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Sergiusz Piasecki

Aufzeichnungen des Rote-Armee-Offiziers

( Übersetzung: Leszek Mazurkiewicz )

Dem Genossen I. W. Stalin

22. September 1939. Vilnius.

Die Nacht war schwarz wie das Gewissen des Faschisten, wie die Gedanken des
polnischen Herrn, wie die Politik des englischen Ministers. Es gab aber in der Welt keine
Macht, die die Soldaten der unbesiegbaren Roten Armee hätte aufhalten können.
Voller Stolz und Freude marschierten sie, um Bauern und Arbeiter der ganzen Welt vom
kapitalistischen Joch zu befreien.
Wir überraschten den Feind vollkommen. Ich ging, mit der Pistole im Anschlag, als
Erster, die Jungs hinterher. An der Grenze begegneten wir anfangs niemandem. Dann
aber verstellte uns irgendein verrohter, faschistischer Soldat den Weg. Ich setzte
die Pistole an seine Brust, und meine Jungs bedrohten ihn mit ihren Bajonetten: „Hände
hoch, du Knecht!"
Wir entwaffneten ihn und marschierten hinein. Fast alle dort schliefen. Keiner leistete
Widerstand. Wir nahmen die Gewehre von den Ständern weg und schalteten das Telefon
ab. „Wo ist euer Anführer?", fragte ich einen der Soldaten. „Der da!", zeigte er mit dem
Finger.
Ich schaute hin: Ein ganz dürrer Herr. Vielleicht sogar einer von den Arbeitern; machte
Karriere, indem er seine Brüder verkaufte. Solche Typen sind die schlimmsten. Ich fragte
ihn: „Bist du der Befehlshaber?"
„Ja!", antwortete er, „Worum geht´s?"
Ich wurde wütend, hatte aber keine Zeit mehr, mit ihm richtig fertig zu werden. So sagte
ich nur: „Deine Herrschaft ist beendet und es ist Schluss mit eurem Herren-Polen. Ihr habt
genug Menschenblut getrunken, jetzt müsst ihr das eigene auskotzen."
Man hätte der Gerechtigkeit wegen sowohl ihn als all die anderen verblödeten,
kapitalistischen Knechte erschießen sollen, diese ausbeuterischen Luder. Unser Befehl
aber war klar: Gefangene hinter die Frontlinie schicken! Also ließen wir sie unter
Bewachung zurück und gingen weiter. Unsere Adler vom Volkskommissariat
für Staatssicherheit, der NKWD, werden mit denen schon fertig. Für uns ist die Zeit zu
kostbar, denn wir haben wichtige Kampfaufgaben zu erledigen.
Wir gingen weiter den Weg geradeaus, Richtung Molodeczno. Es war still. Nirgendwo
ein Licht zu sehen, keine Menschen. Das wunderte mich ein wenig. So viel hatte ich über
die Schlauheit der polnischen Herren gelesen, und dieses Mal haben wir sie überlistet.
Wie der Schnee sind wir ihnen auf den Kopf gefallen.
Das müsste mal meine Dunja sehen, wie stolz und tapfer ich an der Spitze der ganzen
Roten Armee voranschreite, als Verteidiger des Proletariats - und als sein Befreier. Aber
wahrscheinlich schlief sie schon und träumte nicht einmal davon, dass ich, Mischka
Zubow, in dieser Nacht Held der Sowjetunion geworden bin.
Sie ahnt nicht, dass ich, damit sie ruhig, freudig und im Wohlstand leben und arbeiten
kann, in den blutigen Rachen des kapitalistischen Tieres hinein schreite. Ich bin stolz
darauf. Ich weiß, dass ich meinen unterdrückten Brüder und Schwestern in Polen
das Licht der ihnen unbekannten Freiheit und unsere große, in der Welt einzigartige, echte
sowjetische Kultur bringe. Genau darum geht es, um die Kultur, verflucht! Sie sollen sich
überzeugen, dass sie ohne die Herren und die Kapitalisten endlich freie, glückliche
Menschen und Baumeister der gemeinsamen sozialistischen Heimat des Proletariats
werden. Mögen sie die Freiheit atmen, unsere Errungenschaften sehen! Sie sollen
begreifen, dass nur Russland, die große MUTTER der unterdrückten Völker, die
Menschheit von Hunger, Versklavung und Ausbeutung befreien kann! Ja!
Erst sieben Kilometer hinter der Grenze begegnete uns die tierische Gegenwehr der
blutigen Kapitalisten. Wahrscheinlich konnte einer von ihnen die Dunkelheit nutzen, aus
dem polnischen Wachhaus fliehen und die Kapitalisten über die Ankunft der
unbesiegbaren proletarischen Armee informieren.
Jemand rief etwas in der polnischen Hundesprache. Ich verstand es nicht, antwortete
nur laut und drohend, bis es hallte: „Ergib dich, du Faschist, sonst vernichten wir dich."
Vorne dröhnte etwas plötzlich. Wir sprangen sofort ins Gebüsch, in den Straßengraben,
wie die militärische Taktik es befiehlt, um Schutz zu suchen. Dann holten wir unsere
Maschinengewehre hervor - und los: Mit Serienbeschuss belegten wir den Feind.
Der Wald stöhnte nur. An die zwei Stunden lang schossen wir. Niemand antwortete. Aber
man muss immer vorsichtig sein, denn der Feind ist schlau. Vielleicht lauerte er noch da
und wartete.
Unterdessen wurde es hell. Wir schauten uns genauer um: Auf der Straße vor uns stand
ein mit Heu beladener Pferdewagen, daneben lag ein totes Pferd. Sonst war niemand
mehr zu sehen...
Wir gingen weiter, vorsichtig, um nicht in eine Falle zu geraten. Aber alles endete
glücklich. Der Feind muss verstanden haben, mit welcher Macht er zu tun hat und
flüchtete in Schande.
Auf diese Weise marschierte ich, Unterleutnant der unbesiegbaren Roten Armee, an der
Spitze meines Zuges in das kapitalistische Polen ein. Und dies geschah in der Nacht des
17. September 1939. Hurra, hurra, hurra!
Meine Notizen beginne ich in der Stadt Vilnius. Ich schreibe sie zum Ruhm unserer
mächtigen Roten Armee und vor allem, zum Ruhm ihres großen Führers, Genosse Stalin.
Ihm auch, selbstverständlich, habe ich sie gewidmet. Ich weiß gut, dass meine Feder zu
machtlos ist, um unseren großen Führer und meine Liebe zu ihm richtig zu beschreiben.
Dazu bräuchte man die Feder von Puschkin oder Majakowski. Ich kann lediglich nur
genau aufzeichnen, was ich in diesen großen und historischen Tagen, als einige
unterdrückte Völker aus der Sklaverei befreit wurden, gesehen und gehört habe.
Wenn ich an unseren großen FÜHRER und LEHRER denke, dann spüre ich Tränen in
den Augen. Was wäre ich ohne ihn? Ein Sklave des Zaren, unmenschlich unterdrückt und
ausgenutzt. Und jetzt bin ich, dessen Vater ein einfacher Arbeiter war, ein Offizier. Ich
habe die Ehre, dem Komsomol anzugehören; habe die 9-jährige Schule absolviert, kann
lesen und fast fehlerlos schreiben. Ich kann am Telefon sprechen und kenne politische
Schriften; esse tagtäglich echtes Brot; trage Schuhe aus Leder. Ich bin ein gebildeter und
zivilisierter Mann. Außerdem genieße ich die allergrößten Freiheiten, die ein Mensch auf
Erden haben kann. Ich darf sogar IHN, unseren Führer, einen Genossen nennen. Denken
Sie mal ehrlich nach: Ich habe das Recht, IHN einen Genossen zu nennen, frei und überall
! Genosse Stalin!
GENOSSE STALIN! ... Eben das sind mein größter Stolz und meine Freude! Darf
vielleicht ein Bürger eines kapitalistischen Staates seinen Präsidenten oder König einen
Genossen nennen? Niemals! Es sei denn, ein anderer blutrünstiger Präsident oder
verrohter König würde das sagen. Und ich…, ich spüre Freude und Stolzes-Tränen in den
Augen. Ich muss mit dem Schreiben aufhören und eine rauchen. Ich könnte das Übermaß
von Glück nicht mehr aushalten, und mein Herz würde brechen.
23. September 1939. Vilnius.

Ich bin jetzt in Vilnius. Wir wurden hierher aus Molodeczno geschickt. Mit dem Zug sind
wir gekommen, weil unsere Tankisten schneller als wir, die Infanterie, waren und die Stadt
als Erste besetzt hatten. Ich aber finde, dass wir es waren: Die Infanterie mit mir an der
Spitze, die den Feind besiegte, weil wir als Erste die Grenze überschritten und den
polnischen Herren eine solche Angst eingejagt haben, dass sie schnell Fersengeld gaben.
Unser Bataillon wurde in der Kaserne in der Wilkomierskastraße einquartiert. Uns, den
Offizieren, erlaubte die Kommandantur eine Wohnung in der Nähe der Kaserne privat zu
mieten. Ich richtete mich in der Kalwaryjska-Straße im Haus Nummer 4 ein. Gestern früh
ging ich mit der Order der Kommandantur dorthin und fragte nach dem Vorsitzenden des
Hauskomitees. Man sagte mir, ein Hauskomitee gab es und gäbe es dort nicht. Ich
spuckte nur: „Eine schöne Ordnung habt ihr hier! Wie habt ihr denn so leben können?"
„Normal“, antworteten die. „Und um die Meldeangelegenheiten kümmert sich der
Hausmeister. Sie zeigten mir sein Souterrain.
Ich ging hinunter und dachte so bei mir: „Endlich werde ich wenigstens einen
ausgebeuteten Proletarier sehen." Aber woher denn! Denn da sah ich: In einem großen
Wohnzimmer saß ein fetter, fein gekleideter Herr. Ich brauchte nur einen Blick auf seine
Füße zu werfen: Langschäfter!
Der aber sagte nichts, saß da und trank Kaffee. Auf dem Tisch sah ich echtes Brot und
Zucker in der Dose. Sogar Wurst auf dem Teller war da. Eine große Wut ergriff mich, dass
so ein Kapitalist einen Proletarier spielt. Nichts aber sagte ich, dachte mir nur: „Deine Zeit
wird schon noch kommen. Dann ist dein Wurstleben zu Ende, und die Stiefel kannst du
auch vergessen!" Inzwischen aber sagte ich: „Guten Tag."
„Guten Tag", antwortete er und zeigte auf den Stuhl. „Setzt euch", fügte er hinzu.
Ich setzte mich und legte ihm die Order der Kommandantur vor.
„Das", sagte ich, „betrifft eine Wohnung für mich in diesem Haus."
Er nahm das Stück Papier in die Hand, setzte eine Brille auf und schaute das Papier mal
so, mal so an. Schließlich gab er auf :
„Russisch sprechen, kann ich, ich kenne aber nicht alle Buchstaben. Lest mir selber vor,
was da drin steht."
Ich las ihm vor. Er darauf: „Von den freien Wohnungen haben wir drei. Fünf Zimmer und
Küche, das ist die eine. Und zwei Wohnungen haben je drei Zimmer mit Küche. Nehmt,
welche ihr wollt."
Ich erklärte ihm, dass ich nur ein Zimmer brauche, aber bei ehrlichen Menschen wohnen
wolle, damit man mich nicht bestiehlt. Und bezahlen würde die Kommandantur "nach
Norm."
Er dachte nach: „Am besten wäre es bei den Lehrerinnen. Die Frauen sind ruhig, auf
Rente. Sie wollen zwei Zimmer vermieten, ihr könnt aber auch nur eines nehmen."
Das gefiel mir. Immerhin sind Frauen weniger gefährlich. Wahrscheinlich würden sie
einen nicht heimtückisch überfallen und abstechen. Hoffentlich gehörten sie zu einem ein
wenig zivilisierteren Element.
Also gingen wir zu den Lehrerinnen. Sie waren gerade zu Hause. Eine von ihnen sprach
gut Russisch. „Gerne", sagte sie, „nehme ich Euch in die Wohnung auf. Für uns ist sie zu
teuer. Und auf diese Weise wird man uns auch eine niedrigere Miete berechnen."
„Und wo ist der Hausbesitzer?", fragte ich. „Ganz sicher ist er mit den anderen
Kapitalisten getürmt."
„Hier gibt es keinen Hausbesitzer. Das Haus gehört der Stadt. Es gab einen Verwalter,
der wurde aber eingezogen. Ging an die deutsche Front. Und die Miete zahlen wir immer
an die Stadtkasse."
Sie zeigten mir ihre Zimmer. Noch nie im Leben sah ich derartige Wonne. Einfach
Ausschweifung! Teppiche lagen sogar auf dem Fußboden. Und diese verschiedenen
Blumen. Und ein lebendiger Vogel, dem Spatz ähnlich, nur ganz gelb, der im Käfig herum
pfiff. Und diese verschiedenen Tische, Tischlein, Regale, Regalchen, Schränke,
Schränkchen, Stühle, Sessel... Solche Sachen, dass nur der Teufel weiß, wie man sie
nennen sollte. Aber nichts. Ich tat so, als ob mich das alles gar nicht wundern würde und
als ob ich nicht wüsste, dass ich in die Höhle der kapitalistischen Ausbeuter des
Arbeitervolkes geraten bin. Direkt ins kapitalistische Schlangennest.
Es stellte sich heraus, dass in drei Zimmern drei Weiber lebten! Lehrerinnen!!! Aber
nichts. Die Sowjetmacht wird sie schon entlarven. Und diesen 'Hausmeister' ebenfalls. Sie
müssen nur ein bisschen warten. Für alle wird sich ein entsprechender Platz finden.
Mit den 'Lehrerinnen' vereinbarte ich, dass ich am Abend einziehen würde. Sie gaben
mir das Eckzimmer mit Balkon und fragten, ob ich viele Sachen hätte. Ich antwortete:
„Was für Sachen kann denn ein kämpfender Offizier haben? Ich habe nichts. Es ist doch
Krieg." Sie versprachen, mir die Bettwäsche zu geben. Ich war einverstanden, dachte mir
aber: „Wofür zum Teufel brauche ich das alles?“ Wir verabschiedeten uns kultiviert, und
ich ging, die Stadt zu besuchen.
Ich lief über die Straßen und sah, dass ich in eine echte kapitalistische Höhle geraten
war. Das Publikum auf den Straßen war wie für einen Ball gekleidet. Jedermann trug
Lederschuhe, und manche sogar Stiefel. Bei vielen sah ich Krawatten und Kragen. Und
fast alle trugen Hüte. Diese Schmarotzer!
Am komischsten aber waren die Frauen. Jede von ihnen hatte die Haare wie eine
Filmschauspielerin gekämmt. An den Beinen trugen sie dünne Strümpfe, sicher in Paris
gekauft, glatt und braun. Die Kleider leicht und bunt - wie die Blumen. In meinem ganzen
Leben habe ich noch nie so etwas gesehen. Schön ist das kapitalistische Aas gekleidet.
So ging ich weiter und dachte: „Ganz sicher sind hier Kapitalisten aus ganz Polen mit
Frau und Tochter zusammengetroffen. So ein Reichtum!" Ich fühlte mich ein bisschen
ungeheuerlich. So viele Blutsauger trieben sich um mich herum! Aber von unseren Jungs
sah ich auch viele da.
Sie liefen auf den Straßen umher und bewahrten gute Fassung. Jeder von ihnen war gut
einparfümiert, so dass man sie schon aus der Ferne riechen konnte. Sollen doch die
Ausbeuter sehen, dass es auch bei uns Kultur gibt! Wie schade, dass ich mich nicht auch
einparfümiert hatte. Es war keine Zeit dazu gewesen. Ein anderes Mal.
An einer Stelle sah ich - eine Bäckerei. Im Schaufenster waren Brote und Brötchen zu
sehen. Sogar Kuchen gab es. Nie im Leben hatte ich so etwas gesehen. Ich dachte mir:
Entweder handelt es sich hier um kapitalistische Propaganda, oder das ist ein
Sondergeschäft, so eine Art 'Inturist'“. Ich stellte mich vor dem Schaufenster auf und
beobachtete: Die Menschen gingen rein, kauften, kamen raus. Und ich versuchte, den
Unterschied zu finden: Haben sie die stachanowschen Gutscheine oder normale
Zuteilungszettel? Es war jedoch schwer, den Unterschied herauszufinden. So dachte ich
mir schließlich: „Versuchs doch mal selbst, vielleicht werden sie es dir auch verkaufen."
Ich ging hinein, räusperte mich und verlangte so gut wie ruhig:
"Ein Pfund Brot bitte."
Das Fräulein, echt hübsch und möpsig, fragte: „Welches?"
Ich zeigte mit dem Finger auf das hellste - wie ein Brötchen.
Und es geschah nichts! Sie wog das Brot ab, wickelte es sogar in Papier ein und reichte
es mir: „Bitte sehr, der Herr."
Beinahe wurde ich ohnmächtig: Sie nannte mich einen Herrn, verwechselte mich mit
jemandem. Vielleicht verkaufte sie mir deshalb das Brot.
„Was zahle ich?"
„Zehn Groschen."
Ich gab ihr einen Rubel und erhielt einen ganzen Haufen kapitalistisches Wechselgeld
zurück. Nach Gutscheinen, Zetteln oder “Ordern“ fragte sie nicht einmal.
Ich verließ das Geschäft. Das Brot war weiß und duftete. Ich wollte es sofort aufessen,
merkte aber gleich, dass keiner auf der Straße etwas aß; nur unsere Jungs liefen da
herum und knabberten Sonnenblumenkerne. Also steckte ich das Brot in die Hosentasche.
„Schade“, dachte ich, „dass ich nicht nach einem ganzen Kilogramm verlangt hatte.
Vielleicht hätte sie es mir verkauft.“ Und ich rechnete mir aus: „Es sieht so aus, dass ich
für unseren einen Rubel fünf Kilo Brot kaufen könnte! So süß ist das Leben der
Kapitalisten im alten Polen. Auf Kosten der Arbeiterklasse!“
So ging ich weiter und sah - schon wieder eine Bäckerei. Die Leute gingen rein, kamen
raus, jeder kaufte etwas. So nahm ich all meinen Mut zusammen und ging hinein in den
Laden. Diesmal bat ich um ein Kilo Brot. Mit dem Finger zeigte ich auf das weiße. Und
wieder nichts: Die wogen ab, nahmen zwanzig Groschen entgegen und reichten mir die
Ware. „Schade“, dachte ich mir, „dass ich nicht um zwei Kilo gebeten hatte. Vielleicht
würden sie es mir verkaufen?“
Ein wenig weiter bemerkte ich die nächste Bäckerei. Also marschierte ich hinein und
sagte, irgendwie ruhig und gleichgültig: „Bitte zwei Kilogramm weißes Brot."
Und der Kapitalist, der das Brot verkaufte - nicht einmal Kragen und Krawatte hatte er
abgenommen, um seine Klassenabstammung zu verstecken - fragte: „Möchten Sie nicht
vielleicht einen ganzes Laib? Ist drei Kilo schwer."
„Gib her", antwortete ich. Ich zahlte 60 Groschen, nahm das Brot und ging auf die
Straße. So lief ich weiter und rechnete nach: Für neunzig Groschen, das heißt, für weniger
als einen Rubel, kaufte ich viereinhalb Kilogramm Brot. Nicht einmal in einer
Warteschlange musste ich stehen. Das alles kapierte ich nicht. Es gab nur eine Erklärung:
kapitalistische Propaganda. Die Sache würde ich klären müssen.
Es war unbequem, mit dem ganzen Brot in der Stadt herumzulaufen, also ging ich in die
Kaserne. Dort gab es viel Betrieb. Eine ganze Menge Jungs waren da. Manche kamen
gerade aus der Stadt und erzählten Märchenhaftes über die Dummheit der polnischen
Herren. Es stellte sich heraus, dass man nicht nur Brot, sondern auch Speck und Wurst
kaufen konnte, so viel man wollte. Einige sagten, dass es hier schon immer so war. Ich
aber konnte das nicht glauben. Ist doch klar, dass, wenn man so viel verkauft
wie der Käufer will, die Wenigen dann alles ausverkaufen, und die Anderen vor Hunger
sterben.
Am Abend quartierte ich mich in meinem Zimmer ein. Die Lehrerin (die Russisch
sprechende) öffnete mir die Tür und zeigte mir das Zimmer. „Sie können sicher sein, dass
es hier sauber ist.", sagte sie. „Und waschen kann man sich im Badezimmer."
Sie führte mich zum Zimmer neben der Küche. Dort sah ich ein schönes Waschbecken
und eine große Badewanne. Ich guckte mir das alles an und dachte: „Für all das müsste
man dich auf der Stelle umbringen! Wie viele von unseren Brüdern, Bauern und Arbeitern
mussten vor Hunger krepieren, damit du, Schmarotzerin, dich
in dieser Badewanne laben kannst." Laut aber sagte ich das nicht. Und die plapperte,
drehte die Hähne auf und zeigte, wie alles funktioniert. So sagte ich endlich: „In Ordnung.
Das Maschinengewehr ist noch schlauer, wir kommen aber trotzdem damit klar. Und eure
Badewanne ist eine Lappalie."
Ich begab mich auf mein Zimmer und schaute mir alles an. Sich dort frei zu bewegen
war unbequem, denn die Teppiche störten. Ich ging hinaus auf den Balkon. Auch dort eine
Unmenge Blumen in Vasen. Ich guckte auf die Stadt. Es wurde Abend. Ich hörte unsere
Jungs “Katjuscha“ singen. So sang ich mit. Und dann, als ich zum Schluss kurz pfiff,
übermannte mich die Traurigkeit. Meine Dunjaschka kam mir in den Sinn. Sie war wie sie
war, aber immerhin ein Weib, und ich hatte auch meine Freude mit ihr. So beschloss ich,
ihr zu schreiben. Ich kehrte ins Zimmer zurück, machte das Licht an und richtete einen
solchen Brief an meine Liebe aus:

"23. September 1939. Stadt Vilnius.


Meine liebste Dunjaschka!
Ich schreibe Dir direkt aus der Mitte der polnischen, kapitalistischen Höhle. Mit einem
mächtigen Schlag unserer eisernen roten Faust haben wir die polnischen, faschistisch-
kapitalistischen Generäle zerquetscht und das in den Klauen der Tyrannen stöhnende
polnische Arbeiter- und Bauernvolk sowie andere, unmenschlich unterdrückte und durch
die blutrünstigen Herren ausgenutzte Völker, aus der kapitalistischen Unterdrückung
befreit.
Ich bin an der Spitze der ganzen Roten Armee geschritten und habe so auf die
Kapitalisten und ihre Knechte gedroschen, bis sie
in Panik flüchteten. Jetzt wohne ich in einem schönen Haus, dessen Besitzer, ein
Kapitalist, geflüchtet ist. Die hiesigen Kapitalistinnen beschenkten mich mit Blumen und
legten im Zimmer Teppiche aus. Das alles aus Angst. Tagtäglich schwimme ich in der
Badewanne. Badewannen, das sind große Tröge aus Eisen, in die man Wasser einfüllt
und in die ein ganzer Mensch sogar mit den Beinen rein passt.
Du kannst stolz sein auf Deinen Mischka, der unter dem Lenin-Stalin-Banner stolz
schreitend für Jahrhunderte den tierischen Widerstand der polnischen Okkupanten
wegfegte und alle in Ketten ächzenden Völker befreite.
Schreib mir nach Vilnius, denn einige Zeit werden wir hier verbleiben. Die genaue
Anschrift steht auf dem Briefumschlag.
Ich drücke fest Deine Hand und füge den Komsomolzengruß bei.
Leutnant der heldenhaften Roten Armee, Michail Zubow."

Nach Beenden des Briefes zog ich die Schuhe aus, um auf dem Teppich nicht zu
stolpern und spazierte herum. Die Melodie von “Die drei Tankisten“ pfiff ich, als jemand an
die Tür klopfte.
„Herein!", sagte ich.
Herein kam ein Mädchen, zehn Jahre alt. Eine von den Schlauen. Man sah sofort:
Kapitalistenbrut. Ihre Augen flogen nur so von einer Ecke zur anderen. Gewiss wurde sie
zum Spionieren hergeschickt, sie sollte nachsehen, was ich da tue.
„Die Mami", sagte sie, „bittet Sie zum Tee."
Da dachte ich mir: Hingehen oder nicht? Ich ging aber hin, war neugierig zu sehen, wie
die Kapitalistinnen Tee trinken. So kam ich also rein in das Esszimmer. Ich sah eine
Tischdecke und eine Unmenge von verschiedenen, kostbaren Gefäßen. Käse lag auf dem
Teller, im Krug sah ich Milch, dann irgendwelche Wurstwaren, und Zucker in der Dose.
Nur Brot war zu wenig da.
Also sagte ich: „Wartet einen Moment", und ging zurück. Im Zimmer dachte ich nach:
„Soll ich ein Kilo Brot nehmen oder den ganzen Laib? Werden sie nicht alles auffressen?“
Aber auch ich verspürte Hunger. Also nahm ich den großen Laib, brachte ihn ins
Esszimmer und legte ihn auf den Tisch. „Das", sagte ich, „ist zum gemeinsamen
Gebrauch."
„Wozu aber das?“, fragte eine von ihnen. „Brot haben wir genug. Wir schneiden nur nicht
alles auf einmal, damit es nicht austrocknet."
„Macht nichts", antwortete ich. „Bitte geniert euch nicht und esst, so viel ihr wollt. Ich
kann mir sogar zwei solcher Laibe kaufen."
Die schauten sich an. Ganz sicher waren sie überwältigt von meiner Großzügigkeit. Sie
schenkten mir Tee ein. Aber nichts. Wir redeten miteinander. Die, die so gut Russisch
konnte (Maria Aleksandrowna hieß sie), bewirtete mich: „Bitte Käse! Bitte Wurst! Und
warum streichen Sie sich denn keine Butter aufs Brot?"
„Wo ist die Butter?", wollte ich wissen.
Sie schob mir so eine spezielle Untertasse mit Deckel zu, drinnen war etwas Gelbes wie
Wachs.
„Ach so, das ist Butter!", sagte ich. „Meine Mutter hat mir erzählt, dass man auch bei uns
früher aus Milch Butter machte."
So fing ich an, diese Butter aufs Brot zu schmieren. Aber es war unbequem. Sie rollte
sich nur zusammen. So etwas müsste man mit dem Löffel essen und nicht streichen.
Dann nahm ich ein Stück Wurst. So dünn geschnitten! Man konnte sehen, dass die
Kapitalistinnen geizig waren.
Aber nichts. Wir redeten miteinander. Ich fragte, wie sie hießen. Also zeigte Maria
Aleksandrowna auf die eine und sagte: „Frau Zofia." Die andere erwies sich als Frau
Stefania.
„Und wie heißt die Kleine?", fragte ich.
„Andzia!"
„Warum nicht Frau Andzia?"
„Weil man bei uns Kinder nur beim Vornamen ruft. Wenn sie erwachsen ist, wird sie zu
Frau Andzia."
„Natürlich!", dachte ich mir, "Erst müssen sie sie zur Faschistin und zum Feind des
arbeitenden Volkes erziehen. Sie würden eine echte Schlange aus ihr machen, wäre
nicht die sowjetische Macht gekommen. Jetzt aber ist Schluss mit den Herren-Tricks."
Aber nichts. Wir saßen da und redeten ziemlich kultiviert mal über das Wetter, mal über
die Ernte. Ich sah, dass ich ihre Hundesprache ein wenig verstehen konnte. Und was ich
nicht verstand, das übersetzte Maria Aleksandrowna. Und alles wäre gut gelaufen, wenn
nicht eine von ihnen (die ältere, Frau Zofia) mich in gebrochenem Russisch gefragt hätte:
„Herr Leutnant, werden Sie lange in Wilno bleiben?"
Diese Frage gefiel mir ganz und gar nicht. Sofort begriff ich, dass sie schlauer Weise
versuchte, von einem roten Offizier zu erfahren, welche strategischen Absichten die obere
Führung hatte. Ich aber enträtselte sie im Nu. Wir kennen schon unsere kapitalistischen
Pappenheimer! Also erwiderte ich sehr freundlich und ruhig, obwohl es richtiger gewesen
wäre, ihr sofort in die Fresse zu hauen:
„Wir bleiben so lange wir Lust haben."
Die aber weiter: „Herr Leutnant, gefällt Ihnen unser Wilno?"
Ich knirschte mit den Zähnen. Sie machte sich lustig über mich, einen roten Offizier und
ehrlichen Bolschewiken. Zum zweiten Mal schon nannte sie mich einen “Herrn“. Unter
dem Tisch ballte ich die Fäuste zusammen und versuchte, Haltung zu wahren.
„Erstens", erklärte ich, „nicht Wilno, sondern Vilnius! So! Zweitens: nicht euer sondern
unser! Drittens: Mir gefällt es gar nicht, weil es hier keine Kultur gibt. Nicht einmal am
Bahnhof habe ich eine "Woschebijka" gesehen. Was für ein Leben! Was für eine Hygiene!
Was für eine Kultur!“
Hier schaltete sich Maria Aleksandrowna ein und redete ein so korrektes Russisch. Das
war sehr verdächtig, das musste ich mal dem NKWD melden. Sie sagte also:
„Woschebijkas gibt es bei uns tatsächlich nicht. Aber nur deshalb, weil wir keine Läuse
haben. Wozu dann Entlausungsanstalten?“
„Ihr selbst seid Läuse“, dachte ich mir und erläuterte:
„Woschebijkas sind als sanitäre und hygienische Anstalt notwendig. Mäuse gibt es bei
euch vielleicht auch nicht, aber Katzen habe ich hier überall eine ganze Menge gesehen.
So!“
Und die erste (Frau Zofia) wandte sich wieder an mich. Eine schlaue Fresse war sie,
sehr schlau: „Herr Leutnant..."
Diesmal aber ließ ich sie nicht zu Ende reden. Ich schmetterte
das Messer auf den Tisch und brüllte los:
„Halt das Maul, du alter Affe! Ich bin kein Herr, sonder Verteidiger des Proletariats! Es ist
meine Aufgabe, solche faschistische Pest wie dich auszurotten! Verstehst du?! Und wenn
du nicht verstehst, dann kann ich dir das gleich mit der Faust erklären!"
Ich haute mit der Faust auf die Tischplatte bis die Gläser tanzten. Das Mädchen fing an
zu weinen. Und Maria Aleksandrowna flehte mich an, fast weinend:
„Michail Nikolajewitsch, seien Sie bitte nicht böse. Bei uns wird jeder als Herr
angesprochen. Sogar ein Bettler. Ähnlich wie in Frankreich “Monsieur“ oder in England
“Mister“.
Ich ließ mich aber von diesen Rüpeln nicht besänftigen. „Wartet nur eine Weile", sagte
ich, „wir werden schon Ordnung machen mit den Herren und den Musjen und den
Mistern! Für alles wird die richtige Zeit kommen, und es wird sich für jeden der richtige
Platz finden! Und es gehört sich nicht für mich, einen ehrlichen Menschen, in eurer
Herrengesellschaft zu sitzen und Tee zu trinken. Auf Wiedersehen."
Ich stand auf, spuckte – natürlich – und stolzierte hinaus. Nicht einmal mein Brot nahm
ich mit vom Tisch. Mochten diese niederträchtigen Faschistinnen daran ersticken.
Ich legte mich schlafen. Das Bett war schön hoch gemacht. Die Steppdecke groß, leicht
und weich, in einem weißen Überzug. Auf dem Bezug waren verschiedene Blümchen,
Blätterchen und Schmetterlingchen aufgenäht. Zwei Kissen lagen auch da, in geblümten
Hüllen. Und das Bettlaken dazu. Und alles so weiß, als ob man es mit weißer Farbe
bestrichen hätte. Sogar einen Finger benetzte ich mit Speichel, um zu prüfen, ob es nicht
schmierte. Ich kroch in das Bett und wäre darin fast ertrunken. Nur die Nase steckte noch
heraus. Ich drehte mich herum, zappelte - und nichts. Einschlafen konnte ich nicht. Nicht
für mich, einen ehrlichen Bolschewiken, sind solche Erfindungen! Wie schlafen die Herren
mit ihren Weibern in so was? Schließlich kroch ich aus dem Bett heraus, legte die Kissen
an die Wand, wickelte mich in eine Steppdecke; und es brauchte nicht einmal zwei
Momente bis ich eingeschlafen war.
Am Morgen stand ich auf. Die Sonne schien. Schön. Ich ging auf den Balkon hinaus. Ein
gutes Stück Stadt und ein Fluss waren da unten zu sehen. Ich seufzte: „Wunderschön!
Der Himmel so lasurblau, blau, blau.“ „So“, dachte ich mir, „aus solch einem Blau könnte
ich für mich ein Hemd und für Dunja einen Rock schneidern.“

8. Oktober 1939. Vilnius.

Gestern bekam ich meinen Monatslohn ausgezahlt: 700 Rubel. Das Proviant wurde für
die ganze Woche im Voraus ausgegeben: Brot, Graupen, Zucker, Fisch, Speck und ein
Päckchen Tabak. Sollten doch die Arbeiter in den kapitalistischen Ländern mal sehen, wie
sich die Sowjetunion um ihre Verteidiger kümmert! Das Brot war zwar verschimmelt; der
Fisch roch ein bisschen, war aber noch essbar. Die Graupen waren zu muffigem Mehl
zermahlt; der Speck war ranzig - natürlich, bei so einem langen Transport. Die Hälfte vom
Tabak klaute irgendein Schuft und ersetzte ihn durch Holzmehl. Der Zucker war nass
wegen des Gewichts. Das alles ist aber unwichtig. Wichtig war die Sorge um uns! Dass
man an uns dachte! Genau das!
Und die 700 Rubel erwiesen sich schnell als nützlich. Es stellte sich heraus, dass man
hier für dieses Geld eine Menge guter Sachen kaufen konnte. Man musste nur sich
beeilen, bevor diese Kapitalisten zu sich kamen und alles verstecken würden. Unsere
Behörden setzten einen Umtauschkurs fest: 1 Rubel gleich 1 Zloty.
Was hätte ich schon bei uns für 700 Rubel kaufen können? Nicht einmal ein besseres
Paar Schuhe. Und hier: Ein Paar Schuhe - 20 Rubel, ein Kilo Zucker - 1 Rubel. Von allem
so viel du nur brauchst. Nicht einmal Schlange zu stehen, brauchte man. Ein schönes
Leben hatten diese Aasgeier durch Ausbeutung des Proletariats. Jetzt würden auch wir,
dank sowjetischer Macht, süß leben. Seit drei Tagen schon esse ich Wurst. Das weiße
Brot kann ich nicht mehr sehen, nur Brötchen nasche ich noch.
Heute früh schaute ich beim Uhrmacher vorbei. Er ist gleich in der Nähe. In seinem
Schaufenster steht eine große Uhr. Also immer, wenn ich die Uhrzeit wissen wollte, ging
ich herunter, um nachzuschauen. In einem sehr bequemen Wohngebiet bekam ich mein
Quartier zugeteilt, und das schätzte ich außerordentlich. Also ging ich zu dem Uhrmacher
und fragte, ob er vielleicht eine Uhr zu verkaufen hätte.
„Was für eine Uhr braucht Ihr?", wollte er wissen.
„Die Beste, die es gibt. Was würde so was kosten?"
„Ich habe", sagte er, „eine ausgezeichnete Uhr der Marke Omega. Der Preis ist aber
hoch. Ich weiß nicht, ob Ihr es Euch leisten könnt."
„Wie viel?"
„120 Rubel."
„Zeig mal her!"
Tatsächlich, die Uhr war schön, der Teufel aber weiß, ob auch gut. Vielleicht will mich
der imperialistische Knecht betrügen. So erklärte ich ihm: „Deine Omega sieht mir sehr
verdächtig aus. Aber wenn du vielleicht eine Kirowski-Uhr hättest, dann würde ich sie
gerne kaufen. Es handelt sich um unsere sowjetische Firma. Und die machen keine
Betrügereien."
Daraufhin zog der Uhrmacher eine Schublade aus und entnahm ihr eine Kirowski-Uhr.
So etwas sah ich bei unserem Regimentsführer. Alle Offiziere beneideten ihn deswegen.
Er bekam sie von der Regierung als “praktische Auszeichnung“ für hervorragenden Dienst.
„Verkaufst du die?", fragte ich.
„Natürlich. Davon lebe ich."
„Was soll die kosten?"
„30 Rubel."
„Ist sie gut?"
„Ganz gut. Kriegst von mir ein Jahr Garantie."
„Und woher kommt der Unterschied: Die kapitalistische Omega kostet 120 Rubel, und
unsere sowjetische Uhr nur 30 Rubel?"
„Es ist nun mal so!", antwortete er. "Ich könnte das nur schwer erklären."
Ich dachte mir: „Was soll ich nun tun? Der Preisunterschied ist groß. Aber die Kirowski
ist eine Taschenuhr. Am Arm, damit die Leute sie sehen, bewundern und beneiden, kann
ich sie nicht tragen. In der Tasche ist sie auch unbequem. Groß und schwer ist das Ding.
Man müsste es auch an die Kette hängen, damit keiner der Kollegen sie klauen kann.“ So
beschloss ich dann: "Ah, wie dem auch sei, ich werde die Omega kaufen." Bei uns in der
Union werde ich dafür ganz sicher 50 mal mehr bekommen, sollte ich sie mal verkaufen
wollen.
Also kaufte ich die Uhr. Ich schnallte sie an den Arm und ging spazieren. Den Ärmel zog
ich hoch, damit jeder sehen konnte, dass ich eine Uhr besaß. Ein angenehmes Gefühl war
das. Wollte ich mal wissen, wie spät es ist, brauchte ich nur den Arm zu heben, drauf zu
gucken, und schon wusste ich Bescheid. Sollte mich jemand nach der Uhrzeit fragen,
konnte ich gleich antworten: „Bitte sehr, drei Uhr zehn. Sehr genaue Uhrzeit. Ihr könnt
ganz sicher sein, denn meine Uhr kommt von der besten Firma in der Welt. Sie heißt
Omega." Ja, sehr angenehm war das. Und all das verdankte ich unserer Sowjetmacht und
dem GROSSEN Stalin.
Ein Kilo Wurst kaufte ich und marschierte nach Hause. Man müsste den Hausmeister
besuchen, dachte ich mir. Der Man war mir irgendwie unsicher. Am verdächtigsten waren
seine Langschäfter. Na ja, immerhin erfüllte er jetzt proletarische Aufgaben. Und die
Schuhe - vielleicht verdiente er sie sich auf redliche Weise. Konnte zum Beispiel irgendwo
einen Kapitalisten
an die Brust drücken, ihm die Kehle durchschneiden und die Schuhe ausziehen. Also ging
ich in die Kellerwohnung und klopfte an.
„Herein", hörte ich.
Ich ging rein. Die ganze Familie saß am Tisch und fraß zu Mittag. Es duftete nach
gebratenem Fleisch.
„Guten Tag!", sagte ich. „Bitte um Entschuldigung für die Störung."
„Aber nein... , bitte hinsetzen!“, antworteten sie.
Ich setzte mich hin und schaute zu. Ein süßes Leben hatten die Schufte! Alle gut
angezogen, gut beschuht, fressen Fleisch, trinken Tee mit Zucker - auch diese, ihre Butter
sah ich auf dem Teller liegen. Und die Arbeiter und Bauer müssen vor Hunger krepieren!
Das sagte ich aber nicht, sondern gab bekannt: „Eine Uhr habe ich mir heute gekauft. Von
der besten Firma in der Welt. Sie heißt Omega."
Ich zeigte ihnen meinen Arm. Der Hausmeister setzte die Brille auf und schaute hin:
„Ja, tatsächlich: Omega. Einmal hatte auch ich eine Omega am Arm. Es war aber
unbequem für mich, damit zu arbeiten. Ich muss ab und zu die Kohle aus dem Keller
heraus tragen oder Holz hacken. Man kann eine solche Uhr schnell beschädigen. So habe
ich mir eine Cyma gekauft, und die Omega meinem Ältesten gegeben. In die Schule ging
er, musste die Uhrzeit wissen. Was habt Ihr dafür bezahlt?"
„120 Rubel ."
„Der Preis ist angemessen. Und die Uhr ist nicht schlecht, ganz gut ist sie."
Eine Weile verbrachte ich bei ihnen und ging dann. Es gehört sich für einen
Bolschewiken nicht, sich mit der Bourgeoisie einzulassen. Die ganze Familie war mit
Uhren versorgt. Und noch eine große hing an der Wand. Und die zweite, eine runde mit
Klingeln, stand auf dem Tischlein in der Ecke. Und das soll ein Hausmeister sein!

9. Oktober 1939. Vilnius.

Heute morgen stand ich auf und als erstes guckte ich auf die Uhr. Sie zeigte auf zwei.
Was soll der Teufel, dachte ich. Ich hörte genau hin: sie gingt nicht. Ich schüttelte sie -
auch nichts, sie funktionierte nicht. Hat der mich aber reingelegt, der kapitalistische
Uhrmacher! Ich hätte die Kirowski kaufen sollen. So sehr war ich aufgewühlt, dass ich
sogar Appetit auf die Wurst verlor. Schnellstens zog ich mich an, lud die Pistole und
marschierte zum Uhrmacher.
Ich trat rein ohne zu grüßen und sagte auf der Stelle:
"Was sollen diese Scherze? Für so eine Nummer darf ich dir ruhig eine Kugel in den
Kopf jagen! Ein Jahr Garantie hast du mir gegeben, und schon am zweiten Tag ist die Uhr
kaputt."
"Vielleicht habt Ihr sie gestossen oder ist sie runtergefallen."
"Ich bin ein Offizier und kultivierter Bürger der Sowjetunion. Ich weiß, dass man eine Uhr
nicht auf den Boden schmettert. Du hast mir eine kaputte Uhr verkauft. Dafür wirst du
büßen!"
"Darf ich mal bitte die Uhr sehen?" - fragte der Uhrmeister.
Ich reichte ihm die Omega. Er steckte sich ein Glas ins Auge, öffnete die Uhr und guckte
hinein. Dann lächelte er giftig und machte den Deckel zu. Er griff mit den Fingern an ein
Köpfchen an der Uhr und drehte es. Eine Weile lauschte er dann hin und zum Schluss gab
sie mir zurück: "Die Uhr ist in Ordnung. Sie muss aber einmal täglich aufgezogen werden,
weil der Mechanismus durch eine Feder im Gang gehalten wird."
Das merkte ich inzwischen selbst. Damit sich aber der Schuft nicht freute, dass er so
schlau ist, sagte ich ihm: "Bei uns in der Sowjetunion werden die Uhren elektrisch
angetrieben." Und meinen komsomolzschen Stolz bewahrend verließ ich das Geschäft.
Nicht einmal verabschiedete ich mich. Er soll nicht so hochnasig werden!
Heute bekam ich einen Brief von Dunjaschka. Das überraschte mich sehr. Nicht einmal
drei Wochen sind vergangen, seit ich ihr geschrieben hatte, da kommt schon die Antwort!
Gut arbeitet unsere sowjetische Post. Wir können Vorbild für die ganze Welt sein. Nicht
einmal der Briefumschlag war beschädigt. Anscheinend hat die Zensur kein Interesse für
meinen Brief gehabt.
Später hat sich geklärt, dass ich diesen Brief durch eine Gelegenheit erhielt. Ein
bekannter Bahnarbeiter fuhr nach Vilnius, also gab ihm Dunjaschka den Brief mit. Der
brachte ihn direkt zu mir. Schade, dass ich nicht zu Hause war. Aber vielleicht ist es auch
besser so. Es ist immer sicherer, nicht mit fremden Menschen zu reden. Der Brief von
Dunjaszka gefiel mir sehr, also schreibe ich ihn wörtlich ab:
"Mein liebster Mischalein!
Wir sind sehr stolz auf dich, dass du so mutig deine bolschewistische Pflicht erfüllst und
die Banden der polnischen, faschistischen Generäle besiegst. Sie sollten, diese Banditen,
endlich aufhören, das Arbeitervolk zu quälen und das Proletariat zu morden. Ich würde zu
dir, mein liebster Held, wie die Schwalbe flügen, um ihnen ihre fetten Herrenbäuche mit
einer Mistgabel aufszuschlitzen.
Du musst dort, mein Ärmster, ganz sicher Hunger leiden? Aus den Büchern und
Zeitungen weiß ich genau, dass es in Polen schon immer einen großen Hunger gab, so,
dass die Menschen dort Pferdemist, Baumrinde und Erde aßen. Nur die Kapitalisten
frassen sich voll mit Brot und Speck. Außerdem habe ich mal am Bahnhof einen Echelon
mit Güterwaggons gesehen, und auf jedem Waggon befand sich ein großes Plakat:
"BROT FÜR HUNGERNDES POLEN." Ich würde dir gerne, mein Kleiner, Zwieback
schicken, aber ich selbst habe seit zwei Monaten kein Brot gegessen. Dafür aber könnte
ich dir getrocknete Beeren besorgen. Es gab viele in diesem Jahr. Auch könnte ich ein
bisschen Kartoffeln hinzufügen. Du sollst mir offen schreiben. Wenn nötig, schicke ich
sofort.
Ansonsten ist bei uns alles in Ordnung, nur unser Nachbar, Wasyl Morgalow, weil er
englische, imperialistische Propaganda verbreitete, verhaftet und in ein Lager verschickt
wurde. Betrunken sagte der, dieser Schuft, dass unsere Sowjetunion nicht mehr lange mit
Deutschland in Freundschaft leben werde und dass es einen Krieg geben wird. Obwohl er
unser entfernter Verwandter ist, bemitleiden wir ihn gar nicht. Solchen Unsinn sollte er
nicht reden.
Ich überweise dir Grüße von der ganzen Familie.
Deine auf ewig liebende Dunja.

Es tut mir ein bisschen Leid um Morgalow, denn es ist klar, dass seine ganze Familie
für sein Verbrechen zur Verantwortung gezogen sein wird. Was war mit dem Mann los?
Liest er denn keine Zeitungen und hört kein Radio? Tagtäglich wird doch gesagt und
geschrieben, dass Genosse Stalin und Kanzler Hitler zwei beste Freunde sind. England
dagegen ist eine Ausbeuter- und Kriegstreiberhöhle. Sobald Hitler mit Polen fertig ist,
nimmt er sich des verdammten faschistischen Englands an, und Genosse Stalin, natürlich,
wird ihm dabei helfen. Was für ein Krieg könnte es denn geben zwischen der Sowjetunion
und der brüderlichen deutschen Nation? Nicht einmal denkbar wäre das, und dieser
Blödmann erzählt solchen Unsinn. Hätte er mir so was im nüchternen Zustand gesagt,
hätte ich ihm schon die Fresse poliert! Ich glaube nicht, dass er ein englischer Agent ist ,
aber betrunken kann er nicht seine Zunge im Zaum halten. Im Lager werden sie ihn schon
zur Vernunft bringen. Das hat er auch verdient!

15. Oktober 1939. Vilnius.

Gestern sah ich in der Stadt auch unsere sowjetischen Verkaufsläden. Sogar zwei
davon wurden auf einmal eröffnet. Sollen doch die Kapitalisten nicht glauben, dass nur bei
ihnen der Handel blüht.
Einen dieser Läden besuchte ich. Schön war es da drin, Porträts von Stalin und Lenin
sowie verschiedentliche proletarische Losungen hingen an den Wänden. Unsere
sowjetischen Fräuleins bedienten, Bücher verkauften. Das heißt: Sie verbreiteten die
Kultur. Eine von ihnen gefiel mir, also fragte ich, ob sie vielleicht nachts zu mir kommen
könnte, mit mir zu schlafen. Sie antwortete, es tue ihr leid, aber für die nächsten Nächte
sei sie schon ausgebucht. Schade. So ist es nun, von unseren Frauen gibt es hier nur
wenige, von den Jungs viele, also haben sie es schwierig, mit der Arbei nachzukommen.
Eine Broschüre kaufte ich mir: DER GROSSE FÜHRER DES DEUTSCHEN VOLKES.
In dem zweiten Geschäft sah ich in allen Schaufenstern große Portäts des Genossen
Stalin. Sehr schön sah das alles aus. Ich ging hinein und fragte nach dem Preis.
"Ohne Rahmen", sagten sie, "drei Rubel. Mit Rahmen, unter Glas, 25 Rubel."
Ich dachte mir: " Man müsste kaufen. Sollte mich jemand besuchen, wird er gleich sehen
können, dass ein kultivierter Mensch hier lebt." Ich fragte noch nach Hitler-Porträt. Es wäre
doch schön, die beiden lieben Genossen zusammen aufzuhängen. Sie sind doch große
Freunde und Führer der sozialistischen Völker. Es wurde mir aber gesagt, dass Hitler noch
nicht geliefert sei. Ich sollte mich später erkundigen.
Ich ging nach Hause zurück. Das Stalin-Porträt trug ich so, dass jeder es sehen konnte.
Sollte die Bourgoisie vor dem Angesicht unseres GROSSEN Führers zittern.
Zu Hause angekommen überlegte ich mir: "Wo soll ich IHN, unseren lieben VATER
aufhängen?" In einer Ecke, man könnte sagen der besten, bemerkte ich irgendeine
Madama. Im goldenen Kleid, mit Krone auf dem Kopf. Oho, dachte ich mir, das ist doch
ihr kapitalistisches Heiligenbild. Ich rief Maria Aleksandrowna herein und zeigte empört auf
das Gemälde:
"Bitte das Bild sofort wegschaffen! Ich bin ein kultivierter Mann und will so was ich nicht
in meinem Zimmer haben! Das Lämpchen darf bleiben, weil es unsere proletarische rote
Farbe hat. Eure faschistische Propaganda und euren Aberglauben brauche ich aber
nicht!"
Sie nahm das Bild von der Wand und brachte es hinaus. An dessen Stelle hängte ich
unseren teuren FÜHRER und LEHRER auf.
Am Abend zündete ich das Lämpchen vor dem Portät an. Schön war das anzusehen.
Das rote Licht kroch über dem Porträt unseres roten Führers des Proletariats, ich saß im
weichen Sessel und las die Hitler-Biographie. Es freute mich sehr zu erfahren, dass er
einmal ein Zimmermaler war. Das heißt, er ist proletarischer Abstammung, genau wie
unser liebe Genosse Stalin. Weiterhin erfuhr ich, dass er bei sich in Germanien den
Sozialismus eingeführt hat. Ja, das Leben ist schön! Wenn die beiden, der liebe Maler
Hitler und unser VATER Stalin, gemeinsam die Welt rot ausmalen, wie wunderbar wird es
sein!

Im Oktober 1939. Vilnius.

Heute überredeten mich die Jungs, einen Fotografen aufzusuchen. Sie entdeckten
einen, der gut Russisch spricht und ausgezeichnet heldenhafte Fotos macht. Es lohnt
sich, ein Andenken an die Kampftage zu haben. Auch Dunjaschka könnte ich eins
schicken. Sie sollte sehen, wie ein tapfer sowjetischer Offizier aussieht. Meinem Bruder
ebenso, damit er weiß, dass ich jetzt eine wichtige Person bin.
So gingen wir also hin. Hauptmann Jegorow führte. Jeder von uns duftete wunderbar
über die ganze Straße. Alle Fussgänger drehten sich bewundernd nach uns um. Ich selbst
schüttete mir heute Morgen eine Viertelflasche des besten Parfüms sowjetischer
Produktion über den Kopf. "Stalins Atem" wird es genannt und duftet mindestens fünf
Meter weit. Ich hörte, Leutnant Dubin rief:
"Schaut mal hin, Jungs. Die da dürfen sich ausruhen!"
Wir hielten an und guckten. Ein Artel Arbeiter reparierte die Straße. Sie goßen Asphalt
aus. Man konnte sofort sehen, dass es Proletarier waren. Die einen im Arbeitsanzug, die
anderen in Blousons. Und tatsächlich, sie arbeiteten langsam. Der eine saß auf der
Schubkarre. Ein anderer rauchte. Ein dritter drehte sich eine Zigarette. Andere wiederum
arbeiteten langsam vor sich hin. Und tatsächlich, niemand trieb sie an, keiner schlug sie
mit Pferdepeitsche oder mit Stock, was, wie wir genau wussten, in allen kapitalistischen
Ländern die Normalität ist. Es war uns doch gut bekannt, dass die Kapitalisten ihre
Arbeiter peinigen, um aus ihnen größere Arbeitsnormen herauszuquetschen.
Das Rätsel war tatsächlich groß. Gleich aber klärte Hauptmann Jegorow die Sache auf:
"Das sind, ihr versteht, freie Arbeiter. Sie wurden von der Sowjetmacht befreit und es
wurde ihnen erlaubt langsam zu arbeiten, damit sie zu Kräften kommen für weitere
stachanowsche Arbeit zum Wohle der Sowjetunion."
Wir verstanden und gingen weiter. Ein kluger Mann kann immer alles klug erklären. Also
kamen wir zum Fotografen. Wir waren zu fünft. Der Fotograf zeigte uns verschiedene
Fotos, damit wir uns die richtigen Posen wählen konnten. Leutnant Dubin nahm als erster
den Platz im Sessel. Wir übergaben ihm alle unseren Orden. Es waren zwölf.zusammen
Auch die Uhren, um sie auf dem Foto zu verdeutlichen, liehen wir ihm. Es stellte sich
dabei heraus, dass schon jeder von uns im Besitz einer Uhr war - was wir der
sowjetischen Macht verdanken. Und Hauptmann Jegorow erbeutete sogar zwei davon.
Wie schön!
Zwei Tage später holte ich die Fotos ab. Ich konnte meinen eigenen Augen nicht
glauben: Die ganze Brust voll von Medaillen. In der linken Tasche der Uniformbluse war
deutlich das heraushängende Uhrkettchen zu sehen. Aus der Hosentasche hing ähnlich
entzückend eine andere Uhrkette heraus. Und an den Ärmen waren je zwei Uhren zu
sehen. Ich sagte dem Fotografen, er sollte noch ein Dutzend dieser Porträts anfertigen. Es
wird ein wichtiges Andenken und ein Dokument von historischem Gewicht sein.
Davor aber hatte ich ein verdammtes Problem mit jener verfluchten kapitalistischen
Badewanne. Ich dachte mir so: "Vor dem Fotografieren muss man baden, um auf dem
Foto besser auszusehen. Wegen Zeit- und Lustmangel war ich an die zwei Monate lang
nicht mehr im Badehaus." Die Lehrerin, Maria Aleksandrowna, sagte mir morgens, dass
heißes Wasser da sei und ich die Gelegenheit nutzen könne. Irgendwie zu oft erinnerte sie
mich ans Baden! Fast jede Woche. Merkte sie vielleicht, dass ich ein bisschen "lebendes
Silber" besitze? Aber wie gesagt, Woschebijkas gibt es hier nicht, also Läuse müssen
sein. Obwohl, um Wahrheit zu sagen, auch die Woschebijkas helfen nicht viel. Die Laus
hat ihren Verstand und ist schlau. Sie weiß sich zu verstecken. Was aber nur eine wenig
bedeutende Kleinigkeit ist.
Also ging ich zu dieser Badewanne, zog mich aus und befühlte mit dem Finger den
Wasserkessel - heiß wie der Teufel! Dann drehte ich einen Hahn auf. Echter Sud goß da
heraus! So blöd bin ich doch nicht, um in so was zu steigen. Nicht mal die Haut wäre von
mir übrig bleiben. Den Hahn drehte ich wieder zu, die Wanne leerte ich. Dann entdeckte
ich einen zweiten Hahn und drehte ihn auf: ganz kaltes Wasser schoß raus. In so was
kann doch kein Mensch baden, man könnte sich nur eine Erkältung holen. Also drehte ich
den Hahn zu, spuckte ich die Wanne und benetzte die Haare mit kaltem Wasser, damit die
Pestweiber wussten, dass ich badete . Und die kapitalistische Schlange, Maria
Aleksandrowna, fragte noch, als zu meinem Zimmer ging:
"War das Bad angenehm?"
"Sehr", antwortete ich. "Hätte ich mehr freie Zeit gehabt, würde ich es jeden Monat
nehmen. Wir in der Sowjetunion verehren die Hygiene außerordentlich."
Andererseits aber, wie etragen diese Omas das heiße Bad; im kalten Wasser baden die
doch nicht? Ich kann nur vermuten, dass sie seit ihrer Kindheit daran gewohnt sind, im
Sud zu planschen! So ein Vergnügen!
Verärgert wie der Teufel ging ich in mein Zimmer zurück und dachte mir so: "Man
müsste einen Brief an Dunjaschka schreiben, damit sie mir keine Zwiebeln und Kartoffeln
schickt. Würden sich die Jungs totlachen. So schrieb ich ihr gleich diesen Brief:

"Oktober 1939. Vilnius.


