
sich das Justizministerium um die Sache kümmert. Ich ver-
spreche, alle Entdeckungen an euch weiterzuleiten. Aber nicht
auf Zuruf, sondern an die offizielle Büroadresse. Welche Zim-
mernummer habt ihr Jungs denn dort?“

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Beide schauten mich hasserfüllt an. Eine Antwort gaben sie
nicht. Lediglich der von der Autotür Geküsste ließ ein weiteres
Dumm hören. Sie gingen zu ihrem Wagen, stiegen ein und
schenkten mir einen letzten, wütenden Blick. Erst, als sie an
uns vorbei fuhren, ließ ich meine Waffe verschwinden.
„Wer war das?“, wisperte Claire leise. Sie sah bleich aus,
ihre Lippen bebten. Als sie nach dem Lenkrad griff, zitterten
ihre Hände.
„Keine Ahnung. Vielleicht Kumpane der Killer. Oder jemand,
der diese deckt. Angeblich hatte sich das Justizministerium
ohnehin in den Fall eingemischt; zumindest behauptete dies
ein Polizist aus Newark.“
„Verdammt. In was ist mein Dad da reingerutscht?“, wisperte
meine Klientin. „Und in was rutsche ich gerade rein?“
„Keine Ahnung. Vielleicht solltest du ihnen geben, was sie
wollen. Dann ist Ruhe und du bist außer Gefahr.“
„Aber die Killer bleiben auf freiem Fuß.“ Claire schüttelte den
Kopf. „Nein, so leicht lassen wir uns nicht einschüchtern!“
„Wie du meinst. Allerdings solltest du heute Nacht nicht in
der Villa übernachten. Fahr zu deiner Wohnung. Ich werde
bleiben und warten, ob ungebetener Besuch erscheint. Aus-
schließen kann man es nicht.“ Und was die Sache mit dem
Einschüchtern angeht – viel fehlt nicht mehr.

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Kapitel 11

17. Dezember 2005, 23:00/ New Jersey (Bloomfield)

„Um ehrlich zu sein – diese Einladung habe ich mir anders


vorgestellt. Ich dachte, wir gehen in einen Club. Statt dessen
sitzen wir hier in dieser Prachtvilla, haben alle Lichter gelöscht
und wartend darauf, dass etwas Geschieht. Also weißt du,
Becca ...“
„Warum beschwerst du dich?“, fragte ich meinen Bekannten.
„Du hast doch ein Bier, oder? Nein – du hast schon dein zwei-
tes Bier. So, wie ich es dir versprochen hatte.“
„Ja“, grummelte David. „Das schon. Aber wir sind doch hier,
weil du mit Problemen rechnest. Oder? Du denkst, dass je-
mand in diesen Bau einsteigen und etwas stehlen will.“
„Ach, um das Stehlen wird es den Typen gar nicht gehen.
Sie wollen wohl eher gewisse Spuren und Hinweise vernich-
ten. Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob sie wirklich kommen.
Es ist vage. Also, trink dein Bier und entspanne dich.“
Schnee fiel wieder. Er glitzerte im trüben Licht der Außenbe-
leuchtung. Im Inneren der Spector-Villa hatten wir alle Lampen
ausgeschaltet. Von außen sollte es so aussehen, als sei wahl-
weise niemand zu Hause oder die Bewohner hätten sich be-

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reits zum Schlafen niedergelegt. Sollten die Typen vom Nach-
mittag noch einmal zurückkommen, würden sie eine Überra-
schung erleben, die sich gewaschen hatte.
David nahm einen Schluck Bud. Auf Gläser verzichteten wir
beide. Aus der Flasche schmeckte das Bier einfach besser.
Den ganzen Nachmittag über hatte ich in Spectors Büro
nach einem Anhaltspunkt gesucht, worum es bei dieser Iz-Sa-
che gehen könnte. Nun saßen wir darin und warteten auf mög-
liche Einbrecher.
Während meinen Nachforschungen war eines sehr schnell
klar geworden – Forschungen, Waffen und Roboter hatten
nichts damit zu tun. In drei Bücher über alte Mythologien war
ich auf den Dämon namens Iz gestoßen. Alle Seiten, die sich
mit ihm befassten, waren von Spector mit kleinen Post-Its mar-
kiert worden. Also war genau dies das Thema, mit dem auch
ich mich befassen musste. Zumal ich in einem der Schwarten
auch auf Die Söhne des Iz gestoßen war. Allerdings wurden
sie dort als europäischer Geheimorden des 18. Und 19. Jahr-
hunderts bezeichnet, der 1899 aufhörte, zu existierten. Der
Autor, ein besonders wagemutiger Schreiber, hatte gar eine
Verbindung von den Söhnen zu Jack the Ripper gezogen.
Laut seiner These war der damalige Leibarzt der Königlichen
Familie – Sir William Gull – nicht nur ein Freimaurer gewesen,
sondern auch Mitglied bei den Söhnen. Nachdem er einen
Schlaganfall erlitten hatte, beging er die Ripper-Morde, um Iz

150
Opfer zu bringen und von ihm Genesung und ein längeres Le-
ben zu erbitten.
Tatsächlich galt und gilt Gull als einer der möglichen Täter in
diesem Fall. Nicht erst seit From Hell mit Johnny Depp. Der
Film basierte ja bekanntlich auf einem Comic von Moore, und
dieser wiederum griff die Ideen von Stephen Knight auf, der in
einem 1976 veröffentlichten Buch die These vertrat, Gull kön-
ne der Ripper gewesen sein und im Auftrag der Krone gemor-
det haben.
Während meiner Ausbildung hatte ich mich selbst mit diesen
Morden befasst. Es gab einige Gründe, die gegen einige Tä-
terschaft des Arztes sprachen. Zum einen war er 1888 bereits
72 Jahre alt gewesen. Zum anderen hatte er zuvor einen
Schlaganfall erlitten.
Im Licht der Iz-Geschichte ergaben diese Fakten natürlich
einen Sinn. Klammerte man die Königin und Verschwörungen
aus, blieb ein verzweifelter Mann, der sich seinen Glauben
klammerte, um dem Alter und seinem Gebrechen zu trotzen.
Dabei spielte es natürlich keine Rolle, ob Iz – in welcher Form
auch immer – wirklich Wunder bewirken konnte. Die Christen
glauben schließlich auch an ihren Heiland. Und das, obwohl
der seit 2000 Jahren nicht mehr in Erscheinung getreten ist.
Okay – sprechen wir an dieser Stelle nicht von Jahwe.
Im Laufe des Tages hatte sich auch die Gelegenheit erge-
ben, das kleine Notebook meines nun toten Klienten in Augen-

151
schein zu nehmen – nur um zu erkennen, dass jemand die
Festplatte gelöscht hatte. Zwar bestand noch die Chance,
dass ein Bekannter von mir ein paar der Daten retten konnte.
Aber darauf setzte ich nicht. Sollte Spector also eine Botschaft
für die Überlebenden hinterlassen haben, war sie vorerst ver-
nichtet worden.
Wer hatte dies getan? Die Polizisten in Newark? Oder hatte
man das Notebook einem Beamten des Innenministeriums
überlassen, damit er sich die Texte und andere Dateien an-
schauen konnte? Eine Festplatte zu löschen ist nicht schwer;
selbst mir war das schon gelungen. Unbeabsichtigt zwar, aber
immerhin.
„Hast du noch ein Bier?“, riss mich David aus meinen Ge-
danken. Rasch griff ich neben mich und reichte ihm eine Fla-
sche.
„Glaubst du an Dämonen?“
Er nickte. Da wir dicht beieinander saßen, konnte ich es gut
erkennen. „Seit ich mit Sonya verheiratet bin, ja. Ihre Mutter ist
ein Dämon. Oder ein Drache; so genau weiß ich es noch nicht.
Sie hasst mich. Wann immer sie zu Besuch kommt, hackt sie
auf mir rum.“
„Sie wollte für ihre Tochter eben was Besseres als einen De-
tektiv des NYPD. Kann man doch verstehen, oder?“
„Nein“, grummelte David. „Kann ich nicht. Was ist an einem
Polizisten denn schlecht? Einen ehrbareren Job gibt es kaum.“

152
„Okay, dann fassen wir mal zusammen. Polizisten werden
schlecht bezahlt, müssen viele Überstunden machen und sind
vielen Gefahren ausgesetzt. Nicht wenige Cops trinken, sie
sind unzuverlässig, da sie der Dienst fordert und wenn sie
nach Hause kommen, dann fallen sie müde ins Bett. Die
Scheidungsrate ist hoch, die Zufriedenheit gering. Ja, Polizis-
ten sind der Traum einer jeden Schwiegermutter.“
„Da spricht eine, die sich auskennt“, lachte mein Freund.
„Warum bist du eigentlich nicht verheiratet?“ Kaum waren die
Worte über seine Lippen gekommen, schlug er sich erschro-
cken auf den Mund. „Sorry, Becca – das war jetzt wirklich
dumm von mir.“
„Schon okay“, überging ich den Schmerz in mir. „Sind ja eini-
ge Jahre vergangen. Fakt ist doch, dass es niemand mit mir
aushalten würde. Du hast es ja auch nicht geschafft.“
Er sog die Luft ein. „Ich ging, als du mir eines Morgens die
Nase gebrochen hast. Erinnerst du dich noch daran? Da
wusste ich, dass du noch nicht so weit bist.“
Beschämt versteckte ich mein Gesicht hinter der Flasche
Bud. Natürlich hatte er recht.
„Also“, lenkte David ab. „Die Typen wissen, dass du im Haus
warst, um nach Hinweisen zu suchen. Sie wollten rein, durften
aber nicht. Wäre es nicht logischer, bei dir auf die Einbrecher
zu warten?“

153
„Hm.“ Ein Eisschauer rieselte über meinen Rücken. Es war
gut, dass Lori arbeiten musste. Sollte jemand bei uns einstei-
gen, war sie zumindest nicht zu Hause. „Könntest du deine
Kollegen anrufen und sie bitten, bei uns vorbeizufahren?“
„Klar“, lachte David. „Was würdest du nur ohne mich tun?“
„Das Bier alleine trinken.“ Bilde dir nur nichts ein. Ein blindes
Huhn trinkt auch mal ein Korn. „Wenn du übermütig wirst, rufe
ich deine Schwiegermutter an. Die liest dir dann die Leviten.“
Er winkte ab, da er bereits das Handy in der Hand hielt und
mit dem Revier sprach. Ich selbst stand auf und stellte mich
ans Fenster, um hinaus auf den Eingangsbereich der Villa zu
schauen. Der Brunnen, die Zufahrt und der Garten wirkten ma-
lerisch.
Die Gestalten, die im trüben Licht durch die Rabatten schli-
chen, störten dieses Bild jedoch.
Es waren drei. Im Schein der Außenbeleuchtung wirkten sie
ein wenig stereotyp in ihrer dunklen Kleidung. Sie waren ver-
mummt. Gleichzeitig bewegten sie sich jedoch so elegant,
dass mir der Vergleich mit Elitesoldaten in den Sinn kam. Oder
mit Mitgliedern der S.W.A.T.
„David – es geht los. Da kommen sie. Wir verteilen uns. Du
nimmst den Raum am Ende des Flures, ich bleibe hier drinnen
und krieche hinter das Sofa. Mal sehen, ob wir sie erschre-
cken können.“

154
„Okay. Ich rufe die Polizei von Bloomfield. Besser, wir haben
Unterstützung. Du weißt ja, dass ich für meine Marke hier in
New Jersey nicht einmal einen Lolli bekomme.“ Er wählte,
während er sich auf den Weg zu seinem Posten machte. Auch
für mich wurde es Zeit, in Deckung zu gehen. Mein Herz
schlug drei Takte schneller. Schweiß trat mir auf die Stirn. Ich
hatte einmal einen Roman gelesen, in dem eine Frau vorkam,
die keine Angst empfinden kann. In diesem Moment hätte
auch ich dieses Gefühl am liebsten ausgeschaltet.
Doch dies gelang mir einfach nicht. Mehr noch – mir war, als
würde man meinen raschen Herzschlag durch die gesamte
Villa hören. Was soll das, Becca? Du hast doch sonst keine
Manschetten, wenn es hart auf hart kommt. Warum also jetzt?
Die Antwort lag auf der Hand. Jene, die da kamen hatten
schon einmal ihre Kaltblütigkeit und Entschlossenheit gezeigt.
Ob es nun genau die Killer waren, die Spector erledigt hatten,
oder deren Kumpane spielte in meinen Augen keine große
Rolle. Vermutlich gaben sie sich nichts. Obwohl sich die bei-
den Typen am Nachmittag leicht hatten vertreiben lassen.
Aber das musste nichts bedeuten. Vielleicht waren sie nicht
autorisiert gewesen, Gewalt gegen uns anzuwenden.
Meine Gedanken sollten mich lediglich von der zunehmen-
den Spannung ablenken, die mich umfangen hielt.
Noch war nichts zu hören, außer das regelmäßige Ticken ei-
ner Wanduhr. Eine seltsame Konstruktion aus Deutschland.

155
Zu jeder vollen Stunde kam ein Vogel aus dem oberen Teil
des Korpus und gab ein Kuckuck von sich. Zwei Pendel hin-
gen unter dem Kasten und schwangen hin und her.
Auch David gab keinen Laut von sich. Vermutlich war er
nicht minder angespannt wie ich.
Die Zeit verrann. Waren sie schon im Haus? Oder ließen sie
sich Zeit? Nervös leckte ich mir über die Lippen. Ein dünner
Schweißfilm hatte sich auf ihnen gebildet, so dass sie salzig
schmeckten.
Schließlich ein leises Knack. Sofort konzentrierte ich mich
noch mehr. Das Geräusch wiederholte sich. Etwas schabte
über den Boden in der Halle.
Sie waren da.
Fast lautlos. Ein Schlafender hätte den Einbruch keinesfalls
mitbekommen. Zumindest bisher nicht.
Das Schaben wiederholte sich, als die Tür ins Schloss ge-
drückt wurde. Ein Klick, und sie war zu. Nun konnte man auch
von außen nicht sehen, dass jemand ins Gebäude eingedrun-
gen war. Profis, kein Zweifel.
Mein Verdacht wurde noch durch die Tatsache erhärtet,
dass sie sich weiterhin sehr leise bewegten. Nur einmal er-
klang ein leises Quietschen, als die nassen Sohlen über den
glatten Steinboden der Treppe rutschten. Offenbar kannten sie
sich aus, da sie zielsicher hinauf in den ersten Stock kamen.

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Noch schaute ich wie weiland Kilroy über die Rückenlehne
des Sofas. Als jedoch ein langer Lichtfinger in den Raum fiel,
tauchte ich ab.
Die Schritte waren nun ganz nahe. Drei Personen, so wie ich
es gezählt hatte. Sie verteilten sich im Zimmer und begannen,
den Schreibtisch zu durchsuchen.
„Was ist mit dem Laptop?“, wisperte einer.
„Lass es. Darum haben wir uns schon gekümmert. Such vor
allem das schwarze Tagebuch des Narren. Und den Folianten.
Das ist wichtig.“
Das Licht strich über die Wand. Kam jemand auf die Idee,
hinter das Sofa zu schauen, wurde es problematisch. Aber zu-
mindest hatten mir die Spinner unbewusst geholfen. Ein Tage-
buch von Spector war mir bisher nicht in die Hände gefallen.
Und was den Folianten betraf – stellte er ein besonders wert-
volles oder künstlerisch gestaltetes Werk dar, hatte ich ihn
ebenfalls nicht gesehen.
„Was, wenn diese renitente Hexe das Zeug gefunden hat
und die richtigen Schlüsse zieht? Es wäre besser gewesen,
wenn Jack das Weib liquidiert hätte. Jetzt macht sie uns Ärger,
verdammt.“
Na warte, dir trete ich in den Arsch, du Pisser.
Es konnte nicht mehr lange dauern, bis David seinen großen
Auftritt hatte.

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„Sie war eine Weiße. Und dass sie ein Yid ist, konnte er ja
nicht wissen. Sonst hätte er sie nicht nur erschossen, sondern
ihr den Kopf mit seinem Taschenmesser runter geschnitten
und ihren toten Arsch gefickt. “ Sie lachten leise.
Bitte? Bisher dachte ich, ihr seid verblendete Spinner. Dabei
seid ihr verblendete, rassistische Arschlöcher. Okay. Zeit, die
Situation ein wenig aufzulockern.
„Wisst ihr, was ein Unglück ist?“, flüsterte einer der Männer
leise, während er eine Schublade aufzog. „Wenn ein Bus vol-
ler Hakennasen in einen Fluss stürzt. Und wisst ihr, was eine
Katastrophe ist?“
Er wartete einen Moment, doch keiner antwortete. „Wenn sie
schwimmen können“, erklärte er darum. Wieder Gelächter.
In mir kochte die Wut hoch, ganz allmählich. Wir lebten im
21. Jahrhundert. Aber es gab noch immer Idioten, die einen
Menschen nach seiner Religion oder Hautfarbe beurteilten.
Nun ja – man brauchte nur nach Washington zu schauen. Dort
war der Beweis zu finden, dass es Rassisten bis an die Spitze
dieses Landes bringen konnten.
Plötzlich, ohne dass die Männer oder ich etwas gehört hat-
ten, flammte das Licht auf. Erschrockene Rufe waren zu hö-
ren, doch in diese mischte sich die herrische Stimme meines
Freundes.
„Polizei. Keine Bewegung. Die Hände nach oben, umgedreht
und mit dem Gesicht zum Schrank.“

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„Du solltest verschwinden, du Held. Sonst ziehen wir dir das
Fell über die Ohren.“ Jener, der seinen Witz zum Besten gege-
ben hatte. Er schien sich sicher zu fühlen. Überlegen. Viel-
leicht, weil sie zu dritt waren, David vermeintlich allein.
„Und du Pisser solltest auf ihn hören.“ Damit kam ich in die
Höhe, die Pistole auf die Männer gerichtet. Sie wirbelten her-
um und starrten mich an.
„Was dachtet ihr Typen eigentlich? Dass ich nicht mit einem
solchen Besuch rechne? Himmel, für wie blöd haltet ihr mich?
Ach ja – ich bin ja ein Yid. Und die sind ohnehin nicht so
schlau wie ihr. Tja, Irrtum, ihr Schmocks. Und ehe ihr nun wil-
de Ideen ausgeheckt oder einen Kampf initiiert – die Polizei
von Bloomfield ist informiert.“
„Wenn wir dich das nächste Mal sehen, dann bist du tot. Das
verspreche ich dir, Jüdin.“
Wieder der Witzbold. Lässig hüpfte ich über das Sofa und
ging auf ihn zu. Weißt du, was ein Unglück ist? Wenn erwach-
sene Menschen noch immer an die Mär von der guten,
schlechten, richtigen oder falschen Religion glauben. Und
weißt du, was eine Katastrophe ist? Wenn sich diese Pisser
zusammenrotten und Grüppchen bilden. Aber dein ganz per-
sönlicher Schmerz, der ist ein anderer. Nämlich das Metall
meiner Pistole in deiner Schnauze.“
Noch ehe er es verhindern konnte, schlug ich zu. Der Lauf
der Waffe krachte gegen seinen Mund. Es knackte, Blut floss.

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Er schrie auf und taumelte zurück. Seine oberen Schneidezäh-
ne waren abgebrochen.
„Du elende ...“ Er hielt inne, als er meinen Blick sah. Zwei
Pistolen waren auf ihn und seine Kumpels gerichtet. Sicherlich
nicht der richtige Moment, um eine Lippe zu riskieren.
Durch das Fenster zuckte blaues Licht in den Raum. Die Po-
lizei war da. Ich ging zu ihnen, tastete sie ab und nahm ihre
Waffen an mich. Anschließend wanderten diese auf Spectors
Schreibtisch.
„Denkst du, wir werden lange hinter Gittern schmoren?“,
fragte mich Witzbold. Obwohl seine Worte etwas seltsam klan-
gen, so ohne Vorderzähne. Doch er war wohl der Sprecher
der Gruppe. Ihr Anführer oder wie auch immer. „Wir sind
schneller raus, als du deinen jüdischen Arsch zurück nach
New York getragen hast.“
„Kann sein, du Scherzkeks“, gab ich gelassen zurück. „Ist
mir auch im Moment egal.“ Aber bis es so weit ist und du dei-
ne Zähne hast richten lassen, weiß ich längst Bescheid. Das
Tagebuch, der Foliant ... Danke für die Tipps!
Wir dirigierten die Drei die Treppe hinab. Während David zur
Tür ging, behielt ich sie von hinten in Schach.
„Officer, kommen Sie doch rein“, hörte ich meinen Freund
sagen. Sehen konnte ich ihn nicht, da er ungünstig stand. „Ich
bin Detektive ...“

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Weiter kam er nicht mehr, denn ein Schuss zerfetzte die
sonstige Stille. Dann hörte ich ein Röcheln und David sackte
zusammen.
Die Männer vor mir reagierten. Kollektiv ließen sie sich fal-
len, um die Schussbahn freizugeben. Wieder krachte die Ex-
plosion eines Schusses durch die Halle. Aber ich war längst
abgetaucht, so dass mich das Geschoss verfehlte.
Die beiden Polizisten hielten ihre Dienstwaffen in den Hän-
den.
Eine verzwickte Situation. Auf Polizeibeamte zu schießen,
konnte mich in Teufels Küche bringen. Andererseits blieb mir
kaum etwas anderes übrig.
Hinter dem Tannenbaum kauernd zielte ich auf sie. Die drei
Einbrecher waren inzwischen auf dem Weg die Treppe hinauf.
Vermutlich wollten sie zu ihren Pistolen.
Ich schoss.
Einer der Beamten wurde getroffen und nach hinten gewor-
fen. Der zweite Mann wusste nun, wo ich mich befand und er-
öffnete sofort das Feuer. Die erste Kugel hieb in den Baum,
die zweite streifte mich. Ein glühender Schmerz durchzuckte
meine Schulter. Dennoch musste ich weg.
Mit einem langgestreckten Sprung hechtete ich hinter dem
Christbaum hervor, schoss und rollte mich schließlich – Ad-
renalin sei Dank – über die verletzte Schulter ab, um hinter ei-
nem Vorsprung Schutz zu suchen.

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In Filmen klappen solche Aktionen immer. Der böse Bube
wird erwischt, der Held entkommt und das Publikum atmet auf.
In der Wirklichkeit geht es nicht so glatt; vielleicht auch, weil
keine Stuntdouble eingesetzt werden. In meinem Fall hatte
keine meiner Kugeln getroffen, meine Wunde blutete heftig
und ich kämpfte mit aufkeimender Übelkeit.
Der Polizist hatte sich hinter der Eingangstür verschanzt.
Von oben, aus dem ersten Stock drangen hektische Schritte.
David lag auf dem Boden. Er hielt die Augen geschlossen;
sein Atem ging stoßweise.
Die Situation wurde immer aussichtsloser. Einer ausgeschal-
tet, vier gegen mich. Sie konnten sich alle Zeit der Welt las-
sen, um mich zu erledigen. Claire würde nicht nach Hause
kommen, ehe sie von mir Entwarnung bekam. Die Villa lag
einsam; die Chance, dass jemand die Schüsse gehört hatte,
war gering. Doch selbst wenn – was dann? Noch mehr Polizis-
ten, die plötzlich auf mich schossen?
Warum taten die Beamten das überhaupt? Waren sie ge-
kauft worden? Hatte jemand seinen Einfluss geltend gemacht?
Was für ein dreckiges Spiel läuft hier eigentlich, verflucht?
„Du weißt, was ich mit dir mache, oder? Sobald ich dich
habe, du jüdische Schlampe. Ich schlage dir jeden Zahn ein-
zeln aus. Oder besser noch – ich nehme einen Bohrer und
gehe dir auf den Nerv, ehe ich dir dein Hirn aus dem Kopf pus-
te. Kannst schon Mal Jehowa anrufen.“

162
Die Drei kamen die Treppe hinunter.
„Tut mir leid, ich habe seine Nummer nicht“, gab ich wütend
zurück. Noch sollten sie nicht glauben, bereits triumphieren zu
können. Erst wenn der Krieg aus war, wurden die Toten ge-
zählt. In diesem Fall war dieser alte Spruch meiner Großmut-
ter leider wörtlich zu nehmen.
„Du wirst winseln und beten, Jüdin. Warte nur, bis ...“
Plötzlich rollte David herum und schoss. Schneller, als die
Männer hätten in Deckung gehen können, und mit einer tödli-
chen Präzision. Eine Aktion, wie auf dem Trainingsgelände der
Police-Academy. Drei Gegner, drei Schüsse in kurzer Folge.
Der Automatic in seiner Hand sei Dank.
„Shit!“ Der Polizist hinter der Tür reagierte. Er preschte vor,
um seine Kumpanen Beistand zu leisten – und lief mir damit in
die Schussbahn. Wieder machte ich mich lang, kam aus der
Deckung hervor und schoss den Bruchteil einer Sekunde
schneller, als es mein Gegner tat.
Die Kugel erwischte ihn zwischen den Augen. Er war ver-
mutlich tot, noch während sein Körper gegen die Tür prallte
und dort zu Boden rutschte. Na also. Hollywood – ich komme.
David rollte sich zu mir herum und lächelte voll Ingrimm. Zu-
mindest, bis er vor Schmerzen das Gesicht verzog. Rasch lief
ich zu ihm, dabei auf die Treppe zielend. Doch dies war unnö-
tig. Binnen weniger Sekunden hatte er die drei Männer ausge-

163
schaltet. Profis, wenn es ums Einbrechen ging. Aber darüber
hinaus ...
„Bleib liegen, ich rufe den Notarzt. Keine Sorge, das wird
schon wieder werden!“
David hustete. Schweiß stand auf seiner Stirn, sein Blick fla-
ckerte. Die Pistole glitt aus seiner Hand, aber noch verlor er
zumindest nicht das Bewusstsein.
Die Notrufzentrale meldete sich. Rasch gab ich die Adresse
sowie die Art des Notfalls durch. Dabei vergaß ich auch nicht
zu erwähnen, dass ein Polizeibeamter angeschossen worden
war. Manchmal half solch ein Satz, um den Leuten am ande-
ren Ende des Telefons die Dringlichkeit noch drastischer vor
Augen zu führen.
„Sie werden bald da sein“, beruhigte ich David. Er nickte.
Wieder versuchte er ein verkrampftes Lächeln. Doch es miss-
lang ihm gründlich.
Mein Blick fiel auf die beiden Polizisten. Jetzt, aus der Nähe
wirkten sie ein wenig seltsam. Die Uniform passte ihnen nicht
richtig, statt der schwarzen Schuhe trugen sie Nikes.
Ein böser Verdacht beschlich mich. Leider konnte ich diesem
nicht sofort nachgehen, denn ich wollte David nicht allein las-
sen. Dieser atmete nun schneller. Seine Kraft schien völlig aus
ihm herauszufließen. „Halt durch, hörst du? Wehe, du stirbst
hier auf dem Boden. Das würde mir Sonya nie verzeihen.“

164
David hustete. „Es tut so verdammt weh“, wisperte er an-
schließend. „Als würden meine Därme aufgefressen werden.“
„Du kommst wieder in Ordnung. Ich höre bereits das den
Krankenwagen. Also, bleib schön wach und schau mich an.
Wie soll ich dir sonst für meine Rettung danken? Du weißt,
dass du dir heute eine besonders große Freier verdient hast.
Aber das Bier will ich nicht zu deinem Gedenken trinken, son-
dern mit dir zusammen.“
Abermals hustete er. Es fiel ihm zunehmend schwerer, wach
zu bleiben. Ich wusste, dass ich ihn unbedingt bei Bewusst-
sein halten musste.
Ich redete mit ihm, schrie ihn an, beruhigte ihn, doch das
schien nun nichts mehr zu helfen. Doch gerade, als ihm seine
Augen zufielen, fuhr der Rettungswagen vor. Die Sanitäter
kümmerten sich um David, während hinter ihnen zwei Polizis-
ten die Villa betraten und sich entsetzt umschauten. Fünf Tote,
davon zwei in der gleichen Uniform, die sie selbst trugen.
„Was ist denn hier passiert?“, schrie mich einer von ihnen
an. Er ging neben seinem toten Kollegen in die Knie. „Und wer
ist das hier?“
„Keiner von euch?“
Er schüttelte den Kopf. „Nein, verdammt. Das ist keiner von
uns. Und der da auch nicht. Ihre Marken ...“ Er riss das Abzei-
chen von der Uniform des Toten, „gehören jedenfalls jemand
anderem.“

165
„Sie glauben gar nicht, wie erleichtert ich darüber bin. Zumin-
dest wird man mir nicht vorwerfen, Polizisten erschossen zu
haben.“ Damit drehte ich mich um deutete auf die drei toten
Einbrecher. In kurzen Sätzen schilderte ich, was sich ereignet
hatte. Sie hörten sich meine Story an. Untermauert wurde sie
von der Tatsache, dass David seinen Ausweis einstecken hat-
te. Cop ist Cop. Auch wenn seine Befugnisse an der Stadt-
grenze von New York endeten, war er dennoch einer von ih-
nen.
„Eine Frage bleibt allerdings“, knurrte einer von ihnen
schließlich. „Wo sind unsere echten Kollegen?“
Die Antwort fanden sie leider sehr rasch – sie lagen im Kof-
ferraum ihres Polizeiwagens; nackt bis auf die Unterwäsche –
jeder mit einer Kugel im Kopf.
Also waren nicht drei Einbrecher gekommen, sondern fünf.
Zwei hatten Schmiere gestanden, ihre Komplizen waren in die
Villa eingedrungen. Als die Polizisten auftauchten, schalteten
die beiden Aufpasser die Beamten aus, schlüpften in deren
Kleidung und läuteten an der Türe der Villa. Als David ihnen
öffnete und sie ihre Freunde in unserem Gewahrsam sahen,
eröffneten sie das Feuer – der Kampf entbrannte.
Die Sanitäter brachten David fort. „Er kommt in die Universi-
tätsklinik Newark“, rief mir einer von ihnen zu, ehe sie die Hal-
le verließen.

166
David schaute mich an. Eine Sauerstoffmaske saß auf sei-
nem Gesicht, eine Infusion tropfte in seinen Arm. Er war
bleich, noch immer schwitzte er. Arme und Füße waren mit
Gurten an der Bahre fixiert. Sie würden ihn operieren, das war
mir klar. Sonya musste Bescheid wissen.
Einen Ehepartner anzurufen, um ihn mitten in der Nacht aus
dem Schlaf zu reißen und in ein Krankenhaus zu schicken, ist
stets eine unangenehme Aufgabe. Aber es ist besser, als ihn
zu einem Leichenschauhaus zu beordern. Obwohl diesmal
nicht viel gefehlt hatte.
Wäre es David nicht gelungen, noch einmal all seine Kraft zu
mobilisieren, um die drei Einbrecher zu erledigen, hätte es nur
fünf Leichen in jener Nacht gegeben; nicht sieben. Und zwei
davon wären wir gewesen. Nun, da der Stress vorbei war und
das Adrenalin in mir seine Wirkung verlor, sackte ich an Ort
und Stelle zusammen. Knapp dem Tode entronnen. Auf was
für einen Mist hast du dich da nur eingelassen, Becca?
Meine Hände zitterten, als ich das Handy aus der Tasche
zog und Davids Privatnummer wählte. Es dauerte einen Mo-
ment, ehe sich eine verschlafene Stimme meldete.
„Sonya? Rebecca hier. Rebecca Cohen. Hör zu – du solltest
dich anziehen und in die Universitätsklinik Newark fahren.“
Ein erschrockener Ruf war zu hören. „David.“
„Er lebt, muss aber operiert werden. Wenn du dich auf den
Weg machen willst ...“

167
„Natürlich. Was zur Hölle ist passiert? Er sagte, er wolle
doch nur mit dir ein paar Bier trinken gehen. Und jetzt das.“
Wut sprach aus ihrer Stimme, aber auch Hilflosigkeit.
„Es tut mir leid.“ Mehr fiel mir nicht ein. „Viel Glück.“ Scheiße.
‚Viel Glück’. Was sollte denn der Mist?
Kaum hatte ich aufgelegt, rief mich jemand an. Es war Lori.
„Becca, wo bist du?“ Sie klang aufgelöst.
„In der Villa meiner Klientin. Was ist denn los?“
Leises Atmen. „Die Cops waren gerade bei mir. Jemand ist
in unsere Wohnung eingebrochen. Ich stehe hier vor dem ab-
soluten Chaos. Wann kommst du?“
Also hatte David den richtigen Riecher gehabt. Die Söhne
waren auch bei uns gewesen. Gefunden haben sie nichts, das
ist sicher. Schließlich war ich den ganzen Tag über nicht mehr
zu Hause gewesen. „Ich mache mich auf den Weg, sobald es
geht. Fehlt dir etwas?“
„Mein Schmuckkästchen ist weg..“ Wieder Schniefen. „Dei-
nes auch, so weit ich das gesehen habe. Das Wohnzimmer
und deine Arbeitsecke sind verwüstet. Außerdem noch die
Schlafzimmerschränke.“
„Okay. Ist die Spurensicherung da?“
„Nein. Die Cops meinten, das seien Junkies gewesen. Ka-
men über die Feuerleitung, hebelten das Fenster auf und
schlüpften rein. Eine Streife hat sie dann verscheucht.“

168
„Ja, so wird es gewesen sein. Ganz, ganz bestimmt.“ Da ruft
David seine Kollegen an, um sie zu unserer Wohnung zu schi-
cken. Und was denken die Cops, als sie wirklich einen Ein-
bruch feststellen? Dass es Junkies waren. Ist David
Hellseher? Herr, lass Hirne regnen – es gibt Bedarf. „Du soll-
test eine Kollegin fragen, ob du für ein paar Tage bei ihr unter-
schlüpfen kannst. Unsere Wohnung ist nicht mehr sicher.“
Lori wimmerte lauter. „Scheiße, ich bin alleine hier. Hör zu –
ich verschwinde sofort. Du kannst aufräumen!“
Sie legte auf. Eine natürliche Reaktion. Verdenken konnte
ich es ihr nicht. Als ich mich umsah, waren noch mehr Polizis-
ten vor Ort. Außerdem mehrere Leichenwagen. Das würde
eine lange Nacht werden; so viel stand fest.

169
Kapitel 12

18. Dezember 2005, 11:00/ New York City (SoHo)

„Wenn jemand die Festplatte nur gelöscht hätte, wäre die


Wiederherstellung kein so großes Problem. „Hier hat jemand
ein besonderes Tool benutzt, um die Daten zu vernichten. Das
ist Software, die die Platte gleich mehrfach mit irgendwelchen
Zeichen überschreibt, so dass die ursprünglichen Daten nicht
mehr restauriert werden können.“
„Mist.“ Mehr fiel mir dazu nicht ein. Schließlich war er der Ex-
perte, nicht ich.
Bert Grodin war ein Genie, was diese Dinge betraf. Was Mo-
zart einst für die Musikwelt war, hätte Grodin für die EDV-Welt
sein können.
Wenn ...
Er nicht eines Tages im zarten Alter von nur elf Jahren be-
schlossen hätte, AT&T zu hacken. Ein Jahr später war es Bell,
danach die Post und schließlich IBM.
Dabei waren ihm die Gesetzeshüter auf die Schliche gekom-
men, hatten ihn und seine Eltern vor Gericht gezerrt und dort
zu einer hohen Geldstrafe verurteilen lassen. Zudem war von
dem vorsitzenden Richter die Verfügung erlassen worden,

170
dass sich Bert von Computern fernzuhalten hätte; zumindest,
bis er den verantwortungsvollen Umgang mit den Geräten er-
lernt hätte.
Die Strafe war von seinen Eltern ohne großes Aufsehen ge-
zahlt worden; hatte ihr Sohn doch mittels eines kleinen, unent-
deckten Hacks für ein großes Plus auf ihrem Konto gesorgt.
Die restliche Highschool und das gesamte Collage hindurch
hatten die Lehrer versucht, Bert über den Sinn seines Talents,
Vertrauen, Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft und
Ehre aufzuklären. Laut seiner eigenen Aussage kam nie her-
aus, dass er sich seine Noten in den Fächern, die nichts mit
Computern zu tun hatten, mittels eines kleinen Eingriffs ins
Schul-EDV-Systems erschlichen hatte.
Auf der Uni war es den Leuten dann egal gewesen, ob Bert
zu einem gesetzestreuen Mann wurde oder nicht. Die Meisten
bewunderten ihn für sein Talent, die Mädchen himmelten ihn
wegen seines Wagens an, den er bei einer der ersten Internet-
Lotterien ganz zufällig gewonnen hatte und manchmal war es
vorgekommen, dass ihn ein Professor um Rat fragte.
Nachdem Bert das MIT6 verlassen hatte, um sich in der Pri-
vatwirtschaft einen Namen zu machen, waren die Briefe einge-
trudelt. Microsoft, Apple und sogar IBM (!) hatten ihm Einla-
dungen für ihre Trainingsprogramme geschickt. Auch von Ya-
hoo und Google war er umworben worden.
6
Massachusetts Institute of Technology

171
Doch ihm war es lieber gewesen, in der Cyberszene zu ver-
sacken. Chemische Drogen, die sein Bewusstsein erweitern
sollten sowie Tage und Nächte vor der Kiste, um in immer
neue Dimensionen des Cyberspace vorzustoßen. Jolt gegen
die Müdigkeit, Schokoriegel gegen den Hunger und jeden
Abend einen genialen Hack; mindestens – die Story seines
Lebens.
Da Computerkriminalität nicht mein Thema war, hätte ich
vermutlich nie mit Bert zu tun bekommen. Doch eines Tages
wurde ich von einer besorgten Mutter beauftragt, mehr über
den seltsamen Freund ihrer Tochter in Erfahrung zu bringen.
Raten Sie, wer der Freund war.
Bert Grodin ein böses oder verbrecherisches Wesen zu be-
scheinigen, wäre falsch. Er hat lediglich eine völlig andere Vor-
stellung von ‚Besitz’, ‚dein’ und ‚mein’ als der Rest der Gesell-
schaft. In seinen Augen zum Beispiel schadet es niemandem,
wenn er von einem ihm nicht einmal bekannten Bank ein paar
Dollar auf seine Konten umleitet. Die Kunden des derart be-
stohlenen Kreditinstituts merken es nicht einmal, die Bank
selbst ist versichert. Niemand wird persönlich geschädigt. Nur
Unternehmen, die ihrerseits mit moralisch fragwürdigen Me-
thoden Gelder anhäufen, die wiederum niemandem persönlich
gehören. Eine Einstellung, die einem Grodin sogar sympa-
thisch machen konnte.

172
Da ich die besorgte Mutter einst beruhigt hatte und Grodin
noch immer mit dem Mädel zusammen war, galt ich in seinen
Augen als vertrauenswürdige Person. Dies war die zweit-
höchste Stufe in seinem Schema, Menschen einzustufen.
Grad A – Partnerin. Davon gab es freilich nur eine. Eben je-
nes Mädchen, dessen Mutter ... bla.
Grad B – Vertrauenswürdige Personen. Das waren nur weni-
ge. Ich gehörte dazu, Linus Thorwald, der Erfinder von Linux
(auch wenn er den nicht kannte, also ein Grad B ehrenhalber)
sowie ein paar seiner Groupies, die sich nächtelang um ihn
scharrten um die Mär seiner Hacks in die Welt zu tragen.
Grad C – Neutrale Personen. Der Metzger an der Ecke, der
Dealer, der ihm seinen Stoff beschaffte und der Vermieter,
dem er die kleine Bruchbude verdankte.
Grad D – Gegner. Polizisten, private Ermittler, die ihm auf
die Schliche kommen wollten.
Und so weiter.
„Ich kann sehen, was sich machen lässt. Setz dich und warte
ein paar Minuten. Länger wird es nicht dauern.“ Während Bert
auf seinem Bürostuhl zurück zu seinem Arbeitsplatz rollte,
suchte ich nach einem Sitzplatz.
Seine Wohnung verfügte über zwei Zimmer, Küche und Bad
In einem der Zimmer schliefen er und seine Freundin. Es
war allerdings auch gleichzeitig das Esszimmer sowie der
Wohnraum. Eine magere, ältere Glotze stand darin, ein wa-

173
ckeliger Schrank und eine Couch, die man ausziehen konnte.
Ich wusste nicht, ob Bert in den drei Jahren, die er nun hier
wohnte, länger als zehn Minuten in jenem Zimmer verbracht
hatte. Manchmal bezweifelte ich es. So, wie ich die Tatsache
bezweifelte, dass er und seine Kleine Sex hatten. Wenn über-
haupt, schlossen sie sich dazu vermutlich an einen Computer
an. Gäste wurden, so sie denn nicht an Berts Computerfähig-
keiten interessiert waren, im Wohnzimmer abgefertigt. Doch
das geschah so gut wie nie.
Das Heiligtum der beiden befand sich im Büro. Obwohl dies
sicherlich eine Übertreibung war. Auf einem riesigen Schreib-
tisch standen drei Computer und zwei Notebooks. Sie waren
über Kabel miteinander verbunden. Kontrollleuchten hier und
da blinkten und blitzten, wer zu epileptischen Anfällen neigte,
betrat den Raum besser nicht. Verschärft wurde diese Lights-
how durch die Tatsache, dass der Rollladen immer geschlos-
sen war. Hin und wieder beschlich mich der Verdacht, dass
Bert zu den Vampiren zählte. Aber dagegen sprachen die lee-
ren Koladosen sowie die Pizzareste, die auf Tellern, in Kartons
oder einfach auf dem Boden lagen.
Auf einem alten, fleckigen Sofa stapelten sich Magazine. Sie
lagen ebenfalls auf dem Boden und in Regalen. Dazwischen
Bücher, Computerteile, Kabel und Mäuse.

174
An den Geruch, der in dieser muffigen Raum hing, gewöhnte
man sich nach ein paar Minuten. Auch an die Dunkelheit. An
das Chaos, das einem umgab, hingegen nicht.
Unschlüssig besah ich mir das Sofa, fegte dann die Hefte mit
einem Hui zu Boden und nahm Platz.
Bert kümmerte es nicht einmal. Er schob eine CD in das
Laufwerk des kleinen Sony und wartete, bis sich ein Bild zeig-
te. Anschließend tippte er irgendwelche kryptischen Befehle
ein. Gedankenverloren tastete er nach den Lautsprechern, die
an einem der Computer angeschlossen waren, und drückte
auf einen Knopf. Kurz darauf dudelte Musik aus den 80er Jah-
ren aus den Boxen. ZZ Top, wenn mich nicht alles täuschte.
Ich wartete. Mein Blick glitt zur Decke. Fleckig, die Tapete
kam bereits herab. Ebenso an den Wänden.
In einem Regal standen ein paar Bilder sowie Software-
schachteln. SuSE 10.0 , las ich. Red Hat und 3D-Studio. Pro-
gramme, die mir nicht das Geringste sagten.
Das Warten dauerte an, während Bert auf den Tasten herum
klimperte. Die Tür ging auf, seine Freundin kam rein. Sie trug
lediglich einen Slip, sonst nichts. „Hey Becca“, grüßte sie, ging
zu Bert und legte ihm die Hand auf die Schulter. Er schaute
nur kurz auf. Nahm er wahr, dass sie fast nackt hinter ihm
stand? Und einen Slip trug, der ihr mindestens zwei Nummer
zu eng war? Ihr Hintern spannte sich unter dem Stoff. Als sie
sich dann auch noch bückte, um ein Heft vom Boden aufzu-

175
glauben, war der obszöne Anblick perfekt. Wäre ich ein Kerl
gewesen, hätte ich mich ihr vermutlich sabbernd genähert.
Ihre Möse war in jedem kleinen Detail zu erkennen. Wohl
auch, weil der Stoff ihres Höschens bessere Zeiten gesehen
hatte und an den entscheidenden Stellen bereits ziemlich
durchgewetzt war.
Sie wandte sich wieder um und ging zur Tür. „Was ist denn
mit deiner Schulter? Die ist ja dicker als die andere.“
„Verbunden. Ein Streifschuss, gestern Abend. Aber nicht
schlimm.“
Sie verdrehte die Augen. „Du machst Sachen.“ Damit war sie
wieder raus. Wir kannten einander kaum. Doch stets, wenn ich
zu Besuch kam – meist, um Bert um einen Gefallen zu bitten –
benahm sie sich wie eine alte Freundin.
„Also“, ließ sich das Genie vernehmen. „Die Daten wurden
recht gründlich vernichtet. Da ist nichts mehr zu machen. Je-
mand hat ein Programm laufen lassen, dass die Festplatte in
mehreren Gängen mit Nullen überschrieb. Immer wieder, bis
von den ursprünglichen Inhalten nichts mehr übrig war. Aller-
dings ist es ein schönes Notebook. War bestimmt nicht billig.
Moderner Prozessor, viel Leistung unter der Haube.“
„Du sprichst, als wäre es ein Auto.“
Bert schaute mich verwundert an. „Ein Auto? Wie kann man
so über ein Auto sprechen? Ich fahre U-Bahn, das reicht mir.