Liebe Dunjaschka!
Deinen Brief habe ich schnell erhalten und für die Grüße deiner ganzen Familie bin ich
sehr dankbar. Was dein Paket für mich betrifft, so hab vielen Dank, schicke mir aber kein
Essen, weil ich hier alles habe, was ich brauche. Es sind gerade die Echelons
angekommen, von denen du welche am Bahnhof gesehen hast, die mit den Plakaten:
BROT FÜR HUNGERNDES POLEN. So habe ich jetzt und Brot und was aufs Brot. Ich bin
unserer sowjetischen Macht und unserem Führer Genosse Stalin grenzenlos dankbar für
die Sorge um uns, die Helden der unbesiegbaren Roten Armee. Das Großbürgertum hier
knirscht nur so mit den Zähnen, als es sieht, wie wir verschiedene Würste und Speck in
uns hineinstopfen.
Ich schicke dir ein Foto von mir, damit du sehen kannst, wie jetzt ein tapfer Held und
Verteidiger der Sowjetunion aussieht, der Tag und Nacht immerfort unser heiliges
Russland und das ganze Proletariat beschützt. Die Uhren, die du an meinen Armen
siehst, sind echt, und die Ketten in den Taschen gehören zu den Uhren. So kann man
sagen, dass ich die Fasson richtig halte.
Was dagegen Morgalow betrifft - dafür, dass er von einem Krieg mit Deutschland
gesprochen hat, sollte man ihn - den faschistischen Hund - nicht nur ins Lager
verschicken. Die Haut sollte man dem imperialistischen Knecht vom Leibe abziehen.
Unlängst habe ich ein Buch über Adolf Hitler, den großen deutschen Führer und besten
Freund unseres geliebten VATERS Stalin gelesen. Auch er ist ein Proletarier und genau
wie unser GROSSER Stalin baut er eine sozialistische Heimat für seinVolk. Es wird nie
ein Krieg zwischen den beiden Brudernationen möglich sein. Das ist klar für jeden
normalen Menschen. Die Gerüchte von einem Krieg verbreiten die polnischen Herren und
Agenten der englischen Imperialisten. Mit denen aber werden wir gemeinsam mit dem
Genossen des GENOSSEN Stalin bald fertig werden.
Ich verbeuge mich tief vor deiner ganzen Familie und vor dir, Dunjaschka.
Stolz stehe ich unter der hohen Lenin-STALIN-Fahne und heldenhaft widerstehe ich
dem wütenden Widerstand der blutigen kapitalistischen Knechte.
Deiner bis ins Grab,
Mischka Zubow."

Ja, nicht schlecht gelang mir dieser Brief an Dunjaschka. Man kann darin
bolschewistische Härte, ehrliche sozialistische Haltung und unbeugsame Treue gegenüber
der kommunistischen Partei sowie deren Führer und Lehrer, dem GROSSEN Genossen
Stalin sehen. Ich kann ihn also ruhig abschicken.

Oktober 1939. Vilnius.

Mit großer Freude, sozialistischem Stolz und im Gefühl einer gut erfüllten
bolschewistischen Pflicht schreibe ich diese Worte. Ich bin stolz auf meine
Beobachtungsgabe, meinen schnellen Verstand und meinen Mut. Und all diese
Eigenschaften verdanke ich unserer großen russischen Kultur, die bei mir - wie man so in
der ">Internationalen< singt - aus nichts alles machte und ( selbstverständlich und sogar
vor allem ) unserem GROSSEN, genialen FÜHRER Stalin. Oft dachte ich mir so: "Viewiele
Jahrhunderte hat die Menschheit warten müssen, bis ER geboren wurde. Der
WELTRETTER, GENOSSE Stalin! Man hat überhaupt Angst daran zu denken, was mit
der Welt passieren würde, wenn es IHN nicht gäbe!."
Also: Ich wurde zum Helden der ganzen Garnison von Vilnius. Sogar Offiziere aus
anderen Regimenten, die mich nicht kennen, kamen, um wenigstens einen Blick auf mich
zu werfen. Und Major Pjetuchow, wann immer er mich nur sieht, drückt mir gleich die
Hand und ruft:
"Ich danke dir Genosse, dass du mir das Leben gerettet hast! Wenn es dich nicht gäbe,
hätte unsere heilige Heimat einen weiteren Verteidiger verloren!"
Ich muss das aber der Reihe nach erzählen. Der Regimentsführer delegierte Major
Pjetuchow und mich nach Stara Wilejka, dort Quartiere anzuschauen, die unser Regiment
womöglich zu beziehen hatte. Am Bahnhof nahmen wir als Offiziere Plätze in einem der
weichen Waggons. In diesem Abteil saß ein dickwanstiger Kapitalist mit Frau und Tochter.
Das Töchterlein war gar nicht schlecht, so rosafarben und weiß wie eine Puppe. Die
Strümpfe saßen an den Beinen wie angeleimt. Der Teufel weiß, wie die Kapitalistinen es
schaffen, denn ich habe noch nie Strumpfhalter an ihren Knien gesehen - obwohl ich
geflissentlich und bei jeder Gelegenheit hinguckte. Das Kleidchen – oh la la! Alles
leuchtete durch. Und die Haare in Wellen gekämmt. Wie bei einer Schauspielerin.
Vielleicht war sie auch eine Schauspielerin...
Sehr interessant fand ich sie. Auch Major Pjetuchow, obwohl alt wie ein Meerrettich,
schielte immer wieder in ihre Richtung und alle zwei Minuten zog aus der Tasche seine
Uhr - als ob er nach der Uhrzeit schauen möchte. Er kokettierte sie. Also krempelte auch
ich meinen Ärmel auf, damit meine Omega besser zur Geltung kam. Ich merkte, dass das
Mädchen immer häufiger in meine als in Majors Richtung schaute. Also fing ich an sie
anzulächeln und anzuzwinckern, auch mit dem Knie behrührte ich sie bedeutungsvoll.
Major Pjetuchow muss das bemerkt haben, denn plötzlich sagte er in dienstlichem Ton:
"Bitte wechselt das Abteil, Genosse Leutnant. Ihr wisst genau, dass sich die jüngeren
Offiziere nicht mit den Älteren fraternisieren dürfen."
"Jawohl", antwortete ich und ging zum Abteil auf der gegenüber liegenden Seite.
Dort saß irgendein Altweib mit zwei Kindern sowie ein verdächtiger Type männlicher Art,
mit langen Stiefeln an den Beinen. Ihr versteht - wer kann schon Stiefel mit Schäften aus
echtem Leder besitzen? Wir kennen das! Aber nichts. Ich fuhr weiter und schielte in das
andere Abteil, wo ich vorher gewesen war. Ich sah, Major Pjetuchow wechselte auf
meinen Sitzplatz - gegenüber der Kapitalistin - und ging aufs Ganze mit seiner Zauberei.
Mal schaute er auf die Uhr, mal zog er sein schönes Nickel-Etui aus der Tasche und
zündete sich eine Zigarette an... Macht nichts, dachte ich mir, vielleicht werde ich es auch
eines Tages bis zum Majorrang bringen. Dann werde auch ich die Nase hoch zu halten
wissen!
Es war mir ein bisschen traurig, so alleine zu fahren, die Zeit verging aber schnell. Auf
einmal sah ich: Major Pjetuchow bot der Kapitalistin eine Zigarete an, und sagte etwas zu
ihr. Sie aber schaute ihn nur kurz an und setzte sich in eine andere Ecke im Abteil. Für so
was würde ich in die Fresse hauen! Stolz sollte sie sein, dass ein Offizier der Roten
Armee ihr die Ehre erwies sie anzusprechen!
In diesem Moment bemerkte ich, dass ihr Vater, der dicke Kapitalist, sich erhob und aus
dem Gepäcknetz eine Tasche herunternahm. Er stellte sie sich auf die Knie und fing an
sie aufzumachen. Dann sah ich: Diese Hyäne zog aus der Tasche ein Geschoß und
schielte in Richtung Major. Der Zünder schimmerte nur, als der Kapitalist ihn hinten auf
dem Sitz ablegte und die Tasche zuknöpfte. Es wurde mir erst kalt, dann wiederum heiß.
Ich öffnete den Halfter und zog die Pistole ein Stück heraus. Ich wartete, was weiter
passiert. Der Kapitalist schaute sich nach allen Seiten um und streckte die Hand nach
hinten zum Geschoß aus. Er stellte es sich zwischen die Beine und manipulierte am
Zünder. Ich verstand, dass es keine Zeit mehr zu verlieren gab, denn nicht nur Major
Pjetuchow konnte sterben, sondern - wenn Geschoß stark genug war - auch ich nicht
überleben würde. Also riss ich die Abteiltür, sprang in den Korridor und verpasste dem
Kapitalisten zwei Schüsse zwischen die Augen. Der sagte keinen Muck. Langsam glitt er
zur Seite herab. Und ich griff nach dem Geschoß und rief zum Major:
"Seht Genosse, der kapitalistische Hund wollte euch vernichten! Ein Glück, dass ich das
bemerkte und ihn rechtzeitig störte!"
Major Pjetuchow wurde blass und ebenfalls griff nach seiner Pistole. Den Kapitalistinnen
befahlen wir, sich in eine Ecke des Abteils zu setzen. Eine von ihnen wurde ohnmächtig.
Des verdammten Faschisten aus meinem Abteil nahm ich mir auch vor und setzte ihn zu
den anderen. Ganz sicher war er ein Komplize.
Am Bahnhof in Molodeczno blieb ich im Abteil, auf die Verhafteten aufzupassen und
Major Pjetuchow holte Milizionäre von der Bahnhofkommandantur. Sie nahmen die
Verhafteten und die Leiche des Kapitalisten mit. Das Geschoß dagegen brachte ich selbst
und persönlich zur Kommandantur - als Beweisstück. Es wurde ein kurzes Protokoll für
den NKWD gefertigt und dann fuhren wir weiter.
Drei Tage später kamen wir nach Vilnius zurück. Major Pjetuchow erzählte allen von
dem Attentat und wie ich ihm das Leben gerettet hatte. Alle sagten, dafür sollte ich eine
Belobigung und einen Orden bekommen, vielleicht gleich auch eine Beförderung.
So rettete ich das Leben meines Vorgesetzten und vernichtete eine weitere faschistische
Schlange. Ja, es ist sehr angenehm, Mitglied unseres großen sozialistischen Russlands
zu sein.

Oktober 1939. Vilnius.

Ich wurde zum NKWD vorgeladen. Das freute mich sehr. Sofort verstand ich, es geht um
meine heldenhafte Tat im Zug. Ich war mir ganz sicher, dass mich eine Auszeichnung
nicht entgeht.
Am nächsten Tag begab ich mich dorthin. Ich trug mich ins Empfangsbuch ein, gab die
Pistole im Wachhaus ab und marschierte in die erste Etage, wo ich an der Tür Nummer
99 anklopfte. Dort empfang mich ein Major, der stellvertretende NKWD-Vorsteher.
"Aha, du bist also Unterleutnant Zubow."
"Jawohl. Ich bin Unterleutnant Zubow."
"Diese Geschichte in Molodeczno, war das deine Arbeit?"
Stolz reckte ich die Brust, sagte aber bescheiden:
"Ich habe nur getan, was mir meine kommunistische Pflicht befohlen hat."
In diesem Moment klopfte jemand an die Tür. Der Major rief:
"Herein!"
Irgendein komisch gekleideter Kapitalist betrat das Zimmer. Ganz schwarz, in einer
irgendwie faschistischen Uniform. Darunter war keine Hose zu sehen, nur etwas wie ein
Rock. "Was für ein Magiker ist das ?" dachte ich mir.
Und der Major fragte:
"In welcher Angelegenheit?"
Der Schwarze zeigte ihm eine Vorladung. Es stellte sich heraus, dass er ein katholischer
Priester war. Zum ersten Mal im Leben sah ich so etwas. Viel las ich und hörte von diesen
kapitalistischen Blutsaugern. Auch sah ich in komsomolzschen Theatern, wie sie das
Proletariat quälten. Persönlich aber, dank Stalin, bin ich ihnen noch nie begegnet.
Der Major befiehl mir, sich an die Wand zu stellen.
"Warte dort! Mit dir habe ich ein spezielles Gespräch zu führen. Erst erledige ich die
Sache mit diesem Bürger."
Er wandte sich an den Schwarzen:
"Du bist also Priester ?."
"Ja."
"Was tust du denn so?."
"Ich diene Gott."
"Du dienst Gott ?. Hmm, eine komische Arbeit! Aber wovon lebst du? Wo arbeitest du?"
" Ich bin in der Kirche beschäftigt und lebe davon, was mir die Pfarrkinder geben."
"Soo...", sagte der Major, "eine interessante Beschäftigung. Sag mir aber, Priester,
schämst du dich nicht, dass du, ein erwachsener und gesunder Mann, von Betrug und
Ausnutzung menschlicher Dummheit lebst?"
Der Priester schwieg lange, dann sagte:
"'Bei uns ist Religion Privatsache der Bürger. Niemand wird zu etwas gezwungen. In die
Kirche, also zum Priester, gehen die, die es wollen. Ich lebe davon, was mir das Pfarrvolk ,
dem ich als Priester diene, bereitwillig gibt. Sie unterhalten auch die Kirche."
"So ein Schlauberger!" wunderte sich der Major und begann die Papiere, die auf dem
Tisch in einer Tasche lagen, durchzublättern.
Ich sah, dass das die Sachen des Schwarzen waren. Sie hatten ihn schon am Haken.
"Hast du einen Vorsteher?"
"Mein Vorsteher ist Herr Gott."
"Dein Herr Gott interessiert mich nicht. Nicht einmal seine Anschrift habe ich, um ihn
vorzuladen. Ich frage nur, wer dir die Befehle gibt und wer dich führt?"
"Ich unterstehe dem Konsistor und die Pfarrei untersteht dem Dekan."
"Und der, was tut er?"
"Auch er dient Gott."
"Und er lebt, gleich wie du, von dem, wass ihm die Pfarrkinder geben", sagte der Major
und zwinkerte mir zu.
Ich spannte mich stramm auf und lachte verständnisvoll. Nicht zu laut, aber auch nicht
zu leise. Genau so, wie es sich gehört.
"Ja", sagte der Schwarze.
"Sag also diesem deinen Dekan, oder wie immer er auch heißt, er hat sich am Freitag
bei mir zu melden. Er soll genau um elf Uhr kommen, weil ich ungern warte, und Scherze
aus mir erlaube ich nicht."
Der Schwarze wollte gehen, der Major aber hielt ihn zurück:
"Warte doch mal! Ich gebe dir eine Vorladung mit, wie sonst sollte er hier reinkommen?"
Er kritzelte ein paar Worte auf ein Blankett und gab es dem Schwarzen.
"Da hast du es und verdufte. Jetzt brauche ich dich nicht. Vielleicht beim nächsten Mal
könten wir uns gründlicher unterhalten."
Der Major zwinkerte wieder in meine Richtung. Und ich lachte wieder.
Der Schwarze ging aus, und der Major rief im Wachhaus an:
"Es wird dort gleich ein polnischer Priester kommen. Dokumente zurückgeben und
rauslassen."
Dann wandte sich der Major mir zu:
"Gut gelungen ist dir die Geschichte im Zug!"
"Immer und überall bemühe ich mich nach Kräften und zeige kommunistische
Wachsamkeit."
"In diesem Fall aber hast du es ein bisschen übertrieben!"
"Wieso?"
"Das erkläre ich dir gleich genauer."
Der Majort näherte sich und haute mich von links so in die Fresse, dass ich mit dem
Kopf gegen die Wand schlug. Dann besserte er von rechts noch stärker nach, und wandte
sich an einen Schrank in einer Ecke des Raums.
Ich kam inzwischen ein bisschen zu mir wieder. Mit dem Finger wischte ich das aus der
Nase fließende Blut und überlegte mir: "Worum geht`s? Er schlägt vorschriftsmäßig, es
gibt also einen ausreichenden Grund. Aber welchen? Vielleicht hat mich jemand
angeschwärzt, aber wer? Und das Schlimmste - ich weiß nicht einmal, was ich zugeben
sollte. Welches Vergehen oder welche Nachlässigkeit?"
Unterdessen entnahm der Major aus dem Schrank das Geschoß, das ich im Zug dem
Kapitalisten weggenommen hatte und stellte es auf den Tisch.
"Erkennst du das wieder?"
"Ich erkenne es, Genosse Major."
"Dann komm näher und sieh dir das genauer an."
Ich näherte mich dem Tisch. Der Major fing an, den Zünder im Geschoss
abzuschrauben. Dann nahm er ihn ab: Ein großer Korken kam zum Vorschein. Der Major
zog den Korken aus dem Geschoß raus:
"Schau mal da hinein! Was ist da drin?"
"Nichts."
"Genau das, nichts. Und du, Blödmann hast dafür einen Menschen getötet. Mir geht es
nicht um den Menschen, er war nicht einmal russisch. Es geht aber darum, dass du uns,
du Idiot, der Lächerlichkeit preisgegeben hast. Wegen solcher Kretins wie du lachen alle
über uns. Hast du eine Ahnung, was eine Thermosflasche ist?"
"Ich verstehe... Thermosflasche."
"Genau. In so einer Flasche kann man lange heißes Wasser oder Tee halten."
"Ich verstehe, Genosse Major. Ich habe einen Fehlgriff begangen und bitte um
Entschuldigung. Ich wollte nur meinen Vorgesetzten vor dem Attentat eines elenden
Kapitalisten schützen."
"Von wegen Kapitalist! Einfacher Tischler aus Stara Wilejka; mit Frau und Tochter kam er
zurück vom Begräbnis seines Sohnes. Und mittlerweise hast du auch aus ihm eine Leiche
gemacht. Seine Frau wurde vor Angst verrückt."
"Ich habe mich getäuscht, Genosse Major. Ich bitte um Entschuldigung. Und woher hätte
ich wissen sollen, dass es so eine Thermosflasche gibt? Ausgerechnet: ein Geschoß."
Der Major stellte die Thermosflasche zurück in den Schrank, dann setzte er sich an den
Schreibtisch. Er muss in guter Laune gewesen sein, denn ich bekam nicht wieder in die
Fresse. Schlussendlich sagte er so:
"Ein Verfahren in dieser Sache kriegst du nicht. Von der Thermosflasche rede aber mit
keinem. Es gab ein Geschoß und Schluss. Beim nächsten Mal pass aber besser auf und
mache aus dich keinen Idioten. Und jetzt verschwinde hier, du Vieh!"
"Vielen Dank, Genosse Major. Ich bitte nur noch um einen Passierschein aus dem
Gebäude."
"Ich werde im Wachhaus anrufen, die werden dich rauslassen."
Ich verließ das Arbeitszimmer des Majors. Es wurde mir leicht schwindelig. Hat der aber
eine schwere Hand, der Major! Es schien so, als ob er mir nur so leicht in die Fresse
haute, und jetzt spürte ich auf der linken Seite - wenn ich sie mit der Zunge berührte -
bewegten sich die Zähne. Ja, Erfahrung hat der und weiß, wie man die Arbeit richtig
macht. Man kann sofort die höhere Spezialisierung erkennen! Und wie hat er diesen
Schwarzen bearbeitet! Es war sehr angenehm zuzuhören.
Auf die Weise also, wegen der verdammten polnischen Kapitalisten, anstatt Orden und
Beförderung kriegte ich zweimal in die Fresse. Und kann noch von Glück sagen, dass die
ganze Sache nur solch ein Ende gefunden hat. Und verdanke ich das alles nur dem
Fehlen jeglicher Kultur in diesem verdammten Polen. Ist doch lächerlich! Sie brauchen
Thermosflaschen, um heißes Wasser zu transportieren! Bei uns in der Sowjetunion steht
in jedem größeren Bahnhof, irgendwo an der Seite, ein Kessel. Und oft kommt es vor,
dass da drin warmes Wasser ist. Das verstehe ich: ZIVILISATION! Hier muss man sogar
Wasser mit auf den Weg nehmen! Kultur! Nur spucken kann man auf so was und mit dem
Fuss verreiben!

November 1939. Lida.

Wir sind in Lida. Erst sollten wir nach Stara Wilejka fahren, dann aber kam der Befehl,
nach Lida umzuquartieren. Die Sowjetmacht weiß schon, was sie tut.
Die Stadt ist, man kann nicht sagen, ganz sauber. Aber auch hier wimmelt es von
Vertretern des Großbürgertums. Woher kommen denn sie alle?!...
Es sieht so aus, als ganz Polen aus Kapitalisten bestünde. Wo man auch nicht
hinschaut, jeder trägt Schuhe oder Stiefel aus Leder. Jeder ist beuhrt. Und schon wieder
die vielen Geschäfte, die ohne jegliche Einschränkung alles verkaufen.
Um die Wahrheit zu sagen, es ist nicht mehr Polen, es ist Weißrussland. Unser
sowjetisches Weißrussland. Gerade fanden hier die Wahlen sttat und es zeigte sich, dass
alle gerne und einstimmig für einen Anschluss an die Sowjetunion votierten. Sehr
angenehm ist das. Muss die Bourgeoisie verstanden doch haben, dass unsere große
Sowjetunion und deren VATER Stalin jedem Freiheit, Arbeit und Wohlstand garantieren.
Ich wohne bei einem Monteur des Bahnelektrizitätswerks. Sein Name: Lipa. Ein sehr
wertvoller Mann - Wodka trinkt er Teeglas-weise. Nicht anders. Ich bin auch nicht von
schlechten Eltern und kann richtig hinunterkippen, bei dem muss ich aber passen.
Anfangs dachte ich, er wäre ein großer Kapitalist, weil fein angezogen, und eine Uhr hatte,
und Schuhe trug. Dann aber überzeugte ich mich, dass er wirklich ein Arbeiter ist. Gleich
nachdem ich bei ihm einzogen hatte, kam er am Abend mit Wodka zu mir:
"Na, roter Führer, man muss deinen Einstand bei uns begießen. Oder willst du vielleicht
nicht mit einem Arbeiter trinken?"
"Warum denn nicht", antwortete ich. "Wodka kann man sogar mit dem Teufel trinken. Du
aber siehst mir nicht aus wie ein Arbeiter."
"Warum denn nicht?"
"Dein Anzug aus Wolle und ausländischer Fasson sowie die Chromlederstiefel verraten
deine Klassenabstammung."
Der aber hielt mir die Faust unter die Nase:
"Guck mal, wie abgearbeitet meine Hände sind. Wie aus Eisen. Siehste? Gerade du bist
ein Weißhändchen und verachtest Arbeiter. Zeig mal deine Hände!"
Ich zeigte ihm meine Hände. Der aber lachte nur.
" Händchen hast du wie ein Fräulein. Zum Nasebohren genau richtig. Man kann gut
sehen, dass du nicht selbst dein Brot verdienst. Ist mir aber egal, deine
Klassenabstammung. Offizier ist auch ein Mensch, obwohl manchmal schlimmer als
Schwein."
Sein Gerede war nicht ganz nach meinem Geschmack. Aber - dachte ich mir - er ist ein
nicht aufgeklärter Mann, wie ein Kind, plappert nur so vor sich hin. Ihm zu widersprechen
wollte ich aber nicht, denn tatsächlich, seine Fäuste waren wie der Hammer.
So fingen wir an zu trinken. Er schenkte jedesmal ein halbes Glas ein und leerte es mit
einem Mal. Ich sah: schlimm - keine Chance für mich. Also überging ich einige Toasts.
Alles verlief bestens, wir unterhielten uns weiter kultiviert, redeten über das und was. Dann
fragte ich: "Wie heißt Wodka auf Weißrussich ?" Er darauf:
"Keine Ahnung."
"Was für ein Weißrusse bist du denn?"
"Ich bin doch kein Weißrusse, ich bin Pole."
Da dachte ich mir: "Lügen kannst du, wie ich sehe, nicht besser, als Wodka trinken."
Dann fragte ich weiter:
"Wenn du kein Weißrusse bist, warum hast du dann für den Anschluss Weißrusslands
an die Union gestimmt ?"
Und der antwortete:
"Bist du ein Idiot oder spielst du einen Idioten? Jedermann stimmte dafür, um den
Stempel auf dem Papier zu kriegen. Sonst hieße es: Volksfeind! Du weißt genau, was das
bedeutet. Bei solchen Wahlen würdest du nicht nur für Weißrussland, sondern auch für die
Zulus stimmen."
"Soll das heißen, hier gibt es keine Weißrussen?"
"Es gibt schon welche, aber nicht viele. Auf dem Lande gibt es mehr von ihnen. Hier
aber leben fast nur Polen und Juden. Wenn es den Russen Polen so sehr nicht gefiel,
hätten sie doch lieber eine Abstimmung für einen Anschluss an Palestina veranstalten
sollen. Das wäre gerechter."
"Und dir hat Polen gefallen?"
"Warum denn nicht? Wenn einer arbeiten konnte und wollte, dann ließ es sich schon
leben. Du kannst es doch selbst sehen: Ich bin sauber angezogen, trinke Wodka und
sorge für meine Familie. Was kann man noch mehr wollen?"
"Und die Freiheit hast du vergessen?"
"Was für eine Freiheit?"
"Na,die proletarische Freiheit."
"Ich weiß nicht, was für eine proletarische Freiheit ihr da in Russland habt. Bei uns lebte
jeder, wie er wollte. Als es früher die Wahlen gab, durfte ich für jede Partei stimmen, die
imir gefiel. Bei euch aber wurden nur zwei Kandidaten aufgestellt. Beide Kommunisten.
Von keinem der beiden habe ich früher je was gehört. Da soll nun der Bürger versuchen
zu wählen, was ihm besser gefällt: der Typhus oder die Cholera? Es ist so, als würde ich
sagen: "Geh Nachbar in die Stadt und ich werde mich in der Zeit mit deiner Frau
vergnügen. Oder: Ich vergnüge mich mit deiner Frau und du, Nachbar, geh in die Stadt."
Ich hörte aufmerksam zu und sagte dann:
"Du tust mir aber leid. Als Arbeiter hast du dich von den Kapitalisten verwirren lassen.
Du hast keine Ahnung, ich bin mir aber sicher, dass du in balde alles richtig verstehen
wirst."
Er dagegen:
"Richtig verstanden habe ich alles, sobald ihr hier gekommen seid. Auch du verstehst
jetzt alles richtig, versuchst aber auf die stachanowsche Art, eure Lügennormen zu
erfüllen. Bei euch geht es aber nicht anders."
Wir tranken zu Ende und gingen schlafen. Am nächsten Tag früh erinnerte ich mich aber
genau an das abendliche Gespräch, und es wurde mir kalt vor Angst. Er kritisierte doch
und verspottete die Wahlen, ich hörte das alles und meldetete es nicht beim NKWD. Ich
könnte zwar auch heute dorthin gehen und alles erzählen, dann aber würden die fragen:
"Warum hast du ihn nicht gestern angezeigt?"
Vor Angst bekam ich Kopfschmerzen. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Zeige ich
das konterrevolutionäre Gespräch an - gehe ich gleich mit dem Mann unter, entweder für
das Gespräch oder für die Verzögerung. Oder aber ich zeige ihn nicht an und der
wiederum meldet, dass ich alles gehört habe und mich nicht wie ein ehrlicher Offizier und
Kommunist verhalten habe! Durch diesen verdammten Wodka bin ich in einen
Schlamassel geraten. Warum zum Teufel habe ich ihn nach den verdammten Weißrussen
gefragt? Erst dadurch ging das Gespräch auf die Wahlen über!
Ich sprang aus dem Bett und ging ins Badezimmer. Doch Lipa war schneller. Er war
schon da und rasierte sich.
"Wie gehts, roter Führer ?" fragte er.
Ich schaute ihm ins Gesicht und versuchte zu erkennen: Wird er zum NKWD gehen oder
nicht?
Inzwischen antwortete ich:
"Ich habe schreckliche Kopfschmerzen."
Er darauf:
"Ein schlechter Kopf tut nach dem Wodka zwei Jahre weh."
Was könnte das bedeuten? Warum redete er von den zwei Jahren? Was meinte er?
Vielleicht eine zweijährige Verbannung ins Lager? Aber für so ein Gespräch kriegt man
nicht zwei, sondern mindestens acht Jahre, und danach, wenn ich nicht krepiert bin, noch
einmal sowiel.
So sagte ich dann:
"Zuviel haben wir gestern getrunken. Ich kann mich nicht an einziges Wort erinnern, was
wir da geredet haben."
Er lachte ( von diesem Lachen wurde mir in den Knien weich ) und sagte, das
Rasiermesser an der Handfläche wetzend:
"Nun, wir haben freundschaftlich ein bisschen geredet. Heute weiß ich es nicht mehr
genau."
Und räusperte sich. Aber wie er sich räusperte!
Ich fühlte mich verloren, verstand, er werde unser gestriges staatsfeindliches Gespräch
melden. Ich war peinlich berührt. Man muss doch nur bedachten: Ich, ein erhlicher Offizier
und - das kann man ruhig sagen - Held der Roten Armee, werde durch diese schäbige,
polnische ( Verzeihung - jetzt weißrussische ) Schlange sterben müssen, Was sollte ich
denn nun tun? Ich müsste schnellstens hin laufen und als erster Anzeige erstatten! Könnte
schließlich passieren, dass ich in einem glücklichen Moment ankomme und nicht verhaftet
werde. Sie möchten mich schlagen, wieviel sie auch wollten. Das habe ich durch meine
Dummheit verdient. Es wäre nur schade, dass ich dann nicht mehr als Offizier zum Ruhme
Russlands, der Partei und unseres teuren FÜHRERS, Genossen Stalin arbeiten könnte.
"Also", beschloss ich, "werde ich als erster Anzeige erstatten. Du wirst mich nicht
überholen, du kapitalistischer Knecht! Ich bin bereit, für meine Dummheit und den Mangel
an bolschewistischem Charakter Verantwortung zu tragen."
Ich verließ das Badezimmer und kleidete mich hastig an. Und Lipa rief aus der Diele:
"Hej, Führer, der Platz ist frei. Du kannst dich jetzt waschen und rasieren."
"Danke", antwortete ich, "das mache ich ein bisschen später."
Schnell zog ich mich an und ging hinaus auf die Straße. Nachdem ich auf die
Landstraße abbogen hatte, drehte ich mich um und sah, dass Lipa das Haus verließ. Also
postierte ich mich abseits hinter dem Parkan und dachte mir: "Man muss sehen, wo er
hingeht." Kurz danach ging Lipa an mir vorbei, aber nicht in die Stadt, sondern Richtung
auf die Bahngleise. Es wurde mir ein bisschen leichter ums Herz, auch weil ich sah, dass
er sein Arbeitskleid anhatte und unter dem Arm die Werkzeugtasche trug.
"Vielleicht wird er mich nicht melden? Vielleicht hat er wirklich vergessen, worüber wir
gestern geredet hatten? Er hat doch zweimal mehr als ich getrunken."
Ich ging ihm nach. In der Nähe befand sich das Elektrizitätswerk der Bahn. Lipa ging
hinein, ich dagegen bog von den Gleisen zur Seite. Zwischen den Stappeln von
Bahnschwellen fand ich ein bequemes Plätzchen, wo ich mich hinlegen konnte. "Sollte er
in zwei Stunden nicht in die Stadt rausgehen", dachte ich mir, "dann wird er wahrscheinlich
nicht anzeigen. Dann hat er tatsächlich vergessen, wovon wir gestern beim Wodka
geredet haben."
Ich wartete bis Mittag, bis ich die Sirenen hörte. Kurz danach verließ Lipa das
Elektrizitätswerk und wandte sich über die Gleise nach Hause. Sicher wollte er zum
Mittagessen. Ich folgte ihm in einiger Entfernung, betrat den Haushof und ging in mein
Zimmer. Dort legte ich mich hin. Vor Angst wurde ich sehr schwach, ich schwitzte und
spürte wie meine Waden schlottern.
Nach einiger Zeit klopfte der verdammte Lipa an der Tür. Mein Herz hörte auf zu
schlagen, ich bat aber herein. Lipa erschien mit einem Glas Wodka in der Hand.
"Nimm das, roter Führer. Das ist die beste Arznei gegen Kopfschmerzen. Ein Keil treibt
den anderen."
"Nein ", wehrte ich ab. "Ich werde nicht trinken. Euer Wodka ist irgendwie merkwürdig,
geht in den Kopf und raubt einem das Gedächtnis. Die ganze Zeit versuche ich mich zu
erinnern, wovon wir gestern geredet haben - und nicht ist mir im Kopf übrig geblieben.
Weißt du es vielleicht?"
"Wozu daran denken? Davon kann das Gehirn nur welk werden. Kann sich ein Mann
denn alles merken, wovon er besoffen geredet hatte? Wir redeten über alles und nichts."
"Lügst du aber nicht?
"Warum sollte ich lügen? Bist du nicht bei Trost? Nun, trink den Wodka, es wird dir
gleich besser."
Ich fühlte mich erleichtert; verstand, dass er mich nicht anzeigen wird, weil er unser
reaktionäres Gespräch vergessen hat. Ich trank den Wodka und aus schlief ein. Ganz
beruhigt aber war ich erst nach drei Tagen. Und ich fasste den harten Entschluss, nie
wieder mit niemandem über politische Themen zu sprechen. Niemals!

29. November 1939. Lida.

Heute bekam ich einen Brief von Dunjaschka. Sie schrieb:

" Lieber Mischalein!


Ich bedanke mich herzlich für deinen Brief und das Foto. Ich kann sie mir gar nicht satt
sehen. Meinen eigenen Augen kann ich nicht glauben, dass du es bist. Alle Leute aus der
Kolchose besuchen mich abends nach der Arbeit, um das Foto zu bewundern. Sie wollen
nur nicht glauben, dass die Uhren, die du an den Armen trägst, echt sind. Ich aber glaube
es, du mein Adler und Held, und ich bin sehr stolz auf dich.
Ich möchte gerne dir auch ein Foto von mir schicken. Zu diesem Zweck habe ich schon
ein Gesuch an den NKWD geschrieben, damit man mir erlaubt, für einen Tag in das
Städtchen zu fahren. Ich vermute, dass ich die Erlaubnis bekomme, obwohl alle hier
erzählen, von einem solchen Fall noch nie gehört zu haben. Ich aber fügte dem Antrag
eine Bescheinigung vom Vorsitzenden der Kolchose, dass ich 150 Prozent der Norm
erfülle und dem Komsomol gehöre. Schade nur, dass ich kein Kleid habe, nur den sehr
alten wattierten Anorak. Unser Kolchosvorsitzender sagt, dass unsere Kolchose für
hervorragende Abeit ausgezeichnet wurde, und als Belohnung werden wir uns ein
bisschen Kleiderstoff kaufen können. Da es im Jahr 1936 war, kann es sicher bald
passieren. Dann werde ich mir ein schönes Kleid schneiden.
Unlängst war bei uns der NKWD und nahm die Familie von Morgalow fest, der ins Lager
verschickt wurde, weil er betrunken von einem Krieg mit Deutschland redete. Ich habe dir
davon geschrieben. Danach veranstalteten wir eine Versammlung und schickten an die
Behörden eine Dankschrift dafür, dass sie uns vor konterrevolutionären Elementen
geschützt haben. Es ist doch klar - als Morgalow vom Krieg mit Deutschland sprach,
konnte das jemand aus seiner Familie hören. Man muss diese faschistischen Schlangen
und englische Agenten ausrotten.
Ich freue mich sehr, dass die Echelons mit der Aufschrift "BROT FÜR HUNGERNDES
POLEN" bei euch angekommen sind und ihr jetzt keine Probleme mit der Nahrung habt.
Es ist sehr angenehm, dass sich unsere Regierung so sehr um die heldenhafte Rote
Armee kümmert. Nur habe ich Angst, dass die blutrünstigen Polen dich heimtückisch
ermorden oder vergiften könnten. Pass gut auf dich auf, mein Liebster und sei vorsichtig.
Ich schicke dir Grüsse von der ganzen Familie und küsse dich fest.
Deine bis ins Grab, Dunja."

Ich las den Brief zu Ende und beschloss sofort, für Dunja ein Kleid und Schuhe zu
kaufen. Also ging ich in die Stadt und sah, dass es in den Geschäften fast nichts mehr zu
kaufen gab. Na klar, unsere Jungs haben alles leergekauft, die Händler bestellten neue
Waren nicht und schlossen ihre Läden weg. Es gab aber noch viele
Kommissionsgeschäfte, wo die Waren ein bisschen teurer waren, wo man aber alles,
wonach es die Seele verlangt, kaufen konnte. Es waren die hiesigen Kapitalisten, die ihre
Sachen verkauften, um Geld zum Leben zu bekommen. Für uns war das sehr günstig und
wir freuten uns deswegen.
Also kaufte ich für Dunja ein Kleid, aber ein billigeres, denn in der Kolchose werden sie
sowieso alle beneiden. Auch gebrauchte Schuhe kaufte ich und zwei Sätze Unterwäsche,
denn ich erinnerte mich, dass sie keine Wäsche hatte. Das Fräulein, das im Geschäft die
Sachen verkaufte, fragte mich:
"Das ist sicher für die Gattin?"
"Nein", antwortete ich. "Für die Verlobte. Sie ist Schauspielerin am Theater."
Eine andere Verkäuferin mischte sich ein:
"Gibt es bei euch in Russland keine Geschäfte mit Kleidern und Schuhen, wo man sich
alles auf Maß kaufen könnte?"
Ich verstand, dass die miese faschistische Schlange versuchte, mich in ein politisches
Gespräch einzuwickeln und hinterhältig die Sowjetunion lächerlich zu machen. Also
antwortete ich:
"Bei uns gibt es alles und besser und billiger als bei euch. Ihr habt noch nie solche
Sachen wie bei uns gesehen."
"Warum dann kauft ihr das alles?"
"Wie: warum? Um den Nächsten Geschenke zu schicken, als Nachweis, dass wir an sie
denken. Meine Verlobte wird sich das Kleid zu Hause bei den schmutzigeren Arbeiten
anziehen. Und am Abend, zur Versammlung oder für einen Spaziergang wird sie unsere
sowjetischen Kleider anziehen."
Die erste Verkäuferin schlug vor:
"Wir haben gute Seidenstrümpfe. Vielleicht kauft ihr sie zum Komplett?"
Sie stellte eine Schachtel auf den Ladentisch und zeigte mir verschiedene Strümpfe. Ich
schaute mir alle an und stellte dann fest:
"Das sollen Strümpfe sein, wie ein Spinnennetz? Bei uns werden starke und dicke
Strümpfe gemacht. Und die hier - ich weiß nicht, wie sie sie auf die Beine raufkriegt."
"Wieso denn nicht? Sie sind sehr stark. Ganz sicher stärker, als eure aus der
Baumwolle. Und an den Beinen sitzen sie ganz schön."
Also kaufte ich zwei Paar davon und fragte nach den Strumpfhaltern Wo sonst wird sich
Dunjaschka Gummibänder für die Halter kaufen? Die aber sagten, dass es heutzutage
keine Gummibänder für Halter gibt. Und dass die Strumpfhalter so gut wie gar nicht
getragen werden.
"Wie tragt ihr also Strümpfe, damit sie nicht runterfalen?"
Die fingen an zu lachen. Dann sagt die ältere, die zungenfärtige:
"Ich werde es euch gleich zeigen."
Sie holte aus einer Schublade irgendein rosafarbenes Gerät und knüpfte es sich um die
Hüfte:
"Das nennt man einen Gürtel. Und an diese Gummibänder an der Seite werden die
Strümpfe angeschlossen. Das ist besser als Strumpfhalter, weil es nicht an den Beinen
drückt, und die Strümpfe zerknittern nicht."
Also kaufte ich auch den Gürtel. Alles bezahlte ich ehrlich und kehrte nach Hause zurück.
In meinem Zimmer breitete ich all diese Sachen auf dem Bett, auf dem Tisch und auf den
Stühlen aus und konnte meinen eigenen Augen nicht glauben: Wie schön ist das alles! So
ein Wonneleben hatten die Kapitalisten und Kapitalistinnen im imperialistischen Polen.
Am nächsten Tag stopfte ich alles in eine Schachtel, schrieb darauf mit einem Kopierstift
Dunjas Anschrift und brachte sie zur Post. Beinahe hätte ich das Paket abgeschickt. Zum
Glück aber kam ich noch rechtzeitig im letzten Moment zu mir wieder. Was tue ich denn?
Sollte Dunjaschka das Paket bekommen ( was durchaus möglich wäre ) und diese
Sachen anziehen, dann würde nicht nur die ganze Kolchose über sie reden, auch der
NKWD würde davon Wind kriegen. Die würden gleich Nachforschungen anstellen: Woher
hat sie das? Wie und was? Sie könnte, natürlich, erklären, der Verlobte schickte aus Polen
ein Geschenk. Aber woher nahm er all das? Hat gekauft... Aber von wem? Von den
Kapitalisten... Das heißt...!
Ich führte den Gedanken nicht weiter zu Ende und spürte, wie ich vor Schweiß ganz
nass wurde. Ja - ich verblödete doch total unter den Kapitalisten! Ausliefern konnte ich
meine liebe Dunjaschka und mich gleich mit! Glücklicherweise kam ich zur Besinnung,
stahl mich aus dem Postamt hinaus und leise, über die Seitenstraßen, kam ich mit dem
verfluchten Paket nach Hause zurück. Das Papier mit der Anschrift riss ich von der
Schachtel weg und verbrannte es. Das Paket selbst schob ich in eine Ecke unter dem
Bett. Erst dann beruhigte ich mich.

19. Dezember 1939. Lida.

Lange habe ich nicht mehr geschrieben, viel Zeit dafür hatte ich aber auch nicht. Es
passierte sowieso nichts Besonderes. Die polnische Bourgouisie wurde musterhafterweise
gezähmt. Die, die noch übrig blieb, sitzt still in ihren Löchern und unser heldenhafter
NKWD liquidiert sie nach und nach. Unsere Regierung gab den Weißrussen die Freiheit
zurück und beehrte sie großzügig durch die Aufnahme in die Sowjetunion. Jetzt ist alles
bis zum Bug und über den Bug hinaus - unser. Litauen erhielt das durch die polnischen
Herren geraubte Vilnius zurück und ist dafür sehr dankbar unserem GROSSEN Stalin. Mit
einem Wort: Wir führen überall planmäßig Ordnung, Freiheit, Kultur, Wohlstand und
Gerechtigkeit ein. Wir sozialisieren, wo es nur geht und wo man nur kann - auf die
kommunistische Art und Weise.
Unlängst kaufte ich mir noche eine Uhr. Nicht im Geschäft, sondern von einem
Bekannten des Lipa, auch Arbeiter, der Geld für Wodka brauchte. Jetzt kann jeder, der
mich nur anschaut, sehen, dass ich eine wichtige Person bin, da ich zwei Uhren besitze.
Ein sehr angenehmes Gefühl ist das.
Außerdem befinde ich im Besitz eines richtigen Reisekoffers, fast ganz neu, mit zwei
Schlössern und Kupferbeschlägen an den Ecken. Auch Chromlederstiefel englischer Art,
mit Riemen unterhalb der Knie, kaufte ich mir.
Neulich kleidete ich mich mit Fasson an, stellte mich für fast zwei Studen vor den
Spiegel, guckte mich an und konnte nicht genug davon kriegen. Ja, man könnte sagen, ich
sehe aus wie eine respektable Person. Nur von der Größe zu klein und die Nase ein
bisschen platt. Ansonsten aber alles hervorragend! Die Hose in der französischen Galife-
Art, aus deutschem Tuch geschneidert. Schuhe, englische Fasson, blitzen wie die Sterne
auf der sowjetischen Fahne. Die Schweizeruhren: tik-tak, tik-tak! Eine in der Tasche, die
andere am Arm. Kein Wort, schön habe ich mich herausstaffiert.
Wenn ich nur noch könnte, so wie ich da stehe und mit dem Koffer nach Pawlowo
zurück zu kommen und über die Straße spazieren gehen! Wie würden die Leute
hingucken und mich bewundern! Das ganze Städtchen würde zusammenrennen um mich
zu sehen. So hoch habe ich es geschafft, dank sowjetischer Macht und unserem
GROSSEN Stalin.
Weiterhin wohne ich bei Lipa, Wodka aber trinke ich mit ihm nicht mehr und rede sehr
vorsichtig. Ein Mal passierte mir Unglück, alles ging gut aus, jetzt aber muss ich
aufpassen. Ich schaue genauer hin, wie die Lipas leben und ich wundere mich sehr. Sie
essen gut, kleiden sich sauber und besitzen ein eigenes Haus. Mit vier Personen wohnen
sie in drei Zimmern. Und überall gibt es Vorhänge und Blumen. In einem Zimmer bemerkte
ich sogar ein echtes Grammophon. Kommunistisches Ehrenwort, dass ich nicht lüge! Ich
kann nicht glauben, dass Lipa auf ehrliche Weise zu diesem Reichtum gekommen ist.
Dass er Arbeiter ist, das stimmt. Davon habe ich mich überzeugt. Aber dass die ganze
Familie von seiner Arbeit in so einem Luxus leben kann - kein vernünftiger Mensch würde
so ein Märchen glauben.
Lipas Frau ist an die vierzig. Nicht schlecht, das Weib, ganz dick. Am Anfang machte ich
schöne Augen der älteren Tochter. Fräulein Julka heißt sie. Großgewachsen, mit breitem
Hinterteil. Kleidet sich wie eine Schauspielerin. Sogar einen Hut setzt sie manchmal auf,
und verschiedene Mäntel und Jacketts hat sie auch. Einen Regenschirm dazu. Eines
Tages bemerkte ich bei ihr sogar eine Uhr an der Kette. Nun, dachte ich mir, schön wäre
es, mir auch so ein Weib anzuketten. Mal stieß ich sie mit dem Ellbogen, mal trat ich ihr
auf das Bein beim Vorbeigehen, mal zwinckerte ich bedeutungsvoll... Für eine von den
unsrigen würde das reichen. Sie würde es als große Ehre empfinden, von einem roten
Offizier bemerkt zu werden. Die aber nichts - verzieht nur die Fresse. So verstellte ich ihr
eines Tages am Abend den Weg zum Hof und sagte sehr politisch:
"Vielleicht gehen wird heute ins Kino im Eisenbahnerklub. Ich spendiere die
Eintrittskarten."
"Vielen Dank", antwortete sie. "Eure Klubs und Filme interessieren mich nicht.
Außerdem habe ich gesehen, dass eure Sowjetinnnen gekommen sind und in Uniformen
umherlaufen. Ihr könnt eine von denen einladen."
"Wenn nicht, dann nicht", sagte ich. "Ich werde mir schon eine Bessere finden."
Sie daraufhin: "Am besten hundert auf einmal."
Sie stieß mich weg und ging. Ich könnte mich schon anders mit der unterhalten. Die
Jungs erzählten viel davon, wie man mit solchen Kapitalistinnen umzugehen ist. Auf Lipa
aber, wegen seiner proletarischen Abstammung, nahm ich Rücksicht. Außerdem sah ich,
dass er so ein Mann ist, der in die Fresse richtig hauen kann. Und ich mag es irgendwie
nicht, wenn man mir in die Fresse haut. So eine feine Natur habe ich.

1. Januar 1940. Lida.

Dem GROSSEN Stalin hurra! hurra! hurra!

Wir begrüssten das Neue Jahr. Ich überlegte mir, was ich mir im neuen Jahr wünschen
würde. Also mein grösster Wunsch war, zum Ruhme unseres heiligen Russlands, in
Anwesenheit des genialen Führers Stalin zu sterben. So stellte ich mir das vor: Ich wurde
im Kampf mit den englischen kapitalistischen Knechten tödlich verletzt und liege jetzt im
Krankenhaus. Ich weiß, dass ich sterben werde aber ich weiß auch, dass ich eigenhändig
mehrere Dutzend der englischen Kapitalisten getötet und die Fahne ihres vertierten
Regiments erobert hatte. Ja.
Also liege ich da und sterbe... Ich habe keine Lust, mich aus dem Leben zu
verabschieden, denn - wie man weiß - besitze ich schon zwei Uhren und einen Koffer und
die Chromlederstiefel. Aber ich weiß auch, dass nach meinem Tod, nachdem unser
mächtiges Russland die ganze Welt erobert hat und sie, systematisch reaktionäre
Elemente liquidierend, beherrscht, mein Name - des Helden der Weltsowjetunion, in
goldenen Buchstaben in eine Marmorplatte geschmiedet wird. Ja.
Also liege ich da und sterbe kategorisch. Man bietet mir Kottelets und verschiedene
Würste an, ich aber nichts – ich schenke all dem keine Achtung. In einem Moment offnet
sich die Tür und ein schwerbewaffneter NKWD-Zug kommt herein. Sie besetzen alle
Fenster und Türen und halten die Waffen bereit. Dann erscheinen Marschälle und
Generäle und bilden Spalier zu meinem Bett. Ich aber nichts: Ich liege da und sterbe.
Dann, dann... erscheint ER! Mein Führer! Die Sonne Russlands und der Welt. Er,
Genosse Stalin. Ich springe aus dem Bett, nehme die Achtungstellung an und rufe: "Dem
großen Stalin hurra! hurra! hurra!" Und ER kommt näher und sagt:
"Leg dich hin, Michail Nikolajewicz. Hast genug gearbeitet für unser heiliges Russland."
Er drückt mir die Hand und setzt sich auf dem Bettrand. Dann holt er aus der Tasche
eine Flasche unserer "speziellen moskowiter", gießt ein Teeglass voll ( sich selbst auch )
und reicht es mir:
"Trinken wir, Genosse, aufs Verderben des niederträchtigen Englands und auf die
Gesundheit unseres treuen Freundes Adolf Hitler."
Also tranken wir aus, nahmen einen Imbiss ein, und dann fragt ER:
"Wie fühlst du dich?"
"Lieber Väterchen", antworte ich. "Ich sterbe."
"Macht nichts, ist nur eine Kleinigkeit", beruhigte er mich. "Dein Name aber wird
unsterblich bleiben. So kannst du dir ruhig sterben."
Und ich spüre, dass ich sterbe, sterbe - und so starb ich... in Anwesenheit Stalins.
Ja, es war ein schöner Traum. Zur Zeit aber muss ich weiter leben und in diesem
unglückseligen, durch die blutrünstigen polnischen Herren ausgenutzten Weißrussland
unsere große sowjetische Kultur festigen.
Gestern begegnete ich Leutnant Dubin. "Komm abends zu mir", sagte er. "Wir trinken
ein bisschen und begrüßen das Neue Jahr. Hauptmann Jegorow wird kommen, auch ein
paar Jungs".
"Gut", antwortete ich.
Also ging ich hin. Natürlich zog ich mich ordentlich an und an Parfüms sparte ich auch
nicht. Als ich gekommen war, waren schon alle da, auch Hauptmann Jegorow.
"Womit fangen wir an?" fragte Dunin.
"Es ist doch klar", stellte Leutnant Sinicyn fest. "Wir fangen an mit dem Wodka und mit
dem Wodka schließen wir ab."
"Wollt ihr vielleicht erst Tee?"
"Tee ist kein Wodka: Zu viel kannst du davon nicht trinken."
So fangen wir an zu saufen. Eine Gitarre war auch da. Dubin spielte nicht schlecht,
schön laut. Also sangen wir aus der vollen Kehle das Lied "Moskwa". Eine Stimme, das ist
sicher, hatte jeder von uns und so sangen wir aus vollen Kräften, bis die Fensterscheiben
zitterten und die Gläser klingelten. Soll doch die Bourgoisie hören und wissen, dass die
Rote Armee sich vergnügt!
In einer Zimmerecke stand ein Piano. Spielen auf diesem faschistischen Instrument
konnte keiner von uns. Aber - als wir mehr getrunken haben - versuchte es Sinicyn doch.
Ganz hübsch gelang es ihm. So kloppte Dubin auf der Gitarre, wir sangen aus allen
Kräften "Jesli sawtra woina" und Sinicyn haute mit beiden Händen dem Piano auf die
Zähne. So hübsch passte das alles zusammen, dass wir uns auf die Weise bis Mitternacht
vergnügten.
Dann eröffnete Dunin feierlich:
"Liebe Genossen! Gleich ist Neues Jahr. Beginnen wir es mit einem speziellen Imbiss
zum Wodka. Es ist das beste Essen in der kapitalistichen Welt!"
Er ging zum Schrank und entnahm ihm eine große Papiertüte. Deren Inhalt leerte er auf
den Tisch. Es war etwas, was aussah wie große Pferdebohnen oder wie kleine Gurken.
"Was ist das?" fragte ich.
"Bananen", erklärte Dubin. "Unsere Jungs vom NKWD haben bei einem Bauer, der
früher eine Gärtnerei besessen hatte, eine Durchsuchung gemacht und viel von dieser
Spezialität gefunden. Also haben sie auch mir ein bisschen davon abgegeben."
"Her mit den Bananen", schrie Jegorow. "Die Kapitalisten haben genug davon
gefressen. Jetzt sind wir an der Reihe."
Dunin wusch die Bananen im Waschbecken ordentlich, schnitt einige auf dem Teller in
Stücke, salzte sie natürlich gut und dann schenkte jedem von uns Wodka nach:
"Auf die Infanterie!"
Wir tranken aus und aßen die Bananen dazu. Aber, der Teufel weiß warum, irgendwie
schmeckte das Zeug nicht. Ich wollte es sogar rausspucken. Sinicyn aber verkündete:
"Zu diesen Bananen braucht man Essig und Pfeffer."
Pfeffer war da und Essig bekam Dubin von der Vermieterin. Also würzten wir die
Bananen mit Essig und, natürlich, mit Pfeffer. Der Geschmack änderte sich gänzlich. Aber
wie dem auch sei, mir schmeckten sie nicht. Salzgurken oder sogar Zwiebeln wären mir
lieber. Na aber nichts - zurm Wodka ging es sogar mit Bananen. Schlimm war nur, dass
Hauptmann Jegorow ein wenig zu früh krank wurde. Sinicyn führte ihn zum Piano, öffnete
den Deckel oben am Instrument:
"Nur zu, Genosse, rein dahin, denn es wäre zu schade, den Fussboden schmutzig zu
machen. Und Platz in diesem blöden Gerät ist genug. Alles wird schon reipassen."
Auf der anderen Seite des Pianos wartete schon Maslannikow, auch zum Kotzen reif.
Ich aber hielt mich ganz gut und goß weiter Wodka zu den Bananen in mich. Dann hörte
ich Dubin sagen:
"Diese Bananen schmecken am besten mit Öl und Zucker. Schade, dass ich nichts
davon habe."
Nicht mal zu Ende sprach er, als Hauptmann Jegorow die Stellung am Piano verließ,
sich dem Tisch näherte, eine ( noch nicht geschnittene Banane ) in die Hand nahm und
Dubin damit in die Zähne haute.
"Vergiftet hast du mich, du Schuft!" brüllte er. "Noch nie habe ich so schnell nach Wodka
gekotzt. Bananen werden eingelegt oder mariniert gegessen, und du hast uns rohe
gegeben!"
Und nochmal in die Fresse, und noch einmal. Also fing Dubin an, sich zu wehren. Die
beiden griffen sich in die Haare und wälzten sich auf dem Fussboden. Hauptmann
Jegorow verdreckte unseren Gastwirt mit Bananen vollständig! Es war aber nur eine
Kleinigkeit, da gab es nur was zu lachen. Dann tranken wir weiter, alle verlieren aber Lust
auf die Bananen. Nur Dubin aß weiter, um nichts zu vergeuden.
"Schade, dass es euch nicht schmeckt", bedauerte er. "Es ist doch der beste
kapitalistische Imbiss. Dazu braucht man sicherlich nur noch Meerrettich oder Senf."
"Mögen doch die Kapitalisten diesen Imbiss selbst fressen." grollte Hauptmann Jegorow.
"Und ich werde für solche Spottelei und Hohn in die Fresse hauen!"
Er haute aber nicht mehr. Ganz sicher wurde er sehr geschwächt, denn er kotzte lange.
So vergnügten wir uns bis etwa drei Uhr früh. Genau weiß ich es nicht mehr, denn ich
verlor das Bewustsein und wurde erst am Morgen wegen der Kälte wach. Kalt war es, weil
Hauptmann Jegorow im Spiel alle Fenster mit dem Stuhl zerschlug und den Ofen
beschädigte. Es war noch dämmerig. Die Jungs schliefen, wo wer nur konnte. Ich schaute
nach, ob meine Uhren noch da sind. Sie waren da. In guter Gesellschaft habe ich die Zeit
verbracht. Also ging ich nach Hause.
Auf die Art und Weise, sehr lustig und angenehm, begrüssten wir das Neue Jahr.

19. Januar 1940. Lida.

Weiter wohne ich bei den Lipas. Wodka trinke ich mit dem Mann nicht, obwohl er mir das
oft angeboten hat: "Roter Führer, will wollen uns mal aufwärmen!" Ich erwiderte aber, der
Doktor habe es mir verboten, weil ich einen kranken Magen hätte." "Aber doch genau
gegen die Magenkrankheit ist Wodka das Beste." behauptete Lipa. "Er kann
durchbrennen, durchsäubern und dann bist du gesund." Ich aber ließ mich nicht
überreden. Genug Angst hatte ich beim ersten Mal.
Mein Zimmer ist sehr angenehm. Wie ich ausgerechnet hatte, beträgt seine Wohnfläche
etwa 24 Quadratmeter. Bei uns in der Sowjetunion müssten hier drin um die vier Leute
leben ( je 6 Meter für jeden ). Ich lebe hier alleine und genieße es. Und es gibt keinen, der
sich in meine Angelegenheiten einmischt. Sehr angenehm ist das, wenn auch
unsozialistisch. Ein paar Mal trank ich Tee bei den Lipas. Jedes Mal bemühte ich mich,
nicht über die Politik zu reden. Wie ich bemerkte, verstehen sie gar nicht, dass >politische
Gespräche< zu nichts führen und gefährlich sein können. Das alles erklären wollte ich
ihnen aber nicht. Ich lebe sehr friedlich mit den Lipas. Man kann nichts sagen, gute
Menschen sind sie. Nur die Julka mag ich nicht. Schlau ist das Weib, hochnäsig und zeigt
keine Achtung für meinen Offiziersrang.
Sie hat ein Schwesterchen. Zoska heißt sie. Ist etwa zehn Jahre alt. Schlau ist sie aber!
Wenn sie groß ist - eine zweite Julka wird sie. Jetzt aber kann die Sowjetunion sie
ausbilden und vielleicht zu einer Kommunistin erziehen. Zur Zeit besucht sie eine
kapitalistische Schule. Bei uns wurden spezielle Lehrgänge gehalten, wie man mit der
hiesigen Bevölkerung umzugehen ist. Das Wichtigste – sagte man uns - ist niemandem zu
vertrauen und nichts über die Sowjetunion zu erzählen. Das ältere Element, dass im
kapitalistischen System groß geworden ist, sei für immmer verdorben und endgültig
verloren, es müsse also nach und nach liquidiert werden. Die Kinder dagegen ließen sich
zum Wohle der Sowjetunion erziehen. Man müsse sie gut behandeln, ihnen Bonbons
geben und die Liebe und Achtung zur Partei und zu Stalin einimpfen. Also brachte ich oft
Bonbons für Zoska. Süssigkeiten liebt sie. Sehr oft sprach ich mit ihr über Verschiedenes.
Eines Tages fragte ich sie:
"Wer bist du: Polin oder Weißrussin?"
"Polin" antwortete sie.
"Nein." sagte ich. "Du bist keine Polin, denn Polen gibt es nicht mehr und wird es nie
mehr geben."
Und sie darauf:
"Die Engländer werden kommen, euch vertreiben und Polen wird wieder frei sein."
Ganz sicher hat sie das in der Schule mitgekriegt. Schrecklich ist die kapitalistische
Erziehung. Recht haben unsere Politruks. Ich fragte weiter:
"Weißt du, wer Stalin ist?"
"Ich weiß es genau."
Das gefiel mir sehr. Ich streichelte sie über den Kopf, gab ihr einen Bonbon:
"Sehr gut, dass du es weißt. Sag mir aber genau, wer ist er?"
Und die erklärte laut und deutlich:
"Ein Tyrann und Blutsauger, der zusammen mit Hitler die Welt vernichten und uns alle
zu Sklaven machen will, so wie in Russland."
Augenblicklich wurde ich schweißnass. Ich stand auf und schaute mich um. Dann
öffnete ich die Tür, um nachzuschauen, ob nicht jemand im Flur steht, der ihre Worte
mitkriegen konnte. Es raubte mir den Atem. Menschenskinder, dachte ich mir, so über
Stalin und Hitler zu reden, über die Retter der Menschheit! Was haben die Kapitalisten mit
diesem Kind gemacht! Glücklicherweise hörte keine zu. Lange Zeit starrte ich Zoska
verwundert an. Nie im Leben hörte ich so was. Schließlich fragte ich:
"Wer hat dir das erzählt: Vati, Mami oder Julka? Oder hast du das in der Schule
mitgekriegt?"
Die daraufhin:
"Niemand hat mit das erzählt, aber wir alle wissen das. Und ihr wisst es auch, nur tut ihr
so, als ob ihr keine Ahnung hättet, weil ihr Angst vor eurem NKWD habt."
Ich gab ihr keine Antwort darauf, seitdem aber hatte ich Angst auch vor ihr. Zehn Jahre
alt und schon so eine verbohrte Faschistin und englische Agentin! Sie aber, so wie früher,
besuchte mich immer wieder und bat, ihr mal die Fotos mal die Pistole zu zeigen. Ich
meinerseits stellte ihr keine Fragen mehr, denn so was will ch nicht wieder hören. Es wird
lange Zeit brauchen, sie von diesen kapitalistischen Begriffen zu befreien. Unsere
sowjetische Schulen werden es aber schon schaffen.
Sehr interessierte mich die Frage: Wie werden Kinder in kapitalistischen Schulen zu
faschistischen Schakalen dressiert? Ein kleines Kind hat doch keine Ahnung von der Welt
und lässt sich alles einreden. Die kapitalistische Welt - das weiß jedermann - wird nur
durch Verlogenheit, Terror und Propaganda zusammen gehalten. Viel habe ich davon
gelesen, wie in polnischen Schulen Lehrer und Priester Kinder quälen und ihnen
verschiedene faschistische Begriffe einprägen. Ich beschloss, der Sache auf den Grund zu
gehen, denn Schulen für Kinder waren hier noch dieselben wie früher.
Eines Tages also kam Zoska früher von der Schule nach Hause zurück. Draußen war
Frost. Sie ließ ihren Rucksak mit Schulbüchern in ihrer Wohung liegen und klopfte bei mir
an, weil es bei mir immer besser geheizt wurde und immer warm war. An diesem Tag
hatte ich keinen Dienst und saß zu Hause. Ich gab ihr einen Bonbon und wir redeten
miteinander. Sie war so fröhlich. Erzählte, was sie in der Stadt sah. Fragte, ob ich aus
einer Kanone schießen kann? Nun, sie plapperte wie ein Kind - ein kapitalistisches. Denn
unsere, sowjetischen Kinder sind anders: ernsthaft, sie lächeln selten und wissen gut
Bescheid über die Rolle Russlands und des Proletariats. Vor allem aber lieben sie Stalin
und wissen, dass sie eine große Aufgabe erwartet - für die Berfreiung der Welt von
kapitalistischer Unterdrückung zu kämpfen. Die aber hatte nur Lachen, Bonbons und
Spielereien im Kopf! Ein elendes Schicksal haben die Kinder hier!
Ich nahm mir vor durch Zoska zu erforschen, wie die Kinder geschlagen werden. Ich
wusste, dass Lehrer und Priester zu diesem Zweck über speziell hergestellte
Gummischlagstöcke verfügen, außerdem benutzen sie Lineale. Ich sah mir Zoskas
Handflächen an und fand keine Prügelspuren. Also fragte ich:
"Willst du fünf Rubel für Bonbos kriegen, dann zieh dein Kleid aus und zeige mir deinen
Rücken."
"Ich schäme mich aber. Wozu braucht ihr das?"
"Du brauchst dich nicht zu schämen", erklärte ich. "Ich habe gehört, dass Vati und Mami
dich prügeln. Ich möchte nur sehen, ob es Spuren davon gibt."
"Vati schlägt mich nie, und Mami gibt mir manchmal einen Klaps."
"Zeig also deinen Rücken, sonst glaube ich dir nicht."
Sie zog ihr Kleidchen aus und ich sah mir ihren Rücken genau an. Keine blauen
Flecken, keine Anzeichen vom Prügeln entdeckte ich. Ich gab ihr die fünf Rubel und fragte
weiter:
"Sag mal, wirst du in der Schule geschlagen?"
"Warum?"
"Wie warum? Ich weiß genau, dass ihr Kinder immer von den Lehrern und Priestern
geschlagen werdet."
"Nein", empörte sie sich. "Das ist eine Lüge."
Eine sonderbare Geschichte! Tatsächlich, es gab keine Verletzungen, keine
Prügelspuren. Vielleicht ist sie eine von den Privilegierten und dient sich ihren
blutrünstigen Lehrern an? Vielleicht ist es auch so. Denn anders ist das nicht zu
verstehen! Schlau ist aber diese Zoska, deckt ihren Lehrer und die Priester. So klein und
schon so gut dressiert. Ich glaube nicht, dass unsere Sowjetunion einen Nutzen aus ihr
haben wird. Ganz sicher ist sie eine kapitalistische Pionierin, die ihren Eltern und anderen
Schülern nachspioniert und bei dem faschistischen NKWD Anzeigen erstattet. Alles
andere wäre nicht denkbar.

7. Februar 1940. Lida.

Vorgestern ging ich abends ins Kino. Das Kino an sich war mir nicht besonders wichtig,
ich hatte aber erfahren, dass es eine neue Lieferung von den Sowjetinnen gab. Vielleicht
könnte ich mir eine von ihnen anbaggern, dachte ich mir, denn mit den hiesigen
Kapitalistinnen funktionierte es irgendwie nicht. Jede von ihnen zog die Fresse hoch bis an
die Zimmerdecke. Nicht einmal reden mit uns wollten sie. Also ging ich ins Kino und sah:
tatsächlich, es gibt welche. Je zwei, drei liefen sie rum, lachten, knabberten
Sonnenblumen und schielten interessient zu den Männern. Von unseren Jungs sammelte
sich auch ein Haufen zusammen, um die neue Ware zu begutachten.
Ein paar Mal ging ich vor dem Kino hin und her und schaute, welche ich ansprechen
könnte. Es war doch klar, dass sie nur deswegen hierher gekommen sind. Als Offizier
wollte ich mir eine ein bisschen Bessere aussuchen; auch schreckliche Schlampen waren
dabei. Endlich bemerkte ich eine Bessere. Dunja ein wenig ähnlich und sehr fein vom
Aussehen her. Ich näherte mich ihr und fragte:
"Irgendwie woher kenne ich euch."
"Mir scheint es auch so", antwortete sie.
"Hättet ihr vielleicht Lust, ins Kino zu gehen ?"
"Warum nicht. Nur das Geld für den Eintritt habe ich nicht."
"Ich werde dir die Karte kaufen."
"Wenn so, dann komm."
Sie verabschiedete sich von ihren Freundinnen und wir gingen. Es war ein sehr guter
Film. Ich schreibe ihn auf, um nicht zu vergessen:
Also es klappte nicht mit der Arbeit in einer Kolchose. Nie hat man dort die Norm erfüllt.
Verschiedene Instruktoren und Kommissionen wurden zu ihnen geschickt und nichts,
immer dasselbe. Eigentlich hatten sie alles, was zum Arbeiten nötig war, die Ergebnisse
aber waren miserabel. Mehrere Vorsitzende wurden schon ins Lager geschickt, oder noch
irgendwohin weiter. Bei jedem nächsten aber passierte schon wieder dasselbe.
Endlich wurde, um die rätselhafte Sache zu klären, eine Komsomolzin dorthin geschickt.
Sie fuhr hin, scheinbar, um Bildungsarbeit zu führen, na und einen "roten Kreis" zu
gründen. Also kam sie an, arbeitete wie es sich gehört, inzwischen aber beobachtete sie
alles genau und hielt Ausschau nach Schädlingen. Dann baggerte sie der Vorsteher der
Traktorenstation an, ein junger, smarter Kerl. Auch sie war schön. Sie fangen an zu
romancieren. Gemeinsam lasen sie Bücher, besuchten Versammlungen, gemeinsam
schliefen sie. Mit einem Wort: Sie verbrachten die Zeit auf die kultivierte Art und Weise.
Er verliebte sich in sie und sie in ihn. Er wollte sie gleich heiraten. Sie aber sagte, sie
müssten bis Herbst warten, bis die wichtigsten Feldarbeiten abgeschlossen sind. Denn
erst kommt die Pflicht, dann die Liebe. Er, obwohl ungern, stimmte ihr zu. Das erschien ihr
aber verdächtig. Also fing sie an, ihn zu beobachten, und eines Tages, als er auf seiner
Traktorenstation war, durchsuchte sie sein Zimmer und fand einen Zettel in einer
Fremdsprache. Sie konnte den Text nicht verstehen, verstand aber, dass die Sache
verdächtig ist, nahm also den Zettel und lief nachts, zu Fuss, dreißig Wersten in die Stadt.
Dort übergab sie den Zettel dem NKWD-Vorsteher. Der machte ein Foto davon und
brachte die Komsomolzin mit dem Auto in ihre Kolchose zurück. Er befiehl ihr, den Zettel
an den alten Platz zurück zu legen, damit der Schuft nichts merkte. Er befiehl ihr auch, ihn
weiter zu beobachten.
Es kam also der Herbst, die Ernte war gut, wie noch nie. Sie merkte aber, dass ihr
Kavalier traurig wurde. Sie verstand, dass es ihm nicht gefällt, dass die Kolchose vielleicht
wieder aufblühen könnte. So fing sie an, ihn noch genauer zu beobachten und einmal sah
sie, wie er nachts in die Stadt fuhr und von dort ein Paket mitbrachte. Sie untersuchte das
Paket und stellte fest, dass drin eine Bombe englischer Herstellung war.
In der nächsten Nacht sah sie, wie er leise aus dem Bett, in dem sie beide schliefen,
kroch und das Zimmer verließ. Sie lief ihm nach. Und dann sah sie, wie der niederträchtige
Saboteur die Bombe unter den Damm, der die Wasserhöhe im See regelte, legte. So
wollte er alle Felder der Kolchose überfluten und die Ernte vernichten. Er ließ die Bombe
liegen und ging zur seinen Traktorenstation, um eine Erklärung zu haben, wo er war, sollte
nachher jemand fragen. Sie inzwischen holte die Bombe unter dem Damm hervor und
warf sie in den See. Dann kam sie als erste nach Hause zurück. Die Bombe explodierte im
See, richtete aber keinen großen Schaden aus.
Alle haben verstanden, dass es ein Attentat auf das Wohl der Kolchose war, und der
Vorsitzende benachrichtigte den NKWD. Gleich danach erschienen die Behörden und
beriefen eine Versammlung ein. Der Vorsitzende hielt eine Rede und erklärte, unter ihnen
befinde sich ein Saboteur, der seit langem der Arbeit schade und jetzt ihr ganzes
Vermögen vernichten wolle. Dann trat dieser Saboteur auf. Er sprach sich auch für die
Wachsamkeit aus und stellte fest, der Attentäter sei gewiß aus der Stadt gekommen. Erst
dann stand unsere Komsomolzin auf und sagte:
"Du bist dieser Saboteur! Die Bombe hast du unter den Damm gelegt, ich habe sie
rechtzeitig entfernt."
Und er darauf hin:
"So sieht deine Liebe aus, dass du mich vernichten willst?"
Sie erwiderte:
"Ich bin eine Komsomolzin und für mich steht die Pflicht an der ersten Stelle. Dich
dagegen würde ich selbst als Feind der Sowjetunion erschießen!"
So berührend fand ich diese Worte, dass ich anfing zu klatschen und "bravo!" zu rufen.
Das Filmende war folgendes: Sie wurde zum Parteikomitee gerufen und feierlich mit
einem Orden ausgezeichnet. Er dagegen wurde hinter Gittern gezeigt. Es war ein sehr
schöner Film, und er berührte mich sehr.
Beim Verlassen des Kinos frage ich meine Begleiterin:
"Wie hat dir, Nastka, der Film gefallen ?"
"Nicht schlecht", sagte sie. "Schade nur um den Jungen, hübsch war er."
Wir gingen hinaus. Ich wendete mich an sie:
"Gehen wir zu dir schlafen oder zu mir?"
"Zu mir geht es nicht" sagte sie. "Ich wohne zusammen mit sechs Kolleginnen in einem
Zimmer."
Wir gingen also zu mir. Wir schliefen zusammen und am nächsten Morgen war ich
früher aufgestanden, weil ich in die Kaserne musste. Dienst hatte ich an diesem Tag. Ich
versuchte sie zu wecken, sie aber sagte:
"Du kannst ruhig gehen. Ich werde noch ein Stündchen weiter schlafen, dann gehe ich."
Ich ging zum Dienst. Abends war ich zurück - Nastka war nicht da. Das Zimmer war
nicht aufgeräumt, das Bett nicht gemacht. Ich fing an Ordnung zu machen, da merkte ich,
dass das Paket, das ich Duniaschka schicken wollte und dann darauf verzichtete, unter
dem Bett fehlte. Das verärgertete mich sehr und ich rief Lipa zu mir:
"Bei mir ist ein Paket mit kostbaren Sachen verschwunden."
"Wann ?"
"Ich weiß es nicht. Keiner außer dir, deiner Frau und deinen Töchtern darf hier rein. Frag
mal sie, vielleicht hat sich eine von denen einen Scherz gemacht."
Der aber darauf:
"Keine von denen würde was mitnehmen, ob im Scherz oder ernsthaft. Solche Sitten
gibts bei uns nicht. Ich aber habe heute früh gesehen, dass deine Wohung eine Sowjetin
verlassen hat und eine Schachtel unter dem Arm trug. Ich habe sie gefragt, was sie in
deiner Wohung zu suchen hat. Die anwortete mir: "Ich habe bei meinem Verlobten
übernachtet."
Es wurde mir unwohl, und es war schade um die wertvollen Sachen, also beschloss ich
unbedingt Nastka zu finden. Jeden Abend ging ich ins Kino, sie kam aber nicht. Endlich
erwischte ich sie tagsüber auf dem Marktplatz. Sie war da zusammen mit drei
Freundinnen.
"Guten Tag Nastka" sagte ich.
Sie tat anfangs so, als würde sie mich nicht wieder erkennen. Dann aber antwortete sie:
"Guten Tag. So viele bekannte Männer habe ich ich, dass ich dich nicht sofort wieder
erkannte."
Also sagte ich:
"Könnte ich dich vielleicht kurz alleine sprechen? Es geht um eine wichtige
Angelegenheit."
Und sie darauf:
"Ich gehe nirgendhin. Du kannst ruhig hier reden. Das sind meine besten Freundinnen
und ich habe keine Geheimnisse von ihnen."
Also erklärte ich:
"Als du bei mir warst, hast du ein Paket mit kostbaren Sachen mitgenommen. Gib es
bitte zurück."
"Was für ein Paket ?", erwiderte sie. "Ich weiß nichts von irgendeinem Paket."
Dann sagte ich: "Du weißt genau, was für ein Paket. Und der Hauswirt hat gesehen, wie
du mit dem Paket aus dem Haus gingst."
Wie sie mich dann anbrüllte:
"Du weißt genau, wo ich dich und deinen Hauswirt habe! Du bist mir aber ein Kavalier!
Nicht einmal Abendbrot oder Frühstück hast du mir gegeben! Ein Paket hat er verloren!
Geh doch mal hin und suche es!"
"Nastka", sagte ich. "Gib besser alles bereitwillig zurück oder werde ich dich anzeigen
müssen."
Sie schreite mich darauf direkt an:
"Geh doch hin und zeig mich an! Ich werde zuerst anzeigen, dass du ein Spekulant bist!
Du bist mir ein Ehrlicher! Vielleicht hast du selber eine Frau beklaut!"
"Die Sachen gehörten mir."
"Na eben!", schrie sie. "Du läuftst vielleicht in Weiberhemden und -höschen! Wenn das
deine eigenen Sachen waren, warum hast du sie dann unterm Bett versteckt "
Und ihre Freundinnen wiederum fingen gleich an zu schnattern, zu schreien, über mich
zu lachen, bis ich nicht mehr wusste, was ich zu tun habe. Ich wandte mich nochmal an
Nastka ruhig:
"Hör zu Nastka, ich werde die Sache nicht anzeigen, ich sage dir nur, wie schäbig du
mich behandelt hast. So was habe ich von dir nicht erwartet. Dir hat sogar der Saboteur im
Film leid getan, mit mir aber bist du so schlecht umgegangen."
"Er hat mir leid getan", antwortete sie, "weil er ein hübscher Junge war. Du aber ? Die
Nase wie eine Pflaume, die Ohren stehen ab. Und so klein..., anderen reichst du
höchstens bis zur Achselhöhle. Auch niederträchtig bist du, nicht einmal Tee hast du mir
angeboten. Umsonst hast du meine Liebe ausgenutzt!"
Wie die nicht anfingen, auf mich zu schimpfen, über mich zu lachen, bis die Leute auf
der Straße aufmerksam wurden und sich neben uns zusammenscharren. Einige lachten
und gaben den Sowjetinnen Recht. Ich verstand, dass ich keine Chance mehr habe und
meine Sachen verloren sind. Also spuckte ich nur und ging weg vom Marktplatz. Zum
Abschied sagte ich noch:
"Mögen dir meine Sachen im Halse stecken bleiben. Mögest du dafür krank werden!"
Und sie schrie:
"Eine Hündin sollst du einladen und kein ehrliches Mädchen! So ein Kavalier! Nicht
einmal ein Glas Wodka, nicht einmal Tee hat er mir angeboten!"
"Ich würde dir schon gerne was anbieten – Essigessenz!", dachte ich mir.
Seitdem ging ich nie wieder ins Kino. Auch weil ich ein neues Problem hatte - Läuse
fand ich bei mir. Von Nastka kamen sie zu mir herüber. Ich hatte aber Glück, das ich mir
nichts Schlimmeres holte.

12. April 1940. Lida.

Der Winter ist zu Ende, so wie die kapitalistische Macht in Weißrussland auch. Der
Fruhling kam, wie auch wir gekommen sind – die Soldaten der Roten Armee - um das
Proleteriat von der kapitalistischen Tyrannei zu befreien. Die Sonne stellte sich höher auf,
um die Kälte zu vernichten - wie auch unsere russische Sonne: der Vater Stalin, um
Arbeiter und Bauern mit den Strahlen der Freiheit und des Wohlstandes aufzuwärmen.
Alles rundherum blühte auf und ergrünte freiheitlich - wie in der Sowjetunion. Die Vögel
sind angeflogen gekommen und singen laut und ohne Zwang zum Ruhme der
kommunistischen Partei und des Zentralkomitees, glücklich, dass die blutrünstige Macht
der imperialistischen Satrapen beendet wurde. Sehr angenehm ist es, das alles zu sehen
und zu hören.
Noch einmal las ich, was ich da über den Frühling geschrieben habe und muss
feststelen, dass ich literarisch sehr begabt bin. Es ist vielleicht noch nicht so, wie bei
Puschkin, ganz sicher aber viel besser, als bei den kapitalistischen Schriftstellern, die
immer nur lügen und sich den Kapitalisten andienen müssen. So ist es, Literatur verträgt
sich nicht mit Zwang, also nur dort kann sie blühen, wo wir sind, und wo der VATER
STALIN sie beschützt.
Denn, was zum Beispiel, gibt es überhaupt bei den Polen? Nichts. Als ich danach fragte,
erzählten sie mir was über einen Mickiewicz, der soll ein großer Dichter und so weiter sein.
Ich spuckte nur und fragte: "Was hat der denn so Großes geschrieben?" Die sagten: "Herr
Tadeusz". Ich lachte Tränen. Da hat einer von einem Herrn geschrieben und schon ist er
ein großer Dichter! Bei uns gibt es Tolstoi. Obwohl er anfangs ein Graf und Schmarotzer
war, besserte er sich und sogar Schuhe für sich selbst schneiderte.
Es gibt auch viele andere Schriftsteller bei uns. Und im Ausland was? Nichts. In
England, hab ich gehört, gab des mal einen Szekspir, der aber schrieb nur über Könige
und Minister und, um das Klassenbewusstsein des Proletariats zu vernichten, diente er
sich den amerikanischen Kapitalisten an. Auch in Germanien gab es vor Hitler keinen, der
gut war, lediglich den Beethoven, der den "Faust" geschrieben hat, ganz sicher aber hat er
ihn von Ilia Erenburg abgeschrieben. Nur das russische Volk kann der Welt etwas
Schönes und Nützliches geben. Also beabsichtige auch ich, sobald ich ein bisschen mehr
freie Zeit habe, ein sehr dickes Buch über unsere Kulturerrungenschaften und die Größe
unserer Nation zu schreiben.
Dieser Frühling hat auch mir ein wenig den Kopf verdreht, denn es fehlte wenig und ich
hätte mich in eine Kapitalistin verlieben. Rechtzeitig aber besann ich mich und beendete
meine Liebe. Ihr versteht es doch selbst: Das Fressen ist gut, ein Weib habe ich nicht,
also kriegt man verschiedene männliche Gedanken in den Kopf und man kann davon ganz
verblöden. Also, in der Nähe der Kaserne gab es einige Verkaufsstände, an denen die
hiesigen Frauen verschiedentliches Essen und Tee verkauften. Dort bemerkte ich ein gar
nicht schlechtes Omalein. An die zehn Jahre älter als ich war sie, aber ziemlich fettig, und
eine recht rote Fresse hatte sie auch. So, dass ich, könnte man sagen, Gefallen an ihr
fand. So fing ich an, ihren Stand öfter zu besuchen und ziemlich viel Tee trinken. Immer
blieb ich sehr ehrenvoll: Was immer ich gegessen oder getrunken hatte, bezahlte ich ohne
Schummeleien. So begann auch sie mich zu respektieren und mich freudig anzuschauen.
Als ich bemerkte, dass sie Raucherin ist, brachte ich ihr ab und zu Zigaretten zu einem
niedrigeren Preis und unterhielt mich mit ihr auf eine sehr angenehme Weise. Ich
beschloss, mit ihr eine Liebe anzubahnen. Dass sie viel älter war, war ohne Bedeutung.
Denn von unseren Sowjetinnen hatte ich nach der Lehre mit Nastka die Nase voll. Allein
hinschauen in ihre Richtung war mir widerlich. Immer dachte ich mir, jede von ihnen
könnte eine gleiche Schlampe sein wie Nastka.
Also besuchte ich den Marktstand und besuchte, Tee saufte ich und saufte. Dabei
kalkulierte ich mir so: "Es wird schon die Zeit kommen, wo ich bei dir meinem Rang
entsprechend umsonst fressen werde." Einmal schlug ich ihr vor, mit mir ins Kino zu
gehen. Sie aber antwortete, ins Kino gehe sie nur ungern, und außerdem möchte sie nicht,
dass man sie mit einen Soldaten zusammen sieht; gleich würde es unter Bekannten viel
Gerede geben. Ich erkundigte mich nach ihrer Familie. Es stellte sich heraus, dass sie seit
drei Jahren Witwe war und alleine lebte. Wunderbar - dachte ich - genau so ein Weib
brauche ich. Sehr reich war sie, mit eigenem Stand und eigener Wohung. Ich wusste aber
schon, dass es mit den blöden Kapitalistinnen nicht so einfach läuft, wie mit unseren
Weibern. Ist klar, es handelt sich um ein Element ohne Klassenbewusstsein, voll
kapitalistischen Aberglaubens.
Mehrmals half ich ihr abends, Körbe mit dem Essen und einen großen Blechsamowar
vom Verkaufsstand nach Hause zu tragen. Für die Nacht wollte sie es nicht draußen
stehen lassen, denn unsere Jungs liebten es, Proviant und andere Sachen zu
>nationalisieren<. Für das Tragen bekam ich immer was zu essen. Für die Nacht zu
bleiben erlaubte sie mir aber nicht.
"Ich habe", sagte sie, "eine siebenjährige Tochter und will nicht, dass das Kind aufhört
die Mutter zu achten. Es wäre ein schlechtes Beispiel. Auch die Nachbarn könnten davon
erfahren."
Eines Tages aber, nach längerer Bekanntschaft, stimmte sie einem Sonntagsausflug
aufs Land zu. Davor aber erklärte sie: "Ihr sollt euch aber keine Hoffungen außer einem
Spaziergang machen, weil ich eine ehrenvolle und ehrliche Frau bin. Ich kann sehen, dass
ihr jung und einsam seid, also können wir miteinander plaudern und unter freiem Himmel
Zeit verbringen."
Ich aber beachtete ihr Gerede nicht. "Das sind doch“, dachte ich mir, "nur deine
kapitalistischen Ausflüchte. Wenn die Zeit aber gekommen ist, wirst du sie vergessen
haben."
Für diesen Sonntag staffierte ich mich aus wie es sich gehört. Mit viel Parfüm begoss ich
meinen Kopf. Zwei Uhren nahm ich mit und zog die Schuhe der englischen Fasson an.
Wie ein wichtiger sowjetischer Marschalll präsentierte ich mich. Ja.
Am Samstag kaufte ich eine Flasche Wodka, am Sonntag ging ich zu meiner Marktfrau.
Auch sie war fein gekleidet; war fast nicht zu erkennen in ihrem neuen Mantel und in den
Schuhen. Wie eine sehr bedeutende Kapitalistin sah sie aus. Auch ein Paket mit
verschiedenem Essen vorbereitete sie, und so gingen wir außer Stadt spazieren.
Das Wetter war ausgezeichnet. Alles war grün. Gleich hinter der Stadt war ein Wald,
dort also bog ich von der Landstraße ab. Wir fanden eine bequeme Stelle, wo ich meinen
Mantel ausbreiten konnte.Wir aßen und tranken. Es war fröhlich und kultiviert. Nur Wodka
wollte sie nicht trinken. Es war mir lediglich gelungen, sie zu einem halben Glas zu
überreden. Den Rest der Flasche leerte ich alleine aus. Danach verlangte ich, sie sollte
mir als Mann ein normales Vergnügen bereiten. Sie aber stellte sich quer:
"Bei uns wird so was nicht gemacht. Ich bin eine ehrliche Frau, kein Straßenmädchen. Ihr
habt mich zu einem Spaziergang eingeladen, also willigte ich ein. Mehr aber kann
zwischen uns nicht werden. Vielleicht habt ihr in Russland andere Sitten und jeder hurt mit
dem Erstbesten. Bei uns ist es aber anders."
Sie stand auf, knüpfte ihren Mantel zu, rückte den Hut auf dem Kopf zurecht:
"Es tut mir leid, ich muss aber nach Hause zurück, denn mein Kind alleine da blieb. Ich
wollte ein bisschen Zeit mit euch alleine verbringen, um euch Gesellschaft zu leisten und
sich zu unterhalten. Wenn es anders ausgegangen ist - es tut mir sehr leid. Bitte nicht
böse sein. Solche Sachen behandle ich ernst und ich muss auf mein Ansehen bedacht
sein."
Das machte mich wütend. Ich sprang auf die Beine und sagte:
"Du bist ein blödes, großbürgerliches Schwein! Verblödet haben euch die Kapitalisten
und Priester mit ihrer faschistischen Propaganda, Wilde haben sie aus euch gemacht.
Erst wir brachten euch Freiheit und eine Ahnung von der Welt. Wir haben euch gezeigt,
was echte Kultur ist. Und du Idiotin kannst das nicht verstehen, denn du mit dem Gift
kapitalstischen Aberglaubens vergiftet bist!"
Sie wurde rot im Gesicht:
"Wollt ihr wirklich wissen, was ihr uns aus Russland gebracht habt? Wollt ihr das
wissen ?"
"Ja. Sagt bite. Bei uns gilt für jeden die Freiheit des Wortes."
"Also", sagte sie. Was aber heißt hier sagte, sie schrie beinahe. "Ihr habt Hunger,
Schmutz, Läuse, venerische Krankheiten und Terror gebracht. Weil mehr ihr selbst nicht
besitzt!"
"Terror haben wir euch auch mitgebracht?" Ich sah Rot vor Wut.
"Ja. Die Menschen haben Angst nachts auszugehen. Frauen wagen sich abends nicht
auf die Straße. Immer wieder gibt es Raubüberfälle, Morde und Diebstähle. Niemand kann
sich sicher fühlen, weder nachts oder tagsüber! Wie würdet ihr so was nennen?"
Ich schaute auf ihre kapitalistische Fresse, auf ihren Hut mit Feder und trat einen Schritt
zurück, um dieser Schlange einen Fusstritt in ihren fetten kapitalistischen Bauch zu
versetzen Dann aber besann ich mich darauf, dass ich ein Offizier bin und die Uniform der
Roten Armee trage. Sollte sie doch mein Ehrgefühl kennenlernen! Ich fuhr ihr nur mit der
Faust in die Zähne. Wie ein Sack Mehl plumpste sie auf den Boden. Unser sowjetisches
Weib würde nicht mal zwinkern, die aber... Man sieht es gleich: Kapitalistisches Dreck, gar
nichts aushalten kann so was! Ich spuckte nur noch mit absoluter Abscheu auf sie und,
ohne mich umzudrehen, ging ich stolz weg.
Seit dieser Zeit besuchte ich die Marktbude nicht mehr. Und die Kapitalistinnen
interessierten mich auch nicht. Unsere Sowjetinnen sich doch unendlich besser und
kultivierter! Ja.

5. Mai 1940. Lida


Gestern hatte ich einen24-Stunden-Dienst. Heute dagegen konnte ich mich ausschlafen
und schreibe jetzt alles auf, um nicht zu vergessen. Ich habe mir vorgenommen, diese
Aufzeichnungen nach Plan zu führen. Und der Plan ist: Sobald sich einiges Interessantes
aufgesammelt hatte, schreibe ich es auf, fertig. Es könnte daraus ein sehr interessantes
historisches Material werden, auch ein philosophisches. In Zukunft plane ich es zum
großen Roman zu verarbeiten. So eine Art "Krieg und Frieden" von Tolstoj. Das Buch
habe ich ein bisschen gelesen, ist aber sehr langweilig und schlecht geschrieben.Um die
Wahrheit zu sagen glaube ich, dass es gar nichts wert ist. Es wird da viel auf Französisch
geredet, und es gibt verschiedene kapitalistische Parasiten. Was kann daran interessant
sein? Lauter Ignoranz, Dummheit und Aberglaube. Es wird sogar gebetet dort, und auch
Gott wird oft erwähnt. Außerdem werden verschiedene blöde Grafs und Herzoge
hochgelobt. Ich dagegen werde über unsere unbesiegbare Rote Armee schreiben, über
ihre Siege und meine Heldentaten, über unseren großen Führer STALIN. Das erst wird ein
großartiger Roman sein!
Meinen Dienst übernahm ich gestern tagsüber. Ich stellte Wachen auf, um die Kaserne
und sozialistisches Gut vor Attentaten kapitalistischer Agenten zu schützen. Das
Wachhaus befindet sich direkt an der Kaserne und ich hatte als Wachführer ein getrenntes
Zimmerchen da drin. Die Zeit verging. In der Nacht führte ich mehrmals
Wachpostenkontrollen durch und wachte aufmerksam über die Armee. Erst um drei Uhr
früh hörte ich einen Schuss. Dann einen zweiten. Ich nahm zwei Jungs mit und rannte hin,
um zu erfahren was passiert war. Geschossen hatte Posten Nummer vier, der am
Proviantlager in der Nähe der Kaserne. Wir kamen da gelaufen an und sahen, der Posten
schießt aus dem Karabiner in die Luft. Ich fragte ihn also:
"Worum geht´s?"
"Ein Saboteur oder ein Dieb, kletterte auf die Linde und gibt von dort aus Signale an
andere.“
Tatsächlich, neben dem Proviantlager wuchs eine große Linde und es war etwas wie
Bewegung hoch in den Zweigen zu sehen.
"Komm runter, du Reaktionär!", rief ich drohend. "Komm sofort runter, sonst schieße
ich."
Keine Antwort aus der Linde. Also versuchte ich mit einer Taschenlampe reinzuleuchten,
es war aber zu hoch, das Licht verlor sich in den Zweigen. So rief ich wieder:
"Komm runter bereitwillig, du Reaktionär, sonst verreckst du auf dieser Linde!"
Und wieder nichts, Stille. Ich befahl, auf den Baum zu feuern. Also ballertern die
Soldaten aus ihren Gewehren und ich aus der Pistole. Nur Zweige und Blätter flogen
herunter, sonst nichts. Dann gab ich den Soldaten den Befehl, auf die Linde zu klettern
und den Schuft an den Füssen herunterzuziehen. Angst hatten sie, gehorchten aber. Der
Befehl musste ausgeführt werden. An die eine Stunde lang kletterten sie da oben herum.
Sie schrien, rüttelten an den Zweigen. Nichts.
Mittlerweile wurde es hell. Die ganze Linde war gut zu sehen, niemand steckte drin.
Sagte ich also zu dem Posten:
"In deinem Kopf stimmt vielleicht was nicht! Du kannst selbst sehen, dass keiner im
Baum sitzt."
"Er war aber da" beharrte der Solat. "Er saß da und gab Signale."
"Was für Signale?"
"Er hat leise gepfiffen. Und ich habe alles gut gehört. Na, bitte, er pfeift schon wieder!"
Ich stellte ich mich an seine Seite und lauschte. Anfangs kriegte ich nichts mit. Dann
aber tatsächlich ertönten Pfiffe. Ich guckte auf den Posten und sah: Es pfiff in seiner
Nase, nicht im Baum. Ich stauchte den Mann zusammen wie es sich gehört und ging.
Danach schrieb ich einen Rapport über den Grund eines falschen Alarms und am Abend
übergab ich den Dienst.
Den ersten Mai begingen wir sehr feierlich. Die ganze Stadt war rot beflaggt, überall
hingen Portäts unseres großen FÜHRERS Stalin. Es gab auch Portäts von Lenin, sogar
von Marx, selbstverständlich aber kleinere und weniger. Denn was bedeuten schon sie
angesichts IHN? Zugegeben, auch sie sind groß und haben Verdienste für das Proletariat
und die Menschheit. Es gibt aber niemanden in der Welt, der auch annährend so
bedeutend wäre wie ER .
Es gab eine Militärparade sowie Umzüge von Gewerkschaften, Ämtern und Schulen. Ich
konnte sehen, dass hiesige Bevölkerung immer mehr unser großes Russland und Stalin
liebt. Die Menschen trugen so viele verschiedene Fahnen und Transparente mit
proletarischen Losungen. Zum Beispiel: EHRE DEM GROSSEN STALIN! - DER NAME
STALIN - GARANTIE FÜR FRIEDEN, FREIHEIT UND WOHLSTAND! Gut so, auch die
Bourgoisie beginnt langsam die Notwendigkeit zu verstehen, den stalinistischen
Bolschewismum einzuführen. Anders geht es nicht!
Gestern ging ich zu einem Meeting im Bahnarbeiterklub. Dort rein durften nur
Klubmitglieder, Eisenbahner, Offiziere und einige geladene Gäste. Unterwegs gesellte sich
zu mir Lipa. Er war total betrunken. Hielt sich aber noch fest auf den Beinen. Nicht jeder
würde merken, dass er besoffen ist.
"Herzlichen Glückwunsch zu unserem proletarischen Fest!" rief er mir zu.
Ich antwortete: "Ihr habt lange warten müssen, so ein Fest feiern zu dürfen."
"Warum"?
"Wie warum? Solange wir hier nicht waren, ließen euch die Kapitalisten nicht, das Fest
zu begehen. Vermutlich haben die euch nur noch größere Arbeitsnormen aufgelegt."
"Du irrst dich", antwortete er. "Auch ohne euch haben wir das Arbeiterfest begangen.
Und wie! Jetzt lohnt es sich nicht mal hinzugucken."
Irgendwie komisch hörte sich das an, sollte er aber reden, was er wollte. Vielleicht war
sein Gedächtnis nach dem Wodka schwächer geworden. Er muss heute einen ganzen
Eimer Schnaps leergesaufen haben.
"Wo gehst du hin?" fragte Lipa.
"Zum Meeting", erwiderte ich. "Es wir über Interessantes geredet. Einer der Redner ist
speziell aus Moskau nach Lida gekommen."
"Dann gehe ich mit, bin gespannt, wie man bei euch solche Meetings macht."
Wenig Lust hatte ich dazu, es gehörte sich aber nicht, nein zu sagen. So gingen wir also
zusammen hin.
Viele Leute versammelten sich da. Der Saal war voll. Porträts unserer proletarischer
Führer hingen da und verschiedene proletarische Losungen waren zu sehen. Mit einem
Wort: Es war schön und feierlich. Verschiedene Redner traten auf die Bühne und redeten
schön von unsererer großen Sowjetunion und ihrem Führer Stalin. Ein Orchester war auch
dabei und Spielte die Internationale.
Einer der Redner besprach sehr lange und genau die jetzige Lage in der Welt. Er
erklärte auf die richtige Weise die niederträchtige, eroberungssüchtige Politik der
blutrünstigen englischen Imperialisten, dieser Kriegsanstifter und Ausbeuter von Millionen
Menschen in den Kolonien. Er wies nach, dass die Engländer seit Jahrhunderten
Weltschmarotzer sind. Sagte, nicht mal Getreide wollen die auf der Insel säen, sondern
importieren sie es aus den Kolonien, weil sie keine Lust haben, ehrlich zu arbeiten. Und
ihre Hauptbeschäftigung ist, Arbeiter zu quälen, Füchse zu jagen, in den Bars zu trinken
und Finanzbörsen zu veranstalten. Außerdem, um Geld zu verdienen, fangen sie immer
wieder neue Kriege an. Seine Rede beendete er so: "Es gibt in der englischen
Nationalhymne Worte, die sagen, dass ein Engländer nie ein Sklave wird, immer über
andere Völker herrschen wird und alle anderen ihm dienen und sich vor ihm fürchten
werden. Das aber ist bald zu Ende. Die große russische Nation wird den Schaden, den
England jahrhundertelang verursachte, wett machen. Eine schwere und gerechte Strafe
wird es bekommen. Denn dieses Geschwür muss aus dem Leib der Menschheit ein für
allemal ausgebrannt werden, damit es nicht andere vernichtet und vergiftet." Die Rede
gefiel uns allen am besten und lange riefen wir Bravo und klatschten.
Kurz vor dem Ende der Veranstaltung trat auf die Bühne ein Politkommissar und
herzergreifend erzählte uns von den Rechten und Pflichten der Sowjetbürger. Ausführlich
verglich er sie mit den Rechten der Bürger in den kapitalistischen Staaten. Wir verstanden,
dass dort nicht das Recht, sondern völliges Unrecht, Terror und Ausbeutung herrschen.
Lediglich wir, glückliche Bürger der Sowjetunion, genießen eine Freiheit, von der die
Bürger der kapitalistischen Staaten keine Ahnung haben. Der Politruk wandte sich an den
Saal und fragte:
"Könnte mir jemand sagen, was die Pflicht eines guten Soldaten der Roten Armee ist?"
Aus dem Saal antwortete jemand laut: "Jederzeit und überall Feinde der Sowjetunion
schlagen!"
"Richtig", bestätigte seine Worte der Kommissar.
Schon wieder Bravorufe und Geklatsche.
„Und wer könnte mir sagen, welche Pflichten ein guter Kommunist oder Komsomolez
hat?“
„Ein treuer Genosse von Stalin und der Partei sein und gehorsam ihre Befehle
ausführen“, rief ein Zivilist in den hinteren Reihen.
„Richtig“, bestätigte der Redner.
"Und jetzt könnte mir jemand erklären", fragte der Politruk weiter, "welche
Hauptpflichten die echte sowjetische Frau hat?"
Der Saal schwieg, denn es war nicht einfach zu erraten oder zu verstehen. Die hat doch
viele Pflichten. Darauf müsste man kurz antworten, um nicht ins Gefängnis oder ins Lager
zu kommen. Nach einem längeren Schweigen antwortete der Politkommissar selbst:
"Die wichtigste Pflicht der echten sowjetischen Frau ist, die Kinder zu treuen Söhnen von
Iossif Wissarionowitsch Stalin zu erziehen."
Der Saal donnerte vom Applaus, der sehr lange dauerte. Dann fragte der Redner:
"Und was ist die Pflicht des echten Mannes?"
Auch diesmal schwiegen alle. Es ist doch klar, dass jedermann weiterleben möchte und
zwar in Freiheit, nicht im Lager. Plötzlich hörte ich den neben mir stehenden Lipa rufen:
"Den Hosenstall immer richtig zugeknöpft halten."
Ich erstarrte. Im Saal herrschte große Stille. Und Lipa rülpste und fragte einen Leutnant:
"Wie, habe ich doch die richtige Antwort gegeben, was?
Glücklicherweise nicht alle konnten ihn hören und das Gesagte verstehen. So was
konnte man doch als konterrevolutionären Spott auslegen. Ein Hauptman vom NKWD
zeigte schon Interesse an ihm und fragte mich: "Was ist das für einer?"
"Betrunkener Eisenbahner", erklärte ich. "Vor Freude über die Feier und die Freiheit hat
sich vollbetrunken und murmelt da irgendwas."
Ich rückte weg von Lipa, damit keiner dachte, ich würde ihn kennen. Wer weiß schon,
wer seine Worte gehört und verstanden hat? Glücklicherweise sprach der Redner weiter
und erklärte die Sache so:
"Ein echter sowjetischer Mann muss immer bereit sein ( In diesem Moment muss Lipa
schon wieder was Dreckiges gesagt haben, denn alle fingen an, von ihm weg zu rücken. )
sein Leben und seine Arbeit für das Wohl der Sowjetunion zu opfern!"
Lange applaudierte der ganze Saal dem Politruk. Auch ich klatschte aus aller Kraft.
Gleichzeitig leise, leise schlich ich mich in Richtung Ausgang, so gut es geht weit von Lipa.
Ich bereute es sehr, bei Lipa zu wohnen. Man könnte glauben, es handele sich um einen
redlichen Mann und ehrlichen Arbeiter. Aber, wie ich sah, war er total blöd. Ich bin mir
sicher, dass er sich nicht mehr lange halten wird und schnell zur Umschulung dorthin
geschickt wird, wo für solche Elemente Plätze bereit stehen.
Diesmal kam Lipa nicht bei mir vorbei. Es war schon spät, als er nach Hause
zurückkehrte. Unterwegs summte er irgendein polnisches Lied. Ich machte schnellstens
Licht aus und tat, als ob ich geschlafen hätte. Ich hatte Angst, er könnte bei mir
vorbeischauen. Ein sehr gefährlicher Mann!

Im August 1940. Vilnius.

Hurra, hurra, hurra! Ich bin zurück in Vilnius.


In den letzten Tagen hatte ich keine Zeit mehr zu schreiben. Jetzt aber erzähle ich kurz,
was seit Anfang Mai passiert ist.
Mit einem mächtigen Schlag unserer roten, eisernen Faust zerschmetterten wir die
litauischen faschistischen Minister und Kapitalisten. Ihr Präsident flüchtete. Dazu aber sind
unsere Adler vom NKWD da, um ihn wieder zu finden und für immer unschädlich zu
machen. Es gab allerdings keine großen Kampfhandlungen. Ich glaube sogar, es gab gar
keine, denn es reichte ein Ultimatum unserer Regierung an die blutrünstigen Knechte des
anglo-amerikanischen Kapitalismus und der ganze Staat zerfliel wie ein alter Fass ohne
Reifen. Ja, groß und mächtig ist unsere Mutter Russland und niemand kann sich ihr
widersetzen! Auf die Weise, nach und nach, werden wir alle Kapitalisten erledigen und ihr
Kapital aufsammeln. Wie schön!
Ich zum Beispiel, warum sollte ich nicht ein bedeutender Kapitalist werden? Was fehlt
mir eigentlich? Nur viel Geld. Und wenn ich mir dieses Geld mal schnappe, dann kann
auch ich jeden Tag größere Mengen Wurst essen, mir weitere drei Uhren und einige
Paare Schuhe mit Schaft kaufen. Ein Fahrrad auch, und ein Grammophon. Und - natürlich
- würde ich in einem getrennten Zimmer wohnen, damit mir keiner etwas klaute. Ja, schön
klappt das Ganze zusammen, vielversprechend für die Zukunft. Sollte es weiter so gehen,
dann vielleicht werde auch ich auf die sozialistische Art zu einem großen Kapital kommen.
Und mit den Litauern, da gab es eine große Überraschung. Ständig lese ich in den
Zeitungen und höre im Radio von unserer großen, unzerbrechlichen und ewigen
sowjetisch-litauischen Freundschaft. Jetzt aber stellte sich heraus, dass die Litauer
reaktionäre Arbeit machen und sich den ausländischen Kapitalisten andienen. So dreist
wurden sie, dass sie sogar einen unserer gemeinen Soldaten entführten und im
Untergrund folterten, damit er ihnen alle Geheimnisse des Generalstabes und des
Politbüros verriet. Der aber hat alles durchgestanden und sagte nichts. Er konnte sogar sie
täuschen und fliehen. Für dieses Verbrechen werden jetzt alle Litauer zur Verantwortung
gezogen. Sie bewiesen, dass sie es nicht verdient haben, einen eigenen Staat zu
besitzen. Jetzt müssen sie an die Sowjetunion angeschlossen werden. Was natürlich
keine Strafe, sondern die größte Ehre ist. Die Litauer selbst flehten darum. Ja, die
Herzensgüte unseres VATERS Stalin ist grenzenlos. Ein anderer würde sich auf das
ganze litauische Volk ärgern und für immer Kontakte zu ihm abbrechen. ER dagegen
nahm es in die Familie der glücklichen sowjetischen Völker auf.
Wieder wohne ich bei den Lehrerinnen. Obwohl sie verstockte Kapitalistinnen sind, bin
ich lieber hier als woanders, denn so kann ich sicher sein, dass ich nicht bestohlen werde.
Jetzt, wo ich einen eigenen Koffer und viele kostbaren Sachen besitze, muss ich vorsichtig
sein. Nach der Lehre mit Nastka habe ich zu niemandem Vertrauen mehr. Die Lehrerinnen
freuten sich nicht sonderlich über meine Rückkehr. Mir aber sagten davon nichts. Ich rede
sowieso nur mit Maria Iwanowna, und das auch nur, wenn es wirklich nötig ist.
Als erstes ließ ich aus meinem Zimmer das Bild dieser Frau mit der Krone rauswerfen,
denn sie hängten es wieder auf. Statdessen platzierte ich an der Wand das Porträt
unseres VATERS. Darunter schaltete ich das Lämpchen an und fing an, lautstark die
Internationale zu singen. Sie sollten es hören, diese faschistischen Schlangen, und vor
Angst zittern.
Einige Tage später gelang es mir, in einer Illustrierten-Wochenzeitung ein Hitler-Porträt,
das die ganze Seite füllte, zu finden. Es freute mich sehr und obwohl die Zeitschrift nicht
mir gehörte, riss ich die Seite heraus. Zu Hause klebte ich das Foto auf ein Kartonstück
und versah es in Großbuchstaben mit dieser Inschrift :ADOLF HITLER - GRÖSSTER
FREUND DES FÜHRERS RUSSLANDS I.W.STALIN. Ich hängte es auf gegenüber Portät
von Stalin. Mögen sie so hängen, die lieben Führer, und sich aneinander erfreuen. Stalin
schaut Hitler an und, so scheint mir es, fragt:
"Wie läuft es so, lieber Genosse, schlagen wir die Bourgoisie?"
"Und ob, liebster Freund", antwortet Hitler. "Sobald ich mit den Juden und Polen fertig
bin, nehme ich mir der Engländer vor."
"Hau gut zu, hau zu, lieber Adolfchen!", sagt Stalin. "Solltest du es alleine nicht schaffen,
ich werde dir gerne helfen!"
Sehr schön sah das alles aus: rundum sozialistich.
Gestern bekam ich einen Brief von meinem Bruder. Er schrieb:

3. Juni 1940. Stadt Moskau.


"Lieber Bruder Mischka!
Ich teile dir vor allem mit, dass ich nach Moskau versetzt wurde, wo ich in einer
Möbelfabrik arbeiten soll. Die frühere Fabrikverwaltung wurde rausgeschmissen und
dorthin geschickt, wo sie es verdient hat. Es stellte sich heraus, dass die Verwaltungsleute
große Sabotage betrieben und Produktion und Maschinen vernichtet haben. Im
Gerichtsprozess haben sie selbst zugegeben, dass sie für ihre verräterische Arbeit von
den luxemburgischen Imperialisten Geld bekamen.
Ich bin hier Leiter im Materiallager. Es ist mir sogar gelungen, ein Zimmer zu kriegen.
Klein, dunkel und ohne Heizung, dafür aber ganz unabhängig. Vielleicht glaubst du das
nicht und denkst, ich gebe an, es ist aber wirklich so. Und es hat nur geklappt, weil der
neue Fabrikleiter und die Finanzabteilung mir eine Bescheinigung ausstellten, in der
stand, ich nehme Arbeit mit nach Hause und auch dort arbeite. Ich aber habe die Absicht,
so schnell es geht zu heiraten. Erst dann werde ich größere Sicherheit haben, dass ich
keinen Mitmieter bekomme.
Vielen Dank für dein Foto. Dass aber die Uhren, die du da am Arm trägst, echt sind -
das schreibe ich dir brüderlich - halte ich für einen Schwindel. Zu alt und zu klug bin ich,
um an Wunder zu glauben.
Gestern hat mir unser Fabrikverwalter einen Gutschein für ein halbes Pfund Butter
verkauft. Da jeder weiß, dass in diesem elenden Litauen und in Polen schon immer ein
großer Hunger herrschte, fertigte ich ein Proviantpäckchen und schicke es dir. Das wird
dich vor Auszehrung retten. Die Butter kommt aus einer speziellen Fabrik, die unlängst in
der Nähe von Moskau aufgebaut wurde und der man den Namen der berühmten
ausländischen Revolutionärin Karvucie gegeben hat. Ich hatte große Lust zu probieren
wie Butter schmeckt, denn zum ersten mal im Leben habe ich sie gesehen. Ich will aber
lieber dich vor Hunger retten. Außerdem möchte ich, dass du es selbst siehst und dich
von unseren sowjetischen Errungenschaften überzeugen kannst.
Ich verbeuge mich vor dir und schicke brüderliche Grüße. Wasja."