176
Aber das hier ...“ Er hob das Laptop in die Höhe. „Der Besitzer
ist tot, sagst du?“
„Nein, der lebt noch und sitzt vor dir. Sein ehemaliger Besit-
zer ist tot. War mein Kunde und tippte bis kurz vor seiner Er-
mordung wie besessen einen Text ein. Nun ist er tot und seine
Tochter überließ es mir. Sie meinte, ich solle es einfach behal-
ten. Weder bräuchte sie es, da sie selbst eines hat, noch habe
sie im Moment den Nerv, sich damit zu befassen. Tja, nun ge-
hört es mir.“
„Cool. Allerdings musst du es neu einrichten. Im Moment
kann man damit gar nichts anfangen.“
„Kannst du das nicht machen?“, fragte ich ihn und legte
einen leicht quengelnden Tonfall in meine Stimme. „Ich weiß
nicht, wie das geht. Außerdem habe ich keine Zeit dafür.“
Er sprang auf, stolperte über ein paar Hefte und griff schließ-
lich nach der Box mit der SuSE-Aufschrift. „Alles klar, dann be-
kommst du den Kram hier. Stell dir vor – den hab ich gewon-
nen. Manchmal treibt das Leben seltsame Scherze. Aber für
dich ist es perfekt. Alles drin, alles drauf, was ... Er schaute
wieder zu dem Notebook,neigte den Kopf zur Seite und setzte
sich noch einmal dran. Er tippte etwas, wandte sich um und
grinste dünne. „Wann ist dein Klient gestorben?“
„Vor drei Tagen.“
„Gegen sechs?“
Ich nickte.

177
„Perfekt“, erklärte Bert. „Dann habe ich deinen Text gerade
gefunden.“
Elektrisiert sprang ich auf. „Wieso das? Dachte, es sei alles
zerstört. Wie kommst du darauf?“
Er drückte einen schmalen Knopf an der Unterseite des Lap-
tops. Ein Plastikplättchen sprang aus einem kleinen, vorher
kaum zu sehenden Schacht heraus. „Sony-Notebooks arbei-
ten mit diesen Speichersticks. Darauf kann man Daten spei-
chern und den Chip dann einfach in die Tasche stecken. Das
hier ist so einer. Dein Kunde war ein kluger Mann. Er legte den
Text darauf ab, nicht auf der Festplatte. So überlebte er die
Löschaktion.“
Ich fiel Bert um den Hals. „Du bist ein Genie. Ich wusste es.
Ein ausgemachtes Genie. Schnell – kannst du den Text aus-
drucken?“
„Sicher“, grinste er matt. Die Speicherkarte wanderte in ein
anderes, an seine Computer angeschlossenes Gerät. Es dau-
erte nicht lange, bis ein Text über den Bildschirm seines Moni-
tors wanderte. Der Drucker, versteckt unter Blättern, Heften
und einer leeren Pralinenpackung, erwachte zu Leben.
„Komm heute Abend vorbei, dann kannst du das Notebook
mitnehmen.“ Er besah sich die Packung, die er zuvor vom
Schrank geholt hatte und warf sie wieder dorthin zurück.
„Nein, bekommst doch was anderes. UBUNTU – das ist bes-
ser.“

178
„Hauptsache, ich komme damit klar. Der Rest spielt keine so
große Rolle. Du weißt ja, dass ich mich damit nicht sonderlich
gut auskenne.“
„Keine Sorge.“ Er drückte mir ein Blatt Papier in die Hand,
das er zuvor aus dem Printer geholt hatte. „So, dein Text.“
Ich besah mir den Ausdruck. Die Seite war nur zur Hälfte be-
schrieben. „Das ist alles?“
„Tut mir leid, aber mehr war nicht drauf. Sieht nicht so aus,
als sei der Stick manipuliert worden. Dein Klient hat einfach
nicht mehr geschrieben.“
„Kann man nichts machen. Dank dir. Wir sehen uns später.“
Es tat gut, aus der Bude raus in die frische Luft zu kommen.
Obwohl die dank der vielen Autos gar nicht so frisch war. Ein
Genie. Ich sag es ja immer. Seine Eltern hätten ihn öfters
übers Knie legen sollen – dann wäre aus ihm nicht ein solcher
Schmock geworden. Andererseits hätte ich dann niemand,
dem ich meine Computer-Notfälle bringen könnte. Ich sag’s ja,
mit Schlägen darf man keine kleinen Genies zu erziehen ver-
suchen. Mama und Papa müssen immer das Wohl gestresster
Detektivinnen im Auge behalten.

Kaum hatte ich Bert und seine Freundin verlassen, stand mir
der nächste Besuch bei zwei schrägen Vögeln bevor. Nur,
dass sie sich nicht mit Computern befassten, sondern mit teils
metaphysischen, teils abstrusen Dingen jenseits der Realität.

179
So zumindest mutete es an, wenn man sich anhörte, was die
beiden manchmal von sich gaben. Heute ist ein guter Tag für
die Freakshow. Darum bitte das volle Programm.
Als Privatdetektivin, Problemlöserin oder wie auch immer ist
eines wichtig – man muss wissen, wen man wann bei welchen
Gelegenheiten um Rat fragt.
Ging es um Computer und ähnliche Geräte, war Bert meine
erste (und einzige) Wahl. Keiner kannte sich damit besser aus
als er.
Doch wie sich nun herausgestellte hatte, spielte in diesem
Fall das Notebook nur eine untergeordnete Rolle. Bedeutend
wichtiger war, mehr über die Söhne des Iz herauszufinden.
Hierzu konnte ich mich entweder an irgendwelche Beauftragte
der Kirchen meiner Wahl wenden. Oder aber jemand kam ins
Spiel, der sich religiösen Geheimnissen ebenso wie politi-
schen Weltverschwörungen verschrieben hatte. Nicht nur als
Hobby, sondern gar als Beruf.
Jemand also wie meine sonderbare Highschool-Klassenka-
meradin Denise Minou und ihr nicht minder sonderbarer
Freund Richard Vetterman.
Während sie Psychologie und Parapsychologie studiert hatte
– ersteres, weil es eben sein musste, das zweite aus Leiden-
schaft, hatte ihr Freund auf dem College Film- und Theaterwis-
senschaften mit dem Fachbereich Fantastische Filme belegt.
Ob ihm das jemals im Leben weiterhelfen würde, war für ihn

180
wohl nicht die Frage gewesen. Wichtiger war es, dass sich bei
ihm auf diese Art Realität und Fiktion mischten. Zumindest sei-
ne Realität, die etwas anders war als jene der meisten Men-
schen. Aliens, Geheimbünde und all das waren für ihn so echt,
so wirklich, wie für andere der Typ, der jeden Abend das Wet-
ter ansagt.
Beide betrieben ziemlich erfolgreich einen Informationsdienst
für politische und klerikale Intrigen, UFO-Sichtungen und über-
sinnliche Fragen. Neben einem wöchentlichen Newsletter
brachten sie ein monatliches Magazin heraus, hielten Vorträge
und ließen sich von Leuten, die noch verrückter als sie selbst
waren, viel Geld für eine Geisteraustreibung, Wasserader-Auf-
spürung oder UFO-Abschirm-Anlage geben. Die setzten sie
diesen armen, verwirrten Leuten dann auf das Dach, worauf
hin ihre Kunden zum Gespött der Nachbarschaft wurden.
Allerdings muss eines gesagt sein – sowohl Denise als auch
Richard glaubten an das, was sie taten. Ihre UFO-Abschirm-
anlage war die größte in der ganzen Gegend. Sie rechneten
permanent mit einem Überfall durch das FBI und glaubten,
dass die Illuminaten für die Terroranschläge am 11. Septem-
ber 2001 zuständig waren. Nicht etwa Osama bin Laden.
Anders als Bert verstanden sie es zudem, ihre Talente und
ihr Wissen zu Geld zu machen. Legal, auch wenn das einigen
Leuten nicht in den Kram passte.

181
Sie hatten ein kleines Büro in TriBeCa7 angemietet. In ihm
arbeiteten sie in an ihrem Publikationen, empfingen neue In-
teressenten oder luden zu Workshops. Wer allerdings glaubte,
überall Räucherstäbchen oder Voodoopuppen an den Wänden
vorzufinden, der sah sich nach dem Betreten der Räume ge-
täuscht. Chrom und schlichte Eleganz herrschten vor. Auch
dudelten keine sphärischen Klänge aus den Lautsprechern im
Wartezimmer, sondern moderner Pop. Schließlich nahmen sie
ihren Humbug ernst und wollten keine Schau daraus machen.
Da SoHo und TriBeCa nebeneinander liegen, hatte die Fahrt
nicht lange gedauert.
Das Gebäude, in dem Denise und Richard ihr Büro einge-
richtet hatten, beherbergte auch einen Zahnarzt- sowie eine
Rechtsanwaltspraxis. Letztere verdanke ihrer Existenz vermut-
lich dem Informationsdienst für politische ..., da dieser bereits
mehrfach verklagt worden war; unter anderem von der Stadt
New York. Erstaunlich war in diesem Zusammenhang, dass es
nie zu einer Verurteilung gekommen war. Das ließ manche
Leute glauben, dass die Informationen der beiden doch nicht
an den Haaren herbeigezogen waren.
Im Flur roch es nach der Dental-Praxis. Ein unangenehmer
Duft, der mich an Bohrer, Schmerz und Angst erinnerte. Doch
zum Glück blieb das Aroma zurück, als ich durch die Glastür

7
Stadtteil von New York (Triangle Below Canalstreet)

182
des Informationsdienstes trat. Es duftete nach weihnachtli-
chem Gebäck, nach Zimt und Tannen.
Eine schläfrige Sekretärin mit spitz hervorspringender Nase
musterte mich träge. Sie trug zu meinem Entsetzen einen Pulli
mit Rentiermotiv. Das allein wäre schon ein Beweis für para-
normale Vorkommnisse gewesen. Doch noch schlimmer wur-
de es, als sie sich etwas drehte und die rote Schleife sichtbar
wurde, die sie sich ins Haar gebunden hatte. Ob sie darauf
hofft, von jemandem ausgepackt zu werden?
„Bitte? Was kann ich für Sie tun?“, zwitscherte sie nun.
„Wünschen Sie ein Beratungsgespräch?“
„Ja, in der Tat. Ist Denise ... Miss Minou ... da?“
„Wen soll ich melden?“
„Stuart“, erwiderte ich. „Maria Stuart. Sagen Sie ihr, ich hätte
den langen Weg von Schottland hierher gemacht, um sie zu
sehen. Oh, und sagen Sie ihr auch, dass ich mich etwas kopf-
los fühle.“
„Wie Sie meinen, Miss Stuart“, zwitscherte die Sekretärin,
drückte einen Knopf auf der Gegensprechanlage und wartete,
bis sich ihre Chefin meldete. „Miss Maria Stuart aus Schott-
land ist gekommen. Sie sagt, sie fühle sich etwas kopflos und
möchte mit Ihnen sprechen.“
Während auf der anderen Seite ein erstauntes Oh erklang,
brach ich in unbändiges Lachen aus.

183
„Na, dann lassen Sie Lady Stuart mal rein. Das Gelächter
kommt mir jedenfalls bekannt vor. Und noch was, Christine –
Maria Stuart war Königin von Schottland, ehe sie geköpft wur-
de.“
Zorn blitzte in den Augen der jungen Frau, während ich noch
immer lachend nach Atem rang. „Finden Sie das lustig? Sie
haben mich ganz schön auflaufen lassen.“
„Ja, das war lustig.“ Damit ließ ich sie zurück und steuerte
das Büro meiner ehemaligen Klassenkameradin an. Es dauer-
te nicht lange, bis ich ihr gegenüberstand. Ihr, und auch Ri-
chard, da sich beide den Raum teilten. „Wo habt ihr denn das
Huhn aufgegabelt?“
„Kam eines Tages zu uns und bat um einen Job. Sie habe
den Lehrgang zur Sekretärin auf der Abendschule gemacht.
Nun bräuchte sie Arbeit, um sich und ihre kleine Tochter
durchzubringen. Da wir weich im Herzen sind, bekam sie eine
Chance. Eigentlich eine Liebe“, erklärte Denise, während sich
ihr Freund wieder einem Dokument widmete, dass nach Fax
aussah. Es trug den Briefkopf der NAACP8. Etwas, dass ihm
eine natürliche Würde verlieh.
„Mag sein.“ Ich fläzte mich in den Besucherstuhl. „Wie geht
es euch? Alles klar? Irgendwelchen Verschwörungen auf der
Spur?“
8
National Association for the Advancement of Colored People -
eine der größten Bürgerrechtsorganisation in den USA

184
Sie warfen mir böse Blicke zu. „Becca – wenn du unsere Hil-
fe willst, dann solltest du uns nicht ärgern“, mahnte Denise.
„Also, was können wir für dich tun?“
Meine Schulter schmerzte, als ich mich nach vorne beugte
und meiner Bekannten jenen Ausdruck reichte, den Bert für
mich angefertigt hatte. Ich selbst hatte ihn nur kurz überflogen.
Er befasste sich mit den Söhnen, ohne aber ins Detail zu ge-
hen. Dafür war Spector keine Zeit mehr geblieben. Mehr als
ein paar Zeilen über die Anfänge der Söhne im Jahr 1705 war
dort nicht zu lesen. „Schon einmal etwas von dieser Gruppe
gehört? Söhne des Iz?“
Die beiden schauten erst einander an, dann mich. „Und da
sag einer, es würde nicht alles auf eine seltsame, geheimnis-
volle Art zusammenhängen“, murmelte Richard schließlich.
Dabei reichte nun er mir ein Blatt. Jenes, welches ihm die
NAACP geschickt hatte. „Kam eben rein. Sie stellen die glei-
che Frage, wie du. Ob wir schon einmal etwas von den Söh-
nen des Iz gehört hätten.“
„Ach was!“ Mein Blick huschte über das Papier. „Und? Habt
ihr?“
„Nicht viel“, gab Richard zu. „Bisher hielten wir sie für eine
Randerscheinung der Geschichte. Uns war nicht einmal klar,
dass es sie noch gibt. Laut unseren Quellen löste sich die
Gruppe 1899 auf. Angeblich, nachdem ihr letztes, prominentes
Mitglied neun Jahre zuvor gestorben war und man sich nicht

185
mehr auf eine neue Linie einigen konnte. Wobei ich nicht glau-
be, dass Gull wirklich ein Mitglied der Söhne war. Ich denke,
es ging um ein uneheliches Kind des Prinzen.“
„Die Ripper-Morde interessieren mich nicht. Im Moment
habe ich ein Problem mit dem hier.“ Ich wedelte mit dem Fax
in meiner Hand. Der ursprüngliche Text stammte aus deren
Büro in Jackson, der Hauptstadt von Mississippi. Aber die Akti-
visten dort hatten sich nicht direkt an unseren Service ge-
wandt, sondern ihre Anfrage erst an ihre Niederlassung hier im
Big Apple geschickt. Von dort war sie schließlich zu Richard
gegangen. Offenbar scheute man sich in Mississippi, jeman-
den wie uns zu kontaktieren.
„Klingt jedenfalls, als würden die Söhne des Iz ein Revival
erfahren“, schaltete sich Denise ein. „Für eine Modeerschei-
nung ist diese Gruppe um einen ungarischen Dämon nicht be-
kannt genug.“
Noch einmal griff ich nach dem Fax. Der Inhalt ließ keinen
anderen Schluss zu als jenen, zu dem Denise gelangt war.
Obwohl auf dem Blatt nur Stichpunkte standen.
Zwei grauenvolle Morde an Schwarzen in Wigg-
ins, MI.
Die Stunde des Iz ist des die Todesstunde der
Schwarzen. Die Söhne des Iz sind die Verteidiger
der weißen Rasse! als Graffiti an der Wand eines

186
jeden Tatorts; vermutlich mit dem Blut der ver-
stümmelten Leichen geschrieben.
Keine verwertbaren Spuren. Zumindest, wenn
man dem weißen Sheriff und seinen weißen Depu-
tys Glauben schenken darf. Auch das FBI, wel-
ches sich aufgrund der außergewöhnlichen Brutali-
tät der Morde eingeschaltet hat, fand angeblich
nichts.
Der Fall wird von dem NAACP-Büro in Jackson
betreut, zuständig ist Reverend Washington.
Aus diesem Schreiben gingen zwei Dinge hervor. Zum einen
die Paranoia der NAACP im Bezug auf Aussagen der Polizei.
Der Sheriff des Countys mochte Informationen zurückhalten
oder jemanden decken. Aber das FBI eher nicht. Die Bundes-
polizei hatte mehrfach bewiesen, dass sie weder rassistisch
ist, noch rassistische Umtriebe duldete. In den 60er Jahren
war es zu massenhaften Verhaftungen von Klan-Mitgliedern
gekommen. Da man die Täter nicht auf Bundesebene wegen
der begangenen Morden oder Körperverletzungen in den ein-
zelnen Staaten hatte anklagen können, war der Justiz der
Trick mit der Verletzung der Bürgerrechte eingefallen. Dies
war ein gutes Argument, denn dagegen konnte das FBI vorge-
hen. So war das Bundesgericht zuständig; nicht die einzelnen
Richter in den betroffenen Bundesstaaten oder Bezirken.

187
Der zweite Punkt war die Kaltblütigkeit der Killer. Die Um-
stände eines Mordes sagen bereits viel über den Täter und die
Tat an sich aus. Auch das Motiv lässt sich oft anhand der Ver-
letzungen bestimmen. Eine Frau, die ihren Mann mit 30 Mes-
serstichen umbrachte, konnte entweder den Ausschaltknopf
des elektrischen Messers nicht finden oder tötete aus Hass.
Übertöten, wie es die Kriminologen nennen. Auch Verstümme-
lungen an Leichen geben oft Hinweise auf das Motiv. Warum
zum Beispiel wird eine Täterin dem Opfer den Schwanz ab-
schneiden?
Genau!
Rassisten haben in der Regel zwei Motive – Hass und
Angst. Beide können zu exzessiver Gewalt führen. Aber
warum jetzt? Warum war diese Figur so wichtig für die Söhne?
Woher kommen sie? Warum wählten sie gerade diesen Kult?
„Bleibt ihr an der Sache dran? An den Söhnen, meine ich?
Oder ist es für euch erledigt?“
Denise verneinte. „Wir bleiben dran. Es gibt ein paar Leute,
mit denen wir sprechen wollen. Vielleicht wissen die mehr als
wir. Wir halten dich auch dem Laufenden.“
„Danke, das ist nett. Wir arbeiten am besten zusammen.
Schließlich war es mein Fall, ehe ihr involviert wurdet. Könnte
sogar sein, dass mir ein Ausflug nach Wiggins ins Haus steht.“

188
„Pass nur auf dich auf“, mahnte Richard. Eine jüdische Pri-
vatdetektivin, die im Süden den Mord an zwei Schwarzen auf-
klären will – das könnte massive Probleme geben.“
Ach was? „Ja, danke für den Rat. Ich melde mich, sobald ich
etwas weiß.“
Christine schenkte mir erneut einen wütenden Blick, als ich
an ihr vorbei zum Ausgang ging.
„Nehmen Sie es nicht so tragisch. Es war ja nur ein Scherz.“
„Aber auf meine Kosten“, bellte sie zurück. „So lustig ist das
nicht, wenn man auf anderen rumtrampelt.“
Mitleid überkam mich. Sie ist eine Liebe, hatte Denise ge-
sagt. „Ja, stimmt. Tut mir leid. Ich mache es wieder gut.“
Noch ehe sie etwas erwidern konnte, war ich raus. Bei mir
zu Hause klemmten zwei Karten für eine Kinder-Weihnachtss-
how in einem kleinen Theater am Broadway an der Pinnwand.
Lori hatte sie angeschleppt; Geschenk eines zufriedenen Kun-
den, für dessen Geburtstagsfeier sie getanzt hatte. Angeblich
war er der Regisseur des Stücks. Weder meine Mitbewohnerin
noch ich wollten uns dieses Spektakel antun; vielleicht auch,
weil wir keine Kinder mehr waren. Auch bei eBay waren wir sie
nicht losgeworden. Christine hatte eine Tochter, die sie durch-
bringen musste. Unwahrscheinlich, dass sie sich solche Kar-
ten leisten konnte. Also war sie das ideale Opf... die ideale
Person, um sich die Show anzuschauen.

189
Jetzt einen Happen essen, dann zu Bert, um das Notebook
abzuholen. Anschließend zu Claire.
Ich hatte meine Kundin gebeten, die Villa notfalls auf den
Kopf zu stellen, um das Tagebuch und den Folianten zu fin-
den. Charlie Lanes unfähige Typen bewachten sie und das
Anwesen mit dem ausdrücklichen Befehl, absolut NIEMAN-
DEN auf das Grundstück zu lassen; mit Ausnahme von ihr
selbst und mich natürlich. Für jeden anderen war Claire Spec-
tor nicht zu sprechen. Dies galt auch für die Polizei, wie ich
den beiden Spinnern eingeschärft hatte. Normalerweise hätte
ich ihnen nicht einmal meine Sammlung getragener Socken
anvertraut. Doch sie waren von Charlie durch die Mangel ge-
dreht worden, nachdem er von ihrer Glanzleistung um Bezug
auf Spector erfahren hatte. Okay – bei ihnen war der Kunde
wenigstens nicht zu Tode gekommen. Bei mir schon. Eins zu
Null für die Spinner.

„Also, ich habe in jedem Winkel des Hauses nach den bei-
den Dingen gesucht“, erklärte Claire Spector mit verschmier-
tem Mund. „Aber weder das Tagebuch noch der Foliant sind
aufgetaucht. Wo immer mein Vater diese beiden Sachen ver-
steckt hat – er tat es gründlich.“
Wir saßen im Wohnzimmer der Villa beisammen und aßen
Sushi. Es war schon nach halb zehn am Abend. Leise Musik
drang aus den Lautsprechern einer B&O-Anlage.

190
Charlies Engel ... pardon, Männer, waren wieder abgezo-
gen. Laut ihrem Bericht hatte sich absolut nichts ereignet. Kei-
ner, der in die Villa eingelassen werden wollte Ein leichter Job
also, bei dem selbst die beiden nichts hatten versauen kön-
nen.
Reverend Washington, der NAACP-Aktivist in Jackson, war
von meinem Anruf angenehm überrascht gewesen. Das Tele-
fonat hatte gut zwanzig Minuten gedauert. Ein reger Aus-
tausch unseres Nichtwissens, denn noch tappten wir alle im
Dunkel. Wir wussten nur, dass es sich um rassistisch motivier-
te Taten handelte, die etwas mit Iz und der ihn zeigenden Fi-
gur zu tun hatten. Doch wer, was und warum erschloss sich
uns nicht. Rassenhass als einziges Motiv gab es zwar häufi-
ger. Doch so leicht konnten wir es uns nicht machen. Nicht
einmal Washington nahm das an. Auch dort vermutete man
einen anderen, vielleicht bedeutsameren Hintergrund bei den
Taten.
„Irgendwo muss es sein. Such unbedingt weiter, während ich
mich morgen auf die Reise begebe.“ Meine Klientin wusste be-
reits von den Geschehnissen in Mississippi und auch von mei-
nem Telefonat mit dem Geistlichen. In knappen Worten war
sie von mir auf den neuesten Stand gebracht worden. Details
waren für sie unwichtig. Darum erfuhr sie nichts von den Ver-
stümmelungen oder davon, dass die Botschaft der Söhne mit
Blut an die Wand geschrieben worden war. „Mal sehen, was

191
sich im Süden unseres Landes abspielt. Auch wenn mir alles
andere als wohl ist bei dem Gedanken.“
Claire nickte, während sie sich ein Röllchen mit Fisch und
Reis in den Mund schob. „Kann ich verstehen“, erklärte sie
kauend. „Die Menschen dort unten sind irgendwie anders.
Wenn man nicht aufpasst, zieht man ganz schnell den Hass
der Menschen auf sich. Vor zwei Jahren nahmen wir an einer
Erotik-Messe in Nashville teil. Vor dem Gebäude protestierten
aufgebrachte Menschenmengen mit großen Schildern gegen
die Sünde und jene, die von Satan geschickt wurden, die Men-
schen zu verderben. Also gegen uns. Erst lachten wir. Aber
später drohten sie, die Halle zu stürmen. Das war nicht mehr
lustig. Einige von denen hatten Schilder dabei. Jackson, Miss-
issippi gegen die Sünde oder Florence, Alabama für eine sau-
bere Welt ohne Schmutz. Und das waren nicht die Putzfrauen
aus Florence.“
„Vermutlich reicht manchen da unten schon mein Name.
Wenn die nur Rebecca Cohen hören, werden sie mich vermut-
lich am liebsten geteert und gefedert aus der Stadt jagen wol-
len. Andererseits haben sie auch was gegen Katholiken und
Moslems, gegen Schwarze, Mexikaner, Chinesen und Araber.
Sie haben gegen alle etwas, die nicht weiß und protestantisch
sind. Doch selbst gegen die haben sie etwas, wenn es Fremde
sind, sie aus dem Norden kommen oder einst im Süden leb-
ten, dann aber weggezogen waren. Sie haben auch dann was

192
gegen weiße Protestanten, wenn sie aus der Gegend stam-
men, aber zufällig anderer Meinung sind, sich in eine oder
einen Schwarzen verlieben, die Demokraten wählen oder sich
ganz einfach nicht für die überlegene Rasse auf diesem Pla-
neten, in den USA oder dem jeweiligen Bundesstaat halten.
Ein Hoch auf den Bibelgürtel.“
„Halleluja“, stimmte Claire ein. Dort sitzen jene, die uns alle
retten und erlösen werden. Zumindest, wenn wir weiß und pro-
testantisch sind. Tut mir nur leid für dich.“
„Keine Sorge. In diesem Punkt sind wir besser dran als ihr –
Jahwe wird uns alle retten. Sofern wir Juden sind. Schade,
Claire. Schicksen9 werden nicht gerettet.“ Ich hielt inne. „Oh,
aus orthodoxer Sicht bin ich ja auch eine.“
„Am Ende werden wir alle nicht gerettet. Das ist bitter, aber
nicht zu ändern“, schloss meine Kundin die Unterhaltung mit
einem ironischen Grinsen. Sehr schnell wurde sie jedoch wie-
der ernst. „Konnte dein Bekannter die Daten von dem kleinen
Notebook retten?“
„Nur den Text, den dein Vater kurz vor seinem Tode schrieb.
Sehr aufschlussreich war er leider nicht. Danke nochmal für
das Gerät. Ich werde es mitnehmen, wenn ich nach Wiggins
fahre. Sicherlich wird es mir gute Dienste leisten.“
9
Nichtjüdin. Aus Sicht der orthodoxen Juden auch unfromme Jü-
dinnen. Heute im Deutschen auch für „Flittchen“ oder „Prostituier-
te“

193
„Kein Problem. Ohne dich würde das alles nun jemand ande-
rem gehören. Ich habe heute das Zubehör gefunden. Akku,
Anleitung, ein Modem. Liegt in deinem Schlafzimmer.“
„Danke. Ab morgen früh passen die beiden Männer wieder
auf dich auf. Du kannst also beruhigt sein. Solltest du die bei-
den Bücher finden, dann lass es mich unbedingt wissen.“
Wir hoben die kleine Runde auf. Für mich wurde es Zeit, ins
Bett zu gehen. Weltbewegende Dinge gab es ohnehin nicht
mehr zu besprechen. Zudem würde mein Flieger recht früh
starten. Zu früh für meinen Geschmack. Aber für die Men-
schen in Wiggins war es eilig. Und auch Claire wollte Ergeb-
nisse. Ihr Vater war tot und der Mörder noch immer auf freiem
Fuß.
Auf dem Weg in das mir zur Verfügung stehende Gästezim-
mer fragte ich mich, wohin das alles führen würde. Kam es
meiner Klientin nur darauf an, den eigentlichen Mörder sowie
seine zwei Kumpane eingesperrt zu wissen? Oder ging es ihr
um die ganze, verflixte Gruppe? Wenn, war ich als Einzel-
kämpferin wahrscheinlich überfordert. Jedenfalls war klar,
dass es nicht einfach werden würde. Vielleicht hätte ich sie
einfach fragen sollen.
In meinem Zimmer angekommen reizte es mich, das frisch
eingerichtete Notebook auszuprobieren. Schon der erste Start
zeigte mir, dass es doch anders eingerichtet war als mein alter
Computer. Aber es ging flott von der Hand und alles funktio-

194
nierte. Was wollte man also mehr? Zumal auch ein paar klei-
ne, nette Spiele in den Tiefen des Menüs zu finden waren. Ei-
nes fesselte mich für Stunden an den Rechner, vertrieb meine
Sorgen und sorgte dafür, dass ich entgegen meinem Vorsatz
viel zu spät ins Bett kam. Etwas, das sich am nächsten Mor-
gen rächen würde; so viel stand fest.

195
Kapitel 13

19. Dezember 2005, 11:00/ Jackson (Mississippi)

„Miss Cohen. Ich freue mich wirklich sehr, dass Sie gekom-
men. Bitte, nehmen Sie doch Platz.“
Reverend Washington war ein älterer Mann mit weißem
Haar, weißem Bart und Händen, die für zwei Männer gereicht
hätten. Er empfing mich in seiner Kirche, nicht in einem Büro
der NAACP. Vielleicht fühlte er sich im Angesicht des Gekreu-
zigten wohler. Denn der hing direkt vor uns; über einem brei-
ten, mit einer Decke geschmückten Altar. Eine Kerze brannte
hinter ihm, in der Ecke stand ein Baum und darunter ein Arran-
gement mit Krippe, Jesuskind, Hirten und all den Figuren, die
die Christen an Weihnachten so aufstellen. Die Bank, auf der
wir saßen, bestand aus Holz und war hart. Außerdem wirkte
sie, als sei sie von vielen Hintern poliert worden. Die Atmo-
sphäre war fremd für mich. Der Geruch, das Licht, welches
durch buntes Fensterglas in den Innenraum des Gotteshauses
fiel und so eine seltsame Stimmung schuf. Weihrauch klebte in
der Luft.
Eine ältere Frau putzte im Hintergrund den Boden, ein Mann,
etwa in meinem Alter, saß zwei Bänke weiter und schien zu

196
warten. Er trug einen grauen Anzug und sah Reverend Wa-
shington verdammt ähnlich. Und dies sage ich nun nicht, weil
für Weiße alle Schwarzen irgendwie gleich aussehen; das trifft
nämlich nicht zu. Zumindest dann nicht, wenn man ohne Vor-
urteile auf die Menschen zugeht. Aber hier passte es. Vater
und Sohn?
„Nun, wie war der Flug? Ich hoffe, nicht zu unangenehm.
Diese Kurzstrecken sind oft ein wenig hektisch.“
„Oh, es ging, danke. Die Fahrt nach Wiggins wird schlimmer
werden, fürchte ich. Konnten Sie inzwischen noch etwas her-
ausfinden? Hat sich die Polizei gemeldet, oder das FBI?“
„Nein, leider nicht“, erwiderte der Geistliche. „Wie ich es
schon andeutete – niemand scheint sonderliches Interesse an
der Aufklärung dieses Falles zu haben. Bisher sind ja nur Nig-
ger gestorben. Wen kümmert das schon?“
„Auch ein reicher Weißer ist tot. Allerdings dürften die Motive
für diesen Mord anders gelagert sein. Hier scheint es mir um
Rassenhass zu gehen. Der Tote in New Jersey – mein Klient –
starb, weil er eine Figur dieses Iz in seinem Besitz hatte und
nicht hergeben wollte. Was mir noch nicht ganz klar ist, ist, ob
er mit den Söhnen anfangs unter einer Decke steckte, oder ob
sie erst durch seine Suche nach der Figur auf ihn aufmerksam
wurden. Letzteres jedenfalls behauptete er mir gegenüber.
Aber ich glaube ihm nicht. Das ist das Problem. Sein Tage-
buch und ein Foliant scheinen für die Söhne wichtig zu sein.

197
Wenn er nie etwas mit denen am Hut hatte, bräuchten sie es
wohl nicht.“
„Guter Punkt“, murmelte Washington. „Nützt uns aber nichts.
Hier sterben die Menschen wieder einmal, weil jemand seinen
Hass auf Schwarze auslebt. Nicht, dass das neu wäre. Aber
die Methode, wie die beiden Männer gestorben sind, ist er-
schreckend. Ich habe in meinem Leben schon viel gesehen.
Aber das schlägt einfach alles.“
„Sie sagten es. Haben Sie ... Tatortfotos?“
Washington stand auf und verschwand in einem kleinen
Raum rechts von mir. Es dauerte einen Moment, ehe er wie-
der zu mir kam. In seiner Hand hielt er einen Umschlag. „Hof-
fe, Ihnen kommt es nicht hoch. Mir wurde schlecht, Miss Co-
hen.“
„Mal sehen.“ Ich öffnete das Kuvert und ließ die Bilder darin
auf meine Hand gleiten. Schon gleich das erste Foto ließ mich
schlucken.
Der Mann darauf war kaum älter als zwanzig. Er lag seltsam
verkrümmt auf dem Boden einer Wohnung. Seine Augen stan-
den weit offen, ebenso sein Mund. Vom Hals abwärts bis zum
Schambereich war sein Leib aufgeschlitzt. Haut und Fleisch
klafften, als hätte es jemand mit Haken auseinander gezogen.
Der Darm, die Leber und ein Organ, das ich nicht mehr identi-
fizieren konnte, lagen außerhalb des Körpers. Sein Glied war
ihm ausgerissen worden und ragte unterhalb des Nabels aus

198
der Wunde hervor. Seine Hoden hingegen hingen noch an Ort
und Stelle.
Die Arme wiesen Abwehrverletzungen auf. Doch es waren
keine Schnitte, wie sie bei einem Messerangriff üblich gewe-
sen wären. Statt dessen ähnelten die Spuren eher tiefen Krat-
zern. So, als sei er von einem Tier angefallen worden.
Die folgenden Bilder zeigten Detailaufnahmen der Verletzun-
gen, der Innereien des Mannes und seines abgetrennten
Schniedels.
Ihnen folgten die Aufnahmen des zweiten Opfers. Ein älterer
Mann, bestimmt über fünfzig. Der Täter hatte ihn mit einem
Kabel an der Deckenlampe aufgeknüpft; die Füße hingen ge-
rade so in der Luft. Das blau verfärbte Gesicht, die hervorge-
quollene Zunge und der rot-weiße Speichelschaum, der über
sein Kinn gelaufen war, sprachen Bände. Sein Mörder hatte
ihn nicht nur aufgeknüpft, sondern elend krepieren lassen.
Doch damit nicht genug. Auch diesem Opfer war der Leib auf-
geschlitzt worden. Die Gedärme lagen unter ihm, sein Herz
ebenso. Seine Genitalien waren jedoch noch intakt. Sein Pe-
nis ragte steil empor. Ein Effekt, den man als Angel Lust be-
zeichnet – typisch für Strangulationen und andere, rüde To-
desarten. Eine letzte Erektion, vielleicht sogar ein Samener-
guss beim Mann. Bei Frauen trat ein ähnlicher Effekt ein, nur
nicht so offensichtlich.

199
Abwehrverletzungen hatte dieser Mann keine. Dafür waren
seine Beine aufgerissen. So, als seien sie von einem Raubtier
zerfleischt worden.
„Der Gerichtsmediziner meint, er sei zuerst gehenkt worden.
Die Verletzungen wurden ihm sämtlich nach seinem Tode zu-
gefügt. Der Jüngere wurde allerdings bei lebendigem Leibe
ausgeweidet.“
Mein Blick huschte über die Bilder der Männer. „Waren alle
Organe da? Oder fehlten welche?“
„Die ... Nieren fehlten“, erklärte der Reverend. „Woher wuss-
ten Sie das, Miss Cohen?“
„Nur eine Vermutung. Tötet man einen auf diese grausame
Art, will man seinem Hass freien Lauf lassen und seinem Op-
fer Qualen jenseits des Vorstellbaren zufügen. Schlitzt man
einen Toten auf und wühlt in seinen Eingeweiden herum,
muss es dafür einen anderen Grund geben.“
„Das leuchtet mir ein“, stimmte Washington mir zu. „Sheriff
Coffey geht übrigens von einem Ritualmord aus.“
„Tut er?“
„Ja“, bestätigte der Reverend. „Sie schließen auch das aus?“
„Ein Ritual ist ein Ritual, weil es in immer der gleichen Form
zelebriert wird. Das kann man hier nicht gerade behaupten.
Das Motiv für die Verstümmelungen mag identisch sein, aber
das Vorgehen war verschieden. Es sieht so aus, als ob ...“
„Ja?“, wollte Washington wissen. „Wonach sieht es aus?“

200
„Als habe jemand dringend die Nieren gewollt. Hier war er
am Tatort und nahm sie sich. Dabei tötete er das Opfer. Aber
hier ...“ Damit deutete ich auf die Bilder des zweiten Opfers,
„er wurde von jemand anderem erhängt. Erst dann kam der
Nierenklau.“
„Sind Sie Profilerin?“
„Hab ein paar Bücher gelesen und mir eine Vorlesung in der
NYU10 zu diesem Thema angehört. Aber das hier hat damit
wenig zu tun.“ Die Bilder verschwanden wieder im Umschlag.
„Sie haben nichts dagegen, wenn sie bei mir verbleiben?“
„Nein. Die NAACP besitzt Abzüge davon. Fahren Sie nun
nach Wiggins?“
„Ja, das hatte ich vor. Mal sehen, wie weit der Sheriff ist.
Oder das FBI. Als erstes stelle ich mich bei den Ermittlungsbe-
hörden vor, dann beginnen die Nachforschungen.“
„Schön. Ich möchte, dass Sie zuvor jemanden kennen ler-
nen. Das ist Peter, mein Sohn.“ Er gab jenem jungen Mann ein
Zeichen, der mir schon zuvor aufgefallen war. „Er wird Sie bei
Ihrer Arbeit unterstützen.“
„Nein.“ Ich wandte mich Peter zu. „Tut mir leid, aber ich ar-
beite allein. Zudem ist der Fall gefährlich. Diese Söhne gehen
über Leichen!“
„Ja, das wissen wir. Aber die NAACP will auf jeden Fall si-
cherstellen, dass unsere Interessen gewahrt bleiben. Sie ar-
10
New York University

201
beiten nicht für uns, sondern für die Tochter ihres ehemaligen
Klienten. Die Aufklärung der zwei Morde hier in Mississippi
steht für Sie nicht an erster Stelle. Anders als für uns. Peter
wird in diesem Fall ohnehin ermitteln. Es ist nur praktisch,
wenn er Sie unterstützt. Wir sehen Sie und ihn als Team,
wenn Sie verstehen.“
„Ihr Sohn ist Polizist?“ Ich schenkte dem jungen Mann einen
schiefen Blick.
„Nein“, erklärte Reverend Washington. „Peter ist Versiche-
rungsdetektiv. Ein Kollege von Ihnen, wenn man so will. Nor-
malerweise ermittelt er in Fällen von Brandstiftungen, unge-
klärten Todesfällen und ähnlichen Dingen. Aber er ist wie ich
ein aktives NAACP-Mitglied und als dieses mehrfach bei Kri-
minalfällen ermittelnd tätig gewesen. Hören Sie, unsere Fami-
lie stammt hier aus dem Süden. Peter kennt die Gegend und
vor allem die Menschen! Er kann eine Vertrauensbasis zu den
Schwarzen in Wiggins schaffen, die Sie niemals aufbauen
könnten.“
Starke Argumente, das musste ich zugeben. Dennoch wider-
strebte es mir, mit einem Fremden zu arbeiten. Obwohl er
nicht einmal uncharmant lächelte. Seine Zähne blitzten, als er
sich neben mich stellte und mir die Hand reichte.
„Freut mich, dich kennenzulernen. Ich habe mit dem Büro in
New York gesprochen. Schlimm, was deiner Familie einst wi-
derfuhr.“

202
Nette Art. Andere hätten es anders ausgedrückt. ‚Hey, Süße
– wir wissen alles über dich. Ho, ho, ho.’
Ich taxierte ihn mit den Augen. „Ein Werwolf hat sie getötet!
Ja, eine wirklich schlimme Sache.“
Nur für einen kurzen Augenblick spiegelte sich die Verunsi-
cherung, die meine Worte ausgelöst hatte, in Peters Gesichts-
zügen. Dann hatte er sich wieder im Griff. „Mir sagte man, es
wäre ein Verrückter gewesen. Ein Irrer im Halloweenkostüm.“
„Muss ein dickes Kostüm gewesen sein. Er schluckte die Ku-
geln aus dem Dienstrevolver meines Kollegen sowie das ge-
samte Magazin meiner Waffe. Aus seiner Schnauze spritzte
Blut, er jaulte und brüllte wie ein Raubtier und schaffte es am
Ende, trotz aller Verletzungen durch das Fenster im ersten
Stock zu entkommen.“
„Nun gut“, wiegelte Peter ab. „Hier haben wir es hoffentlich
mit einem menschlichen Mörder zu tun.“ Er lachte gekünstelt.
Sein Vater fiel nicht ein. Viel eher schenkte er seinem Sohn
einen verärgerten Blick.
„Das werden wir sehen. Es gibt schon einige merkwürdige
Aspekte in diesem Fall. Aber lass uns das auf dem Weg nach
Wiggins besprechen. Hast du einen Wagen?“
„Einen Ford mit Klimaanlage und CD-Player.“ Stolz schwang
in seiner Stimme mit. Wieder kassierte er eine non-verbale
Rüge von seinem Vater. Peter räusperte sich und antwortete

203
noch einmal in sachlichem Tonfall. „Ja, ich habe einen Wagen.
Und eine Dienstwaffe habe ich auch.“
„Wie alt bist du, Peter?“
„Nächsten Januar werde ich 27.“
„Hoffen wir es“, murmelte ich. Sein Vater grinste schwach,
während er mir die Hand reichte. „Viel Glück. Und du“, er
wandte sich ans einen Sohn, „hältst mich auf dem Laufenden.
Ich werde die Informationen dann an unser Büro weiterleiten.
Brauchst du Geld?“ Ohne eine Antwort abzuwarten streckte er
seinem Sohn einen Bündel kleiner Scheine hin. Dieser griff zu.
„Nicht für mich“, erklärte er mir dabei. „Die Menschen in
Wiggins sind nicht gerade auf Rosen gebettet. Ein paar Dollar
können Zungen lockern; bei Schwarzen und Weißen.“
„Schön. Können wir?“, machte ich ein wenig Druck. Es wur-
de Zeit aufzubrechen. Wiggins lag nicht gerade in der Nach-
barschaft von Jackson. Wir mussten in den Süden des Sü-
dens. Dort, wo es besonders weiß war. Und ich wollte noch
vor dem Abendessen ankommen.

Knapp 110 Meilen später saßen wir in einem kleinen Diner in


Hattiesburg und aßen Burger mit Pommes. An den Wänden
hingen Poster von Menschen, die ich nicht kannte. Peter Wa-
shington deutete auf einen von ihnen. „Diese Stadt gilt als Ge-
burtsort des Rockn’n Roll. Schon 1936 nahmen die Graves-
Brüder gemeinsam mit dem Piano-Spieler Cooney Vaughn

204
zwei Songs auf, die alle Elemente des Rock’n Roll enthielten.
Darauf ist die Stadt sehr stolz. Und darauf, die viertgrößte in
Mississippi zu sein. Außerdem hat sie einen fast so hohen Be-
völkerungsanteil an Schwarzen wie an Weißen. 47 zu 49 Pro-
zent, wenn ich die Zahlen richtig im Kopf habe. Dort, wo wir
hin wollen, sieht es nicht so gut aus. 31 Prozent sind schwarz,
67 Prozent sind weiß. Der Rest besteht überwiegend aus Hi-
spanics.“
„Klingt nicht gut“, gab ich zu. Je mehr Schwarze in einem
Gebiet wohnten, umso weniger wurden sie unterdrückt. Das
bedeutete auch, dass sie vermutlich eher bereit waren, mit Er-
mittlern wie uns zu kooperieren. Das galt nicht nur für Städte,
sondern auch für das Umland. Angst vor Repressalien lässt
die Menschen verstummen.
Andererseits gilt die Regel nicht, wenn es um Verbrechen
von Schwarzen an Schwarzen geht. Denn dann ist es Verrat
an einem Bruder, und das gilt als Todsünde.
Ich seufze. „Wir können es nicht ändern. Hast du Informatio-
nen über Sheriff Coffey? Was ist das für einer? Ein dickbäu-
chiger, Grütze fressender Sesselfurzer? Oder jemand mit
Grips im Hirn?“
„Eher die erste Kategorie. Ist seit vielen Jahren im Amt. Der
County ist so weiß, dass es einem in den Augen brennt. Er
stellt seine Wähler zufrieden, fertig. Stone County gilt nicht ge-
rade als Mekka der Verbrechens. Sumpfgebiete, Farmen und

205
Armut. Jackson ist eine Million Meilen entfernt, Washington
D.C. weiter als der Mond. Den kann man schließlich jeden
Abend sehen, das Weiße Haus nicht. Auf der einen Seite liegt
Lousianna, auf der anderen Alabama – keine fünfzig Meilen,
ehe man in einem anderen Bundesstaat ist. Oder am Meer im
Süden. Als die Rassentrennung per Bundesgesetz endlich
aufgehoben wurde, dauerte es noch viele Jahre, bis sie auch
aus diesen Gegenden – zumindest inoffiziell – verschwand.
Vermutlich wären sie aber die ersten, die sie wieder einführen
würden.“
„Eine Jüdin und ein Schwarzer. Ich glaube, schlimmer hätte
man ein Team gar nicht zusammenstellen können. Damit er-
höhen wir unsere Chancen nicht gerade, auf Hilfsbereitschaft
zu stoßen.“
„Bei den Weißen nicht. Bei den Schwarzen schon. Ohne
mich hättest du keine Chance. Das sollte dir klar sein, Rebec-
ca.“
„Und mit dir hab ich die? Warten wir es ab, und bejubeln wir
unsere Zusammenarbeit dann. Einverstanden?“
„Schon gut. Ich versuche einfach, optimistisch zu sein. Du
bist eher der pessimistische Typ. Oder?“
„Die Welt ist ein großer Klumpen Scheiße und stinkt zum
Himmel. Wo bitte ist da noch Platz für Optimismus? Du müss-
test das doch am Besten wissen.“

206
„Man kann auch versuchen, das Gute in all dem Übel zu su-
chen. Ob man es findet, ist eine andere Sache. Aber zumin-
dest hofft man auf den Lichtblick. Und die Hoffnung stirbt be-
kanntlich zuletzt.“
„Nein“, widersprach ich, „zuletzt stirbt der Feigling. Alle ande-
ren sind schon vorher draufgegangen. Inklusive der Hoffnung.“
„Das ist ...“ Peter beendete den Satz nicht, sondern schüttel-
te lediglich den Kopf.
Wir widmeten uns dem Essen. In diesem Diner entstand die
Idee zu MCI Communications11, stand auf einem Schild hinter
der Theke des Restaurants. Wir aßen an einem geschicht-
strächtigen Ort. Ein Bekannter von mir hatte ein paar Aktien
von MCI WorldCom, wie das Unternehmen zum Schluss hieß.
Nun konnte er sich den Hintern damit abwischen, denn mehr
waren sie nach der Pleite der Firma nicht mehr wert.
„Hast du ein Hotelzimmer in Wiggins gebucht?“, riss mich
Peter aus meinen Betrachtungen.
„Ja, in der einzigen Pension, in der noch ein Zimmer frei war.
Eine Frau namens Bell leitet sie.“ Mit nachäffenden Tonfall zi-
tierte ich die Gute: „Die Zimmer sind sauber, aber Schnick-
schnack gibt es bei mir nicht. Dafür Frühstück. Den Rest be-

11
Ehemalige Telefongesellschaft in den USA, deren Gründung an-
geblich auf eine Idee bei einem Geschäftsessen in einem Diner in
Hattiesburg zurückgeht.