Es war mir ein bisschen peinlich, dass mir mein Bruder Butter schickte, wo ich für zwei
Litas genug davon kriegen konnte. Andererseits freute mich, dass wir jetzt auch eine
sowjetische Butterfabrik haben. Sobald ich das Paket bekomme, werde ich unbedingt
Maria Iwanowna rufen und es ihr zeigen. Sie sollte endlich aufhören, so hochnäsig zu
sein. Diese Weiber glauben, bei uns in der Sowjetunion gäbe es nichts Gutes.
Mit meiner Wohnung bin ich sehr zufrieden. Das Beste dabei ist, dass es hier keinen
Lipa gibt. Eine große Furcht hatte ich vor ihm. Ein anormaler Mann. Immer sagte er, dieser
Idiot, rundheraus, was er dachte. Auf die Weise konnte er nicht nur sich selbst, aber auch
andere in Gefahr bringen. Und die Lehrerinnen? In meiner Anwesenheit trauen sie sich
nicht mal die Schnauze aufzumachen. So gut habe ich sie trainiert. Lediglich Maria
Iwanowna ist etwas mutiger mit mir. Diesen rektionären Pack muss man hart anpacken.
Gestern nacht machte ich eine große Erfindung. Lange konnte ich nicht einschlafen,
denn es schien mir so, als ob jemand die Treppe hochkäme. Jetzt, wo ich ein betuchter
Mann mit Koffer und Ersatzschuhen aus Chromleder bin, muss ich ständig aufpassen und
alles um mich beobachten, damit man mich nicht beklaut. Also lag ich da
muckmäuschenstill und lauschte genau hin. Vielleicht hat sich ein Dieb reingeschlichen
und wird gleich versuchen, die Tür zu öffnen? Meine Pistole hatte ich abgesichert und hielt
sie bereit. Aber nichts, es wurde wieder still. Lange aber konnte ich nicht mehr wieder
einschlafen, auch weil mich die Haut juckte. Seit drei Monaten war ich schließlich nicht
mehr in der Badeanstalt.
So war mir die Badewanne der Lehrerinnen und eine geniale Idee in den Kopf
gekommen. Man könnte doch gleichzeitig heißes und kaltes Wasser in die Wanne geben
und es so vermischen, dass man darin baden kann. Irgendwie schlief ich dann ein. Früh
morgens zog ich mich nicht einmal an, denn sowieso hätte ich mich zum Baden ausziehen
müssen, marschierte direkt zu Maria Iwanowna und verlangte:
"Bitte sofort heißes Wasser aufstellen, denn ich habe den Wunsch zu baden. Aber dalli,
dalli, sonst werde ich euch Beine machen.“
Selbstverständlich fügte ich auch einige stärkere Wörter hinzu, damit sie mich besser
begriffen und bei der Arbeit nicht rumtrottelten. Ich konnte dann nur hören, wie die
Lehrerinnen die Treppe rauf und runterliefen, das Holz aus der Holzkammer nach oben
trugen, es durchsägten, hackten. Gut habe ich die Weiber dressiert. Ich weiß, wie man mit
der Bouroisie umzugehen ist. Etwa eine halbe Stunde später klopfte Maria Iwanowna an
meine Tür.
"Das Bad ist fertig!"
"Gut", sagte ich.
Ich wolte mich sogar bedanken, dachte mir aber, es wäre zu viel der Ehre für sie. Sie
sollten sich freuen und dankbar sein, dass sie einem roten Offizier dienen dürfen.
Nun, ich ging ins Badezimmer. Dort füllte ich die Wanne zur Hälfte mit heißem Wasser und
dann fügte ich Kaltwasser hinzu. Ich berechnete es so, dass ich ein warmes und
angenehmes Badewasser kriegte. Schlimm nur, dass die Wanne voll war. So erfreut war
ich aber, dass ich diese Kleinigkeit gar nicht beachtete. Ich schob einen Hocker an die
Wanne, stellte mich drauf, rief hurra! und sprang hinein. Die Hälfte des Wassers spritzte
hoch bis an die Decke, es blieb aber genug, um sich zu waschen. Ich bürstete mich
erstklassig ab. Zwei mal sogar seifte ich mich an und spülte ab. Es war sehr angenehm.
Ich kletterte raus und wollte das schmutzige Wasser ablassen, es war aber so schwarz
und dickflüssig, dass ich keine Lust hatte, meine saubere Hand da reinszustecken. Am
schlimmsten aber war, dass ich vergessen hatte, aus meinem Zimmer das Badetuch
mitzunehmen. Eigentlich konnte ich warten, bis ich trocken werde, das aber würde zu
lange dauern. Also ging ich nass zu meinem Zimmer, die schmutzige Wäsche in der Hand.
Die Lehrerinnen und Andzia saßen in der Küche und tranken Tee. Als sie mich nackt
sahen, blickten sie zu Boden. Wie dumm und lachhaft. Die sind doch ganz unzivilisiert.
Also sagte ich zu Maria Iwanowna:
"Eine gute Sache war das. Jetzt habe ich die Absicht, häufiger zu baden. Wir schätzen
Hygiene außerordentlich."

Im August 1940. Vilnius.

Gestern passierte mir ein großes Unglück. Es verärgerte mich und machte sehr traurig.
Nach dem Dienstschluss ging ich nach Hause und auf dieser verdammten kapitalistischen
Haustreppe verhakte sich mein Schuh. Fast die Hälfte der Schuhsohle riss ab. Die
Stufenrädner waren mit Leisten aus Eisen beschlagen, damit sich die Bretter nicht
abnutzten. Einige dieser Leisten waren sehr dünn, fielen von den Nägeln ab, so dass
Spalten entstanden. Auf die Weise machte ich mir meine besten Schuhe kaputt.
Ich ging zum Hausmeister und zeigte ihm den Schuh: "Siehste?"
"Ich sehe", antwortete er. "Bin doch nicht blind. Und worum geht´s?"
"Es geht darum, dass es dir in die Fresse reinhauen gehört, weil du dich nicht um die
Treppe kümmerst. Deswegen ist mein Schuh kaputt."
Er guckte mich an, als ob er mich nicht wieder erkannte. Dann stand er auf, kam sehr
nah an mich ran und sagte:
"Komm du mir nicht mit Fressehauen und kümmere dich um deine eigene, sonst werde
ich gleich auf dir huckepack ausreiten. Du sollst nicht denken, dass, nur weil du Offizier
bist, einen Arbeiter anbrüllen darfst. Und die Treppe repariere ich, wenn ich Geld dafür
kriege. Jetzt kannst du sie auch so benutzen. Du bist keine große Person! Vielleicht
erwartest du noch, dass wir hier Teppiche auslegen, oder sollten wir dich vielleicht auf
unserem Rücken die Treppe hoch tragen?"
Ich verstand, dass er ein seriöser Mann ist und dass er in der Tat keine Schuld trägt.
Also besänftige ich ihn:
"Du brauchst dich nicht gleich zu ärgern. Ich hatte doch nicht die Absicht, dich zu
schlagen. Es geht mir nur darum, dass ich nicht weiß, was ich jetzt mit den Schuhen
machen soll."
„Was du mit den Schuhen machen sollst?", wunderte er sich. "Du bist doch kein Kind
und kannst das selbst verstehen. Bring sie zum Schuster und Schluss. Ist doch keine
große Sache."
Dieser Hausmeister gefiel mir jetzt sehr. Man konnte gleich sehen, dass er ein
Proletarier ist und nicht, wie ich anfangs dachte, ein Kapitalist. Er sagte mir sogar, dass im
Hinterhof, in einem kleinen Haus, Schuhmacher wohnen, die aber erst abends da sind, da
sie tagsüber in der Werkstatt arbeiten. Als es Dunkel wurde ging ich über eine schwarze
Treppe in den Hof. Dort sah ich das kleines Haus. Die Fenster waren erleuchtet. Ich ging
rein und grüsste höflich:
"Guten Abend, Jungs!"
"Keine Jungs, sondern Herren", sagte einer.
Und ein anderer fügte hinzu:
"Jungs rennen hinter den Hunden auf der Straße. Wir sind selbständige Gesellen und
erwachsene Männer."
Und der dritte: "Ist schon in Ordnung. Der ist ein bisschen blind, weil er eine rote Brille
auf der Nase trägt."
Ich trug keine Brille, verstand aber, dass diese Schuhmacher ein fröliches Völkchen
sind. Sie aßen gerade zu Abend.
"Ich komme wegen der Schuhe", sagte ich. "Unser Hausmeister hat mich hergeschickt.
Er sagte, ihr seid ausgezeichnete Meister."
"Setz dich also hin und warte", sagte der ältere von ihnen. "Sobald wir mit dem
Abendbrot fertig sind, schauen wir uns deine Schuhe an. Und wenn du keine Lust hast zu
warten, kannst ruhig gehen. Wir werden deinetwegen keine Tränen verlieren."
"Ich warte", entschied ich mich.
Ich setzte mich hin und schaute zu. Und die fraßen und tranken. Aber wie fraßen und
tranken sie! Hätte ich nicht selbst ihre von der Arbeit geschwärzte Hände gesehen, hätte
ich gedacht, die größten Kapitalisten verkleideten sich als Schuster und veranstalten ein
Bankett. Auf dem Tischs sah ich Fleisch, Wurst, allerlei Imbiss, Wodka, drei Flaschen
Bier...
Endlich waren sie fertig mit dem Essen und Trinken. Einer von ihnen zog aus dem
Kasten eine Harmonie und fing an zu spielen. So schön, wie in unserem sowjetischen
Radio. Der andere, ältere, sagte zu mir:
"Zeig mal die Schuhe!"
Ich hatte sie sorgfältig in Papier gewickelt, darunter in ein Handtuch.
"Das sind Schuhe der besten Qualität", erklärte ich. "Ich schätze sie sehr."
Der Schuster nahm die Schuhe in die Hand, schaute sie sich an und fing an zu lachen.
Dann gab er sie an einen anderen weiter:
"Schau dir mal Schuhe >der besten Qualität an<".
Der andere guckte genau hin. Betastete sie und lachte auch.
"Bei uns würden nicht einmal Bauern solche Schuhe anziehen. Und für den da sind sie
>beste Qualität<. Das ist doch", wande er sich an mich, "das ordinärste Kalbsleder. Und in
der Sohle steckt mehr Pappe als Leder. Sie haben schon ihre Form verloren".
Und der dritte schlug nach: "Für so einen Russki ist auch das zu gut. Der solte am
besten Lindenschuhe tragen."
Keine Achtung vor meinem Offizierrang hatten die verdammten polnischen Proletarier.
Lipa hielt nichts von mir. Der Hausmeister wollte an meine Fresse. Die wiederum spotteten
nur über mich. Nicht einmal das Arbeitervolk ordentlich zu erziehen haben es die
Kapitalisten geschafft. Schwere Arbeit werden wir leisten müssen, um diesen
Schmutzlingen beizubringen, wie man die besseren Menschen ehrt und schätzt.
"Und was willst du mit diesen Schuhen machen?" fragte der ältere Schuster.
"Ich wollte euch bitten, die Sohle wieder festzunageln."
"Das ginge schon", sagte er. "Viel Freude wirst du aber an diesen Schuhen nicht haben.
Übers Trockene kannst du noch laufen. Sobald es aber nass wird, ist Schluss mit ihnen."
"Wann könntet ihr sie reparieren?"
"Komm morgen um dieselbe Zeit, sie werden fertig sein."
Ich verabschiedete micht ausgesprochen höflich und ging. Sehr war ich über die
Tatsache besorgt, dass die Schuhe so miserabel waren. Man hat mich auf dem Markt
betrogen. Aber auch der Preis war nicht hoch. Ich dachte und dachte, was soll ich denn
jetzt tun? Dann entschloss ich mich, die Schuster zu fragen, was neue Schuhe aus gutem
Stoff kosten würden?
Am nächsten Tag wartete ich den Abend ab. Als ich im Haus der Schuster Licht
bemerkte, wartete ich noch eine Stunde, um nicht zu stören. Ich wusste, die sassen
gerade beim Essen. Dann nahm ich ein Päckchen guter Zigaretten mit und ging zu ihnen.
Sie werden in besserer Laune sein, wenn ich es ihnen gebe. Ich hörte, wie die Harmonie
spielte. Also waren sie mit dem Essen fertig. Ich ging hinein.
"Guten Abend, die Herren", grüßte ich.
"Guten Abend. Setz dich hin", befahl der Altere.
Er begab sich in eine Ecke und holte meine Schuhe unter einem Tischlein hervor. Keine
Achtung schenkte er ihnen, denn nicht einmal in Papier waren sie gewickelt. Er reichte sie
mir. Genau begutachtete ich die Arbeit. Keine Anzeichen dafür, dass die Sohle einmal
abgerissen war. Man konnte gleich sehen, dass sie gute Meister sind.
"Sehr schön habt ihr das gemacht", lobte ich. "Ihr seid gute Fachleute."
Und er darauf: "Wir haben das gar nicht gemacht. Es wäre schade um die Zeit, sowas
zu reparieren. Ein Junge in der Werkstatt, ein Lehrling, hat das erledigt. Einen Litas für die
Arbeit gib für ihn her."
Ich bezahlte und bot ich ihnen Zigaretten an. Erst dann fragte ich:
"Sagt mir bitte, meine Herren, könntet ihr vielleicht für mich richtige Schuhe anfertigen?"
"Warum nicht?". Antwortete der ältere Schuster. "Es ginge. Dazu sind wir schließlich da,
so wie die Zähne zum Kauen oder die Fresse zum Spucken. Was für Schuhe möchtest du
haben?"
"Die besten, wie es geht. Wenn die da wirklich schlecht sind, dann werde ich wenig
Freude an ihnen haben."
"Na klar", sagte der Schuster. "Bei Nässe werden sie in zwei Wochen auseinander
fallen. Hier, du kannst selbst sehen, sind sie schon schief geworden, die Spitzen verzogen
sich nach unten und und die Absätze schoben sich nach hinten."
"Genau", stimmte ich zu. "Macht mir mal Schuhe aus dem besten Leder, sie sollen fest
und fein sein. Was würde so was kosten?"
"Ich könnte dir Schuhe aus dem echten französichen Gemseleder schneidern", sagte
der Schuster. "Sie werden leicht, hübsch, aber auch fest sein. Das würde 120 Rubel
kosten."
"Warum so teuer?"
"Teuer?" wunderte sich der Schuster. "Dann lass es sein. Keiner zwingt dich dazu.
Wenn du etwas Ordentliches haben willst, dann musst du auch ordentlich zahlen.
Übrigens, es ist gar nicht so teuer. Was kosten gute Schuhe bei euch in Russland?"
"Ich weiß es nicht mehr", mogelte ich, denn die Wahrheit konnte ich ihm nicht sagen.
"Wenn du es nicht mehr weißt, dann kann ich dir helfen", sagte der Schuster. "Erstens,
niemand bei euch trägt ordentliche Schuhe, denn ihr habt weder gute Waren noch gute
Handwerker. Die Schumacher in euren Artels müssen Arbeitsnormen erfüllen und jeder
weiß, wie ein Arbeiter arbeitet, der schlechtes Essen und miserable Bezahlung für seine
Tätigkeit kriegt. Er wird nur so tun als ob. Also auf dem freien Markt kostet euer Mist 700
bis 1000 Rubel. Sollte es etwas besser sein, dann auch viel teurer. Also sind 120 Rubel für
ordentliche Ware und gute Arbeit nicht teuer für dich."
Ein anderer Schuster mischte sich ein, der mit der Harmonie: "Wozu belehrst du ihn
denn? Er weiß das alles selbst genau, er spielt nur den Dummen. Will er nicht 120 Rubel
für gute Schuhe zahlen, soll der doch nach sein Moskau fahren. Dort, auf dem freien
Markt, wird er für dieses Geld vielleicht ein Paar Schlappen kaufen. Die hiesigen Preise,
das ist doch echte Raubwirtschaft. Und der verzieht noch die Fresse: zu teuer!"
Das hielt ich nicht mehr aus: "Was für ein Raub? Ich werde euch doch mit Geld
bezahlen!"
"Und was ist euer Geld wert? Solange ihr hier bleibt, geht euer Rubel für einen Litas
durch. Sobald aber ihr rausgeworfen werdet, dann nicht einmal zehn Rubel werdet ihr für
einen Litas oder einen polnischen Zloty kriegen. So einen Umtauschkurs habt ihr
festgesetzt - ein Rubel gleich ein Litas! Das ist so, als wären wir nach Moskau gefahren
und hätten angeordnet, dass ein polnischer Zloty euren 1000 Rubeln entspricht. Und das
sollte kein Raub sein? Für das kümmerliches Zuteilungsbrot muss man bei euch die ganze
Nacht Schlange stehen und 2 Rubel das Kilo bezahlen. Bei uns kostet weißes Brot 20
Groschen. Ohne Warteschlange."
"Wozu erklärst du ihm das alles?“ sagte der ältere Schuster. "Er weiß das auch ohne
dich, die haben ihm aber solche Schule verpasst, dass er nichts Anderes sagen darf, als
>U nas wsio jest! U nas wsiego mnogo! U nas wsio lutschsche! U nas wsio deschewle!<1
Einen Papagei haben sie aus ihm gemacht und einen rundum Blödian!"
Ich stand auf. Spürte, dass ich das nicht länger aushalten kann. Sogar eine richtige
Prügelei zur Verteidigung der Sowjetunion nahm ich in Kauf, als ich ihnen rundheraus frei
vom Leber die Wahrheit auftischte :
"Ihr sagt, dass ich rundum blöd bin! Und wisst ihr, dass ich darauf stolz bin? Ja. So klug
seid ihr und nicht mal einen eigenen Staat habt ihr und seid gezwungen das zu tun, was
euch unsere Regierung befiehlt! Ich habe keine Klugheit nötig. Bei uns gibt es schon
Leute, die klug sind und uns den Weg weisen. Ein Viertel der Welt gehört uns schon
heute. Und in zehn Jahern werden wir über die halbe Welt herrschen. Und in 20 Jahren
wird unsere russische Nation die ganze Welt beherrschen. So blöd sind wir! Und ihr mit
eurer Klugheit werdet uns dienen und alles, was wir befehlen, machen müssen. Wenn ich
also ein Blödian bin, dann ist das eine große Ehre für mich. Ja, ich bin ein Blödian,
Blödian, Blödian! Und ich bin sehr stolz darauf!"
Ich sprach zu Ende und schwieg, wartete, was weiter kommt. Es war mir klar, neue
Schuhe werden sie mir mit Sicherheit nicht mehr machen. Wenigstens aber brachte ich ein
Opfer bei der Verteidigung meiner Heimat.
Die aber nichts. Sie starrten mich eine Weile an, vielleicht warteten sie, was ich weiter zu

1 So behaupteten die Russen, die in die von der bolschewistischen Armee besetzten
Gebiete gekommen waren: Bei uns gibt es alles! Bei uns ist von allem viel! Bei uns ist
alles besser! Bei uns ist alles billiger!
sagen habe. Und dann - wie auf ein Befehl - wie sie in so ein Gelächter losbrüllten, bis ich
erschrak. An die zehn Minuten müssen sie gelacht haben. Einer fiel sogar auf den Boden
und fasste sich an den Bauch. Einem anderen liefen die Tränen aus den Augen.
Endlich kamen sie zu sich. Der ältere Schuster näherte sich, klopfte mich auf den Arm
und sagte:
"Du gefällst mir. Für deine Vorstellung werde ich dir Schuhe für nur hundert Rubel
machen. Du kriegst solche Treter, die nicht einmal dein kluger Stalin hat. Nutze die
Gelegenheit, solange noch nicht die ganze Welt euch gehört, denn danach werden wir alle
in Galoschen, Latschen oder vielleicht ganz barfuss laufen."
Er nahm das Maß, ließ mich sogar einen Fuss auf Papier stellen und riss ihn mit dem
Bleistift um.
"Komm in einer Woche wieder, kriegst gute Schuhe. Du hast mir viel Spass gemacht
und dafür werde ich deine Schuhe selbst machen."
Ich ging nach Hause und verstand nichts. Ein komisches Volk, diese Polen. Ich
schmetterte ihnen die ganze Wahrheit direkt in die Augen und die nicht nur nicht verärgert
waren, sondern setzten den Preis für die Schuhe herunter. Diese wilde Nation werde ich
nie verstehen. Für nichts wollen sie einem an die Fresse. Wenn es aber wirklich dazu
kommt, dass man in die Fresse hauen sollte, dann krepieren sie vor Lachen.
Ja, das ist ein Volk mit Psychologie!

Im August 1940. Vilnius.

Ich schreibe nicht gerne oft, denn jetzt gibt es eigentlich nichts zu berichten. Also warte
ich, bis sich mehr Sachen von Weltbedeutung angesammelt haben, und erst dann
verewige ich sie in meinem wissenschaftlichen Werk. Außerdem seit ich beschlossen
hatte, einen weltbesten Roman über unsere sowjetischen Errungenschaften und über den
Heldentum der unbesiegbaren Roten Armee zu schreiben, verlor ich die Lust, all diese
Kleinigkeiten aufzuschreiben. Heute aber hielt ich es nicht aus und so schreibe ich wieder.
Denn der heutige Tag ( 26. August 1940 ) ist ein großer Tag.
Also: Ich sitze am Tisch und schreibe und vor mir steht auf dem Tisch ein Paar Schuhe.
Aber was für Schuhe! Ich habe regelrecht Angst sie anzufassen, geschweige denn sie
anzuziehen.
Auf dem Tisch, auf der weißen Decke steht Das und glänzt wie die Sonne, wie der Stern
auf dem sowjetischen Banner. Das Leder ist so dünn und so weich und so stark zugleich -
wie unsere Sowjetunion. Die Absätze so fein, die Spitzen zauberhaft, die Beschläge -
geradezu ein Traum. Und die Schäfte! Es fehlen mir die Worte, um ihre Schönheit
auszudrücken! Nein, das sind keine Schuhe, das ist das Lenin-Mausoleum am Roten
Platz, oder sowjetischer Panzer der neuesten Art!
Die ganze Nacht konnte ich nicht schlafen und schaute mir sie an. Mir ist bange,
Besitzer von so einem Schatz zu sein. Ich werde ihn sehr gut schützen müssen. Heute
früh beschloss ich, die Zimmertür immer abzuschließen und den Schlüssel mitzunehmen.
Außerdem muss ich einen ordentlichen Vorhängeschloss kaufen und die Kloben
anzubringen. Einen solchen Schatz darf ich nicht leichtsinnig gefährden. Gut wenigstens,
dass ich in der zweiten Etage wohne. So kann ich hoffen, dass sich kein reaktionärer Dieb
von der Straße her daranschaffen könnte.
Nun sitze ich und schreibe, werfe immerzu einen Blick auf die Schuhe und denke mir so:
"Du bist ein großer und wichtiger Mann, Michail Nikolajewitsch. Du kannst stolz auf dich
sein!" Und an der Wand schaut sich von der einen Seite der Genosse Stalin meine
Schuhe an, von der anderen Seite unser GROSSER Freund, der Genosse des Genossen
Stalin - Adolf Hitler in Person. Es schien mir sogar so, als führten die lieben Führer ein
Gespräch.
STALIN: Guck mal hin, Adolfchen, wie ich meinen heldenhaften Offizier ausgestattet
habe. Es macht Freude hinzuschauen.
HITLER: Ja. Tatsächlich sind diese Schuhe erstaunlich. Ich gratuliere dir und freue sich
über diesen großen Erfolg der Sowjetunion.
STALIN: Er hat nicht nur wunderbare Schuhe, sondern auch einen Koffer und zwei
Uhren.
HITLER: Das habe ich auch schon bemerkt. Wenn ich nicht so beschäftigt wäre, die
Polen, Juden, Franzosen und andere Reaktionäre zu erledigen, würde ich selbst
gekommen, mir diese Schätze anzusehen.
Ja, ein riesig angenehmes Gefühl ist das. Nur eine Sorge habe ich damit noch: Ich habe
Angst die Schuhe anzuziehen. Vielleicht werde ich das bei einer großen und für die
Sowjetunion fröhlichen Festveranstaltung tun. Zum Bespiel: Wenn unser liebe Genosse
Hitler mit den Franzosen fertig, sich der Engländer vornimmt und diese Pest von der Insel
ins Meer wirft, damit all diese elenden Reaktionäre ertrinken.
Als ich diese Worte schrieb merkte ich, dass ich seit langem nichts von den politischen
Angelegenheiten erwähnte. Aber was gibts da zu schreiben? Es ist Sache unseres großen
FÜHRERS und seines FREUNDES. Sie werden schon die ganze Arbeit fix und
fachmännisch durchführen. Sie werden Europa und die ganze Welt von den
kapitalistischen Parasiten säubern. Und darüber hinaus werden sie es schaffen, dass ich
noch ein Grammophon und ein Radiogerät bekomme. Wer weiß! Das letzte Jahr
überzeugte mich, dass sich in meinem Leben Dinge erfüllen, von denen ich früher weder
denken noch träumen wagte. Ein Beweis steht vor mir auf dem Tisch. Ein anderer - der
Koffer - glänzt mit seinen kupfernen Schlössern. Und zwei Uhren flüstern Tag und Nacht
vor sich hin. Die eine: Dem großen Stalin hurra, hurra, hurra! Die andere: Dem großen
Hitler bravo, bravo, bravo!
Über Politisches gibt es also nicht viel zu schreiben. Alles läuft nach dem Plan der
politischen Produktion, den die beiden größten Wohltäter der Menschlichkeit aufgestellt
hatten. Wir sammelten schon Litauen, Lettland, Estonien, halb Polen, Besarabien,
Weißrussland, die Ukraine ein. Nur mit Finnland gelang es uns nicht besonders. Dort aber
kamen gerissene Reaktionäre aus der ganzen Welt zusammen und machten für
englisches Kapital solche Verteidigung, dass es schwer war, an sie ranzukommen.
Ein bekannter Hauptmann, zweimaliger Held der Sowjetunion, der an der finnischen
Front war, erzählte mir, wie fest sich die Faschisten dort eingegraben habn. Es stellte sich
heraus, dass sie Verteidigungswälle aus Gummi herstellten. Wir ballerten aus den
Kanonen oder schmissen Bomben aus den Flugzeugen - die Geschosse aber prallten von
dem Gummi ab und richteten keinen Schaden an. Also spuckten wir auf diese Pest und
ließen sie vorläufig in Ruhe. Unterdessen erfanden unsere Wissenschaftler solche
Strahlen, die Gummi auf Entfernung auflösen. Die Apparatur ist noch nicht fertig, denn ein
Saboteur schlich sich in die Fabrik und die Arbeit kaputt machte. Das aber wird die ganze
Sache nur kurzzeitig aufschieben. Sobald wir dann mit diesen Strahlen gegen die Finnen
starten, wird sich der ganze Gummi auflösen und sie werden darin wie die Fliegen im
Pech ertrinken. Darüber hinaus werden wir auch den Nutzen davontragen, dass wir viel
Gummi kriegen, um für das Arbeitervolk Galoschen herzustellen, damit weniger Menschen
barfuss laufen. Mit einem Wort, man prophezeit einen Zuwachs von Wohlstand und
wirtschaftlichen Fortschritt in der Sowjetunion.
Unser Bruderherz Adolfchen wird indes in Frankreich und in den anderen Staaten
Ordnung schaffen. Sicherlich kauften sich auch seine Helden viele Uhren, Koffer und
Schuhe, oder vielleicht sozialisierten sie sie. Man darf vermuten, dass es ihnen nicht
schlechter geht als uns. Also entwickelt sich alles sehr angenehm, wie es sich gehört nach
dem Plan der militärisch-politischer Produktion. Auf die stachanowsche Art und Weise -
könnte man sagen - bearbeiten unsere FÜHRER Europa. Sobald sie damit fertig sind,
werden sie sich ein bisschen ausruhen und sich dann Amerika vornehmen. Auch dort wird
es eine sehr interessante Arbeit geben, denn Dollars, habe ich gehört, gibt es dort eine
ganze Menge und es wird wofür in Saus und Braus zu leben. Dann werde ich mir ein
Fahrrad kaufen, mit Pumpe.
Gestern passierte noch etwas Interessantes. Von meinem Bruder Wasil bekam ich ein
Paket aus Moskau. Sogar ganz schnell war es angekommen, nur zweieinhalb Monate war
es unterwegs. Das Wichtigste aber war, dass nichts aus dem Paket verschwunden war.
Schwer zu glauben aber wahr. Ich untersuchte es genau, denn drin war eine Liste in der
Handschrift meines Bruders. Sehr angenehm, dass die Beamten bei uns, in der
Sowjetunion, so effizient und erhlich sind. Wir können der ganzen kapitalistischen Welt als
Musterbeispiel dienen.
Im Paket waren: Drei Kilo Kartoffeln - nicht einmal verdorben nach der langen Reise, ein
Kilo Zwiebeln, zwei große Rüben, ein Säckchen Zwieback, eine Packung Tabak und eine
Zeitungsseite zum Zigarettendrehen. Es gab da noch ein Fläschchen Öl und - das
Wichtigste - ein halbes Kilogramm Butter unserer sowjetischen Produktion, hergestellt in
einer Fabrik mit dem Namen der großen Revolutionärin Karvucie. Es war mir nicht
gelungen, die Aufschrift auf der Butterverpackung zu entziffern, weil sie feingeschnitten
war - durch die Zensur, die prüfte, ob drin nichts politisch Schädliches steckt. Der Name
der Fabrik war aber deutlich: KARVUCIE.
Vorsichtig legte ich die Butter auf einen Teller aus. Alle Teile fügte ich zusammen und
beschloss, es Maria Iwanowna zu zeigen. Möge die kapitalistische Schlange unsere
sowjetischen Errungenschaften und den hohen Lebensstandard bewundern.
Die anderen Produkten stellten für mich nur ein Ballast dar und ich war gezwungen,
abends leise aus dem Haus hinauszugehen und sie an einer menschenleeren Stelle über
einen Zaun wegzuschmeißen. Dem Bruder werde ich schreiben müssen, es soll mir nichts
mehr schicken. Sollte besser alles selbst essen, denn mir mangelt es an nichts. Ich würde
ihm sogar gerne viele Pakete mit Wurstwaren, Speck und Butter schicken, fürchte aber,
dass das leichtsinnig wäre und für ihn und mich ein Gefängnis oder Verbannung ins Lager
bedeuten könnte.
Heute früh rief ich also Maria Iwanowna zu mir:
"Komm bitte für einen Moment rein. Ich möchte dir etwas Erstaunliches zeigen, was,
man kann ruhig sagen, das erstaunliche Niveau unserer sowjetischen Zivilisation beweist."
Sie kam herein, war aber sehr schüchtern, denn in der letzten Zeit hielt ich die
Kapitalistinnen an sehr kurzer Leine. Ich nannte sie sogar bei zoologischen Namen. Sie
sollen wissen, mit wem sie es zu tun haben und wo ihr Platz ist!
Sie stellte sich in der Tür auf und guckte entzückt auf meine Schuhe, die ich auf der
weißen Decke mitten auf dem Tisch plaziert hatte. Das erweichte mich ein wenig, also
sagte ich:
"Komm doch näher. Hab keine Angst. Heute bin ich in guter Laune und werde dir
weder in die Fresse hauen noch Fusstritte in Anwendung bringen."
Sie näherte sich dem Tisch und schaute mir Bewunderung auf die Schuhe. Und ich
zeigte mit dem Finger auf den Teller:
"Kannst du das sehen?"
"Ich sehe es".
"Schau genau hin: Was ist das?"
Sie beugte sich, beschnupperte den Teller und sagte:
"Das ist verdorbene Butter."
"Gut möglich, dass die Butter verdorben ist, aber was beweist sie?"
Sie dachte eine Weile nach, schaute mich an und stellte fest:
"Die Butter beweist, dass jemand zuviel davon hatte, sie nicht rechtzeitig aufgegessen
hat und sie wurde ranzig."
"Bist du aber stumpfsinnig!" ärgerte ich mich. "Und du bist Lehrerin gewesen! Diese
Butter ist der Nachweis unserer großen sowjetischen Errungenschaften. Sie wurde in einer
Sonderfabrik bei Moskau hergestellt, die den Namen der berühmten ausländischen
Revolutionärin proletarischer Abstammung trägt, die im Kampf gegen die Bourgouisie für
die Befreiung des Proletariats gefallen ist.
Sie sah mich an und sagte:
"Irgendwie seltsam, was ihr mir da erzählt, denn diese Butter kommt nicht von Moskau,
sondern aus Kowno. Hier ist ein Stempel. Und Karvucie, bedeutet nicht einen
menschlichen Namen, sondern heißt auf Litauisch Kuh.
"Kuh?!" fragte ich nach.
"Ja, Kuh".
Ich nahm stramme Haltung an, zeigte mit dem Finger auf die Tür und sagte nur ein Wort:
„Raus!" Aber wie ich das sagte. Sie verschwand - natürlich - sofort. Man muss mit den
Kapitalistinnen umgehen können.Ja.

30. September 1940. Vilnius.

Dem großen Hitler hurra! hurra! hurra!

Eine große Freude weitet mir die Brust und füllt bis an die Ufer meine Komsomolzen-
Seele aus. Stolz überflutet mein sozialistisches Gehirn. Ich bin so glücklich, dass ich
beschlossen habe, das alles besonders feierlich zu beschreiben. Also zog ich mir die
neuen Schuhe an und gelegentlich auf sie schielend schreibe ich diese Worte.
Dieser Tag ist ein Tag großer Freude für die Sowjetunion, für die Proletarier in der
ganzen Welt und für die Kommunisten im Besonderen. Ich konnte meinen Augen und
Ohren nicht glauben, als ich das alles in den Zeitungen lies und im Radio hörte. Ich
überzeugte mich aber, dass das so auch ist. Seit dem 7. September.
Also:
HITLER BOMBARDIERT LONDON!
Endlich, endlich rückte der liebe FÜHRER der deutschen Sozialisten und größter Freund
des sowjetischen Volkes den Engländern auf die Pelle! Mögen die jetzt unter den Bomben
herumtanzen. Wir freuen uns sehr darüber. Alle unseren Jungs lächeln und reiben sich die
Hände vor Freude. Wir wissen, dass das ein Anfang vom Ende des englischen Volkes ist.
So viel hatte ich von England, der größten Plage der Menschheit und dem
niederträchtigsten Feind der Sowjetunion gelesen und gehört und jetzt erlebe ich, dass es
endlich bearbeitet wird. Schade nur, dass wir nicht dabei sind. Würden wir doch denen
gerne russisches Boxen beibringen. Hätten unsere Jungs ihren Spass zu Genüge. Ein
großes Nutzen würde es dabei auch geben, denn ganz sicher hat jeder zehnte Engländer
eine Uhr, und einige von ihnen, die größeren Kapitalisten, müssten sogar Fahrräder
besitzen. Mit denen würden wir uns schon zu amüsieren wissen! Vielleicht aber schafft es
der liebe Hitlerchen nicht alleine und wird uns um Hilfe bitten? Ein schönes Fest wäre das!
Und die Polen laufen mit traurigen Mienen herum, die Köpfe hängengelassen. An die
zehnmal fragte ich Maria Iwanowna: "Wo sind denn eure Engländer, warum kommen die
euch nicht zu Hilfe? Müssen sie vielleicht ihre eigene Haut retten?" Sie dagegen sagte
entweder gar nichts, oder dass sie sich in diesen Sachen nicht auskenne. So eine schlaue
Bestie ist sie!
Und überhaupt, dieser Monat ist auch für die Sowjetunion wichtig. Am 17. September
feierten wir den Jahrestag des großen Sieges der Roten Armee über das faschistische
Polen. Es ist der Beweis - kann man sagen - unserer großen Macht, der sich niemand
widersetzen kann. Groß waren an diesem Tag unsere Freude und Zufriedenheit.
Vorgestern bestellte ich einen Schlosser, damit er meine Zimmertür sicherte. Denn seit
ich die Schuhe gekauft hatte, konnte ich nicht mehr ruhig schlafen. Tagsüber verschloss
ich immer die Tür mit dem Schlüssel. Das aber war keine garantierte Sicherung. Konnte
doch eine der Lehrerinnen mit einem Dietrich die Tür aufmachen und meine Schuhe oder
den Koffer stehlen.
Der Schlosser sah sich die Tür an und fragte, was zu tun sei. Also erklärte ich ihm, ich
möchte so einen Verschluss haben, dass nicht einmal der schlaueste Dieb ins Zimmer
reinkonnte. Der Meister kratzte sich am Kopf:
"Einen guten Dieb wird kein Verschluss abschrecken. Wenn das Schloss gut ist, wird er
die ganze Tür aushebeln oder ein Loch rausschneiden."
"Könntest du die Tür so absichern, dass keiner da was machen kann?"
"Das ", antwortete er, "kann ich nicht garantieren. Wenn ihr aber zuviel Geld habt, dann
könnte man die Tür stark verfestigen. Dann würde es der Dieb nicht mehr bezwingen und
müsste sich einen anderen Weg suchen."
"Was würde das kosten?"
Er dachte nach: „Das müsste man ausrechnen. Die Angeln müssen durch den Stock in
die Mauer eingelassen und die Dörner in der Mauer mit Zement eingegoßen werden. Das
als erstes. Als nächstes muss man die Tür von innen mit dickem Blech beschlagen und
zunieten. So könnte der Dieb nicht mit einem Bohrer Löcher rausschneiden. Die Zargen
muss man unbedingt mit dicken Eisenleisten beschlagen, damit es keinen Spalt gibt, und
ein Yale-Schloss einsetzen. Von außen könnte man noch zwei Kloben für zwei
Aufhängeschlösser anbringen."
"Was würde das kosten?"
"Zweihundert Rubel. Das Material alleine wird 80 Rubel kosten. Das Yale-Schloss und
zwei Aufhängeschlösser - 70. Und noch 50 für die Arbeit, denn an einem Tag schaffen wir
es nicht und zu zweit arbeiten werden."
Ich überlegte mir, was zu tun ist. Es schien mir teuer zu sein. Ist es aber nicht besser,
gleich sozialistisches Eigentum zu sichern und vor Attentäten jeglicher reaktionären Diebe
Ruhe zu haben? Also akzeptierte ich den Preis, bat nur, die Arbeiten so schnell es geht
auszuführen.
Eineinhalb Tage lang sicherten sie die Tür. Ich blieb die ganze Zeit zu Hause, denn ich
hatte Angst, Schuhe und Koffer ohne Aufsicht alleine zu lassen. Endlich waren sie fertig.
Ich prüfte alles nach. Sie machten ihre Arbeit tatsächlich gut.
Der Schlossergehilfe fragte mich:
"Wozu braucht ihr so einen Verschluss? Das hier ist doch keine Bank."
"Wie denn wozu? Sieh doch - einen guten Koffer habe ich. Und am wichtigsten sind die
Schuhe!"
Wie der nicht losprustete: "Du also hast, um Schuhe für 80 Rubel zu schützen, 200
Rubel berappen!"
Darauf antwortete ich besonnen:
"Erstens, die Schuhe kosten nicht 80 Rubel, sondern 100, weil sie aus besonderem
ausländischem Stoff sind. Und zweitens: Möglicherweise werde ich mir noch etwas
Wichtigeres kaufen. Zum Beispiel ein Grammophon oder ein Radiogerät."
Worauf er erwiderte: "Am sichersten sind deine Schuhe an deinen Füssen."
Ich bezahlte für die Arbeit und atmete auf. Jetzt kann ich ruhig schlafen und ohne Angst
in die Stadt gehen. Ich habe die Gewissheit, dass mein heiliges Eigentum nicht gefährdet
ist. Ja, ein eigenehmes Gefühl ist das. Für 200 Rubel bin ich jegliche Furcht losgeworden.
Und am Abend dieses Tages haute ich einen Brief an Dunjaschka, denn lange schon
schrieb ich ihr nicht.

"30 September 1940. Vilnius.


Liebste meine Dunjaschka!
Verzeih mir bitte, dass ich so selten schreibe, aber du musst verstehen, dass ich wegen
meiner hohen Stellung nur wenig freie Zeit habe. Ich bin sehr damit beschäftigt, in diesem
wilden Land Sozialismus zu festigen und Kultur zu verbreiten. Leicht ist mein Leben unter
diesem kapitalistischen Vieh nicht. Ich beklage mich aber nicht und bin stolz darauf, hier
unsere sowjetische Kultur einzuführen.
Jetzt bin ich eine sehr wichtige Person. Sogar zwei Paar Schuhe besitze ich. Und ein
Paar davon ist so eine Schöhnheit, dass ich es nicht einmal beschreiben kann. Werde ich
aber ein bisschen mehr Zeit haben, bringe ich sie zum Fotografen bringen und lasse ein
Foto machen. Ich schicke es dann dir, damit du sehen kannst, wie weit dein Mischka es
geschafft hat und welche Schätze er besitzt. Von dem Koffer habe ich dir schon
geschrieben. Von den Uhren auch. Jetzt denke ich an ein Grammophon, vielleicht kaufe
ich mir es nach Neujahr.
Viel Zeit brauche ich dafür, mein Eigentum vor Attentaten verschiedentlicher
kapitalistischer Elemente zu schützen. Aber ich bin nicht dumm und leicht werden sie es
mit mir nicht haben. Jetzt, wenn ich ausgehe, schön angezogen und mit zwei Uhren, dann
schauen mich alle Kapitalistinnen mit Bewunderung und Verehrung an. Ich aber beachte
sie gar nicht, denn ich denke nur an dich und bleibe dir immer treu.
Grüße an alle Bekannten.
Ich küsse dich fest.
Dein bis ins Grab.
Unterleutnant Michail Zubow."

Und heute früh lernte ich einen, könnte man sagen, interessanten Menschen kennen.
Ich war zum Markt gegangen, ein bisschen spazieren, na und mir die Waren
anzuschauen. Denn die hiesigen Kapitalisten bieten dort verschiedene Sachen zum Kauf
an und manchmal kann man für kleines Geld sehr wertvolle Ware kaufen.
Auf dem Marktplatz bemerkte ich einen Mann mit einer Schachtel.
"Was verkaufst du?" fragte ich ihn.
"Genau was für dich", antwortete er. "Ein musikalisches Instrument von großem Wert.
Ich kann es dir billig verkaufen, denn ich sehe, dass du ein sympatischer Kerl bist. Nutze
die Gelegenheit."
"Und was ist das?"
"Orgeln, Grammophon, Patephon und Piano in einem. Ein ganzes Orchester steckt in
diesem Schachtelchen drin. Ein Wunder der musischen Technik. Ich kann es dir billig, fast
umsonst verkaufen!"
"Dann zeig mal, wie deine Maschine funktioniert."
Daraufhin brachte er ein Stutzbein an die Schachtel an, legte sich einen Riemen über
den Rücken und fing an, eine Kurbel an der Seite zu drehen. Die Maschine hustete kurz,
keuchte und dann... wie sie losging, wie anschlug - und Marschmusik spielte. Und wie
spielte sie! Laut. Die Menschen liefen zusammen und bewundeten. Und er drehte mit der
Kurbel und zwinkerte mir zu:
"Eine schöne Erfindung, was? Ein großer Professor von der Akademie für
Musikkunstsücke hat es mir verkauft, sonst hätte er vor Hunger krepieren müssen. Er
weinte beim Verkauf, denn es ist klar, es ist ein kostbares Instrument. Fast umsonst, 250
Rubel habe ich dafür gegeben. Und so was müsste doch dicke Tausende kosten. Das ist,
verstehst du, ein demokratisches Instrument, für jedermann. Du brauchst dafür keine
Noten, nicht einmal Strom, wie zum Beispiel beim Radio. Nicht einmal Platten braucht man
hier, wie beim Grammophon. Du brauchst das nur einzustellen und spielen, was du willst,
aus aller Kraft, und wirst damit die Menschen verzaubern. In dieser einen Schachtel findet
ein ganzes großes Orchester Platz.“
So redete er, drehte mit der Kurbel und das Instrument spielte aus allen Kräften. Die
Menschen standen rund um uns, hörten zu und wunderten sich sehr.
"Wieviel möchtest du dafür haben? fragte ich.
"Von dir", sagte er, "nur 300 Rubel. Ich kann sehen, dass du ein intelligenter Mann bist
und von Musik große Anhnung hast. Du passt zu diesem Instrument genau so, wie es zu
dir."
"Aber es kann doch nur Marschmusik spielen."
Der Verkäufer war empört:
"Wie kann man von einem so edlen Instrument sagen, es spiele nur Marschmusik.
Gleich wollen wir was anderes versuchen."
Er verstellte irgendeinen Regler an der Seite des Instruments, fasste an den Handgriff
und drehte. Ich hörte zu und vor Freude musste ich lachen. Das war doch mein
Lieblingswalzer >Die Donauwellen<. Sehr schön hörte sich das an. Der Verkäufer drehte
die Kurbel weiter, pfiff und zwinkerte mich immerzu an:
"Na, wie gefällt es dir?"
"Nicht schlecht.“
"Für nur dreihundert Rubel kann ich es dir verkaufen", wiederholte er. "Einem anderen
würde ich es für nicht einmal eintausend abgegeben. Du aber, wie ich sehe, bist ein
hochgebildeter Mann und kennst dich aus mit Musik. Nimm also diesen Schatz und hüte
ihn gut. Damit kannst du dir selbst und den anderen das Leben angenehmer machen."
"Nein", antwortete ich. "Das ist zu teuer für mich."
"Wieviel kannst du dafür geben?"
"Ich würde dir dafür 250 Rubel geben. Was auch du bezahlt hast. Aber ich habe alles in
allem nur 170 Rubel. Wenn du willst, verkaufe zu diesem Preis."
"Das", sagte er, "ist unmöglich. Ich würde keinen Gewinn machen und darüber hinaus
80 Rubel verlieren."
"Da ist also nichts zu machen", seufzte ich, "mehr Geld besitze ich nicht. Gerade habe
ich teure Schuhe gekauft, und andere Einkäufte habe ich auch betätigt. Jetzt warte ich auf
meinen Lohn."
"Weißt du was", wandte er sich zu mir, "ich kann es gleich sehen, dass du ein ehrlicher
Mann bist und nicht die Absicht hast, mich zu übervorteilen. Gib her diese 170 Rubel. Ich
brauche Geld für ein anderes Geschäft. Wegen der restlichen 80 Rubel komme ich zu dir
später. Gib mir nur deine Anschrift. Ich weiß, dass du mich nicht betrügst, weil du ein
ehrenhafter Offizier bist."
Mit großer Freude stimmte ich zu. Ich gab ihm meine Adresse und sagte, in drei Tagen
solle er mich besuchen. Er notierte sich das alles auf einem Zettel und wiederholte, dass
er mir vertraute, weil er sehe, dass ich ein Offizier und hochgebildeter Mann bin. Auch
versprach er mir seine Hilfe, sollte ich den Wunsch haben, etwas billig zu kaufen, denn er
kenne die Stadt wie seine eigene Tasche.
Wir verabschiedeten uns also. Ich warf mir das Instrument auf den Rücken und ging
heim. Schwer war das Ding. Es kostete mich viel Mühe, es zu schleppen. Die Menschen
auf der Straße drehten sich beneidend und bewundernd nach mir um.
Zu Hause stellte ich das Ding wie es sich gehört auf und fing an, damit so beherzt zu
spielen, bis sich im Gebäude gegenüber die Fenster öffneten und die Menschen auf die
Straße guckten. Sicherlich dachten sie, es spielte ein Militärorchester. Also, damit es kein
Misverständnis gab, brachte ich das Instrument auf den Balkon hinaus und spielte an die
zwei Stunden weiter, um die ganze Welt zu erfreuen.
Jetzt habe ich eine sehr interessante Beschäftigung, die mir eine große Freude bereitet.
Außerdem verbringe ich kultiviert meine Freizeit. Ein weiterer Nutzen ist, dass ich den
Menschen mit meinen künstlerischen Fähigkeiten imponieren kann. Ich bin jetzt ein sehr
glücklicher Mensch. Und überhaupt war dieser Monat sehr erfolgreich für mich. Köstliche
Schuhe kaufte ich mir, die Wohnung sicherte ich definitiv ab. Der Jahrestag der
Zerschlagung der polnischen Imperialisten-Armee war auch eine sehr angenehme Sache.
Und am wichtigsten ist jetzt, dass unser liebes Hitlerchen London weiter bombardiert und
bombardiert. Ich muss mal ihm zu Ehren noch einen Marsch aufspielen und vom Balkon
aus dreimal „Hurra! rufen. Also breche ich das Schreiben jetzt ab.

23. November 1940. Vilnius.


Ich kann selbst nicht verstehen, was mir mir los ist: Ich habe mich bis über beide
Ohren verliebt. In eine Kapitalisten noch dazu! In die Tochter irgendeines Großbürgers. Ich
bin wie betrunken und kann an nichts anderes mehr denken als an sie. Ich schäme mich
sogar, dass ich, ein idealistischer Komsomolez proletarischer Abstammung, mich so in
eine Aristokratin verguckt habe. Ich kann aber nichts dafür. Im Übrigen: Ist es wirklich ein
so großes Verbrechen, als Kapitalist geboren zu sein? Auch Lenin war ein Grundbesitzer.
Das heißt, ein Blutsauger und Ausbeuter fremder Arbeit. Später aber überlegte er es sich
anders, besserte sich und wurde sogar zum Vater des Proletariats. Ähnlich Lunaczarski
oder Tschitscherin. Und Peter der Große, zum Beispiel: Der war sogar Zar, arbeitete aber
trotzdem sein ganzes Leben lang zum Wohle des Proletariats und der kommunistischen
Partei und schuf die Grundlagen der Sowjetunion.
Ich muss aber alles ganz genau erzählen: Meine Liebesgeschichte begann mit dem
Musikinstrument, das ich so trefflich auf dem Markt gekauft hatte. Später erfuhr ich, dass,
es “Drehorgel“* heißt. Ein netter Name: einer der unsrigen, russisch, ganz sicher stammt er
von “Katjuscha“ ab. Gut möglich, dass Katharina die Große es erfand. So muss es
gewesen sein... Ich liebte es, für die ganze Straße abendliche Konzerte zu veranstalten.
Sollte doch die Bourgeoisie sehen, dass die Rote Arme begabt war und Musik liebte. So
trat ich abends auf den Balkon und spielte - mal einen Walzer, mal einen Marsch, mal eine
Polka. Denn genau diese drei Sachen gibt es in der Orgel. Eines Tages spielte ich also
einen Walzer und sah, dass im Fenster gegenüber, auf der anderen Straßenseite, ein
schönes Fräulein saß. Sie muss meiner Musik zugehört haben. Also fing ich an, sie
anzulächeln, zu zwinkern und bedeutungsvoll zu hüsteln. So lächelte auch sie schließlich
zurück. Als es schließlich dunkel wurde, schloss sie das Fenster und machte das Licht im
Zimmer an. Noch lange schien sie dort mit etwas beschäftigt zu sein, denn ich konnte
ihren Schatten auf der Gardine sehen. Dann löschte sie das Licht. Sicher war sie schlafen
gegangen.
Am nächsten Tag stand ich früh auf. Ich wusch mir ordentlich die Hände und ein
bisschen sogar das Gesicht. Ich zog die neuen Schuhe an und befestigte die beiden
Uhren an den üblichen Stellen. Dann wartete ich, bis sie auf war. Aber sie schlief lange.
Erst um zehn Uhr schob sie die Gardine am Fenster zur Seite. Also spielte ich ihr einen
Marsch zum guten Morgen auf. Diesmal aber zeigte sie sich nicht im Fenster. Gewiss
hatte sie keine Zeit dafür.
Ich fing an, die Straße zu beobachten, um die Frau ganz und mit ihren Beinen zu sehen.
Und es klappte: Denn einmal erschien sie in der Haustür, schaute nach rechts und links
und, so glaubte ich, blickte verstohlen zu meinem Balkon. Dann ging sie weiter über die
Straße. Wie elegant! Eine grünes Kostüm mit gelben Punkten hatte sie an. Dazu ein
Federhütchen mit Schleife. Ja! Und unter dem Arm trug sie einen Regenschirm, genau
nach den Vorschriften der neuesten Pariser Mode. In der Hand hielt sie - auf die
kapitalistische Art und Weise - eine Ledertasche für verschiedene Puder, Parfüms und
Cremes. Dazu: Hochhackige Schuhe. Sie war keine Frau, sondern einfach eine Blume!
Inzwischen besuchte mich der Kerl, der mir auf dem Marktplatz die Drehorgel verkauft
hatte. Ich bat ihn, sich hinzusetzen und gab ihm gleich die 80 Rubel, denn kurz vorher
hatte ich meinen Lohn bekommen und besaß Bares.
„Seid Ihr zufrieden?", fragte er.
„Sehr!", antwortete ich. „Nicht nur ich habe eine große Freude daran, auch die ganze
Straße genießt die Musik. Zweimal täglich für je zwei Stunden spiele ich für sie.
Manchmal, wenn ich nicht einschlafen kann, spiele ich auch nachts. Ich mache den
Menschen sehr gerne Freude."
Wir redeten weiter über Verschiedenes. Er war ein sehr netter Kerl. Immer erzählte er
lustige Geschichten und machte Witze. Mikolaj war sein Name. Also nannte ich ihn Kolka,
er mich hingegen Mischka. Als ob wir schon immer Freunde gewesen wären. Ich fragte ihn

* A.d.Ü: polnisch katarynka


nach seiner Nationalität.
"Ich bin ein Internationalist", erklärte er. „Mit jedem Menschen, der es will, mache ich
Geschäfte. Und davon lebe ich. Bei mir macht es keinen Unterschied, ob er Pole, Russe,
Jude oder irgendein anderer Teufel ist. Hauptsache, ich verdiene dabei."
Außerdem sagte er, dass er eine große Sympathie für mich hätte, und viel Vertrauen.
Deshalb hätte er auch keine Angst gehabt, mir die 80 Rubel anzuvertrauen. Denn er hätte
gewusst, ich sei ein kultivierter Offizier, der nicht betrügt. Er versprach mir zu helfen, sollte
ich etwas kaufen oder erledigen wollen. Also fragte ich gleich:
„Wie schließt man bei euch Bekanntschaft mit einem Fräulein?"
„Je nachdem", erwiderte er. „Fräulein ist nicht gleich Fräulein. Es gibt welche, die kann
man gleich zwicken und ihnen einen Klaps geben. Es gibt aber auch solche, die man ein
Jahr lang anbeten muss, bis was passiert."
Darauf sagte ich: „Mit der dürfte die Sache schwierig werden, denn ich konnte mich
davon überzeugen, dass sie eine sehr wichtige Person ist. Angezogen wie die beste
Schauspielerin, und so fein, dass sie auch dann einen Schirm dabei hat, wenn es
überhaupt nicht regnet. Aus einer höheren Schicht ist das Fräulein."
„Und wie steht sie zu dir?"
„So ziemlich mittelmäßig."
„Dann ist die Sache tatsächlich nicht einfach. Du musst sehr aufpassen, sonst wird sie
sich nicht mit dir einlassen. Bei so einer muss man immer die Hand küssen und
Nettigkeiten reden und Blumen kaufen. Sie wird dir viel Kopfzerbrechen bereiten, bevor sie
dich freundlicher anguckt. Such dir lieber eine andere."
Das machte mich sehr traurig. Wie sollte ich denn ein Jahr lang das Fräulein hofieren?
In ein paar Monaten könnte ich doch dienstlich sonst wohin geschickt werden! Aber nichts.
So spielte ich ihr weiterhin schön auf der Drehorgel und lächelte sie sehr bedeutungsvoll
an. Einmal bemerkte ich, dass auch sie lächelte. „Oho!", dachte ich mir, „Meine Chancen
bei ihr steigen." Ich verstand, dass sie langsam anfing, sich ernsthaft für mich zu
interessieren. Also winkte ich ihr beim nächsten Mal mit der Hand, um sie zu begrüßen.
Aber sie ... - nichts! Vielleicht hatte sie es nicht bemerkt.
An die zwei Wochen kokettierte ich so mit ihr und verliebte mich bis über beide Ohren.
Eines Tages vergaß sie, die Vorhänge am Fenster zuzuziehen und fing an, sich an einem
Tischlein auszuziehen. Beinahe wäre ich vom Balkon gesprungen! Was für eine Frau!
Einfach ein Wunder! Also machte ich das Licht aus – so, als ob ich nicht zu Hause wäre -
und sah ihr eine Stunde lang dabei zu, wie sie sich vor dem Spiegel drehte, mit
verschiedenen Cremes einrieb, die Haare kämmte und ihre Fingernägel feilte. Leider
vergaß sie danach nie wieder, die Stores zu schließen. Wie schade!
Einige Male trocknete sie vor dem offenen Fenster verschiedene, frisch gewaschene
Damenunterwäsche. Alles entweder rosa-farben oder cremig oder blau. War doch klar,
dass eine solche Person keine gemeinen Sachen anziehen würde. Nicht wie unsere
Weiber, die sich wie bekackte Kühe bewegten, die Nase mit dem Finger putzten und sich
ständig an der Stelle kratzten, an der sich das öffentlich nicht gehört. Eines Tages fragte
mich sogar Lipa in Lida:
„Warum stinken eure Sowjetinnen so schrecklich? Haben sie denn keine Seife, um sich
zu waschen? Oder vielleicht wechseln sie ihre Wäsche nie?"
Darauf antwortet ich sehr besonnen:
„Sind denn die Weiber dazu da, beschnuppert zu werden? Übrigens, wenn man will,
kann man sie ausbürsten und einparfümieren, dann duften sie kilometerweit. Dann kannst
du sie beschnuppern, so viel du Lust hast, denn allerorts werden sie kapitalistisches
Aroma haben."
Kategorisch beschloss ich, endlich die Zauberin kennen zu lernen. Da ich schon all ihre
Gewohnheiten kannte, kam ich zu dem Schluss, dass ich unsere Bekanntschafts-
schließung am besten am Abend, wenn sie spazieren ging, vollziehen sollte. Also kaufte
ich einen großen Blumenstrauß und eine Schachtel teuerster Bonbons. Geld von dem
Lohn hatte ich noch, also nahm ich mir vor, mich ein wenig zu ruinieren, um ihr Herz zu
gewinnen und mit der Zeit vielleicht auch an ihr Kapital zu kommen.
Aber nichts... Ich marschiere mit diesem Strauß und den Bonbons die Straße auf und ab
und warte auf mein Ideal. Sie aber kommt nicht. Ich bin zu früh da. Endlich höre ich: Die
Tür knallt. Gleich darauf erscheint auch sie und spaziert in meine Richtung. Also haue ich
ihr direkt entgegen und lache so laut ich kann. Und sie – nichts! Geht an mir vorbei. So
sage ich:
„Ich bitte um Entschuldigung! ...Bitte! ... Bitte einen Moment, warten...!“
Sie bleibt stehen und starrt mich an. Irgendwie leicht erschreckt.
Also gebe ich ihr die Bonbons und sage:
„Ich habe bemerkt, dass ihr das verloren habt, also gebe ich es ehrlicherweise zurück.
Gleichzeitig habe ich die unheimliche Ehre, mich vorzustellen. Ich bin Major Michail
Nikolajewitsch Zubow."
Das mit dem Major war gelogen, weil ich vermutete, so eine hochgestellte Person würde
mit einem Leutnant nicht einmal reden wollen. Und Major werde ich bei meiner großen
Intelligenz und meinen Fähigkeiten irgendwann bestimmt. Dann schnappe ich flink ihre
Hand und küsse sie. Den Blumenstrauß stecke ich ihr unter den Arm, dorthin, wo sie den
Schirm trägt.
Sie aber schweigt. Ganz sicher ist sie von meinem eleganten Auftreten sehr entzückt.
So schlage ich vor:
„Könnten wir vielleicht zusammen spazieren gehen?"
„Ich gehe gerade spazieren.“
"Dann komme ich mit, wenn Ihr mir nicht böse seid."
"Warum sollte ich böse sein? Ihr könnt mit zusammen. Nur mit den Blumen ist mir das
ein wenig unbequem."
Also gingen wir. Sie: Tip-tip, tip-tip, tip-tip, auf ihren Stöckelschühchen. Ich: An ihrer
Seite und trug mit wichtiger Miene den Blumenstrauß. Und ob! Man könnte sagen: Wir
sahen blendend aus. Inzwischen eröffnete ich schlauerweise ein kultiviertes Gespräch:
„Sehr schön sind Sie, und ich bin von Ihnen schrecklich überwältigt."
Sie darauf:
„Alle meine Männerbekanntschaften sagen mir dasselbe, und sie sind sehr zufrieden mit
mir."
Nach einem kurzen Spaziergang hielt sie an und stellte fest:
„Ich glaube, ich bekomme langsam Hunger. Es knurrt mir sogar im Bauch. Heute hatte
ich keine Zeit mehr auszugehen."
„Wir könnten doch", schlug ich vor, "in ein Restaurant gehen, wenn Sie es wünschen. Es
würde eine große Ehre für mich sein."
Also gingen wir. Ich aber wusste nicht, wie man in diesen kapitalistischen Restaurants
bestellte. Also übernahm sie das.
„Zuerst", instruierte sie den Kellner, "bring uns eine große Karaffe Wodka und zwei
Flaschen Doppelbier. Dazu zwei Schnitzel und an die vier saure Gurken. Nachher sehen
wir weiter. Aber bitte schnell."
Man konnte gleich sehen, dass sie eine Person aus höheren Kreisen war, denn nicht
einmal in die Menükarte brauchte sie zu schauen. Alles kannte sie auswendig. Also
brachte uns der Kellner Wodka und vier Gurken. „Die Schnitzel“, informierte er uns,
„werden gerade gebraten.“ Sie indes ließ ihn die Wodka-Gläser in Teegläser umtauschen.
Dann schenkte sie den Wodka ein und erklärte feierlich: „Na dann Prost, mein lieber Herr
Gesangverein!"
Wir tranken aus und nahmen den Imbiss zu uns. Sie gestand mir:
„Ich verehre den Korn sehr. Denn von einfachem Schnaps bekomme ich hinterher
Kopfschmerzen."
So redeten wir und duddelten die ganze Karaffe Wodka leer. Als der Kellner die
Schnitzel brachte, bestellte sie also eine zweite Karaffe. Und als wir schon ordentlich
beschwipst waren, fragte ich sie nach ihrem Zivilstand.
„Ein Fräulein bin ich!", erwiderte sie. „Den Erstbesten will ich nicht heiraten. Ich bin nicht
so dumm, für irgendeinen Esel umsonst zu Hause zu arbeiten."
„Und ich bin ein Junggeselle!", erklärte ich. „Ich glaube, wir passen gut zusammen. Ich
freue mich sehr, eine so nette Persönlichkeit kennen gelernt zu haben!"
Wir verbrachten eine sehr angenehme Zeit in diesem Restaurant. Vom Wodka wurde
mir aber recht schwindlig im Kopf. Ihr dagegen war nicht einmal anzumerken, dass sie
angetrunken war. Schließlich gingen wir nach Hause. Unterwegs erlaubte ich mir sogar,
sie unter den Arm zu nehmen. Und nichts! Sie protestierte nicht. Ganz sicher gefiel ich ihr
sehr. So marschierten wir feierlich und torkelnd über die Straßen. Die Fußgänger schauten
uns bewundernd an und traten zur Seite.
Ich brachte sie bis zu ihrem Haus. Ihre Hand, natürlich, küsste ich und fragte: „Wann
werde ich die Freude haben, Sie wieder zu sehen?
„In zwei Tagen.", erwiderte sie. „Am Samstag. Dann werde ich ein bisschen mehr Zeit
haben, und wir könnten ins Kino gehen."
Also vereinbarten wir, dass ich am Samstagabend auf der Straße auf sie warten würde.
Dann borgte sie sich noch 10 Rubel von mir. Es fehle ihr gerade Geld, um die Miete zu
bezahlen. Selbstverständlich gab ich ihr das Geld mit großer Freude, denn eines Tages
würde sich das für mich sehr lohnend auszahlen. Noch einmal gab ich ihr einen Schmatz
auf die Hand und verabschiedete mich romantisch: „Guten Abend. Wünsche süße
Träume."
So trennten wir uns bis Samstag. Ich ging nach Hause. In ihrem Fenster bemerkte ich
Licht. Also trat ich auf den Balkon, nahm die Drehorgel mit und - obwohl es draußen sehr
kalt war - spielte ich einen Gute-Nacht-Walzer für sie.
So begann meine große Komsomolzen-Liebe.

30. November 1940. Vilnius.

Am nächsten Morgen wachte ich spät auf. Klar, die halbe Nacht hatte ich nicht schlafen
können. Ich hatte an meine heiße Liebe gedacht und war sehr glücklich gewesen.
Als ich also aufwachte, sah ich auf dem Tisch diesen großen Blumenstrauß liegen, den ich
meinem Engel gestern für viel Geld im Blumengeschäft gekauft hatte. Ich hatte vergessen,
ihn ihr zurückzugeben. Und sie hatte, aus Feingefühl, mich nicht daran erinnern wollen.
Sie konnte es natürlich auch vergessen haben, nach diesen zwei großen Karaffen Wodka
und den sechs Bieren. Sogar ich hatte in der Nacht mein Zimmer ein wenig beschmutzt,
weil ich zweimal kotzen musste.
Rasch kletterte ich aus dem Bett und dachte mir: „Man muss die Blumen retten, damit
sie bis Samstag nicht verwelken. Dann werde ich meine Liebste damit erfreuen."
Es gab nur leider keinen Behälter für Wasser, aber ich erinnerte mich, dass im
Bettschrank ein großer, emaillierter Topf stand. Ganz praktisch zu halten, weil er an einer
Seite einen großen Henkel hatte. „Gerade richtig!", dachte ich mir! Groß, schön und
bequem." Ohne mich anzuziehen, ging ich eilig in die Küche und füllte Wasser in das
Gefäß. Ich stellte die Blumen hinein und zeigte das alles den Lehrerinnen, die gerade in
der Küche, wo es wärmer als in den anderen Zimmern war, frühstückten. „Seht wie schön
das ist. Wir lieben Blumen sehr, weil wir eine enorm feinfühlige Nation sind."
Sie antworteten nicht. Vielleicht gefiel ihnen nicht, dass ich in Unterwäsche in der
Wohnung herum lief. So lange lebte ich nun schon bei ihnen, und noch immer konnten sie
sich ihren bürgerlichen Aberglauben nicht abgewöhnen. So eine stumpfe Nationalität!
Ich kehrte in mein Zimmer zurück und stellte die Blumen auf die Fensterbank, damit sie -
die Zarin meines Herzens - sah, in welchen Ehren ich sie hielt. Dann, als sie die Storen im
Fenster zur Seite geschoben hatte (das bedeutete, sie erwachte schon), legte ich ihr mit
der Drehorgel einen Marsch hin.
Dieses sozialistische Instrument gefällt mir sehr. Man braucht es nicht lange zu erlernen,
die Musiknoten sind überflüssig, und wenn jemand talentiert ist, kann er sich selbst und
den anderen Tag und Nacht das Leben angenehmer machen. Ja!
Es kam also der Samstag. Ich zog die neuen Schuhe an. Eine halbe Flasche des
Parfüms "Stalins Atem" schüttete ich mir auf den Kopf. Dann brachte ich beide Uhren an.
Danach ging ich mit dem Blumenstrauß zum Rendezvous mit meiner Geliebten. Lange
musste ich auf sie warten. Ich fror sogar außerordentlich, da ein starker Frost gekommen
war. Die Leidenschaft aber wärmte mich erheblich. Als meine Angebetete dann endlich
erschien, küsste ich selbstverständlich ihr Händchen und reichte ihr feierlich die Blumen.
Sie aber wollte sie nicht annehmen: „Schade, dass sie nicht in dem schönen Gefäß auf
der Fensterbank geblieben sind. Ich habe keinen Platz für die Blumen, denn meinen
Behälter, auch so schön wie deiner, brauche ich manchmal in der Nacht."
Also trug ich die Blumen in der Hand. Ganz schön sah das aus. Sie stolzierte in ihren
Stöckelschuhen und mit dem Federhut über die Straße. Ich, in Schuhen aus echtem
französischem Ziegenleder, mit zwei Uhren und dem Blumenstrauß, führte sie am Arm.
„Ich muss sie mal unbedingt zu einem gemeinsamen Foto überreden, als Nachweis
unserer Liebe. Auch darf ich nicht vergessen, meine Schuhe zu fotografieren, als Beweis,
dass, wenn ich in Zukunft wieder zurück in der Sowjetunion bin, ich sie wirklich besessen
habe.“, dachte ich bei mir.
Im Kino nahm ich für uns allein eine ganze Loge, damit sie sehen konnte, dass ich ein
“Jemand“ war. Wir setzten uns zu zweit hinein und schauten den Film an. Es lief aber
irgendein polnischer Schund. Für mich überhaupt nicht interessant. Sie dagegen lachte so
sehr, dass sich die Menschen zu uns umdrehten. Vor allem immer dann, wenn sie wieder
in Lachen ausbrechend, einen Schluckauf bekam.
In der Dunkelheit versuchte ich, sie an der Hand zu fassen. Und nichts! Sie protestierte
nicht. Ich dachte sogar daran, sie zu umarmen, erinnerte mich dann aber an die
Geschichte mit der Markthändlerin in Lida. “Wenn schon jene die Nase so hoch hielt,“
dachte ich mir, „wie würde dann diese hier reagieren? Sie könnte mir doch öffentlich in die
Fresse hauen, oder los schreien …!“ Also ließ ich es sein. In Liebessachen musste man
mit diesen Kapitalistinnen sehr umsichtig vorgehen.
Nach dem Film gingen wir ins Restaurant zum Abendessen. Wieder einmal bestellte sie
alle möglichen Verschiedenheiten, eher zu viel als zu wenig. Diesmal tranken wir vier
Karaffen Wodka. Auf diese Art und Weise verbrachten wir die Zeit sehr angenehm. Ihr
Appetit war außerordentlich, stellte ich fest. Und Wodka konnte sie besser bechern als
ich, was mich ein wenig wunderte. Es war gewiss so eine Sitte bei den Fräuleins aus den
besseren Kreisen...
Nach dem Abendbrot gingen wir heim. Das Wetter war nicht schlecht, also hatten wir
auch einen ganz angenehmen Spaziergang. Schlimm war nur, dass die engen Schuhe
sie drückten. Deshalb musste ich sie den letzten Kilometer huckepack tragen. Zum
Abschied fragte ich sie sehr ernsthaft:
„Sagt mir, ehrenwerte Irena Antonowna, ob ich irgendwelche Chancen hinsichtlich Eurer
Gefühle mir gegenüber habe?"
Sie versuchte zu antworten, aber es wurde ihr schlecht, und sie musste kotzen. Ich trat
zur Seite, damit sie meine neuen Schuhe nicht bekleckerte und wartete. Als sie sich
wieder beruhigte hatte, wiederholte ich meine Frage. Sie erwiderte:
„Zur Zeit bin ich mit Euch zufrieden. Ihr seid kein schlechter Kavalier und auch nicht sehr
geizig. Ich brauche von euch nur noch 20 Rubel zu borgen, denn es wird kalt, und am
Montag muss ich Holz für den Ofen kaufen."
Sehr gerne gab ich ihr das Geld und stellte noch einmal meine Frage. Sie darauf:
„Warum denn nicht? Schließlich bin ich doch dazu da. Jetzt aber bin ich sehr müde und
möchte schlafen. Außerdem fühle ich mich nicht sehr wohl nach diesem Abendessen."
Ich verabschiedete mich von ihr, küsste ihre Hand und wollte ihr die Blumen reichen. Sie
wehrte aber ab:
„Für die Blumen bedanke ich mich. Ich kann auch ohne sie umgehen. Sie sind bereits
welk und ein wenig unsauber. Nehmt sie mit als Andenken von mir."
Auf diese sehr romantische Art also trennten wir uns voneinander. Wir vereinbarten, am
nächsten Samstag in ein anderes Kino zu gehen. Mit einem Wort, alles war wie in einer
schönen Romanze aus einem Buch oder einem Film.
Ich ging nach Hause. Als ich das Licht in ihrer Wohnung erlischen sah, spielte ich, wie
es der Brauch war, mit der Drehorgel einen Walzer zum Einschlafen für sie. Dann - bis
zwei Uhr in der Nacht - sang ich sehr laut und sehr ergreifend verschiedene Liebeslieder.
Schließlich ging auch ich ins Bett, konnte aber lange nicht einschlafen. So grübelte ich
und kam letztendlich zu der Erkenntnis, dass die Kapitalistinnen doch besser sind als
unsere Sowjetinnen. Denn wie ist das mit den Unsrigen? Man geht mit denen ins Kino und
nach dem Kino ins Bett. Alles ist schnell vorbei. Hier aber muss man viel herum laufen, tief
seufzen, ständig Hände küssen, bevor irgendetwas passiert. So verstand ich, dass ich der
Held einer sehr romantischen Geschichte geworden war und verspürte eine große
Achtung für mich. Wenn eine so wichtige Person Gefühle für mich hegt, dann ist doch klar,
dass ich nicht irgendjemand bin. „Und wenn sie aber ohne Trauung nichts mit mir haben
will? Dann was?“ Natürlich würde ich sie heiraten. Mit dem größten Vergnügen sogar! Sie
wäre gerade die geeignete Frau für mich! All unseren Offiziere würden mich wegen einer
solchen Hauszierde beneiden. Angezogen wie ein Püppchen, schick, feinfühlig, kultiviert!
„Und Dunja?“, kam es mir in den Sinn. „Na ja, Dunja ist nichts für mich.“ Es gab auch
keine Liebe mit ihr. Hatten wir mal abends nichts zu tun, gingen wir zusammen schlafen,
wie das so üblich ist. Dann aber kam ich auf die Idee, Dunja lieber sofort Bescheid zu
geben, damit sie mich vergisst und nicht mehr auf mich wartet. Denn für mich ist sie eine
zu ordinäre Person. Also stand ich auf und machte das Licht an. Um mehr Energie zu
bekommen, spielte ich dreimal auf der Drehorgel. Dann machte ich mich sofort ans
Schreiben, denn ich fürchtete, bis zum nächsten Morgen würden mir die besten Gedanken
aus dem Kopf weg fliegen.

„Sehr geehrte Genossin Dunja Iwanowna!


Ich habe die Ehre, Euch mitzuteilen, dass in Zukunft aus unserer Liebe nichts wird und
werden kann, und ich bitte Euch, dass nicht einmal in Erwägung zu ziehen und sich
derartige Dummheiten aus dem Kopf zu schlagen.
Ich schreibe dies nach langen und ernsthaften Überlegen als harter Komsomolez und
Idealist. Ich habe nichts gegen Euch als Person, denn es ist wahr - ein bisschen hat es mir
gefallen. Wegen meiner hohen Stellung und der für die Sowjetunion wichtigen Funktionen,
kann ich aber nicht mit jeder Erstbesten vertraut sein. Es ist eindeutig, und für jeden
klugen Menschen selbstverständlich, dass für mich, einen Offizier der unbesiegbaren
Roten Armee, Ihr eine Person niederer Abstammung seid und keinerlei Kultiviertheiten
besitzt.
Ich besuche oft verschiedene feierliche Versammlungen und komme mit außerordentlich
ausgezeichneten Persönlichkeiten zusammen. Also brauche ich eine Ehefrau, die die
Ehre der Roten Armee und der Sowjetunion aufrecht erhalten könnte. Ihr dagegen könnt
nicht einmal anständig essen, weil Ihr dabei schmatzt. Ihr bewegt Euch wie die Kuh, putzt
die Nase mit dem Finger und gehört zum Lumpenarbeiterelement . Auf Grund des oben
Genannten könntet Ihr mich der Lächerlichkeit ausliefern und in meiner Person die Rote
Armee erniedrigen.
Außerdem hat mir noch etwas nicht gefallen: Ihr gehört, wie mir gut bekannt ist, zur
Familie des Morgalow, der zweifelsohne englischer Agent war, weil er in den, für die
Sowjetunion und Germanien schädlichen Nachrichten verbreitete, es sollte zu einem
Bruderkrieg zwischen ihnen kommen. Weil dieser faschistische Giftreaktionär Morgalow
und seine Familie ins Lager verschickt wurden, gehört es sich für mich nicht, mit dieser
(wenn auch einer sehr entfernten) Familie eines imperialistischen Knechts Kontakte zu
unterhalten. Als Offizier habe ich für die Ehre, einen guten Leumund und die sozialistische
Moral zu sorgen.
Angesichts all dieser Sachen bitte ich freundlich, mich ein für allemal in Ruhe zu lassen
und mich nicht mit weiteren Briefen zu belästigen. Ansonsten werde ich gezwungen sein,
die zuständigen Behörden an die weiteren Verwandten des vertierten Reaktionärs und
kapitalistischen Agenten Morgalow zu erinnern!!! Das heißt an Euch und Eure verehrte
Familie.
Ich füge kommunistische Grüße bei und verabschiede mich für immer. Kategorisch.
Unterleutnant der Roten Armee und Komsomolez-Idealist, Michail Zubow."

An die drei Mal las ich den Brief, und jedes Mal gefiel er mir besser. Man konnte gleich
sehen, dass ich eine wichtige Person war, die sich zu schätzen wusste. Erst dann atmete
ich auf, denn der Weg zur Liebe war mir frei. Danach spielte ich noch einen Walzer und
mit dem Gefühl der gut erfüllten Pflicht, legte ich mich schlafen.
Ich hätte natürlich nicht an Dunja schreiben müssen, denn sie würde sowieso nichts
über meine Romanze mit der Kapitalistin erfahren. Aber als Kommunist mag ich nicht
lügen oder verlogen handeln.

1. Januar 1941. Vilnius.

Dem großen Stalin hurra! hurra! hurra!


Dem großen Hitler hurra! hurra! hurra!
Zweimal spielte ich mit der Drehorgel einen Marsch zu Ehren der großen Führer der
sozialistischen Völker auf und jetzt mache ich mich ans Schreiben - zum ersten Mal im
neuen Jahr. Sonderwünsche habe ich nicht, denn, das kann man ruhig sagen, meine
innigsten Wünsche und Träume haben sich erfüllt. Weitere werden schon mit dem
Eingang von Bargeld planmäßig realisiert. Ich habe schon, um die Wahrheit zu sagen,
1500 Rubel zusammen geklaubt, aber ich fasse das Geld nicht an und lege jeden Monat
ein bisschen dazu. Um mich besser zu fühlen, hatte ich beschlossen, eine größere
Summe Geld anzusparen. Es geht aber sehr langsam.
Kapital zu sammeln, ist nicht so einfach, wie manche es sich vorstellen. Viel praktischer
und schneller geht es, jemandem das schon Eingesammelte zu stibitzen. Es ergab sich
aber bisher keine Gelegenheit dazu. Trotzdem verliere ich nicht die Hoffnung,
insbesondere, wenn die kluge, friedliebende Politik unseres Genossen Stalin weiter in
dieselbe Richtung und im gleichen Tempo vorangehen wird, wie seit September 1939. Ich
bin IHM für das alles sehr dankbar. Am meisten freue ich mich über dieses demokratische
Instrument, die Drehorgel.
Auch Kolka bin ich dankbar, dass er mir es verkauft hat. Nur eines gefällt mir an ihm
nicht - er ist ein verstockter Kontrik2. Eines Tages, Ende Dezember, besuchte er mich und
bot mir eine mechanische Taschenlampe zum Verkauf an. Ein schlaues Ding. Man könnte
sagen: ein Wunder der Technik. Nicht einmal Batterien brauchte man dafür. Man drückte
nur mit der Hand einen schmalen Metallgriff, und sie leuchtete. Ein ganzes
Elektrizitätswerk in einer Hand. Auch hörte es sich angenehm an, denn beim Drücken
brummte es wie ein Auto-oder Flugzeugmotor. Jedermann konnte schon von Weitem
hören, dass sich ein zivilisierter Mann näherte. Kolka sagte, es sei eine deutsche
Erfindung. Ganz sicher log er. Höchstens herstellen konnten das die Deutschen, weil
unsere Fabriken keine Zeit hatten, sich mit solchen Kleinigkeiten zu befassen. Es ist ganz
gewiss eine russische Erfindung. Das ganze Ausland lebte doch davon, dass es unsere

2 Russische Abkürzung für einen Konterrevolutionär


Erfindungen klaute und ausnutzte.
Und genau das sagte ich Kolka auch, aber der lachte nur. Ein bisschen erinnert er mich
an den Lipa aus Lida, nur viel feiner, und er redet kein konterrevolutionäres Zeug. Also
fragte er mich:
„Was habt ihr denn so erfunden, und was hat euch das Ausland geklaut?"
Ich zählte wahrheitsgemäß auf:
„Alles, die Elektrizität, das Radio und den Telegraf. Flugzeuge, Lokomotiven, U-Boote,
das Telefon. Ich kann dir Beweise zeigen. Darüber wird in Büchern geschrieben."
Er brüllte vor Lachen so los, dass es mich irgendwie peinlich berührte, dass ein so
schlauer und durchaus anständiger Mann so unaufgeklärt und durch kapitalistische
Propaganda geblendet werden konnte. Dann erklärte er:
„Wenn du mir nicht böse wirst, kann ich dir sagen, was ihr erfunden habt."
„Gut!", antwortete ich. „Ich höre."
„Nur zwei Sachen. Die eine ist der Samowar. Und die andere - das Dampfbad. Dabei
seid ihr nicht einmal die Ersten gewesen, denn den Samowar haben die Chinesen
erfunden, noch bevor es Russland überhaupt gab. Und das Dampfbad war auch im Osten
und bei den Römern schon vor ein paar Tausend Jahren bekannt."
„Man könnte also glauben, bei uns gäbe es gar nichts Gutes."
„Wieso denn nicht? Ihr habt gute Propaganda. Die beste der Welt. Ich habe schon viele
eurer Bücher gelesen, mich an euren Filme satt geguckt, Lieder über eure Freiheit gehört,
sogar aus Polen nach Russland fliehen wollte ich mal. Aber als ihr hierher gekommen
seid, als ich gesehen habe, was ihr habt und wie ihr so seid... Wenn ich wüsste, dass ihr
für immer hier bleiben werdet, würde ich mit Sicherheit fliehen. Egal wohin, sogar zu den
Schwarzen in Afrika. Ich weiß, dass du das nicht verstehen kannst und sogar Angst hast,
dir das anzuhören. Es ist aber so. Du selbst denkst heute schon anders, fürchtest dich
aber, das laut zu sagen."
Seine Worte erschreckten mich nicht allzu sehr, weil ich schon aus Erfahrung wusste,
dass die Polen immer über solche politisch verdächtigen Themen redeten und es den
Behörden nicht anzeigten. Es betrübte mich nur, dass ein so netter Mann in kultureller
Hinsicht so schrecklich rückständig sein konnte. Lange wollte ich mit ihm über diese Dinge
nicht reden, ich glaubte, mit der Zeit würde auch er sich noch aufklären lassen und fragte
nur:
„Sag mal: Wenn es sich in eurem kapitalistischen System so gut lebt, warum haben
dann eure Arbeiter immer wieder Streiks veranstaltet?"
„Damit", antwortete er, „es sich ihnen noch besser lebte. Bei euch dagegen kann man
vor Hunger und Überarbeitung krepieren, streiken darf man aber nicht."
„Na klar.", wandte ich ein. „Wir haben eine Arbeiter-und-Bauer-Regierung, wie sollten wir
denn gegen uns selbst streiken? Das wäre, als wenn sich jemand selbst in die Fresse
hauen, oder seine eigenen Sachen zerstören würde. Die Bauern und Arbeiter bei uns
verstehen das gut. Und wenn bei uns noch nicht alles gut läuft, dann nur deswegen, weil
die ausländischen Kapitalisten eine große Sabotage veranstalten und immer wieder
unsere Arbeit stören."
„Ihr seid ein so erstaunliches Land!“, sagte Kolka. „Wenn man eure Zeitungen liest, dann
gibt es bei euch weder Streiks noch Raubüberfälle, noch Diebstähle und auch keine Bahn-
oder Flugkatastrophen. Die Bauern und Arbeiter arbeiten sogar an den Festtagen
bereitwillig und schaffen zwei oder mehr Normen. Alles funktioniert fantastisch. Und dabei
habt ihr weder zu essen, noch etwas anzuziehen, oder einen Platz zum Wohnen. Als ihr
hierher gekommen seid, habt ihr euch auf die Kaufläden gestürzt wie die Fliegen auf
Honig. Ihr habt alles weg gekauft, was es zu kaufen gab."
Ich versuchte, ihm die Sache zu erklären, merkte aber schnell, dass es nicht
funktionierte. Es war schon zu spät. Der Mann war durch die kapitalistische Propaganda
verdorben und außerstande, etwas zu verstehen. Bei ihm konnte ich mich zum
wiederholten Mal davon überzeugen, dass die Menschen in den kapitalistischen Ländern
für immer für die echte, sowjetische Kultur verloren sind. Sogar Kinder sind hier von
kapitalistischem Gift und Verlogenheit durchtränkt.
Eines Tage diskutierte ich mit Kolka über die großen Erfolge der unbesiegbaren Roten
Armee, die niemals und nirgendwo bezwungen wurde. Er dagegen stellte fest:
„Es ist nicht so, wie du es erzählst. Ich selbst war 1920 an der Front und habe euren
Heldentum gesehen. Ihr seid vor Warschau so schnell geflüchtet, dass man euch nicht
einholen konnte."
Ich lachte nur herzlich: „Soll das bedeuten, die Polen haben uns 1920 besiegt?"
„Hier gibt es nichts zu bedeuten. Es ist eine historische Tatsache, die die ganze Welt
kennt."
„Aber welche Welt? Die kapitalistische! Ich aber kann dir die ganze Wahrheit erzählen,
wer uns 1920 besiegte und dadurch die Befreiung Polens und Europas aus der
kapitalistischen Tyrannei verhinderte."
„Das würde mich sehr interessieren!“
„Dann hör zu: Besiegt haben unsere Rote Armee nicht eure Soldaten und Generäle oder
Gewehre und Kanonen, sondern ein einziger Mann!"
„Du meinst sicher Pilsudski?"
„Ach wo, euer Pilsudski!"
„Also wer?"
„Trotzki!"
„Trotzki?"
Er starrte mich an und glaubte sicherlich, ich wäre verrückt geworden, denn er lachte
nicht einmal, sondern beobachtete mich nur.
„Ja, Trotzki!", wiederholte ich. „Und geholfen hat ihm Tuchatschewskij. Ich kann dir
gleich einen Beweis zeigen."
„Na...", sagte Kolka, "Ich glaube, du hast tatsächlich einen Beweis. Denn ich fürchtete
schon, du wärst übergeschnappt und würdest gleich beißen."
„Sofort kriegst du einen Beweis.“
Ich nahm aus dem Regal die “Geschichte der kommunistischen Partei der Sowjetunion
( Bolschewiki )“. Genehmigt 1938 durch das Zentralkomitee der kommunistischen Partei
der Sowjetunion (b), herausgegeben vom OGIZ-Verlag. Ich fand Kapitel VIII, Paragraph 4,
und las vor:
„Aber verdächtige Handlungen Trotzkis und seiner Anhänger im Generalstab der Roten
Armee führten zum Abbruch der Erfolge der Roten Armee...
Auf diese Weise zwang der verräterische Befehl von Trotzkis Streitkräften, unsere
Südfront zum nicht zu verstehenden und durch nichts zu begründenden Rückzug - zur
Freude der polnischen Herren.
Es war eine indirekte Hilfe, aber nicht für unsere Westfront, sondern für die polnischen
Herren und die Ententa." 3
Kolka hörte sich das alles an, schaute mich dann lange an und fragte:
„In welchem Jahr wurde das Buch durch das Zentralkomitee genehmigt?".
„1938."
„Also!", sagte er. „Du bist noch jung. Vielleicht wirst du noch lange leben. Ich habe die
Hoffnung, dass in 20 Jahren in dem gleichen Buch, aber in einer anderen Ausgabe,
stehen wird, dass, wenn die Rote Armee irgendwo von irgendjemandem Prügel bezogen
hat, dann nur deshalb, weil Stalin kapitalistischer Agent war und einen Sieg verhinderte."
Dann stellte ich ihm eine andere Frage:
„Glaubst du an euren Gott, den mit dem Vollbart?"
„Ja!", entgegnete Kolka. „Lieber glaube ich an unseren Gott mit Vollbart als an euren mit

3 Den Text übersetzte ich aus dem oben genannten Buch ( Seite 230 und 231 ),
herausgegeben 1945 von OGIZ - der Autor.
Schnurrbart."
„Also", sagte ich, „was für euch euer Gott ist, ist für uns Stalin! Und solche Sachen
erzähl du mir lieber nicht, denn sonst werden wir uns für immer verabschieden müssen.
Ich hoffe aber, dass auch du eines Tages durchblicken und alles verstehen wirst."
Und er darauf:
„Was dich betrifft, habe ich solche Hoffnung nicht."
Damit beendeten wir unser Gespräch. Es ist aber geradezu erstaunlich, wie die
kapitalistische Propaganda einen Menschen verblenden kann! Nicht einmal Beweise und
Fakten können dagegen helfen. Heute zum Beispiel las ich in der Neujahrsausgabe der
Wochenzeitung “Ogoniok“ einen großen, schön geschriebenen Artikel über die Lage in
Europa. Der Titel: Europas Nacht. Autor des Artikels ist der weltbeste Schriftsteller Ilja
Ehrenburg. Sehr schön beschrieb er das in den kapitalistischen Ländern herrschende
Elend. Zwar kennen wir das alles sehr gut aus Presse, Radio und Büchern. Es sind aber
sozusagen die neuesten Nachrichten. An einer Stelle schreibt er:
„... Nicht einmal der römische Papst isst die beliebten Makkaroni. Strümpfe tragen sie dort
aus Glas und Hüte aus menschlichem Haar. Kaffee trinken sie aus Pferdeinnereien."
Zum Schluss stellte er fest, dass wir „...mit Zähnen und Klauen unsere glückliche Insel in
diesem Ozean von Elend und Unterdrückung verteidigen werden!" Ja. Wenn nötig,
müssen wir mit allen Mitteln für unsere Freiheit und Wohlstand kämpfen. Den Artikel
werde ich behalten und Kolka zeigen. Er ist zwar ein Kontrik, aber ein sehr netter Kerl. Nur
seine Verblendung ist schrecklich! Vielleicht lässt sie sich aber mit der Zeit heilen. Denn
die Sowjetunion hat so viel in sich, dass sie es fertig bringt, auch den schlimmsten
Gegnern die Augen zu öffnen. Es ist aber schon erstaunlich, dass diese Polen nicht eine
solch einfache Wahrheit begreifen können: Dass nur Stalin und Hitler, diese zwei großen
Freunde, die Menschheit vor den Engländern und Amerikanern retten können... vor deren
Eroberungsgier, Terror und unmenschlicher Ausbeutung.
Meine Romanze mit Irka entwickelt sich planmäßig. Obwohl es draußen frostig ist, bleibt
unsere Liebe heiß. Wir sind ineinander für die Ewigkeit verliebt. Wir gehen gemeinsam ins
Kino, zum Wodka in verschiedene Kneipen, und auf diese romantische, nette und
elegante Art verbringen wir die Zeit. Ich vermute, irgendwann wird etwas daraus. Sogar sie
zu ehelichen, wäre ich bereit. Ich weiß nur nicht, ob sie mich zivil heiraten möchte. Also
bin ich sehr vorsichtig. Sie sollte sich zuerst an mich gewöhnen, erst dann werde ich ihr
feierlich einen Antrag machen.
Ich vermute, auch sie liebt mich innig, aber als ein, im kapitalistischen Aberglauben
erzogenes Fräulein, schämt sie sich, mir das zu sagen. Geld nahm sie aber schon viel von
mir. Anfangs genierte sie sich ein bisschen, dann aber fasste sie Vertrauen und zuletzt
borgte sie sich sogar 50 Rubel. Zurückgegeben hat sie mir noch nichts. Vielleicht ist sie
zur Zeit nicht gut bei Kasse, oder sie vergisst solche Kleinigkeiten einfach. Und ich freue
mich umso mehr, weil ich dadurch immer sicherer werde, dass mir mein Engel nicht
entschlüpfen wird. Sogar einen Wintermantel für 120 Rubel habe ich ihr gekauft. Es lebe
die Liebe!

27. März 1941. Vilnius.

Der Frühling ist wiedergekommen. Wieder freiheitlich und ohne Zwang singen die Vögel,
zum Ruhm der kommunistischen Partei und des Genossen Stalin. Mich freut das aber
nicht mehr. Mein Herz ist für immer gebrochen! So viel Aufopferung und Hingabe, so viel
Zeit habe ich unnötigerweise verloren. Und am ärgerlichsten ist dabei der große
Geldverlust. Denn meine gehörig polierte Fresse rechne ich nicht als Verlust mit.
Längere Zeit konnte ich nicht mehr schreiben, weil mich das Beweinen meiner großen
Liebe zu stark in Anspruch nahm. Jetzt habe ich mich ein bisschen beruhigt und kann alles
von Anfang an der Reihe nach erzählen. Vor allem stelle ich offiziell und kategorisch fest,
dass meine Romanze mit Irka ein für allemal beendet ist. Ja. Beendet und basta! Es stellte
sich heraus, dass sie gar keine Person aristokratischer Abstammung, sondern ein ganz
normales Straßenmädchen war, und dass sie vor dem Krieg das “schwarze Buch“ hatte.
Sie war also eine kontrollierte Jungfrau, die auf die kommunale Art die Liebe betrieb.
Und als Nachweis, wie ich mich für dieses Luder aufgeopfert habe, können meine
goldenen Zähne dienen, die ich mir, um ihr zu gefallen, habe einsetzen lassen.
Es fing so an: Wir saßen beide im Restaurant, tranken auf die kultivierte Weise Wodka
und aßen als Imbiss Schweinewurst mit Kohl. In einer Raumecke stand ein Piano, auf dem
irgendein Individuum kapitalistischer Abstammung sehr laut hämmerte. Ein anderes
Früchtchen versuchte, noch lauter Geige zu spielen, um den Ersten zu übertönen. Im
Ganzen war es sehr angenehm dort, bis ich plötzlich bemerkte, dass der Geiger Irka
zuzwinkerte und sie dreist anlachte. Sie lachte zurück und führte mit ihren Augen öffentlich
Unanständiges auf. Also sagte ich sachlich:
„Wenn man in der Gesellschaft eines Mannes sitzt, der die Zeche bezahlt, und dem man
seit langer Zeit den Kopf verdreht, dann gehört es sich nicht, einen Anderen zu bezirzen
und ihm schöne Augen zu machen."
Sie erwiderte:
„Aber der Kerl interessiert mich gar nicht. Ganz im Gegenteil. Du irrst dich sehr."
Darauf ich: „Ich habe eure Verständigungszeichen bemerkt und bin sehr beleidigt."
Sie dagegen:
„Es gab keine Verständigung, mir haben nur seine goldenen Zähne gefallen. Sie glänzen
so schön bei diesem elektrischen Licht. Ich habe sie mir nur angeschaut. Und du musst
gleich Ärger suchen."
Ich guckte genauer hin.Tatsächlich hatte der Geiger vorne oben zwei goldene Zähne
sitzen. Sehr hübsch sahen sie aus. Also beruhigte ich mich und bewunderte sie selbst.
Auch 5 Rubel schickte ich ihm herüber, damit er noch einmal die "Wolga" spielte.
Also nichts. Wie immer brachte ich Irka nach Hause und ging am nächsten Tag in die
Stadt, um einen Zahnarzt zu suchen. Als ich dann einen fand, fragte ich ihn, ob er mir
goldene Zähne einsetzen könne. Er befahl mir, das Maul aufzureißen, guckte sich die
Zähne an und stellte fest:
„Alle euren Zähne sind in einem schlechten Zustand. Einige müsste man entfernen,
andere ließen sich ausheilen und nachher plombieren, auf manche könnte man Kronen
setzen."
Ich verstand: Der Zahnarzt war begriffsstutzig, also erklärte ich sachlich:
„Mir geht es nicht ums Heilen und Entfernen. Ich will nur vorne zwei Zähne eingesetzt
bekommen - wegen der Schönheit. Was würde das kosten?"
„Wozu braucht Ihr das?", wollte er wissen. „Die Vorderzähne sind doch gesund."
„Gesund oder nicht gesund, bitte entfernen und goldene einsetzen."
„Wenn ihr vorne goldene Zähne haben wollt, dann brauche ich die alten gar nicht zu
entfernen. Ich muss nur Kronen aus Gold aufsetzen. Jeder Krone kostet 20 Rubel."
Ich ließ den Zahnarzt vier goldene Kronen machen. Dieser Geiger hatte zwei, ich wollte
vier haben. Wird das aber schön sein!
Mehrere Tage lang quälte mich der Zahnarzt. Er beraspelte mir die Zähne, nahm Maß
mit Wachs oder Ähnlichem und setzte die Kronen auf die Zähne. Das Endergebnis sah
fantastisch aus. Ich konnte mich im Spiegel gar nicht satt daran sehen. Ab da fing ich an,
damit die Leute meine Zähne sehen konnten, auf der Straße immer laut zu lachen. Wäre
ich weniger geizig gewesen, hätte mir der Zahnarzt alle Zähne aus Gold machen können.
Dann kam endlich der Rendezvous-Tag. Als ich Irka sah, grinste ich sie breit und lang
an, bis sie schließlich fragte:
„Was ist mit dir passiert?"
„Nichts. Für die Schönheit habe ich mir goldene Zähne einsetzen lassen."
„Schade ums Geld. Es wäre besser gewesen, du hättest es mir für die Fellstiefel
geliehen, denn in den Schuhen ist mir zu kalt."
„Was kosten die Stiefel?"
„30 Rubel."
Ich gab ihr 30 Rubel, und wir gingen ins Kino. Alle Wünsche dieser kapitalistischen
Schlange befriedigte ich. Und beendet wurde unsere Romanze folgendermaßen: Sogar
den Tag als es passierte, weiß ich noch, der 4. März. Wir vereinbarten schon vorher, dass
wir den “Kaziuk“ besuchen würden. So nennen die Polen irgendein Fest und
Volksjahrmarkt. Wir trafen uns vor dem Haus, wo Irka wohnte und gingen. Angezogen
waren wir so manierlich wie es besser nicht gehen würde. Gleich hinter der Grünen
Brücke begegneten wir einer ganzen Menge von Wagen, Menschen und Marktbuden.
Hinter dem Lukiski-Platz war es schwer, sich durch zu drängen. Es war aber lustig und
angenehm.
Diese Polen waren ein reiches Volk. So viele wonnige und kostbare Sachen gab es dort,
es wäre schwer, sie alle aufzuzählen. Ich würde an die hundert Seiten Papier brauchen,
um alles zu beschreiben.
Wir schlenderten also feierlich umher. Ich glänzte mit meinen goldenen Zähnen. Die
ganze Zeit, kann man sagen, machte ich das Maul nicht zu. Die Uhren zeigte ich deutlich,
ich wie es sich gehört. Und was das Parfüm angeht: Keiner auf dem Marktplatz duftete so
wie ich. Irka fand immer wieder Gefallen an irgendwelchen Sachen. Also kaufte ich ihr mal
dies, mal das. Tragen musste ich die Einkäufe zudem auch und hatte die Hände
entsprechend voll davon.
Plötzlich bemerkte ich, dass Irka weg war. Ich schaute dort und da, konnte sie aber nicht
finden. Dann jedoch sah ich von Weitem die Feder an ihrem Hut. Also drängte ich mich mit
ganzer Kraft zu ihr durch. Und sah meine Liebste mit drei unserer Offiziere zusammen
gehen und lachen, sehr fröhlich sogar. Zwei führten sie an den Händen, und der dritte
betätschelte sie von hinten auf unanständige Weise. Sie protestierte noch nicht einmal. Ich
näherte mich also und sagte mit einem sehr offiziellen Gesichtsausdruck:
„Irka, wir wollen weiter gehen. Verabschiede dich von den Kavalieren."
Einer der Offiziere, anscheinend ganz schön angetrunken, kam auf mich zu:
„Was soll denn das, Genosse, hast du ein Monopolrecht auf sie?"
„Ein Monopolrecht nicht.", entgegnete ich. „Ich bin aber ein großer Freund von ihr."
„Ein so großer auch nicht.", mischte sich ein anderer Offizier ein. „Ohne Lupe schwer
aufzuspüren. Außerdem zieht das Fräulein unsere Gesellschaft vor, also bitte, lass uns in
Ruhe."
Ich war das leere Geschwätz mit Betrunkenen Leid, fasste Irka an der Hand und zog sie
auf meine Seite: „Komm schon, sonst werde ich dir böse sein. So was tut man nicht."
Sie aber lachte nur: „Wie kann ich denn mit dir gehen, wenn sie mich an den Händen
festhalten?"
Ich wandte mich sehr ernsthaft an die Genossen Offiziere:
„Bitte lasst das Fräulein in Ruhe, es ist doch nicht schön so!"
Einer von ihnen stieß mich zur Seite. Ein anderer sagte:
„Wenn es dir nicht schön ist, dann suche dir was Schöneres. Wir sind mir ihr zufrieden.
Und lass uns in Ruhe, du Vieh, sonst werden wir dich los lassen."
Ich aber verstellte ihnen den Weg und zerrte Irka zu mir. Daraufhin versetzte mir einer
von ihnen einen Fausthieb aufs Ohr. Das konnte ich nicht dulden. Mit dem Kaziuk-Herz,
auf dem in Glasur LIEBE MICH geschrieben stand, haute ich ihm in die Fresse. Und
einem anderen wiederum pfefferte ich mit dem Brezeln-Kranz auf die Zähne. Daraufhin
schnappte sich einer von ihnen einen Trog vom Verkaufsstand und schlug damit auf mich
ein, worauf ich nach einem Zuber griff und damit auf ihn eindrosch. Und so ging es aufs
Ganze.Irgendwelche Zivilisten mischten sich ebenfalls ein und fingen an, auf uns alle
einzuprügeln. Einer rammte uns immer wieder mit seinem Kopf an und schrie: „Schlagt die
Iwans, es hat angefangen."
Es kamen aber viele unserer Jungs angelaufen, und wir begannen, jeden und alles, wie
es sich traf, in die Mangel zu nehmen. Eine Menge Verkaufsstände, Tische, sogar
Pferdewagen stürzten wir dabei um. Ein unbeschreibliches Tohuwabohu war entstanden.
Es wäre schwer zu beschreiben, was da überhaupt geschehen ist. Ich war sowieso derart
zusammen geprügelt worden, dass mir die Augen anschwollen, und ich fast nichts mehr
sehen konnte.
Das ganze Missverständnis wurde erst durch Militärpatrouillen beendet, die uns alle,
unter Eskorte, bei der Kommandantur ablieferten. Die dort konnten nicht einmal verstehen,
worum es überhaupt ging. Wer hatte angefangen? Denn, es versteht sich von selbst, dass
weder die drei Offiziere noch ich verrieten, dass die Prügelei mit uns den Anfang
genommen hatte. Und Irka war verschwunden. Von den anderen Jungs erfuhr ich, dass
sie eine kommunale Jungfrau war, die für die Liebe billig verlangte, weil sie ziemlich alt
und eher hässlich war. Ich wurde freigelassen.
Zu Hause sah ich mich im Spiegel an und wurde vom Schrecken erfasst. Die Augen
schwarz angelaufen, die Nase geschwollen, der Kopf voller Beulen. Was aber ein
kleineres Problem war, das würde schon alles wieder heilen. Der Anzug aber war ernsthaft
zerrissen und verschmutzt, die Schuhe völlig zerkratzt. An einem Schuh war die Spitze
ganz zerknittert, und die Fasson ging verloren. Außerdem war die Taschenuhr
verschwunden. Mit einem Wort, ich erlitt einen schrecklichen Verlust.
Ein paar Tage lang versuchte ich, Irka auf der Straße abzufangen, damit sie mir alles
erklärte und das Geld, das ich für sie ausgegeben hatte, zurück gab. Als ich sie nach ein
paar Tagen endlich erwischte, fragte ich:
„Ich will wissen, worum es ging!"
Und sie darauf hin:
„Es ging darum, dass du das ganze Durcheinander und den Krach verursacht hast!"
„Warum hast du mich verlassen und bist mit diesen Offizieren gegangen?"
„Weil es mir so gefallen hat. Ich bin nicht deine Ehefrau und kann machen, was ich will!"
„Wenn das so ist", sagte ich, „dann gib mir den Mantel, die Stiefel und das Geld zurück,
was ich dir geborgt habe."
Und sie darauf:
„Das wirst du nie wieder zu sehen bekommen. Ich habe meine Zeit mit dir vergeudet,
also habe ich mir eine Belohnung verdient. Und jetzt will ich dich nie wieder sehen, geh
weg!"
An dieser Stelle fügte sie noch einige Worte hinzu, die ich als kultivierter Mann weder
wiederholen noch aufschreiben möchte. Dazu zeigte sie mir noch den Stinkefinger:
„Das kannst du kriegen, du Idiot! Solltest du mich weiter anmachen, werde ich dich für
diese Hetze auf dem Jahrmarkt in den Knast werfen lassen. Dann werde ich direkt in die
Kommandantur gehen und meinem Freund, Major Pawluschka Slinnikow, alles über dich
erzählen. Er wird sich deiner schon annehmen, du Schuft. Außerdem bin ich für dich keine
Irka, sondern Irena Antonowna!"
Mir wurde kalt, als ich das hörte. Denn Slinnikow war ein erstklassiger Schweinehund
und richtete schon viele Jungs zu Grunde. Also sagte ich:
„Irena Antonowna, Ihr solltet euch schämen. So viele Geschenke habe ich Euch
gemacht. So viel Geld! Immer habe ich die Hand geküsst. Und Ihr wollt mich dafür
vernichten, meinen Untergang herbeiführen?"
Worauf sie antwortete:
„Nichts werde ich ihm sagen. Der Teufel soll dich holen! Lass mich aber in Ruhe, du
Parfüm-stinkendes Schwein. Nur ein Strolch verlangt von einem Mädchen Geld fürs
Vergnügen zurück!"
Sie spuckte direkt auf mich und ging weg. Ich spuckte auch - nachdem hinter ihr die
Haustür zugeknallt war. Auch mit der Faust drohte ich ihr. „Ah, wäre nicht Slinnikow,
würdest du schon für mein geschädigtes Vermögen, meine Offiziers-Ehre und das
gebrochene Herz auf die Schnauze kriegen!"
So endete meine große Liebe. Es war eine Lehre für mich. Und so verlor ich für immer
jegliche Lust auf Romanzen mit Kapitalistinnen. Unsere Sowjetinnen sind doch
unvergleichbar besser und billiger. Also beschloss ich - und gab mir das feste
Komsomolzen-Ehrenwort - , dass ich mich nie wieder mit Kapitalistinnen einlassen würde.
Das Einzige, was mich in meinem Unglück ein bisschen tröstete, war, dass Hitler sehr
erfolgreich London bombardierte - für das Wohl des Proletariats und zum Ruhme der
kommunistischen Partei.