207
kommen sie bei Selma im Diner. Keine Haustiere, bezahlt wird
im Voraus. Verstanden?“
Mein temporärer Partner grinste ironisch. „Und da sag einer,
die Leute in der Gegend seien nicht herzlich. Ich werde bei ei-
nem NAACP-Mitglied unterkommen. Hab schon mit ihm und
seiner Frau gesprochen; sie freuen sich, einen bescheidenen
Beitrag leisten zu können.“
„Neben den Geldern, die sie trotz ihrer Armut spenden.“
Er fixierte mich. „Was meinst du damit?“
„Das, was ich sage. Die Leute haben nichts und geben den-
noch bei der Sonntagskollekte ihre letzten Cent für die NAA-
CP. Nicht nur hier unten, sondern überall. Im Big Apple ist es
nicht anders.“
„Denkst du, sie bekämen keine Gegenleistung? Meinst du,
uns macht es Spaß, auf diese Art um Geld zu bitten? Aber in
diesem Land ist alles so verdammt teuer. Wir beschäftigen un-
sere eigenen Anwälte, unsere Ermittler und unsere Ärzte, Psy-
chologen und Handwerker. Unser Bildungsprogramm ver-
schlingt Unsummen. Wo soll es denn herkommen?“
„Es war keine Anklage, sondern eine Feststellung. Nicht
mehr. Warum fühlst du dich angegriffen?“
Peter stopfte zwei Pommes in seinen Mund. Dabei schaute
er mich finster an. „Ich kenne solche Sprüche“, erklärte er
schließlich. „Vorurteile der Weißen gegenüber der NAACP.
Ausbeuter, Betrüger und solche Dinge denkt ihr über uns.

208
Aber das ist nicht wahr. Wir können nicht jeden zufrieden stel-
len. Und unsere Anwälte gewinnen nicht jeden Prozess. Aber
ohne uns ... Daran will ich gar nicht denken.“
„Es war kein Angriff“, stellte ich erneut klar. „Aber meine
Feststellung widerlegt hast du auch nicht. Es ist, wie ich es
sage. Die Leute nagen den Kitt aus den Fensterrahmen, spen-
den aber an die Gesellschaft. Das ist ein Fakt.“
„Na gut, du hast recht“, musste er zugeben. „Nun ja. Wenn
wir den Menschen in Wiggins helfen können, haben sich ihre
Spenden gelohnt.“
„Auch, wenn wir ihnen nicht helfen können. Wir versuchen
es. Oder gibst du Erfolgsgarantien? Ich nicht.“
Wir orderten noch zwei Shakes mit Schokoladengeschmack,
zahlen jedoch gleich, als diese serviert wurden und nahmen
die Getränke mit zu Peters Wagen. Hier im Süden war das
Wetter völlig anders als in New York City. Sehr viel wärmer.
Allerdings zogen dunkle Wolken über den Himmel und künde-
ten von Regen. Dachte, Mississippi sei ein trockener Staat.
Wäre aber auch kein Wunder, wenn er ausgerechnet jetzt
feucht würde.
Wir stiegen wieder in den Wagen. Ein älterer Mann saß vor
einem Geschäft mit Angler- und Jagdbedarf und schaute uns
nach. Fast schon schien es, als würde er wissen, was auf uns
zukommt. Doch das halte ich auch heute noch für ausge-

209
schlossen. Niemand wusste es. Hätten wir es nur im Ansatz
geahnt, wären wir nie und nimmer nach Wiggins gefahren.

210
Kapitel 14

19. Dezember 2005, 18:00/ Wiggins (Mississippi)

Die Stadt war klein. Laut dem Ortsschild wohnten nicht ein-
mal 4000 Seelen dort.
Die Straße wies Schlaglöcher auf. Am Rand war sie zudem
unbefestigt und ging nahtlos in einen Graben über, der wieder-
um von Bäumen gesäumt wurde.
Auf dem Weg hinein waren wir an einigen Farmen vorbeige-
kommen. Ein paar Katzen hockten vor einem Haus auf der Ve-
randa und dösten. Es war eine kleine, beschauliche Vorstadt.
Keine Geschäfte, keine Büros. Nur Wohnhäuser. Erst nach ei-
ner Weile änderte sich das, und die eigentliche City begann.
Die Pension, ein Diner sowie eine Bank und ein Gemischtwa-
renhändler, der auch Arznei verkaufte. Ein Tierarzt hatte seine
Praxis im Haus links daneben, auf der anderen Seite prangte
das Schild eines Mediziners für Menschen an der Außenwand
neben dem Eingang. Immerhin haben sie nicht einen für alle,
dachte ich ketzerisch.
Peter hielt vor der Pension, in der ich mein Zimmer gebucht
hatte. „Solltest du Probleme haben, kannst du mich anrufen.
Geh nicht allein auf Tour, okay? Du kommst aus dem Norden,

211
bist eine Jüdin und eine Frau. Drei Gründe, dich nicht zu mö-
gen.“
„Du bist von der NAACP, jung und schwarz. Drei Gründe,
dich nicht zu mögen.“ Es widerstrebte mir, dass er sich ein we-
nig in den Vordergrund zu spielen begann. Ich hätte ihn bei
Papi lassen sollen – kam bisher auch ohne einen Partner aus,
der alles besser wissen will. Ohne seine Erwiderung abzuwar-
ten, stieg ich aus. Mir blieb gerade noch Zeit, die Reisetasche
von der Rückbank zu nehmen, ehe Peter Gas gab. Die Tür
zog er selbst zu. Es war abzusehen, dass unsere Partner-
schaft nicht ohne Spannungen ablaufen würde.
Die Lobby der Pension bestand aus einem schlichten Raum.
Rechts eine Theke, schräg gegenüber dem Eingang eine
Treppe, die hinauf in den ersten Stock führte. Daneben stand
ein Getränkeautomat sowie eine weitere Maschine, die bei Be-
darf Snacks ausspucken konnte. Durch eine nur halb ge-
schlossene Tür konnte man in den dahinter liegenden Früh-
stücksraum schauen. Drei Tische standen darin, bereits einge-
deckt für den nächsten Tag.
„Sind Sie diese Cohen?“ Eine quäkende Stimme, die mir be-
reits vom Telefon her bekannt war, keifte durch den Raum. Ich
drehte den Kopf und sah nun eine ältliche Dame hinter dem
Empfang stehen. Woher sie gekommen war, mochte der Him-
mel gewesen. Aufgefallen war sie mir jedenfalls nicht. Entwe-

212
der, sie kauerte auf dem Boden. Oder du lässt nach, Becca.
„Ja, ich bin diese Cohen. Wir hatten telefoniert.“
„Ja, ja, Ihr Zimmer ist bereit. Frühstück von sieben bis neun,
sonst nur Automaten. Geraucht wird bei mir nicht, Einzelzim-
mer heißt auch Einzelzimmer. Also keine Typen oder so. Das
kann ich gar nicht ab.“
„Sehen Sie einen Typen?“
„Kann ja noch kommen. Ihr Gepäck müssen Sie selbst
schleppen, mein Sohn ist heute nicht da. Keine laute Musik,
Glotze haben wir im Frühstücksraum.“
„Wunderbar. Genau das, was ich suche.“ Es war schwer, bei
dieser Dame ernst zu bleiben. Auch wenn sie selbst völlig
ohne Humor zu sein schien.
Rasch füllte ich den Anmeldebogen aus. Sie warf mir einen
Schlüssel vor die Nase – schon war der freundlich Empfang
vorbei und ich konnte in den ersten Stock, Zimmer 1-0-2. Es
gab noch drei weitere, mehr aber auch nicht.
Im Inneren machte meine Unterkunft einen noch trostloseren
Eindruck, als die Lobby bereits hatte erwarten lassen. Das
Bett war schmal, die Bezüge abgewetzt und das Radio auf ei-
ner kleinen Anrichte sah aus, als habe es bereits den Angriff
auf Pearl Harbor verkündet. Das angrenzendes Bad stammte
aus der ersten klaustrophobischen Periode. Aber wenigstens
verfügte es über eine Dusche, ein Waschbecken nebst Spie-
gel und einer Toilette, die jedoch so ungeschickt an der Wand

213
montiert war, dass bei Benutzung die Füße in die in den Bo-
den eingelassene Duschwanne ragten.
Vorsichtig, um nichts von der wertvollen Einrichtung zu zer-
stören, legte ich meine Wäsche in den wackeligen Schrank.
Anschließend stand ein kurzes Probeliegen auf dem Pro-
gramm. Zumindest war die Matratze bequem.
Okay, und jetzt? Dem Sheriff einen Besuch abstatten? Das
FBI anrufen? Vielleicht sollte ich mir einfach mal den Ort anse-
hen und im Diner ein Shake trinken? Wenn Peter meint, ich
würde wie ein verängstigtes Hühnchen in der Ecke sitzend auf
ihn warten, hat er sich aber geirrt. Es war mein Fall, ehe es
auch zu seinem wurde. Also behalte ich die Hosen an, gebe
das Tempo vor und mache, was mir gefällt. Er soll bloß nicht
glauben, mir Vorschriften machen zu können.
Ein wenig Trotz war dabei, das kann ich nicht leugnen. Aber
es hatte Vorteile, erst einmal ohne hin den Ort zu erkunden. Er
war schwarz, und dies war ein weißer County. Das durfte man
nicht außer Acht lassen. Auch wenn es mir widerstrebte, in
diesen Bahnen zu denken. Menschen waren Menschen – fer-
tig.
„Ist das Zimmer in Ordnung?“, keifte mir die Besitzerin ent-
gegen, als ich auf dem Weg nach draußen die Lobby passier-
te.

214
„Wunderbar. Dieser Luxus. Diese Technik. Etwas Derartiges
in einer Gegend wie dieser. Nicht einmal im Traum hätte ich
daran gedacht.“
„Wollen Sie mich verarschen?“
„Das würde mir nie in den Sinn kommen.“ Damit fiel die Tür
hinter mir zu. Sie rief noch etwas hinter mir her. Was, war nicht
zu verstehen, aber ich war sicher, dass mir nichts Wichtiges
entgangen war.
Ein Mann hockte auf der Veranda vor dem Gemischtwaren-
laden. Erst jetzt fiel mir auf, dass neben der Pension ein klei-
ner Frisiersalon beheimatet war. Durch die Glasscheibe konn-
te ich zwei Frauen sehen, die gerade bedient wurden. Eine
dritte wartete an der Seite. Dabei blätterte sie in einem Maga-
zin. Eine neue Frisur würde mir auch gut stehen. Ist so ein Sa-
lon nicht der perfekte Ort, um mit Klatsch und Tratsch versorgt
zu werden?
Im Geiste fügte diesen Punkte meiner Todo-Liste hinzu und
hielt auf den Kaufladen zu. Die Straße, die durch die Stadt
führte, war staubig. Sanfter Wind strich über mich hinweg.
„Ist noch offen?“
Der Mann vor dem Laden nickte. Sein Kiefer war in Bewe-
gung. Noch ehe ich mich fragen konnte, was das sollte, spuck-
te er eine Ladung Prim in einen kleinen Eimer, der halb ver-
borgen unter dem Stuhl stand. Ein Anblick, der mich fast wür-
gen ließ.

215
Rasch trat ich ein. Ein merkwürdiges Zwielicht herrschte in
dem Laden. Regale standen überall herum, die Fenster waren
kaum zu sehen und von der Decke baumelte größere Waren
wie Körbe und Pfannen.
Hinter einer großen Holztheke musterte mich ein älterer
Mann neugierig. Vor ihm standen ein paar Gläser mit Süßwa-
ren, in der Ecke eine Kühltruhe sowie ein großer Schrank mit
gekühlten Getränken.
„Lassen Sie mich raten“, knurrte er. „Sie sind eine Reporte-
rin, oder? Seit sie die beiden Nigger abgemurkst haben, ist
hier der Teufel los. Polizei, Presse! Sogar ein Sender aus
Jackson war da. Haben sie wohl noch nicht gesehen – ein
Schwarzer, dem sie den großen Schwanz abgeschnitten und
in den Bauch gestopft haben.“
„Kommt daher der Hass auf die Schwarzen? Weil sie ver-
meintlich größere Schwänze haben als Weiße?“
„Fuck“, grummelte der Mann. „Wissen Sie, warum die
Schwänze der Nigger größer sind? Irgendwie musste sich Gott
ja für die zu kleinen Hirne entschuldigen!“ Er lachte schallend.
„Also, was darf es denn sein, Reporterin?“
„Wasser. Und ein paar Informationen. Zum Beispiel über den
Mord an den Schwarzen.“
„Wasser hab ich. Informationen für Schnüffler nicht. Wenden
Sie sich an Sheriff Coffey. Der spricht mit Ihnen. Oder auch
nicht.“

216
„Maulkorb, wie?“
Seine Hand fuhr auf die Theke, so dass ein dumpfer Laut
entstand. Etwas Staub wurde aufgewirbelt. „Was denken Sie
sich denn? Dass ich mit jedem spreche, der in meinen Laden
gelatscht kommt?“ Zornesfalten zeichneten sich auf seiner
Stirn ab. Seine Augen blitzten.
„Ich denke mir, dass ein Mann wie Sie zu den am besten in-
formierten Personen der Stadt gehört. Jeder, der etwas
braucht, kommt zu Ihnen. Und Sie sind eine sonst sprudelnde
Quelle an Informationen. Außer, wenn Ihnen ein Sheriff einen
Maulkorb anlegt.“
„Wir reden nicht mit Fremden“, gab der Händler kurz ange-
bunden zurück. „Das ist alles. Schon gar nicht mit Reportern.“
„Wie Sie meinen.“ Es war müßig, ihn über meinen wahren
Beruf aufzuklären. Erstens glaubte ich nicht, dass er zu einer
Privatdetektivin gesprächiger gewesen wäre. Ja, dies hielt ich
sogar für ausgeschlossen. Zweitens war ich davon überzeugt,
dass ihm der Sheriff verboten hatte, mit Fremden den Fall zu
erörtern. Zwei Schwarze waren tot, die Presse hatte sich auf
die Sache gestürzt und die NAACP war vermutlich ebenfalls
aufgetaucht, um sich die Sache anzuschauen. Keine gute Re-
klame für den Süden. Zumal die Sache mit den drei toten Bür-
gerrechtlern aus den Sechzigern im Juni erneut für Schlagzei-
len gesorgt hatte. Den Leuten im Süden lag also nichts daran,
Unruhe aufkommen zu lassen. Liefen ein paar Rassisten rum

217
und ermordeten Schwarze, musste das möglichst nicht an die
breite Öffentlichkeit getragen werden. „Wie viel macht das?“
Er nannte den Preis, ich zahlte und verließ den Laden wie-
der. Dabei fiel mein Blick eher zufällig auf die Townhall. Diese
war für einen derart kleinen Ort wahrlich riesig. Zudem beher-
bergte sie das Büro des Sheriffs. Mehrere Streifenwagen park-
ten vor dem Gebäude. Erst dachte ich, hier würde eine beson-
dere Form südstaatlichen Größenwahns regieren. Aber als ich
mich dem Gebäude näherte, bemerkte ich meinen Irrtum. Hier
wurde nicht nur die Politik der Stadt gemacht, sondern des ge-
samten Stone Countys, dessen Verwaltungssitz Wiggins war
(und ist).
Ein paar Leute musterten mich mit offener Ablehnung, wäh-
rend ich zur Townhall schlenderte und dort durch das relativ
breite Tor ging. Links befand sich eine Treppe, die zu den Ver-
waltungsbüros führte. Sie war mit einem blau-weiß-roten Band
abgesperrt.
Rechts des Eingangs ging es hingegen zum Büro des She-
riffs. Eine breite Glasfront gewährte Einblick in die Arbeit der
Deputys. Dahinter lag eine zweite Glaswand, hinter der ich
einen älteren Mann erkennen konnte. Er saß an seinem
Schreibtisch und starrte auf den Monitor des Computers. Das
musste Sheriff Coffeys sein. Wie in einem Aquarium sitzen die
da.

218
An der Wand neben ihm hingen zwei Flaggen – jene des
Bundesstaates und die der Vereinigten Staaten. Sie umrahm-
ten das Gesicht von Gouverneur Barbour. Direkt neben ihm,
aber etwas abgesetzt, war Bush zu erkennen. Barbour war
erst der zweite republikanische Gouverneur des Bundesstaa-
tes seit der Reconstruction-Ära. Darüber, ob trotz oder gerade
wegen seiner Nähe zu rassistischen Gruppen gab es unter-
schiedliche Auffassungen.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte einer der Deputys, nachdem
ich dem ersten Glaskasten betreten und mich zielstrebig bis
fast zu Coffeys Aquarium vorgearbeitet hatte.
„Sie können mich bei Ihrem Boss anmelden. Mein Name ist
Earhart. Amelia Earhart.12“
„Worum geht es denn?“, fragte der Beamte. „Sheriff Coffey
ist beschäftigt. Vielleicht kann ich Ihnen helfen?“
„Vielleicht auch nicht. Es geht um die Morde an den zwei
Schwarzen. Es ist wichtig, dass ich mit ihrem Boss spreche.
Wenn Sie denn so freundlich wären ...“
Er griff nach dem Hörer und drückte eine Kurzwahl. Im
Aquarium hob Coffey ab, schaute in meine Richtung und nick-
te schließlich, nachdem ihm sein Untergebener meinen Na-
men und mein Anliegen genannt hatte. .
„Gehen Sie rein, Miss Earhart. Sheriff Coffey hat ein paar Mi-
nuten für Sie.“
12
Flugpionierin, gilt seit 1937 als vermisst.

219
Mit einem breiten Grinsen, dass der Mann aber nicht ver-
stand, kam ich seiner Aufforderung nach und stand kurz dar-
auf vor Coffey. Scheiße, schoss es mir dabei durch den Kopf,
noch stereotyper geht es wohl nicht. Ein Grütze fressender
Redneck, der sich fett und faul auf seinem Stuhl räkelt, den
Norden, Juden und Schwarze hasst und sich von seinen Wäh-
lern den Arsch wischen lässt.
„Guten Abend, Mister Coffey.“
Der Beamte schob eine Portion Kautabak von der linken in
die rechte Wangentasche. „Ich komme aus Atchison, Kansas.
Amilia Earhart wurde dort geboren und gilt den Menschen
nach wie vor als Volksheldin. Wer immer Sie auch sind – Sie
sehen nicht aus wie eine Volksheldin, Miss. Wer zum Geier
sind Sie also wirklich?“
„Cohen. Rebecca Cohen. Meines Zeichens Privatdetektivin.“
Es war erstaunlich. Früher hatte ich mir einen Gag daraus ge-
macht, mich mit immer anderen Namen berühmter Personen
vorzustellen. Nach dem Tode meiner Familie war es vollkom-
men eingeschlafen. Aber seit ich Charlies Männer auf die Pro-
be gestellt hatte, war diese kleine, dumme Angewohnheit zu-
rückgekehrt.
Der Sheriff stöhnte auf. „Eine Privatschnüfflerin? Das hat mir
gerade noch gefehlt. Das FBI sind wir los geworden, und nun
stehen Sie vor mir. Passen Sie auf, Miss – Sie drehen sich

220
jetzt um, gehen durch diese Tür und reisen noch heute ab. Die
Morde gehen Sie nichts an.“
„Das sehe ich völlig anders, da man mich mit den Ermittlun-
gen betraut hat.“ Ohne dazu eingeladen worden zu sein, nahm
ich ihm gegenüber Platz und gab mich lässig. „Es geht um
Mord. Sollten wir nicht alle zusammenarbeiten, um den Fall zu
lösen?“
„Ja, Mord. Zwei Nigger sind tot. Ein Jammer ist das. Aber
Sie haben in unserer kleinen Stadt nichts verloren. Mir ist
gleich, wo Sie herkommen und mir ist es auch egal, wer Sie
engagiert hat. Sie werden hier nicht schnüffeln und Fragen
stellen. Sonst buchte ich sie ein. Haben wir uns verstanden?“
Er fixierte mich mit einem strengen, autoritären Blick. Bei
manchen Leuten mochte das funktionieren. Bei mir nicht. Zu-
mal er mir ein wunderbares Argument geliefert hatte. „Das FBI
hat sich also aus dem Fall zurückgezogen? Waren ihnen die
Morde am Ende doch nicht grauenvoll genug?“
„Scheinbar. Hab eben den Anruf bekommen, dass wir uns
um die Sache kümmern sollen. Sie sehen – selbst die Bundes-
polizei lässt uns unsere Arbeit machen. Also verschwinden
Sie, Miss Cohen.“
„Kann ich nicht. Zum einen, weil meine Klientin auf mich
zählt. Zum anderen, weil ich persönlich involviert bin. Zudem
sollten Sie froh sein, dass ich ermittele.“

221
„Bin ich aber nicht. Die Unterhaltung ist beendet, Miss Co-
hen. Und jetzt verschwinden Sie aus Wiggins.“
„Wie Sie meinen.“ Ich erhob mich. „Dann werde ich meine
bisherigen Ermittlungsergebnisse dem FBI vorlegen. Da der
Fall in New Jersey begann, werden sich die Jungs in Kürze bei
Ihnen melden und die Sache in die Hand nehmen. Schönen
Tag noch, Sheriff Coffey.“
Noch ehe ich die Tür des Aquariums erreicht hatte, räusper-
te er sich. „In New Jersey? Das ist mir neu.“
„Ja, so ist das. Ein Verbrechen, das sich über zwei Bundes-
staaten zieht. Nimmt man den damit in Zusammenhang ste-
henden Mordversuch an einem Detektive des NYPD hinzu so-
wie einen Einbruch in Queens, kommen wir auf drei Bundes-
staaten. Die Bundespolizei muss also ermitteln. Zumindest ...“
Damit wandte ich mich um, „wenn sie davon erfährt. Entweder
ich erzähle denen, dass mich die NAACP engagiert hat, um
die Morde an den beiden Schwarzen zu klären oder sie erfah-
ren Namen und Anschrift meiner wahren Auftraggeberin.
Kommt drauf an, ob Sie mich meinen Job erledigen lassen. Es
ist ganz allein Ihre Entscheidung.“
Coffey kochte auf kleiner Flamme. Ihm blieb die Wahl zwi-
schen zwei unangenehmen Möglichkeiten. Entweder eine Pri-
vatschnüfflerin oder die Feds. „Also schön“, knurrte er. „Ich
hoffe nur, Sie wissen, was Sie tun. Ist nicht Ihr erster Fall,

222
oder? Wenn Sie Ärger machen, oder unsere Arbeit behindern,
werden Sie es bereuen.“
„Keine Sorge. Ich war mal Cop in New York City und nein –
es ist nicht mein erster Fall.“
„Wie Sie meinen, Cohen. Im Moment sind Sie mir lieber als
das Federal Bureau of Idiots. Aber das kann sich ändern.“
„Hoffen wir es nicht. Ich benötige Einsicht in Ihre Akten. Au-
ßerdem will ich mit den Leuten in Wiggins sprechen. Nicht mit
allen. Aber zum Beispiel mit dem Krämer gegenüber. Nehmen
Sie denen also Ihren Maulkorb ab; zumindest was mich be-
trifft. Und noch was – ich arbeite mit einem schwarzen Kolle-
gen zusammen, der tatsächlich im Auftrag der NAACP unter-
wegs ist. Für ihn gilt das gleiche.“
„Übertreiben Sie es nicht“, warnte mich Coffey. „Es gibt doch
da diese Sage vom Fischer und der Forelle.“
„Butt. Aber ich weiß, was Sie meinen. Keine Sorge, wir sind
ganz bescheiden. Wenn alles läuft, bemerken Sie mich nicht
einmal. Und bevor wir uns missverstehen – die Sache mit dem
Kollegen war nicht meine Idee. Die NAACP will ihre Interessen
gewahrt wissen.“
„Ja, die NAACP will dies, die NAACP will jenes. Sie sollen
alle Nigger zurück nach Afrika schicken. Dann haben wir hier
unten Ruhe. Seit Jahrzehnten machen die Schwarzen Ärger.
Das ist das ganze Problem. Aber sagen darf man das nicht.

223
Es ist nicht mehr politisch korrekt. Die Nigger beschimpfen
uns. Das ist okay. Aber umgekehrt – nein.“
„Sind Sie mit Ihrer Klan-Ansprache fertig? Ich würde mir ger-
ne die Akte der Morde ansehen. Mehr nicht.“
„Sie sind eine Frau – und Sie sind Jüdin. Nicht die besten
Voraussetzungen, um hier bei uns erfolgreich zu sein. Dann
auch noch mit einem schwarzen Kollegen. Sie wären besser in
New York geblieben. Da mag man Juden, Nigger und Schwu-
le. Hier unten im Süden, da achtet man die Bibel und kennt die
Ordnung der Dinge.“
Er kramte in der Schublade und warf mir schließlich einen
mit Dokumenten und Bildern gefüllten Ordner zu. „Nur, weil wir
im Süden anders denken, sind wir nicht dümmer als ihr im
Norden.“
Jemand, der Rassenhass lebt, muss einfach dumm sein.
Und deine Sprüche sind derart grauenvoll, dass ich kotzen
könnte. „Wie Sie meinen, Sheriff Coffey.“
Die Autopsieberichte der Leichen hatten nichts nichts Neues
zu Tage gebracht. Und auch die Tatortfotos waren mir bereits
bekannt. Zeugen der Tat hatte es keine gegeben, die Angehö-
rigen der Opfer konnten oder wollten nichts sagen. Peter soll
sich um die Leute kümmern. Dann hat er wenigstens etwas zu
tun und geht mir nicht auf die Nerven. Ich war mir sicher, dass
er die Adressen der Hinterbliebenen in seinen Unterlagen hat-
te. Vielleicht übernachtete er sogar bei einem von ihnen.

224
„Wie ist es, Sheriff – haben Sie schon einmal etwas von ei-
nem Iz gehört? Vor der Tat, meine ich?“
„Nein“, erwiderte Coffey. Es klang nicht, als würde er lügen.
„Erst bei den Morden. Die Stunde des Iz ist des die Todes-
stunde der Schwarzen. Die Söhne des Iz sind die Verteidiger
der weißen Rasse! Klingt nicht nur rassistisch, sondern auch
satanisch. Jemand tötet die Nigger, um sie diesem Iz zu op-
fern. Hab einen Deputy damit beauftragt, sich umzuhören.
Muss wohl ein übler Dämon aus Europa sein.“
„Gibt es auch nicht-üble Dämonen?“ Eine Antwort erübrigte
sich. „Das Opfer in New Jersey musste sterben, weil er eine
lange verschollene Figur des Iz besaß. Die Söhne wollten sie
und nahmen sich das Ding auch. Aber eine andere Sache ist
noch wichtiger – warum Wiggins?“
„Die Frage habe ich mir auch schon gestellt. Hier in diesem
County gibt es nicht so viele Spinner. Die meisten von denen
kenne ich. Satanisten sind eigentlich keine darunter. Nie-
mand, der nachts auf dem Friedhof Katzen opfert oder so.“
„Das hätte ich von den Söhnen auch nicht erwartet. Die sind
weiter. Viel, viel weiter. Noch eine letzte Frage – wen würden
sie zu den einflussreichsten Menschen hier in dem County
zählen?“
„Mich.“ Er lachte kurz. Doch seine Heiterkeit kam bei mir
nicht an. „Die Verwaltungsmitglieder der County, Reverend
Maison und ein paar Grundbesitzer. Aber die leben nicht hier,

225
sondern in Jackson oder im Norden. Lassen das Land von
Niggern bearbeiten, die es gepachtet haben.“
„Das waren alle?“
„Nein“, erwiderte er nachdenklich. „Es gibt da noch Professor
Moriarty, der in einer Villa abseits der Stadt lebt, finstere Ge-
danken hegt und die Weltherrschaft zu erringen anstrebt. Ihm
sollten Sie einen Besuch abstatten.“ Wieder lachte er me-
ckernd.
„Danke, aber um ihn kümmert sich Kollege Holmes.“ Ich be-
schloss, meinen Antrittsbesuch zu beenden. „Wir hören von-
einander.“
„Das glaube ich auch. Passen Sie nur auf, dass man Sie
nicht ausgeweidet vorfindet. Wäre schade um Sie.“
Wunderbar. Das war jetzt wirklich hilfreich. Auf dem Weg
hinaus fiel mir eine Liste mit den Mitgliedern des Stadtrates
sowie der County-Regierung auf. Ich bat einen der Deputys,
sie mir zu kopieren. Es konnte nicht schaden, die Namen parat
zu haben.

226
Kapitel 15

20. Dezember 2005, 00:40/ Wiggins (Mississippi)

Die Nacht brachte nicht die erhoffte Erholung. Dies war nicht
nur einem Umstand zuzuschreiben, sondern mehreren.
Es begann bereits, als ich mich – nach einer erfrischenden
Dusche unter kaltem Wasser, da es nur morgens warmes
Wasser gab (wer duscht schon in der Nacht? Hat man so was
schon gehört? Seltsame Sitten sind das!) – im Spiegel des Ba-
des betrachtete. Dabei frönte ich weniger meinem nicht vor-
handenen Narzissmus. Vielmehr war es eine Wundkontrolle,
denn der Streifschuss musste mit einer antibiotischen Salbe
eingerieben werden. Auch wenn die Schramme nicht tief war,
wollte ich keine Entzündung riskieren.
Die Veränderungen fielen mir erst auf, als sie mich fast in
den Hintern bissen. Es begann damit, dass das Licht in dem
kleinen Bad düsterer wurde. Milchiger vielleicht. Es schien sich
um mich herum zusammenzuballen. Die Dusche, die Toilette
und all die anderen Dinge im Raum versanken plötzlich in
tiefster Dunkelheit. Allein das Waschbecken, der Spiegel und
ich selbst standen inmitten einer Lichtinsel.

227
Was zum Teufel ist denn das? Obwohl der Ausgang des Ba-
des keine zwei Meter entfernt lag, konnte ich ihn nicht mehr
sehen. Es war, als würde man in einen unbeleuchteten Tunnel
schauen.
Nervosität erfasste mich Ein solches Phänomen war mir zu-
vor noch nie begegnet. Vor allem wusste ich nicht, ob es nun
an mir lag oder ob sich wirklich meine Umgebung veränderte.
Gibt es nicht den Effekt des Tunnelblicks? Meine Mutter hatte
hin und wieder darüber geklagt; immer, wenn sie einen ihrer
Migräneanfälle bekam.
Vorsichtig streckte ich meine Hand aus und brachte sie nach
vorne. Doch kaum tauchten meine Finger in das Dunkel ein,
fingen sie erst an zu kribbeln, dann zu brennen. So stark, dass
ich es nicht mehr aushielt und sie zurückziehen musste. Okay,
das hat nichts mit Kopfschmerzen zu tun. Das ungute Gefühl
in mir nahm zu. Was soll der Mist?
Ein leises Knirschen erklang. Erschrocken fuhr ich herum.
Der kleine Spiegel über dem Waschbecken zerbrach fast in
Zeitlupe vor meinen Augen. Ein Riss zog sich bereits quer
über das Glas. Es knackte, feiner Staub rieselte hinab. Gleich-
zeitig erschien ein Gesicht im Spiegel. Ich hatte dieses Ge-
sicht schon einmal gesehen. Es war jenes, welches ich be-
reits aus dem Internet kannte; die Fratze des Iz. Doch diesmal
handelte es sich nicht um eine bloße Abbildung. Die Höhlen
seiner Augen waren mit einem trüben Licht gefüllt, von den

228
langen Zähnen rann Geifer. Auch bestand sein Oberkörper
aus mehr als nur Gerippe.
Der Kopf bewegte sich. Fasziniert betrachtete ich die Er-
scheinung. Sie war hinter dem Spiegel, in einer anderen Welt.
Kein Wort fiel. Außer dem Knacken des brechenden Glases
war kein Laut zu vernehmen. Auch Iz tat nichts, als mich anzu-
starren. So, als wolle er mir auf diese Art eine Botschaft sen-
den. Oder mich einschüchtern – je nachdem.
Die Dunkelheit ballte sich noch dichter zusammen. So lange,
bis es nur noch mich gab und den Spiegel.
Die Gestalt im Spiegel nahm an Größe zu. So, als würde er
aus den Tiefen der Wand hervor quellen. Aus der Wand ...
oder aus einer anderen Welt.
Ein Schrei riss mich aus meinen Gedanken. Iz hatte den
Mund aufgerissen und einen Laut ausgestoßen, der mir die
Ohren dröhnen ließ. Automatisch presste ich meine Hände ge-
gen den Kopf, um die Lautstärke zu dämpfen.
Das Glas wurde von einem Netz feiner Risse überzogen. Für
einen Moment wölbte es sich.
Fuck.
Ohne lange zu überlegen, ließ ich mich fallen. Ein Knall don-
nerte durch das Bad, als der Spiegel explodierte. Seine Split-
ter jagten durch den Raum Hinter mir schlug sie mit hoher
Wucht gegen die Wand. Eine Fließe zersprang dabei, so hart
war der Aufprall. Die Scherben fielen scheppernd zu Boden,

229
manche wurde auch zurückgeworfen und trafen mich. Hätte
ich noch gestanden, wäre es mein Tod gewesen. Das war mir
klar. Und doch war es kein direkter Mordanschlag. Dazu hatte
sich Iz zu viel Zeit gelassen und vor allem mir die Chance ge-
geben, in Deckung zu gehen. Es war vielmehr eine deutliche,
kaum misszuverstehende Warnung. Wenn du nicht verschwin-
dest und dich um deinen Kram kümmerst, dann ...
War Iz selbst in der Lage, zu töten? Hatte er am Ende die
Nieren der Opfer verspeist? Oder benutzte er dazu einen Men-
schen?
Mir wurde klar, wie weit meine Gedanken bereits in einen
Bereich drifteten, der die normalen Bahnen verließ. Würdest
du auch so rasch das Übersinnliche akzeptieren, wenn du da-
mals nicht einem Werwolf gegenübergestanden hättest? Oder
erscheint es dir lediglich als bequeme Lösung? Malen wir den
Teufel an die Wand. Das hilft notfalls immer, treibt die Leute
zu ihrem jeweiligen Gott und erspart mir die Enttäuschung,
wenn der Fall unaufgeklärt bleibt?
Der Spiegel war vollkommen zerstört. Nur noch ein dünner
Metallrahmen hing über dem Becken. Dafür war das Licht zu-
rückgekehrt, die Atmosphäre hatte sich normalisiert. Nichts
sonst deutete mehr auf das gerade Erlebte hin.
Hab ich den Mist erlebt? Oder ... natürlich. Du bist ja nicht
reif für die Psychiatrie. Also - eigentlich schon. Aber so
schlimm ist es doch nicht, Becca.

230
Mit dem Handtuch wischte ich die Splitter von meinem
Rücken. An manchen Stellen löste sich dabei die Kruste, die
sich auf meinen Striemen gebildet hatte. Ein paar Tropfen Blut
rannen über meine Haut. Dreck. Wenn es so weitergeht, dann
wird es richtig ungemütlich.
Nackt betrat ich mein Zimmer und fand die nächste, diesmal
ziemlich weltliche Überraschung vor – jemand hatte mir eine
Botschaft unter der Tür durchgeschoben. Ein einfacher, wei-
ßer Zettel. Öffne die Tür und schaue.
Seufzend spähte ich durch das Schlüsselloch.
Nichts.
Also öffnete ich vorsichtig und linste heraus.
Nichts.
Erst auf den dritten Blick fiel mir das kleine Päckchen auf,
das vor mir auf dem Boden stand. Wenn das ein Willkom-
mensgeschenk des Sheriffs ist, fresse ich einen Besen.
Vorsichtig, um nicht Opfer einer kleinen Bombe zu werden,
nahm ich das Paket auf, schloss die Tür und trug es zu dem
schmalen Tisch. Dort besah ich es mir, öffnete dann die Um-
verpackung und fand schließlich einen Schuhkarton ohne De-
ckel.
Eine Bombe war es nicht. Dafür ein seltsamer Gruß. Eine
nackte, schwarze Ken-Puppe lag in der Schachtel. In ihrer
Brust steckte ein Plastikdolch. Wir mögen keine Nigger und
keine Judenschlampen, stand auf einem Schild, das Ken um

231
seinen Fuß gebunden worden war. Es war den Namensschild-
chen nachempfunden, die Leichen an ihren Füßen tragen. Un-
terschrieben war die Botschaft auch. Die weißen Ritter des Ku
Klux Klan.
Was wollen die denn von uns? Haben wir den Klan im Ver-
dacht? Habe ich nach ihm gefragt? Warum mischen sich die
Gespensterkutten da ein?
Mit Schwung flog der Karton samt Puppe in den Müll. Als
wäre der Fall nicht wahrlich schwierig genug. Morgen mal Pe-
ter fragen, ob die Kutten hier im Stone County aktiv sind. Hätte
er mir auch sagen können.
Es war nicht das perfekte Betthupferl, um anschließend an-
genehm einschlafen zu können.
Die dritte unangenehme Überraschung war weit unspektaku-
lärer – die Matratze, die sich am Abend noch bequem ange-
fühlt hatte, entpuppte sich auf Dauer als zu weich. Zudem
schienen es ihre Federn darauf abgesehen zu haben, mich ein
wenig zu malträtieren. Das ist mit der Abstand der unbe-
quemste Fall bisher, dachte ich zwischen zwei und drei in der
Nacht. Und der dämonischste.

232
Kapitel 16

20. Dezember 2005, 08:25/ Wiggins (Mississippi)

Es war der Morgen danach. Das, was man sonst nach einer
Nacht voll Sex und Alkohol erlebt, suchte mich an jenem Tag
heim. Ganz ohne Sex oder Alkohol, wie ich zu meinem Bedau-
ern konstatieren musste. Auch ohne Spiegel, denn dieser war
ja zerborsten. So kam es, dass meine Haare ein wenig eigen-
willig frisiert waren, während ich beim Frühstück saß und die
Eier mit Speck sowie einen Bagle in mich hinein schlang. Der
Kaffee, den meine Wirtin serviert hatte, verdiente den Namen
kaum. Es war eine dünne, schwarze Brühe. Schaute man in
die Tasse, konnte man deren Boden sehen. Machen Sie sich
selbst ein Bild davon.
Mein Kopf schmerzte, denn das Bett hatte mich geschafft.
Auch brannte der Rücken noch immer. Die Wunden waren
zwar nicht vollends aufgegangen, aber an manchen Stellen
war die Haut eben noch immer wund. Mir schien, als würde
die Heilung nach jedem Peitschen ein wenig länger dauern.
Du musst aufhören mit dem Mist. Such dir was anderes –
nimm ein Bad in Brennnesseln.