15. Juni 1941. Vilnius.

Lange habe ich nicht mehr geschrieben, weil das tragische Ende meiner Romanze mit
der euch schon bekannten, elenden und hinterhältigen Person, mich sehr traurig machte.
Nicht einmal ihren Namen will ich mehr nennen. Es geht mir nicht um die Liebe. Die
akkurat verdroschene Fresse zählt auch nicht mehr, denn die Beulen und blauen Flecken
verschwinden schon. Als Komsomolez-Idealist aber kann ich große Verluste nicht
verzeihen. So viel Geld steckte ich in diese kapitalistische Pest und trug keinen Nutzen
davon. Bis zum Lebensende werde ich meine Taschenuhr nicht vergessen, die, während
ich auf dem Marktplatz um das Herz meiner Dame kämpfte, irgendein Reaktionär
heimtückisch aus meiner Hosentasche zog. Das Einzige, was mich noch tröstet, ist die
Drehorgel, also spiele ich sie tagelang.
Da ich wegen Irka das Vertrauen zu den Polen ganz verloren habe, behandele ich die
Lehrerinnen sehr scharf. Maria Iwanowna spreche ich jetzt mit: „Du kapitalistisches
Schwein!", an. Sie sollen den harten Charakter des sowjetischen Offiziers kennen lernen.
Ich überlege mir sogar, ob ich nicht anfangen sollte, ihnen in den Hintern zu treten und in
die Fresse zu hauen. Ich mag die Bourgeoisie und die Reaktionären nicht. Andererseits
aber freut mich der Umstand sehr, dass - wie ich bemerkt habe - das Leben der
Lehrerinnen immer hungriger wird. Sie bekommen ihre Renten nicht und haben somit kein
Geld. Maria Iwanowna, da jünger und mutiger, trägt jede Woche irgendwelche
Haussachen und Kleiderreste zum Markt, um sie dort zu verkaufen. Aber wenn alles
verkauft ist, werden sie ganz sicher vor Hunger krepieren. Es ist sehr angenehm, Brötchen
mit Wurst zu essen und zu sehen, wie die Bourgeoisie hungert.
Das Wichtigste aber passierte gestern, das heißt: am 14. Juni. Dieser freudige Tag wird
für immer in meinem Gedächtnis bleiben. Eben gestern wurde damit angefangen, die
Stadt aufzuräumen und von der Bourgeoisie zu säubern. Ich bemerkte das gleich früh am
Morgen, denn in solchen Sachen kenne ich mich ein bisschen aus. Ich sah aus
verschiedenen Richtungen der Stadt leere Lastwagen, begleitet von einer Eskorte
kommen. Gleich in der Frühe waren sie planmäßig in die entsprechenden Stadtreviere
gefahren und hatten mit der Liquidierungsarbeit angefangen, indem sie anhand
vorbereiteter Listen die Bourgeoisie in die Autos verluden.
Ein sehr lustiges Schauspiel wurde dargeboten. Nicht einmal im Theater lachte ich
solche Tränen. Die Kapitalistinnen weinten, schleppten Kinder und Kisten. Die Kapitalisten
luden Koffer und Säcke auf die Laster auf. Es wurde aber nur erlaubt, einen Teil der
Sachen mitzunehmen, und das noch nicht einmal allen. Unsere Adler vom NKWD zeigten
sich mal hier, mal da, kontrollierten und leiteten die Arbeit. Dann, voll gestopft mit
kapitalistischem Fleisch, fuhren die Lastwagen zum Bahnhof. Dort warteten schon die
Echelons auf die teuren Gäste. Einen guten Dünger wird die russische Erde kriegen.
Absichtlich begab ich mich in die Stadt, um zu genießen, wie geschickt unsere
sozialistische Macht die reaktionären Elemente liquidierte. Ich konnte mich persönlich
überzeugen, dass die Stadt sehr fachmännisch gesäubert wurde. Die Autos flogen nur so
zum Bahnhof und zurück. Und in den Autos hockten allerlei Kapitalisten. Frauen und
Kinder weinten und riefen den noch Zurückbleibenden etwas zu. Aus einem Lkw rief ein
elender Reaktionär: „Noch ist Polen nicht verloren!" Ich bereute, dass ich meine Pistole
nicht dabei hatte, um dieses kapitalistische Maul mit einer Kugel zu stopfen. So rief ich nur
zurück: „Polen ist schon verloren, und ihr werdet schnell krepieren!"
Ich sah nur wenige Polen auf den Straßen. Sie waren irgendwie leer. Von unseren
Jungs aber wimmelte es nur so. Sie hielten sich vor Lachen den Bäuche, die Liquidierung
der verbrecherischen Elemente beobachtend. Bei jedem vorbeifahrenden Auto pfiffen sie.
Mit einem Wort, sie vergnügten sich sehr angenehm.
Ich kam nach Hause zurück. Im Flur sah ich zur Reise vorbereitete Sachen stehen. Die
Lehrerinnen machten sich schon für den Transport bereit. Ich traf Maria Iwanowna und
fragte:
„Euer Durchlaut verreisen, wie ich sehe. Gewiss nach London. Aber auch dort werden
Euch Hitlers Bomben aufspüren."
Sie antwortete nichts. Also sprach ich weiter:
„Ich werde keine Träne wegen euch verlieren. Ich kann euch sogar auf dem Weg einen
Marsch spielen."
Ich ging in mein Zimmer, trug die Drehorgel auf den Balkon und wartete. Sobald ich ein
mit den Polen beladenes Auto sah, winkte ich ihnen zu und spielte Marschmusik. Auf
diese lustige Weise verbrachte ich so die Zeit.
Warum eigentlich wurden die Lehrerinnen nicht abtransportiert? Erzählten mir doch die
Jungs, dass unsere Stadt von der Bourgeoisie gründlich gereinigt würde. Als erstes
wurden die hiesigen Kommunisten verschleppt, denn, wie jeder weiß, sind sie entweder
Trotzkisten oder Schlauberger, die sich unter dem edlen Namen "Kommunisten"
verstecken. Damit kennen wir uns gut aus! Danach kamen die Arbeiterführer an die
Reihe, damit sie keine Streiks oder staatsfeindliche Hetze veranstalteten. Ich bin mir aber
sicher: Auch die Lehrerinnen werden nicht in Vergessenheit geraten. Ich werde noch eine
Weile warten, dann gehe ich zum NKWD, um die Behörden an die reaktionären Schlangen
zu erinnern.
Währenddessen legte auch Hitlerchen, der Liebe, die Hände nicht in den Schoss, blieb
nicht untätig, sondern schmiss die Bomben über London nur so herunter. Mit einem Wort:
Die Arbeit ging schön und planmäßig weiter - zum Ruhme des Proletariats und zur
Festigung des Sozialismus!

22. Juni 1941. Vilnius.

Ein großes Durcheinander habe ich im Kopf und glaube, dass ich für immer verloren bin.
Ich habe keine Ahnung, was zu tun ist.
Ich ging auf der grünen Brücke spazieren. Der Tag war schön, warm. Die Sonne schien.
Plötzlich hörte ich das Brummen der Flugzeuge. Es war ein gutes Gefühl zu wissen, dass
unsere Adler Wache für die Sowjetunion hielten. Die Flugzeuge aber begannen, einen
Sturzflug auf die Brücke auszuführen. „Die führen Manöver durch", dachte ich mir. Aber
gleich danach hörte ich Detonationen. Wasser spritzte aus dem Fluss hoch, und Balken
der Flussfähren flogen wie Streichhölzer durch die Luft. „Oho!", dachte ich mir. „Das sind
nicht unsere Manöver, sondern eine feindliche Aktion. Sie wollen unsere Brücke
zerstören."
Die Menschen liefen verschreckt herum, jeder versteckte sich, wo er nur konnte. Auch in
der Ferne waren Explosionen zu hören. Rauch stieg empor. Brände waren zu sehen. Ich
verstand, dass die Engländer einen Luftangriff auf die Stadt ausführten. Unser liebes
Hitlerchen hatte offenbar nicht bemerkt, wie sie über Deutschland hinweg flogen. Und jetzt
schlugen sie, diese miesen Faschisten, gegen unsere Sowjetunion! Sie hatten den
Moment ausgewählt, in dem wir damit beschäftigt waren, die Polen zu verschleppen.
Vielleicht machten sie das absichtlich und wollten als Faschisten den polnischen
Faschisten zu Hilfe kommen. Das aber würde nicht ungestraft bleiben. Ich selbst schoss
dreimal aus der Pistole auf ein Aeroplan und muss getroffen haben, weil ich sah, wie es in
der Luft wackelte.
Der Angriff war inzwischen zu Ende. Ich kroch aus dem Loch, wo ich mich vor
Bombensplittern versteckt hielt, und lief nach Hause. Unterwegs rief mir ein Soldat zu:
„Die Deutschen bombardieren die Stadt!"
„Du Idiot! Engländer, nicht Deutsche!", rief ich zurück.
Zu Hause waren die Lehrerinnen gerade damit beschäftigt, die Fenster zu schließen, die
sie vorher geöffnet hatten, damit die Scheiben auf Grund der Detonationen nicht hinaus
flogen. Ich machte die Tür zu meinem Zimmer auf und sah: Keine einzige Scheibe in den
Fenstern. Ich ging also zu den Lehrerinnen und fragte:
„Meine liebe Maria Iwanowna, was ist denn hier los?"
„Wissen Sie das denn noch nicht?"
Ich brüllte sie nicht einmal für das „Sie" an und unterhielt mich dann mit dieser Pest
höflich weiter:
„Ich weiß nichts Genaueres. Ich vermute nur, die Engländer haben einen Luftangriff auf
Wilno gemacht."
Mit Absicht sagte ich nicht Vilnius, sondern Wilno, um die Kapitalistin zu beschwichtigen.
Und sie schaute mich an. Und wie sie mich anschaute. Als ob mir plötzlich Hörner aus
dem Kopf gewachsen wären. Dann sagte sie:
„Wo denn Engländer! Die Deutschen bombardieren die Stadt und beginnen mit einer
Offensive."
„Was für Deutsche?"
„Na Deutsche, Hitler-Deutsche. Das wissen Sie auch nicht?"
„Und Hitler und Stalin haben das zugelassen?! Gibt es denn Hitler nicht mehr?"
„Gerade Hitler hat den Krieg gegen euch angefangen."
Ich spürte, wie mir schwarz vor Augen wurde, im Kopf rauschte es nur. Ich stützte mich
gegen die Wand, denn sonst wäre ich auf den Boden gestürzt. Aber Maria Iwanowna holte
mir kaltes Wasser zum Trinken. Erst in meinem Zimmer kam ich wieder zu mir. Ich legte
mich aufs Bett und lag an die zwei Stunden lag bewegungslos da. Später lief ich in die
Kaserne, um mehr zu erfahren. Ich sah: Kein Mensch in der Kaserne. Nur einige Offiziere,
die wie ich, in Privatwohnungen lebten, liefen ebenfalls dort herum.
Es stellte sich heraus, dass die ganze Stabsführung aus der Stadt geflohen war, und
dass unser Regiment zum Bahnhof geschickt wurde. Ich lief durch die ganze Stadt und
wusste nicht, was ich tun sollte. Von unseren Behörden fand ich keine Spur. Alle
flüchteten. Wann und wie brachten sie das fertig? Keine Ahnung! Weder die
Kommandantur war noch da, noch der NKWD. Nur die Lastwagen kurvten weiterhin über
die Straßen, die die Polen, den Namenslisten entsprechend, zum Bahnhof brachten. Es
war klar, sie führten die Befehle der Behörden aus. Und die Behörden selbst: seit langem
zisch -zisch! Keine Spur hinterließen sie.
Erst spät abends kam ich nach Hause zurück. Es stellte sich heraus, dass Hitler
tatsächlich die Sowjetunion angegriffen hatte. Ich selbst hörte einen Bericht im unseren
Radio: "...Die Hitler-Bestien überfielen unsere Sowjetunion, werden aber teuer dafür
bezahlen." Vielleicht werden sie teuer bezahlen, aber was habe ich davon? Was soll ich
jetzt tun? Auf der Straße begegnete ich mehreren unserer Offiziere, die zivil gekleidet
waren. Und ich, der letzte Idiot, hatte mir Koffer und Drehorgel gekauft. Jetzt hatte ich
nichts mehr, um mich umzukleiden. Und die Hitleristen, habe ich gehört, stürmen mit
solcher Kraft voraus, dass sie gleich hier sein würden. Deren NKWD wird sich solcher
Gäste wie mir schon gerne annehmen und direkt ins Lager im deutschen Sibirien
schicken.
Ich hätte vielleicht früher jemanden fragen sollen, wie die Deutschen die Menschen, die
sich freiwillig ergeben hatten, behandelten. Ich weiß so einiges über die militärischen
Angelegenheiten und würde ihnen gerne alles erzählen. Aber der Teufel weiß, vielleicht
machen sie dann kurzen Prozess: eine Kugel ins Genick und fertig. Ich bereute es sehr,
mit den Lehrerinnen so streng umgegangen zu sein. Wer aber hätte einen solchen Wandel
vorhersehen können? Jetzt gab es niemanden mehr, der mir mit Rat und Tat hätte helfen
können.
Kontrik Kola und seine Worte kamen mir in den Sinn: "... in 20 Jahren in dem gleichen
Buch, aber in einer anderen Ausgabe stehen wird... wenn die Rote Armee irgendwo von
irgendjemandem Prügel bezogen hat, dann nur deshalb, weil Stalin ein kapitalistischer
Agent war und einen Sieg verhinderte."
Kolka hatte es richtig erraten. Eine große Wahrheit war das! Trotzki verriet Russland im
Jahr 1920. Und warum? Weil er Jude war und weil ihn das russische Volk herzlich wenig
interessierte! Und jetzt der da, weil er …, weil er ein Fremder ist. Ein Georgier. An seiner
abscheulichen Nase und dem Schnurrbart konnte man erkennen, was für ein Früchtchen
das war. Er hatte ein besseres Geschäft mit dem Ausland gerochen oder erfahren, dass
echte russische Patrioten ihn liquidieren wollten. Also hatte er sich für eine Handvoll Dollar
an Hitler verkauft. Und über die Freundschaft Hitlers zu unserer Nation hatte er mit Absicht
so viel Tam-Tam gemacht, um die proletarische Wachsamkeit einzuschläfern. Auf Anhieb
verstand ich seine ganze reaktionäre Arbeit. Denn erstens: Wenn er an Hitler zweifelte,
warum lobte er ihn dann immer und überall und unterstütze ihn mit Lieferungen von
Kriegsmaterialien? Zweitens: Wenn Hitler ihn tatsächlich hinters Licht führte und zum
Idioten machte, was war er dann wert? In diesem Fall war sogar Morgalow hundert Mal
klüger, der den Krieg mit Deutschland vorhergesagt hatte und dafür mitsamt seiner Familie
ins Lager gekommen war. Und vielleicht machte Stalin gerade deswegen Morgalow
unschädlich, weil der die Wachsamkeit des Proletariats weckte?
Ich wurde wütend, sprang auf, stellte mich vor das Stalin-Porträt, das - wie es mir schien
-, Hitler verständnisvoll zuzwinkerte, und fragte:
„Wie war denn das mit unserem treuen Freund? Sag es mir, du, unser Lehrer und
geliebter Führer. Entweder bist du auf deine alten Tage blöd geworden oder du bist ein
Verräter wie Trotzki!"
Stalin reagierte nicht.
Also hängte ich sein Porträt von der Wand ab und schaute mir seine verlogene
georgische Fresse an. Er schwieg. Also redete ich so auf ihn ein:
„Dein Vater war ein ehrlicher Proletarier und angesehener Schuhmacher. Auch du
hättest Schuhe richtig zu schneiden lernen sollen. Du aber hast ehrliche Arbeit nicht
gemocht und hast dich deshalb zum Popen ausbilden lassen. Nur zu wenig Hirn hattest
du, deswegen haben sie dich wie einen Hund vom Seminar verjagt. Und jetzt hast du dich
schon wieder zum Idioten gemacht. Nein, deine Stelle ist nicht in dieser Ehrenecke!"
Ich legte das Stalin-Porträt auf einen Stuhl. An seine Stelle an der Wand hängte ich das
Porträt von Hitler und schaltete das rote Lämpchen darunter ein. Stalin gab ich einen so
beherzten Fußtritt, dass das Glas zersplitterte, das Porträt hoch flog und es hinter dem
Ofen landete. Sogar noch aus dieser Lage schaffte er es, sich herauszuwinden. Dann in
der Absicht, ihn in kleinste Fetzen zu zerreißen, kletterte ich auf den Ofen, konnte aber
das Porträt nicht ergreifen, weil es weiter nach unten geschlittert war. So spuckte ich nur
hinterher und kletterte wieder herunter.
Dann stellte ich mich vor dem Porträt von Hitler auf und schaute ihm in die Augen. Sofort
begriff ich, dass er ein kluger und idealistischer Führer war. Und wie mutig! So viele
Staaten hatte er schon erobert und jetzt nahm er gleichzeitig England und Russland in die
Mangel. Und wie er das machte, davon hatte ich mich selbst überzeugen können.
Ich kniete vor dem Hitler-Porträt und verbeugte mich tief. Ich verstand, dass gerade ER
die Menschheit in ein besseres Leben führte und für das Wohl des Proletariats kämpfte.
Nur er war imstande, in der Welt den echten Sozialismus einzuführen.
Ich bereute sehr, dass ich nicht auf Deutsch die “Internationale“ singen konnte.
Verblendet durch die falsche stalinistische Propaganda hatte ich sie nicht gelernt.
27. Juli 1941. In der Scheune.

Dem Genossen A. Hitler.


Ganz in Sicherheit befinde ich mich zur Zeit nicht, aber immerhin ist es ein bisschen
besser geworden. Wichtig ist, dass ich die schlimmste Zeit überlebt habe und einem
schrecklichen Tod entkam. Für alle Fälle beschloss ich, diese meine Aufzeichnungen
Hitler zu widmen. Er ist ein sehr kluger und mächtiger Führer, und ich achte ihn sehr. Zu
Stalin habe ich jetzt kein Vertrauen mehr. Nun aber muss ich ausführlicher erzählen, wie
ich den deutschen Klauen entkommen bin und mein Leben rettete.
Die ganze Nacht zum 23. Juni schlief ich nicht. Ich versuchte es, aber vor Angst
funktionierte es nicht. „Und wenn“, dachte ich, „die Nazis kommen und mich schnappen?“
Dann würde nicht einmal das Lämpchen vor dem Hitler-Porträt helfen. Natürlich würde ich
ihnen offen sagen, dass ich ihnen gerne dienen und Stalin eigenhändig abmurksen würde.
Würden sie das aber verstehen und glauben? Und könnte ich für sie nützlich werden?
Denn Menschen wie mich gibt es in Russland zu Millionen. Unklar blieb für mich zudem
eine andere Frage: Vielleicht operierte Stalin mit Hitler zusammen und mordete die
gesamte russische Nation? Dann würde ich noch tiefer hinein versinken... Politik ist eine
delikate Angelegenheit, und ohne die Lektüre von “Prawda“ oder “Izwestija“ konnte man
nur schwer verstehen, was in der Welt wirklich passierte.
Endlich beschloss ich zu fliehen. Wohin aber mit meinen Sachen? Tragen konnte ich
das alles nicht. Ich packte alles in den Koffer, warf die Drehorgel über die Schulter und
stellte mich vor dem Spiegel auf. Ein schönes Bild ergab das, und lange genoss ich es.
„So!", dachte ich mir, „Durch diesen elenden Verräter Stalin ist es mir nicht gelungen,
diese Schätze zu retten." Fast alles musste ich zurücklassen.
Da ich wusste, dass ich in Vilnius nicht bleiben konnte, bereitete ich mich auf den Weg
vor: Die Offiziersabzeichen trennte ich ab. Schlechtere Schuhe zog ich an. Mit auf den
Weg nahm ich die Uhr, Geld und diese meine "Aufzeichnungen." Die Offizierspapiere, die
Parteikarte und die Pistole versteckte ich tief im Sesselfutter. Vielleicht ließen sie sich so
retten.
Ich hatte noch meinen alten zerrissenen Mantel und eine billige Mütze. Ich zog alles an,
um wie ein einfacher Soldat auszusehen. Dann stellte ich mich vor den Spiegel. Aber als
ich hinein schaute, liefen mir die Tränen aus den Augen. Was hatte er aus mir gemacht,
dieser Verräter der russischen Nation! Der Georgier Dschugaschwili - Stalin!
Brot, Wurst, Zucker und etwas Tabak nahm ich mit auf den Weg. Ich küsste die Drehorgel,
den Koffer und die neuen Schuhe zum Abschied, denn ich hatte keine Hoffnung mehr, sie
jemals wiederzusehen.
Endlich, um 2 Uhr nachts, verriegelte ich meine Zimmertür mit allen Schlössern und
Sperren. Ich lauschte, ob jemand meine Flucht bemerkte, und schlich mich dann leise zur
Treppe hinaus. In der Stadt war es noch dunkel, also ging ich schnell in Richtung Zakret.
Dort fand ich den Weg nach Landwarow und beschloss, mich zuerst dorthin zu begeben.
Später würde ich versuchen, mich nach Osten durchzuschlagen, denn hier in dieser
Gegend hatte ich kaum Chancen, mich lange versteckt zu halten.
Als ich in Zakret ankam, wurde es schon langsam hell. Ich erreichte den Fluss, fand am
Ufer ein Boot und setzte auf die andere Seite von Wilia über. Ich wusste, dass es dort
keine größeren Straßen gab, also würde ich eine Weile in Sicherheit sein. Zumal die Polen
mich eher nicht fangen und an die Deutschen ausliefern würden. Denn sie hassten die
Deutschen genauso wie uns.
Den ganzen Tag verbrachte ich im Wald. Es war ruhig, aber erst am Abend schlief ich
ein. Gegen Mitternacht wachte ich wieder auf und ging entlang des Flusses weiter. So war
es einfacher, die Richtung einzuhalten, und Trinkwasser - die Tage waren heiß - hatte ich
gleich in der Nähe.
Nachts hörte ich viele Flugzeuge. Dann wurde es hinten, über Vilnius, hell wie bei Tage.
Die Deutschen mussten die Stadt und die Straßen mit Raketen ausgeleuchtet haben, um
sich davon überzeugen zu können, ob Vilnius verteidigt wird. Wer aber sollte sich da
schon verteidigen? Die Lehrerinnen mit ihren Pfannen vielleicht?
Am Morgen sah ich auf der anderen Seite von Wilia größere Wälder. Menschliche
Siedlungen waren dort nicht zu sehen. Also setzte ich nochmals über den Fluss über und
saß dann den ganzen Tag lang im Wald. Auf diese Art und Weise ging ich den Weg –
tagsüber versteckte ich mich in den Wäldern und nachts ging ich weiter, ohne zu wissen
wohin. Eines aber war gut: Ich war am Leben und frei.
Die ganze Woche streifte ich wie ein Wolf durch die Wälder. Das Brot war schnell weg,
Wurst und Zucker aber würden mir noch für längere Zeit reichen. Schließlich fasste ich
den Entschluss, zu den Menschen zu gehen. Vielleicht bekam ich eine Arbeit. Denn sonst
würde ich in der Wildnis vor Hunger krepieren. Ich würde aber verheimlichen müssen,
dass ich ein Offizier gewesen bin. Sonst, sollten mich die Deutschen schnappen, könnte
es schlecht um mich stehen. Einem gemeinen Soldaten gegenüber würden sie vielleicht
nicht ganz so schlimm sein.
Die ganze Zeit bedauerte ich sehr, keinen Zivilanzug zu besitzen. Es war ein großer
Fehler gewesen, es den anderen Offizieren nicht gleich getan und einen gekauft zu haben.
Sie müssen früh verstanden haben, dass unsere große Liebschaft mit den Deutschen
irgendwann zu Ende sein würde und sie fliehen müssten. Es wunderte mich aber, dass die
Deutschen uns so schnell davon jagten. Es waren noch keine von ihnen zu sehen, und
schon nahm unsere ganze Armee reißaus. Die Machtorgane allen voran. Nicht einmal
sagten sie, diese Schufte, was ich weiter tun sollte. Es kann nichts anderes als Verrat
gewesen sein. Nie werde ich es Stalin verzeihen! Würde ich ihm doch jetzt im Wald allein
begegnen! Ich würde ihm die marxistische Dialektik schon beibringen! Bis ans
Lebensende würde er sie nicht vergessen!
Es kam der Tag, an dem ich seit dem frühen Morgen nichts mehr gegessen hatte und
ganz schwach wurde vor Hunger. Am Abend aber entdeckte ich am Waldrand eine
Bauernhütte. Ich beobachtete sie aus der Ferne. Deutsche bemerkte ich nicht. Nur ein
Weib und Kinder waren im Gehöft beschäftigt. Ich wartete, bis es dunkel wurde ab, und
betrat den Hof. In einem der Fenster sah ich Licht, also schaute ich hinein. Die Frau und
die Kinder saßen am Tisch und aßen zu Abend. Vor Hunger kriegte ich Bauchweh. Ich
beschloss hinein zu gehen.
Ich fand einen Eingang zur Diele, öffnete dort die Tür und ging hinein. Sofort verstand
ich, dass die Bourgeoisie hier lebte. Der Boden war aus Brettern. Die Wände tapeziert.
Irgendwelche Bilder. Auf den Betten Bettkissen in weißem Bezug. Ich wollte mich schon
zurückziehen, aber es war zu spät. Außerdem ermutigte mich der Umstand ein bisschen,
dass die Kinder Barfuß am Tisch saßen.
„Guten Abend", sagte ich.
„Guten Abend", erwiderte die Wirtin, mich aufmerksam betrachtend.
Die Kinder starrten mich an. Ich sprach weiter:
„Verkauft mir, Wirtin, weil ich großen Hunger habe, ein bisschen Brot.", bat ich.
„Ich habe kein Brot zu verkaufen.", antwortete die Frau. „Vielleicht werden wir bald selbst
ohne Brot. Die Bolschewiki haben uns zugrunde gerichtet. Sie verschleppten meinen
Mann mit Pferd und Wagen. Sie trieben ihn zu irgendwelcher Arbeit. Ein Jahr ist schon
um, und er kommt nicht zurück. Muss irgendwo gestorben sein. Meinen älteren Sohn habt
ihr 1939 gefangen genommen. Von ihm haben wir auch keine Nachricht. So haben wir
jetzt weder ein Pferd noch einen Mann zum Arbeiten. Sehr schnell habt ihr uns vernichtet -
wofür eigentlich?“
„Ist doch nicht meine Schuld. Auch mich haben die Bolschewiken vernichtet. Sie
zwangen mich in die Armee. Haben mich bis hierher gejagt. Und jetzt sind sie geflüchtet,
und haben mich alleine zurückgelassen. Ich weiß nicht, wohin ich gehen, was ich machen
soll."
Daraufhin goss die Frau Suppe in eine Schüssel und schnitt ein großes Stück Brot. Sie
zeigte auf einen Platz am Tisch: „Setze dich hin und iss! Obwohl du ein Bolschewik bist,
will ich keinen hungrigen Menschen aus dem Haus fortjagen."
Nach einer Woche Trockenproviant schmeckte mir die Suppe außerordentlich. Ich leerte
die Schüssel, das Brot jedoch steckte ich für später ein.
„Was bin ich schuldig?", fragte ich.
„Nichts will ich von dir!", antwortete sie. „Ich habe dir zu essen gegeben, weil ich mich
nicht sündig machen wollte. Christus befiehlt, dem Hungrigen zu essen zu geben und den
Feinden zu verzeihen. Vielleicht wird auch meinen Leuten in Russland, wenn sie noch am
Leben sind und Hunger haben, jemand mit einem Stück Brot aushelfen."
Ich bezweifelte das. Jeder wusste doch, dass die in Russland selbst nichts zu essen
hatten. Und wenn sie etwas bekamen, dann aßen sie es auch gleich auf, weil sie Hunger
hatten. Trotzdem bedankte ich mich höflich und fragte:
„Habt ihr in der Nähe die Deutschen gesehen? Ich habe große Angst vor ihnen. Wenn
sie mich schnappen, werden sie mich sofort erschießen. Und was kann ich dafür, dass ich
Soldat bin? Sie zwangen mich in die Armee, ließen mich dienen, also musste ich."
„Ich kann das verstehen!", erwiderte die Frau. „Auch viele von unseren Jungs haben die
Sowjets zum Militär verschleppt. Nur die, die sich versteckt hatten, sind noch zurück
geblieben. Und von den Deutschen habe ich noch keinen gesehen. Ich habe nur gehört,
dass sich eine große Streitmacht über die Straßen fortbewegt."
Wie sie dann anfing über Hitler und Stalin zu fluchen ... Mir wurde ganz bange. Es ist
eine Sache, schlecht über Stalin zu reden, denn nur der Teufel wusste, wo er sich jetzt
befand. Hitler aber war schon dicht in der Nähe! Und die schrie... Ja, es ist den polnischen
Herren definitiv nicht gelungen, das Volk richtig zu erziehen. Heutzutage konnte man nicht
einmal wissen, wie mit denen zu reden war. Und sie zeterte weiter:
„Stürzte sich auf uns, diese Seuche, auf unsere Köpfe und vernichtete uns! Keine Lust
haben sie, ordentlich zu arbeiten, also kommen sie, um sich zu nehmen, was wir im
Schweiße unseres Angesichts erarbeitet haben. Erst nahm uns der eine Teufel Vieh,
Getreide und Menschen weg. Jetzt ist der zweite gekommen! Und es gibt kein Mittel, keine
Cholera, keinen Blitzschlag gegen sie!"
Sie verwünschte sie schrecklich. Also fing ich an, ihr dabei zu helfen. Hitler, natürlich,
erwähnte ich nicht. Stalin aber bearbeitete ich dafür gründlich.
„Auch mich hat dieser elende Stalin zugrunde gemacht. Das ganze Russland sogar.
Nicht nur Euch."
So beschimpften wir sie fast eine Stunde lang. Die Oma: Stalin und Hitler. Ich Stalin. Vor
Wut und Trauer brach sie in Tränen aus. Klar: Sie war ein politisch nicht aufgeklärtes
Element. Sie konnte nicht verstehen, dass alles seine Richtigkeit hatte, denn sonst gäbe
es keine Ordnung. Nur dieser Georgier Stalin hatte uns so reingelegt und die Sowjetunion
und die unbesiegbare Rote Armee an den Rand einer großen Niederlage gebracht.
Ich bedankte mich bei der Wirtin und verabschiedete mich. Sie zeigte mir, wie ich zu
einer größeren Straße käme, in Richtung litauischer Grenze. Dort sollte es noch ruhig sein
und keine Deutschen geben.
Mein Gemütszustand verbesserte sich deutlich. Ich war satt und hatte ein Stück Brot in
der Tasche. Blöd aber ist das polnische Volk! Sie selbst sagte, dass bei ihr Armut
herrsche - und sie half noch einem Anderen. Und noch dazu wem? Einem, der Stalin
geholfen hatte, hier einzumarschieren. Dass sie eine einfache Bäuerin war, glaubte ich ihr
nicht wirklich. Diese Bilder an den Wänden, der Fußboden, die Stühle und Bettkissen in
weißen Bezügen verrieten sie. Sogar ein Paar Schuhe hatte ich bemerkt. Und am
verdächtigsten war die große Wanduhr. Ich vermutete, ihr Mann musste in der polnischen
Regierung eine wichtige Stellung inne gehabt haben. Wie sonst könnte ein Bauer auf
einfachem Weg zu solchen Sachen kommen? Am meisten aber erstaunte mich ihre
Courage. Zum ersten Mal im Leben sah sie einen fremden Menschen und sofort verfluchte
sie und Stalin und Hitler. Keine Vernunft besaß das Weib.
Ich fand die größere Straße und ging auf Seitenpfaden in Richtung Litauen. Ich achtete
darauf, immer in Nähe des Waldes zu bleiben. Immerhin war es so sicherer. Menschen
begegnete ich in dieser Nacht nicht, hörte aber oft Hundegebell in der Nähe. Wozu
brauchten die so viel von dem Viehzeugs? Es musste doch gefüttert werden. In Vilnius
hatten wir schnell Ordnung mit den Hunden gemacht. Ich selbst erschoss etliche. Ist doch
klar: Ein Hund ist ein konterrevolutionäres Element. Von weitem schon riecht er, und wenn
sich eine Patrouille nähert, warnt er Reaktionäre mit seinem Gebell . Auch unsere Adler
vom NKWD halten Hunde und schulen sie zur Bekämpfung der Feinde der Arbeiterklasse.
Wenn die also bellen, dann nur sozialistisch und zu sozialistischen Zwecken.

28. Juli 1941. In der Scheune.

Gestern habe ich das Erzählen meiner Abenteuer nicht beendet, also schreibe ich sie
heute weiter. Jetzt bin ich, könnte man sagen, der glücklichste Mensch der Welt: Es ist mir
gelungen, dem schrecklichen Tod aus der Hand des deutschen NKWD zu entgehen.
Vielleicht werde ich irgendwie sogar noch weiter leben. Es wäre doch schade, sollte
Russland einen so tapferen Verteidiger des Sozialismus wie mich verlieren. Das Einzige,
was mir Sorgen macht, ist die Frage, was mit meinem, in Vilnius zurückgelassenen
Eigentum geschieht. Die Tür ist zwar gut gesichert, man kann sie aber aufbrechen, um an
meine Schätze zu kommen. Jetzt bereue ich sehr, dass ich mit den Lehrerinnen in Un-
Frieden lebte und sie mit den bösesten Worten beleidigt habe. Denn aus Groll könnten sie
sich jetzt meine Schätze aneignen.
Doch zurück zu meinen Abenteuern: Nachdem ich die Stadt verlassen hatte, irrte ich
über zwei Wochen lang in den Wäldern umher - ohne die geringste Ahnung zu haben,
wohin ich gehen sollte und was ich zu tun hätte. Ich wurde sehr schwach, da ich mich in
der letzten Zeit nur noch von Waldbeeren ernährte. Eines Tages grub ich in einem Feld
Kartoffeln aus und und briet sie am Lagerfeuer. Lange aber konnte ich so nicht mehr
durchhalten, denn als Offizier hatte ich eine feine Gesundheit und mochte es, täglich Brot
zu essen. In Polen hatte ich mich vollständig verwöhnt und vor allem unnötigerweise an
Butter und verschiedene Würste gewöhnt. Ich hatte gedacht, es würde für immer so
bleiben. Und es wäre auch so geblieben, wäre nicht der niederträchtige Verrat von Stalin
gewesen. Ein Verrat war das gewiss, sonst hätte Hitler es nicht gewagt, die mächtige
Sowjetunion und die unbesiegbare Rote Armee zu überfallen.
Eines Abends verließ ich den Wald und schaute mich vorsichtig in der Gegend um. In
der Nähe spähte ich eine Siedlung aus: Ein Haus auf einer Anhöhe, darunter eine
Scheune, ein Pferde- und ein Schweinestall. Keine Menschen oder andere Siedlungen
waren zu sehen. Ich wartete eine Weile ab. Lange zeigte sich niemand. Dann trat ein
Weiblein aus dem Haus und ging zur Scheune hinunter. In der Hand trug es eine Säge
und ein Beil. Dort angekommen, begann die Frau Holz zu sägen. Durch Hunger getrieben
fasste ich Mut und trat aus meinen Versteck heraus. Die Frau war nicht mehr jung und
hatte Mühe mit dem Sägen, also fragte ich:
„Guten Abend, Mütterchen. Vielleicht könnte ich Euch beim Sägen helfen."
Sie schaute mich an: „Wo komm'ste du denn her?"
„Aus dem Wald. Ein großes Unglück hat mich getroffen. Die verdammten Bolschewiki
zwangen mich zum Militär, brachten mich nach Wilno, und nachdem Hitler sie attackiert
hat, sind sie geflohen und haben mich alleine zurückgelassen. Jetzt weiß ich nicht mehr,
was ich tun soll. Nach Hause zurück finde ich nicht, viel zu weit. Hier zu überleben aber
ist schwer. Und ich habe große Angst vor den Deutschen. Deshalb halte ich mich fern von
den Menschen und verstecke mich in den Wäldern. Seit Tagen habe ich kein Brot
gesehen. Vielleicht könntet Ihr mir ein Stückchen verkaufen?"
Sie antwortete:
„Du kriegst schon zu essen, sobald ich mit der Arbeit im Hof fertig bin. Und vor den
Deutschen brauchst du keine Angst zu haben. Die Straße ist von hier aus weit zu
übersehen. Im Falle des Falles kannst du dich im Wald verstecken. Dort wird dich keiner
finden. Und wenn du mir jetzt helfen willst, dann mach das Brennholz fertig. Ich gehe
inzwischen die Kuh melken."
Ich packte das Beil und - los an die Arbeit. Ich legte mich mächtig ins Zeug, damit sie
sah, dass ich kein Faulenzer war. Vor Hunger war mir schwindlig im Kopf, ich arbeitete
aber mit aller Kraft. Inzwischen wurde sie mit der Kuh fertig und befahl mir, das Holz in die
Küche zu bringen. Sie heizte den Ofen an und machte sich daran, das Abendessen
vorzubereiten. Mich bat sie, mich hinzusetzen und unterhielt sich arbeitend mit mir. Ab und
zu ging sie nach draußen, um nachzuschauen, ob kein Fremder kam. Zu mir sagte sie:
„Hab keine Angst. Hier gibt es nur Polen. Die Deutschen und die Bolschewiken mag hier
keiner. Sollte dich jemand sehen, wird er nichts weitersagen. Wer aber sollte dich schon
sehen, wo wir so abseits leben? Das hier ist Landgut Burki."
Als ich das Wort “Landgut“hörte, erstarrte ich vor Angst. Dann fragte ich:
„Und wo ist der Gutsherr?"
„Nicht hier!", antwortete sie. „In England ist er, dient in der polnischen Armee."
„Und die Gutsherrin?"
„Ich bin die Gutsherrin."
Obwohl ich schrecklich hungrig und müde war, prustete ich los. Ich wusste, dass sich
das nicht gehört, konnte aber nicht anders. Was ich nicht alles in den verschiedenen
Büchern und Zeitungen von diesen Blutsaugern, den polnischen Herren und Herrschern
gelesen hatte! Wie sie in Gold gekleidet ein süßes Leben führten und die Bauern quälten.
Und dieses Omalein, schlicht gekleidet, abgearbeitet, die Hände schwarz von der
Anstrengung, sagte mir, sie sei eine Gutsherrin. Ich glaubte, sie mache sich über mich
lustig. Sie aber fragte:
„Was grinst du so?"
Da ich keinen Ausweg wusste, sagte ich also die Wahrheit::
„Es ist schon komisch, dass ihr selbst arbeitet und sagt, ihr seid die Gutsherrin."
„So ist es auch!", antwortete sie. „Wir alle hier haben gearbeitet. In den besseren Zeiten
hatten wir ein Mädel und einen Knecht zur Hilfe, aber auch für uns gab es Arbeit zu
genüge. Jetzt bin ich allein geblieben, also arbeite ich auch allein. Es ist aber schwer
auszukommen, denn die Bolschewiken haben unser Gut vollständig kaputt gemacht. Alle
Pferde und die drei Kühe nahmen sie mit. Nur eine, die schlechteste, haben sie
zurückgelassen. Meine zwei Söhne wurden eingezogen und sind nicht zurückgekehrt. Der
Mann auch. So wurde unsere jahrelange Arbeit vernichtet. Am meisten aber trauere ich
um die Familie. Ich weiß nicht, ob sie je wieder heimkommen, und ob ich sie je
wiedersehe."
„Es muss schon ein bisschen Wahrheit drin stecken.“, dachte ich mir. Dennoch klang all
das aber irgendwie merkwürdig für mich. Dann gab sie mir zu essen, und wie! Seit ich die
Stadt verlassen hatte, hatte ich mich nicht so satt gegessen. In der Zwischenzeit fragte sie
mich nach allem Möglichen aus. Wer ich war, woher ich kam.
Ich log alles Mögliche zusammen, sagte, ich sei ein Wehrpflichtiger und diente in der
Armee als gemeiner Soldat. Dass ich davor in einer Kolchose gearbeitet hätte. Heftig
verfluchte ich dabei die Bolschewiken und Stalin am meisten. Weil ich wusste, dass die
Polen ihn nicht mochten. Sie ihrerseits schimpfte weder über die Bolschewiken noch über
die Deutschen oder Stalin.Sie stellte nur ihre Fragen und hörte aufmerksam zu.
Anschließend erkundigte sie sich:
„Was will'ste weiter machen? Wenn du weg möchtest, werde ich dir einen Laib Brot und
ein Stück Speck geben. Es ist mir gelungen, etwas Getreide bei der Requisition
zu verstecken und so mahle ich selbst mit der Handmühle Roggen und backe Brot."
Ich bat darauf:
„Mütterchen, mein liebstes! Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll. In den Wäldern werde
ich verhungern oder auch von den Deutschen getötet. Dürfte ich vielleicht bei Euch
bleiben? Ich würde alles machen, was ihr verlangt, essen, was ihr mir gebt. Und später
wird sich vielleicht etwas ändern."
Sie dachte nach und beschloss:
„Gut. Bleib erst einmal für eine Weile hier, dann sehen wir weiter. Schlafen wirst du am
sichersten in der Scheune. Komm, ich zeige dir die Stelle."
Sie nahm eine Taschenlampe, reichte mir einen alten Schafpelz und füllte Wasser in die
Flasche, damit ich in der Nacht zu trinken hatte. So gingen wir. Die Lampe trug sie unter
ihrem Pelz, damit niemand das Licht sehen konnte.
In der Scheune entfernte sie die dort absichtlich eingelegten Bretter und leuchtete
hinein. Es war ein Versteck, schwierig zu finden. Sie erklärte mir, dass sie die
Scheunentür verschließen werde, sich im Versteck aber ein Ausgang zum Dach befände.
Sollte mir einmal Gefahr drohen, könnte ich auf diesem Weg in einen Graben und weiter
durch Gebüsche in den Wald fliehen. Sie versicherte mir, dass die Nacht ruhig bleiben
würde, da es keine Deutschen in der Nähe geben würde. Und das Städtchen sei weit
weg. Sie schloss die Scheune ab und ging.
Ich breitete meinen Schafpelz auf dem Heu aus, streifte die Schuhe ab und hüllte mich
in eine Decke. Ich war sehr glücklich. Die Polen waren doch nicht so schrecklich gemein,
wie man uns immer gesagt hatte. Um Wahrheit zu sagen, keiner von ihnen tat mir etwas
Böses, alle halfen mir. Bei uns würde mir niemand helfen. Einen, der sich vor den
Behörden versteckt, unterstützt keiner. Das Volk hier war anders. Nur diese elende Irka
hatte mir großes Unrecht getan. Vielleicht würde ich aber noch Gelegenheit bekommen,
mich zu rächen.
Ich schlief fest, bis ich hörte, dass jemand nach mir rief:
„Mischka...! Mischka...!"
Ich erkannte die Stimmer der Gutsherrin und gab mich zu erkennen.
„Komm raus!", rief sie, „Das Frühstück wartet."
In der Wohnung bekam ich ausgezeichnetes Essen. Danach brachte sie mir
Zivilkleidung, Schuhe, Mütze, Socken und frische Unterwäsche.
„Das habe ich alles im Haus eingesammelt.", erklärte sie. „Die Sachen gehören meinen
Söhnen. Zieh dich um, denn es ist heutzutage gefährlich, in einer bolschewistischen
Uniform herum zu laufen."
Sie kochte zwei Zuber Wasser auf; einen Zuber mit Kaltwasser stellte sie dazu, gab mir
Badetuch und Seife und befahl mir, mich gründlich zu waschen.
„Ganz sicher hast du Läuse!"
„Einige schon, in einer Armee ist das unvermeidlich."
„Hängt davon ab, in welcher Armee. Bei euch gibt es – sowohl in der Armee als auch
ohne Armee - von diesem Reichtum zu genüge. So ist schon eure Kultur."
Sie verließ die Stube. Ich schrubbte mich sauber und zog mich an. Es war gleich zu
sehen, dass sie Gutsherren waren. Die Unterwäsche war sauber, ganz weiß. Die Kleidung
aus Tuch. Die Schuhe fest, aus gutem Leder. Das alles passte nicht so ganz. Aber nichts.
Mit der Zeit wird es sich schon anpassen.
Nachher machte ich die Küche sauber und schüttete Schmutzwasser auf den Hof.
Inzwischen kam die Gutsherrin zurück:
„Vergiss jetzt, dass du Mischka heißt. Ab jetzt bist du Janek, mein Sohn. Hier habe ich
Ausweispapiere für dich – so lange, bis wir andere formal gefertigt haben. Sollten die
Deutschen kommen oder die Gemeindepolizei, dann flieh nicht und verstecke dich nicht.
Falle aber auch nicht ins Auge. Mach dich lieber an die Arbeit, um nicht viel reden zu
müssen. Das Reden mit denen ist dann meine Sache. Unseren Nachbarn, sollten sie von
dir erfahren, werde ich sagen, dass du ein Flüchtling bist. Hast du mich gut verstanden?"
„Ja, ich habe verstanden."
„Im Beisein der Deutschen oder der Polizei, wenn du sprechen musst, dann nenne mich
Mama. Bei den Nachbarn oder sonst, rede mich als Frau Jozefa an."
Ich freute mich sehr, fühlte mich wie neugeboren. Jetzt wusste ich, dass die Gutsherrin
mich nicht sterben lassen würde. Vor Freude kamen mir sogar die Tränen. Ich ergriff die
Hand von Frau Jozefa und küsste sie.
„Ich bedanke mich von Herzen!", sagte ich. „Solange ich lebe, werde ich es Ihnen nicht
vergessen und mich dankbar zeigen, denn ohne Sie wäre ich verloren."
Sie antwortete darauf:
„Danke Gott, dass hier gute Menschen leben, die auch für die in Not geratenen Feinde
ein Herz haben. Du, wie ich sehe, bist noch jung und dumm, vielleicht noch nicht ganz
verdorben. Ich werde versuchen, dich zu retten."
So also blieb ich dort. Ich schlief weiter in der Scheune und bewegte mich tagsüber ohne
Scheu auf dem gesamten Gutshof. Es gab viel zu tun, also arbeitete ich den ganzen Tag
lang. Frau Jozefa arbeitete auch schwer. Vielleicht noch mehr als ich. Denn ich lernte erst
von ihr.
Ich bin sehr glücklich. Noch vor einiger Zeit dachte ich, ich werde ganz sicher sterben.
Ich wäre auch irgendwo gestorben, aus Hunger, aus Krankheit oder aus deutscher Hand.
Jetzt aber habe ich ein Haus und gute Kleidung, Papiere und eine Wirtin, die mich wie
ihren Sohn behandelt. Was heißt hier: “Wie die Mutter ihren Sohn“? Von meiner Mutter
hörte ich nichts als Beschimpfungen. Und als ich noch klein war, schlug sie mich auch
häufig. Frau Jozefa dagegen sagt kein böses Wort zu mir und sorgt dafür, dass ich immer
satt, sauber und in Sicherheit bin. Das werde ich ihr nie vergessen! Und sobald ich kann,
werde ich ihr meine Dankbarkeit erweisen. Unbedingt! Sie soll wissen, dass wir
Bolschewiken sehr gute und dankbare Herzen haben!

3. Oktober 1941. Gutshof Burki.

Dem Genossen W. Churchill.


Fürs Schreiben habe ich wenig Zeit.
Es gibt viel zu tun, weil nur wir beide hier arbeiten. Trotzdem werde ich meine
Aufzeichnungen hin und wieder weiterführen. Ich habe beschlossen, sie dem Genossen
W. Churchill zu widmen. Ja. Denn es hat sich gezeigt, dass er ein sehr großer und
wichtiger Mann ist. Schade nur, dass er ein Engländer, und kein Kommunist ist. Jetzt aber
hängt der Sieg im Krieg von ihm ab. Frau Jozefa hat mir das ausführlich erklärt. Vorher
war mir die ganze Politik im Kopf ja durcheinander geraten.
Einige Tage nach meiner Ankunft im Gutshof schimpfte ich beim Abendessen über
Stalin. Ich wusste, dass die Polen ihn nicht mochten und wollte so Frau Jozefa damit einen
Gefallen tun. Die ermahnte mich aber:
„Du sündigst, mein Junge! Man darf nicht so fluchen. Das beweist mangelnde
Erziehung. Und der neue Krieg ist gegen Stalins Willen ausgebrochen. Es war der Hitler,
der Russland - wie auch früher Polen - überfiel. Das ist sein satanisches Werk."
Ich starrte sie verblüfft an. Sogar ein wenig erschrocken. War sie vielleicht eine
Kommunistin oder NKWD-Agentin? Sie sprach weiter:
„Du bist jetzt unser Verbündeter. Am 30. Juli haben Stalin und Molotow auf dem Kreml
mit unserem Oberbefehlshaber, General Sikorski, einen Vertrag geschlossen. Jetzt
werden Russen und Polen gegen den gemeinsamen Feind Hitler und für die Befreiung
Russlands und Polens kämpfen. Und nach dem Sieg wird Polen frei werden und in
Russland ein neues Leben anfangen. Eure Regierung wird sich um das russische Volk,
das unter dem Krieg sehr gelitten hat, kümmern müssen. Ich glaube sogar, dass auch bei
euch die Demokratie eingeführt wird."
„Aber wie sollen wir denn Hitler besiegen können, wo er so ein schlauer Führer ist und
eine so mächtige Armee hat?"
„Das macht nichts!", erklärte sie. „Wir alleine würden das vielleicht nicht schaffen, aber
England wird uns helfen."
„England?", fragte ich und spürte, dass mir dunkel vor den Augen wurde und ich
allmählich den Verstand verlor.
Leute, überlegt doch mal, was für Zeiten die Sowjetunion jetzt erleben musste! Dasselbe
England, das uns jahrelang daran hinderte, in Wohlstand zu leben und zu arbeiten,
welches uns versklaven und ausrauben wollte, sollte uns jetzt von unserem großen
Freund Hitler befreien. Ich verstand nichts.
Und Frau Jozefa sprach weiter:
„Selbstverständlich England! Es ist eine große Nation mit einer riesigen Zivilisation.
Wenn nötig, wird Amerika ihr helfen. Es gibt in England einen hervorragenden Politiker. Er
heißt Winston Churchill und wird Hitler mit Sicherheit besiegen. Zur Zeit haben sie noch
ein paar Schwierigkeiten, denn sie waren auf einen Krieg nicht vorbereitet. Aber sie haben
eine großartige Industrie. Also werden sie schnell aufrüsten und Hitler erledigen."
Seitdem erzählte sie mir viel über England und Amerika. So erklärte sie mir, dass
England noch nie einen Krieg verloren habe, und dass fünfhundert Millionen Menschen mit
diesem Land zusammenarbeiteten. Dass seit mehreren Jahrhunderten kein Feind den
englischen Boden betreten habe. Dass England es sogar fertig gebracht hatte, Napoleon
zu besiegen. Und so würde es wohl auch mit Hitler fertig werden.
Für mich aber wurde Churchill deswegen interessant, weil er in der Lage sein sollte,
Hitler zu bezwingen. Langsam fing ich an, Frau Jozefa zu glauben, gerade, weil ich mich
davon überzeugen konnte, dass sie über das Weltgeschehen sehr viel wusste. Sie
erzählte mir sogar über unsere Sowjetunion viel Interessantes. Woher wusste dieses
Weiblein das alles?
Ich beschloss also, diese "Aufzeichnungen" Churchill zu widmen. Damit er wusste, wie
hoch ich ihn schätzte. Denn es war klar, dass die Engländer herkommen würden, um die
Deutschen zu verjagen. Nachdem sie uns dann geholfen hätten, würden sie natürlich für
immer hier bleiben, um einen angemessenen Lohn für die Befreiung von der Bevölkerung
zu erhalten. Es würde sich also lohnen, sich dementsprechend abzusichern. Im
Zweifelsfall würde ich dem englischen NKWD so beweisen können, wie sehr ich seinen
Führer verehrte. Nur schade, dass ich kein Porträt von Churchill besaß, um es schon jetzt
aufzuhängen, und nicht erst, wenn das Zentralkomitee der Englischen Kapitalistischen
Partei den entsprechenden Befehl dazu geben würde.

17. Oktober 1941. Gutshof Burki.

Dem Genossen I. W. Stalin

Es stellte sich heraus, dass Stalin, obwohl Georgier, nie ein Verräter an Russland war.
Nur Hitler betrug ihn hinterhältig. Längere Zeit spielte er den Freund, um gemeinsam
Polen zu zerschlagen, denn er fürchtete Frankreich. Dann aber wartete er einen günstigen
Moment ab und - verräterischerweise die zwischenstaatlichen Verpflichtungen brechend -
überfiel uns. Das jedoch wird ihm Genosse Churchill nicht verzeihen. Engländer sind
nämlich ein sehr ehrenhaftes Volk und mögen es nicht, wenn man sein Wort nicht hält. Ja!
Frau Jozefa sprach vor dem Essen immer ein kurzes Gebet. Eines Tages fragte sie
mich:
„Du bist wohl nicht getauft worden? Denn ich habe noch nie gesehen, dass du dich
bekreuzigst!"
Ich wusste nicht, was ich antworten sollte, entschied mich aber, zur Sicherheit und für
alle Fälle zu lügen:
„Meine Mutter hat mich getauft, als ich ein kleines Kind war. Beten allerdings, hat sie mir
nicht beigebracht."
„Ich weiß, dass die Religion bei euch verfolgt wird.", sagte Frau Jozefa. „Das ist sehr
schlecht. Ich erkläre dir auch gleich, warum. Ich zum Beispiel, bin Christin. Das heißt, ich
bemühe mich, im Leben so zu handeln, wie Christus es befiehlt. Am wichtigsten ist dabei
das Gebot “Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“. Was glaubst du, ist es falsch oder
richtig, so zu handeln? Oder ist es besser, sich selbst zu lieben, und andere zu hassen?
Wäre ich nicht Christin, hätte ich dich in deiner Not nicht gerettet. Warum für einen
Fremden, und dazu noch einen Feind, ein Risiko einzugehen? Ich weiß doch, dass man
euch nur Hass gegen andere Menschen und Gott beigebracht hat. Da aber Christus
befiehlt, Menschen in Not zu helfen und sogar dem Feind zu verzeihen, habe ich auch dir
geholfen. Ich habe dir geholfen, weil ich eine Christin bin. Ist das falsch?"
„Das ist sehr gut, Frau Jozefa! Dafür bin ich Euch grenzenlos dankbar. Zu Gott beten,
kann ich aber nicht. Es ist auch schon zu spät für mich, das zu lernen."
Mehrmals sprachen wir von religiösen Angelegenheiten. Letztendlich stimmte ich ihr zu,
dass Christen nicht zwangsläufig fiese Menschen waren. Selbstverständlich verriet ich ihr
nicht, was ich wirklich dachte. Dass jede Religion Betrug, kapitalistische Machenschaft
und Opium für das arme Volk ist. Das wurde uns von der Partei so beigebracht und so war
es auch wirklich. Wäre Religion etwas Gutes, warum erklärten dann so kluge Menschen
wie Lenin und Stalin sie als schädlich für das Proletariat? Ich vermutete sogar, dass es
sich hier um jüdische Machenschaften handelte. Bei uns verriet Trotzki die Sowjetunion.
Ganz sicher war Christus seinerzeit ein Reaktionär und diente sich den englisch-
amerikanischen Kapitalisten an. Das alles erzählte ich Frau Jozefa aber natürlich nicht,
damit sie nicht dahinter kam, dass ich ein kultivierter Mann war, kein gemeiner Soldat,
Bauer oder Arbeiter.
Eines Tages stellte sie fest:
„Weißt du was, Janek, da du Christ bist, solltest du wenigstens ein Gebet kennen. Es
gibt ein sehr schönes, das “Vater unser“. Christus selbst hat es uns hinterlassen. Wenn du
willst und über das Gebet nachdenkst, dann werden sich dir alle Wege öffnen, die der
Mensch wählen soll. Ich werde es dir beibringen. Und du, sprich es für dein Seelenheil
mindestens einmal täglich. Es wird dir damit in deinem Leben besser gehen, und vor allem
wirst du verstehen, dass du eine unsterbliche Seele hast und nicht eine Leere, die
Bolschewiken mit Bosheit und Hass auf die Menschen füllen."
So lehrte sie mich dieses Gebet. Wie konnte ich nein sagen? Ich wusste zwar, sie würde
mich nicht hinaus werfen. „Aber“, dachte ich mir, „für mich ist es besser, politisch zu
handeln.“ Ewig würde das Gebet nicht an mir kleben bleiben. Vielleicht würde ich es eines
Tages sogar brauchen. Auch könnte Frau Jozefa dadurch noch um einiges besser zu mir
werden.
Anfangs ging es mit dem Lernen nur sehr stolpernd voran. Es war schwierig für mich,
mir die Worte zu merken. Nach ein paar Tagen aber kannte ich das ganze Gebet und
sprach es mit Frau Jozefa jeden Abend. Auch sich zu bekreuzigen, brachte sie mir bei.
Doch auf Grund dieses Betens bekam ich schlechte Laune und verlor gänzlich die
Achtung vor mir selbst. „So schrecklich tief bin ich gefallen.", dachte ich mir. „All diesen
Aberglaube, über den ich früher nur gelacht habe, betreibe ich nun selbst. Ich,
idealistischer Komsomolez und ehrlicher Mann! Und das alles wegen dieser verfluchten
Deutschen und wegen Hitler."
Eines Tages begann ich, über das Gebet nachzudenken. Und plötzlich war ich in
höchstem Maß erfreut, denn ich verstand alles. Es war doch unser bolschewistisches
Gebet. Man könnte sogar sagen: rundum kommunistisch. “Vater unser“, wer sollte das
wohl sein? Natürlich ER. Immer schon nannten wir IHN einen VATER. “Geheiligt sei dein
Name. Dein Wille geschehe...“. Aber natürlich! Immer schon strebten wir doch danach.
Und - wenn alles gut lief - würden wir noch weiter danach streben. Auch das mit dem
“täglich Brot“ war richtig. Denn nur von ihm, dem Genossen Stalin, waren unser Brot und
unser Leben abhängig. Und auch das mit “unsere Sünden“ stimmte. Man musste immer
nach den Sünden in sich und seiner Umgebung suchen und rechtzeitig die Behörden
informieren. Nur das mit dem “Himmel“ passte mir nicht allzu sehr. Später aber kam ich
darauf, dass das nur eine Metapher und eine Bezeichnung für den Aufenthaltsort unserer
Sonne war. Also ersetzte ich die Wörter “Der du bist im Himmel“ durch “Der du bist im
Kreml“. Sogar Hitler wurde in diesem Gebet erwähnt: “Erlöse uns von dem Bösen“. Das
heißt, von diesem germanischen Monster.
Nachdem ich das alles verstanden hatte, war ich sehr erfreut und erinnerte von nun an
Frau Jozefa selbst an die abendliche Andacht. Nur die Wörter “im Himmel“ ersetzte ich in
Gedanken durch “im Kreml“. So ging die Sache glatt von der Hand. Sie sprach das ihrige,
ich das meinige Gebet. Und beide waren wir zufrieden. Der Vater Stalin wird mir schon
nicht böse sein, dass ich laut vom Himmel, nicht vom Kreml sprach. Meine ehrlichen
Gedanken waren ganz andere. Ja!
Seit einiger Zeit bete ich auch alleine und habe dem Gebet sogar eine revolutionäre
Melodie angepasst, um es zu singen. Ich bin Frau Jozefa sehr dankbar, dass sie mir
genau erklärt hat, dass Stalin kein Verräter ist. Deshalb glaube ich erneut an ihn und
widme nun IHM diese Worte. Churchill ist, weil er uns vor Hitler rettet, natürlich ein
aufrichtiger Mann. Stalin aber kann der Bursche mit der kapitalistischen Vergangenheit
nicht das Wasser reichen.
VATER UNSER, DER DU BIST IM KREML, GEHEILIGT WERDE DEIN NAME! DEIN
WILLE GESCHEHE! DEIN REICH KOMME WIE IM KREML SO AUCH IN DER GANZEN
WELT.

15. Januar 1942. Gutshof Burki.

Ich habe ein großes Geheimnis von Frau Jozefa entdeckt. Immer schon hat mich
gewundert, woher sie die Nachrichten aus der ganzen Welt hatte. Jetzt weiß ich es. Denn
es hat sich herausgestellt, dass sie ein Radiogerät besitzt. Und was für eins! Man kann
damit sogar ausländische Sender empfangen.
Eines Tages war Frau Jozefa wieder in die Stadt gefahren. Sie fuhr mit ihrem Nachbar
fast jede Woche einmal hin, so dass ich als Wirt allein zu Hause blieb. Als sie weg war,
fing ich an, alles genau zu durchsuchen. Es konnte doch nicht schaden, zu wissen, was
sie hatte und wo versteckte. Lange Zeit konnte ich nichts Verdächtiges finden. Dann
endlich, an einer Stelle in der Küche, bemerkte ich gelöste Ziegelsteine. Ich nahm eine
Ziegel heraus und leuchtete hinein. Im Versteck standen ein Radioapparat und eine große
Batterie. Mir wurde ganz bange vor Schreck, denn seitens der Behörde gab es den Befehl,
alle Radioempfänger abzuliefern. Und für das Abhören ausländischer Sender wurden sehr
strenge Strafen angedroht, sogar die Todesstrafe! Bei uns in der Sowjetunion war es am
besten, denn das Abhören ausländischer Sender war nicht verboten. Andererseits konnte
sie sowieso niemand abhören, da niemand in der Bevölkerung einen solchen Empfänger
besaß. Also war alles in Ordnung.
Die Sache gefiel mir gar nicht. Im Falle eines Reinfalls könnte auch ich wegen dieser
Kapitalistin sterben. Ich konnte nicht verstehen, wie man den Behörden gegenüber so
ungehorsam sein konnte. Natürlich sind das deutsche Behörden. Aber es sind Behörden!
Und wenn sie etwas befehlen, dann muss man gehorchen! Wer nicht auf die fremde
Behörde hört, der wird auch die eigene nicht achten.
Lange dachte ich über dieses Radiogerät nach. Ich beschloss, so zu tun, als würde ich
davon nichts wissen. Im Falle des Falles würde ich ahnungslos tun. Seitdem jedoch wurde
ich Frau Jozefa gegenüber sehr misstrauisch. Denn auch sie hatte sich als eine verstockte
Reaktionärin erwiesen. Es ist furchtbar, dass die Polen keinen Respekt vor der Obrigkeit
hatten und die öffentliche Ordnung missachteten.
Jetzt bin ich ein legaler Mensch und muss vor niemandem mehr Angst haben. Frau
Jozefa ließ im Gemeindeamt Dokumente für mich ausstellen. Sie sagte mir, dass das alles
viel gekostet hätte, wir jetzt aber ohne jede Angst weiterleben könnten. Wie sie das
geschafft hat – ich habe keine Ahnung. Jedenfalls besitze ich jetzt eine Geburtsurkunde
und eine sechsmonatige Bescheinigung. Mein Name ist Jan Busko, geboren 1919 im Dorf
Dokudowo, im Landkreis Lida. Außerdem habe ich eine Bescheinigung des
Wehrersatzamtes, die besagt, dass ich Wehrdienst-unfähig bin, sowie noch eine weitere,
aus der hervorgeht, dass ich auf dem Gutshof Burki als Landarbeiter angestellt bin. Mit
einem Wort: Es ist alles in Ordnung. Frau Jozefa hat mir auch ein bisschen Polnisch
beigebracht, womit ich allerdings schlecht umgehen kann. Meine Nationalität ist
weißrussisch.
Anfang Januar teilte mir Frau Jozefa mit, dass die Sowjetunion die “AtlanticCharta“
unterzeichnete.
„Was ist das?", wollte ich wissen.
„Das ist", erklärte sie mir, „ein wichtiges internationales Dokument, das die territoriale
Unantastbarkeit einzelner Staaten garantiert. Auf diese Weise werden sogar kleine
Nationen vor der Eroberung durch die großen und aggressiven Staaten geschützt."
Ich sagte ihr, dass ich es sehr gut fände, wusste aber, dass das nur eine Finte der
Kapitalisten war, um das zu behalten, was sie anderen Nationen raubten. Polen, zum
Beispiel, raubte Teile Weißrusslands und der Ukraine, die der glücklichen Familie der
Nationen der Sowjetunion angehören sollten. Ich befand Frau Jozefa für ein wenig
schwachsinnig, so sehr auf Unterschriften, Karten und Verträge zu vertrauen. Was waren
die schon wert? Hitler hatte 1939 einen Vertrag mit der Sowjetunion unterschrieben und
1941 dieselbe Sowjetunion hinterhältig überfallen. Dasselbe würde mit dieser “atlantischen
Karte“ geschehen. Hier wollte sicherlich einer betrügen und ließ einen Rauchschleier
aufsteigen.
Vor Weihnachten kaufte mir Frau Jozefa neue, gute Schuhe. Eigens dafür fuhren wir
zum Markt. Außerdem ließ sie den Anzug von einem ihrer Söhne für mich ändern. Jetzt
sah ich sehr elegant aus. Kleidung dieser Art hatte ich noch nie im Leben besessen.
Trotzdem gefiel mir nicht, dass Frau Jozefa als Gutsherrin meine Arbeit ausbeutete. Es
stimmte schon, dass auch sie arbeitete. Vielleicht mehr als ich, denn in schöner
Regelmäßigkeit melkt sie die Kuh, füttert die Schweine, kocht und wäscht, backt Brot und
beschäftigt sich auf dem Hof. Sie arbeitet von morgens früh bis spät in die Nacht.
Trotzdem ist sie eine Großbürgerin, die in einem anständigen sozialistischen System
sofort getötet gehören würde. Deshalb ist es mir peinlich, für sie zu arbeiten. Wozu
schließlich hatte ich Schulen besucht, war Komsomolez geworden und hatte einen
Offiziersrang bekommen? So lange sich die Lage aber nicht besserte, musste ich leiden.
Mehrmals begleitete ich sie zum Markt im Städtchen. Wir mussten Kartoffeln und
Getreide verkaufen, um Geld für die wirtschaftlichen Ausgaben zu beschaffen. Das Pferd
lieh sie sich vom Nachbarn, denn ihr eigenes hatten die sowjetischen Truppen beschlag-
nahmt. Sie beschwerte sich oft darüber, sagte, dass auf die Weise die Wirtschaft
vernichtet und man sich nur selbst schaden würde. Sie wollte einfach nicht verstehen,
dass ihre Pferde und Kühe in der Sowjetunion dringender gebraucht wurden. Gut möglich
sogar, dass sie zur Verteidigung der Sowjetunion eingesetzt wurden. Es war tatsächlich
schwierig ohne Pferd, aber der Staat musste an erster Stelle stehen. Sie würde es schon
schaffen. Der Kapitalist fand schließlich aus jeder Situation einen Ausweg.
Sie selbst verriet mir neulich, dass sie Geld für ein neues Pferd zusammen sparen würde,
da wir sonst im Frühjahr nicht mit den Feldarbeiten fertig würden.
Es stellte sich heraus, dass ihr die Nachbarn während der Sowjetherrschaft beim
Pflügen ausgeholfen hatten. Diese polnischen Bauern mussten wirklich blöd sein, dass sie
eine Gutsherrin unterstützen. Bisher hatte ich noch keine Gelegenheit, sie kennen zu
lernen. Aber ich war gespannt auf ihr Leben. Angezogen waren sie gut. Alle trugen sie
Lederschuhe. Bei einem hatte ich sogar eine Uhr gesehen. Oder waren es vielleicht keine
Bauern, sondern ebenfalls Gutsherren? Interessant, wen sie ausbeuteten, um so goldig
leben und sich kleiden zu können. Das würde ich klären müssen, wenn ich die Sache
verstehen wollte. Einmal, als ich junge Burschen aus der Nachbarschaft sah, wie sie auf
Fahrrädern in Richtung des Städtchens fuhren, fragte ich Frau Jozefa:
„Was sind das für welche, die da auf den Rädern herum fahren?"
„Die Nachbarjungen!", antwortete sie. „Es ist bequemer für sie, für kleinere Anschaffun-
gen mit dem Fahrrad anstatt mit dem Pferdewagen in die Stadt zu fahren. Es ist den
Sowjets nicht immer gelungen, alle Fahrräder zu beschlagnahmen, weil sie gut versteckt
waren. Eine praktische Sache ist das. Ich hatte mal zwei davon: ein Damen- und ein
Herrenrad. Als jedoch die erste Partie eurer Soldaten kam, nahmen sie sie mir weg."
Ein erstaunliches Land. Hier fuhren sogar die Bauern Fahrrad. Woher hatten sie diese?
Frau Jozefa erklärte, dass sie in den Geschäften gegen Ratenzahlung verkauft würden.
Ein gutes Leben hatten diese Reaktionären in diesem kapitalistischen Polen.
Eines Tages erlebte ich ein entsetzliches Abenteuer, bei dem ich dachte, dass ich
sterben müsse. Ich hatte furchtbare Angst und werde das bis an mein Lebensende nicht
vergessen. Ich fuhr mit Frau Jozefa zum Markttag in das Städtchen. Frau Jozefa verkaufte
ziemlich schnell ihren Hafer und ihre Gerste, dann kaufte sie Sachen für die Wirtschaft.
Das Pferd hatte sie sich vom Nachbar ausgeliehen und wollte deshalb nicht zu lange in
der Stadt trödeln. So machten wir uns gleich wieder auf den Heimweg, fuhren und
unterhielten uns dabei. Ich schaute mich zu allen Seiten um und nahm die Umgebung
aufmerksam in mich auf. Die Häuser hier waren hübsch. Anscheinend hatte jedes Haus
einen Fußboden. In allen Fenstern waren Gardinen und Blumen zu sehen. Wir verließen
die Stadt, als ich in der Ferne eine Abteilung Soldaten bemerkte.
„Wer könnte das sein?", fragte ich Frau Jozefa.
Sie antwortete darauf ganz ruhig:
„Die Deutschen. Ihre Kavallerie patrouilliert die Straßen. Manchmal fahren sie auch in
ihren Autos."
Als ich das Wort "Deutsche" hörte, spürte ich, wie mein Herz in der Brust stehen blieb.
Es stand und wollte nicht weiter. „Ich werde sterben!“, dachte ich. So fuhren wir voran, den
Deutschen entgegen. Ich dachte schon daran, vom Wagen zu springen und davon zu
rennen. Aber wohin? Sie würden mich zu Pferd schnell einholen. Auch war die Gegend
zum Weglaufen nicht geeignet. Und zu allem Überfluss wich jegliche Kraft aus meinen
Armen und Beinen.
Wie trafen aufeinander. Es war eine kleine Abteilung. Höchstens zwanzig Reiter. Aber
was für eine Abteilung! Es müssen die besten Kavalleristen aus der ganzen deutschen
Armee gewesen sein. Die Pferde waren groß, satt, glänzend. Nie hatte ich derartige in
Russland gesehen. Die Kleidung der Soldaten war ordentlich, von grauer Farbe.
Bewaffnet waren sie mächtig. Kein Wunder, dass solche Kämpfer Siege erlangten. Ganz
sicher bekamen sie jeden Tag Fleisch zu essen und nicht, wie unsere Soldaten,
stinkenden Fisch. Oftmals nicht einmal das. In der Regel gab es nur verfaultes
Trockenbrot, welches jahrelang gelagert wurde.
Dann waren sie dicht bei uns. Mir verschlug es den Atem in der Brust, und ich starrte sie
nur an. Ich versuchte, die Augen zu schließen, konnte aber meine Augenbrauen nicht
mehr bewegen. Mein Rücken fühlte sich an, als ob mir jemand Schnee unter das Hemd
geschüttet hätte. „Ich bin verloren", dachte ich. „Für die polnische, kapitalistische Sache
werden sie mich zerhacken. Niemand in der Sowjetunion wird erfahren, dass ich einen
heldenhaften Tod gestorben bin."
Einer der Kavalleristen hielt an und fragte mich etwas auf Polnisch. Ich verstand ihn
nicht, denn seine Sprechweise war irgendwie merkwürdig. Frau Jozefa aber fing sofort an,
Deutsch mit ihm zu reden. Daraufhin lächelte er sie an und sagte noch etwas, worauf sie
ihm souverän und laut erwiderte. Sie plapperte dabei so schnell wie er. Der Deutsche
nickte mit dem Kopf in meine Richtung und fragte etwas. Frau Jozefa guckte mich an und
antwortete. Ich jedoch saß ganz versteift da.
Endlich ließ er von uns los und ritt seinen Kollegen nach. Auch wir fuhren weiter. Nach
einiger Zeit fragte mich Frau Jozefa:
„Wovor hast du so große Angst bekommen?"
„Ich hatte gar keine Angst.", antwortete ich. „Ganz im Gegenteil, ich war sehr wütend."
Darauf sagte sie:
„Sogar der Deutsche hat es bemerkt und danach gefragt. Ich sagte, du wärst krank und
dass wir gerade vom Arzt zurück kämen."
"Vor Wut wurde ich blass. Ich hatte nicht übel Lust, diesen Deutschen dafür zu
verprügeln, dass er und seine Leute 1939 so hundsgemein Polen überfallen haben. Ich
fürchtete nur, das könnte Sie in Schwierigkeiten bringen."
„Na, macht nichts.", sagte sie. „Man muss noch einige Zeit durchhalten. Auch ihre
Herrschaft wird eines Tages ein Ende finden. Die Engländer werden uns mit Sicherheit
von dieser faschistischen Pest befreien."
„Ja!", stimmte ich zu. „Die ganze Hoffnung liegt in Churchill!", und fragte: „Sie aber reden
Deutsch wie eine Deutsche."
„Sehr gut kann ich diese Sprache nicht. Ich bin aber in der Lage, alles zu sagen und zu
verstehen, denn auf dem Gymnasium habe ich Deutsch gelernt. Französisch spreche ich
aber besser."
Mir erschien das alles sehr verdächtig. War sie vielleicht eine englische Agentin? Sie
hörte heimlich Radio, konnte Fremdsprachen und war so keck. Sehr verdächtig war das.
Ich musste Vorsicht bei ihr walten lassen.

3. Februar 1942. Gutshof Burki.

Seit dieser Begegnung mit den Deutschen war ich nicht mehr im Städtchen. Beim
nächsten Markttermin bereitete ich alles für den Weg vor, lud Säcke mit Kartoffeln auf den
Pferdeschlitten auf und sagte zu Frau Jozefa:
„Bitte seien Sie mir nicht böse, aber ich werde nicht mitkommen. Ich will die Deutschen
nicht mehr wiedersehen."
„Wieso denn nicht?", fragte sie. „Du brauchst mit mir keine Angst zu haben. Ich spreche
gut Deutsch und werde Dich jederzeit herausreden können. Auch deine Papiere sind in
bester Ordnung. Du kannst ruhig mitfahren."
„Um keinen Preis werde ich das tun! Ich fürchte, wenn ich einen dieser Deutschen sehe,
werde ich es nicht aushalten und ihn zusammenschlagen. So hitzig ist meine Natur. Weil
ich diese Nazis so hasse, könnte ich Sie und mich in meiner Wut in ein großes Unglück
stürzen. Lieber bleibe ich zu Hause, hier gibt es sowieso viel zu tun."
„Na gut!", antwortete sie, „Dann bleib also hier. Ich wollte eigentlich, dass du ein wenig
Abwechslung hast und unter die Leute kommst."
„Ich bleibe lieber allein als mir die Deutschen anzuschauen. Für mich sind sie keine
Menschen. Sie sind schlimmer als die Wölfe."
So blieb ich zu Hause. Ich ackerte ordentlich, um mich nicht zu langweilen. Da ich
wegen des guten Essens viel kräftiger wurde, war auch das Arbeiten leicht für mich.
Frau Jozefa kam spät heim und war sehr müde. Ich spannte das Pferd aus und brachte
die Einkäufe ins Haus. Sie inzwischen schrieb etwas auf einen Zettel und sagte zu mir:
„Bring du das Pferd zu Maluga zurück, denn ich habe im Haus noch viel zu tun. Gib ihm
auch den Zettel und das Salz, das ich für ihn gekauft habe."
Ich hatte wenig Lust, mich den Nachbarn zu zeigen. Frau Jozefa muss das verstanden
haben:
„Du sollst unsere Nachbarn kennen lernen und keine Angst vor ihnen haben. Hier leben
nur Polen. Sie sind arme Menschen, aber ehrenvoll. Und keiner wird dir einen Schaden
zufügen. Außerdem wissen hier alle, dass du Arbeiter bei mir bist und ahnen, dass du von
der russischen Armee kommst. Du kannst dir sicher sein, dass dich niemand verraten
wird. Bei uns gibt es solche Sitten nicht. Nicht nur du allein versteckst dich in dieser
Gegend. Viele von euren Soldaten sind zurückgeblieben und verstecken sich auf Bauern-
oder Gutshöfen."
Notgedrungen nahm ich das Salz und den Zettel, bestieg das Pferd und ritt ohne Sattel
zu den Nachbarn. Um die Wahrheit zu sagen, war ich schon neugierig, zu sehen, wie die
echten Bauern hier lebten. Denn Frau Jozefa ist eine Gutsherrin. Das heißt, sie entstammt
der oberen Klasse und ist gebildet. Nur der Krieg zwang sie dazu, ehrlich zu arbeiten und
die Ärmeren nicht mehr auszunutzen.
Ich kam auf die bessere Straße und ritt weiter zu den Malugas. Es war nicht weit, der
Weg aber war schwierig, weil in der letzten Zeit viel Schnee gefallen war. Von weitem
schon waren die Lichter in den Fenstern der Siedlungen zu sehen, die rund um unseren
Gutshof lagen. So traf ich endlich bei den Malugas ein. Zwei große Hunde sprangen mich
bellend an. Da sie wie Wölfe aussahen, hatte ich Angst abzusteigen. Aber sogleich trat
jemand vor das Haus und fragte auf Polnisch: „Wer ist da?"
„Der Arbeiter von Frau Jozefa in Burki. Ich bringe Euch das Pferd wieder, und Salz habe
ich ebenfalls mitgebracht. Es gibt auch einen Zettel für den Wirt."
Der Mann jagte die Hunde fort und führte das Pferd in den Stall.
„Warte hier einen Moment auf mich."
Schnell war er zurück, und wir gingen ins Haus. Ich grüßte alle Anwesenden und zog
den Zettel aus der Tasche:
„Ich weiß nicht, wem ich ihn geben soll."
„Ganz klar, mir!", sagte ein älterer, ganz weißhaariger Mann. „Ich bin hier der Hausherr."
Ich übergab ihm das Papier und schaute mich in der Stube um. Alles erschien mir sehr
merkwürdig. Unter der Decke brannte eine Petroleumlampe. An den Wänden hingen viele
Bilder und eine Uhr im Glaskasten. Und auf den Fensterbänken sah ich verschiedene
Topfpflanzen, darüber weiße, hübsche Gardinen. Ein großes Erstaunen bemächtigte sich
meiner. Ich wollte nicht glauben, dass hier einfache Bauern lebten. Am merkwürdigsten
fand ich, dass alle gut angezogen und beschuht waren. Die Frauen in Schnürschuhen, die
Männer in Langschäftern. Das alles erschien mir sehr verdächtig. Irgendwelche
Kapitalisten mussten sich hier versteckt haben und Bauern spielen.
Der Alte las den Zettel und steckte ihn in eine Schublade im Tisch. Dann wandte er sich
an mich:
„Was für ein Landsmann bist du?"
Ich sagte ihm das, was in meinen Papieren stand: „Von Dokudowo. Landkreis Lida."
„Das wirst du der Polizei erzählen oder den Deutschen. Aber an deiner Sprache kann ich
erkennen, wo du herkommst. Und nicht nur an der Sprache, sondern auch an all deinen
Bewegungen. Vor uns hast du nichts zu befürchten. Wir sind nicht so, dass wir einen
Mann in Not verfolgen würden, oder ihn bei den Behörden verpetzten."
Also sagte ich die Wahrheit:
„Ich war in der Armee und komme aus Russland."
„So, das ist schon was anderes.", sagte der Alte. „Ich kenne Russland gut. Zur Zarenzeit
reiste ich dort kreuz und quer umher. Damals war ich noch jung, und in Russland war es
noch möglich, sich frei zu bewegen. Und Russisch kann ich nicht schlechter als Polnisch."
Tatsächlich, er sprach gut Russisch. So glatt und sauber wie ein Politruk, nicht wie ein
einfacher Bauer. Ich erzählte ihm wahrheitsgemäß, dass ich aus dem Moskauer Bezirk
stamme und in Moskau einen Bruder habe, der Arbeiter in einer Möbelfabrik ist. Dass ich
Offizier und Komsomolez bin, und mein Bruder Leiter des Materiallagers ist, erwähnte ich
allerdings nicht. Wir unterhielten uns, und ich schaute mich dabei in dem Raum um. Außer
uns waren dort noch zwei junge Männer und zwei Mädel. Sie alle waren Malugas Kinder.
Eines von den Mädchen webte am Webstuhl. Das andere ging immer wieder in die
Küche, um das Abendessen vorzubereiten.
Bald danach setzten sie sich an den Tisch und luden mich dazu ein. Ich lehnte ab,
sagte, dass Zuhause das Essen auf mich warte. Der Alte aber wollte davon nichts davon
hören.
„Zuhause", sagte er, „wirst du noch einmal essen. Uns aber wirst du nicht hungrig
verlassen. Nachher würdest du uns noch anschwärzen, erzählen, die Polen seien ein
Volk, das einen Hungrigen wegjagt. Du bist Gast bei uns, setz dich und iss!"
Ich setzte mich an den Tisch. Der Alte sprach laut das Gebet. Alle machten das
Kreuzzeichen. Ich auch. Dann aßen wir. Es stellte sich heraus, dass die Bauern nicht
schlechter aßen als meine Gutsherrin. Erstaunlich. Denn von Frau Jozefa erfuhr ich, dass
sie tatsächlich Landleute waren. Nicht einmal vermögende Kulaken, da sie eine Familie
von sechs Personen waren und 15 Hektar von nicht besonders gutem Land besaßen. Die
Mädel gefielen mir sehr. Groß, rot-gesichtig, hübsch und sauber angezogen. Und sie
benahmen sich, als ob sie die Töchter eines wichtigen Kapitalisten wären. Keine von ihnen
bohrte in der Nase, oder kratzte sich in den Haaren. Nicht einmal fluchten sie oder
spuckten auf den Boden. Erstaunlich!
Nach dem Abendessen bedankte ich mich sehr höflich für die Gastfreundschaft. Der Alte
schlug mir vor:
„Es muss dir langweilig sein, so alleine auf dem Gutshof. Besuche uns doch öfter.
Tagsüber haben wir nicht viel Zeit, weil wir arbeiten müssen. Am besten wäre samstags
abends oder sonntags. Komm einfach her, denn ohne Menschen verwilderst du sonst
noch. Frau Jozefa hat mir schon erzählt, dass du vor Einsamkeit traurig wirst."
Ich verabschiedete mich von den Malugas und ging heim. Unterwegs dachte ich darüber
nach, wie gut es die polnischen Bauern hatten. Es sah so aus, als dass man auch ohne
die Kolchosen gut wirtschaften konnte. Wie sie aber zu einem solchen Reichtum
gekommen sind, konnte ich nicht verstehen. Die hatten doch weder Landwirtschafts-
instruktoren oder Leiter, noch eine staatliche Planung – und trotzdem ging es ihnen so
gut. Ich beschloss, die Malugas häufiger zu besuchen und mir alles genau anzusehen.
Außerdem gefielen mir die Mädchen.
Nach all dem, was ich bis jetzt gesehen hatte, begriff ich, dass die polnischen Bauern
ganz anders lebten, als man es uns erzählt hat. Versuch mal, in Russland einen Bauer zu
finden, der eine Uhr hat. Hier aber sind Uhren etwas Stinknormales. Alle hier sind satt und
gut angezogen. Niemand wird geschlagen, verkauft, oder ins Gefängnis geworfen. Unsere
Gutsherrin muss sich sogar von einem Bauern das Pferd leihen. Deren einziger großer
Fehler ist, dass sie Polen sind und an Gott glauben. Schlimm ist auch, dass sie sich nicht
in Kolchosen zusammentun, sondern jeder für sich arbeitet.
Als ich wieder zu Hause ankam, war Frau Jozefa mit dem Abendessen schon fertig. Für
mich stellte sie das Essen warm. Sie fragte mich:
„Wie hat es dir bei den Malugas gefallen?"
„Sehr gute Menschen sind sie", antwortete ich. „Und sie leben auch vorzüglich."
Frau Jozefa widersprach:
„Ach was, vorzüglich! Ein armer Bauernhof ist das. Weder Wald noch Wiesen haben sie.
Sie halten einfach zusammen und arbeiten gut. Deshalb müssen sie auch keine Armut
leiden. Sie vergeuden ihren Besitz auch nicht an Wodka, denn das wäre das Schlimmste."
Ich erzählte ihr, dass sie mich zu sich eingeladen hatten.
„Sehr gut", sagte Frau Jozefa. „Vielleicht findest du Gefallen an einem der Mädchen, und
sie an dir. Wer weiß, dann könntest du heiraten und für immer hier bleiben. Wozu
möchtest du zurück nach Russland, um in einer Kolchose dein ganzes Leben lang für
andere zu schuften, zu hungern und nichts Eigenes zu besitzen. Hier kannst du dein
eigener Herr sein. Wenn die besseren Zeiten kommen, werde ich dir dabei helfen. Jetzt,
wie du selbst siehst, geht das nicht. Eure Obrigkeit hat das Gut kaputt gemacht, und
meine Familie hat sich in der ganzen Welt zerstreut. So lebe ich armselig und warte
bessere Zeiten ab. Alle anderen hier leben ebenfalls so."
Ich ging zu Bett, konnte aber lange nicht einschlafen. Immer musste ich an das hiesige
Leben denken. Es sah ganz anders aus, als man uns erzählt hatte. Dazu klagten sie
immer über schlechte Zeiten und erzählten, wie gut es vorher gewesen war. Wie hatten
sie dann wohl vor dem Krieg gelebt?
Meine Uhr hatte ich in der Scheune versteckt, um nicht zu verraten, dass ich kein
einfacher Soldat, sondern ein wohlhabender Offizier war. Als ich feststellte, dass hier
sogar Bauern Uhren besaßen, holte ich meine “Omega“ aus dem Versteck und trug sie
ebenfalls wieder am Arm. So etwas verleiht einem Bedeutung und Ernsthaftigkeit. Ja!

3. April 1942. Gutshof Burki.

Vor zwei Monaten hatte ich beschlossen, nie wieder in das Städtchen zu fahren. Später
aber fasste ich Mut und war wieder mehrmals dort. Beim ersten Mal überredete mich Frau
Jozefa dazu, weil sie mir Hemden mit Kragen und Krawatten kaufen wollte, damit ich
schön gekleidet den Nachbarn Besuch erstatten konnte. Wir kauften drei gute Hemden,
zwei Krawatten und einen Hut mit breiter Krempe. An nächsten Abend zog ich das alles an
und schaute in den Spiegel - ich konnte mich nicht wiedererkennen. Wie ein Filmstar sah
ich aus. Nur das Krawattenbinden kann ich noch nicht, doch Frau Jozefa hilft mir jedes
Mal dabei.
Jetzt haben wir auch unser eigenes Pferd und brauchen es nicht mehr vom Nachbar zu
leihen, um zum Markttag zu fahren. Das Pferd ist, um die Wahrheit zu sagen, miserabel,
denn ein gutes würde viel Geld kosten. In unserer Wirtschaft aber wird auch ein solches
sehr nützlich sein. Immerhin ist es viel angenehmer, mit dem eigenem Pferd in die Stadt
zu fahren, als es von einem Bäuerlein zu leihen. Das würde sich auch nicht gehören, weil
wir keine Bauern, sondern ein besseres Element sind.
Kürzlich führte ich eine schöne Arbeit aus: Ich bestrafte Irka für ihren elenden Charakter,
für die Vernichtung meines Eigentums, und – na ja – auch für die Liebesenttäuschung.
Lange hatte ich darüber nachgedacht, wie ich es ihr für den Betrug an einem ehrenhaften
Offizier und Komsomolez heimzahlen könnte. Schließlich begriff ich, dass sich gerade jetzt
die richtige Gelegenheit bot, sie zu bestrafen. Also kaufte ich mir im Städtchen eine
Briefmarke, Papier zum Schreiben und einen Briefumschlag. Zu Hause, als Frau Jozefa es
nicht sah, verfasste ich dann einen Brief an die Gestapo:

„Sehr geehrte Institution!


Ich habe die Ehre, Euch mitzuteilen, dass in Wilno eine bekannte Kommunistin und
bolschewistische NKWD-Agentin lebt, die mit sowjetischen Offizieren verbunden und für
den sowjetischen Nachrichtendienst tätig war.
Ich bitte freundlichst, diese gerissene und abscheuliche Agentin durch Erschießung oder
Verschickung in ein Zwangsarbeitslager, in dem sie krepieren soll, unschädlich zu
machen, damit sie der Hitler-Armee keinen Schaden mehr zuzufügen kann.
Als Beweis ihrer hinterhältigen, kontra-faschistischen Tätigkeit gebe ich folgende Fakten
an:
Erstens: Diese Agentin unterhielt ständigen Kontakt mit den Kommunisten und der
russischen Armee. Zum Beispiel: Sie war eng befreundet mit dem berühmten
Kommunisten und Helden der Roten Armee, Leutnant Zubow, und hat ihm große Dienste
erwiesen. Zweitens: Ihre Spionagemeldungen hat sie zum Nutzen des NKWD-
Nachrichten- und Abwehrdienstes durch Pawel Silinnikow, Major der Kommandantur der
Stadt Wilna, übergeben.
Ich bitte sehr, sie zu verhaften und unschädlich zu machen. Sollte sie ihre schändliche,
antifaschistische Arbeit leugnen, dann bitte ich, sie ein bisschen ans Herz zu drücken,
denn dann wird sie ihren Kontakt zu den oben genannten Kommunisten und Stalinisten
schon zugeben
Ich bin überzeugt, dass sie noch heute für die heldenhafte Deutsche Armee und deren
großen FÜHRER Adolf Hitler sehr gefährlich sein kann."

Ich fügte die genaue Anschrift sowie den Namen von Irka hinzu und schrieb auf den
Briefumschlag: STRENG GEHEIM. Zu Händen des Leiters der Bezirksgestapo, Wilno,
Plac Lukiski.
Gleich am nächsten Tag, als ich im Städtchen war, steckte ich den Brief in einen
Postbriefkasten - und beruhigte mich. Jetzt konnte ich sicher sein, dass Irka eine gerechte
Strafe für die schlechte Behandlung eines idealistischen Komsomolzen und ehrenhaften
Offiziers der Roten Armee bekam. Ein sehr angenehmes Gefühl war das.
Das Abschicken des Briefes hatte noch einen anderen Vorteil. Sollten mich die
Deutschen einmal schnappen, würde ich sofort erklären können, dass ich ein Freund von
ihnen war und der Gestapo geholfen hatte, Feinde des deutschen Volkes zu entlarven.
Darüber hinaus würde ich ihnen zeigen, wo Frau Jozefa das Radiogerät versteckt hielt,
um anti-faschistische ausländische Sendungen zu empfangen. So gut und weise sicherte
ich mich ab. Jetzt fühlte ich mich viel ruhiger. Ich war eben doch ein sehr kluger Mann und
hatte deswegen mächtig Achtung vor mir selbst. Ja, an Verstand mangelte es mir nicht.
Bei den Malugas war ich mittlerweile schon mehrmals. Nach dem ersten Besuch ging ich
Sonntagabend wieder dorthin. Natürlich zog ich mich sehr schön an. Frau Jozefa band mir
die Krawatte, und ich sah wie eine hochgestellte Person aus. Die “Omega“ brachte ich am
Unterarm so an, dass sie immer zu sehen war.
Dann kam ich dort an. Schon im Hof hörte ich die Mädchen singen. Nicht unsere Lieder ,
sondern welche in der faschistischen, polnischen Sprache. Ich kam herein und begrüßte
die Anwesenden sehr höflich. Wir sprachen über Verschiedenes und scherzten. Den
meisten Unfug trieb der jüngere Sohn Malugas, Andrzej. Das gefiel mir nicht besonders,
ich tat aber so, als ob ich seinen Unsinn lustig fände. Einmal wollte er wissen, ob ich eine
Schule besucht hatte. Ich bejahte und erklärte ihm, dass ich sogar ein guter Schüler
gewesen bin. Dann fragte er mich:
„Wenn du eine Schule besucht hast, dann sag mir, wie viel ist 7 mal 8?
„56!“, antwortete ich sofort und ohne nachzudenken. Er konnte sich also davon
überzeugen, wie wichtig Wissenschaft und Kultur in der Sowjetunion waren.
„Gut!", sagte er. „Und welche ist die größte Stadt der Welt?"
„Moskau."
Er widersprach und behauptete, es sei London. Und nach London käme New York. So
bewies er selbst, wie ihn die anglo-amerikanische Propaganda und Werbung verblendet
hatten. Aber nichts. Wir unterhielten und amüsierten uns weiter.
Später erzählte der alte Maluga über Amerika. Es zeigte sich, dass er dort 15 Jahre lang
gelebt und in Detroit in einer Ford-Fabrik gearbeitet hatte. Mit angespartem Geld war er
heimgekehrt und hatte einen Bauernhof gekauft. Ich fragte ihn vernünftig, warum er -
wenn das Leben in Amerika so schön gewesen war und er Geld besessen hatte – nicht
dort geblieben ist. Worauf er sagte, dass es die Sehnsucht war, die ihn zu seinem Land
und seinen Leuten zurück gezogen hätte.
Ich fragte, ob er in Amerika sehr misshandelt worden ist und wie sie ihn geschlagen
hatten, damit er höhere Arbeitsnormen erzielte. Er erklärte darauf:
„Ich habe nie von dem Fall gehört, dass ein Arbeiter geschlagen wurde. Arbeiter werden
dort hoch geschätzt und haben viele Rechte."
„Du musst dort aber Hunger gelitten haben?"
„Hunger?" Der Alte lachte: „Von Hunger war dort überhaupt keine Rede. Ich habe gut
gegessen. Es fehlte mir an nichts."
Eine andere Frage interessierte mich noch:
„Wie werden dort die Arbeiter behandelt, die sich zur Arbeit verspäten? Werden sie, wie
bei uns, beim ersten Mal nur für drei Monate ins Gefängnis gesteckt und erst ab dem
zweiten mal ins Lager geschickt, oder werden sie gleich getötet?"
Der Alte aber gab ein windige Antwort:
„Deine Frage finde ich ziemlich dumm. Erstens: Dort gibt es keine Lager. Zweitens: Zur
Arbeit kannst du, wenn du willst, gar nicht antreten. Und arbeiten kannst du, wo auch
immer du möchtest. Natürlich, zur Arbeit muss man rechtzeitig kommen, damit es eine
Ordnung gibt."
„Na gut!", fragte ich nach. „Wenn aber jemand von der Fabrik weit entfernt wohnt? In
Amerika leben doch viele Menschen, und nicht jeder kann eine Wohnung in Fabrik-Nähe
haben. Dann muss er doch manchmal auch zu spät kommen?"
„Ich", erwiderte der Alte, „habe 25 Kilometer von der Fabrik entfernt gelebt und mich
niemals verspätet. Mein Wecker hat mich immer rechtzeitig geweckt, und die Hauswirtin,
bei der ich wohnte, hat mir immer pünktlich das Frühstück zubereitet. Es gab also keine
Probleme damit."
Ich sah, dass er mich nicht verstehen konnte, also erklärte ich ihm wie einem kleinen
Kind:
„Du hast 25 Kilometer bis zur Fabrik gehabt. Alleine für den Weg zur Arbeit brauchtest
du also mindestens viereinhalb Stunden. Wenn dann zum Beispiel Schnee die Wege
zugeschüttet oder Regen sie matschig gemacht hat, dann musstest du dich also
mindestens um eine Stunde verspäten."
Der Alte lachte nur:
„Es gibt dort keinen Matsch auf den Straßen, weil sie asphaltiert sind. Fällt dann doch
einmal Schnee, rücken sofort spezielle Autos aus und machen die Wege wieder frei. Und
die 25 Kilometer brauchte ich nicht zu laufen, sondern bin sie immer gefahren. Dort geht
niemand zu Fuß über größere Strecken."
„Das heißt, du brauchtest jeden Tag einen Passierschein vom amerikanischen NKWD!"
„Niemand in Amerika braucht einen Passierschein, und es gibt auch keinen NKWD. Wer
fahren will, kauft sich eine Fahrkarte - und das ist alles. Die, die häufiger fahren müssen,
kaufen sich billige Saisonfahrkarten."
„Na gut, wenn aber die Waggons überfüllt sind und es sogar auf dem Dach keinen Platz
mehr gibt, dann kann man sich doch ab und zu verspäten und der Fabrik einen Schaden
zufügen. Du wirst mir doch nicht erzählen, dass solche Personen dort nicht bestraft,
sondern geküsst werden."
Er darauf:
„Es ist schwierig, mit dir zu reden. In Amerika reist niemand auf dem Dach eines
Waggons. Die haben dort alles genau ausgerechnet, so dass so viele Züge und Busse
pendeln, dass jeder einen Sitzplatz findet. Ich dagegen fuhr mit meinem eigenen Auto zur
Arbeit."
„Mit eigenem Auto?!"
„Ja, warum wunderst du dich so? In dieser Zeit hatte ich zwei Autos. Das erste habe ich
verkauft, als es alt wurde und habe mir ein neues, besseres gekauft."
„Und woher hast du das Geld dafür bekommen?"
„Wie, woher? Verdient habe ich es."
„Um ein Auto zu kaufen?"
„Ich habe es nicht sofort gekauft. Ich gab der Firma eine Anzahlung und zahlte es dann
weiter ratenweise ab. Das erste Auto hatte ich innerhalb von zwei Jahren abbezahlt. Für
das zweite hatte ich schon mehr Geld zusammen, also brauchte ich nur ein Jahr.
Übrigens, dort haben nicht nur Arbeiter, die weit zur Arbeit fahren müssen, ein eigenes
Auto. Nur diejenigen, die keinen Platz haben, um eine Garage zu bauen oder zu mieten,
kaufen sich keinen Wagen. Oder diejenigen, die keine Probleme damit haben wollen. In
unserer Fabrik gab es nur wenige Arbeiter, die keine eigenen Autos besaßen."
Ich schaute ihn mir an und hatte große Lust, ihm gehörig meine Meinung zu sagen,
überlegte mir es aber anders. Ich begriff, wer er war, wo die Vorhänge an den Fenstern
und all diese Schuhe her kamen! Es wurde mir klar, wie er dazu gekommen war. Mit
diesem Auto hatte er sich verraten. Hätte er gesagt, ein Arbeiter in Amerika, ein
Stachanowiec, konnte sich nach vielen Jahren Arbeit Geld für ein Fahrrad zusammen
sparen, das hätte ich ihm vielleicht geglaubt. Aber ein Auto...! Mir war zum Lachen
zumute, als ich mir einen Arbeiter im eigenen Auto vorstellte. Das war auch irgendwie
unanständig.
Ja, wie mächtig musste die amerikanische Propaganda sein, wenn sie sogar hier ihre
Agenten einschleusen und soviel Gedankenchaos verbreiten konnte. Hätte er mir so was
bei uns erzählt, hätte ich schon gewusst, was mit so einem Burschen zu tun gewesen
wäre. Hier aber konnte ich nur schweigen und keine Fragen mehr stellen. Zudem wurde
mir schrecklich bange. Das war doch grenzenlose Niedertracht und Dreistigkeit!

3. Mai 1942. Gutshof Burki.

Heute habe ich frei, es ist Sonntag, also schreibe ich weiter. Freitag habe ich ebenfalls
nicht gearbeitet, weil Frau Jozefa beim Frühstück zu mir sagte: „Zieh heute deinen guten
Anzug an und ruhe dich aus. Die Arbeit werden wir nächste Woche nachholen."
„Warum arbeiten wir heute nicht?"
„Es ist doch das Arbeiterfest, der erste Mai."
„Ihr begeht das Fest auch?"
„Wie es jedem gefällt."
Ein hinterhältiges Volk, diese Polen. Sogar unser proletarisches Fest eigneten sie sich
an. Aber nichts. Es war sogar besser so, weil ich müde war. Wir arbeiteten nur zu zweit,
und so war es schwer, alles rechtzeitig zu schaffen. In einer Kolchose würden unsere
Arbeit an die zwanzig Leute machen. Frau Jozefa hat einmal zu mir gesagt: „Arbeite, so
viel du kannst, denn hier bist du auf deinem eigenen Hof. Du arbeitest für mich, ich arbeite
für dich. Und beide arbeiten wir, um zu leben."
Es war sehr angenehm gewesen, das zu hören, obwohl ich - mit meiner Bildung –
eigentlich gar nicht arbeiten, sondern die Arbeit anderer überwachen sollte. Es sieht aber
so aus, als ob auch ich ein Gutsherr wäre, insbesondere wenn ich meine bessere
Kleidung anziehe, die Krawatte anbinde und die “Omega“ sichtbar mache. Ein sehr
angenehmes Gefühl ist das. Wäre es doch nur möglich, die in Wilno zurückgelassenen
Sachen zu holen, denn dann, könnte man sagen, wäre ich rundum zufrieden. Vor allem
die Drehorgel vermisse ich, weil ich ein gefühlvoller Mann bin und Musik genauso verehre
wie Wurst.
Stalin bin ich nicht mehr böse. Obwohl Ausländer, kümmert er sich, wie ich sehe, um
russische Interessen. Es war nicht seine Schuld, dass Hitler uns betrogen hat. Denn der
ist nun mal eine miese Bestie, die sich an keine Versprechen hält und ehrenvolle
Verpflichtungen bricht. Frau Jozefa hat mir das alles ganz genau erklärt, auch, dass Stalin
jetzt zusammen mit Polen, England und Amerika gegen Hitler kämpft sowie die
>atlantische Karte< unterzeichnet hat, in der steht, dass alle Nationen frei, ohne Furcht
und in Wohlstand leben sollen. Es ist angenehm, zu wissen, dass die Bourgeoisie endlich
verstanden hat, dass man ohne Freiheit nicht leben kann. Es gibt also Hoffnung, dass alle
Staaten freiwillig in die Sowjetunion aufgenommen werden. Man muss nur diese
imperialistische Pest, Hitler, besiegen. Dann wird es gelingen, eine Welt-Kolchose
aufzubauen, alle Kapitalisten, die Uhren und Fahrräder besitzen, abzuschlachten und mit
Hilfe des NKWD unseren russischen Sozialismus einzuführen.
Nach einem guten Essen ging ich in die Scheune, wo ich feierlich die “Internationale“
und das “Vater Unser“ anstimmte. Diesem kommunistischen Gebet passte ich eine schöne
revolutionäre Melodie an. So singe ich sie oft, zu Ehren unseres VATERS Stalin.

10. Mai 1942. Gutshof Burki.

Den Genossen: General Sikorski und Präsident Raczkiewicz.