233
Während des Frühstücks tippte ich ein paar Sätze in das
neue Notebook. Dafür, dass wir noch keinen Tag in der Stadt
waren, hatte sich bereits viel getan. Der Sheriff kannte mich,
der Klan hatte mir einen Liebesgruß geschickt und der Dämon
seine Macht demonstriert. War Peter nur halb so erfolgreich
gewesen, würde der Fall binnen kürzester Zeit gelöst sein.
Oder uns ins Grab gebracht haben; je nachdem.
„Noch Kaffee?“ Die Wirtin erschien neben mir. Ihre Augen
funkelten mich böse an, ihre Stimme klang keifend. Sie wusste
von dem zerborstenen Spiegel. Nicht, warum er zersprungen
war, aber dass.
„Ich habe eine Theorie“, erklärte ich ihr und verblüffte sie da-
mit. „Vermutlich haben Sie die Kanne mit Wasser gefüllt, den
Beutel mit dem Kaffeepulver aus dem Schrank genommen
und ihn der Kanne gezeigt. ‚Schau, so sieht das Zeug aus.
Und nun schmecke danach.’ War es so?“
„Sie sind wirklich witzig.“ Hätte sie mich eine Schlampe,
Hure oder Hexe genannt, wäre ihr Tonfall nicht anders gewe-
sen. „Also nehmen Sie keinen mehr.“ Eine Feststellung, keine
Frage.
„Nein. Das würde mein Herz nicht aushalten, befürchte ich.
Wie viel schulde ich Ihnen für den Spiegel?“

234
Die Vettel zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht. Macht mein
Sohn. Geben Sie mir einen Zehner, dann ist es gut.“

Sie bekam das Geld. Sobald ich Iz gegenüber stehe, werde


ich es mir von ihm zurückgeben lassen. Schließlich machte er
den Spiegel kaputt; nicht ich. Zehn Mäuse wegen dem
Scheiß ... Claire würde sie ohne mit der Wimper zu zucken be-
zahlen. Okay, und nun zu Peter. Er wollte ...
Die Tür des Hotels wurde aufgerissen, schnelle Schritte er-
klangen. „Hey“, rief die Wirtin, „hier drinnen wird nicht gerannt.
Wer sind Sie überhaupt?“
Neugierig drehte ich den Kopf und schaute dem Neuan-
kömmling entgegen. Es war Peter.
„Rebecca – beeil dich. Es hat wieder einen Mord gegeben.
Der Sheriff und seine Leute sind auf dem Weg. Wir sollten uns
das ansehen, noch bevor die Leiche abtransportiert wird.“
„Ganz deiner Meinung.“ Nur um die Vettel zu ärgern, lief ich
nun durch den Raum und zur Tür hinaus. Wieder keifte sie et-
was hinter mir her. Langsam entwickelte es sich zu einem
Sport, sie auf die Palme zu bringen.
„Ein Farmer fand die Leiche heute morgen. Er wollte nach
Wiggins rein. Als er an einem Feld vorbei kam, fiel ihm ein
Bündel auf, dass nicht weit von der Straße entfernt auf dem
Acker lag. Er hielt, schaute sich die Sache an – und musste
sich erst einmal übergeben. So weit ich weiß, sieht diese Lei-

235
che noch schlimmer aus, als die beiden zuvor. Auch wenn
man sich das kaum vorstellen kann, wie ich finde.“
„Wir werden sehen.“ Mein Magen zog sich bei der Vorstel-
lung zusammen, eine weitere, grausam zugerichtete Leichte
zu sehen. „Wurde wieder eine Botschaft hinterlassen?“
„Ich habe gehört, ein Videoband wäre gefunden worden.
Aber das weiß ich nicht mit Bestimmtheit zu sagen.“ Peter
drehte den Kopf. „Du warst gestern noch unterwegs?“
„Ja. Ich hab mit dem Inhaber des Ladens hier sprechen wol-
len, doch der durfte nichts sagen. Anschließend bekam der
Sheriff Besuch von mir. Er muss schließlich wissen, dass wir
hier ermitteln. Er war nicht begeistert, aber meine Argumente
überzeugten ihn.“
„Sagte ich nicht, du sollst nicht ohne mich losgehen?“
Wut erfasste mich. „Was bildest du dir eigentlich ein? Ich bin
seit Jahren in diesem Job tätig und hab eine Ausbildung als
Polizistin hinter mir. Die NAACP ist nicht mein Klient, du bist
nicht mein Chef. Noch arbeite ich so, wie es mir richtig er-
scheint.“
Er kniff die Lippen zusammen. „Deine Aktionen haben für
Wirbel gesorgt. Heute Nacht wurde ein Kreuz vor einer Kirche
der Schwarzen verbrannt. Der Klan tritt nur in Aktion, wenn je-
mand die Ruhe stört. Die Schwarzen haben ihre Bereiche und
die Weißen ihre. Sie leben nebeneinander her. Obwohl es
zwei Schwarze geschafft haben, sich in den Stadtrat wählen

236
zu lassen. Dient aber wohl nur der Quote, wie mir scheint. Die
wenigsten Schwarzen durften nämlich wählen gehen. Sie
tauchten im Wählerverzeichnis erst gar nicht auf.“
„Der Klan kann mich mal, Peter. Ich fand heute Nacht auch
einen kleinen Gruß von denen vor meiner Zimmertür. Würde
mich nicht wundern, wenn meine Wirtin das Päckchen ge-
schnürt hätte.
„Der Klan geht über Leichen, weil er noch immer starken
Rückhalt genießt. Nicht nur in Wiggins, sondern in dem ge-
samten County.“
„Mag sein.“ Peter gab etwas mehr Gas, kaum dass die
Stadtgrenze hinter uns lag. Das Feld, in dem die Leiche gefun-
den wurde, lag bei den Farmen der Schwarzen, gut fünf Mei-
len entfernt „Dennoch lasse ich mich von den Geisterhemden
nicht einschüchtern. Und wenn sie mir zehn Puppen schi-
cken.“
„Sie werden es nicht bei Puppen belassen. Bald brennt vor
deinem Fenster ein Kreuz, dann brechen sie bei dir ein und
schließlich landest du im Krankenhaus oder im Leichenschau-
haus.“
„Damit rechne ich ohnehin. Gestern Nacht besuchte mich
noch jemand anderes. Bereit, eine kleine Gespensterge-
schichte zu hören? Oder schlägt dir das auf den Magen?“
„Nein, erzählt nur.“

237
In knappen Worten schilderte ich ihm, was sich im Bad mei-
nes Hotelzimmers ereignet hatte. Er hörte zu, drehte denn den
Kopf und fixierte mich. „Du willst mich aber nicht auf den Arm
nehmen. Oder?“
„Nein. Und eingebildet habe ich das auch nicht. Hör zu – es
ist nicht meine erste Begegnung mit etwas, dass ich nicht be-
greifen kann. Es gab schon einmal einen Zwischenfall, der
mich über die Grenzen meines Verstandes führten. Der mich
daran zweifeln ließ, dass manche Sagen und Erzählungen ins
Reich der Erfindungen gehören. Dir das alles darzulegen wür-
de zu weit führen. Aber das, was gestern in meinem Zimmer
geschehen ist, war eine deutliche Warnung. Und die, mein Lie-
ber, war eindringlicher als die Puppe, die mir der Klan ge-
schickt hat.“
Peter war anzusehen, dass er mich am liebsten in eine
Zwangsjacke gesteckt hätte. Okay, verdenken konnte ich es
ihm nicht. Hätte mir jemand vor dem Mord an meiner Familie
erzählt, dass ich eines Tages einem Werwolf gegenüber ste-
hen würde, wäre meine Reaktion vermutlich ähnlich ausgefal-
len. „Vergiss es einfach. Halt nur die Augen auf. Nicht, das du
von unerwarteter Seite überrascht wirst.“
„Sicher. Wenn Dracula und Frankenstein an meine Tür klop-
fen, werde ich sie mit Kreuz und Knoblauch erwarten.“

238
„Frankenstein wird dir kaum etwas tun. Er war der Wissen-
schaftler, der das Monster schuf. Oder zumindest das, was als
Monster angesehen wurde.“
„Du bist eine elende Miss-Know-It-All. Das geht mir echt auf
die Nerven“, erklärte Peter verärgert. „Denkst du, nur weil ich
schwarz bin, wäre ich dümmer?“
„Wärst du weiß, hätte ich dir die gleiche Erklärung gegeben.
Eben, weil Frankenstein kein Monster war. Auch wenn man
den Spruch oft hört. Also hör auf, mit deiner Hautfarbe zu ar-
gumentieren.“
Er schwieg. Sein Blick war starr auf die Straße gerichtet.
Vermutlich verfluchte er inzwischen, mit mir arbeiten zu müs-
sen. Nun, das beruhte auf Gegenseitigkeit.
Eine langgezogene Kurve kam in Sicht. Dahinter pulsierte
bereits das Blaulicht. Peter verlangsamte die Fahrt, um
schließlich hinter dem Streifenwagen des Sheriffs zu halten.
Ein Deputy stand etwas abseits und übergab sich. Auch Cof-
fey sah aus, als wäre es bald so weit. Doch er hielt sich tapfer.
Sein Gesicht verfinsterte sich, als wir ausstiegen. Als sich uns
einer seiner Männer in den Weg stellen wollte, pfiff er ihn aller-
dings zurück. „Lass sie durch, Phil. Sind Privatschnüffler, die
sich in die Sache mischen wollen. Meinen Segen haben sie.“
Er wollte mich angrienen, aber dies misslang ihm. „Kommen
Sie näher, Miss Cohen. Wenn der Tag so beginnt, kann es nur
noch besser werden.“

239
Er trat zur Seite. „Kotzen Sie nicht auf den Tatort. Die Spu-
rensicherung mag das nicht.“
Peter ging neben mir. Mir fiel der abwertende Blick des She-
riffs auf, als er den schwarzen Detektiven sah. Vermutlich lag
ihm das Wort Nigger längst auf der Zunge. Es auch auszuspu-
cken traute er sich allerdings nicht. Zumal die Presse vertreten
war, ein paar seiner Kollegen und auch der Gerichtsmediziner.
„Oh mein Gott“, hörte ich meinen temporären Partner stöh-
nen, kaum dass wir vor der Leiche lagen. „Das ist grauenvoll.“
Er griff nach meiner Schulter, wandte sich aber dann ab und
beeilte sich, zu seinem Wagen zu kommen. Fast glaubte ich,
er würde es schaffen. Doch dann erklangen würgende Ge-
räusche.
Mir erging es kaum besser. Die schwarze Brühe, die man
mir als Kaffee serviert hatte, stieg in meinen Hals wie die rote
Flüssigkeit im Thermometer an einem heißen Sommertag. Es
kostete mich viel Mühe, sie wieder zu schlucken. Nur keine
Blöße geben. Nicht hier, vor all den Spinnern. Die warten doch
nur darauf.
Mein Blick fiel auf den Unterleib der Toten. Eine junge Frau,
nicht älter als neunzehn, vielleicht auch zwanzig.
Die Leiche war völlig nackt. Ihre Beine lagen bizarr gespreizt
neben ihrem Körper. Ihre Vagina wurde auf diese Art beson-
ders prominent präsentiert. Leider auch die Wunden, wie sich
zeigte.

240
Die äußeren Schamlippen fehlten völlig. Jemand hatte sie
abgerissen, wie es schien. Dort, wo sich ihre Klitoris befunden
hatte, klaffte ebenfalls ein Loch. Eine Eisenstange ragte unter
ihr hervor. Aufgrund ihrer Lage konnten wir sehen, dass sie
durch ihren Anus in den Körper führte.
Die zehn Zehen des Opfers waren blutig. Erst auf den zwei-
ten Blick erkannte ich, dass ihr die Nägel ausgerissen worden
waren.
Die Nippel an den Brüsten fehlten. Sie waren abgezwickt
worden, wie Quetschungen des Gewebes vermuten ließen.
Eine Kneifzange und die Fleischfetzen lagen noch neben der
Toten.
Von dem Brustbein abwärts führte ein Schnitt bis hinunter zu
ihrem Schamhügel. Haut und Fleisch waren weit gespreizt, die
Innereien teils herausgeholt und wahllos wieder in den Leib
gelegt worden. Die Nieren fehlten. Zumindest auf den ersten
Blick, aber ich ging davon aus, dass sich dies bei der Autopsie
bestätigen würde.
Die Lunge steckte noch in der Brust, das Herz allerdings
klemmte zwischen zwei Rippenbögen auf der rechten Seite.
Ein Teil fehlte. Es sah aus, als habe jemand in den Muskel ge-
bissen und einfach ein Stück herausgerissen.
Das Gesicht der jungen Frau war eine qualvoll verzerrte Gri-
masse. Dennoch glotzten ihre Augen nicht einfach tot in den
Himmel. Vielleicht taten sie es doch – nur nicht hier, an Ort

241
und Stelle. Die Höhlen, in denen sie hätten stecken sollen, wa-
ren leer. Der Mund war zu einem Schrei geöffnet. Die Zunge
stand etwas vor. Ein Nagel hielt sie in dieser Position, von
oben durch das Geschmacksorgan in den Unterkiefer getrie-
ben. Die Ohrläppchen fehlten, die Schläfen wiesen Löcher auf,
als habe jemand in sie hinein gebohrt.
Blut war kaum zu sehen. Das meiste war vermutlich in den
Boden gesickert.
„Sie hieß Jezzy Springs“, erklärte Peter leise. „Sie arbeitete
in Tony's Tonk13, gut drei Meilen von hier.“ Er wischte sich
über den Mund. Sein Gesicht schimmerte fast grün. Aber dies
konnte auch Einbildung sein. Keine Einbildung war hingegen
das Flackern seines Blicks sowie die mühsamen Bestrebun-
gen, sich nicht wieder zu erbrechen.
„Und? Haben Mr. und Mrs. Holmes schon eine Idee? Oder
wird noch im Dunkeln getappt?“ Sheriff Coffey stellte sich
ebenfalls neben mich, die Hände in den Gürtel geklemmt.
Schweißränder hatten sich unter seinen Achseln gebildet. Sein
geröteter Stiernacken schien ebenso passend wie der Kauta-
bak, den er benutzte. Dennoch roch er nicht unangenehm,

13
Tonk: Bezeichnung für eine etwas heruntergekommene Bar im
Südwesten und Süden der USA. Die Herkunft des Begriffes ist
umstritten, jedoch entstammt ihm „Honky Tonk“ für eine bestimm-
te Musikrichtung.

242
sondern nach Deodorant und Aftershave. Spott schwang in
seiner Stimme mit.
„Wir tappen. Hat der Killer diesmal wieder eine Nachricht
hinterlassen?“
„Er hat. Dürfte vor allem Sie interessieren, Miss Cohen.
Kommen Sie mit zum Streifenwagen. Dann zeige ich Ihnen
was.“
Er ging vor. Peter schenkte mir einen fragenden Blick, wand-
te sich aber dann an den Gerichtsmediziner.
„Eines ist klar – die meisten Verletzungen erlebte sie noch
mit. Der Tod kam spät“, hörte ich diesen sagen. Mein Partner
stieß ein weiteres Oh Gott aus. Doch dann wurde meine Auf-
merksamkeit von Coffey auf eine herkömmliche VHS-Kassette
gelenkt.
„Hier, die lag neben der Kleinen. Eingepackt in eine Folie,
doch die ist bereits auf dem Weg zum Labor. Die Spurensiche-
rung hat das Band nach Fingerabdrücken abgesucht. Waren
keine drauf. Sie können das Ding also anfassen.“
Ich nahm es entgegen. Dort, wo normalerweise der Titel ge-
standen hätte, befand sich lediglich ein leeres, weißes Feld.
Oben auf jedoch klebte ein weißer Zettel. Mit roter Schrift
stand ein Spruch darauf.
The Juwes are not the men That Will be Blamed for nothing14
14
Sinngemäß: Die Juden sind nicht diejenigen, die man umsonst
beschuldigen wird.

243
„Fuck.“
„Ja. Klingt, als hätte jemand einen Liebesbrief für Sie hinter-
lassen. Ich sage es offen – Sie stören. Sie und Ihr Nigger-
freund sind hier fehl am Platz. Hier holen Sie sich nur eine blu-
tige Nase und machen alles noch schlimmer. Fahren Sie wie-
der nach New York!“
„Das ist mehr als eine Botschaft an mich“, murmelte ich lei-
se. „Kennen Sie den Spruch?“
„Woher? Bin ich Jude?“
„Das hat damit nichts zu tun. Dieser Spruch wurde schon
einmal benutzt – und zwar während des Herbst des Terrors.
Angeblich schrieb ihn Jack the Ripper an die Wand nahe ei-
nem Tatort.“
„Jack the Ripper, hä?“ Coffey grinste. „Na, dann haben wir ja
unseren Täter.“
„Das wohl nicht. Aber es gibt noch ein paar Parallelen. Zum
Beispiel die Tatsache, dass die Opfer ausgeweidet wurden.
Dann schickte der Ripper eine halbe Niere an die Polizei mit
dem Hinweis, die andere Hälfte gegessen zu haben. Und was
fehlt bei allen Opfern?“
„Scheiße.“ Coffey spuckte eine Ladung Tabak neben den
Wagen. „Kann aber auch ein Zufall sein. Hier in der Gegend
weiß das keiner. Wollen Sie eine Parallele? Dann fahren Sie
zu Tony's Tonk. Alle drei toten Nigger hatten mit Tony zu
schaffen. Die Kleine da hinten auch. Würde mich nicht wun-

244
dern, wenn die ganze Scheiße eine Nigger-Sache wäre, und
die Morde nur rassistisch aussehen sollen.“
„Klingt nicht überzeugend. Warum sollte sich der Täter aus-
gerechnet Iz als Tatmotiv suchen? Den kennt hier auch nie-
mand. Und noch etwas, Sheriff – im Internet habe ich ein paar
Artikel gefunden. In manchen heißt es, Jack the Ripper sei ein
Mitglied der Söhne des Iz gewesen.“
„Also spukt sein Geist hier rum? Sollen wir die Nationalgarde
rufen? Oder gleich die Ghostbusters?“
Ihm von meiner Begegnung mit dem Dämon zu berichten,
hätte mich in diesem Augenblick wirklich in die nächste Irren-
anstalt gebracht. Darum bekam er eine Erklärung, die ihm ein-
leuchtend erscheinen musste. „Nein. Aber was, wenn es stets
Ritualmorde waren? Dann haben wir es mit einem Schema zu
tun. Außerdem erwischte es damals wie heute Leute, die in
der Gesellschaft nicht gerade ganz oben standen. Hier die
ausgegrenzten Schwarzen, damals Prostituierte.“
„Und wie kommen die Söhne des Iz ausgerechnet zu uns
nach Wiggins?“
Über diesen Punkt hatte ich auch schon nachgedacht. Meine
Erklärung war simpel, konnte aber auch völlig falsch sein. „Je-
mand aus der Gegend hat von dem Kult gelesen und lässt ihn
gerade aufleben. Wie kommen die Pfadfinder nach Wiggins,
oder der Klan?“

245
„Wie der Klan hier in die Gegend kommt?“ Coffey lachte laut
auf. „Miss Cohen – wir sind hier im Süden. Da war der Klan
nie weg.“
„Beruhigend. Haben Sie sich das Band schon anschauen
können?“
„Nein. Mein Streifenwagen verfügt nicht über solchen
Schnickschnack wie Videoplayer oder Monitor. Für so etwas
habe ich mein Büro. Bringen Sie Popcorn und ein paar Bud
mit. Dann machen wir uns einen gemütlichen Filmabend.“
Er rief seinem Deputy etwas zu, stieg ein und schloss die
Tür. „Also, fahren Sie mir einfach hinterher. Und bringen Sie
den Nigger mit. Sonst heißt es wieder, wir würden sie aus den
Ermittlungen raus halten. Die NAACP ist hier überall.“
Wie richtig er damit lag, zeigte sich, als wir in die Stadt zu-
rückkehrten. Am Tatort selbst hatte man uns ohnehin nicht
mehr gebraucht. Die Spurensicherung würde ihren Job erledi-
gen. Auch der Gerichtsmediziner. Und sie alle schrieben hüb-
sche, kleine Berichte, die sie an Coffey schickten. Dieser wie-
derum war ein Schatz und ließ uns in den Akten schmökern.
Oder anders ausgedrückt – ihm blieb nichts anderes übrig, als
uns zähneknirschend die Berichte des Crime-Labs zu zeigen.
Als wir nun aber über die Hauptstraße rollten, bekamen wir
erst einmal etwas völlig anderes zu sehen.
Vor der Townhall hatten sich nämlich knapp siebzig Men-
schen zusammengerottet. Sie alle waren schwarz, vom Alter

246
her verschieden – Jugendliche befanden sich ebenso darunter
wie Rentner – und skandierten einen Spruch. Stoppt die Mor-
de.
„Sie beginnen, Druck auf die Behörden auszuüben“, erklärte
Peter. „Mein Gastgeber kündigte es bereits an. Zwei Morde
waren schon hart. Aber jetzt auch noch eine junge Frau; fast
noch ein Kind.“
„Wie lange halten sie es durch?“, wollte ich wissen. „Einen
Tag? Zwei? Bis zum nächsten Mord?“
„Kommt auf die Dynamik an, die hier entsteht. Reverend
Bender ist unter ihnen. Er ist NAACP-Mitglied und führt die
schwarze Gemeinde hier in Wiggins. Vor seiner Kirche brann-
te das Kreuz. Nicht lange, und hier protestieren keine fünfzig
oder hundert Menschen, sondern 500 oder 1000. Und dann
sieht es schon ganz anders aus.“
„Kannst du mit ihnen sprechen und den Unsinn verhindern?“
Sein Kopf schnellte herum. „Den Unsinn? Was soll daran un-
sinnig sein? Wir haben das Recht, für unsere Sicherheit zu de-
monstrieren. Oder meinst du, die Nigger hier in Wiggins sollten
sich abschlachten lassen?“
„Die ... Nigger?“
Er nickte. „Du weißt so wenig und tust, als wärst du ach so
gebildet. Ein Nigger darf zu einem Nigger Nigger sagen. Sagt
es ein Weißer, hat er ein Problem. Außer hier im Süden. Da

247
sagt es jeder. Gehört zu unserem Stolz, verstehst du? Dass
wir das Wort ertragen, ja – es selbst benutzen.“
Mein Kopf schwirrte. Bisher hatte ich mich für aufgeklärt und
liberal gehalten, für eine lausige Jüdin und gute Problemlöse-
rin. Aber diese Sache überforderte mich auf mehreren Ebenen
gleichzeitig. Etwas, das ich hasste. „Meinetwegen.“ Meine
Stimme drückte meine Wut und meine Verwirrung aus. „Wenn
die Schwarzen aufmarschieren, werden die Weißen nicht zu-
schauen. Sie streifen sich ihre Leintücher über, und schon ha-
ben wir hier einen Auflauf des Klans. Wie das ausgeht, kann
man sich denken.“
„Also sollen wir uns zurückhalten, um keinen Streit zu provo-
zieren? Warum halten sich die Weißen nicht zurück? Wir ha-
ben ein berechtigtes Interesse – das Ende der Morde!“
Er parkte den Wagen hinter jenem von Coffey. Als wir aus-
stiegen, wurde Peter freudig begrüßt. Mich hingegen muster-
ten sie misstrauisch. Eine Weiße in Begleitung unseres NAA-
CP-Ermittlers. Was will die denn hier?
Wir folgten dem Sheriff in das Aquarium. Dort schob er uns
zwei Stühle zurecht, nahm selbst in seinem Leder-Chefsessel
Platz und schob die Kassette in eine TV-Video-Kombination,
die neben seinem Schreibtisch auf einem kleinen Rolltisch
stand. Er brachte nur einen Knopf zu drücken, um den Film zu
starten und das Bild einzuschalten. Mehr würde ihn vielleicht
auch überfordern.

248
Erst bekamen wir nur Schnee zu sehen. Doch nach ein paar
Minuten klärte sich das Bild. Die Söhne des Iz präsentieren –
Opferung III: Niggerschlampe stirbt einen angemessenen Tod.
Jezzy kam ins Bild. Sie war bereits nackt. Angestrahlt von
zwei starken Scheinwerfern, die ihre Kegel nicht nur auf sie
warfen sondern auch auf das Feld, auf dem man sie gefunden
hatte, starrte sie in die Kamera. Schweiß lief ihren Körper. Die
großen, vor Angst weit aufgerissenen Augen wirkten wie die
eines waidwunden Rehs.
Zwei Gestalten traten vor. Sie trugen nicht die typische Klei-
dung des Klans. Obwohl sie maskiert waren. Aber nicht mit
Geistermützen, sondern mit Holzmasken, die das Gesicht von
Iz nachbildeten. Scharfe Zähne, aufgerissene Augen, kahler
Schädel.
Sie beugten sich zu Jezzy hinunter. Die junge Frau versuch-
te, sich gegen sie zu wehren. Aber es war vergebens. Einer
packte sie. Seine Kraft schien die seines Opfers bei weitem zu
übertreffen. Er riss sie auf die Beine, schleuderte sie aber so-
fort wieder zu Boden. Auf dem Bauch schlug sie auf. Ihr Peini-
ger beeilte sich, über sie zu kommen. Sein Knie drückte er in
ihren Rücken, seine Hände hielten ihre Arme.
Seim Kumpan kam. In der Hand hielt er die Eisenstange.
Wie sahen, dass sie angespritzt war. Er kniete sich hinter Jez-
zy, spuckte ihr auf den Hintern und verrieb seinen Speichel
zwischen ihren Pobacken. Dabei ließ er es sich auch nicht

249
nehmen, mit seinen Fingern an ihrem Geschlecht zu spielen.
Während die junge Frau wimmerte, lachten die Männer und
rissen derbe Scherze.
Der schwarzen Fotze gefällt, was wir mit ihr tun. Vielleicht
sollten wie uns alle Nigger-Weiber schnappen und mal kräftig
durchficken.
Bloß nicht. Wer weiß, was wir uns bei diesen Nutten einfan-
gen. Die Schwarzen mit ihren riesigen Schwänzen treiben es
doch mit jedem. Die ficken alles – sogar Pferde und Rinder.
Kein Witz, hab ich selbst gesehen. Aber die Kleine darf jetzt
erst mal das hier ficken.
Der Mann setzte die Stange an und schob sie mit einem har-
ten Ruck vor. Jezzy schrie gequält auf, als das Eisen tief in ih-
ren Anus eindrang. Sie wehrte sich, rutschte unter ihrem Peini-
ger herum und wollte ihre Hände frei bekommen, um sich die
Stange wieder aus dem Darm zu ziehen. Etwas, das ihr nicht
mehr gelungen war.
„Wir müssen uns beeilen“, hörten wir jenen sagen, der noch
immer halb auf dem Opfer kniete. „Bald kommt er. Wenn wir
dann die Kleine nicht vorbereitet haben, gibt es Ärger.“
Eine dritte Person erschien im Bild. Ebenfalls maskiert, mit
dünnem Haar. Sie trug eine Tasche, wie man sie von Ärzten
kennt. Leder, unten breiter als oben und mit einem Schnapp-
verschluss. Er öffnete sie und entnahm ihr verschiedene In-
strumente. Eine Zange, einen Hammer samt Nagel und ein

250
Skalpell. Seine Komplizen drehten Jezzy um. Sie sah die Fol-
terwerkzeuge und begann, hysterisch zu kreischen. Doch der-
art weit von der Stadt und von ihrem Arbeitsplatz entfernt,
konnte sie nicht gehört werden.
Die Marter begann. Sie hielten die Füße der Frau, um ihr die
Zehennägel auszureißen. Blut spritzte dabei. Nach dem dritten
Mal musste sich Jezzy übergeben. Aber dies erheiterte die
Männer nur.
Es ging weiter. Während Nagel um Nagel gezogen wurde,
fühlte sich einer von ihnen bemüßigt, die Eisenstange in Jez-
zys Hintern vor und zurück zu stoßen; so, als wolle er sie da-
mit ficken.
Längst war aus den Schreien ein heiseres Wimmern gewor-
den. Doch noch war es längst nicht vorbei. Mit einer Zange
fuhr der Folterknecht in ihren Mund und zog die Zunge heraus.
Nahezu lethargisch ließ es die junge Frau über sich ergehen.
Erst, als ihr der Nagel in den Geschmacksmuskel gedrückt
wurde, bäumte sie sich noch einmal auf. „Bitte nicht“, glaubten
wir zu verstehen. Ihre Tränen überströmten Wangen glänzten
rot.
„Doch“, lachte jener, der ihr die Eisenstange in den Hintern
geschoben hatte. „Ich finde, Niggerfotzen müssen genagelt
werden.“

251
Sie brachen in unbändiges Gelächter aus. Nicht einmal die
unartikulierten Laute, die Jezzy nach dem ersten Hammer-
schlag von sich gab, konnten das übertönen.
Die junge Frau riss ihre Augen noch weiter auf. Urin floss
zwischen ihren Beinen hervor. Einer ihrer Peiniger beschwerte
sich, dass sie ihm über die Hand gepinkelt hätte. Er nahm ein
Messer und setzte es zwischen ihren Beinen an. Als er die
Schamlippen abschnitt, verlor Jezzy das Bewusstsein. Erst,
als er sich an ihrem Kitzler zu schaffen machte, erwachte sie
noch einmal für Sekunden. Aber kaum wurde sie von einer
neuen Schmerzwelle überrollt, verdrehte sie erneut die Augen.
Sie erlebte nicht mehr bewusst mit, dass ihr die Nippel abge-
zwickt und der Leib geöffnet wurde.
Die Organe wurden entnommen.
Ein letztes Beben durchzuckte ihren geschundenen Leib;
dann starb sie. Der Rest der Folter wurde an ihrer Leiche voll-
zogen.
„Er kommt“, hörten wir einen der Männer sagen. Sie wand-
ten sich von der Toten ab und fielen auf die Knie.
Ein Mann trat ins Bild. Er war nicht einmal maskiert, sondern
trug lediglich eine rote Robe. In seiner Hand hielt er eine grün
leuchtende Figur, deren Augen rot glühten.
„Iz“, wisperte ich. „Das ist eine Abbildung des Dämons. Ich
kenne ihn aus dem Internet.“

252
Coffey nickte nur. Ihm war die Lust an dummen Sprüchen
vergangen. Er starrte wie wir auch auf den Bildschirm. Hin und
wieder bewegten sich seine Hände. Er schien mit sich zu
kämpfen, um die Beherrschung zu behalten.
Der Träger der Figur nickte seinen Kumpanen zu. Anschlie-
ßend hob er beide Arme. Worte kamen aus seinem Mund, die
wir nicht verstanden. Eine Beschwörungsformel vielleicht.
Die Wirkung war frappierend.
Nebel stieg aus der Figur auf. Er wehte hoch in die Luft, ball-
te sich dort zusammen und sank wieder zu Boden.
Eine Gestalt bildete sich aus den Schwaden. Arme, Beine,
ein Rumpf und der Kopf.
Was anfangs wie eine optische Täuschung aussah – in Wol-
ken glaubt man auch, Gestalten und Formen zu erkennen –
wurde sehr schnell zu einem handfesten Phänomen.
Ein Wesen entstand. Aus dem Nichts heraus bildete sich der
nackte Körper des Dämons. Sein Gesicht entsprach dabei ge-
nau jener Fratze, die mich am Abend zuvor aus dem Spiegel
im Hotelzimmer heraus angeschaut hatte.
Iz war gekommen.
Nach einigen Sekunden begann er, sich zu bewegen. Er
ging vor Jezzy in die Knie. Seine Hände strichen über die offe-
ne Bauchwunde, die Leber ...
Er packte sie und biss hinein. Ein zufriedenes Schmatzen
war zu hören. Doch offenbar war ihm etwas anderes wichtiger;

253
die Nieren. Er stopfte sich eine davon in den Mund und kaute
genüsslich. Ein Grunzlaut war dabei hören.
Die drei Männer, die Jezzy zu Tode gefoltert hatten, knieten
noch immer. Anders als der Träger der Figur. Dieser stand
hinter dem Dämon und hielt dessen Abbild mit beiden Händen.
Nachdem Iz sein Mahl beendet hatte, richtete er sich wieder
auf. „Die Augen sind der Spiegel der Seele. Bringt sie mir als
Brandopfer dar, denn ihre Seele gehört nun mir.“
Es war das erste Mal, dass der Dämon etwas sagte. Seine
Stimme klang hohl. Er bewegte den Mund nicht, während er
sprach. Blut und Geifer troffen von seinen Zähnen. Pupillen
besaß das Wesen nicht; lediglich ein rotes Leuchten flackerte
in seinen Augenhöhlen.
Seine Gestalt begann, sich aufzulösen. Sie wurde zu Nebel,
stieg auf und fuhr in die Figur. Wir glaubten schon, es sei vor-
bei. Doch dann wandte sich der Träger des Abbilds direkt an
die Kamera. „Juden und Nigger von außerhalb sollten ihre Na-
sen nicht in fremde Angelegenheiten stecken. Wie würde es
euch gefallen, auf diese Art dem großen Dämon geopfert zu
werden?“
Der Film endete mit Schnee. Wir starrten mehrere Sekunden
auf den Bildschirm, ehe sich Coffey räusperte. Er beugte sich
vor – zuckte aber erschrocken zurück, als eine Stichflamme
aus dem Video-Gerät schoss. Der Film verbrannte, und er riss
die TV-Video-Kombi mit in den Abgrund. Die Flammen griffen

254
um sich, obwohl Peter reaktionsschnell den Stecker gezogen
hatte. Auch die Versuche des Sheriffs, den Brand mit dem
kleinen, in der Ecke seines Büros stehenden Feuerlöschers zu
bekämpfen, schlugen fehl. Erst, als das Glas der Glotze mit ei-
nem lauten Knall zersprungen war und auch der letzte Deputy
an der Tür stand und glotzte, erlosch das Feuer. Es stank
nach verschmortem Kunststoff. Schwarzer Rauch klebte in der
Luft.
„Das darf doch alles nicht wahr sein. Mit was für einer ver-
dammten Scheiße haben wir es denn hier zu tun?“, polterte
Coffey. „Das waren doch nur Tricks, oder?“ Er schaute Hilfe
suchend zu mir. „Stimmt doch, oder? Ein paar Spezialeffekte.
Alles nur Schau.“
„Bezweifele ich. Aber etwas anderes würde mich bedeutend
mehr interessieren! Wer war der Mann, der die Figur hielt?“
Coffey ließ sich in seinen Sessel sinken. „Josh Bauer. Er ist
ein sehr einflussreicher Mann, Miss Cohen. Lebt nicht weit von
Wiggins entfernt auf einer ziemlich feudalen Ranch. Holzwirt-
schaft, ein paar Felder und Rinder. Sein Vater machte ein Ver-
mögen und er mehrt es noch. Viele Leute hier sind von Bauer
abhängig.“
„Sie auch?“, wollte Peter wissen. Zu meinem Erstaunen nick-
te Coffey nur. Das erklärte auch, warum sein Name nicht ge-
fallen war, als ich nach den einflussreichen Leuten fragte.

255
„Ja, ich auch“, murmelte Coffey. „Er sorgte für meine Wie-
derwahl. Seine Angestellten stimmten für mich, nachdem ich
einen größeren Diebstahl auf seinem Besitz aufklären konnte.“
„Er ist ein Rassist und er ist ein Mörder. Das Problem ist nur,
dass wir ihm dies nicht nachweisen können. Der Film ist ver-
brannt, sonst wird keine Spur zu ihm führen. Davon gehe ich
zumindest aus. Bekleidet er ein öffentliches Amt?“
Coffey verneinte. „Bauer ist niemand, der sich in den Vorder-
grund spielt. Er macht Politiker, zieht seine Strippen im Hinter-
grund und lässt sich hoffieren. Doch selbst hat er sich noch nie
um ein Amt beworben.“
Peter saß neben mir und kochte vor Wut, während das Ge-
schrei der Schwarzen vor der Townhall anschwoll. Offenbar
hatte mein Partner recht behalten; es waren längst nicht mehr
nur 50 oder 70 dort draußen. Nachdenklich stand ich auf und
schaute aus dem Fenster. Die Menge war gut organisiert. Ein
älterer Mann mit weißem Kragen bildete einen natürlichen Mit-
telpunkt. Er hob die Hände und gab damit den Takt an, in wel-
chem die Forderung nach einem Ende der Morde skandiert
wurde. Um ihn herum standen mehrere Hundert Personen.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite parkten zwei Busse.
Sie trugen sowohl das Logo der NAACP als auch das des
Staates Mississippi. Um den Pulk herum hatten sich auch eini-
ge Weiße versammelt. Sie besahen sich den Menschenauf-
lauf. Noch war keine Gespensterkutte zu sehen. War der Klan

256
wirklich in Wiggins zu Hause, würde das nicht mehr lange dau-
ern.
„Sie glauben also nicht, dass es ein gut gemachter Trick war.
Der Rauch, der Dämon ... Was soll es denn sonst gewesen
sein?“ Sheriff Coffey gewann seine Fassung zurück. Gleich-
zeitig wurde mir klar, dass er nichts anderes als einen Spezial-
effekt akzeptieren würde. Das Übersinnliche anzunhemen kam
für ihn nicht in Frage. Eher würde vermutlich die Welt unterge-
hen, als dass dies geschah.
„Was, wenn wir die Wahrheit, die reine Wahrheit und nichts
als die Wahrheit zu sehen bekommen haben? Was, wenn es
sich abgespielt hat? Nur mal angenommen, der Dämon wäre
real. Was dann?“
„Sie sollten sich untersuchen lassen, Miss Cohen. Das ist
hoffentlich klar. Wenn der Dämon real wäre ... Was für ein ab-
wegiger Gedanke!“
Schweiß perlte auf der Stirn des Mannes. Sein hektischer
Blick verriet, dass er meine Frage nicht wegen ihres Inhalts
ablehnte. Er fürchtete, ich könne damit den Nagel auf den
Kopf getroffen haben. Und das wollte er keinesfalls.
„Wie Sie meinen, Sheriff. Wir werden nun diesem Bauer
einen Besuch abstatten.“
„Damit rechnet er sicherlich“, warf Peter ein. „Die Botschaft
an uns war sehr deutlich. Vielleicht wird er uns einen heißen

257
Empfang bereiten. Einen dämonischen, um es genauer zu sa-
gen.“
„Oder er ist überrascht, weil wir im Angesicht des Unfassba-
ren nicht die Flucht ergriffen haben.“ Wobei ich mich frage,
warum wir nicht genau das tun. Handelt es sich wirklich um
paranormale Phänomene und einen Dämon, dann sollten wir
laufen. Schnell und weit. Denn dann haben wir Menschen dem
wenig entgegenzusetzen.
Als wir das Gebäude verließen, gesellte sich Peter kurz zu
den Demonstranten. Er sprach mit Reverend Bender. Beide
schienen sich einig. Als der Detektiv zu mir zurückkehrte, rie-
fen die Schwarzen lauter. Doch bald schon setzten sie sich in
Bewegung. Der Geistliche forderte seine Schäfchen auf, ihm
zu einem Gottesdienst in seiner Kirche zu folgen. Man wollte
für die Opfer beten.
Dies war sicherlich besser, als hier auf der Straße zu schrei-
en und damit den Klan herauszufordern.

258
Kapitel 17

20. Dezember 2005, 13:45/ Bauer-Ranch (Mississippi)

„Hier leben wirklich keine armen Schlucker“, stellte Peter


fest, während wir über einen breiten Weg auf das Haupthaus
zu rollten. „Zumindest nicht, was das Finanzielle anbelangt.
Geistig hingegen ...“
Mein Blick glitt aus dem Seitenfenster. Rechts von mir er-
streckte sich eine Koppel. Vier Pferde grasten friedlich darauf.
Ein paar Arbeiter gingen umher. Einer hielt ein Lasso, zwei
hielten ihre Hände in den Taschen. Sie schienen es nicht son-
derlich eilig zu haben. Ob die Killer auch im richtigen Leben für
Bauer arbeiten? Oder sind sie nicht Mitglieder des Kults?
„Was machen wir, wenn er nicht mit uns reden will? Wenn er
sagt, dass wir uns zur Hölle scheren sollen?“, fragte Peter
„Dann tun wir es und machen, was Detektive eben tun. Be-
schatten. Steht bestimmt auch im Handbuch für Versiche-
rungsdetektive.“
„Ich bin froh, wenn dieser Auftrag hinter mir liegt. Hab schon
mit vielen Leuten gearbeitet. Aber niemand war so bissig wie
du.“

259
„Ich bin nur dann bissig, wenn mich jemand belehren will.
Und das tust du, seit wir unterwegs sind. Mag ja sein, dass du
aus dem Süden bist und ich eben nicht. Aber du hast bisher
nichts bewirkt, während ich den Sheriff davon überzeugen
konnte, uns in Ruhe ermitteln zu lassen. Du siehst das als Fra-
ge von schwarz und weiß. Ich sehe die Opfer und Täter, die
man eventuell nicht mit herkömmlichen Mitteln stoppen kann.
Zumindest, wenn sich mein Verdacht bewahrheitet.“
„Es ist eine Frage von schwarz und weiß“, bekräftigte Peter.
„Oder hast du eine weiße Leiche gesehen?“
„Ja, meinen Kunden. Darum bin ich schließlich hier; vergiss
das nicht. Auch wenn ich zugeben muss, dass die Sache hier
ein bisschen anders gelagert ist.“
„Eben. Für mich ergibt sich mal wieder das Bild, dass
Schwarze ermordet werden. Sind ja nur Nigger, die sterben.
Was macht das schon? Oder glaubst du, Coffey reißt sich ein
Bein aus? Würde mich nicht wundern, wenn er seinen Förde-
rer längst über unser Kommen in Kenntnis gesetzt hätte. Wä-
ren wir nicht gekommen, hätte sich niemand in der Gegend
um die Morde gekümmert. Eben weil Schwarze die Opfer sind.
Wenn man es nicht in Farben betrachtet, übersieht man das
Wesentliche. Etwas, dass dir nicht schwer fällt. Du bist weiß.“
„Manchmal ist mir, als wärst du ein Rassist. Seit wir unter-
wegs sind, erzählst du mir das. Ich bin schwarz – du bist weiß.
Egal, wie oft ich dir sage, dass das alles für mich keine Rolle

260
spielt. Ich könnte auch mit dem Handschuhfach deines Wa-
gens hier reden. Es hätte die gleiche Wirkung: Keine.“
„Du nennst mich einen Rassisten? Das ist die Krönung.“ Sei-
ne Augen blitzten vor Zorn. „Sobald wir diesen Besuch hinter
uns haben, trennen sich unsere Wege. Sieh zu, wie du ohne
mich zurecht kommst.“ Er stieg aus und warf die Tür ins
Schloss.
Ups.
Bedeutend gemächlicher verließ auch ich seinen Wagen. In
Zukunft würde ich laufen müssen. Zumindest, falls es in Wigg-
ins keine Autovermietung gab. Andererseits war es dann auch
nicht mehr meine Sache, was er oder die anderen Schwarzen
in der Stadt taten. So lange er mich nur auf dem Laufenden
hielt, wenn es zu weiteren Morden kam.
Er hatte bereits geklingelt, wie sich zeigte. Eine Frau öffne-
te, musterte ihn kurz und wandte sich wieder ab.
„Wir stellen keine Nigger ein, Boy. Also verschwinde wieder.“
Doch noch ehe die Tür ins Schloss fallen konnte, reagierte
Peter. „Nennen Sie mich niemals wieder Boy. Außerdem will
ich mich nicht um eine Stelle bewerben, sondern mit Mister
Bauer sprechen.“
„Er redet nicht mit Niggern. Also verschwinde wieder, Boy.“
Sie sah mich den Weg entlang kommen. Ihr Gesicht hellte sich
etwas auf. „Gehört der zu Ihnen?“

261
„Ja, hab ihn auf dem Sklavenmarkt von Wiggins gekauft.
Mein Name ist Shelley. Mary Shelley. Ist Mister Bauer zu spre-
chen?“
„Für Sie ja. Für Ihren Boy nicht. Kommen Sie mit, aber bin-
den Sie den Nigger hier draußen an. Wir mögen es nicht,
wenn das Pack über unser Anwesen schleicht. Außerdem ist
es sicherer für ihn – wir haben scharfe Hunde.“
Mit hilfloser Wut musste uns Peter nachschauen. Es war ja
nicht so, dass ich seinen Zorn nicht verstanden hätte. Oder
sein Misstrauen den Weißen gegenüber. Schade nur, dass er
nicht differenzieren konnte. Zwischen jenen, die ihm wie
Scheiße behandelten und denen, die nicht auf seine Hautfarbe
achtete.
An die Tür schloss sich ein breiter Flur an. Die meisten Tü-
ren, die zu den einzelnen Zimmern führten, waren geschlos-
sen. Lediglich zwei standen offen und gaben den Blick in eine
Küche sowie in ein großes Esszimmer frei.
„Darf ich fragen, in welcher Angelegenheit Sie meinen Mann
zu sprechen wünschen?“
„Ah. Mister Bauer ist also ihr Ehemann?“
Sie nickte. „Ja. Geht es um die Spendensache für die
CCC15? Oder ist es geschäftlich?“

15
Council of Conservative Citizens – eine rassistisch motivierte Ver-
einigung, überwiegend im Süden der USA.

262
„Ja, es geht um eine Nigger-Sache“, log ich. „Ihr Mann weiß,
warum ich gekommen bin.“ Mein Blick glitt über ein paar Bil-
der, die hier an den Wänden hingen. „Hübsch.“
„Danke. Mein Vater hat sie gemalt. Er war sehr talentiert,
was das betraf. In der Bibliothek haben wir noch größere Ge-
mälde. Er starb leider zu früh.“ Sie blieb vor einer Tür stehen
und klopfte. Kurz darauf öffnete sie. „Bitte, gehen Sie doch
hinein, Miss Shelley.“
Sie selbst blieb draußen; auch, als ich an ihr vorbei das Ar-
beitszimmer des ach so einflussreichen Mister Bauers betre-
ten hatte. Dieser saß hinter einem alten Schreibtisch, schaute
mich mit offenem Mund an und schien nicht zu wissen, wie er
nun reagieren sollte. Das einfachste wäre, die Pistole zu zie-
hen und diesen elenden Wichser zu erschießen. Fall gelöst.
„Guten Tag, Mister Bauer.“
Noch bevor er etwas erwidern konnte, wurde seine Aufmerk-
samkeit in Richtung Fenster gelenkt. Dort stand Peter und
glotzte hinein.
Oh ja, und ihn erschieße ich auch gleich. Zwei Probleme mit
einem Schlag gelöst.
„Miss Cohen“, brachte er schließlich hervor, atmete tief
durch und schien sich zu fassen. „Ich hätte nicht gedacht,
dass Sie so dumm sind. Sollten Sie nicht in einem Wagen sit-
zen und in hohem Tempo Richtung New York unterwegs
sein?“

263
Ungefragt nahm ich ihm gegenüber auf einem Besucherstuhl
Platz. „Warum? Denken Sie, Ihr kleiner Amateurfilm könnte
mich schrecken? Oder die Botschaft des Klans? Ihre Leute ha-
ben meinen Kunden erschossen. Nun haben Sie mich am
Hals. Und zwar, bis die Täter hinter Schloss und Riegel sit-
zen.“
„Ist das so?“ Mit jeder Sekunde gewann der Mann etwas
Selbstsicherheit zurück. Auch wenn Peter noch immer vor
dem Fenster stand und uns anstarrte. Er erinnerte an ein Kind,
das sich die Nase am Schaufenster eines Süßwarenladens
platt drückt. „Nun, und wie wollen Sie das anstellen? Sie ken-
nen unsere Macht. Sie kennen die Magie von Iz.“
„Warum das alles?“, lenkte ich von Bauers berechtigter Fra-
ge ab. „Warum die Morde? Warum die Figur des Iz?“
Ein dünnes Grinsen umspielte die Mundwinkel des Mannes.
„Um die Rasse zu schützen. Meine Rasse, Miss Cohen. Noch
dienen die Opfer dazu, den Dämon zu stärken. Doch sobald er
seine alte Kraft erreicht hat, wird er die Nigger vom Angesicht
dieses Countys fegen. Vielleicht auch aus ganz Mississippi.
Ihm wird gelingen, was der KKK oder das CCC seit so vielen
Jahren vergeblich versuchen. Die Angst, die Schmerzen – das
Adrenalin, dass dabei ausgeschüttet wird. Das gibt Iz die Kraft.

Meine Güte, er ist vollkommen verrückt. Das ist grauen-
voll.Aber es ergibt einen Sinn. Darum die Nieren – wegen dem

264
Adrenalin. „Sie denken also wirklich, dass Iz die Lösung all Ih-
rer Probleme darstellt? Das er die Schwarzen tötet und die
weiße Rasse verherrlichen wird?“
„Ja, das denke ich“, bestätigte Bauer. „Er hat es mir gesagt.
Iz gehorcht mir, denn ich besitze seine Abbildung. Vor sehr,
sehr langer Zeit gelang es einem Magier, den Dämon an diese
kleine Figur zu binden. Wer sie besitzt, besitzt auch die Macht
über Iz. Eine uralte Regel.“
„Und warum das alles? Warum der Hass auf die
Schwarzen? Warum diese Brutalität, diese Unmenschlichkeit?
Das will mir nicht in den Kopf.“
„Die Schwarzen sind Abschaum. Sie fordern für sich Rechte
ein, die ihnen nicht zustehen. Sie sind minderwertig. Die Re-
gierung zwingt uns sein Jahrzehnten, sie als gleichberechtigt
anzusehen. Aber das sind sie nicht; egal was man sagt. Sie
riechen anders, sie denken anders und sie leben anders. Die
weiße Rasse war schon immer dominant. Wir brachten der
Welt Kultur, Wissen und Fortschritt. Die Schwarzen sind dem
Affen näher als dem Menschen. Sie würden unsere Zivilisation
zerstören, wenn man sie ließe. Schauen Sie doch nach Afrika.
Dort herrschen die Nigger über ihre Länder. Nur Chaos und
Tod, seit sich die Weißen zurückgezogen haben. Sie sind un-
fähig, eine Gesellschaft aufzubauen. Wilde, Untermenschen –
das sind die Nigger. Vielleicht tun wir ihnen einen Gefallen,
wenn wir sie vertilgen. Dann haben sie es überstanden.“

265
Was hindert mich daran, ihn wie einen räudigen Köter abzu-
schießen? Ach ja, es wäre gegen das Gesetz. Mit ihm über
seine Thesen zu streiten, war völlig widersinnig. Er hatte seine
festgefasste Meinung und würde keinen Deut davon abrücken;
egal welche Argumente von meiner Seite kämen. Sicherlich
hätte ich ihn darauf hinweisen können, dass es die Weißen
waren, die Afrika ausgebeutet hatten und den Kontinent an-
schließend im Elend versinken ließen. Fallen gelassen wie
eine heiße Kartoffel, nachdem man die Länder hatte ausbluten
lassen. Aber das waren Dinge, die Menschen wie Bauer nie
begriffen.
„Schwarz und Weiß“, setzte er nach, „sind nicht gleich. Auch
wenn das die Regierung erzählt. Nein, sie sind nicht gleich.
Das können sie auch nicht sein. Niggerhirne sind kleiner. Und
das ist eine Tatsache. Es gibt Schulbücher, die es bestätigen.
Nur, dass es die jüdisch-schwarze Verschwörung in diesem
Land geschafft hat, solche Wahrheiten zu unterdrücken.“
Na endlich. Dachte schon, ich käme ganz ungeschoren da-
von. „Ja, wir sind wirklich schlimme Verschwörer, wir Juden.
Politik, die Finanzmärkte ... Wir begaben uns freiwillig in ägyp-
tische und babylonische Gefangenschaft, um unseren Nutzen
daraus zu ziehen. Als man uns während des Mittelalters in Eu-
ropa verbrannte, frohlockten wir und die spanische Inquisition
wurde in Wahrheit von uns ins Leben gerufen. Ganz zu
schweigen von den Nazis. Wir waren froh, als man uns in die

266
Konzentrationslager steckte, uns vergaste und auf andere,
bestialische Arten auslöschte. Schließlich diente alles einem
höheren Ziel – dem Erringen der Weltherrschaft.“
Er starrte mich an. „Juden haben Jesus Christus getötet. Ihr
seid die Feinde des rechten Glaubens, Feinde Gottes. Die
Welt hasst euch. Die Deutschen versuchten, euch auszulö-
schen. Die Hisbollah im Libanon und die Palästinenser in Jeru-
salem. Der Iranische Ministerpräsident fordert eure Auslö-
schung. Der KKK und das CCC verachten euch Christusmör-
der aus tiefster Seele.“ Er beugte sich vor. „Vielleicht befehle
ich Iz im Anschluss an die Vernichtung der Nigger auch die
Vernichtung der Yids. Wie wäre das?“
„Schlecht. Es würde Ihre Frau zu einer Witwe machen. Sie
wissen doch – wir vergessen und vergeben nicht.“
Seine Augen zuckten kurz. „Also, Jüdin. Wie soll es nun wei-
tergehen? Mich als den Drahtzieher hinter allem zu erkennen,
war wohl kein Problem. Schließlich war ich auf dem Video zu
sehen. Mich zu verhaften wird ungleich schwerer werden. Kei-
ne Beweise, keine Spuren. Der Film wurde ein Opfer der
Flammen, wie man mir sagte.“ Er lachte leise. „Sie kamen her,
nun können Sie wieder gehen. Und nehmen Sie den Nigger da
draußen mit.“
Langsam drehte ich mich um. „Stimmt. Es gibt keine Bewei-
se gegen Sie. Aber selbst wenn ... welches Gericht würde Sie
verurteilen? Sie haben Beziehungen, die weit über den County

267
hinaus reichen. Nicht wahr?“ Ein wenig Honig um den Bart
schmieren kann nicht schaden.
„So ist es. Das haben Sie sehr gut erkannt, Miss Cohen. Ju-
den sind schlauer als Nigger. Gierig und ohne Moral – aber
schlau. Meine Beziehungen reichen bis nach Washington.
Auch wenn ich Bush für einen Versager halte, habe ich ihn
doch unterstützt. Und auch unsere Abgeordneten dort. Diese
Leute schulden mir etwas.“
„Ja. Das sehe ich auch so. Mein Kollege draußen wollte es
nicht glauben. Ich sagte ihm, dass wir hier nur unsere Zeit ver-
schwenden. Wäre es nach mir gegangen, hätten wir uns die
Fahrt schenken können.“
Bauer fühlte sich auf der sicheren Seite. „Sehen Sie? Nigger
haben einfach zu wenig Grips in ihren Hirnen. Da haben Sie
den Beweis.“
„Eben. Ich sagte ihm sofort, wir sollten dem Mob von dem Vi-
deo und Ihrem Auftritt erzählen. Mindestens 1000 Schwarze
demonstrierten vor der Townhall in Wiggins. Heute Abend sind
es vielleicht schon 2000. Wir werden ihnen sagen, was wir
wissen. Vielleicht scheren sie sich um Beweise. Vielleicht auch
nicht. Aber Sie haben ja Beziehungen. Vielleicht schützt Sie
die Nationalgarde. Oder die Polizei. Sheriff Coffey steht in Ih-
rer Schuld, wie er mir sagte. Wenn der wütende Mob hier auf-
taucht, brennende Fackeln schwingt und um sich schießt, wird
er sich denen schon in den Weg stellen.“

268
Bauer sprang auf. „Das wagen Sie nicht. Sie werden ...“ Er
verstummte, als er meinen Blick auffing.
„Damit wir uns verstehen, Mister Bauer. Ich halte Sie für ein
perverses, menschenverachtendes Arschloch. Am liebsten
würde ich Ihnen eine Kugel in den Schädel jagen, um das
Thema abzuschließen. Mir persönlich ist es egal, ob die
Schwarzen hier auftauchen und aus Ihrem Anwesen Kleinholz
machen. Ich vergieße keine Träne um Sie, wenn man sie in
Stücke reißt. Und ihre rassistische Frau gleich mit. Ja, das
würde das Problem vielleicht lösen. Aber sehen Sie – ich ar-
beite nicht für die NAACP, sondern für Claire Spector. Sie hat
ein Interesse daran, die Mörder ihres Vaters hinter Gitter zu
wissen und die Hintergründe der Tat zu kennen. Mehr nicht.
Was mein Kollege tut, bleibt ihm überlassen.“
„Wenn Sie auch nur Wort zu den Niggern sagen, werde ich
Iz ...“
„Sie sagten selbst, er sei noch nicht stark genug. Wird er es
nicht bis heute Abend, haben Sie ein Problem. Wir gehen jetzt
und teilen den Schwarzen mit, was wir wissen.“
„Vielleicht können wir uns einigen?“, rief Bauer ängstlich.
Seine hochnäsige Art war verschwunden. Er wusste, dass sei-
ne Waffe nicht stark genug sein Würde, um eine rasende Meu-
te aufzuhalten. Und er wusste, dass ihn die Schwarzen der
Region vermutlich bei lebendigem Leibe häuten würden.

269
„Die Killer von Spector. Ich will ihre Ärsche in Rikers wissen
– bis zum Ende ihres natürlichen Lebens. Dann, und nur dann
sind Sie mich los.“
„Und den Nigger?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Bin nicht seine
Chefin. Reden Sie mit ihm.“
„Nein.“ Er winkte ab. „Sie bekommen die drei Killer. Aber
nur, wenn Sie mir versichern, die Nigger im Zaum zu halten.“
„Hören die Morde an den Schwarzen auf? Ich garantiere,
dass ich einen Aufstand verhindere. Wenn Sie mir die Figur
des Iz geben. Es muss sichergestellt sein, dass es nicht zu
weiteren Morden kommt.“
„Unmöglich.“ Bauer sank in den Stuhl zurück. „Das kann ich
nicht tun. Auch wenn ich der Hohepriester der Söhne des Iz
bin und über das Wissen verfüge, mit dem Dämon zu kommu-
nizieren, so sind wir doch viele. Und meine Brüder würden kei-
nesfalls zulassen, dass die Sache auf diese Art endet. Sie ent-
schuldigen kurz?“ Er deutete auf das Telefon, welches in die-
sem Moment klingelte. Bauer hob ab, lauschte kurz und häng-
te schließlich ein. „Unsere Unterhaltung ist beendet. Gehen
Sie, Jüdin.“
„Wie Sie meinen. Dann werden wir mit Reverend Bender
sprechen. Schönen Tag noch.“
Mein vermeintlicher Trumpf stach nicht mehr. Bauer zuckte
nur mit den Schultern. „Wie Sie meinen. Viel Erfolg noch. Und

270
jetzt – raus aus meinem Haus und runter von meinem Land.
Nehmen Sie den Nigger mit, wenn Sie gehen.“
Mich beschlich ein ganz dummes Gefühl. Der Anrufer muss-
te ihm etwas mitgeteilt haben, dass ihm seine Angst vor einem
Aufstand der Schwarzen genommen hatte. War Iz wider Er-
warten doch stark genug? Oder war etwas anderes gesche-
hen?
„Was hat er gesagt?“, bestürmte mich Peter, kaum dass ich
das Haus verlassen hatte.
„Was wohl? Sollte er leugnen, nachdem er uns das Band
hinterlassen hat? Er gab es zu und trumpfte gleichzeitig damit
auf, dass wir nichts gegen ihn tun könnten. Die bisherigen Op-
fer dienen dazu, Iz Stärke zu verleihen. Ist der Dämon wieder
bei Kräften, soll er die Schwarzen vertilgen. Das hat er
gesagt!“
„Wir müssen ihn stoppen! Um jeden Preis. Nicht auszuden-
ken, wenn sein Plan Erfolg hat.“
„Ja, nicht auszudenken. Aber im Moment fällt mir nicht ein,
wie wir das bewerkstelligen könnten. Allerdings erhielt er einen
Anruf, ehe er mich aus seinem Büro geworfen hat. Etwas ist
geschehen, so dass er es eilig hatte, mich zu vertreiben.“
„Wir sollten ihn im Auge behalten“, erklärte Peter katego-
risch. Offenbar war ihm entfallen, dass er nicht mehr mit mir
arbeiten wollte.

271
„Guter Gedanke. Aber er ist nicht auf den Kopf gefallen. Er
wird merken, wenn wir ihm auf den Fersen sind. Zumal er uns
dank deiner Neugier beide kennt. Musstest du dein Gesicht an
die Scheibe seines Büros pressen?“
„Ich wollte hören, um was es geht.“
„Sehr hilfreich, wirklich. Und ja, das würde ich auch zu einem
weißen Kollegen sagen.“
„Ich rufe Reverend Bender an. Es wird nicht lange dauern,
bis Bauer unter Beobachtung steht. Er wird keinen Schritt tun
können, ohne gesehen zu werden. Das garantiere ich dir.“ Pe-
ter griff nach seinem Handy und wählte die Nummer des Pfar-
rers.
Ich hatte nicht den Hauch eines Zweifels an seinen Worten.
Rief die NAACP zu einer kleinen Aktion auf, ließ jeder Schwar-
ze in dem gesamten County, wenn nicht sogar im gesamten
Bundesstaat, alles stehen und liegen, um sich daran zu beteili-
gen.
Das Gespräch dauerte keine fünf Minuten. Als Peter aufleg-
te, nickte er mir zufrieden zu. „Wo immer er hin fährt, was im-
mer er tut – wir werden es erfahren.“
„Gut. Aber deine Leute wissen, dass sie sich zurückzuhalten
müssen? Keine Lynchjustiz, keine Helden!“
„Ja, das wissen sie. Reverend Bender wird sorgfältig aus-
wählen, wen er mit der Überwachung beauftragt.“ Er legte eine
kurze Pause ein. „Und nun? Was wäre dein nächster Schritt?“

272
„Wir schauen uns Tony's Tonk an. Auch wenn wir den Täter
haben, will ich mir den Laden ansehen. Wer sagt uns, dass
Jezzy das letzte Opfer war? Ich befürchte sogar eher das Ge-
genteil. Und alle drei Leichen waren dort entweder Gäste oder
– das Mädchen – angestellt. Außerdem sollten wir eruieren,
welchen Umgang Bauer pflegt. Freunde, Clubs – all das. Ich
wüsste gerne, wer seine Brüder bei den Söhnen sind.“
„Gut. Beides sollte nicht schwer sein. Ich weiß, wo das Tonk
liegt. Und das andere werden wir wieder über Bender in Erfah-
rung bringen. Auch wenn er lediglich die schwarze Gemeinde
betreut, kennt er doch die Verstrickungen in Wiggins und in
den umliegenden Dörfern.“

273
Kapitel 18

20. Dezember 2005, 15:00/ Tony's Tonk (Mississippi)

Das Tonk lag an einer staubigen, engen Straße, die aus


Wiggins hinaus in Richtung Woolcraft führte, einem kleinen Ort
mit kaum 500 Einwohnern – alle schwarz. Wer den Schuppen
nicht kannte, fand ihn auch nicht zufällig. Dazu lag er einfach
zu abgelegen. Zudem wurde seine eigentlich gut sichtbare
Leuchtreklame durch Bäume verdeckt. Das Licht strahlte le-
diglich noch oben aus, aufgrund seiner schwachen Birnen al-
lerdings nicht sehr hoch.
Der Parkplatz vor dem Laden war an jenem Nachmittag bis
auf den letzten Platz belegt. Selbst am Rand der Straße park-
ten Wagen sowie ein Kleinbus mit etwa zwanzig Plätzen.
„Die haben ganz schön was zu tun, wie es scheint.“
„Ja. Ist das einzige rein schwarze Lokal hier in der näheren
Umgebung. Reverend Bender wollte, dass die Leute hierher
gehen um sich zu stärken. Sie haben vor, heute Abend wieder
vor der Townhall zu demonstrieren.“
„Vermutlich lassen sie sich keine Gelegenheit entgehen, We
shall overcome zu singen.“

274
„Deine respektlose Art kotzt mich an, Rebecca“, ereiferte
sich Peter. „Wir sind stolz auf das, was wir erreicht haben und
wir sind stolz auf die Art, wie das geschehen ist. Und wenn wir
singen, dann singen wir. Aus tiefster Überzeugung. Verstehst
du das?“
„Sicher. So lange der Klan kein Lied anstimmt, ist mir alles
recht. Oder Bauer und seine Söhne. Ich habe da eine ganz
beschissene Ahnung. Das war noch lange nicht alles. Mit et-
was Pech haben die Schwarzen aus Wiggins noch viel Grund
zu singen.“
„Leck mich, Rebecca.“ Wieder warf er die Tür ins Schloss,
dass es dröhnte. Er stapfte über den Parkplatz rüber zum
Tonk, während ich noch einen Moment wartete. Die einzige
rein schwarze Kneipe also. Das wusste Coffey unter Garantie.
Warum also schickt uns der Idiot hierher? Ihm muss doch klar
gewesen sein, dass die Opfer nur deswegen hier waren, eben
weil es für sie gemacht ist. Die Grütze muss von seinem Ma-
gen ins Hirn gewandert sein. Das kommt davon ...
Die Stimmung im Inneren des Ladens war düster. Hinter der
Tür hing erst einmal ein muffiger Vorhang. Schob man ihn zur
Seite, wurde das Innere sichtbar. Mehrere Tische und Stühle
standen herum. In der Ecke dudelte eine Jukebox, links er-
streckte sich der Tresen. Neonreklame für Bud hing über der
Theke. An der Decke drehte sich träge ein Ventilator und ver-

275
quirlte den blauen Dunst vieler Zigaretten sowie den Mief von
Schweiß, ausgedünstetem Alkohol und verbrauchter Luft.
Das Tonk war bis auf den letzten Platz besetzt. Peter stand
am Tresen und unterhielt sich dort mit einem Mann hinter der
Theke; vermutlich Tony. Ein älterer Mann mit weißem Haar
und einem dünnen Kinnbart. Unter den misstrauischen Blicken
der Schwarzen gesellte ich mich zu Peter und nickte beiden
zu.
„Meine Kollegin Rebecca Cohen aus New York. Sie arbeitet
für eine weiße Auftraggeberin“, erklärte Peter. „Rebecca –
Tony Sparks. Ihm gehört die Bar.“
„Wie kommt es, dass Sie heute geöffnet haben?“, wollte ich
wissen. „Immerhin ist Ihre Bedienung ermordet worden.“
Tony musterte mich ein paar Sekunden. „Aus Respekt vor
Jezzy haben wir geöffnet. Sie war ein liebes Mädchen und die
Freundin meines Sohnes.“
Also – das man aus Respekt schließt oder eine Schweigemi-
nute einlegt, das kenne ich bereits. Aber dass man aus Re-
spekt öffnet, das ist mir neu. „Verstehe ich nicht.“
„Wir haben auf jedem Tisch eine kleine Sammelbox stehen.
Die Leute geben kein Trinkgeld, sondern spenden für die Fa-
milie von Jezzy. Damit tun wir mehr, als wenn wir den Laden
geschlossen hätten.“

276
„Ach so. Also schön – die beiden ersten Opfer waren hier
Gäste, Jezzy angestellt. Gab es zwischen den Dreien noch
eine Verbindung?“
„Nein. Die Männer kamen regelmäßig, aber das trifft auf alle
zu, die in der Umgebung wohnten. Hin und wieder spielten sie
eine Partie Pool. Sie flirteten mit Jezzy, wie es alle tun und sie
tranken Budweiser wie es alle tun. Manchmal schimpften sie
auf die Regierung oder die Weißen. Das ist alles.“
„Und privat?“
Tony schüttelte den Kopf. „Davon weiß ich nichts. Ich hab
kaum Kontakt zu den Niggern aus Wiggins. Kümmere mich
um meine Bar, damit hab ich genug zu tun. Am Sonntag fah-
ren meine Familie und ich zum Gottesdienst. Anschließend
muss ich sofort wieder zurück, um zu öffnen.“
Meine Geduld nahm rapide ab. „Sie können mir doch nicht
erzählen, dass Sie nichts wissen. Sie stehen hinter der Theke
des einzigen Ladens für Schwarze in der gesamten Region.
Wenn Sie nichts wissen, dann keiner.“
„Sie sind eine Weiße. Was ich weiß, geht Sie nichts an. Ist
ohnehin nur Nigger-Kram. Davon verstehen Sie so viel wie
vom Bier zapfen.“
„Und Peter hier?“
„Was soll das alles?“, regte sich Tony auf. „Wir wissen doch
ohnehin, wer es war.“

277
Erstaunt musterte ich den Mann. „Sie wissen, wer es war?
Wer denn? Und woher wissen Sie es?“
„Bauer war es. Ein elender Rassist, der keine Gelegenheit
auslässt, um uns zu schaden. Reverend Bender rief mich an.
Er meinte, ihr würdet Bauer verdächtigen.“ Er senkte seine
Stimme. „Außerdem drangen Gerüchte aus dem Büro des
Sheriffs. Waylon Gamble, ein Deputy, ist mit einer Schwarzen
zusammen. Weiß kaum einer, ist aber so. Und der erzählte
was von einem Video, auf dem der Killer zu sehen sei – eben
Josh Bauer.“
Wenn das die Runde macht, hat Bauer ein Problem. Nicht,
dass ich es ihm nicht gönnen würde. Aber er wird sich nicht
wie das Lamm zur Schlachtbank führen lassen. Wenn meine
Vermutung zutrifft, hat er was in der Hinterhand. „Vergessen
Sie das. Es gibt keine Beweise gegen Bauer“; log ich. „Vor al-
lem sollten Sie es nicht herumerzählen. Sonst bekommen Sie
am Ende Probleme.“
Tony schaute zu Peter. „Ein paar Nigger, die die Schnauze
voll haben von dem Mist, treffen sich heute Abend an besagter
Stelle. Es wird Zeit, dass wir handeln. Du bist eingeladen. Wir
haben einen Plan, wenn du verstehst.“
Der Detektiv nickte nur. Dabei schaute er nachdenklich zu
mir. Tony begriff. „Nein. Weiße sind nicht eingeladen. Auch
dann nicht, wenn sie ebenfalls die Morde stoppen wollen. Nur
Nigger. Also lass dir nicht einfallen, sie mitzubringen.“ Er

278
wandte sich wieder an mich. „Die Unterhaltung ist beendet.
Wir wissen, was zu tun ist. Fahren Sie wieder zurück in die
Stadt und belügen Sie die Menschen dort.“
„Hören Sie“, versuchte ich es noch einmal, „wenn die Sache
eindeutig wäre, hätte Sheriff Coffey etwas unternommen. Aber
dem ist nicht so. Das heißt, dass ihr euch ins Unrecht setzt,
wenn ihr an Selbstjustiz denkt.“
„Natürlich“, lachte der Wirt. „Sicherlich wäre Coffey sofort
losgefahren, um Bauer zu verhaften. Den Mann, der ihm sei-
nen Sessel gesichert hat. Den Mann, der mit allem durch-
kommt. Ihr Weiße seid alle gleich. Sobald sich Schwarze weh-
ren wollen, heißt es Selbstjustiz. Aber die Weißen, die prügeln
uns nieder, nehmen das Gesetz in ihre Hände und scheren
sich einen Dreck um Richtig oder Falsch. Verschwinden Sie,
Miss Cohen! Niemand will Sie hier haben, kein Schwarzer hat
Sie gerufen. Sie arbeiten nicht mal für uns, sondern für eine
weiße Klientin.“
Er wandte sich demonstrativ ab. Peter schaute mich nur ach-
selzuckend an. Nun war er es, mit dem man sich unterhalten
würde und ich musste meine Nase an die Scheibe drücken.
Wenn überhaupt.
„Gib mir die Schlüssel; ich fahre zum Hotel. Du findest be-
stimmt jemand, der dich mitnimmt.“
Erst sah es so aus, als wolle Peter protestieren. Doch dann
begriff er, dass er mich wirklich los sein würde.

279
Die frische Luft außerhalb des Tonks war eine Wohltat. Wü-
tend ging ich zu dem Wagen, ließ die Verschlüsse aufschnap-
pen und stieg ein. Was denken sich diese Idioten eigentlich?
Und was denkt sich Peter? Er sollte die Sache professionell
angehen. Er ist schwarz – ja. Aber er ist auch Detektiv und im
Auftrag der NAACP hier unten. Nicht, um sich mit den Ortsan-
sässigen zu verbrüdern. Während ich den Ford anrollen ließ,
tippte ich die Nummer von Reverend Washington in das Han-
dy ein. Vielleicht gelang es ihm, seinen Sohn auf den rechten
Weg zurückzuführen. Vor allem sollte Peter begreifen,warum
wir uns in dem Tonk umgehört haben. Wenn es ein Muster
gibt, eine Beziehung zwischen bisherigen Opfern, können wir
das nächste vielleicht retten. Aber im Moment scheinen die zu
vernagelt zu sein ...

280
Kapitel 19

20. Dezember 2005, 16:30/ Wiggins (Mississippi)

Mit einer großen Flasche Kola-Light saß ich vor meinem No-
tebook und starrte auf den kleinen Monitor. Das Telefonat mit
Reverend Washington hatte nicht viel gebracht. Zwar stimmte
er mir zu, dass sich sein Sohn auf die Ermittlungen konzentrie-
ren sollte. Gleichzeitig hatte er mir jedoch eine Lektion in
schwarzem Zusammenhalt gegeben. Es war seiner Meinung
nicht nur normal, dass sich sein Sohn mit den Schwarzen der
Stadt solidarisierte. Als Mitglied und Beauftragter der NAACP
müsse es Peter sogar tun. Dies war zwar nicht meine Mei-
nung. Aber ändern konnte ich es auch nicht.
Eine Überlegung schob sich zunehmend in den Vorder-
grund. Was würden die Schwarzen der Stadt tun? Tony hatte
deutlich durchblicken lassen, dass er und ein paar andere zum
Gegenschlag ausholen wollten. Zumindest war es das, was
man zwischen den Zeilen hatte heraushören können. Ein paar
Nigger, die die Schnauze voll haben von dem Mist, treffen sich
heute Abend an besagter Stelle. Es wird Zeit, dass wir han-
deln. Du bist eingeladen. Wir haben einen Plan, wenn du ver-
stehst. Das waren die Worte des Wirts gewesen. Was also ge-

281
dachten sie zu tun? Wollten sie sich zusammenrotten und zu
Bauer marschieren, um ihn aus seinem Haus zu holen und zu
lynchen? Oder würden sie ein paar Weiße abschlachten –
Auge um Auge, Zahn um Zahn? Wenn, würde die Gewalt es-
kalieren. Im Moment befand sich Bauer im Unrecht. Er und
seine Leute waren Mörder. Ließen sich die Schwarzen zu ei-
nem Gegenschlag hinreißen, gab es kein Richtig und Falsch
mehr. Dann befanden sich beide im Grau der Gewalt.
Geht es mich noch etwas an?
Diese Worte standen auf dem Monitor. Ich hatte sie einge-
tippt, um mir genau über diese Frage klar zu werden. Ging
mich die ganze Scheiße noch etwas an? Die Chance, Spec-
tors Killer in die Finger zu bekommen, war nicht sehr hoch.
Dies musste ich akzeptieren. Er wurde gedeckt; durch Bauer
und dessen Beziehungen bis hinauf nach Washington D.C.
Die Hintergründe hingegen sowie der Drahtzieher der Ver-
brechen stand fest. Genügte es nicht, damit zu Claire zu ge-
hen? Ihr zu sagen, wie die Sache stand und den Fall abzu-
schließen?
Eine Frage bleibt noch – woher wusste Bauer von Spector?
Wo liegt die Verbindung zwischen diesen beiden Männern?
Nachdenklich bewegte ich die Maus, nur um überhaupt et-
was zu tun. Der Zeiger wanderte über den Bildschirm.
Spectors Erzählung fiel mir ein. Zusammen mit den seltsa-
men Begebenheiten begannen auch die Telefonanrufe. Eine

282
Organisation, die sich Söhne des Iz nennen, meldeten sich bei
mir. Sie sehen sich in der Tradition jener, welche die Figur
einst schufen. Anhänger einer Gottheit aus Europa, die einer-
seits aufgrund ihrer Boshaftigkeit gefürchtet wird, andererseits
aber auch als Geist der Toten gilt.
Hatte der Dämon mit Bauer Kontakt aufgenommen? Oder
war es dem Rassisten gelungen, in Kontakt mit der Figur zu
treten? Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass sich Bauer und
seine Freunde schon lange mit Iz befassen. Bauer ... das
klingt nicht ur-amerikanisch. Vielleicht brachten seine Vorfah-
ren das Wissen um den Dämon mit in die neue Welt. Es wurde
überliefert, an den jüngsten Spross weitergegeben und so ...
Ich klappte den Deckel des Mini-Computers hinunter und
verließ mein Zimmer, um einen Happen essen zu gehen.
Ist es mein Job, die Morde zu unterbinden? Wenn ja – wie?
Zu Bauer laufen und ihn liquidieren? Ihn dazu zwingen, mir die
Figur zu geben und sie zerstören? Ein Schauer lief mir über
den Rücken. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass das so ein-
fach gelingen konnte. Immerhin führte Iz ein Eigenleben. Er
hatte sich quasi selbst aus dem Tresor in Spectors Hotelzim-
mer befreit, als die Söhne kamen, um ihn zu holen. War seine
Existenz an die Abbildung gebunden, würde er nicht so ein-
fach zulassen, dass ich sie zerstöre. Andererseits schien mir
genau das die Lösung des Problems zu sein. Statue zerstö-
ren, Iz besiegt. Eine Theorie, die mir wunderbar einfach er-

283
schien, nahezu unmöglich umzusetzen war und von der ich
nicht einmal wusste, ob sie zutraf. Ich muss mit Denise oder
Richard sprechen. Gut möglich, dass sie mir in diesem Punkt
einen Rat geben können. Aber erst nach dem Dinner im Diner.
Mein Magen knurrt.
Schon auf dem Weg zum Lokal fiel mir auf, wie sehr sich die
Stadt in Aufruhr befand. Von der Townhall erklangen laute
Rufe. Stoppt die Morde. Die Zahl der dort versammelten
Schwarzen hatte sich sicherlich noch einmal verdoppelt. Bus-
se mit dem Emblem der NAACP standen an den Straßenrän-
dern. Nicht alle trugen Kennzeichen aus Mississippi. Es befan-
den sich auch einer aus dem angrenzenden Louisiana und ei-
ner aus Alabama darunter. Offenbar machten die Schwarzen
mobil.
Das Restaurant war nur spärlich besucht. Viele der rot-wei-
ßen Sitze waren frei. Ich nahm an einem der hinteren Tische
Platz. Zum einen, um den Laden überblicken zu können. Zum
anderen aber auch, weil die Sicht auf das Büro des Sheriffs
von dort ausgezeichnet war.
Eine junge Frau kam und legte die Karte mit Schwung auf
den Tisch. „Sie sind fremd in Wiggins“, erklärte sie. Es war kei-
ne Frage.
„Ja, stimmt. Ich bin wegen der Morde hier.“
Sie nickte. „Klar, weswegen auch sonst? Reporterin, oder?
Wollen Sie meine Meinung dazu hören?“ Diesmal war es eine

284
Frage. Doch so weit, dass sie meine Erwiderung abgewartet
hätte, ging es dann doch nicht. „Es ist eine Schande!“, fuhr sie
rasch fort. „Ich meine – was soll das? Ob Nigger oder nicht,
das spielt doch keine Rolle. Sind alles Menschen.“
„Lori, du wirst nicht fürs Quatschen bezahlt!“, rief eine männ-
liche Stimme von der Theke her. Ein Mann mit weißer Schürze
erschien dort. Er schenkte der Bedienung einen finsteren
Blick, füllte einen Becher mit Kola und verschwand wieder in
der Küche.
„Schon gut, Dad“, gab Lori zurück. „Er mag es nicht, wenn
ich mit Fremden spreche. Vor allem im Moment nicht. Sheriff
Coffey hat jedem eingeschärft, die Klappe zu halten. Es heißt,
zwei Detektive würden hier rumschnüffeln. Einer soll sogar ein
Nigger sein.“
„Und der andere ist eine Frau“, gab ich lächelnd zurück. „Da-
für aber weiß. Gilt das Redeverbot auch denen gegenüber?“
„Keine Ahnung. Also, was darf es sein?“
„Was schmeckt denn besonders gut?“
Sie grinste. „Mein Dad macht die besten Honigburger in der
Region. Karamellisierte Zwiebeln, viel goldener Honig und di-
cker Speck auf besonders dickem Hackfleisch. Dazu Wedges
und ein großes Glas Sherry-Coke. Das und nichts anderes
sollten Sie essen.“
„Gekauft. Und ein paar Zwiebelringe als Vorspeise. Ich hab
Hunger. War den ganzen Tag unterwegs.“

285
Sie lachte und wandte sich ab. „Eine Frage noch“, rief ich ihr
nach. Etwas, dass ihren Dad erneut auf den Plan rief, denn er
trat aus der Tür und musterte mich missbilligend. „Kommt Josh
Bauer hin und wieder her?“
„Ich regele das“, erklärte Loris Vater und kam näher. Seine
Tochter beeilte sich, hinter die Theke zu kommen. Sie rief die
Bestellung durch eine Klappe. Offenbar gab es in dem Diner
mehr als einen Koch. „Mein Name ist Waterstone; mir gehört
das Diner. Also, was sollen all die Fragen? Wir mögen keine
Reporter.“
„Schön, ich auch nicht. Rebecca Cohen – ich ermittele we-
gen der Mordfälle. Allerdings geht es mir um den Tod eines
Weißen in New Jersey. Hängt mit der Sache hier zusammen.“
„So?“ Er nahm Platz. Ein grobschlächtiger Mann mit breitem
Gesicht. Seine Schürze war allerdings nahezu sauber, das
Handtuch, welches er sich in eine Tasche gesteckt hatte eben-
so. Obwohl sein Gesicht gerötet war, roch er nicht nach
Schweiß. „Ich finde es zum Kotzen, was hier passiert. Da wer-
den drei Menschen wie Vieh abgeschlachtet, und die meisten
scheren sich einen Dreck drum. Sind ja nur Nigger. Meine
Tochter hat vollkommen recht. Es sind Menschen. Wer immer
das war, sollte dafür nach Parchman geschickt werden.16“
16
Eigentlich ‚Parchman Farm’ – das Staatsgefängnis von Mississip-
pi. Es beherbergt neben einem Hochsicherheitstrakt auch die To-
deszellen. Alle männlichen Delinquenten sitzen dort ein.

286
„Sie sind der erste Weiße, den ich bisher hier unten getroffen
habe, der so denkt. Ich war heute bei Josh Bauer. Der sieht
das ein wenig anders.“ Er ist ja auch der Täter. Aber das ver-
rate ich dir nicht.
„Josh Bauer ist ein Genie, wenn es um Geld und Macht geht,
aber in manchen Dingen besitzt er den Verstand einer Stuben-
fliege. Er und seine kleine Bande weißer Rassisten müsste
man eigentlich ausweisen. Leute wie er sind Schuld an dem
miesen Ruf, den wir hier im Süden haben.“ Er senkte die Stim-
me. „Denken Sie, er hätte was damit zu tun? Wenn, dann soll-
ten Sie mit Hank Woodward und Steven Bekker sprechen;
Bauers Schoßhunde. Hank ist ein Farmer, der nach drei Dür-
ren fast seine Farm verlor. Bauer half ihm. Seitdem leckt er
dessen Speichel. Steven hingegen ist ein Banker, der mit Bau-
er gute Geschäft macht. Alle drei hassen die Nigger wie die
Pest. Würde mich nicht wundern, wenn die beiden ihrem Gott
ein kleines Geschenk machen wollen, indem sie die Schwar-
zen abschlachten. Elende Bande von Feiglingen, das sag ich
Ihnen!“
„Sie sind eine Quelle des Wissens. Danke für die Informatio-
nen. Ich werde mir die beiden Männer anschauen.“ Und Peter
kann mich am Hintern küssen.
„Kein Problem. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“

287
„Mich davon überzeugen, dass Ihre Tochter die Wahrheit ge-
sprochen hat. Sie meinte, Sie machen den verdammt besten
Honigburger weit und breit.“
Er grinste. „Den bekommen Sie. Oh ja.“
Während er verschwand, steigerte sich der Tumult vor der
Townhall. Zwei weitere Busse waren vorgefahren, gut 120
Schwarze gesellten sich zu den anderen. Jemand verteilte
Schilder, ein anderer große Kerzen. Keine Frage, die Schwar-
zen bereiteten sich auf eine lange Nacht vor. Ist es das wert?
Sicherlich hat nun auch der letzte Deputy verstanden, was sie
wollen. Warum also der Protest?
Die Zwiebelringe und das Kola kamen. Lori stellte sich ne-
ben mich und schaute aus dem Fenster. „Die meinen es ernst.
Dad sagt, die letzte Kundgebung der Schwarzen liegt schon
viele Jahre zurück. Andererseits kann ich sie gut verstehen.
Sie fühlen sich nicht sicher. Die Killer agieren ganz offen. Tö-
ten ihre Opfer auf offener Straße und verschwinden ungese-
hen. Hinterlassen sogar Botschaften, aber die Polizei hat an-
geblich keine Spur zu ihnen. Das stinkt zum Himmel!“
Noch ehe ich etwas erwidern konnte, stieß die junge Frau
einen erschrockenen Ruf aus. „Das gibt es doch nicht – der
Klan kommt.“
Entsetzt beobachtete ich den Aufmarsch der Kapuzen. Sie
waren mit ihren Wagen vorgefahren, ausgestiegen und sam-
melten sich nun gut 200 Meter entfernt von den Schwarzen.

288
Noch geschah nichts. Obwohl die Demonstranten die Neuan-
kömmlinge sehr wohl bemerkt hatten. Und auch der Sheriff.
Mehrere Deputys eilten aus der Townhall, um eine Barriere
zwischen den beiden Parteien zu bilden. Die Beamten sahen
gestresst aus, das konnte man sogar aus dieser Entfernung
erkennen.
„Jetzt rollen Köpfe“, knurrte der Wirt. Er selbst servierte den
Burger, blieb jedoch neben seiner Tochter stehen. „Geh, und
schließ die Tür ab. Außerdem lassen wir die Rollläden runter.
Es könnten Steine fliegen.“
Das Mädchen beeilte sich, der Order ihres Vaters nachzu-
kommen. „Der Klan in Wiggins – in was für Zeiten leben wir ei-
gentlich?“
Erstaunt musterte ich den Mann. „Ist das kein gewohnter An-
blick hier unten im Süden?“
„Der Klan ist ein Phänomen“, erklärte mir Waterstone gedul-
dig. „Jeder kennt ihn, jeder weiß, dass er hier im Süden allge-
genwärtig ist. Aber seit Jahren hat ihn niemand gesehen. Die
Mitglieder treten kaum noch in ihren Kutten auf. Sie halten sich
aus der Öffentlichkeit fern so gut es geht. Gerade das macht
sie heute zu dem, was sie sind. Unsichtbar, allgegenwärtig
und subtil. Andere Gruppen stehen im Vordergrund. Metzger
zum Beispiel, mit seiner W.A.R17. Der Klan braucht das nicht.
17
White Aryan Resistance - Gegründet von Ex-Klan-Führer Tom
Metzger.

289
Hin und wieder brennen Kreuze oder Bürger werden zu Tode
erschreckt. Das reicht, um der Bevölkerung eines zu zeigen –
der Klan ist da, er wacht über euch, er kennt euch.“ Er trat
einen Schritt zurück und zitierte aus Mississippi Burning:
„Will his battle be lost by mixin' the races? We
want beautiful babies, not ones with brown faces.
Never, never, never, I say. For the Ku Klux Klan is
here to stay. Never, never, never, I say. Cos the
Ku Klux Klan is here to stay.“
„Ja, so ist es wohl. Never, never, never I say ...“ Ich biss in
das Fleisch. „Verdammt, das ist der beste Honig-Burger, den
ich je gegessen habe.“
„Wir wollen keine Nigger, keine Juden, keine Gleichheit. Die
weiße Rasse ist überlegen.“, drang es von draußen herein.
„Er reimt nicht“, erkannte Lori. „Kein guter Sprecher.“
„Dafür haben sie ein Megaphone“, gab ihr Vater zurück. Der
Rollladen fuhr automatisch hinab, ließ dabei jedoch noch ge-
nug Spielraum, so dass wir die Szene verfolgen konnten.
„Nieder mit dem Ku Klux Klan und den Mördern. Nieder mit
dem Ku Klux Klan und den Mördern. Nieder mit dem ...“
Die beiden Gruppen verfielen in einen Wettstreit, eine wollte
die andere an Lautstärke übertrumpfen. Dabei entstand ein
Geschrei, das niemand mehr verstehen konnte.
Die Kluxer kapierten es zuerst. Sie zogen sich zurück und
warteten ab. Einer von ihnen ging zum Kofferraum seines Wa-

290
gens und nahm eine Kiste hervor. Sofort eilten zwei Deputys
zu ihm, aber es war zu spät. Schon flogen die ersten Farbsä-
cke über die Köpfe der Gesetzeshüter hinweg in Richtung der
Schwarzen. Sie landeten vor den Füßen eines Mannes, der
sich etwas vor gewagt hatte, platzen auf und bespritzten ihn
mit weißer Flüssigkeit.
Für Sekunden breitete sich Stille aus. Die Schwarzen waren
fassungslos, die Kluxer hingegen erfreut über diesen kleinen
Sieg. „Wir helfen euch, weiß zu werden, ihr elenden Nigger“,
kreischte einer von ihnen schließlich.
Die Deputys waren inzwischen bei dem Farbwerfer und woll-
ten ihm die Wurfgeschosse abnehmen. Drei weitere Klan-Mit-
glieder eilten ihren Kameraden zur Hilfe, und plötzlich lagen
die Gesetzeshüter auf dem Boden.
Das war das Startsignal.
Wie von der Tarantel gestochen fielen die beiden Gruppen
übereinander her. Erst benutzten sie nur Hände und Füße,
doch irgendwann schrie ein junger Schwarzer auf und taumel-
te aus dem Pulk hervor. Aus seinem Bauch ragte der Griff ei-
nes Messers. Vor Coffeys Füßen brach er zusammen.
Schüsse fielen.
Unser erster Gedanke war gewesen, die Deputys seien zum
Äußersten übergegangen. Aber das stimmte nicht. Ein Kluxer
torkelte auf die Straße. Seine weiße Kutte wies nicht nur ein
Einschussloch auf, sondern färbte sich am Rücken auch rot.

291
Er brach ebenfalls zusammen. Dies war sicherlich nicht das
Werk der Gesetzeshüter. Offenbar hatte nicht nur der Klan mit
Gewalt gerechnet, sondern auch die andere Seite.
„Sie bringen sich gegenseitig um. Meine Güte, wie können
sich erwachsene Menschen nur so dämlich verhalten?“
Wasser spritzte durch die Luft. Coffey und seine Männer
hielten starke Wasserschläuche in den Händen und trennten
so die Parteien. Tatsächlich suchten die Gegner Schutz – je-
der in seinem Lager.
Mehrere Männer und auch zwei Frauen blieben allerdings
liegen. Aus der Ferne erklang bereits das Heulen eines Not-
arztwagens. Die Kluxer hetzten zu ihren Wagen, stiegen ein
und brausten davon. Die Schwarzen kümmerten sich hinge-
gen um ihre Gefallenen. Jene, die nicht damit beschäftigt wa-
ren, sammelten sich und stimmten einen lauten, dröhnenden
Gesang an. We shall overcome ... Kerzen wurden entzündet.
„Scheiße“, knurrte Waterstone. „Wenn die Killer erneut zu-
schlagen, brennt Wiggins. Dann bleibt hier kein Stein auf dem
anderen.“
Könnte sein. Randale mit dem Ergebnis, dass sich die Wei-
ßen und die Schwarzen noch mehr hassen, als sie es ohnehin
tun. Falls das möglich ist.
Ich aß den Burger schweigend. Lori und ihr Vater starrten
nach draußen. Die Verletzten wurden versorgt. Mehr geschah
nicht. Coffey versuchte nicht einmal, die Messerstecher und

292
die Schützen ausfindig zu machen. Eine weise Entscheidung
in dieser aufgeladenen Atmosphäre. Das Lied klang friedlich.
Aber im Grunde überdeckte es nur das Geräusch, das die
brennende Lunte verursachte.

Als ich das Diner verließ, standen für mich mehrere Dinge
fest. Niemals, wirklich niemals wieder in meinem Leben würde
ich einen Auftrag annehmen, bei dem Schwarze gegen Weiße,
Weiße gegen Schwarze oder Zebras gegeneinander antraten.
So viel zum ersten Punkt.
Der zweite betraf meinen Auftrag. Ich hatte beschlossen, ihn
dynamisch zu erweitern. Auch wenn mich Claire vermutlich
nicht dafür bezahlen würde, einen größenwahnsinnigen Pries-
ter der Söhne des Iz zur Strecke zu bringen, so konnte ich
doch nicht mit ruhigem Gewissen zusehen, wie er weiterhin
Menschen abschlachtete.
Ich wusste zwar noch nicht wie, wohl aber dass. Ich überleg-
te. Ein Einbruch in Bauers Haus, um mir die Figur zu schnap-
pen? Bauers Spießgesellen aufsuchen und ihnen Angst einja-
gen? Quatsch, wovor sollten sie sich fürchten? Wenn hier je-
mand Angst haben muss, dann bin ich es wohl.
Mir wurde klar, dass ich relativ hilflos war. Die Täter zu ermit-
teln wäre das eine gewesen. Aber sie – oder besser, er – hat-
ten sich mir bereits offenbart. Nur gab es keine Handhabe ge-
gen ihn. Selbst wenn wir einen Beweis für Bauers Täterschaft

293
gefunden hätten – welches Gericht hätte ihn verurteilen
sollen? Wegen dämonischer Umtriebe? Wenn, dann höchs-
tens auf Grundlage des Hexenhammers.
Seine beiden Kameraden waren schuldig, die drei Opfer ge-
tötet zu haben. Mit einem unfassbaren Sadismus. Eine Mord-
anklage mit anschließender Hinrichtung durch die Giftspritze
wäre ihnen gewiss gewesen. Nur gab es gegen sie ebenfalls
keine Beweise.
Auf dem Weg zu meiner Unterkunft rief ich Peter an. Er mel-
dete sich rasch. Aber bereits die Geräuschkulisse sagte mir,
dass er sich noch immer in Tony's Tonk befand.
„Hast du mit Bender gesprochen? Was macht Bauer?“
„Sitzt zu Hause rum. Er hat seine Ranch noch nicht verlas-
sen. Wenn, werden wir es erfahren. Keine Angst, ich schicke
dir eine SMS. Aber mit etwas Glück ist das bald alles hinfällig.“
„Denk dran“, mahnte ich, „wir sind die Guten. Keine Lynch-
justiz, keinen Vergeltung. Nicht, dass am Ende ihr in Parch-
man landet.“
„Aber nein. Wir würden doch niemals etwas tun, dass gegen
das Gesetz verstößt. Wir werden uns auch weiterhin ab-
schlachten lassen. Hör zu, Rebecca – hier und jetzt trennen
sich unsere Wege. Ich halte dich auf dem Laufenden, wenn
sich etwas bei Bauer tut. Aber ansonsten haben wir nichts
mehr miteinander zu schaffen. Ich hab ein paar Leuten von

294
dem Video und auch von Iz erzählt. Wir wissen, was zu tun
ist.“
„Mein Gott, dass kann doch nicht dein Ernst sein. Was soll
denn der Scheiß, Peter? Warum in aller Welt musste das
sein?“
„Weil es sonst keine andere Chance gibt, die Morde zu stop-
pen. Darum. Du bist weiß, dich betrifft es nicht. Mich schon.
Wir werden dem Treiben Einhalt gebieten. Manchmal muss
man Feuer mit Feuer bekämpfen.“
„Wie du meinst. Ich werde dann zusehen, wenn sie dir die
Giftspritze in die Vene jagen. Soll ja recht human sein, wie
man mir sagte.“
„Du kannst mich mal.“
Er legte auf.
Du mich auch, blöder Idiot. Ich habe jedenfalls deinen Wa-
gen, und den nutze ich auch. Kannst dich ja von deinen Mit-
verschwörern chauffieren lassen.
Vor der Townhall sangen die Schwarzen noch immer. Je-
mand hatte drei Kränze gebracht. Zur Beerdigung würden
noch bedeutend mehr von ihnen kommen; dessen war ich mir
sicher. So wie ich mir sicher war, dass der Klan längst nicht
aufgegeben hatte. Er würde zurückkehren. Mit noch mehr Ge-
spensterkapuzen, um während der Trauer-Zeremonie einen
Freudentanz abzuhalten. Das wird ein Fest.

295
Unterwegs schaute ich beim Krämer vorbei, um etwas Was-
ser zu kaufen. Er zeigte sich zugeknöpft wie bei meinem ers-
ten Besuch, verlieh jedoch seiner Abscheu über den Auf-
marsch der Schwarzen Ausdruck.
„Zum Glück hat es auch ein paar hirnlose Kluxer erwischt“,
replizierte ich. Ab diesem Moment hasste er mich.

296
Kapitel 20

20. Dezember 2005, 23:45/ Wiggins (Mississippi)

Gegen Mitternacht wurde ich unsanft durch das laute Krei-


schen meiner Wirtin geweckt. Vor meiner Zimmertür schrie die
Vettel, ich solle mir die verdammte Scheiße ansehen, die ich
ihr eingebrockt habe. Rauch drang durch das nur angelehnte
Fenster in mein Zimmer ein.
Müde, aber dennoch neugierig folgte ich ihrer Aufforderung.
Vor der Pension direkt vor meinem Fenster erhellte das Fla-
ckern eines brennenden Kreuzes die Nacht. Knisternde Flam-
men hüllten das mit Benzin übergossene Holz ein. Es leuchte-
te wie ein Fanal in der Dunkelheit. Hinter ihm, angestrahlt von
den Flammen, standen acht vermummte Gestalten und starr-
ten zu mir hinauf.
Auch Schaulustige waren aus ihren Häusern gekommen, um
sich das Spektakel anzusehen.
Ohne sonderliche Hast zog ich mich an und verließ das Zim-
mer. Meine Wirtin wartete schon auf mich.
„Ich hoffe, Sie sind zufrieden. Nun haben Sie mir den Klan
auf den Hals gehetzt. Sie ziehen morgen aus, verstanden?“

297
„Lecken Sie mich am Arsch, Sie blöde Kuh. Als hätte ich
nicht schon genug Probleme. Wenn Sie auch noch Ärger ma-
chen, hetze ich Ihnen die Steuerfahndung auf den Hals. Der
Chef der Finanzbehörde in Jackson ist mein Schwager“, log
ich. „Und ob das Haus hier als Hotel dienen darf, ist auch frag-
lich. Bei all dem Dreck und dem fehlenden Komfort. Mal die
Hotelaufsicht anrufen und mich beschweren.“
Sie schnappte nach Luft. „Das stimmt doch gar nicht“, brach-
te sie hervor. „Ihr Schwager ist nie und nimmer bei der Steu-
er.“ Es klang kläglich.
„Versuchen Sie es, und ich garantiere Ihnen mehr Ärger, als
Sie verdauen können.“
Inzwischen lag der erste Stock hinter uns und wir traten vor
die Tür. Kaum sahen mich die Kluxer, brachen sie in Sprech-
gesang aus. Wir wollen keine Nigger und Juden. Verschwinde,
ehe wir dich verbrennen. Wir wollen keine Nigger und Juden.
Verschwinde, ehe wir dich verbrennen. Wir wollen keine Nig-
ger und Juden ...
Ohne mich beeindrucken zu lassen, ging ich auf sie zu. Eine
Reaktion, mit der sie nicht gerechnet hatten. Einige wichen zu-
rück, die anderen schrien lauter. „Da kommt der dreckige Yid.“
und „Hacken-Nase, verschwinde aus Wiggins.“ waren nur eini-
ge der Sprüche, die sie mir entgegen schleuderten.
Den, der am lautesten brüllte, nahm ich aufs Korn. Ein bulli-
ger Mann, gut eins-neunzig groß. Dennoch wich auch er zu-

298
rück. Meine Hand lag bereits locker auf dem Griff der Pistole.
Sollte auch nur einer zucken, würde er eine unjüdische Kugel
in seinen hohlen Schädel bekommen.
Aber dies geschah nicht. Die Kluxer traten den Rückzug an.
Offenbar wollten sie es noch nicht zu einer Konfrontation kom-
men lassen. Oder sie scheuten davor zurück, eine Frau zu
schlagen. Schade – es hätte mir gefallen, den ein oder ande-
ren als Punchingball benutzen zu können. Meine Wut war un-
ermesslich, meine Fäuste und Füße wollten sich dringend in
ein paar Gesichter bohren.
„Was ist, ihr hirn- und schwanzlosen Wichser?“, brüllte ich
ihnen zu. „Zeigt eure Visagen, damit jeder sehen kann, wer
sich unter dem Stoff verbirgt. Oder seid ihr zu feige, euch zu
offenbaren? Ist es leichter, anonym Kreuze zu verbrennen?
Kommt schon, ihr Pisser. Denkt ihr, das würde mir Angst ma-
chen? Wenn, dann habt ihr euch geirrt. Ich war Cop in New
York City. Dort laufen ganz andere Freaks rum. Ein paar arm-
selige Rassisten ohne Verstand sind da gar nichts. Ihr habt
mehr Masse auf euren Köpfen, als darin.“
„Noch ein Wort, und ich stopfe dir das Maul, Judenschlampe.
Dann siehst du, wer kein Hirn hat.“
„Mit was willst du es mir stopfen? Mit deiner großen Fresse?
Du kleines, mieses Stück Scheiße?“

299
Einer – jener, der zuletzt gesprochen hatte – trat vor. Er griff
unter seinen Kittel und zog eine Eisenstange hervor. „Damit,
Judenfotze.“
„Oh, ich bin beeindruckt“, höhnte ich, zog meine Pistole und
richtete sie auf ihn. „Und jetzt? Was machst du jetzt, du Spin-
ner?“
Er wich zurück und hob die Hände. Noch hielt er die Eisen-
stange. Auch seine Kameraden kapierten, dass ich es ver-
dammt ernst meinte. „Wolltest du mir nicht das Maul stopfen?
Wie denn? Wo denn? Mit was denn?“
Sie hetzten zu ihren Wagen, während ich stehen blieb und
ein bisschen mit der noch gesicherten Waffe fuchtelte. Fünf
von ihnen verschwanden, nur drei blieben noch zurück; darun-
ter Mister Eisenstange.
Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall.
Die Bewegung hinter mir nahm ich nur noch am Rande
wahr. Etwas traf meinen Hinterkopf, Sterne zerplatzten vor
meinen Augen und mit einem Mal lag ich auf dem Boden. Der
Hieb hatte mich paralysiert. Mein Bewusstsein war noch da,
mein Körper verweigerte mir allerdings den Gehorsam. Un-
deutlich sah ich, dass drei der Männer zurückkamen. Sie grif-
fen nach mir, hoben mich in die Höhe und lachten dabei bos-
haft. Jetzt bist du reif, Judenfotze.

300
Aus den Augenwinkeln nahm ich eine Gestalt war. Es war
meine Wirtin und sie trug eine Pfanne. Du elendes Miststück.
Du warst es also, die mich niedergeschlagen hat.
Die Kluxer schleppten mich zu einem Pick-up und warfen
mich auf die Ladefläche. Der Aufprall erschütterte mich bis ins
Mark. Es stank nach Öl und Benzin. Schmieriger Dreck legte
sich auf meine Wange.
„Wir dürfen sie nicht umbringen!“, hörte ich einen rufen.
„Sonst kommen noch mehr von denen aus New York. Oder wir
haben das FBI hier unten.“
„Keine Sorge. Ich zeig ihr, wer hier schwanzlos ist. Anschlie-
ßend kriecht sie aus Wiggins.“
Türen wurden geschlossen, die Fahrt begann. Panik brande-
te in mir auf. Wenn es mir nicht gelang, wieder zu mir zu kom-
men, sah es ganz, ganz übel aus.
Bewege dich, Becca. Komm schon, bewege dich. Du musst
zu dir kommen.
Wir verließen die Stadt. Ich konnte sehen, dass die Häuser
zurückblieben. Wie weit werden sie fahren? Eine Meile? Zwei?
Als meine Finger zuckten, war dies bereits ein Erfolg. Kurz
darauf ließen sich auch meine Füße wieder ein wenig bewe-
gen. Zu meinem Glück war die Wirtin offenbar keinen trainierte
Schlägerin. Sonst hätte sie meinen Kopf anders erwischt.

301
Der Wagen legte sich mit Schwung in eine Kurve. Ich rutsch-
te über die Ladefläche. Werkzeug schlitterte neben meinem
Kopf gegen die Seitenwand. Ein Hammer und ein Spaten.
Noch immer fuhren wir. Allerdings holperte es nun. Also wa-
ren wir von der Straße runter.
So gut es ging, arbeitete ich an mir weiter. Die Finger bewe-
gen, die Arme, die Beine.
Es ging. Zwar träge und ungelenk, aber die Beweglichkeit
kehrte zu mir zurück. Es gelang mir, den Hammer unter das
Oberteil zu schieben und mittels Gürtel festzuklemmen. Meine
Pistole lag wahlweise vor dem Hotel oder war von der Wirtin
aufgehoben worden; das wusste ich nicht. Der Hammer war
daher die einzige Waffe, falls es hart auf hart kommen würde.
Wie konnte dir das nur passieren, Becca? Bist doch keine
blutige Anfängerin mehr. Aber nein, es sind ja nur ein paar
hirnlose Rassisten. Die sind alle nicht so schlau und gut wie
du. Zum Teufel mit mir und meiner Arroganz. Zur Hölle auch
mit meiner Unvorsichtigkeit!
Wieder nahm der Fahrer eine Kurve. Noch einmal holperte
es stärker, dann hielt der Pick-up.
Jetzt wird es ernst.
Türen wurden aufgestoßen. Auch die Klappe der Ladefläche
kippte weg. Hände griffen nach mir. Sie zerrten mich hinunter
und warfen mich einfach zu Boden. Abermals war es der
Großmäulige, der das Kommando führte. Er zog seine Mütze

302
aus und grinste mich boshaft an. „Jetzt bist du reif, Juden-
Schlampe. Du hast mich schwanzlos genannt? Ich werde dir
meinen Schwanz so tief reinschieben, dass du ihn niemals
wieder vergisst. Freu dich auf ihn.“
Seine Kumpel lachten. Bier zischte, als ein paar Dosen ge-
öffnet wurden. Ein paar Tropfen trafen mich.
„Und dann, wenn ich dich so richtig gefickt habe, kommt der
zweite Teil. Anschließend kriechst du wie ein Wurm aus der
Stadt und hoffst, niemals wieder an uns denken zu müssen.“
Er trat nach mir. Nicht reagieren. Tu so, als wärst du noch
immer weggetreten.
„Los, wir ziehen ihr die Hose aus. Mal sehen, wie die
Schlampe aussieht.“
Zwei Männer machten sich an mir zu schaffen. Sie rissen an
meiner Jeans, um sie so rasch wie möglich nach unten strei-
fen zu können. Wenn sie mich festhielten, während mich die-
ser Penner bestieg, sah es übel aus. Aber weder taten sie
dies, noch entdeckten sie den Hammer, der unter meinem
Rücken lag. Das Glück war mir in diesem Moment hold, denn
mein Körpergewicht und eine Erdscholle hielten ihn.
Wir befanden uns auf einem Feld. Am Rand wuchsen ein
paar Bäume, die Erde unter mir war gepflügt worden. Wind
strich über uns hinweg, über mir funkelten die Sterne.
„Schau nur, die Jüdin rasiert sich ihre Möse. Dürfen die
das?“

303
„Keine Ahnung. Ist mir auch egal.“ Der Mann kniete sich vor
mir nieder. Seine Finger strichen über meine Beine hinweg. Er
schaute tückisch, gleichzeitig aber auch gierig. „Haltet euch
bereit, falls sie zu zappeln beginnt.“
„Los, nagele sie schon“, rief einer seiner Kumpels. „Vielleicht
wartet sie nur drauf, endlich von einem echten Mann genom-
men zu werden. Ist sie feucht, Chucky?“
Zwei Finger strichen über meine Schnecke. „Keine Ahnung.
Ein bisschen vielleicht. Schütte mal was von dem Bier drauf.
Nicht, dass ich noch heiß laufe.“ Sie lachten, während es kalt
auf meinem Unterleib wurde. Abermals griffen die Hände zu,
spreizten meine Beine und hielten sie. „Schau her, Jüdin.
Und? Wer ist hier schwanzlos? Schau dir das Gerät gut an.
Nicht mal die Nigger haben so ein Prachtstück. Ich werde es
dir erst in deine Schammfotze schieben und dir dann in den
Rachen stecken. Vielleicht ersäufst du an meinem Saft.“
Er rückte mich in Position. Weder ihm noch seinen beiden
Kameraden fiel auf, dass meine Hand dabei unter den Rücken
rutschte und dort den Griff des Hammers umfasste.
Sein Becken stieß vor. Hart, viel zu hart drang er in mich ein.
Jubel, lautes Lachen und ein zufriedenes Knurren schallten
mir entgegen. „Und? Wie bin ich?“
„Lausig, wie nicht anders zu erwarten.“
Er starrte mich an. Sein Blick war glasig. Offenbar hatten sie
schon während der Fahrt ein paar Dosen geleert.

304
Der Kluxer stierte noch, als ich mich zur Seite warf, den
Hammer schwang und ihn mit der flachen Seite gegen seinen
Kopf krachen ließ.
Blut spritzte.
Röchelnd kippte er zur Seite. Seine Kumpels fluchten. Eine
Bierdose flog in meine Richtung und traf mich am Kopf. Doch
noch ehe sie nachsetzen konnten, hatte ich mich bereits zur
Seite gedreht und ließ den Hammer erneut sprechen. Mit
Wucht hieb diesmal das spitze Ende in die Wade eines der
Männer. Er schrie gellend auf und kippte nach hinten.
Neben mir sauste etwas nieder. Gerade noch rechtzeitig
kam ich weg. Ein Spatenblatt war es. Ein Treffer, und es konn-
te mich den Kopf kosten.
Mein Problem war die Hose. Sie hing auf den Knöcheln, so
dass ich nicht aufspringen konnte. Darum blieb mir nichts an-
deres übrig, als sie von mir zu strampeln.
Es war sicherlich ein seltsamer Anblick, der sich meinen
Gegner bot. Obenrum ein Shirt, untenrum dagegen vollkom-
men nackt. Er glotzte mir zwischen die Beine, schwang dabei
allerdings auch den Spaten.
Dabei ging er geschickt vor. Gerade, als ich angreifen wollte,
bekam er das Blatt hoch und ließ es seitlich gegen meinen
Kopf knallen. Mein Auge wurde in Mitleidenschaft gezogen,
die Wucht schleuderte mich zurück. Abermals lag ich auf dem
Boden.

305
Sofort setzte der Kluxer nach. Er benutzte das Werkzeug wie
ein Schwert. Aber ich schaffe es, den Hieb zu unterrollen.
Noch ehe er es verhindern konnte, schlug ich mit dem Ham-
mer zu. Ein hohles Jaulen erklang, als sich das Metall in seine
Hoden wühlte. Er kippte vorn über und übergab sich.
Nun erst stand ich auf und schaute mich um. Alle drei Män-
ner lagen auf dem Boden und wimmerten. Mein Vergewaltiger
schien kaum bei Besinnung. Blut lief aus einer üblen Kopfwun-
de.
Jener, den es an der Wade erwischt hatte, hielt sich heulend
das Bein. Der Dritte kotzte noch immer.
Dennoch konnte ich es mir nicht verkneifen, meinen Verge-
waltiger noch einmal zu treten – diesmal in den ach so großen
Schwanz. Obwohl dieser schrumpelig und klein zwischen den
Beinen des Kluxers hing. Er stöhnte nur auf und krümmte sich
wie ein Wurm.
Ich zog auch den anderen ihre Kappen ab. Keiner von ihnen
kam mir bekannt vor.
„Pisser. Hirnlose Pisser, das seid ihr!“ Sie blieben zurück,
während ich mich anzog und dann auf den Weg machte. Kurz
kam mir der Pickup in den Sinn, doch ich ließ ihn stehen. Am
Ende hätten sie mir auch noch Autodiebstahl angehängt. Den
Hammer nahm ich allerdings mit; sicherheitshalber, trotz der
Gefahr des Hammerdiebstahls. Vor allem, da ich noch eine
Rechnung zu begleichen hatte. Meine Wirtin, dieses verschla-

306
gene Miststück, musste noch ihren gerechten Lohn erhalten.
Wobei es mein Glück ist, dass ihr keine gedungenen Schläger
wart, sondern einfach nur ein paar Typen mit Geisterkutten.
Sonst hätte mein Fehler fatal enden können. Die Tatsache,
dass sie mich mich zu einem Drittel bereits vergewaltigt hat-
ten, verdrängte ich. Der richtige Moment zur Gegenwehr war
nach seinem Eindringen gekommen. Mehr nicht.

An das Feld schloss sich die Straße an. Nach links führte sie
in Richtung Wiggins, dessen Lichter in der Ferne zu sehen wa-
ren. Auf der anderen Seite ging es jedoch in einen Wald. Nor-
malerweise hätte ich ihn gemieden, doch auch von dort waren
Geräusche zu vernehmen. Lichter blitzten zwischen den Bäu-
men auf. Das konnte ein Camp für Pfadfinder aus dem County
sein. Oder Jäger hatten sich dort niedergelassen. Aber auch
andere Szenarien fielen mir ein. Etwa Bauer und seine Söhne.
Meine Neugier überwog über meine Vernunft. Meine einzige
Waffe war ein Hammer, ich hatte keine Taschenlampe dabei
und meine Hose ließ sich nicht mehr richtig schließen. Nichts
sprach dafür, hier eine nächtliche Untersuchung seltsamer
Lichter in einem Wald zu starten. Eher das Gegenteil war der
Fall.
Dennoch folgte ich dem schmalen Pfad, verließ ihn dann
aber, da das Flackern eines Feuers seitlich hinter einem ho-

307
hen Gestrüpp zu sehen war. Ein paar Äste waren mir im Weg,
ließen sich aber beiseite schieben.
Dahinter kam eine Lichtung zum Vorschein. Das Mondlicht
fiel auf sie, ein großes Feuer flackerte in der Mitte.
Gut zwanzig Schwarze befanden sich auf dem freien Platz,
aber auch zwei Mulatten. Obwohl hier in der Gegend die Ein-
tropfenregel18 sicherlich noch regen Zulauf hat.
Die Männer und Frauen waren so gut wie nackt. Sie trugen
lediglich Slips, hatten aber ihre Haut mit weißer Farbe bemalt.
Einer der Mulatten rührte eine Trommel, während die zweite
Person – eine Frau – einen sich steigernden Singsang aus-
stieß. Dabei hielt sie ein noch ein lebendes Huhn im Arm.
Vor ihr stand eine Kiste. Auf den ersten Blick war es ein
ganz normaler Holzkasten. Doch bei genauerem Hinsehen be-
merkte ich, dass jemand in ihm lag. Ein Sarg, schoss es mir
durch den Kopf. Meine Güte, die haben eine Leiche ausge-
buddelt.
Anders als die Umsitzenden war der Mensch darin nicht
schwarz. Seine Haut schimmerte hell und weiß.

18
In den USA seit den 1930er Jahren verbreitete Sichtweise, einen
Menschen mit nur einem Tropfen schwarzen Blutes zu den
Schwarzen zu zählen. Seit den 1980er Jahren zunehmend hinfäl-
lig, da die rassistische Denkweise hinter der Regel mehr und
mehr verschwand.

308
Die Frau hüpfte zwischen dem Feuer und dem Sarg herum.
Dabei stieß sie für mich unverständliche Worte aus. Was soll
dieser Mist?
Die meisten der Anwesenden drehten mir den Rücken zu.
Doch dann, als ich schon glaubte, niemanden von ihnen zu
kennen, sah ich Tony und Peter. Sie hockten nebeneinander
und starrten zu der Tanzenden. Also ist es wirklich das, wovon
heute die Rede war. Fast müsste ich den Kluxern dankbar
sein.
Ein dritter Mulatte erschien. Er hatte bisher hinter einem
Feuer ausgeharrt und sich so meinem Blick entzogen. Doch
nun trat er auf, und mit einem Schlag begriff ich.
Voodoo.
Mein Herz schlug drei Takte schneller. Alles, was ich über
diese Religion wusste, stammte aus Zombie-Filmen und ein
paar Horror-Büchern populärer Autoren. Ein solches Ritual live
zu sehen, war mir – wie wohl den meisten Menschen – noch
nie vergönnt gewesen.
Was haben die vor? Wollen sie Feuer mit Feuer bekämpfen;
sprich – Magie mit Magie? Das ist doch vollkommen widersin-
nig.
Der dritte Mulatte war eine imposante Figur. Er trug einen
schwarzen Zylinder, weiße Handschuhe und einen Frack. Zu-
dem trug er seltsame Zeichen auf seiner Stirn; allen voran

309
eine Schlange. Er lachte laut auf, während er sich der Tanzen-
den näherte. Diese war wohl die Voodoo-Priesterin.
Für einen Moment herrschte Ruhe. Selbst die Trommeln
schwiegen. Doch dann hallte ihr Klang dumpf und fordernd
durch die Nacht. Die restlichen Mitglieder des Rituals spran-
gen auf und begannen, ekstatisch zu tanzen. Sie warfen ihre
Hände in die Höhe, zuckten und schwankten. Die Priesterin
hielt das noch immer zappelnde Huhn in die Höhe. Der be-
frackte reichte ihr ein Messer, ein Schnitt – und das Huhn ver-
lor seinen Kopf. Blut spritzte. Es traf die Frau – laut meines
Wissens Mambo genannt. Vor allem aber lief es in den Sarg.
Die helle Haut des Toten färbte sich rot. Noch zuckte der
Leib des Tieres, aber bald war es vorbei. Achtlos warf die
Priesterin den Kadaver zur Seite. Sie bückte sich, hob einen
Beutel auf, den ich bis zu diesem Moment nicht einmal gese-
hen hatte, und löste einen Bändel, der ihn verschloss. An-
schließend verteilte sie dessen Inhalt, ein feines, weißes Pul-
ver, über den Toten. Währenddessen zuckten und tanzten die
anderem zum Klang der Musik. Die Mambo stieß für mich un-
verständliche Worte aus, jener mit Zylinder lachte boshaft. Die
Trommeln dröhnten ohne Unterlass. Zwei der Tanzenden fie-
len um und begannen, konvulsivisch zu zucken. Aber sie wa-
ren nicht die Einzigen.
Noch jemand zuckte zu meinem Entsetzen.
Der Tote.

310
Erhebe dich! Erhebe dich! Wieder und wieder war dieser
eine Befehl zu hören.
Und der Weiße aus der Kiste befolgte ihn. Langsam, mit ab-
gehakten Bewegungen, stemmte er sich in die Höhe. Im zu-
ckenden Schein des Feuers leuchtete seine Haut rot. Er
schaute sich um. Seine Augen waren erschreckend leer. Wirre
Haare klebten nass auf seinem Kopf, ein Bart umwucherte das
Gesicht. Er trug keine Kleidung. Nackt, mit schlaffem, bau-
melndem Penis, bewegte er sich aus seiner Kiste heraus.
„Du bist unter meiner Kontrolle“, ließ ihn die Mambo wissen.
„Du bist mein Sklave, bis dein Fleisch von den Knochen fällt.
Deine Seele ist in meiner Hand. Folge meinem Befehl.“
Der Weiße tat nichts, als abgehakt zu nicken. Sein Kopf pen-
delte vor und zurück. Peter brach inzwischen ebenfalls zusam-
men und begann, unkontrolliert zu zuckend. Schaum trat vor
seinen Mund. Dann richtete er sich auf und stieß einen schril-
len Schrei aus. „Ich bin Papa Nebo, der Wächter der Toten. Es
ist Zeit, Rache zu nehmen.“ Seine Stimme hatte sich verän-
dert. Sie war tiefer geworden, kehliger.
Aber sicher ist es das. Ganz bestimmt. Du bist Papa Nebo
und ich bin Cinderella. Was für ein Mist.
Weitere Teilnehmer des Rituals kippten um, brabbelten, sie
seien Papa Nebo und zuckten. Das ganze entwickelte sich zu
einer Massenhysterie, wie mir schien. Einzig die drei Mulatten

311
blieben davon verschont. Und auch der Weiße. War er wirklich
tot? Oder läuft hier irgendein Mist?
Die Priesterin griff in die Kiste und entnahm ihr eine Plastik-
tüte. Darin befand sich Kleidung, aber auch ein Lappen. Mit
ihm reinigte sie den Mann notdürftig, ehe sie ihm die Order
gab, sich anzuziehen. Mit trägen, unbeholfenen Bewegungen
kam er dieser Aufforderung nach. Noch immer wirkte sein
Blick leer. Zumindest, soweit ich dies sagen konnte.
Die Trommeln kamen zur Ruhe, und mit ihnen die Zucken-
den. Das Ritual war offenbar zu Ende.
Selbst Peter schien sich auf seine wahre Identität zu besin-
nen, denn er sprach wieder mit seiner normalen Stimme. „Und
nun?“
„Nun wird unser Zombie das tun, was ihm unsere Mambo
hier sagt“, erklärte der Wirt vom Tony's Tonk. „So, wie zuvor
besprochen. Wir waren doch alle damit einverstanden. Nicht
wahr?“
Zustimmendes Gemurmel erklang. Viele griffen nach ihren
Kleidern. Zeit, zu verschwinden. Auch wenn mich brennend in-
teressiert hätte, was genau sie von dem Zombie wollten. Aber
die Chance, dies noch in der Nacht zu erfahren, stand
schlecht.
Darum huschte ich davon und lief so leise wie möglich zum
Weg zurück. Mir stand noch ein Spaziergang bevor. Aber die
Aussicht auf etwas Rache ließ die Distanz schrumpfen. Eine

312
Rache, die nie vollzogen wurde. Als ich ins Hotel zurückkehr-
te, schlief meine Wirtin. Zudem lag meine Pistole auf dem
Tisch; nicht eine Patrone fehlte.
Und am nächsten Morgen taten wir beide, als sei nichts ge-
schehen. Im Licht eines neuen Tages sieht manches anders
aus, als noch in der Finsternis der Nacht.

313
Kapitel 21

21. Dezember 2005, 09:20/ Wiggins (Mississippi)

Die Bank war nicht besonders groß. Dennoch verfügte sie


über zwei Geldautomaten, einen Drucker für Kontoauszüge
sowie ein Terminal für alle anderen Bankgeschäfte. Doch kein
einziger Kunde stand davor, um seine Angelegenheiten zu er-
ledigen. Sie alle warteten in einer ordentlichen Doppelschlan-
ge vor dem Schalter, um sich persönlich bedienen zu lassen.
Dabei fiel mir auf, dass alle Weißen links standen, die Schwar-
zen (deren Schlange bedeutend kürzer war) rechts.
Service und Kasse waren getrennt, hinter ein paar großen
Pflanzen hockten die Sachbearbeiter sowie der Leiter der
Bank – Steve Bekker. Er trug einen grauen Zwirn. Sein schüt-
teres Haar war so gekämmt, dass es die kahlen Stellen auf
seinem Schädel notdürftig verdeckte. Damit bewies er Eitel-
keit, die zudem lächerlich wirkte. Bekker gehörte wohl zu den
Anwärtern auf ein Toupet; Menschen, die sich ihren Haaraus-
fall einfach nicht eingestehen können. Okay, da er vermögend
war, kam auch eine Transplantation in Frage.
Das Gemurmel der Wartenden bildete eine sonore Ge-
räuschkulisse, von der sich einzelne Laute abhoben. Etwa ein

314
Drucker, der ratternd Zahlen auf das Papier druckte. Oder die
Maschine hinter der Kasse, die das Geld aus dem Tresor ab-
gezählt in ein Ausgabefach schob. Das Betteln eines Mannes
nach einer Erweiterung des Kredits sowie die verneinende
Antwort des Sachbearbeiters. Sie sind bereits mit zwei Raten
im Rückstand. Wie sollen wir unter diesen Voraussetzungen
noch einmal 5000 Dollar gewähren?
Es war ein ganz normaler Tag in einer kleinen, amerikani-
schen Bank. Aufgenommen von den großen, überdeutlich zu
sehenden Überwachungskameras, die jeden Winkel des Kun-
denraums im Blick hatten.
Sie zeichneten auch auf, was sich etwa zehn Minuten nach
meinem Eintreffen ereignete.
Mein Plan war es ursprünglich gewesen, mir Bekker aus der
Nähe anzuschauen. Seine Haarpracht ließ darauf schließen,
dass er der Mann mit Ledertasche gewesen war; der Folter-
knecht. Aber das Aussehen seines Schopfs war sicherlich kein
Beweis. Allerdings bestand durchaus die Chance, ihn aus der
Reserve zu locken. Diese Leute waren schließlich keine Be-
rufsverbrecher, die abgebrüht mit den Cops und anderen Er-
mittlern sprachen. Es waren Menschen aus dem Süden, die
sich einer fixen Idee verschrieben und dabei viel zu weit ge-
gangen waren. Setzte man sie unter Druck, gaben sie vermut-
lich nach. Bauer selbst besaß zu viel Macht, als dass er sich
von mir hätte einschüchtern lassen. Aber wie sah es mit sei-

315
nen Kameraden aus, die mehr oder weniger von ihm abhängig
waren? Die Morde mussten gestoppt, die Figur des Iz mög-
lichst zerstört werden. Sofern dies noch möglich war.
Aber all meine Überlegungen wurden erst einmal hinfällig,
als eine seltsam gekleidete Gestalt die Bank betrat. Ein Wei-
ßer, der in einer viel zu kurzen Hose und einem zu engen Shirt
steckte. Sein Haar lag fettig und verklebt auf seinem Kopf,
Schuhe trug er keine und sein Blick war so leer, als sei in sei-
nem Oberstübchen niemand zu hause. Er bewegte sich selt-
sam abgehakt. Sein Kopf pendelte hin und her, während er
sich umschaute. Warum auch immer – aber es dauerte einen
Moment, ehe ich begriff. Der Zombie, schoss es mir durch den
Kopf. Doch als der Dime endlich gefallen war, hatte die Situati-
on bereits eine merkwürdige Eigendynamik entwickelt.
Zum einen waren da die Besucher der Bank, die den An-
kömmling natürlich bemerkt hatten und nun begannen, mit den
Fingern auf ihn zu zeigen. Manche lachten, andere hielten
Empörung für die angemessene Reaktion. Wieder andere be-
mühten sich, ihn zu ignorieren.
Auch das Personal der Bank war längst auf ihn aufmerksam
geworden. Umso mehr, als dass er zwischen den Pflanzen
hindurch auf Bekker zuhielt. Seine rechte Hand schob er in die
Tasche. Als er sie wieder hervor zog, hielt er einen Beutel.
Auch ich reagierte, zog meine Pistole und schob mich an
zwei Passanten vorbei. „Stopp“, donnerte meine Stimme durch

316
die Bank. „Stehen bleiben und die Hände hinter den Kopf. Sie
sind ...“
Ein Schwarzer warf sich aus der Schlange heraus gegen
mich. Er überraschte mich mit dieser Aktion derart, dass ich zu
Boden stürzte. Tumult brach aus. Im Liegen sah ich, dass der
Zombie den Beutel öffnet, ihn zusammendrückte und damit
gelbliches Pulver über Bekker verstäubte. Es traf sein Gesicht,
so dass seine Augen, Mund und Nase plötzlich von dem Zeug
bedeckt waren.
Bekker sprang laut kreischend auf. Panisch wischte er sich
über das Gesicht. Der Zombie hingegen drehte sich um und
nahm nun mich ins Visier.
War der Beutel leer? Oder befand sich noch etwas von dem
Pulver in ihm?
Ängstlich robbte ich zurück, während Bekker nach vorne tor-
kelte und vor dem Kassenbereich zusammenbrach. Blutiger
Schaum lief aus seinem Mund. Die inzwischen wieder freige-
rubbelten Augen glotzten tot zur Decke.
Der Zombie kam auf mich zu. Die Besucher stürmten schrei-
end aus der Bank, das Personal verkroch sich. Die Alarmanla-
ge schlug an. Einzig der Schwarze, der sich gegen mich ge-
worfen hatte, blieb noch. Er schaute mich teilnahmslos an.
„Stopp, oder ich mache von der Schusswaffe Gebrauch!“
Der Zombie reagierte nicht. Er stakste näher, senkte die
Hand und richtete den Beutel auf mich.

317
Das reicht dann wohl. Der Schuss fiel. Laut, überlaut hallte
er zwischen den Mauern des Kundenraums wider. Ein er-
schrockener Schrei erklang aus dem Kassenbereich.
Mein Gegner stand jedoch nicht mehr auf seinen Füßen. Die
Wucht der Kugel hatte ihn nicht nur zu Boden geschleudert,
sondern ihn auch getötet. Ein hässliches Loch klaffte in seiner
Brust. Unter ihm lief Blut hervor. In Filmen spritzt der Lebens-
saft stets aus der Einschussöffnung. In Wahrheit ist diese je-
doch je nach Kaliber eher klein. Schlimmer sind die Austritt-
wunden. Dort blutet es auch. Aber das lässt sich in einem
Thriller nicht effektvoll darstellen.
Als ich mich umschaute, war auch der Schwarze weg. Dafür
stürmten Coffey und seine Leute die Bank.
„Cohen, was soll diese Scheiße“, brüllte mich der Sheriff an.
Mühsam kam ich auf die Beine.
„Dieser Mann hier kam rein, ging zu Bekker und besprühte
ihn mit einem seltsamen Pulver. Anschließend ging er damit
auf mich los. Da es sich bei dem Zeug offensichtlich um Gift
handelte und Bekker bereits krepiert war, musste ich mich ver-
teidigen. Das werden Ihnen die Leute hinter den Schaltern be-
stimmt bestätigen.“
„Schon gut, schon gut. Der Anrufer faselte etwas davon.
Wissen Sie, wer das ist?“
„Keine Ahnung. Dachte, Sie könnten mir das sagen. Immer-
hin bin ich fremd hier. Vielleicht einer, dessen Kredit abgelehnt

318
wurde?“ Scheiße, ich weiß ganz genau, was hier gespielt wird.
Aber das sage ich dir nicht. Sonst gibt es Krieg im County, und
das muss verhindert werden.
„Seiner Kleidung nach ja. Aber dann müsste ihn ja jemand
kennen. Mal die Fingerabdrücke nehmen. Ich brauche ihre
Aussage schriftlich, Cohen. Sie kennen das ja. Kommen Sie
später in mein Büro, damit wir das klären können.“
Damit war ich entlassen. Coffey wies seine Leute an, weder
den Beutel noch Bekker mit bloßen Händen anzufassen. Au-
ßerdem gab er die Order, eine Probe des Pulvers zur Analyse
zu schicken.

„Der Mann ist tot!“, polterte Coffey, kaum dass ich das Aqua-
rium gut zwei Stunden später betreten hatte. Zuvor hatte ich
mir einen Honig-Burger im Diner gegönnt und dort mit Lori und
ihrem Vater gesprochen, den einzigen Menschen hier, die
mich nicht zu hassen schienen. Natürlich war der geglückte
Terroranschlag auf Bekker auch dort in aller Munde gewesen.
Da ein Weißer einen Weißen ermordet hatte, schieden die
Schwarzen als Täter aus. Ergo musste etwas Geschäftliches
dahinter stecken. Giftiges Pulver – der Geist von Al Quaida
schwebte kurz über Wiggins. Aber wie ein Araber hatte der
Täter auch nicht ausgesehen. Darum verwehte er wieder.
„Ja, ich weiß. Ich habe ihn ja erschossen.“ Seine laute Stim-
me und das Flackern in seinen Augen erstaunte mich.

319
„Das meine ich nicht.“ Dabei fuchtelte der Sheriff mit einem
Ausdruck durch die Luft. „Claude Chevalier, zuletzt wohnhaft
in Miami – Florida. Er ist seit zwei Wochen tot, begraben und
von seinen Hinterbliebenen betrauter. Verstehen Sie? Fiel ein-
fach eines Tages um und regte sich nicht mehr. Herzinfarkt,
und das mit 49. Er wurde untersucht, ein Arzt in einem Kran-
kenhaus in Miami stellte den Totenschein aus und seine Ehe-
frau ließ ihn bestatten. Und nun liegt er wieder in einem Lei-
chenschauhaus. In unserem. Das ist doch verrückt.“
Ein Zombie ist ein Zombie, weil er von den Toten aufersteht.
Aber warum lässt er sich durch eine Kugel niederstrecken?
Und warum blutet er? „Wissen Sie, woran Bekker letztlich
starb? Was für ein Gift war es, dass ihm das Lebenslicht aus-
gepustet hat?“
„Die Analyse ist noch nicht da“, knurrte der Sheriff. „Und Sie
haben wirklich keine Ahnung, was hier gespielt wird?“
„Versprechen Sie mir, mich nicht anzuschreien, auszulachen
oder in eine Zwangsjacke zu stecken?“
„Fuck!“
„Das war keine Antwort, Sheriff.“
„Ja, verdammt – ich verspreche es. Also, was ist los,
Cohen? Wer ist dieser Penner, und warum tötet er einen Ban-
ker aus meiner Stadt?“

320
„Bekker war ein Busenfreund von Bauer. Meine Vermutung
ist, dass Bekker sogar jener war, der Jezzy gefoltert und er-
mordet hatte. Auf dem Video, Sie erinnern sich?“
„Natürlich. Gut, beide – Bekker und der Wichser im Film ge-
hören zu den Extremgelockten. Aber mehr sieht man nicht.
Außerdem wurde er von einem Weißen ermordet.“
„Nein. Er wurde von einem Zombie ermordet. Hören Sie
zu ...“
Die Mundwinkel des Gesetzeshüters zuckten, als ich ihm
von meinem nächtlichen Ausflug, dem Klan und dem Voodoo-
Ritual erzählte. Schließlich schlug er mit der Hand auf den
Tisch. „Das ist doch alles Hühnerkacke.“
„Finden Sie? Ein offiziell für tot erklärter Mann taucht hier auf
und tötete jenen, den nicht nur ich für den Mörder dieser Jezzy
halte, sondern auch Peter und mit ihm vermutlich jeder
Schwarze, der von dem Video gehört hat. Ich weiß, was ich
gesehen habe. Es war dieser Mann, den die Mambo erweckt
hat. Und es ergibt einen Sinn. Peter Washington sprach da-
von, dass man Feuer mit Feuer bekämpfen muss. Bauer setzt
Magie ein. Also tun es die Schwarzen auch.“
„Wenn das so ist“, schnarrte Coffey, „dann erklären Sie mir
doch mal eines: Wieso konnten Sie einen Zombie mit nur einer
Kugel niederstrecken?“

321
„Keine Ahnung. Was bin ich? Diplomierte Dämonenkillerin?
Sie haben mich gefragt und ich hab Ihnen die mir bekannte Er-
klärung geliefert.“
Coffey stand auf und begann, in seinem Büro auf und ab zu
marschieren. „Dämonen, Zombies – glauben Sie an den gan-
zen Mist?“
„In diesem Fall ja. Ich denke, dass es Bauer und seinen Söh-
nen des Iz wirklich gelungen ist, einen Dämon zu beschwören.
Er sagte, die bisherigen Opfer seien nur dazu bestimmt gewe-
sen, die Kraft von Iz neu herzustellen. Sobald dies geschehen
sei, würde er die Schwarzen mit einem Schlag vernichten.“
„Und Sie glauben ihm das?“
„Ja. Die seltsamen Phänomene auf dem Video könnten ge-
fälscht sein. Aber ich habe schon einmal erlebt, dass etwas
mit dieser Figur nicht stimmt. Auch mein nun toter Klient be-
richtete davon. Ja, ich glaube wirklich, dass wir hier mit einem
Phänomen konfrontiert werden, dass wir nicht erfassen kön-
nen. Leider weiß ich im Moment keinen Weg, das zu stoppen.“
„Für Bekker wäre es ohnehin zu spät. War er der Killer auf
dem Video, dann war sein Tod zu schnell. War er es nicht und
die Schwarzen haben den Falschen erwischt, ist es eine
Schweinerei.“
„Mag sein. Ich frage mich nur, was nun geschieht. Immerhin
ist das Rachewerkzeug endgültig tot. Dabei haben sie mal ge-
rade einen von der Bande erwischt. Das heißt ...“

322
Ich wurde unterbrochen, da just in diesem Moment ein De-
puty die Tür zum Aquarium aufriss. „Sheriff, das sollten Sie
sich anschauen“, rief er. „Wir haben wieder einen toten Nigger.
Noch schlimmer als die ersten drei.“
Es war, als würde mein Magen einen Hüpfer tun. Coffey
starrte mich an. Angst flackerte in seinem Blick. „Die Schwar-
zen sind noch in der Stadt wegen den Bestattungen. Wenn die
das mitbekommen, reißen die uns das Rathaus nieder.“
Seine Angst war sowohl verständlich als auch begründet.
Auch mir drehte es den Magen um bei der Vorstellung zwei-
oder dreitausend Menschen könnten zu einem rasenden Mob
werden und an allem ihre Wut auslassen, was ihnen in die
Quere kam.

Die Leiche sah aus, als sei sie durch den Fleischwolf ge-
dreht worden. Nackt, der Unterleib wie von riesigen Klauen
zerfetzt. Auch sein Leib war aufgerissen worden. Hier hatte
niemand ein Messer angesetzt. Reine Lust am Wüten zeich-
neten diesen Mord aus.
Die Gedärme des Mannes lagen ebenso auf dem Boden ne-
ben der Leiche, wie Herz und Lungen. Obwohl letztere ange-
fressen worden waren. Die Nieren fehlten. Zumindest auf den
ersten Blick. Doch wieder war ich mir sicher, dass der Patholo-
ge zu keinem anderen Schluss kommen würde.

323
Magen und Leber waren intakt; die Rippen hingegen wie
dünne Hölzchen zerbrochen. Die Füße standen in einem selt-
samen Winkel ab, die Arme schienen ausgekugelt und das
Genick letztlich ebenfalls gebrochen. Blut war aus seiner Nase
gelaufen, aus dem Mund und aus den Ohren. Wangen und
Nase des Toten zeigten Kratzspuren, die Ohren hingen nur
noch an Hautfetzen am Kopf. Aus einem Loch in der Mitte des
Schädels ragten nicht nur Knochensplitter, an seinem Rand
klebte Gehirnmasse. Coffey beging den Fehler, in die Öffnung
zu schauen. Er zuckte zurück, wandte sich ab und übergab
sich. „Das Gehirn fehlt“, erklärte er würgend. „Der Killer muss
es entnommen und vermutlich ...“
Er sprach es nicht aus, aber es war auch so klar, was er
meinte. Der Killer hatte sich nicht nur die Nieren geschnappt
und sie gegessen, sondern auch das Hirn.
Mir selbst stand es Oberkante Unterlippe. Auch ein bulliger
Deputy hielt sich tapfer, ebenso der Gerichtsmediziner.
Hinter uns quietschten Bremsen. Mehrere Türen wurden auf-
gestoßen, eine Frau schrie entsetzt auf und brach an Ort und
Stelle zusammen.
Peter trat neben mich. Er hielt seine Lippen zusammenge-
kniffen.
„Wo war Bauer gestern Abend?“, fragte ich ihn leise. „Wieso
stand er nicht unter Beobachtung?“

324
„Dachte, er würde unter Beobachtung stehen. Ich selbst war
anderweitig beschäftigt.“
„Ja. Hast dich fast nackt auf einer Lichtung rumgetrieben und
irgend einen Voodoo-Mumpitz abgehalten. Lausige Detektivar-
beit. Ganz, ganz lausige Arbeit.“
Er schnellte herum. „Woher weißt du das? Und warum unter-
stellst du mir, schlecht gearbeitet zu haben? Wo warst du
denn?“
„Ich wurde vom Klan entführt, fast vergewaltigt und musste
zusehen, dass ich mit heiler Haut davon komme, du Spinner.
Außerdem habe ich meinen Fall gelöst. Mord und Hintergrün-
de sind geklärt, der Drahtzieher steht fest. Eigentlich könnte
ich schon zu Hause sein und mein Honorar verprassen. Was
wohl Reverend Washington dazu sagt, dass sein Sohn Zu-
flucht bei magischen Voodoo-Beschwörungen sucht, statt sich
auf seine Profession zu besinnen?“
„Leck mich, Rebecca. Denkst du, ich hätte das hier gewollt?
Aber wir beide wissen doch, dass wir weder Bauer noch seine
Kumpane aus dem Verkehr ziehen können. Darum meine Me-
thode. Wir bekommen sie. Wie ich hörte, ist der erste Killer
schon tot. Wurde in seiner Bank Opfer eines Überfalls.“
„Ja, wurde er. Und ich auch fast, weil euer spinnerter Zombie
auf mich losgehen wollte. Musste ihn erschießen. Was mich
dazu bringt, dass er so untot wohl nicht sein konnte. Blutete
und starb wie ein Mensch.“

325
„Natürlich. Du weißt gar nichts. Obwohl es mich überrascht,
dass du an von dem Ritual erfahren hast. Wer hat
gequatscht?“
„Niemand. Auf meiner Flucht vor dem Klan kam ich an eurer
Lichtung vorbei. Hab dich zucken sehen. Ich bin Papa Nebo.
Meine Güte, dein Vater ist Priester!“
„Rituelle Besessenheit gehört dazu. Außerdem weiß ich da-
von nichts mehr.“ Er starrte mich an, nur um nicht zur Leiche
schauen zu müssen. Hinter uns sprach ein Deputy mit der
Frau, die zuvor einen Zusammenbruch erlitten hatte. Es war,
wie sich später zeigen sollte, die Schwester des Toten; nichts
dessen Ehefrau, wie von mir angenommen worden war. „Du
musstest also Claude erschießen. Das wundert mich. Hast du
versucht, ihn an der Erfüllung seines Auftrages zu hindern?“
„Natürlich. Denn anders als für dich steht Bekker für mich
nicht als Täter fest, auch wenn ich das für ziemlich wahr-
scheinlich halte. Aber das genügt eben nicht. Verdammt! Da
kommt dieser Mann in die Bank und greift jemanden an. Um
ihn herum stehen Unbeteiligte. Was denkst du, habe ich ge-
tan?“
„Darum der Angriff auf dich. Du hättest nicht versuchen sol-
len, ihn zu stoppen. Dann wäre das nicht passiert.“
Ich senkte meine Stimme noch mehr. „Sollte der nächste
Zombie auftauchen, werde ich deinen Vater anrufen. Schwar-

326
ze Magie jedweder Art ist sicherlich nicht das, was die NAACP
gutheißen würde.“
„Tu, was du nicht lassen kannst. Es liegt ohnehin nicht mehr
in meiner Hand. Die Dinge entwickeln sich, das wirst du erle-
ben. Das hier war die letzte schwarze Leiche, das garantiere
ich dir. Weiße werden die künftigen Opfer sein, und wenn die
Sache vorbei ist, wird sich niemand mehr über die Nigger lus-
tig machen. Grauenvoll ...“ Das letzte Wort galt dem jüngsten
Opfer. Natürlich war es grauenvoll. Aber dies bedeutete nicht,
dass es Morde auf der anderen Seite rechtfertigt.
„Peter – sollten die Schwarzen auf die Idee kommen, nun
Weiße der Reihe nach umzubringen, endete das für manchen
sicher in Parchman. Und zwar zu Recht. Es gibt keinen Be-
weis, dass Bekker etwas mit der Sache zu tun hatte und auch
für die Verwicklung anderer fehlen alle Hinweise. Wir kennen
nur Bauer als Drahtzieher. Sonst niemanden. Du bist Detektiv.
Du bist dazu da, dem Gesetz Geltung zu verschaffen. Nicht,
es zu brechen.“
„Genau. Wenn Schwarze einen Weißen umbringen, schickt
man sie in die Todeszelle. Umgekehrt ist es natürlich etwas
völlig anderes. Vor ein paar Jahren erschossen zwei Weiße
einen Nigger. Eine weiße Jury sprach sie frei. Anschließend
schnappte sich der Bruder des Ermordeten eine Pistole und
erschoss die beiden Weißen. Eine rein weiße Jury schickte ihn
dafür in die Todeszelle. Dort sitzt er heute noch und vermutlich

327
wird man ihn in ein paar Jahren hinrichten. So läuft das. Bauer
wird niemals einen Gerichtssaal von innen sehen. Das steht
doch wohl fest. Er nicht, und seine Kumpels noch weniger. Un-
sere Gerechtigkeit sticht, das garantiere ich dir. Jetzt sogar
noch mehr als zuvor.“
„Was willst du damit sagen?“
Er grinste dünn. „Siehst du dann.“ Damit ließ er mich stehen
und ging zurück zu der Trauernden. Er sprach leise mit ihr.
Andere Schwarze standen um die beiden herum und warfen
mir finstere Blicke zu. Hey, wollte ich ihnen zurufen, ich kann
nichts dafür. Aber das hätte sie ohnehin nicht gestört. Für sie
waren wir alle gleich. Weiße, die zwar betroffen taten, sich
aber in Wahrheit keinen Deut um einen toten Nigger scherten.
Für mich bestand keine Chance, sie vom Gegenteil zu über-
zeugen. So wenig wie es mir gelingen konnte, sie von ihrem
Rachevorhaben abzubringen. Mir blieb nichts anderes übrig,
als ihnen dabei zuzusehen. Immer weiter rutschten sie so in
das Unrecht, dass ihnen selbst widerfuhr.

328
Kapitel 22

21. Dezember 2005, 16:00/ Wiggins (Mississippi)

„Ein Zombie? Du meinst – ein Untoter, erweckt von einem


Voodoo-Priester und entstiegen aus tiefer, kühler Erde?“ Deni-
se klang, als würde selbst sie meine kleine Geschichte nicht
glauben. Das war hart. Jemand, der Glauben zu seinem elften
Gebot erkoren hatte, sollte mir glauben. Oder?
„Es war eine Voodoo-Priesterin. Und ob er aus der Erde
kam, weiß ich nicht. In einem Sarg oder einer Kiste lag er, ja.“
„Und was machte der Zombie genau?“, wollte Denise wis-
sen. „War er auf der Suche nach frischem, lebendem Men-
schenfleisch?“
„Nein. Er stakste mit leerem Blick in eine Bank, ging zielge-
richtet zu deren Leiter und blies ihm ein bisher noch identifi-
ziertes Pulver ins Gesicht. Der Chef des Kreditinstituts brach
daraufhin röchelnd zusammen und verstarb nach wenigen Mi-
nuten.“
„Oh, mir wird einiges klar“, rief Denise. Wirklich klang sie, als
habe sie soeben eine Erleuchtung gehabt. „Dein Zombie war
das Opfer einer Mambo. Und zwar einer schwarzmagischen
Mambo!“

329
„Gibt es auch andere?“
Sie lachte leise. „Bei Männern unterscheidet man zwischen
Houngan und Bokor – letztere hängen den dunklen Seiten des
Voodoo an. Bei Frauen gibt es diese Differenzierung nicht.
Mambo ist Mambo, fertig. Wohl auch, weil Frauen eh immer
die Böses sind. Merkt man ja an uns.“
„Nicht von dir auf andere schließen. Ich bin gut in meinem
Herzen, edel und rein. Zurück zum Thema – was hat es denn
nun mit diesem Untoten, Zombie – wie auch immer auf sich?“
„Ein zombiefiziertes Opfer“, konkretisierte sie und hörte mich
stöhnen. „Nein, nein“, rief sie darum rasch, „das hat nicht ein-
mal was mit schwarzer Magie zu tun. Manche Voodoo-Priester
beherrschen die Kunst, ein besonderes Mittel herzustellen.
Damit versetzen sie ihr Opfer in einen todesähnlichen Zu-
stand. Ein besonderes Koma, wenn man so will. Selbst ein
Arzt kann nur noch mit speziellen Instrumenten feststellen,
dass der Betroffene noch lebt. Nach einiger Zeit, die Stunden
bis Tage dauern kann, erweckt der Priester das Opfer wieder.
Es kann sich bewegen und besitzt auch noch seine Erinne-
rung. Aber es hat seinen Willen verloren. Was immer ihm der
Priester auch sagt, wird es tun. Bis hin zu Mord. Ohne Gewis-
sensbisse, ohne darüber nachzudenken und ohne innezuhal-
ten.“
„Woraus besteht dieses Mittel? Und in welcher Form liegt es
vor? Als Pulver?“

330
„Ja, als Pulver. Aus was genau das Mittel besteht, wissen
nur jene, die es herstellen. Vor ein paar Jahren versuchten
Wissenschaftler, es zu analysieren. Doch vollständig gelang
es nicht. Das Gift des Kugelfischs spielt dabei eine Rolle. Aber
ansonsten ...“
„Ergo besteht die Möglichkeit, dass der erste Zombie den
Auftrag hatte, sein Opfer ebenfalls zu zombiefizieren. Es ging
ihm gar nicht darum, es umzubringen. Oder?“
„Die Möglichkeit bestünde nicht nur“, erklärte meine Bekann-
te, „sie ist sogar sehr wahrscheinlich. Das Pulver, der rasche
Zusammenbruch – das alles deutet darauf hin.“
„Danke, das hilft mir sehr. Und nun zu Iz.“
„Leider keine weiteren Informationen“, bekannte sie. „Denkst
du wirklich, es mit einem Dämon zu tun zu haben?“
„Ich denke es, und die Schwarzen hier denken es auch. Dar-
um greifen sie nun ebenfalls zur schwarzen Magie. Eine durch
und durch vertrackte Situation. Eigentlich könnte ich nach
Hause fahren und den Fall abhaken. Aber etwas hält mich hier
unten. Neugier, wie es ausgeht. Aber auch die Hoffnung, das
Morden stoppen zu können. Nur weiß ich noch nicht, wie es
mir gelingen soll.“
„Das kann ich dir leider auch nicht sagen. Nach allem, was
du mir beschrieben hast, geht es wohl um die Figur. Nicht
wahr?“

331
„Sie scheint ein zentraler Gegenstand zu sein; ja. Allerdings
fürchte ich, dass nicht nur ihr Besitzer etwas dagegen hat,
dass ich sie mir nehme. Auch Iz selbst wird dies zu verhindern
wissen.“
„Ich höre mich weiter um; versprochen. Bekomme ich von dir
eine Kopie deines Berichts? Auch, was die Zombiesache an-
belangt?“
„Natürlich“, versprach ich Denise. Sie half mir, und bekannt-
lich wäscht eine Hand die andere. Nicht, dass meine am Ende
schmutzig blieb. „Vielen Dank bis hierher.“
Denise Minou war nicht meine einzige Informationsquelle,
was solche Phänomene betraf. Via Internet hatte ich mich an
ein Forum für paranormale Vorkommnisse gewandt und dort
gefragt, was es über Zombies und Voodoo zu wissen galt. Die
Antworten unterschieden sich teils stark von dem, was meine
Bekannte gesagt hatte. Manche stimmten jedoch auch damit
überein.
Voodoopuppen habe ich gar keine gesehen. Offenbar sind
sie nicht mehr in Mode. Obwohl es doch sicherlich ein Spaß
wäre, das Opfer ein bisschen aus der Ferne heraus zu quälen.
Langsam stand ich auf und schaute aus dem Fenster. Die wü-
tende Menge vor der Townhall hatte sich verdreifacht. Schilder
wurden in die Höhe gehalten, mittels denen man mehr Einsatz
der Polizei und ein Ende der Morde proklamierte. Transparen-
te zeigten nicht nur Fotos der Opfer, sondern auch deren Ster-

332
bedaten. Sprechchöre schallten durch die Straßen. Um den
Pulk herum standen Weiße und gafften. Auch der Klan war
wieder vertreten. Allerdings tat er es den Schwarzen gleich
und protestierte. Was Gott trennte, soll der Mensch nicht
einen. Pro Rassentrennung. Dies war der beliebteste Slogan
auf den Schildern der Rassisten. Aber auch andere Schmäh-
worte; nicht nur gegen Schwarze. Obwohl sie nicht vor dem
Hotel aufmarschierten, schossen sie ein paar verbale Pfeile
gegen Juden; ergo gegen mich. Sie wussten wohl ganz ge-
nau, dass ich sie im Auge behielt.
Die Luft brannte. Hätten nicht ein paar Deputys zwischen
den beiden Gruppen gestanden und mit Gummiknüppeln ihre
Absichten bekräftigt, jedem Gewalttäter die Zähne einzuschla-
gen, wären die beiden Lager längst nicht nur verbal aufeinan-
der losgegangen. Wie lange die Hilfssheriffs den Frieden hal-
ten konnten, stand allerdings auf einem ganz anderen Blatt.
Sehr lange gab ich ihnen nicht mehr. Zumal ein weiterer Bus
mit Schwarzen vorfuhr. Die Neuankömmlinge mussten durch
den Pulk der Weißen hindurch. Und das konnte nicht gut ge-
hen.
Nachdenklich griff ich nach dem Telefon und wählte die
Nummer von Coffeys Büro. Diesmal dauerte es einen Mo-
ment, ehe abgehoben wurde. Seine mürrige Stimme erklang.
„Sheriff – was ist mit Bekker? Befindet sich seine Leiche
noch in Wiggins?“

333
„Natürlich. Liegt in der Pathologie und wartet darauf, dass
sich jemand um sie kümmert. Sie soll obduziert werden. Aber
der Gerichtsmediziner zog den toten Nigger vor. Offenbar puz-
zelt er gerne.“
„Gut.“ Meine Gedanken rasten. Mussten die Schwarzen
nicht damit rechnen, dass man die Leiche aufschneiden, ihre
Organe entnehmen und sie damit abschließend töten würde?
„Könnte sein, dass Bekker nicht tot ist. Hab mit einer ... Exper-
tin ... gesprochen. Sie meinte, jemand könne ihn zombiefiziert
haben.“
„Zombiefiziert?“, röhrte Coffey. „Wollen Sie mich
verarschen? Meinen Sie, der steht wieder auf und macht sich
über Frischfleisch her?“
„Nein. Ich meine, er wurde gar nicht umgebracht. Es soll nur
so aussehen. In Wahrheit ist es eine Art ... Koma. Er wird er-
weckt, aber Teile seiner Selbstkontrolle sind weg. So, wie es
mit Claude auch passiert ist. Das erklärt viel, oder? Vor allem
kommt es ohne Gespernstergeschichten und Zauberei aus.“
„Fuck! Also lebt der Hurensohn am Ende noch und liegt ge-
rade zitternd auf Eis?“
„Wer weiß“,gab ich zurück. „Wo befindet sich denn die Pa-
thologie? Wir könnten es uns ja mal ansehen.“
„Hier, im Keller. Ich schicke Ihnen einen Streifenwagen.
Sonst kommen Sie nicht durch die Meute da draußen. Wir ge-
hen dann zusammen runter.“

334
„Danke, das ist nett.“ Sieh an. Im Laufe des Falles wird aus
dem Arschloch doch noch ein Mensch und ein Sheriff, der sei-
nen Job ernst nimmt.
Auf dem Weg nach unten kam mir meine Wirtin entgegen.
Misstrauisch behielt ich sie im Auge, aber sie schlug mich
nicht mehr. Dennoch war Vorsicht die Mutter der Porzellankis-
te. Legst du mich einmal rein – Schande über dich. Legst du
mich zweimal rein – Schande über mich.

„Schauen Sie sich diesen Affenzirkus an“, brummte der De-


puty, der mich abgeholt hat. „So einen Aufstand hat Wiggins
noch nie gesehen. Die NAACP lässt auffahren, was sie zu bie-
ten hat. Nicht nur wegen der Morde, sondern auch die Begräb-
nisse sind es, welche die Massen anziehen. Die Menschen
strömen regelrecht aus allen Richtungen her. Busse bringen
die Nigger und laden sie direkt vor unserer Tür ab. Oh Mann!“
„Was sagt Ihre Freundin dazu, Mister Gamble?“ Da sein
Name auf dem silbernen Schild an seiner Brust stand, war es
nicht schwer gewesen, ihn zu erkennen.
„Wie meinen Sie das?“
„Wie ich es sage. Ihre Freundin ist schwarz, nicht wahr?
Was sagt sie dazu? Ist sie unter den Leuten und singt? Oder
ist sie zu Hause?“
„Zu Hause. Sie ist eine vernünftige Frau, Miss Cohen. Sie
weiß, dass Steine und Messer noch die harmloseren Dinge

335
auf beiden Seiten sein können. Gestern wurde geschossen
und zugestochen. Es gab Tote. Meine Freundin hat keine Lust
darauf, ins Gras zu beißen. So wenig wie es ihre Brüder wol-
len.“
„Ja, eine kluge Familie. Ich wünsche Ihnen da viel Glück.“
„Nicht in Wiggins.“ Waylon Gamble klang verbittert. „Wenn
die Scheiße hier vorbei ist, verschwinden wir. Mein Schwager
kann mir einen Job in seiner Fabrik besorgen. Sicherheitschef,
sagt er. In St. Louis sind die Menschen anders. Nicht so ver-
bohrt und vernagelt wie hier.“
„Gute Entscheidung.“
Die Menschen wichen widerwillig zurück. Gamble aktivierte
kurz die Sirene. Manche hüpften, die Meisten machten hinge-
gen nur langsam Platz. Kluxer starrten ins Innere und sahen
mich. Einer schlug mit der Faust gegen die Seitenscheibe. „Jü-
dische Schlampe, verschwinde!“, brüllte er. Die Stimme kam
mir bekannt vor. Leider verdeckte seine Kapuze die Stirn. Es
hätte mich nicht gewundert, wäre darunter ein Verband zum
Vorschein gekommen. So ein Hammer kann eine böse Wunde
schlagen ...
„Machen Sie Platz und lassen Sie uns durch!“, brüllte Gam-
ble in sein Mikrofon. Die Stimme wurde durch das Megaphone
auf dem Wagendach verstärkt und übertönte so auch den
Lärm der Massen.

336
Wir erreichten den Parkplatz, stiegen aus und eilten zum
Eingang. Noch war es dem Mob nicht eingefallen, die Town-
hall zu stürmen. Wenn, hätten sie Coffey und seine Leute so
wenig aufhalten können wie die Highway Police, die zur Ver-
stärkung in die Stadt gekommen war.
Ein Stein flog mir nach. Das Wurfgeschoss erwischte mich
am Rücken, doch die Distanz war zu groß gewesen, um mir
Schmerzen zuzufügen. Es war eher eine innere, seelische
Pein. Hier wurde mir ein Hass entgegengebracht, den ich nicht
durch irgendwelche Taten oder Aussagen provoziert hatte.
Meine Religion reichte bereits. Es spielte keine Rolle, ob ich
so amerikanisch war, wie man als New Yorkerin nur sein
konnte. Auch meine Erfolge als Problemlöserin zählten nicht.
Gar nichts zählte, da die Menschen nur auf meine Religion
schauten und mich danach beurteilten. Wie hohl kann man ei-
gentlich sein? Die Kluxer da draußen haben keine Köpfe unter
ihren Kapuzen, sondern Bowlingkugeln.
Das Bizarre war nur, dass mich die Schwarzen ebenfalls ver-
abscheuten. Schließlich war ich weiß und hatte mich in Tony's
Tonk deutlich gegen Rache und ausgesprochen. Meine Tele-
fonate und Ansprachen mit und zu Peter waren sicherlich nicht
unter uns geblieben. Der Sheriff mochte mich nicht, weil ich
von außerhalb kam, meine Wirtin hatte mich niedergeschlagen
und in Leichenhalle lag ein Toter, der auf meine Kappe ging.

337
Bauer und der Dämon wollten meine Vernichtung ... Es hatte
eindeutig bessere Monate in meinem Leben gegeben.
„Da sind Sie ja“, riss mich Coffey aus meinen Gedanken.
„Schauen wir uns den Toten oder Untoten mal an. Der Ge-
richtsmediziner wird unten sein. Wenn Ihre Theorie zutrifft,
dann findet er einen Weg, um Bekker wieder ins Reich der Le-
benden zu holen. Darauf können Sie sich verlassen.“
Über eine breite Treppe erreichten wir das Tiefgeschoss.
Neonlicht brannte an der Decke. Die Wände waren kahl. Ein
trister Ort, der seine Bedeutung untermalte.
Ein sonores Summen erfüllte die Luft; vermutlich die Kühlan-
lage. Mehrere Türen führten ab. Nur eine von ihnen stand of-
fen. Durch sie gingen wir – und standen vor einem Mann, der
seinerseits auf dem Boden kauerte und sich stöhnend die Stirn
hielt. Blut war aus einer Wunde am Hinterkopf auf den weißen
Kittel gelaufen.
„Doktor, was ist passiert?“, rief Coffey und ging neben dem
Gerichtsmediziner in die Hocke
„Jemand schlug mich von hinten nieder. Fragen Sie nicht,
wer es war. Denn gesehen habe ich ihn nicht.“
„Ja, hinten hat man nur selten Augen“, gab ich zurück Auf
dem silbern-metallen glänzenden Tisch lag das vierte Opfer.
Eine starke OP-Lampe erleuchtete es und riss somit jedes
grausige Detail aus einem gnädig verdeckenden Zwielicht.

338
Neben dem Untersuchungstisch standen zwei Bahren – bei-
de waren leer. „Lag Bekker auf einer dieser Liegen hier?“
„Was heißt da lag?“, knurrte der Mediziner, richtete sich mit
Coffeys Hilfe schwankend auf – und stutzte. „Ja, er lag auf der
linken Bahre. Nun ist er weg.“
„Gestohlen?“, rief der Sheriff. „Die Leiche wurde gestohlen?
Wie kann denn das passieren, Doktor?“
Noch immer unsicher auf den Beinen wankte der Arzt zu ei-
nem Stuhl und ließ sich darauf nieder. „Das hier ist nicht Fort
Knox, Coffey. Wir sind nur die Gerichtsmedizin des Countys.
Darum lagern in unseren Kühlfächern auch keine Goldreser-
ven, sondern Tote. Jemand machte sich von hinten an mich
ran, meine Lichter gingen aus und nun sitze ich hier. Hätte ich
gewusst, dass es sich um eine begehrte Leiche handelt, wäre
Ihnen eine Aufforderung auf den Tisch geflattert, mir einen De-
puty als Schutz zu schicken.“
„Schon gut“, wiegelte der Gesetzeshüter ab. „Damit konnte
wohl keiner rechnen. Ich frage mich nur, wie sie die Leiche
durch den Pulk da draußen bekommen haben.“
„Fragen Sie Ihre Leute. Zu Fuß gegangen wird sie nicht
sein.“
„Da wäre ich mich nicht einmal so sicher“, warf ich ein. „Dok-
tor, wir hatten den Verdacht, die Leiche könne noch leben und
mittels eines besonderen Giftes scheintot gemacht worden
sein.“

339
„Zombiefiziert?“
Mein Kiefer klappte von ganz allein nach unten. „Ähm ... ja.
Dieser Gedanke kam mir. Woher ...“
„Die ganze Geschichte erinnerte mich an einen Film. Dieser
Typ, der eigentlich tot sein sollte, dann aber in eine Bank geht
und einem anderen Pulver überschüttet. Der so Getroffene
fällt um und ist ebenfalls tot – ja, der Gedanke an ein solches
Ritual kam mir kurz. Zumal der Täter – Claude – aus Miami
stammte. Eine Stadt, in der Voodoo wahrlich kein Fremdwort
ist. Ich hätte Bekker jedenfalls nicht ohne vorangegangenes
EEG aufgeschnitten.“
„Sie erstaunen mich“, gab ich ehrlich zu. „Damit hätte ich
nicht gerechnet. Aber gut – die Tatsache, dass die Leiche ver-
schwunden ist, bestätigt meinen Verdacht.“
„Sie meinen, Bekker soll ins Leben zurückgeholt werden?“
Coffey schaute unbehaglich von dem Mediziner zu mir.
„Warum? Soll er den nächsten Mord ausführen? Vielleicht
Bauer?“
„Ja, das wäre wohl möglich“, stimmte ich zu. „Mal sehen, ob
ich etwas aus Peter herausbekomme. Wissen Sie – ich kann
die Schwarzen verstehen. Sie sind hilflos dem Schlachten
ausgeliefert. Für die sieht es so aus, als würde die Polizei
nichts unternehmen. Andererseits ist Selbstjustiz keine Lö-
sung. Eine schwierige Sache.“

340
Der Sheriff schlug wütend gegen die Wand. „Und alles nur,
weil ein paar Rassisten eine ihrer Meinung nach perfekte Waf-
fe in Händen halten. Vielleicht sollten wir die Nigger machen
lassen. Aber dann kommt es hier zu Krawallen.“
„Meinen Sie nicht, dass es dazu ohnehin kommt?“, wollte ich
von Coffey wissen.
„Wird nur noch ein toter Nigger gefunden, brennt die Stadt.
Dessen bin ich mir sicher. Wir haben alle Mann im Einsatz.
Die Highway Police hilft uns. Aber wir können nicht den kom-
pletten County überwachen. Das ist unmöglich. Bisher ereig-
neten sich die Morde auf Feldern. Aber das muss nicht so blei-
ben. Was, wenn die Killer bei all der Polizeipräsenz auf ein
Haus ausweichen? Töten kann man jemanden auch im Keller,
keine Frage.“
„Behalten Sie Bauer im Auge. Lassen Sie ihn von einem De-
puty beschatten. Ihn – und auch seinen Kumpel Hank Wood-
ward. Ich halte ihn für einen der Typen auf dem Video. Peter
bestimmt auch. Das heißt, dass ihm der nächste Anschlag gel-
ten könnte. - Oder eben, dass die beiden auch den nächsten
Schwarzen killen werden.“
„Bauer ist ein angesehenes Mitglied der Gemeinde. Ihn kön-
nen wir nicht so einfach überwachen. Ihm gehört die Hälfte der
Stadt. Ein Anruf von ihm, und sie jagen mich aus dem Amt.
Bei Woodward sieht nicht viel anders aus. Er ruft Bauer an
und beschwert sich – schon ist die Kacke am Dampfen.“

341
„Wenn er tot ist, dampft gar nichts mehr“, grummelte ich. Der
Gerichtsmediziner stieß ein kurzes Husten aus.
„Im Moment habe ich hier Hochkonjunktur. Aber das muss
nicht so bleiben. Vielleicht sollten Sie zu den Menschen spre-
chen, Mister Coffey. Zu den Schwarzen und zu den Weißen.“
„Gute Idee“, stimmte ich zu. „Beruhigen Sie die Massen, zei-
gen Sie sich und versprechen Sie, alles in Ihrer Macht stehen-
de zu tun. Wenn die Leute da draußen beschließen, die Town-
hall zu stürmen, dann ...“
„Ich weiß, was ich zu tun habe“, blaffte der Sheriff. „Und was
machen Sie?“
Nach Hause fahren und das alles vergessen. „Peter Wa-
shington aufsuchen. Vielleicht bekomme ich heraus, wo sich
die Leiche oder Nichtleiche von Bekker befindet.“
„Und ich werde mir das vierte Opfer hier weiter anschauen“,
erklärte der Gerichtsmediziner.
In diesem Moment beneidete ich ihn um seinen Job. Auch
wenn der Tote grausam zugerichtet aussah, beschimpfte er
den Arzt nicht und warf auch nicht mit Steinen.

342
Kapitel 23

21. Dezember 2005, 18:30/ Wiggins (Mississippi)

Die Beerdigung des dritten Opfers brachte etwas Ruhe in die


Stadt. Die Schwarzen hatten sich vor Reverend Benders Kir-
che versammelt und waren anschließend hinter dem Sarg her
zum Friedhof außerhalb von Wiggins gegangen. Ihr We shall
overcome war weithin zu hören gewesen.
Der Klan war zumindest so vernünftig gewesen, sich wäh-
rend der Trauerfeier und dem Marsch friedlich zu verhalten.
Die meisten der Kapuzen nutzten die Zeit lieber, um sich im
Diner zu stärken. Manche hockten auch auf dem Rasen vor
der Townhall und warteten auf die angekündigte Kundgebung,
die nach der Beerdigung im Schein des Mondes stattfinden
sollte. Manche witzelten, sie könnten das Geschehen mit ein
paar brennenden Kreuzen unterstützen.
Ursprünglich hatte ich vorgehabt, ebenfalls an den Trauerfei-
ern teilzunehmen. Aber letztlich war es mir unpassend er-
schienen. Die Schwarzen hätten mir eh nur Anbiederung vor-
geworfen, die Weißen mich noch inniger gehasst und mein
Vorhaben, sowohl die Söhne des Iz als auch die Voodoo-Leu-

343
te zu stoppen wäre dadurch auch nicht leichter in die Tat um-
zusetzen gewesen.
Ganz im Gegenteil.
Darum verbrachte ich die Zeit ebenfalls im Diner, genoss
einen Honigburger und belauschte die Rassisten. Sofern man
bei der Gesellschaft von genießen sprechen konnte.
Schließlich, als ich schon nicht mehr damit rechnete, wurden
zwei von ihnen auf mich aufmerksam und kamen an meinem
Tisch. „Du bist doch die, die mit dem Nigger in die Stadt kam.
Schämst du dich nicht? Du bist eine Schande für die weiße
Rasse. Selbst für eine Judenschlampe ziemt es sich nicht, mit
Niggern in einem Wagen zu fahren.“
„Ach, ich komme aus New York City. Da schämt man sich
nicht, weil man mit einem Schwarzen unterwegs ist. Dort wür-
de man sich eher schämen, wenn man mit einem Klan-Kostüm
rumläuft. Die Menschen dort haben Hirn in ihrer Birne. Nicht
nur Grütze, so wie ihr.“
„Judenschlampe“, zischte der Mann wieder und wandte sich
ab. Sein Kumpel meinte, noch einen draufsetzen zu müssen.
„Nigger-liebende Juden werden hier im Süden schnell abser-
viert. Das ist heute nicht anders als in der guten, alten Zeit. Sei
also vorsichtig, was du sagst.“
„Ja, erzähl mir alles über deine analen Probleme. Wo tut es
weh? Oder bist du deswegen so ein Arschloch, weil der Post-
bote deine Frau vögelt?“

344
Seine Hand schnellte vor, aber noch ehe er mich treffen
konnte, raste meine Gabel in die Tiefe und erwischte seinen
Finger. Die Zinken hieben tief in das Fleisch, so dass er laut
schreiend aufsprang. „Man schlägt keine Frauen. Hat dir das
Mami nicht beigebracht?“, erkundigte ich mich dabei. Mich
wunderte selbst, wie ruhig meine Stimme dabei klang. Gleich-
sam war mir klar, dass ich mich hatte hinreißen lassen. Toll,
Becca. Jetzt hast du echt einen Stein im Brett bei denen.
Ich wusste, dass meine Reaktion nicht die diplomatischste
gewesen war. Doch all die Demütigungen, die ich zuvor hatte
einstecken müssen, waren nicht spurlos an mir vorüber ge-
gangen. Und es mal einem der Idioten richtig zu zeigen, war
verdammt erlösend gewesen. Schließlich hatte er fast darum
gebettelt.
Nun jaulte er wie ein Hund und lief vor die Tür. Auf dem Weg
nach draußen hinterließen kleine Blutstropfen auf dem Boden
eine Spur auf dem Fußboden des Lokals. Seine Kumpels
schauten mich hasserfüllt an, winkten aber dann ab und be-
gannen, sich lautstark untereinander über die Unverschämt-
heit der Yids und Nigger zu unterhalten. Was aber bei der jü-
disch-dominierten Regierung in Washington kein Wunder sei.
Man wisse eben nicht mehr, wie man die guten, alten Werte
Amerikas verteidigen müsse.

345
Dabei fragte ich mich, welche Werte das denn wohl bitte sein
sollten. Jene, die für die Gleichheit aller Menschen standen,
wohl eher nicht.
„Diesem Würstchen hast du es aber gezeigt.“ Lori erschien
und brachte mir frisches Besteck. „Dachte, der hätte dich.
Aber das mit der Gabel war schon cool.“
„Training. Nichts als Training. In meinem Job muss man
schnell sein. Bring mir noch einen Pancake mit reichlich
Ahornsirup als Dessert. Mal sehen, wie die Sache hier weiter-
geht. Die Schwarzen werden bald wieder zurückkehren.“
„Mein Vater hasst es, die Kapuzen als Gäste zu haben. Aber
vertreiben kann er sie auch nicht. Sonst kann er den Laden
schließen. Die meisten Leute werden auch nach dieser Sache
hierher kommen wollen. Ohne Kapuzen. Bei vielen habe ich
den Eindruck, dass sie erst in den letzten Tagen Mitglieder
des KKK wurden. Der, den du verletzt hast zum Beispiel. Job
Henkins. Ein Idiot, aber der gehörte sicherlich letzte Woche
noch nicht zu den Kluxern. Vermutlich wird er auch keiner
mehr sein wollen, wenn die Hysterie um die Morde zu Ende
geht.“
„Kann sein. Seine Wunde wird er noch ein paar Tag behal-
ten. Ein Andenken an die Zeit, als er sich wie ein hirnloses
Arschloch benahm.“ Die letzten Worte rief ich so laut, dass sie
jeder hören konnte. Lori lachte leise und verschwand, um mir
den Pfannkuchen zu bringen.

346
„Nigger-liebende Judenfotzen sollten ihren Mund nicht zu
weit aufreißen. Sonst wird er ihnen gestopft.“
„Ja. Der letzte hirnlose Kluxer der es versuchte, bekam
einen Hammer gegen die Birne. Ich habe Übung darin.“
Sie winkten wieder ab und überließen mich meinem Essen.
Die Sonne ging unter, die Lichter der Stadt an. Es dauerte
nicht mehr lange, bis die ersten Kerzen und Fackeln hinter ei-
ner Straßenecke auftauchten. We shall overcome war zu hö-
ren, aber auch andere Gospel wurden gesungen. Der Platz
vor der Townhall füllte sich. Ein Sprecher der NAACP hatte
sich angekündigt, aber auch Reverend Bender wollte spre-
chen. Es war ein großer Tag für den Geistlichen. Der langsam
über Jahre angestaute Hass konnte den Menschen entgegen
geschleudert werden. Er wusste, dass ihm die Leute zuhören
würden. Steckt nicht in jedem Priester auch ein Agitator?
Die Kapuzen verließen das Diner, um Position zu beziehen.
Anders als die Schwarzen verzichteten sie auf Transparente
und Schilder, nicht aber auf Flüstertüten. Es war mehr als
deutlich zu sehen, dass sie die Kundgebung stören wollten.
Vermutlich ließen sie es auf eine Eskalation ankommen, um
hinterher mit den Fingern auf die gewalttätigen Nigger zu zei-
gen. Diese wiederum würden sich durch ein paar Zwischenru-
fe berechtigt fühlen, die Kluxer anzugreifen. Mehr als ein Boy
pro Minuten ließen sie sich vermutlich nicht gefallen.

347
Deputys bezogen Stellung, kaum dass der Klan aufmar-
schierte. Auch Polizisten der Highway Patrol kamen, um sich
notfalls zwischen die Parteien zu werfen. Obwohl sie wie auch
die Kluxer klar in der Unterzahl waren. Der Platz vor der Town-
hall füllte sich. Ein Podest wurde herbei gerollt, geschmückt
mit den Wimpeln und Zeichen der NAACP.
Zwei starke Strahler gingen an, ausgerichtet auf das Podi-
um.
„Es sind gut zwei, drei tausend Schwarze da draußen. Dach-
te nie, dass man so viele Menschen vor unserem Rathaus ver-
sammeln kann. Wie viele Kluxer mögen es sein?“ Lori drückte
sich die Nase an der Scheibe platt.
„Drei- oder vierhundert vielleicht. Und noch einmal so viele
Polizisten. Geraten die Schwarzen in Wallung, wird sie nie-
mand halten. Hoffen wir, dass die Killer heute Nacht unter den
Kapuzen sind und ebenfalls ihre Parolen brüllen. Die Nachricht
über eine weitere Leiche würde das Pulverfass zur Explosion
bringen.“ Obwohl ich es nicht glaube. Bauer ist niemand, der
sich zum Pöbel stellt. Das überlässt er anderen.
Auch Loris Vater erschien. Er wies seine Tochter an, das Di-
ner zu schließen und die Rollläden hinunter zu lassen. „Ich will
keinen von der Bande hier drinnen haben, wenn es vorbei ist.
Weder Schwarz noch Weiß. Sollen sie sich die Köpfe ein-
schlagen, wenn sie meinen. In ein paar Wochen, wenn sich

348
der Trubel gelegt hat, schämen sich hoffentlich viele von de-
nen. Und das zu Recht, wie ich meine.“
Noch waren die Vorbereitungen nicht abgeschlossen, doch
schon erklomm Reverend Bender das Podium und schaute
von oben auf die Schwarzen herab. Anschließend drehte er
den Kopf, um die Kluxer zu fixieren. „Wir können euch nicht
verbieten, dort zu stehen. Aber wir können euch bitten, uns
nicht zu stören.“
„Du kannst auch meinen Arsch bitten, nicht zu furzen!“, brüll-
te ein Klanmitglied durch sein Megaphon zurück. Anschlie-
ßend hielt er es an seinen Hintern. Laut und deutlich war ein
Furz zu hören. „Das halte ich von dir und deiner Ansprache,
Nigger.“
Gelächter brandete auf, während sich die Schwarzen ab-
wandten. Es war der Beginn einer langen Reihe unflätiger, ni-
veauloser Beleidigungen.
„Und die bilden sich ein, die Krönung der Schöpfung zu sein.
Die bestimmende Rasse. Na, dann gute Nacht.“ Lori schien
entrüstet. Ihr Vater nickte zustimmend, während ich den Pan-
cake aß. Peter und seine Freunde waren bei der Beerdigung
gewesen. Das stand fest, denn ich hatte sie gesehen. Aber
waren sie nun auch da draußen, um sich die Kundgebung an-
zuschauen? Oder hockten sie irgendwo und bereitete sich dar-
auf vor, den nächsten Weißen mit Hilfe von Bekker zu erledi-
gen? Wollten sie am Ende jeden Sohn des Iz zu einem Zom-

349
bie machen? Zugegeben – das wäre eine Methode gewese,
das Problem zu beheben.
Noch während ich darüber nachdachte, erschien ein Mann
an der Tür des Diners und rüttelte daran. Zwar gab ihm Loris
Vater zu verstehen, dass geschlossen sie. Aber der Schwarze
ließ sich nicht abschütteln. Statt dessen deutete er auf mich.
Ergeben stand ich auf und ging zum Eingang. Lori öffnete für
mich. Sofort griff der Schwarze nach mir. „Sie sollten heute
Nacht keinesfalls schlafen gehen. Peter Washington schickt
mich. Er meinte, dies sie die Nacht, um alles zu beenden. Mor-
gen wäre es vorbei.“
„Was plant er? Was plant ihr?“
Er reichte mir einen kleinen Fernsehapparat. Ein Kasten
klemmte am Antennenanschluss. Er sah aus, als handele es
sich dabei um einen Empfänger. „Hier. Sie sollen sehen, wie
Gerechtigkeit geübt wird. Heute Nacht schlagen wir zurück.
Und morgen wird jeder in der Gegend wissen, dass sich die
Nigger aus Wiggins nicht länger abschlachten lassen.“
Der Mann wandte sich wieder um. „Hey“, rief ich ihm nach.
„Was soll der Mist. Was genau läuft denn hier?“
Wirklich reagierte er und schaute mich an. „Schau hin, Jüdin.
Schau hin und lerne. Morgen sind wir alle Helden.“
Helden? „Scheiße, was ...“ Er lief davon. Gerne hätte ich ihm
noch etwas nachgerufen, doch just in diesem Moment setzte
ein überwältigendes We shall overcome ein. Mein Blick fiel auf

350
das Podium. Reverend Washington stand dort, Peters Vater.
Nicht nur Helden. Nein, auch Papi muss beeindruckt werden.
Das ist doch...
Während Lori abschloss, kehrte ich zu meinem Tisch zurück
und nahm Platz. Die kleine Mini-Glotze schien Tonnen zu wie-
gen. So zumindest kam es mir vor. Obwohl das Ding ziemlich
klein war. Der Fünf-Zoll-Bildschirm war flach, so dass das Ge-
rät insgesamt nur wenig wog.
„Und? Was gibt es zu sehen?“ Waterstone beugte sich zu
mir vor und schaute ebenfalls auf den Bildschirm. Mit einem
flauen Gefühl im Magen schaltete ich ihn ein.
Was ich sah, verschlug mir die Sprache.

351
Kapitel 24

21. Dezember 2005, 19:45/ Wiggins (Mississippi)

Der Raum, der auf dem kleinen Monitor zu sehen war, lag
überwiegend in Dunkelheit. Lediglich zwei Kerzen erhellten ihn
notdürftig, konnten aber die breiten, schwarzen Schatten nicht
vertreiben, die sich um die Lichtinseln herum gebildet hatten.
Die Wände und der Boden bestanden aus dunklem Holz. Die
Maserungen waren kaum zu erkennen.
Ein Tisch schob sich von links in die Szene. Seine Platte
wies ein seltsames Muster auf. So, als habe jemand mit einem
Messer Zeichen oder Worte eingeritzt. Manche der Markierun-
gen wirkten, als seien sie von einem Kind angefertigt worden.
Andere wiederum wirkten ansprechend und kunstvoll. Das
Holz des Tisches war mit jenem identisch, aus dem der Raum
gefertigt worden war. Nachgedunkelt, höchstens roh behan-
delt.
Die Kamera bewegte sich. Langsam, abgehakt. Sie
schwenkte etwas, so dass mehr von der Inneneinrichtung zu
erkennen war. Die Stühle etwa, ein zweiflügeliger Schrank und
ein goldener Kerzenständer mit sieben Armen. Ach, da steht
also die Menora. Schön, sie gefunden zu haben. Tatsächlich

352
hatte dieser Kerzenständer wenig Ähnlichkeit mit jenem religi-
ösen Symbol, welches auf Jahwes Geheiß angefertigt worden
war. Es war eben ein Leuchter mit sieben Armen – fertig.
Aber noch etwas stach mir ins Auge. Ein verhangener Ge-
genstand, der in der Mitte des Tisches stand. Hoch wie ein Pit-
cher19, nahezu ebenso breit und oben rund zulaufend. Die Fi-
gur des Iz.
Es war nur eine Vermutung, nicht mehr. Aber ich ging davon
aus, damit richtig zu liegen. Ein weißes Tuch verhüllte sie.
Die Kamera bewegte sich wieder. Sie näherte sich der Figur,
wich dann aber zurück und drehte sich. Eine Tür kam ins Bild,
roh aus Holz gezimmert. Daneben ein mit einem Laden ver-
schlossenes Fenster.
„Ich glaube“, sinnierte Lori, „ich kenne diese Hütte. Es könn-
te die am Mayers Yard sein. Meinst du nicht auch, Dad?“
„Könnte sein“, sinnierte der Mann. „Ein See, nicht weit von
hier. Acht oder zehn Meilen vielleicht. Niemand weiß, wem sie
gehört. Pärchen nutzen sie manchmal, um ...“ Er drehte den
Kopf. „Woher kennst du diese Hütte eigentlich?“
Lori wurde rot. Doch dann fing sie sich wieder. So, als würde
ihr meine Anwesenheit Mut geben. „Pa, ich bin kein kleines

19
Ein Becher für Getränke, in Deutschland meist 1,5 Liter fassend.
Wird meist für Gruppen in Restaurants geordert. In Deutschland
z.B. bei Pizza-Hut verbreitet.

353
Mädchen mehr. Was denkst du denn von mir? Außerdem, wo-
her kennst du sie denn?“
„Können wir zur Sache zurückkommen“, drängte ich. Noch
war nicht viel geschehen. Mir war auch nicht klar, wer die Ka-
mera hielt. Peter? Tony von Tony’s Tonk? „Wo genau ist diese
Hütte? Ich muss sofort da hin!“
„Sie fahren in Richtung Highway 59, biegen aber kurz vorher
links ab. Ist ein schmaler Feldweg. Im Grunde brauchen Sie
nur den Schildern zum See zu folgen. Wenn Sie den erreicht
haben, halten Sie sich wieder links und stoßen ganz automa-
tisch auf die Hütte. Ein provisorischer Grillplatz erstreckt sich
davor. Aber seien Sie vorsichtig – zu dieser Jahreszeit ist der
Boden dort schlammig. Der Fluss, der den Mayers Yard
speist, kommt aus dem Norden und führt mehr Wasser als ge-
wöhnlich. Sie haben Glück. Sonst regnet es hier im Dezember
wie die Hölle. Aber im Moment geht es noch. Auch die Tempe-
raturen sind moderat. Anders als sonst. Es könnte ein schöner
Dezember sein ....“
Das war eine Untertreibung. Ich hatte noch nie einen solch
warmen Winter erlebt wie hier im Süden. Die Temperaturen la-
gen konstant über zehn Grad, manchmal sogar deutlich höher.
Wenn dies moderat war, dann wollte ich keine guten Tempera-
turen erleben.
„Dann werde ich mich mal auf den Weg machen. Besser ...“
Mir blieb das Wort im Halse stecken, als nicht weit vom Diner

354
entfernt zwei Kreuze zu brennen begannen. Reverend Wa-
shington sprach noch immer. Seine Stimme dröhnte durch die
Straßen. Die Weißen waren zu meinem Erstaunen fast ver-
stummt. Als sie nun aber die beiden Kreuze sahen, stießen sie
unbändigen Jubel aus. Mehrere Kluxer hatten die Dinger auf-
gestellt und ließen sich nun von ihren Kameraden feiern.
„Nicht auf die Provokation eingehen“, brüllte Bender in das
Mikrofon. „Darauf warten die Rassisten doch nur. Wir wollen
friedlich für unser Recht eintreten, unbehelligt und ohne Angst
in dieser Gemeinde, dem County oder dem Bundesstaat zu le-
ben.“
Gleich beschwören sie den Geist von Martin Luther King.
War er nicht gegen Gewalt?
„Nigger haben keine Rechte, Nigger haben keinen Stolz!“,
rief einer in seine Flüstertüte. „Lasst sie alle krepieren, brennt
sie ab wie dieses Holz.“
Wir schauten fassungslos hinaus.
Wie lange noch, ehe sie sich die Köpfe einschlagen? Bis es
hier zugeht wie auf einem Schlachtfeld? „Also – dann werde
ich mal verschwinden. Können Sie mich rauslassen und hinter
mir absperren? Der Abend hat erst begonnen und schon
brennt es.“
„Ich begleite dich“, rief Lori plötzlich. „Dann geht es noch
schneller und du verfährst dich nicht.“

355
„Auf keinen Fall“, protestierte ich. „Das ist zwar sehr nett von
dir, kommt aber nicht in Frage. Wer weiß, was sich dort in der
Hütte abspielen wird. Das ist kein Spiel, Lori.“
Die junge Frau schmollte. „Schade. Wäre gerne dabei gewe-
sen. Was immer in der Hütte passiert ist bestimmt besser als
das, was sich hier tut.“
„Da wäre ich mir nicht so sicher. Außerdem kann es sein,
dass dich dein Dad braucht.“
Waterstone nickte mir zu, während ich mich auf den Weg
nach draußen machte. Der Lärm war auf dem Parkplatz des
Hotels bedeutend lauter zu hören, als im Restaurant. Die
Scheiben hielten doch einiges ab.
Ein Einsatzwagen der Feuerwehr jagte an mir vorbei, um
schließlich mit quietschenden Reifen stehen zu bleiben. Neu-
gierig blieb ich stehen und schaute mir die Szene an. Vier
Männer sprangen aus dem Führerhaus, holten einen Schlauch
hervor und gingen gemächlich zu den Kreuzen. Die Kluxer
stellten sich ihnen in den Weg, überlegten es sich aber anders
und machten den Weg frei. Vielleicht auch, weil von der Town-
hall her zwei Deputys wild gestikulierend auf sie zu kamen.
Weißer Schaum legte sich auf das Feuer. Als ich meinem Wa-
gen erreichte, waren die Flammen gelöscht.

356
We didn’t start the fire. It was always burning,
since the worlds been turning. We didn’t start the
fire, no we didn’t light it, but we tried to fight it20.

Während der Ford über den Parkplatz des Hotels rollte, fiel
mein Blick wieder auf den kleinen Monitor. Noch immer zeigte
der Bildschirm die Hütte. Nichts hatte sich verändert. Auch war
die Kamera wieder zu ihrem ursprünglichen Platz zurückge-
kehrt und verharrte nun nahezu reglos. Ein Teil des Tisches
war zu sehen, die Wände und der Boden.
Sonst nichts.
Die Anspannung in mir nahm zu. Die Worte des Schwarzen,
als er mir den kleinen Fernseher gegeben hatte, fielen mir ein.
Und morgen wird jeder in der Gegend wissen, dass sich die
Nigger aus Wiggins nicht länger abschlachten lassen.
Was also hatten sie vor? Ein Blutbad? War es besser, Cof-
fey zu der Hütte zu bestellen? Oder handelte es sich bei die-
ser ganzen Geschichte um ein Ablenkungsmanöver? Schlu-
gen die Schwarzen ganz wo anders zu und wollten mich ledig-
lich aus der Schusslinie haben? Wenn, dann waren Lori und
ihr Vater in Gefahr. Andererseits hätte sich Peter nicht so viel
Mühe gegeben, nur um mich aus der Gefahrenzone zu holen.
Der Bildschirm, der Empfänger – nein, da steckte etwas ande-

20
Billy Joel – We didn’t start the fire

357
res dahinter. Er wollte, dass ich seiner Form der Gerechtigkeit
zuschaute. Wie auch immer die auch aussehen mochte.
Unwillkürlich gab ich etwas mehr Gas. Die Stadt und der
Aufstand dort blieben zurück. Allerdings leuchtete das Licht
auf dem Platz vor dem Rathaus so hell, dass es noch lange im
Rückspiegel zu sehen war.
Ich bemühte mich, einerseits auf die Straße zu schauen, an-
dererseits aber auch das Bild im Blick zu behalten. Ich fürchte-
te, etwas zu verpassen. Manchmal reichte schon ein kleiner
Hinweis, um klarer zu sehen.
Die 59 lag vor mir. Vorher links abbiegen. So lautete die An-
weisung. Im Strahl der beiden Lampen erkannte ich nur Bü-
sche und Sträucher, ein paar Bäume und den Straßengraben.
Eine Abzweigung fiel mir nicht auf.
Das Bild auf dem Monitor begann, leicht zu ruckeln. Erst er-
kannte ich nicht den Grund. Doch dann schwenkte die Kame-
ra. Die Tür wurde sichtbar. Sie schwang auf, ein Mann trat ein
– und schrie überrascht auf. Sein Gesicht zeigte Freude, wäh-
rend er auf die Kamera zulief und wohl jenen umarmte, der sie
hielt.
Erst, als sich der Neuankömmling wieder nach hinten lehnte,
erkannte ich ihn. Einer der Killer. Scheiße – das ist einer von
den Bastarden, die Spector auf dem Gewissen haben.
Verzweifelt suchte ich die Abzweigung, ohne sie zu finden.
Fast schon hatte ich die Bundesstraße erreicht.

358
Der Killer bewegte die Lippen. Der Ton kam mit etwas Ver-
spätung bei mir an. „Ich dachte wirklich, dieser Bastard hätte
dich in deiner eigenen Bank ermordet. Mann, bin ich froh, dich
zu sehen!“
Der Wagen schlitterte, als er von mir abrupt zum Stehen ge-
bracht wurde. Bekker. Er ist der Mann an der Kamera. Aber
was soll das alles? Wieso hockt der ... Natürlich, er wurde
zombiefiziert. Mein Blick huschte umher.
Keine Abzweigung.
Vorbei. Muss an der Abzweigung vorbei gefahren sein. Ver-
fluchter Mist!
Die Reifen radierten über den Asphalt, als ich den Wagen
wendete. Kurz darauf fuhr ich in entgegengesetzter Richtung
und damit wieder auf Wiggins zu.
Auf dem Monitor wurde es noch lebhafter. Wieder kam je-
mand, sah Bekker und fiel ihm um den Hals. Es war jener, der
meinen Klienten erschossen hatte.
Ein Happening. Vermutlich frohlockt Peter gerade. Würde
mich wundern, wenn der Sender Bild und Ton an nur einen
Empfänger übertragen würde.
Im kalten Licht der Xenon-Scheinwerfer tauchte eine schma-
le Abzweigung auf. Sie war kaum zu sehen, fast verborgen
durch tief hängende Äste. Ein Wegweiser stand am Straßen-
rand. Zum See war darauf zu lesen.

359
Die Kamera zuckte. Die beiden Killer redeten nun auf Bekker
ein, der jedoch nicht viel erwiderte. „Kopfschmerzen“, murmel-
te er. „Benommen und müde.“
Die beiden Männer verstanden, gratulierten ihm zu seinem
Erscheinen und nahmen am Tisch Platz. Einer von ihnen zog
an der Abdeckung, die noch immer über der Figur lag. Da die
Kamera auf sie gerichtet war, konnte ich deren Enthüllung mit
verfolgen.
„Iz!“ Der Ruf kam aus meinem Mund, ohne dass ich ihn un-
terdrücken konnte. Für einen Moment erschrak ich und starrte
ängstlich auf den Fernseher. Aber natürlich hatten mich die
Männer nicht gehört.
Was mich nun allerdings zu wundern begann war, dass nie-
mand mit Bekker über die Videokamera sprach. Sahen sie das
Ding nicht? Vielleicht haben sie ihren Zombie präpariert. Wie
einen V-Mann der Polizei.
Die Räder holperten über den unebenen Boden. Der kleine
Bildschirm hüpfte auf und ab, bekam plötzlich Schwung und
flog zwischen Beifahrersitz und Mittelkonsole. Verdammter
Mist. Das darf doch nicht wahr sein.
Ein waghalsiges Manöver folgte. Einerseits musste ich das
Gerät holen, andererseits wollte ich aber nicht anhalten.
Der Weg verlief gerade. Zur Seite beugen, mit den Fingern
nach der Mini-Glotze angeln, sie sofort finden und wieder
hochkommen, noch ehe der Ford einen Baum küsste.

360
Ein Vorhaben, welches mir bravourös gelang. Zumindest bis
zu diesem Moment, als meine Finger den Apparat berührten.
Leider lag er ungünstig, alles dauerte zu lange und schon hol-
perte es heftig, als der Ford in den Graben rutschte. Der Gurt,
den ich natürlich hatte lösen müssen, hielt mich nicht. So kam
es, dass der Wagen zwar keinen Baum, mein Kopf dafür die
Mittelkonsole küsste.
„Das ist doch ... Verdammter, elender Scheiß.“ Wütend
schlug ich mehrfach auf das Lenkrad, tauchte wieder zur Seite
und fand endlich den Fernseher.
Bauer. Er war zu sehen, ebenso ein paar andere Männer,
die ich nicht kannte. Sie alle standen um Bekker herum, der
wieder von Kopfschmerzen und Müdigkeit sprach. Sie nickten
ihm zu.
„Das ist nur natürlich. Immerhin hielten dich alle für tot.
Weißt du, was das für ein Spinner war, der dir das Zeug über-
gestreut hat?“
„Nein. Aber er ist tot.“ Die Stimme des Bankers klang unsi-
cher, fast stotternd.
„Ja, Die niggerliebende Judenfotze hat ihn erschossen.
Dachte nicht, dass ein Yid mal zu was gut sein könnte. Kam
die elende Schlampe doch tatsächlich zu mir und spielte sich
auf.“ Der Mann warf den Killern einen schiefen Blick zu. „Sie
treibt sich immer noch in Wiggins rum. Ich möchte, dass ihr sie

361
erledigt. Lasst es wie einen Mord des Klans aussehen, aber
erledigt sie.“
„Wir könnten sie ans Kreuz nageln und dann, wenn sie da
eine Zeit lang gehangen und sich in ihre Hose geschissen hat,
das ganze Ding abfackeln.“
„Klingt gut“, stimmte Bauer zu. „Macht es so. Die Juden ha-
ben den Heiland gekreuzigt. Soll die Fotze kosten, wie das ist.
Aber zeichnet es für die Nachwelt auf. Vielleicht gibt es jeman-
den, dem wir das Band schicken können. Notfalls der Tochter
von Spector. Wie heißt das kleine Miststück? Claire?“
Die Killer nickten. „Claire Spector, ja“, erklärte der Schütze
dabei. „Dreht Pornofilme. Ein verdorbenes, verkommenes
Miststück. Aber das ist ihr Problem. Sie ist kein Yid und kein
Nigger. Also lassen wir sie. Ihr Vater hätte uns die Figur geben
sollen, als er noch konnte.“
Ihr blöden Wichser. Wenn ich euch in die Hände bekomme,
dann brennt hier noch etwas ganz anders.
Der Motor des Ford heulte auf, als ich mittels Rückwärts-
gang aus dem Graben kommen wollte. Dreck spritzte auf,
mehr geschah aber nicht. Also dann ... laufe ich eben. Der
Teufel soll es holen.
Es wurde eine kleine Turnübung, aus dem Wagen zu gelan-
gen. Dieser stand so ungünstig, dass das linke Hinterrad in
der Luft hing, die Schnauze allerdings nicht auflag. Darum
schaukelte er hin und her. Es würde wohl einen Traktor oder

362
einen Abschleppwagen brauchen, um den Ford wieder auf
den Weg zu heben.
Das Problem war nicht nur, mich per Pedes fortbewegen zu
müssen. Vor allem fehlte mir Licht. Eine Taschenlampe besaß
ich nicht, der Mond über mir war keine große Hilfe und auch
sonst gab es keine Lichtquellen. Dennoch musste ich weiter,
ob ich wollte oder nicht. Einzig der Monitor in meiner Hand gab
etwas Helligkeit ab. Aber als Leuchte diente er ebenfalls nicht.
Zumal er auf Akku lief und irgendwann seinen Geist aufgeben
würde.
„Wir haben uns heute hier getroffen, um die Rückkehr des Iz
vorzubereiten. Gestern schon setzte man mich darüber in
Kenntnis, dass sich der Dämon bald stark genug fühlen würde,
um seine Abbildung zu verlassen. Ist das so?“
„Ja, das stimmt.“ Einer der Killer gab die Antwort. Jener, der
die Figur aus dem Tresor genommen hatte. Offenbar verfügte
er über einen besonderen Draht zu Iz. Also du warst es, der
Bauer angerufen hat. Langsam löst sich alles auf. „Wir sind
bereit, um das große Ritual abzuhalten. Nach dem letzten Op-
fer hat Iz seine Stärke zurückgewonnen und ist bereit, befreit
zu werden.“
Bauer grinste von einem Ohr zum anderen. „Perfekt. Wir
werden ihn heute aus seinem Gefäß befreien und seinen Dank
genießen. Wie ein Wirbelsturm wird der Dämon über die Nig-
ger kommen. Nichts und niemand wird ihn stoppen können.“

363
„Und anschließend die Juden, die Spics21 und all das andere,
unwerte Gewürm.“ Ein Mann, den ich nicht kannte, schien sich
ein wenig hervortun zu müssen. Er schaute Beifall heischend
zu Bauer.
„So ist es. Wir werden tun, was andere vor uns vergeblich
versuchten. Keine Konzentrationslager, um die Hakennasen
zu vergasen. Keine brennenden Kreuze für die Nigger und kei-
ne Anschläge auf die Spics.“
„Scheiße, was habt ihr alle gegen die Nigger?“, ließ sich der
Schütze vernehmen, der Spector auf dem Gewissen hatte.
Bauer drehte den Kopf und starrte ihn an.
„Ehrlich“, meinte der Killer. „Ich habe nicht das Geringste ge-
gen die Shitskins. Mehr noch – ich finde, jeder sollte ein paar
von ihnen besitzen.“
Gelächter brach aus. Die Söhne des Iz schlugen sich regel-
recht auf die Schenkel vor Vergnügen.
Lacht ihr nur. Wenn nicht die Schwarzen über euch kommen
wie ein Wirbelwind, dann bin ich es. Dafür garantiere ich.
Etwas hilflos stolperte ich den Weg entlang. Er war mit
Schlaglöchern übersät. Zudem ragten Wurzeln vom Rand her
hinein.
Immerhin gelang es mir, auf dem Weg zu bleiben und mich
auch irgendwie dem See zu nähern. Ich konnte nur hoffen,
dass die Hütte gut zu sehen war oder ihr Licht trotz der ge-
21
Schimpfwort für Mexikaner und Mulatten

364
schlossenen Fensterläden in die Nacht leuchtete. Wenn nicht,
dann gehe ich am Ende noch baden. Das wäre dann aber die
Blamage schlechthin. Erst ein Auto in den Graben gesetzt,
dann ein erfrischendes Bad im See.
Aber dazu kam es nicht mehr. Plötzlich tauchten aus dem
Nichts mehrere Gestalten auf und begannen, mich zu umrin-
gen. Männer, allesamt. Und schwarz.
„Peter sagte, dass Sie wahrscheinlich hier in der Gegend
auftauchen würden.“
„Schön. Dann sagen Sie Peter, dass ich zu der Hütte gehe
und mir die ganze, verdammte Bande zur Brust nehme.“
„Oh ja?“ Der Mann vor mir ließ seine Zähne sehen, als er
breit grinste. „Sie gehen in die Hütte. Und dann? Ziehen Sie
den Revolver und mähen Sie alle nieder? Wenn das Ihr Plan
ist, dann nur zu. Oder wollen Sie die Mörder da drinnen ver-
haften? Sie? Ohne Wagen? Das wird ein interessanter Marsch
zurück nach Wiggins.“
Du kannst mich so was von am Arsch lecken. Wie kommst
du eigentlich dazu, dir solche Sprüche anzumaßen? Und auch
noch Recht zu haben damit? „Ich will ...“ Mir fiel ein, dass ich
eigentlich gar nichts wollte. Abgesehen von meiner Rache. Die
Idee, jedem Einzelnen da drinnen in der Hütte eine Kugel in
den Kopf zu jagen, war verlockend. Doch zur Henkerin eignete
ich mich nicht. Zumal sie in Mississippi auch Frauen die
Giftspritze verpassten; Jüdinnen sowieso. Doch sonst gab es

365
nichts mehr zu wollen. Nur noch eine Frage blieb offen – wie
hatten die Söhne des Iz von Spectors Fund erfahren? Aber
selbst wenn ich die Hütte stürmen, sie alle mit meiner Pistole
bedrohen und unter Druck setzen würde, war eine Antwort
nicht garantiert. Oder so profan, dass sich das Risiko einfach
nicht lohnte.
„Kommen Sie mit. Heute Nacht drehen wir den Spieß um
und schreiben Geschichte.“
„Ach? Ich hoffe nur, die Geschichte wird nicht mit Blut ge-
schrieben. Diese Texte gefallen mir nämlich ganz und gar
nicht.“

366
Kapitel 25

21. Dezember 2005, 21:50/ Außerhalb von Wiggins (Mississippi)

Die Frau vor mir sah aus, als sei sie bereits tot. Ihre schwar-
ze Haut hatte einen grauen Ton angenommen, die sonst roten
Lippen waren blass und ihr Haar wirkte ungepflegt. Sie starrte
mich aus dumpfen Augen an. Eine einzigem stumme Anklage
schien von ihr in meine Richtung zu wehen.
Und warum?
Weil ich eine Weiße war.
„Das ist Misses Springs“, erklärte Peter. Er und gut zwanzig
Schwarze standen neben mir in einem Unterschlupf, der ver-
mutlich von Anglern und Jägern benutzt wurde. „Die Mutter
von Jezzy. Sie ist heute Abend bei uns, damit ihr Leben ein
bisschen leichter wird.“
„Ach? Weiß dein Vater, was du hier treibst? Er hält gerade
eine flammende Rede vor der Townhall in Wiggins. Vielleicht
wäre er auch gerne dabei?“
„Nein“, gab mein Kollege zu, „das glaube ich nicht. Mein Va-
ter redet und redet und redet. Als könne er damit das Problem
lösen. Er marschierte einst mit King und das steckt ihm noch
immer im Leib. Wir hingegen sind hier, um zu handeln. Das

367
Problem bei der Wurzel zu packen und es auszureißen. Nicht
wahr?“
Ein vielstimmiges Ja erklang. Misses Springs schluchzte
herzergreifend.
„Sind noch mehr Mütter und Väter anwesend? Wird es eine
Lynchparty? Ich hoffe, es gibt auch Kuchen und Limonade.“
„Ja, die Angehörigen der anderen Opfer sind auch hier. Li-
monade haben wir allerdings nicht. Aber ...“ Peter funkelte
mich an. Doch dann deutete er auf einen bedeutend größeren
Monitor, der rechts von ihm stand und ebenfalls das Bild aus
der Hütte zeigte. „... gelyncht wird heute Abend.“
„Wie der Klan. Der lyncht auch.“
Einer der Schwarzen schlug mich ins Gesicht. „Niemals, nie-
mals wieder vergleichst du uns mit dem Klan, Judenweib.“
Peter stieß ihn entsetzt zur Seite. „Was denkst du, was du
hier tust? Sie hasst diese Leute in der Hütte genau wie wir. Sie
wurde vom Klan ebenfalls angegriffen. Schlag sie noch ein-
mal, und du kannst was erleben.“
„Nein. Wie könnte ich dich mit dem Klan vergleichen“, giftete
ich den Schläger an. „Die geben mir Hassnamen wegen mei-
ner Religion. Anders als du. Ach nein, hast du ja auch getan.“
Seine Augen blitzten, doch er ließ sich nicht dazu hinreißen,
mich erneut anzugreifen. Schade eigentlich, denn diesmal
wäre ich darauf vorbereitet gewesen. Noch einmal hätte er
mich nicht überrascht.

368
„Beruhigen wir uns wieder?“ Eine tiefe Stimme erklang. Aus
dem Hintergrund schob sich Tony hervor. In seiner Begleitung
befand sich die Mambo sowie die anderen Mulatten, die ich
bereits von dem Ritual her kannte. „Es wird Zeit, den munteren
Haufen da drinnen aufzumischen.“
Die Voodoo-Priesterin kam auf mich zu und strich mir über
das Gesicht. Ihre Blicke schienen in meine Seele eindringen
zu wollen. „Du hast das Böse gesehen“, erklärte sie bestimmt.
„Du hast ihm gegenüber gestanden und es bekämpft. Deine
Seele ist zerschunden, dein Herz voll Zweifel. Aber du weißt.
Es ist gefährlich zu wissen. Denn das Böse will nicht erkannt
werden. Wer es kennt, den bekämpft es.“
Sie ging weiter. Peter zuckte nur mit den Schultern, während
er mir einen kurzen Blick zuwarf, folgte der Mambo jedoch
zum Monitor.
„Ist es Zeit, die Rache zu beginnen?“, fragte die Priesterin.
„Ja“, rief Peter.
„Nein“, rief ich.
Die Priesterin drehte sich um. „Nein?“
„Es gibt noch etwas zu klären. Was immer ihr vorhabt – ich
brauche Antworten.“
Es war der Versuch, Zeit zu schinden. Keinesfalls wollte ich,
dass diese Menschen in der Hütte abgeschlachtet wurden.
Zwar war da ein Teil in mir, der sich genau das wünschte.
Aber auch wenn es abgeschmackt klingt; ich konnte das nicht

369
mit meinem Gewissen vereinbaren. Ich war – und bin – gegen
Lynchjustiz. Zudem befürchtete ich, dass der Tod der Rassis-
ten die Situation in Wiggins eskalieren lassen könnte.
„Welche Fragen?“, zischte Tony. „Es ist doch alles klar! Das
sind die Mörder unserer Freunde. Sie haben Jezzy auf dem
Gewissen.“
Misses Springs schluchzte lauter. Sie war auf Rache aus –
und das konnte man ihr nicht verdenken.
„Für mich und meine Arbeit sind aber noch nicht alle Fragen
geklärt. Ich wüsste gerne, woher die Söhne des Iz wussten,
dass mein Klient die Figur besitzt. Meine Auftraggeberin wird
es erfahren wollen.“
Tony winkte ab. „Das ist nicht wichtig. Nur unsere Rache ist
wichtig. Es ist Zeit.“
„Wenn es Rebecca wissen will, werden wir diesen Punkt klä-
ren“, schaltete sich die Mambo ein.
Woher kennst du meinen Namen? Von Peter? Oder bist du
so verflixt gut?
Sie trat an den Monitor. Doch nicht über ihn trat sie mit Bek-
ker in Verbindung, und auch nicht über ein Funkgerät. Statt
dessen holte sie eine kleine Puppe hervor. Sie hatte nicht die
geringste Ähnlichkeit mit ihrem Opfer. Lediglich das Haar auf
dem Kopf des Püppchens sah aus, als stamme es von Bekker.
Dann hat er ja jetzt noch weniger. Aber wenigstens war mein
Wissen über Voodoo nicht völlig falsch, hier ist eine Puppe.

370
Die Mambo strich über die Puppe hinweg. Ihr Blick blieb da-
bei jedoch auf mich gerichtet. „Äußere deinen Wunsch. Gib
ihm direkt den Befehl.“
Sie reichte mir die Puppe. Fasziniert besah ich mir das klei-
ne Ding. Es besaß Knopfaugen, war aus Stoff gefertigt und
hätte jedes Kinderherz höher schlagen lassen. Glauben oder
nicht glauben, das ist hier die Frage. Ist es das? Scheiße –
Werwölfe, ein Dämon und jetzt ...
Mein Stimme klang unsicher, als ich die Worte aussprach:
„Frage Bauer, woher er von Spectors Fund wusste.“
Unwillkürlich fiel mein Blick auf den Monitor. Die Kamera wa-
ckelte. „Sag mal“, erklang Bekkers Stimme. „Woher wusstest
du eigentlich von Spectors Fund?“
Ungläubig starrten ihn die anderen an. „Dir geht es nicht gut,
oder?“ Bauer klang gereizt. „Du warst doch dabei, als wir über
die Sache sprachen. Unser Kontaktmann in Ungarn stieß auf
den Abenteurer, der die Figur fand.“
„Entschuldige dich und sag ihnen, dass dir dein Kopf sehr
schmerzt.“ Langsam fand ich Gefallen an der Sache.
„Entschuldigung“, kam es aus den Lautsprechern,„mein Kopf
schmerzt so.“
Bauers Blick wurde milde. „Schon gut, Steven. Du wirst wie-
der. Aber nun sollten wir uns auf das Ritual konzentrieren. Es
wird Zeit, Iz zu befreien.“

371
„Es wird Zeit, zu handeln“, schaltete sich Tony ein. Er riss
mir die Puppe aus der Hand und reichte sie der Mambo. „Tu
es jetzt und schick die Bastarde zur Hölle.“
Peter griff nach meinem Arm und zog an mir. „Geh etwas zu-
rück. Es ist sicherer, wenn du nicht direkt daneben stehst. Du
sollst zuschauen, aber nicht eingreifen. Tut mir leid, aber wir
trauen dir nicht.“
Oh, vielen Dank. Ja, trau der jüdischen Schlampe bloß nicht
über den Weg!
Er zerrte mich so weit zurück, dass ich noch auf den Bild-
schirm schauen konnte. Die Mambo jedoch befand sich außer-
halb meiner Reichweite.
Die Männer in der Hütte fassten einander bei den Händen.
Lediglich Bekker nahm nicht an diesem Ritus teil. Etwas, das
für Unverständnis sorgte.
„Steven“, bat Bauer leise. „Komm, setz dich näher. Wir wol-
len den Kreis bilden.“
Der Mann reagierte, wie die Kamera zeigte. Er stand auf.
Dies war der Moment, in dem die Mambo reagierte. Sie drück-
te die Puppe leicht.
„Zieh deine Pistole und erschieße erst Hank Woodward und
anschließend Josh Bauer. Schieße ihnen zwischen die Au-
gen.“

372
„Nein, das ist Mord“, rief ich. Aber niemand reagierte auf
mich. Auch Peter ignorierte meinen Einwurf. Wie wir alle starr-
te er gebannt auf den Monitor.
Die Kamera wackelte. Eine Hand erschien, und in ihr befand
sich eine Beretta.
„Was soll das?“, schrie Bauer aufgebracht. Eine Antwort er-
hielt er nicht mehr, denn schon krachte der erste Schuss. Ei-
ner der Männer wurde in den Kopf getroffen.
Die Wucht des Einschlags warf ihn zurück. Er fiel mitsamt
dem Stuhl und blieb reglos liegen.
„Scheiße, der dreht durch“, kreischte Bauer und sprang auf,
um in Deckung zu gehen. Die falsche Vorgehensweise, doch
um in solch einen Moment richtig zu reagieren, muss man
ausgebildet sein und seine Schrecksekunde überwinden kön-
nen.
Ich glaubte schon, Bauer nun sterben zu sehen, doch es
kam anders. Jener, der Spector erschossen hatte, reagierte.
Er griff nach seiner Pistole. Aber schon hatte Bekker zum
zweiten Mal abgedrückt. Die Kugel rasierte Bauer das linke
Ohr ab. Der Rassist schrie gequält auf und presste sich eine
Hand auf die Wunde.
„Steven, was soll der Mist!“, kreischte er mit überschnappen-
der Stimme. „Hör auf mit der Scheiße. Wir ...“

373
Bekker feuerte wieder. Diesmal hieb die Kugel hinter Bauer
in die Wand. Der kreischte abermals und tauchte ab. „Tut doch
was!“, herrschte er die anderen an.
Zu einem vierten Schuss ließ es Spectors Killer nicht mehr
kommen. Er hatte Bauers Order verstanden und handelte. Wie
im Hotel wurde lediglich ein Plopp laut, als er auf den Kopf des
Zombies schoss.
Die Wirkung hingegen war frappierend. Blut und Knochen
spritzten durch das Bild, Hirnmasse lief über die Linse. Der
Körper des Mannes wurde mehrfach um die eigene Achse ge-
schleudert, ehe er auf dem Tisch zur Ruhe kam. Die Kamera
zeigte dabei exakt auf die Figur des Iz. Nun konnten wir sie
aus der Nähe sehen. Ihre rot glühenden Augen ebenso wie
den feinen Nebel, der von ihr ausging.
„Dieser elende Mistkerl wollte mich wirklich erschießen“,
murmelte Bauer und kam wieder in die Höhe. „Was sollte das
alles? Warum hat er das getan?“
Eine Antwort erhielt er nicht. Nur unschlüssiges Schulterzu-
cken.
Peter schaute mich triumphierend an. „Der erste Teil der Ab-
rechnung ist gelungen.“
„Ach? Bauer lebt noch. Euer Zombie hingegen ist tot. Sieht
nicht so aus, als würde das funktionieren.“
Der NAACP-Detektiv lachte. „Warte nur ab. Was du bisher
gesehen hast, war nur ein Spiel.“ Er nickte Tony zu. Dieser

374
zog ein kleines Kästchen aus der Tasche. Es war eine Fernbe-
dienung, wie man sie aus dem Wohnzimmer kannte um die
Glotze zu steuern.
„Wir hatten viel Zeit, die Hütte vorzubereiten. Die Explosion
wird man noch in Wiggins sehen. Sie wird zu einem Fanal für
die Schwarzen, ein Zeichen, dass wir zurückzuschlagen.“
„Nein“, wisperte ich. Dann lauter. „Nein, das könnt ihr doch
nicht tun. Ihr könnt doch nicht alle Menschen dort drinnen in
die Luft jagen.“
Peter erhielt von mir einen gezielten Ellenbogenhieb auf den
Solarplexus. Mit einem Röcheln klappte er zusammen.
Mir blieb auch keine Zeit, mich länger mit ihm zu befassen.
Dafür riss ich meine Pistole hervor und zielte auf Tony. „Lass
es. Ich kann nicht zulassen, dass ihr das tut.“
„Dann erschieß mich.“ Ohne auch nur eine Sekunde zu zö-
gern drückte der Mann auf den roten, oberen Knopf. Jener, mit
dem man normalerweise das TV-Gerät aus- und einschaltet.
Doch an diesem Ding bewirkte der Schalter etwas ganz an-
deres.
Ich schaute auf den Monitor. Für einen Moment war eine
blaue Stichflamme zu sehen. Dann erlosch das Bild. Dafür
schoss ein Feuerball nicht weit von uns in den Nachthimmel.
Der Knall der Explosion war ohrenbetäubend. Die Druckwelle
wurde von den Bäumen abgefangen. Dennoch erreichte uns
ein Gluthauch. Er fegte unangenehm heiß über uns hinweg.

375
Jubel brach aus. Die Schwarzen fielen sich in die Arme, als
hätten sie einen riesigen Sieg errungen. Sie feierten den Tod
der Söhne.
Fassungslos, fast wie ein Zombie, wankte ich auf das lodern-
de Feuer zu, welches sich nun am Ufer des Sees abzeichnete.
Bäume in der Nähe der Hütte brannten. Auf dem See trieben
Holzteile.
Vorsichtig näherte ich mich dem Ort der Verwüstung. Unter
meinen Füßen schmatzte es. Ich schaute hinab und wünschte
mir sofort, es nicht getan zu haben. Oh, Innereien.
Meine Innereien begannen zu rebellieren.
Ein Kopf lag nicht weit entfernt von mir auf dem Boden. Sei-
ne toten Augen starrten mich an.
Bauer.
Aber noch etwas sah ich. Ein Teil der Iz-Figur. Die rechte
Gesichtshälfte. Kein unseliges Feuer glomm mehr in der Au-
genhöhle. Es sah so aus, als sei auch dieser Spuk mittels der
Explosion beendet worden. Hinweg gefegt, sozusagen.
Hinter mir kam Hektik in die Gruppe der Schwarzen. Sie ver-
ließen diesen Ort, um ihren Sieg in Tony's Tonk zu feiern. Die
Mambo trat neben mich.
„Damit habe ich nichts zu tun! Meine Aufgabe war es, den
Weißen zu lenken. Ich ließ zu, dass er zwei Menschen ermor-
den wollte. Bei einem gelang es, bei einem nicht. Aber das
hier – das hat nichts mit Voodoo zu tun.“

376
„Warum? Warum hast du Bekker den Befehl gegeben,
Woodward und Bauer zu erschießen?“
„Es war das, worum ich gebeten worden bin und es war das,
was auch ich als gerecht empfinde. Sie haben Menschen ge-
tötet.“
„Wer sagt das? Es gibt keine Beweise hierfür.“
Die Mambo schaute bestürzt. In diesem Moment wurde ihr
und mir klar, dass sie benutzt worden war. Benutzt auf eine
Art, die selbst ihr, einer schwarz-magischen Priesterin des
Voodoo, zuwider war.
Sie wandte sich ab und ging. In diesem Moment glaubte ich,
niemals wieder von ihr zu hören.
Als die Feuerwehr und Sheriff Coffey eintrafen, stand ich
noch immer am See des Mayer Yard und starrte auf das Feu-
er. Ich begriff den Hass nicht, der all das ausgelöst hatte. Ich
verstand nicht, was in drei Teufels Namen in die Menschen
von Wiggins gefahren war.
Gerne hätte ich all das auf Iz geschoben. Mir gesagt, dass er
die Weißen und Schwarzen gegeneinander gehetzt hatte, um
auf seine Kosten zu kommen. Aber das wäre eine Lüge gewe-
sen. Nicht der Dämon und nicht der Voodoo hatten hier für das
pure Grauen gesorgt, sondern der Hass im Herzen der Men-
schen. Ein Hass, der seit Jahrhunderten gärte und noch immer
gären würde, wenn mich längst die Würmer fraßen.

377
„Wissen Sie, was hier passiert ist?“ Der Sheriff griff derb
nach meinem Arm. Er schaute auf den abgetrennten Kopf
Bauers. „Waren Sie das, Cohen? Haben Sie die Hütte in die
Luft gesprengt?“
„Nein. Aber ich weiß, wer den Knopf gedrückt hat. Glauben
Sie mir – ich wollte sie stoppen. Aber es ging nicht.“
„Wer? Nennen Sie Namen!“
„Tony von Tony's Tonk und Peter Washington. Das sind die
Personen, die ich kenne. Es waren noch gut zwanzig andere
hier. Aber die kenne ich nicht.“
„Und wer war alles in der Hütte? Doch bestimmt nicht nur
Bauer, oder?“
„Nein. Er, Bekker und Woodward. Dann noch andere, deren
Namen mir aber ebenfalls nicht bekannt sind.“
„Gut. Wir brauchen Ihre Aussage schriftlich. Sie ... Sie haben
ein blaues Auge.“
„Ja. Einer der Nigger hat mich geschlagen, weil ich etwas
gegen diese Scheiße tun wollte.“ Es war das erste Mal, dass
ich dieses Wort auf diese Weise benutzte. Erschreckend, wie
leicht es mir über die Lippen kam.

378
Kapitel 26

22. Dezember 2005, 08:30/ Wiggins (Mississippi)

„Die Stadt ist außer Rand und Band. Es heißt, der Klan hätte
zwei Nigger-Farmen niedergebrannt. Im Gegenzug haben ein
paar Nigger Geschäfte hier in Wiggins verwüstet. Auch das Di-
ner liegt in Trümmern. Waterstone und seine Tochter sind
schon raus aus der Stadt.“
Wut und Trauer erfüllten mich. Ausgerechnet jene, die sich
aus allem rausgehalten hatten und nicht einmal gegen die
Schwarzen gewesen waren. Die Gerechtigkeit war längst ge-
storben. Es gab sie nicht mehr.
Ich trat ans Fenster des Hotels und schaute hinaus. Aufge-
brachte Kluxer belagerten die Townhall. In Sprechchören for-
derten sie die Herausgabe der Täter. Fernsehteams aus dem
gesamten Süden waren nach Wiggins gekommen, um sich die
Aufstände anzusehen. Die kleine Stadt war bereits in der Glot-
ze zu sehen, wie der kleine Fernseher neben meinem Tisch
zeigte. Sondersendung hieß es dort, und Mississippi Burning –
again.
Zu sehen waren Trümmer der Hütte. Angeblich hatten
Schwarze ein Klantreffen mittels Bomben gesprengt. Was sich

379
wirklich am Ufer des Mayers Yard abgespielt hatte, würde viel-
leicht bei der einzigen Gerichtsverhandlung zur Sprache kom-
men, die sich mit den Geschehnissen rund um die Morde an
Schwarzen befasste. Dann nämlich, wenn man Peter Wa-
shington und Tony den Prozess machte. Eigentlich könnte
man sie auch sofort aus ihren Zellen holen und aufknüpfen.
Das Urteil steht so fest, wie der Morgen am Ende der Nacht.
Coffey war es gelungen, zumindest meinen Namen aus der
Sache rauszuhalten. Vielleicht wussten die Kluxer auch, dass
ich mich ebenfalls am Tatort aufgehalten hatte. Aber wenn,
kümmerte es sie nicht. Ihnen ging es um die Schwarzen.
„Ich bin froh, dass Sie endlich verschwinden. Mit Ihnen kam
die Unruhe.“
„Mit mir? Lady, ich kam, weil hier Schwarze abgeschlachtet
wurden. Erinnern Sie sich?“ Ich werde dein Gekeife vermis-
sen, du Miststück.
„Und? Deswegen gab es keine Randale. Die gab es erst, als
Sie und ihr schwarzer Mörderfreund hier auftauchten und Un-
ruhe stifteten. Vorher waren die Nigger noch friedlich.“
„Sie sind eine ignorante Hexe. Ich werde den Schwarzen er-
zählen, dass Sie auch zum Klan gehören und mich niederge-
schlagen haben. Packen Sie schon einmal.“
Ich warf ihr ein paar Geldscheine auf den Tisch. „Behalten
Sie den Rest. Auf der Flucht braucht man Kohle. Und zum
Aufbau des Hotels werden Sie es auch brauchen.“

380
„Raus“, kreischte sie. Ihre Stimme überschlug sich regel-
recht. „Machen Sie, dass Sie aus meinem Hotel kommen.
Wehe, ich sehe Sie noch einmal in Wiggins. Dann erzähle ich
dem Klan, dass sie eine niggerliebende Judenhexe sind.“
„Das weiß er schon.“ Als ich das Hotel verließ, hatten die
Unruhen bereits die Außenbezirke der Stadt erreicht. Die Na-
tionalgarde marschierte ein, um den Frieden wiederherzustel-
len. Einen Frieden, brüchiger als ein Streichholz. Häuser
brannten, auf der Straße verprügelten sich Weiße und
Schwarze. Schüsse fielen, jemand schrie.
Es war einer der letzten Eindrücke, die ich aus Wiggins mit-
nahm. Coffey hatte mir einen Wagen zur Verfügung gestellt.
Einen Privatwagen, keine Ahnung woher. Mit ihm würde ich
nach Jackson kommen.
Peter und Tony saßen in einem Gefängnis außerhalb des
Countys. Niemand außer den Deputys wusste, wo genau. Sie
würden erst am Tag ihres Prozesses wegen mehrfachen Mor-
des nach Wiggins zurückkehren. Falls der Richter nicht be-
schloss, den Verhandlungsort zu verlegen. Einerseits war es
nicht klug, die Angeklagten in Wiggins vor Gericht zu stellen.
Wie sollten sie hier, in diesem Klima auf ein faires Verfahren
hoffen können? Andererseits sah es in den anderen Countys
nicht besser aus. In ganz Mississippi kannte man ihre Namen,
ihr Verbrechen und dessen Folgen. Und einen Verhandlungs-
ort außerhalb des Bundesstaats sah das Gesetz nicht vor.

381
Wiggins war vielleicht so gut wie jede andere Stadt hier unten.
Doch für mich würde das auch bedeuteten, dass ich für meine
Aussage noch einmal hierher zurückkommen müsste. Unbe-
hagen beschlich mich bei dem Gedanken.
Reverend Washington war schockiert gewesen von dem,
was sein Sohn getan hatte. Doch dazu war es nun zu spät. Er
hätte auf mich hören sollen, als ich ihn anrief. Damals war es
noch nicht zu spät gewesen, um sein eigen Fleisch und Blut
zur Raison zu bringen.
Nun schon.
Die Mambo war nicht ins Visier der Ermittlungen gerückt. Sie
hatte Wiggins noch in der selben Nacht verlassen. Im Verlauf
des Prozesses wurde sie kein einziges Mal erwähnt. So, als
hätte sie schlicht nicht existiert.
Auf einem kleinen Hügel vor der Stadt hielt ich an, stieg aus
und schaute noch einmal zurück. Die Brände loderten hell in
den Morgen. Auch der Lärm von Feuerwehr, Sheriffsdeparte-
ment und Nationalgarde drang zu mir hinauf. Diese Bild brann-
te sich mir ins Gedächtnis.
Vorerst war der Fall für mich jedoch abgeschlossen. Und al-
lein diese Tatsache ließ mich einigermaßen zuversichtlich in
die nahe Zukunft schauen.
Zufrieden hingegen war ich nicht. Zu viele Menschen waren
gestorben, ich hatte vieles nicht verhindern können und Foliant
sowie Tagebuch meines Klienten waren nie aufgetaucht. Dar-

382
um blieb vieles im Dunkeln. Ein unbefriedigendes Ende eines
Falles, der mich mehrfach fast das Leben gekostet hätte.

383
Epilog

30. April 2006, 16:00/ Bloomfield (New Jersey)

„Ich komme. Oh ja, ich komme. Gleich, gleich spritze ich dir
meinen Saft in den Mund. Ja, oooh jaaaaa.“
Der Schwanz des Mannes war regelrecht riesig. Mit hohen
Druck jagte das Sperma aus der Nille und landete klatschend
in und auf dem Mund seiner Partnerin – Claire Spector. Sie
schluckte seinen Samen und leckte sich die Lippen. Dabei
schaute sie ihn hingebungsvoll schmachtend an und rieb da-
bei kurz ihr Fötzchen, ehe sie aufstand und ihn küsste. „Ich lie-
be dich, Jock. Jetzt wird uns nichts mehr trennen.“
„Ich liebe dich auch, Baby. Dich und deine geile Schnecke.“
Sie grinsten obszön, sie leckte sich die Lippen – Abspann.
„Das war er – mein letzter Porno. Und? Wie fandest du ihn?“
Claire schaute mich erwartungsvoll an.
„Nun ja. Deine Darstellung war sehr überzeugend. Und die-
ser Jock ... sein Gerät ist nicht zu verachten.“
Sie lachte laut. „Ja, das dachte ich auch. Allerdings ist der
privat lieber mit einem Typen zusammen. Ist eben alles nur
Show. Die einen sind hetero, drehen aber Schwulenpornos.
Andere sind bisexuell. Und Frauen werden ohnehin nicht ge-

384
fragt. Sie lecken Mösen und lutschen Schwänze, wie es dem
Produzenten gerade in den Sinn kommt.“ Claire strich sich
eine Strähne aus dem Haar. Das, was ich nie für möglich ge-
halten hatte, war passiert – wir waren Freundinnen geworden.
Solche, die miteinander shoppen gingen, über Männer läster-
ten und gemeinsam in Clubs abhingen.
„Und nun? Niemals wieder Pornos? Das Leben einer Millio-
närin genießen?“
„Wer weiß. Vielleicht versuche ich eine zweite Karriere im
normalen Film-Business. Oder ich gehe unter die Produzen-
ten. Erfahrung vor der Kamera prädestiniert dazu, auch hinter
der Kamera zu agieren. Das Geld, die Beziehungen ... Ja, das
könnte ich mir gut vorstellen.“ Sie griff nach ihrem Glas und
nahm einen Schluck Wasser.
„Dann wünsche ich dir viel Glück.“
„Danke“ Sie wechselte das Thema. „Hast du gesehen?“ Da-
mit reichte sie mir eine Zeitung. Todesstrafe im Fall der ge-
sprengten Kluxer.
Es hatte mich nicht überrascht. Wer mehr als ein Dutzend
Personen in die Luft sprengt, muss mit der Todesstrafe rech-
nen. Zumindest in Mississippi und wenn die Täter schwarz
sind. Nun saßen Peter Washington und Tony in Parchman und
warteten auf ihre Hinrichtung. Die NAACP sammelte Geld für
das Berufungsverfahren, die besten Anwälte der Organisation
kümmerten sich um die Sache und Reverend Washington

385
schickte mir täglich zwei Drohfaxe, weil ich seinen Sohn ans
Messer geliefert hatte. Aber was bitte war mir anderes übrig
geblieben? Sowohl Coffey gegenüber als auch während des
Prozesses hatte ich ausgesagt. Man mochte die Schwarzen
verstehen oder nicht – aber Selbstjustiz war keine Lösung. Zu-
mal die anschließenden Aufstände weitere Menschenleben
gefordert hatten.
„Dumm ist, wer Dummes tut“, zitierte ich einen einst populä-
ren Film, streckte mich auf dem Sofa aus und schloss kurz die
Augen. Langsam fühlte ich mich in der Villa heimisch. Es fiel
mir von mal zu Mal schwerer, in meine kleine Bude nach
Queens zurückzukehren. Claire hatte mir angeboten, mir
einen Teil der Villa zu vermieten. Zu einem fairen Preis, wie
sie meinte. Noch hatte ich mich nicht entschieden.
„Und was ist hiermit?“, wollte meine Freundin nach ein paar
Sekunden wissen. Dabei reichte sie mir ein Fax von Denise
und Richard. Spuk in der New Yorker U-Bahn? stand darüber.
Offenbar hatte es unerklärliche Mordfälle gegeben, tief unter
den Füßen der Einwohner des Big Apples. Die Begriffe Zom-
bies, Monster und Dämonen standen im Raum. Offenbar hiel-
ten die beiden Okkultisten und Verschwörungstheoretiker mich
für die geeignete Ermittlerin in dieser Sache. Ich sah dies völ-
lig anders. Mir konnten alle Dämonen dieser Welt den Buckel
runter rutschen. Obwohl der Vater eines Opfers eine hohe Be-
lohnung ausgesetzt hatte.

386
„Sollen mich am Arsche lecken“, erklärte ich genüsslich. „Ich
bin keine Geisterjägerin. Ich bin eine Problemlöserin.“
„Und was ist mit dem Nachsatz? Hast du den gelesen?“
„Nachsatz?“ Blinzelnd schenkte ich dem Fax doch einen wei-
teren Blick. Tatsächlich hatte Denise etwas mit Kugelschreiber
ganz unten, an den Rand des Papiers gekritzelt. Möglicherwei-
se sind der oder die Täter Werwölfe.
Ich griff zum Telefon und wählte die Nummer des Informati-
onsdienstes für politische und klerikale Intrigen, UFO-Sichtun-
gen und Übersinnliche Fragen. „Denise?“, plapperte ich in die
Muschel, kaum dass sich meine Bekannte meldete. „Ich über-
nehme den Fall.“ Es wurde Zeit, den Killer meiner Familie zur
Strecke zu bringen.

Ende

387
Außerdem von G. Arentzen:

Aus der Jaqueline Berger Reihe


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388

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