Die Malugas besuche ich jetzt jeden Sonntag, obwohl mir seine Funktion als
kapitalistischer Agent nicht gefällt. Die Mädchen aber sind sehr schön, und gerne würde
ich eine von ihnen anbaggern. Beim letzten Mal sagte mir der jüngere Sohn, Adrzej:
„Ich bemitleide dich sehr."
„Wieso?".
„Weil du so dumm bist. Verblödet haben dich eure Politruks, und so hast du keine
Ahnung von der Welt. Nicht einmal davon, was bei euch geschieht."
Es war mir sehr unangenehm, das zu hören. Ich konnte ihm aber nicht verraten, dass ich
ein Offizier war und dass gerade sie, nicht wir, die ungebildete Masse waren. Er redete
weiter:
„Und überhaupt sieht deine Lage schlecht aus. Sollte Hitler gewinnen, wirst du für immer
unter falschem Namen leben und immer Angst haben müssen. Wenn Russland siegt,
kannst du auch nicht mehr nach Hause zurück, oder dich stellen."
„Was soll das heißen, ich kann nicht?"
„Ist doch klar, dass das nicht ginge. Entweder kriegst du sofort eine Kugel in den Kopf,
oder sie werden dich zum Verrecken ins Lager schicken, weil du deine Armee verlassen
hast. Du bist doch ein Deserteur, und die werden dich vielleicht sogar zum Verräter
abstempeln. Ich weiß schon, wie das bei euch läuft."
„Sie haben mich doch hier zurückgelassen und sind geflüchtet. Was hätte ich den tun
sollen? Die Deutschen alleine aufhalten?"
„Danach wird dich keiner fragen. Ich weiß nur, dass bei euch auch ein Soldat, der
kämpfend und verwundet in die Gefangenschaft gerät, als Verräter gilt. Um so mehr in
einem Fall wie dem deinen."
Ich dachte nach und begriff, dass er Recht hatte. Also fragte ich:
„Was soll ich denn tun?"
„Das weiß ich nicht.", antwortete er. „Wenn deine Leute kommen, ist dir die Kugel sicher.
Entweder Kugel oder Tod im Lager aus Hunger und Überarbeitung. Das Einzige, was dich
noch retten kann ist, wenn nach dem Sieg über Hitler hier wieder ein freies Polen entsteht.
Dann wirst du heil davonkommen."
„Aber werden mich eure Kapitalisten nicht umbringen?"
„Was für Kapitalisten? Und warum sollten sie dich töten? Man hat dir Unsinn eingeredet,
und du glaubst diesen ganzen Quatsch. Bei uns lebten sogar solche in Freiheit und
Sicherheit, die noch vor dem Krieg aus Russland flüchteten. Niemand hat ihnen einen
Schaden zugefügt."
„Aber ich bin doch ein Russe."
„Bei uns gab es viele Ausländer, und jeder konnte hier frei leben und arbeiten, solange
er nicht gegen unsere Gesetze verstieß."
So verdarb mir dieser Andrzej die Laune. Es war klar, dass meine jetzige Lage
miserabel war. Ich verlor die Lust an Liedern, Essen und Mädchen. Sogar nach Hause
ging ich vorzeitig. Ich wandte mich an Frau Jozefa:
„Sie sind eine gebildete Frau. Ich bin ein einfacher Soldat und weiß wenig. Könnten Sie
mir die Wahrheit sagen: Werden wir Hitler besiegen?"
„Natürlich", erwiderte sie, "werden wir ihn besiegen. Die halbe Welt kämpft jetzt gegen
ihn. Zur Zeit hält er sich noch, das wird aber nicht mehr lange dauern."
„Na gut, nachdem wir aber die Faschisten weggejagt haben, welche Macht wird hier
regieren? Die englische oder die sowjetische?"
„Weder noch. Hier wird wieder Polen sein, so wie es früher war. Dafür haben wir
gekämpft und kämpfen gegen die Deutschen weiter. Unsere Unabhängigkeit wird durch
internationale Verträge garantiert. Um eine fremde Regierung zu bekommen, bräuchten
wir gar nicht zu kämpfen. Und mit Russland hat sich unser Oberbefehlshaber General
Sikorski schon verständigt. Er lebt zur Zeit in England. Sobald die Deutschen besiegt sind,
wird er mit der polnischen Armee herkommen."
„Dieser Sikorski ist für euch etwa wie früher Pilsudski?"
„Ja, die ganze Nation vertraut ihm und wartet auf seine Rückkehr. Unsere ganze
Regierung und der Präsident werden auch kommen, und so werden wir Polen nach diesen
Verwüstungen durch die sowjetische und die deutsche Besatzung wieder aufbauen."
„Und wer ist bei euch der Wichtigste? Bei uns ist es Stalin. Und bei euch?"
„Bei uns ist es Präsident Raczkiewicz."
„Raczkiewicz?"
„Ja!"
„Das bedeutet also, dass ihr zwei Führer habt. Einen zivilen, den Präsidenten. Und einen
militärischen, den General Sikorski. Das ist nicht gut so."
„Warum nicht?"
„Weil das Unordnung bedeutet. Man weiß nicht einmal, an wen man Telegramme mit
den Worten der Verehrung und der Treue schicken soll. Und das Militär weiß nicht, wen es
zu besingen hat."
Lange erzählte mir Frau Jozefa von Politik, Demokratie und verschiedenen anderen
Sachen. Mich aber interessierte das alles wenig. Das Schlimmste für mich war meine
miserable Situation. Kommen die Unsrigen: eine Kugel ins Genick! Schnappen mich die
Deutschen: eine Kugel in den Kopf! Es stellte sich heraus, dass ich nur auf die Polen
zählen konnte. Auf ihre kapitalistische Herrenregierung. So weit war es gekommen!
Fast die ganze Nacht konnte ich nicht schlafen und musste grübeln. Es sah so aus, dass
ich ein Deserteur, Feind des Volkes und des Proletariats war. Und was habe ich
verbrochen? Immer und über alles in der Welt hatte ich Stalin und Russland geliebt. Immer
hatte ich sie gelobt und verehrt, wie es sich für einen echten und gerechten Kommunisten
gehörte. Und für all das habe ich mir eine Kugel oder die Verschickung ins Lager verdient.
Es stellte sich sogar heraus, dass mir nur Kapitalisten aus der Patsche helfen und mich
weiter leben lassen konnten. Ein sehr unangenehmes Gefühl. Ja.
Ich werde Polnisch als auch den Text und die Melodie der polnischen “Internationale“
lernen müssen. Und meine Aufzeichnungen müsste ich wohl zwei Herren auf einmal
widmen. Diesem General Sikorski und Präsident Raczkiewicz. Nur, welchen von den
beiden sollte ich zuerst nennen? Es war eine wichtige Frage, und ich wollte keinen Fehler
machen. Vielleicht werde ich zuerst den General nennen. Sollte er Hitler besiegen, dann
schnappte er sich die Macht, liquidierte clever den Präsidenten und würde so der Erste im
Staat. Sollte ich mich doch in der Einschätzung der Wichtigkeit dieser Personen irren,
dann würde ich um Verzeihung bitten und dem polnischen NKWD beichten, dass mich die
Deutschen dazu gezwungen hätten. Vielleicht würde ich dann eine mildere Strafe
bekommen. Ja, es war schwierig, sich an die neue Lage anzupassen.
Ich bat Frau Jozefa, mir die Porträts von Präsident Raczkiewicz und General Sikorski
sowie das von Pilsudski zu besorgen. Ich versprach, jeden Preis dafür zu zahlen. Notfalls
würde ich sogar meine Uhr verkaufen.
„Wozu brauchst du das?", wollte sie wissen.
„Weil ich die großen Führer und die Väter des polnischen Volkes sehr liebe."
Sie versprach mir, bei Gelegenheit in Wilno diese Porträts zu finden. Es wäre
fantastisch. Pilsudski würde ich in der Mitte aufhängen. Er ist ihr kapitalistischer Lenin.
Links und rechts von ihm - Sikorski und Raczkiewicz. Wie Stalin und Molotow. Ich muss
nur unbedingt noch in Erfahrung bringen, wie ihr kapitalistischer Marx heißt. Den würde ich
auch gerne aufhängen. Es wäre ferner von Nutzen, ein Porträt des Vorstehers des
reaktionären polnischen NKWD zu kaufen. Sonst könnte ich eine ernsthafte Abweichung
von der kapitalistischen Generallinie begehen.

11. Juni 1942. Gutshof Burki.

Ende Mai fuhr Frau Jozefa nach Wilno und als sie nach drei Tagen zurück war, brachte
sie mir ein großes Porträt von Pilsudski sowie aus alten Illustrierten herausgeschnittene
Fotos von Sikorski und Raczkiewicz mit. Das Pilsudski-Porträt gefiel mir sehr, die Fotos
von den jetzigen Führern aber waren aus dünnem Papier und überhaupt kärglich. Ich
klebte sie ordentlich auf ein Stück Pappe und hängte sie in meinem Zimmer auf. Einige
Tage später sah Frau Jozefa das und befahl mir, sie abzuhängen. Ich wunderte mich sehr:
„Wieso das? Es sind doch Führer der polnischen Nation. Jeder, der sie liebt, sollte sie an
der Wand haben."
„Bei uns gibt es solche Bräuche nicht.", antwortete sie. „Und wenn mal die Polizei oder
die Deutschen vorbeikommen, könnten sie uns dafür verhaften."
Also nahm ich die Porträts ab und versteckte sie in der Scheune. Die ganze Sache
merkte ich mir aber genau. Sollte hier einmal wieder Polen sein, werde ich dessen
faschistischem NKWD melden, dass sie mir nicht erlaubt hatte, Porträts der Führer
aufzuhängen. Dafür würde sie mit Sicherheit eine harte Strafe kriegen. Ich dagegen würde
Anerkennung und Auszeichnung von dieser ehrenhaften, Feinde des kapitalistischen
Volkes bekämpfenden Institution, erhalten
Einige Tage später sagte ich Frau Jozefa, dass ich sehr gerne Polnisch lernen würde.
Sollte hier mal wieder Polen werden, dann hätte ich nicht die Absicht, nach Russland
zurückzukehren. Sie war damit gerne einverstanden und fing gleich darauf mit dem
Unterricht an. Dieses kapitalistische Alphabet gefällt mir aber nicht. Irgendein verstockter
Reaktionär muss es erfunden haben. Die Buchstaben sind zum Lachen. Frau Jozefa
erklärte mir aber, es sei ein lateinisches Alphabet, und fast alle Staaten Europas,
Amerikas und anderer Länder benutzen es, weil es einfach und bequem sei.
Schritt für Schritt lernte ich die Buchstaben kennen, sie zu lesen und zu schreiben.
Miteinander sprachen wir nur noch polnisch. Lediglich wenn ich etwas nicht verstand,
erklärte Frau Jozefa es mir auf Russisch.
Eines Tages fragte sie mich nach dem Leben in der Sowjetunion:
„Sag mir die Wahrheit, Janek, wie lebt ihr da drüben? Ich selbst weiß viel darüber, aber
auch du könntest mir Interessantes erzählen. Ich habe schon verstanden, dass ihr
unglücklich und von Kindesbeinen an so erzogen seid, nie die Wahrheit zu sagen. Wie die
Papageien plappert ihr nur nach, was euch die Propaganda eingetrichtert hat. Du aber
hast das Leben hier gut kennen gelernt und kannst es mit dem eurigen vergleichen. Sag
also, hast du in Russland besser gelebt, und ist das Leben des russischen Volkes wirklich
besser als das unsere?"
Ich überlegte mir die Antwort lange. Sage ich die Wahrheit - der Teufel weiß, was dabei
in Zukunft herauskommen würde. Sollten die Unsrigen zurückkommen, könnte sie mich
beim NKWD anzeigen. Wenn ich jetzt allerdings lüge, wird sie glauben, ich wäre verlogen.
Sie muss mein Zweifeln bemerkt haben, denn sie erklärte:
„Du lebst schon seit langem bei mir und weißt, wie ich bin. Du kannst offen alles
erzählen und musst keine Unannehmlichkeiten fürchten. Auch ohne dich weiß ich viel über
das Leben im heutigen Russland. Nicht nur in Russland übrigens, sondern in der ganzen
Welt. Ich selbst sagte dir immer nur die Wahrheit. Du aber lügst entweder, oder drückst
dich vor der Wahrheit. Ich habe mir schon gedacht, wie gerissen und verschlagen du bist,
obwohl ich für dich wie eine Mutter für ihren Sohn sorge."
Ich verstand, dass ich die Wahrheit sagen musste. Eine Wahrheit, an die ich nicht
einmal denken wollte. Sollte hier einmal wieder Polen werden, dann riskierte ich sowieso
nicht viel. Und nach Russland wollte ich freiwillig auch nicht wieder zurück. Es war mir
lieber, hier als Knecht zu leben, dafür aber mehr geachtet zu werden als ein Offizier in
Russland.
Ich schaute mich noch einmal um, um mich zu überzeugen, dass niemand mithörte und
erzählte dann:
„Wir lebten schlimmer als bei euch die Hunde. Gutes gab es bei uns nie und wird es nie
geben. Wir schufteten ohne Ende und nicht einmal schlechtes Essen gab es dafür genug.
Jeder hatte Angst vor jedem. Meine Mutter und mein Vater hatten Angst vor mir, weil die
Schule uns befohlen hatte, die Eltern zu bespitzeln und alles an die Obrigkeit weiter zu
melden. Wir hatten weder gute Kleider noch Schuhe noch Essen. Wir kleideten uns in
Lumpen, hungerten und mussten glauben, dass das ein großes Glück sei. Weil wir
dachten, im Ausland wäre es noch schlimmer. Dass bei euch Menschen Lehm und
Baumrinde essen."
„Habt ihr nicht die Möglichkeit gehabt, ausländisches Radio zu hören, oder von den
älteren Leuten zu erfahren, wie man in Russland vor der Revolution gelebt hatte?"
„Mein ganzes Leben lang habe ich kein Radiogerät gesehen. Die alten Menschen sind
schon tot oder mussten schweigen. Erst hier habe ich gesehen, wie gut man leben kann.
Anfangs habe ich geglaubt, das wäre Propaganda, und alle hier seien Kapitalisten. Erst
später habe ich mich überzeugt, dass hier sogar Arbeiter ein Leben haben, von dem wir
nicht einmal zu träumen wagten. Vieles kann ich bis heute nicht verstehen. Eins aber habe
ich gut verstanden: Dass wir unser Leben lang betrogen wurden."
„Ein unglückliches Volk seid ihr", sagte Frau Jozefa. „Du kannst aber sicher sein, dass
sich das nach dem Krieg ändern wird. Die jungen Menschen werden erfahren, wie das
Leben in der Welt aussieht und sich weigern, weiter in so einer schrecklichen
Sklavenschaft und Erniedrigung zu leben."
"Nichts wird sich bei uns ändern, und nie wird das Volk über das bessere Leben
erfahren. Die, die etwas wissen, werden, sollten sie überleben, kein Wort darüber
verlieren. Auch wenn ganz Russland es wüsste, könnte niemand etwas dagegen
unternehmen. So ist nun einmal unser Schicksal. Lediglich die Kapitalisten könnten, wenn
sie wollten, Russland ändern. Erst aber müssten sie unsere Regierung beseitigen und den
NKWD zerstören. Alleine werden wir uns nicht einmal in tausend Jahren befreien."
Ich kann es selbst nicht fassen, wie ich es zustande brachte, Frau Jozefa das alles zu
berichten. Zum ersten Mal im Leben erzählte ich jemandem (und mir selbst ) die ganze
Wahrheit über dieses Thema. Ich bereue es zwar, aber es ist passiert. Ich werde nie
zugeben, dass ich das alles jemals gesagt habe. Notfalls werde ich es leugnen. Ich bin
wegen dieses Gesprächs sauer auf mich und auf Frau Jozefa. Ich weiß, dass sie mich
nicht anzeigen wird, denn dann würde auch sie liquidiert werden. Es ist mir aber peinlich,
die Kapitalisten zu loben und unsere russische Regierung zu kritisieren.
Von diesem Tag an unterhielten wir uns häufiger über diese Themen. Ich verheimlichte
nichts, weil ich mir sicher war, dass die Unsrigen nie kommen würden. Sollten die
Deutschen den Krieg gewinnen, werden sie unsere Regierung liquidieren, den NKWD
auseinander jagen, niedermetzeln und ihre Ordnung einrichten. Gewinnen die Engländer
und Amerikaner, werden die alles an sich reißen und Polen wird hier wieder entstehen.
Trotzdem ängstigte ich mich vor solchen Gedanken und schlief seitdem schlecht. Immer
wieder träumte ich von Verhaftungen, Verhören, Verschickungen, Gefängnissen,
Exekutionen...
Trotz alledem lebte ich doch glücklich in Russland und wusste nichts von den Sachen,
die ich heute weiß. Was habe ich zum Beispiel davon, dass ich jetzt ein gutes Kleid,
Schuhe und eine Uhr besitze, wenn hier doch jedermann eine Uhr hat und Lederschuhe
trägt. Oder das Essen hier... Wenn es so etwas ständig gibt, denkt man nicht einmal
daran. In Russland dagegen, als ich mal ein Pfund Zucker zugeteilt bekam, da war ich
stolz und mächtig zufrieden - weil ich ausgezeichnet wurde und ein großes Glück gehabt
hatte. Es gab natürlich Millionen, die immer hungerten und in Lappen herum liefen. Was
aber ging mich das an? Jeder muss alleine für sich sorgen. Ich gehörte einer besseren
Klasse an, war Offizier und Komsomolez, also hatte ich besser behandelt werden müssen
als ein Durchschnittsbürger. Und nun: Als Knecht habe ich es hier besser als früher als
Offizier, bin aber nicht sonderlich hoch geschätzt. Jeder hier hält mich für einen Idioten,
und es gibt niemanden, der mich beneidet. Dort konnte ich eine hohe Stellung inne haben,
hier werde ich bis an mein Lebensende Knecht bleiben. Auch wenn ich mal heiraten und
eine eigene Wirtschaft gründen sollte - solche Landwirte gibt es hier zu genüge. Früher
glaubte ich, ich wäre sehr glücklich, weil ich in Russland, nicht im Ausland lebte. Heute
weiß ich, wie blöd das war. Besser aber fühle ich mich dadurch nicht.
Die Malugas besuche ich immer noch, samstags oder auch sonntags. Alle dort sind sehr
nett mir gegenüber. Und eine der Töchter, Antosia, schaut mich sehr freundlich an und
unterhält sich gerne mit mir. Ich weiß, dass Maluga auf einem schlechten Weg zu seinem
Reichtum gekommen ist, aber was geht mich das an? Auch wenn er ein Agent der
amerikanischen Kapitalisten ist, mich stört das nicht. Es ist sogar besser, wenn hier
Amerikaner, und nicht die Deutschen oder die Bolschewiken regieren werden. So wäre ich
mir meines Lebens sicher.
Häufig versuchte der alte Maluga, mich in Gespräche über die Sowjetunion hinein zu
ziehen. Ich aber erklärte immer, ich wüsste wenig, weil ich nur ein einfacher Arbeiter war
und einer Bauernfamilie entstammte. In der Armee wäre ich ein einfacher,
zwangsrekrutierter Soldat. Er aber sagte eines Tages:
„Junge, du wedelst mit der Zunge wie der Hund mit seinem Schwanz. Du weißt alles,
aber entweder willst du nichts sagen, oder du hast Angst davor. So haben dich die
Politruks dressiert."
Mit Andrzej unterhielten wir uns mal bei der Arbeit. Unsere Felder liegen dicht
nebeneinander. Als mir Frau Jozefa am Mittag das Essen brachte, kam er zu mir herüber,
um zu plaudern.Seltsames erzählte er mir. Er sagte, dass vor dem Krieg fast alle Jungen
hier mit der Sowjetunion sympathisiert hätten, und es viele gegeben hätte, die der
kommunistischen Partei angehörten.
„Das kann ich nur schwer glauben."
„Reine Wahrheit, sage ich dir!", versicherte mir Andrzej. „Auch ich war gegen die
polnische Regierung. Wir lasen verschiedene eurer Blätter und Broschüren. Ab und zu
besuchten uns die Kommunisten aus der Kreisstadt oder aus Wilno. Fast die ganze
Jugend war für Russland. Wir dachten, bei euch gäbe es wirklich einen großen Wohlstand
und Freiheit, niedrige Steuern und ein lustiges Leben. Einige der Jungs gingen sogar über
die Grenze. Zurück aber kam nur einer, und er erzählte uns, dass es dort kein Paradies,
sondern nur die Hölle gäbe. Wir waren wütend auf ihn, wollten seinen Geschichten nicht
glauben, dachten, die Polizei hat ihn bestochen, damit er gegen die Sowjets agitiert.
Später wurde er in seinem Haus durch das Fenster erschossen. Bis heute wissen wir
nicht, wer ihn beseitigt hat. Aber erst, als ihr selbst hierher gekommen seid, wurden wir
von dem Kommunismus geheilt. Was die polnische Polizei und die Priester von der Kanzel
in 20 Jahren nicht geschafft haben, habt ihr selbst in 20 Tagen erledigt. Es ist sogar so
weit gekommen, dass uns die Deutschen lieber sind als ihr, auch wenn sie echte Blutegel
und unsere Feinde sind. Sie drängeln aber nicht wie die letzten Schweine in die
Bauernhäuser, sie hängen nicht überall Hitler-Porträts auf und ziehen vor allem nicht den
Leuten die Schuhe von den Füßen aus."
Zum Schluss sagte er mir noch:
„Weißt du, womit ihr uns am meisten für euch eingenommen habt, bevor wir euch
kennen gelernt haben? Mit euren Liedern. All diese Lieder von Freiheit und Freizügigkeit,
Liebe und fröhlichem sowjetischem Leben haben wir gesungen. Unsere Herzen schlugen
für euch. Heute würden wir sogar mit dem Satan singen, damit euch nur der Teufel hole!"
Zum zweiten Mal hörte ich fast dieselbe Rede. Ähnliches hatte mir in Wilno der Kontrik
Kolka erzählt. Damals dachte ich, er wäre ein verstockter Reaktionär. Erst jetzt verstand
ich, dass wir nur dort geliebt wurden, wo man uns nicht mit den eigenen Augen gesehen
hatte. Das war kein gutes Gefühl. Nirgendwo werde ich zugeben, dass ich ein
Komsomolez und Offizier bin. Es würde mir sowieso keiner glauben. Denn sogar als
einfacher Soldat wurde ich hier für einen Blödian gehalten.

15. November 1942. Gutshof Burki.

Seit langem habe ich nicht mehr geschrieben. Es gab viele interessante, aber
belanglose Sachen, nichts von solcher Bedeutung, dass es zu verewigen gewesen wäre.
Außerdem gab es viel Arbeit, und wenn ich eine Stunde frei hatte, dann erholte ich mich
lieber oder ging zu den Malugas.
Mit den größeren Arbeiten sind wir fertig. Mit der Ernte schafften wir es nicht ganz
alleine, aber die Nachbarn halfen uns aus. Außer mir arbeiteten drei Malugas und fünf
Frauen aus der Nachbarschaft mit. Schnell war alles erledigt, und am Samstagabend
veranstaltete Frau Jozefa ein Fest. Es gab viel verschiedenes Essen und sogar ein paar
Flaschen Wodka. Wir vergnügten uns fröhlich.
Mit den Kartoffeln ging es noch schneller, denn es waren Frauen aus der Stadt
gekommen, die sechs Tage lang mit machten. Ich wendete mit dem Pflug die Furchen, die
Weiber klaubten die Kartoffeln und schütteten sie auf den Wagen. Frau Jozefa war
inzwischen im Haus beschäftigt, wo sie das Essen für uns kochte. Mit einem Wort: In
unserer Wirtschaft funktioniert alles bestens. Zur Zeit bereite ich langsam das Heizmaterial
für den Winter vor. Einen großen Wald haben wir nicht, nur einen jungen, wo ich unter den
dicht wachsenden Bäumen die schwächeren Birkchen, Erlchen und Kieferchen aussortiere
und fälle. Im Winter, wenn der Schnee kommt, werde ich sie dann einfahren. So haben wir
uns gut auf die kalten Tage vorbereitet.
Frau Jozefa hat mir versprochen, mir für den Winter einen guten Mantel zu fertigen. Sie
hat einen, der einem ihrer Söhne gehörte. Ein sehr guter Stoff und hübsch geschnitten.
Man braucht ihn nur ein bisschen abzuändern, damit er passt. Ich freue mich sehr
darüber. Endlich werde auch ich wie ein Kapitalist im herrlichen Mantel stolzieren.
Dreißig Hühner besitzen wir schon und züchten drei Schweine. Frau Jozefa will vor
Weihnachten eines schlachten, damit es für den Winter Fleisch und Fett gibt. Jetzt fährt
Frau Jozefa jede Woche mit eigenem Pferd und Wagen zum Markt, um Butter, Eier und
Gemüse zu verkaufen. Unser Gemüsegarten ist groß, so haben wir also eine Menge
Tomaten, Gurken, Kohl. Mit einem Wort: Unsere Wirtschaft bessert sich ständig, und wir
planen sogar, ein neues Pferd zu kaufen.
Eines Tages entdeckte ich in unserem Hain alte Schützengräben. Sie waren mit
verschiedenem Unkraut überwuchert, waren aber tief und zogen sich durch das ganze
Wäldchen hindurch. Frau Jozefa sagte, es seien Schanzen aus dem Krieg von 1914 bis
1918, als hier einige Zeit die Front verlief. Mitten im Hain befindet sich ein großer,
unterirdischer Bunker. Auch nach so vielen Jahren war er noch in einem guten Zustand.
Dorthin brachte ich Stroh. Und im Sommer, als es heiß war, legte ich mich dort schlafen.
Man könnte da drin einen Ofen aufstellen, eine neue Tür einsetzen und auch im Winter
wohnen, denn der Bunker ist groß und mit einer dicken Erdschicht bedeckt. Zu finden ist
er schwer, weil er von allen Seiten, auch von oben, mit Sträuchern zugewachsen ist.
Frau Jozefa bringt mir weiter das Lesen und Schreiben in der polnischen Sprache bei.
Miteinander reden wir jetzt nur noch Polnisch, und es funktioniert ganz gut. Ich spreche
vielleicht sogar ein bisschen besser als die hiesigen Bauern, denn ihre Sprache ist mit
dem Weißrussischen durchmischt, so dass sie manche Wörter verdrehen. Frau Jozefa
spricht reines Polnisch. Sogar ein paar Bücher habe ich gelesen, und das, was ich nicht
verstanden habe, hat mir Frau Jozefa erklärt.
Die Malugas besuche ich weiterhin jeden Samstag oder Sonntag. Sie behandeln mich
sehr gut und haben sogar aufgehört, über mich zu lachen. Auch jetzt erst habe ich
verstanden, dass der alte Maluga kein kapitalistischer Agent war, und dass er tatsächlich
nach 15-jähriger Arbeit in Amerika so viel Geld zusammen hatte, dass er den Hof kaufen
konnte. Es war seine Erzählung vom eigenen Auto, die mich so irre geführt hatte. Als ich
Frau Jozefa danach gefragt habe, erklärte sie mir, dass in Amerika tatsächlich viele
einfache Arbeiter eigene Autos besaßen. Es gab dort so viele davon, dass auf vier oder
fünf Menschen ein Auto kam. Würden sich also alle Amerikaner auf Tag und Stunde
verabreden, könnte die ganze Bevölkerung gleichzeitig Auto fahren. Ein erstaunliches
Land! Und bei uns wurde gesagt und geschrieben, dass dort schreckliche Armut und
Unterdrückung herrsche. Dass man mit den Menschen wie mit den Hunden umgehe, alle
hungern müssten, und dass es an Schulen und Krankenhäusern mangele. Dass die
Arbeiter für jedes kleinste Vergehen getötet, oder ins Gefängnis geworfen würden. So
clever veräppelte uns unsere Obrigkeit und fabrizierte Idioten aus uns. Bei uns in
Russland findest du doch keinen einzigen Arbeiter mit eigenem Auto. Nicht einmal ein
Mehrlampenradio oder eine gute Uhr oder ordentliche Kleidung haben die Leute dort. Hier
in Polen hingegen leben die Menschen im Vergleich zu uns herrlich. Und erst einmal in
Amerika!
Ich rede mit Frau Jozefa jetzt oft über Russland und erzähle ihr die Wahrheit. Aber ich
schäme und fürchte mich alles zu sagen. Denn, um Wahrheit zu sagen, bin ich unter ihnen
wie ein wilder Mensch. Erst in Polen fing ich an, die Welt und das gute Leben kennen zu
lernen. Es ist auch gut, dass ich vor niemandem, außer den Deutschen, Angst haben
muss. Die Leute hier sind so, dass sie keinen anzeigen und einem anderen nicht
absichtlich Schaden zufügen.
Nachdem ich auch andere Bauern aus der Gegend kennen gelernt hatte, begriff ich,
dass die Malugas in der Tat nicht so reich waren, wie ich anfangs gedacht hatte. Die
anderen besitzen viel mehr Land. Einige haben auch eine Wiese oder ein Stück Wald und
leben viel besser als die Malugas. Es stellte sich heraus, dass man auch ohne die
Kolchosen gut wirtschaften kann. In unseren Kolchosen arbeiten die Menschen den
ganzen Tag lang - und nicht einmal Brot haben sie genug.
Ich entsann mich eines unserer Lieder, die alle überall singen, und die der Rundfunk
ständig sendet:

Choroscha strana moja rodnaja:


Mnogo w nej lesow, polej und rek.
Ja drugoj takoj strany ne znaju,
Gde tak wolno dischit celowek! 4

Ganz Russland singt dieses Lied und glaubt, nirgendwo lebe es sich besser als bei uns.
Auch ich bin überzeugt davon gewesen. Auch die polnischen Bauern - bis sie uns
gesehen haben - dachten so über Russland und träumten von unserer Regierungsform.
Jetzt singen sie anders:

Ja drugoj takoj strany ne znaju,


gde tak wolno dochnet celowek!5

Oder so:

4 Schön ist meine Heimat:


Es gibt hier viele Wälder, Felder und Flüsse.
Ich kenne kein anderes Land,
Wo der Mensch so frei atmen kann!
5 Ich kenne kein anderes Land,
Wo der Mensch so frei krepiert!
Mnogo w nej lesow, rek i polej!
Ja drugoj takoj strany ne znaju,
Gde funt chleba stoit piat rublej!6

Verblödete Flaschen machten die Väter der Revolution aus uns. Dann verkorkten sie die
Flaschen mit der Propaganda, und wir wurden Idioten für immer.
Unlängst fragte mich Andrzej:
„Sag mal, warum lebt euer Russland, das reich an allen möglichen Schätzen im und
über dem Boden ist, so elendig? Du kannst doch selbst sehen, dass es bei uns in Polen
eng ist und es an Land für alle mangelt. Trotzdem leben wir nicht schlecht. Und vor dem
Krieg konnten wir sogar Nahrungsmittel an andere Staaten verkaufen. Ihr dagegen wärt
imstande, die halbe Welt zu ernähren und hungert selbst. Und das so viele Jahre
hindurch."
Der alte Maluga erzählte mir mehrmals, wie es sich im zaristischen Russland gelebt
hatte. Alles soll es dort im Überfluss geben haben, obwohl die damalige Regierung den
Staat nicht richtig leiten konnte. Es gab eine viel größere Freizügigkeit. Der Arbeiter
konnte arbeiten, wo er wollte. Nicht nur Brot konnte er verdienen, sondern auch sein Geld
für ordentliche Kleidung und ein gutes Leben. Gefiel Russland jemandem nicht, durfte er
jederzeit ins Ausland gehen. So, wie er es gemacht hatte.
Ich glaubte ihm, weil ich mich inzwischen davon überzeugt hatte, dass er immer die
Wahrheit sagte. Ich glaubte und verstand, dass die Revolution in Russland nicht deshalb
ausbrach, um die Arbeiter und Bauern von der Unterdrückung zu befreien. Sie diente
dazu, sie zu verdummen, auszurauben, zu verelenden und zu versklaven. Nur eine
Handvoll Menschen zog einen Nutzen aus der Revolution, und die lebten prächtig. Für die
Millionen einfacher Bürger dagegen bedeutete sie die schlimmste Plackerei.
„Sag mir", fragte ich Maluga. „warum besitzen gerade wir nichts? Es kann doch nicht
sein, dass die tausend - oder meinetwegen sogar einhunderttausend - Menschen, die uns
führen und die bessere Stellung haben, alles auffressen, was die restlichen 160.000.000
Russen erarbeitet haben?"
„Es wird alles für die Aufrüstung und die ausländische Propaganda ausgegeben",
antwortete Maluga. „Außerdem will eure Regierung gar nicht, dass das Volk satt und
wohlhabend ist. Sie weiß genau, dass ein satter Mensch an andere Sachen, außer an
Essen, denkt. Jetzt aber hat jeder gerade so viel, um nicht vor Hunger zu verenden oder
nackt umher laufen zu müssen. Und er hat Angst, auch das bisschen noch zu verlieren.
Gleichzeitig wird ihm jahrelang eingepaukt, dass es sich nirgends in der Welt so gut lebt
wie bei euch. Du selbst hast das geglaubt. Inzwischen wird für eurer Geld im Ausland eine
riesige Propaganda gemacht - über euren Sozialismus, die Freiheit und die Kultur, den
Wohlstand. Und die Menschen glauben das, so wie wir – Leute vom Lande - in Polen
glaubten, dass nur ihr uns Freiheit und Glück bringen könntet."
Nach und nach öffneten sich mir die Augen. Es wurde mir schon allein bei dem
Gedanken, ich würde wieder in Russland leben müssen, ganz bange. Nach dem, was ich
in Polen alles gesehen und über die Welt gehört hatte, würde es schwer, mich dort wieder
zurecht zu finden.
Von nun an fragte ich Frau Jozefa ständig nach politischen Neuheiten aus. Ich wusste,
wenn ich nicht zu Hause bin, vielleicht auch nachts, hörte sie die ausländischen Sender im
Radio und wusste, was in der Welt so alles passierte. Ich erzählte ihr von meiner Angst,
sollten die Sowjets wieder kommen. Sie beruhigte mich, sagte, dass Hitler Russland sehr
geschwächt habe, und die russische Armee riesige Verluste erlitten habe. Sollten England
und Amerika Russland nicht helfen, würde Hitler es niedermachen. Jetzt aber schickten

6 Hier gibt es viele Wälder, Flüsse und Felder!


Ich kenne kein andres Land,
Wo ein Pfund Brot fünf Rubel kostet.
die Alliierten auf ihren Schiffen Unmengen an Geräten und Kriegsmaterial - und ebenso
Lebensmittel. Gleichzeitig griffen sie Germanien aus der Luft an, zerstörten den
Deutschen ihre Häfen, Städte und Industriegebiete. Wenn sie dann gemeinsam gewinnen
würden, würde sich Russland mit Sicherheit ändern. Polen wird dann wieder frei und
unabhängig sein.
Das alles ermunterte mich sehr, denn von unseren Leuten hatte ich nichts anderes als
den Tod zu erwarten. Auch wenn sie mich nicht sofort liquidieren würden, würde ich bis
ans Lebensende im Lager schuften müssen und dort elendig sterben. Jetzt verstehe ich
das gut, davon aber wird mir nicht weniger furchtbar zumute.

3. Februar 1943. Gutshof Burki.

Dem Genossen I. W. Stalin

Trotz allem muss ich diese Aufzeichnungen Stalin widmen. So ist mein Schicksal!
Ich habe Chaos im Kopf und weiß nicht mehr weiter. Es lief alles ganz gut für mich und ich
glaubte, es würde für immer so bleiben. Jetzt aber spüre ich die schlechten Zeiten
kommen.
Neulich erkältete sich Frau Jozefa und konnte nicht in die Stadt zum Wochenmarkt
fahren. Wir brauchten aber unbedingt Nägel und Glas für die Petroleumlampe. Außerdem
benötigte Frau Jozefa Arzneien. Also musste ich das erledigen. Sie erklärte mir alles
genau, gab mir Geld und einen Zettel für den Apotheker. Die Wege waren in einem
schlechten Zustand. Man war sich unsicher, sollte man mit dem Wagen oder mit dem
Schlitten fahren. Im Tal lag Schnee. Wo der Weg aber höher verlief, war gefrorener Boden
zu sehen. Also sagte ich zu Frau Jozefa:
„Am besten werde ich zu Fuß gehen. Es gibt nichts Schweres zu tragen, also werde ich
so schneller fertig als mit dem Wagen oder dem Schlitten."
Sie war einverstanden. Also zog ich den neuen Mantel über, nahm die Segeltuchtasche
in die Hand und ging. Im Städtchen erledigte ich alles schnell und machte mich auf den
Heimweg. Unterwegs verspürte ich einen großen Durst. In der Nähe entdeckte ich einen
Bauernhof und ging hinein. Ein Mann im kurzen, ärmellosen Schafpelz hackte am
Schuppen Holz. Ich grüßte ihn sehr höflich und fragte: „Könnten Sie mir bitte einen
Schluck Wasser anbieten?"
Er drehte sich um. Ich schaute in sein Gesicht und spürte, wie mir das Blut in den Kopf
stieg und dann in die Füße wieder herunter lief. Ich erkannte den Mann sofort. „Jetzt bin
ich verloren!", dachte ich. Ich wollte fliehen, meine Füße aber wurden steif und schienen
wie in den Boden hinein gewachsen. Und dem Mann fiel die Axt aus der Hand, seine
Augen wurden irgendwie weiß. Auch er erkannte mich wieder.
Es war dieser Major vom NKWD, der mich damals in Wilno wegen der Thermosflasche
vernommen, mir ordentlich in die Fresse gab und meine Zähne ein bisschen lädiert hatte.
Womöglich dachte er, ich wolle mich für jenes amtliche In-die-Fresse-Hauen rächen. Ich
aber dachte an etwas anderes: „Wenn er schon hier ist, dann steht es schlecht um mich.
Der NKWD fängt schon an zu handeln." In diesem Moment ergriff er meine Hand:
„Genosse, mein Liebster. Bitte niemandem sagen, wer ich bin. Ihr seid Offizier wie ich,
also müsst Ihr mich verstehen und mir nicht böse sein für die Unannehmlichkeit von
damals. Es war meine Dienstaufgabe, die Klienten formal abzufertigen. Glaubt Ihr, mir
hätten sie nie in die Fresse gehauen? Und ob! Noch dazu ganz ohne Grund. Ich dagegen
hatte bei Euch einen staatlichen Grund."
„Genosse Major...", unterbrach ich ihn.
Der aber ließ mich nicht weiter reden und fuchtelte mit der Hand:
„Sch-sch...! Kein Wort darüber, dass ich ein Major gewesen bin. Dazu noch ein Major
des NKWD. Du würdest dadurch mich und dich selbst zugrunde richten. Ich bin hier als
einfacher Soldat und beim Bauer als Arbeiter beschäftigt. Unsere Offiziere und unseren
NKWD hassen sie hier schrecklich. Als gemeinen Soldaten dagegen behandeln sie mich
sehr gut."
Ich erklärte dem Major, dass ich alles richtig verstehen und sein Geheimnis bewahren
würde. Was dagegen meine, von ihm ordentlich verschandelte Fresse beträfe, so sagte
ich ihm die reine Wahrheit: Dass ich es als Ehre empfunden habe. So verstand der Major,
dass ich weiterhin ein sozialistisch aufgeklärter Mann war und beruhigte sich.
Ich hätte gerne länger mit ihm geplaudert, denn als NKWD-Mann war er gewiss gut über
die jetzige Lage informiert. Er aber gab mir zu trinken und brachte mich zur Straße. Dort
fragte er:
„Wo wohnst du?"
Als hätte mich eine Nadel gepickt. Aber ich musste ihm die Wahrheit sagen.
„Ausgezeichnet!", sagte er. „Wir wohnen nicht weit weg voneinander, nur drei Kilometer
sind es. Deshalb brauchen wir jetzt nicht länger zu reden, sondern wir treffen uns dort, wo
uns keiner zu sehen kriegt. Am besten Samstagabend in der Mitte des Weges. Dort
befindet sich eine lange Schlucht, und es steht dort eine große Birke. Komm am Samstag,
sobald es dunkel wird, ich werde dort warten. Und jetzt geh nach Hause und erwähne
mich mit keinem Wort."
Ich ging also weiter. Sehr traurig wurde ich, und mir war unheimlich zumute. Da lebte ich
still und ruhig und dachte, es würde für immer so bleiben. Wenn sich schon was ändern
musste, dann zum Besseren. Und jetzt fiel mir wie ein Stein der Major vom NKWD auf
den Kopf. Welcher Teufel hatte mich geritten, mir dort Wasser zu holen? Es wäre mir
lieber gewesen, drei Tage lang nichts zu trinken, als diesem Mann zu begegnen. Ich fühlte
mich genauso mies, als ob ich zum NKWD in einer politischen Angelegenheit bestellt
worden wäre. Schlecht steht es um mich, und es sieht so aus, dass aus meinen Plänen für
ein besseres Leben nichts wird.
Unlängst noch träumte ich davon, dass ich bei Frau Jozefa arbeiten, dann heiraten –
vielleicht in eine Bauernfamilie – und selbst ein Landwirt werden würde. Jetzt aber war
damit Schluss! Auch wenn sie mich nicht erschießen, so werden sie mich doch zur
Verendung ins Lager verschicken. Im besten Fall werde ich bis an mein Lebensende als
Unteroffizier auf Essenszuteilung warten und Angst haben, auch nur ein Wort von mir zu
geben.
Zu Hause wunderte sich Frau Jozefa:
„Warum bist du so erschrocken? Bist ganz blass geworden. Hast du vielleicht die
Deutschen getroffen?"
„Nein!", antwortete ich. „Es war schlimmer als die Deutschen. Einen großen Wolf habe
ich gesehen."
„Ein Wolf ist kein Problem.", sagte sie. „Schlimm wäre es, einem ganzen Rudel zu
begegnen. Zu dieser Zeit aber gibt es nicht viele davon."
Ich erwiderte nur: „Wo ein Wolf ist, können sich auch viele zusammenfinden. Gerade jetzt
ist ihre Zeit."
So ging mein glückliches Leben zu Ende, und so verstarb meine Ruhe für immer.

7. Februar 1943. Sonntag. Gutshof Burki.

Gestern Abend ging ich zum Treffen mit dem Major. Es war ganz in der Nähe unseres
Gutshofs. Die Birke am Rande der Schlucht war von Weitem gut zu sehen. Jeden Tag
schaute ich in ihre Richtung und in meinen Augen sah sie nicht wie ein Baum, sondern wie
ein Galgen aus.
Die Schlucht betrat ich nicht von der Seite des Weges zur Stadt, sondern vom Wald her.
Unser Hain geht in diesen Wald über, und so konnte ich dort hin gelangen, ohne
jemandem zu begegnen. Als ich ankam, wurde es schon ganz dunkel. Ich dachte, ich
wäre als Erster gekommen, der Major aber wartete schon auf mich. Auf einem großen
Stein sitzend, wies er mir einen kleineren zu: „Setz dich!"
„So!", dachte ich mir. „Es sieht aus, als ob ich in eine NKWD-Vernehmung geraten
wäre."
Ich setzte mich hin und fing an, aus selbst angebautem Tabak eine Zigarette zu drehen.
Auch der Major zündete sich eine an. Dann fragte er mich:
„Wie hast du es geschafft, den Deutschen zu entkommen?"
Ich erzählte ihm, wie ich in Wilno zurückgelassen wurde und dann wie ein Tier durch die
Wälder gestreunt bin, bis ich schließlich eine Bleibe gefunden habe. Nur von meinen
Papieren und meinem neuen Namen verriet ich nichts. Es war besser, wenn er es nicht
wusste, denn wer konnte schon sagen, was in der Zukunft noch passieren würde.
Vielleicht würde ich aus dieser Gegend fliehen und nach einem anderem Versteck suchen
müssen.
Ich wollte wissen, wie er zurückgeblieben war, wo doch der ganze NKWD rechtzeitig
geflohen war. Er erzählte es mir:
„Ich war gerade dienstlich im Landkreis, als die deutschen Flugzeuge die Stadt angriffen.
Ich dachte, es wären Engländer. Am nächsten Tag kam ich nach Wilno zurück und fand
keinen von den Unseren vor. Ich wusste nicht, was ich tun, wie und wohin ich gehen sollte.
Glücklicherweise besaß ich aber Zivilkleidung und Dokumente von verhafteten Polen. Also
habe ich mich umgezogen und den Pass sowie die Geburtsurkunde eines der Verhafteten
eingesteckt. Dann verließ ich zu Fuß die Stadt. Ich habe gehofft, ich würde irgendwo zu
den Unseren aufschließen, habe aber keinen gefunden. Lange Zeit irrte ich umher, bis ich
bei den Polen Schutz gefunden habe. Den ganzen Winter habe ich dort verbracht. Und im
Frühjahr 1942 bin ich hierher gekommen, weil der Wirt gerade jemanden zur Aushilfe
suchte. Alt ist er. Seine Söhne sind irgendwo verloren gegangen, also braucht er Hilfe,
auch wenn seine Wirtschaft klein ist. Nur die ältere Tochter ist ihm geblieben und ein
kleines Enkelkind. Seit fast einem Jahr lebe ich hier."
Ich erfuhr von ihm auch, dass sich viele unserer Soldaten in den polnischen Gutshöfen
und Siedlungen versteckt hielten.
„Und was wird jetzt mit uns passieren?", fragte ich.
„Es wird alles gut werden", tröstete er mich. „Die Deutschen pfeifen aus dem letzten
Loch. Wenn nicht in diesem, dann ist im nächsten Jahr Schluss mit ihnen. Wir sind auch
schwach, aber die Engländer und Amerikaner haben mächtige Armeen. Wahrscheinlich
werden sie noch in diesem Jahr aufs Ganze gehen und zuschlagen. Das werden die
Deutschen nicht aushalten. Ihre Frontlinien sind viel zu lang."
„Also werden die Unseren wiederkommen?"
„Natürlich, werden sie kommen."
„Was wird dann mit uns passieren? Unsere sowjetischen Behörden könnten uns für
Deserteure halten."
Der Major erklärte mir die Lage so:
„Die Sache muss man sich genau überlegen und so einrichten, dass wir keine
Deserteure, sondern Helden der Befreiung Russlands von den Aggressoren sind. Deshalb
brauche ich dich. Auch ich werde dir von Nutzen sein. Zuerst müssen wir genau
beobachten, was die Polen hier so tun. Ich weiß, dass ihre Partisanengruppen in den
Wäldern agieren. Sobald es wärmer wird, werden die noch mehr. Das kann für uns sehr
nützlich sein. Also treffe dich häufiger mit den Bauern, rede mit ihnen, frage sie aus und
hab ein Auge auf alles. Jeden Samstag werden wir uns hier treffen und Weiteres
besprechen. Sollte etwas besonders Wichtiges passieren, dann komm zu mir und lass
dich nur kurz sehen. Am Abend werde ich dann hier sein. Es ist nicht weit für mich. Am
wichtigsten ist jetzt, die Stimmung der Bevölkerung und die Bewegungen der Partisanen
zu beobachten. Auf die Weise können wir eine für die Sowjetunion nützliche Arbeit
verrichten. Das werden wir für die Zeit brauchen, wenn wir die Deutschen vertrieben
haben."
„Du glaubst also nicht, dass es hier wieder ein Polen geben wird, so wie vor 1939?"
„Ist doch klar, dass es das nicht geben wird. Dafür haben wir nicht riesige Verluste
erlitten und führen den Krieg, um den Herren ihren Staat wieder aufzubauen."
Wir verabschiedeten uns, und ich ging sehr traurig nach Hause. Ich verstand, dass ich
für immer in Russland bleiben würde müssen und von Glück reden konnte, wenn ich
überhaupt mit dem Leben davon kommen würde. Meine einzige Hoffnung war jetzt der
Major. Er war ein großer Schlaumeier und konnte mich retten. Sich selbst musste er im
Übrigen auch schützen. Jetzt musste ich alles rundherum genau beobachten und dem
Major berichten. Es war mir nicht gelungen, selbständiger Landwirt zu werden, also
musste ich jetzt dafür sorgen, dass ich in Russland nicht eine Kugel in den Kopf bekam,
oder zur Verendung ins Lager geschickt wurde.

25. Juli 1943. Gutshof Burki.

Lange habe ich nicht mehr geschrieben, weil ich jedwede Schreiblust verloren habe. Ich
kann nicht verstehen, was in der Welt passiert ist. Sie wurde einfach zum Irrenhaus!
Frau Jozefa erzählte mir, dass die Deutschen in Katyn, im Smolensk-Gebiet, Gräber mit
Leichen von 10.000 ermordeten, polnischen Offizieren 7 gefunden haben. Sie sagte auch,
die Deutschen behaupteten, es seien die Russen gewesen, die den Mord begangen
haben. Die russische Regierung aber leugne jede Beteiligung. Ich sagte ihr gleich, dass es
sich um deutsche Arbeit handeln würde. Es ist einfach schlicht unmöglich, dass in einem
sozialistischen Staat, den der, in der ganzen Welt für seine Güte und sein
Gerechtigkeitsgefühl bekannte, Stalin führt, so ein Verbrechen möglich wäre. Sie aber
glaubte, es sei mit Sicherheit sowjetische Arbeit. Die Deutschen seien dazu imstande,
Millionen zu ermorden. Kriegsgefangene aber würden sie nicht umbringen, sondern
hielten sie in speziellen Lagern.
Als ich am Samstag den Major traf, fragte ich ihn, wer jene Offiziere im Katyner Wald
getötet habe. Der erklärte mir gleich:
„Unsere Arbeit – das ist klar. Ist auch gut so, denn auf diese Weise haben wir sie für
immer unschädlich gemacht. Es waren unsere Feinde, und es gab von ihnen nichts Gutes
zu erwarten. Man muss sie in Polen alle ausrotten, nur die kleinen Kinder behalten und
diese dann auf unsere Art erziehen. Mit den Erwachsenen wird es immer Schwierigkeiten
geben. Das ganze polnische Volk ist niederträchtig. Schon immer hat es sich gegen
Russland erhoben, hat verschiedene Aufstände und Revolutionen angezettelt. Nie zeigte
es Achtung vor Staat, Gesetz und Macht."
Vielleicht hatte auch er Recht. Er kannte sich in diesen Sachen besser aus als ich. Dazu
war er schließlich ausgebildet worden.
Beim letzten Treffen erzählte mir der Major, dass es um die Deutschen schlecht stehe,
und dass sie sich nicht mehr lange halten würden. In Kürze hätten wir große Änderungen
zu erwarten. Er trug mir auf, häufiger die Bauern zu besuchen, unter der Jugend neue
Bekanntschaften zu schließen und genau zu beobachten, was sie so machten. Er sagte
auch, dass er drei weitere unserer Soldaten gefunden hätte, die sich bei den Bauern
versteckt hielten. Er bleibe in ständiger Verbindung mit ihnen, sie aber wüssten nicht, dass
er ein NKWD-Major sei. Er erklärte mir, dass er, sobald die Deutschen anfingen, sich
zurückzuziehen, beabsichtige, der Roten Armee zu helfen und mit den Kampfhandlungen
zu beginnen. Das würde ein großer Verdienst für Russland werden. Mir gefiel das nicht
besonders, aber ich widersprach ihm nicht. Ihr versteht selbst - ein Major des NKWD!

23. September 1943. Gutshof Burki.


7 Diese Zahl der Morde gab der deutsche Rundfunk in der Meldung vom 13. April 1943
an.
Vorige Woche erfuhr ich vom jüngeren Sohn Malugas, Andrzej, dass sich in dem Wald,
der an unseren Hain anschließt, eine Gruppe polnischer Partisanen versteckt hält. Es
zeigte sich auch, dass er mit ihnen in Verbindung stand und ihnen hin und wieder nachts
Proviant lieferte. Das gefiel mir ganz und gar nicht. Die Deutschen könnten böse werden,
eine Razzia veranstalten und uns, die in der Nähe des Waldes wohnen, zur Verantwortung
ziehen. Der Major hatte doch Recht, als er sagte, dass die Polen Rebellen ohne jede
Achtung vor der Obrigkeit seien.
Zwei Tage später ging ich in den Wald. Ich wollte eine dürr gewordene Birke fällen, um
unseren Zaun zu reparieren. In der Nähe des Bunkers rief jemand auf Polnisch: „Halt!".
Also blieb ich stehen. Zwei junge, bewaffnete Männer näherten sich. Ich verspürte eine
große Angst, wusste aber nicht, was ich tun sollte. Sie fragten mich:
„Wer bist du? Was treibst du dich hier herum?"
Also erzählte ich ihnen, dass ich Arbeiter auf dem Gut von Frau Jozefa sei und eine
Birke fällen wollte. Die aber blieben sehr misstrauisch. Einer von ihnen verlangte nach
meinen Papieren. Ich erklärte, dass ich sie zu Hause habe, sie aber holen gehen könne
oder sie mitkommen könnten, um sich selbst zu überzeugen.
Ich erinnerte mich, was Andrzej über die Partisanen erzählt hatte. Also fragte ich:
„Kennt ihr vielleicht Andrzej Maluga?"
„Ja", antwortete einer von ihnen.
„Also", erklärte ich, „er ist unser Nachbar. Er kennt mich gut. Ich besuche ihn oft. Und ihr
seid mit Sicherheit Partisanen. Andrzej hat mir erzählt, dass eure Gruppe in diesem Wald
ist."
Sie müssen mir geglaubt haben, ließen mich aber nicht weiter in den Wald gehen oder
mich dem Bunker nähern.
Zurück zu Hause erzählte ich Frau Jozefa von dieser Begegnung. Sie wusste schon seit
langem, dass sich in unserem Wald Widerstandskämpfer einquartiert hatten und freute
sich sogar darüber. Sie hoffte, in Kürze würden die Wälder voll von polnischen Soldaten
sein. Wenn sich die Deutschen weiterhin zurückziehen würden, dann könnten die
Partisanen ihnen schwere Verluste zufügen und unseren Sieg beschleunigen.
Am Samstag ging ich zum Treffen mit dem Major und erzählte ihm alles. Er befahl mir,
alle Einzelheiten über die Guerilla herauszufinden.
„Jetzt sind sie gegen die Deutschen, das ist für uns nützlich.", erklärte er mir. „Sobald die
Deutschen sich aber zurückziehen, können sie auch für uns gefährlich werden. Man muss
also frühzeitig in Erfahrung bringen: Wie stark sind sie? Wo sind sie stationiert? Wie
bewaffnet? Welche Kommunikationswege gibt es zwischen den Partisanengruppen? Wer
befehligt sie? Wer unter den Einwohnern unterstützt sie?
Ich werde von nun an häufiger mit Andrzej über diese Themen reden müssen.
Im Allgemeinen ist die Lage sehr unruhig geworden. Frau Jozefa hat mir erzählt, dass
die Deutschen sich an der ganzen Frontlinie zurück ziehen und Smolensk schon verlassen
haben. Sie ist sehr erfreut darüber und sagt, dass der Krieg bald zu Ende sei.

14. November 1943. Gutshof Burki.

Mehrmals brachte ich zusammen mit Andrzej Proviant für die Partisanen. Wir machten
das während der Nacht. Nach jeder Aktion gab mir Frau Jozefa einen freien Tag, damit ich
mich ausschlafen und ausruhen konnte. Sie schickte mich geradezu dorthin. Eine Miete
Kartoffeln und eine Menge Gemüse lieferten wir bisher schon ab. Ich weiß jetzt jede
Menge Einzelheiten über die Partisanen, und jeden Samstag melde ich alles dem Major.
Beim letzten Treffen sagte er mir, dass nicht nur ich die Tätigkeiten der polnischen
Widerständler beobachten würde. Er habe schon ein ganzes Spionagenetz aus unseren
Leuten sowie polnischen und Russland wohlgesonnenen Kommunisten gegründet. „Das
Beobachten des polnischen Untergrundes“, sagte er, „ist jetzt besonders wichtig, damit
man nach der Vertreibung der Deutschen die Möglichkeit hat, die Gegend von unsicheren
Elementen zu säubern.“
Aus unseren Gesprächen wurde mir klar, dass keine Rede davon sein konnte, dass hier
jemals wieder ein unabhängiges Polen entstehen könnte.
„Nicht dafür haben wir gegen die Deutschen gekämpft", sagte der Major, „um ein
befreites Polen an einen anderen Feind zu übergeben. Und die Polen waren und werden
für immer unsere Feinde bleiben."
Frau Jozefa dagegen glaubt unerschütterlich daran, dass Polen, nach dem Sieg über die
Deutschen, wieder unabhängig sein würde. Sie sagte auch, dass sich bei ihr immer ein
Platz für mich finden würde. Sollte ich hier heiraten und für immer bleiben wollen, werde
sie alles tun, um mir das neue Leben zu erleichtern. Ich aber rechnete nicht mehr damit.
Ich weiß, dass ich wieder in der Armee dienen werde und dann nach Russland
zurückkehren muss.
Es war doch ein Glücksfall für mich, dem Major zu begegnen. Er wird mich retten.
Alleine müsste ich mich vor unseren Behörden verstecken. Mit Hilfe des Majors aber
werde ich wieder empor kommen und ein legaler, vielleicht sogar ein verdienter Bürger
werden.

9. Dezember 1943. Gutshof Burki.

Es stellte sich heraus, dass die Partisanen im Bunker in unserem Wäldchen ein
Waffenlager anlegten. Mehrere von ihnen wohnten da und hielten Wache. Mit ihrer
Hauptabteilung verständigten sie sich mittels Telefon. Ich kenne schon viele Einzelheiten
über sie und berichte alles dem Major. Er dagegen sagt, dass sobald die Deutschen
näher kommen, wir unsere eigene Partisanengruppe gründen, dem Feind ernsthaften
Schaden zufügen und so den Sieg der Roten Armee beschleunigen müssen. Mir gefällt
das Ganze nicht besonders, aber, sollte es soweit kommen, werde ich seine Befehle wohl
ausführen müssen. In der Zwischenzeit aber habe ich noch meine Ruhe.
Arbeit in der Wirtschaft gibt es zurzeit wenig, also lehrt mich Frau Jozefa weiter die
polnische Sprache. Mit Leichtigkeit kann ich jetzt schon polnische Bücher lesen, und ein
bisschen schreiben kann ich auch. Der Major sagt, die Kenntnisse der polnischen Sprache
werde ich dienstlich – sobald wir mit dem Liquidieren und Zähmen der Polen angefangen
haben – gut gebrauchen können.
Mit der Maluga-Familie bin ich in der Zwischenzeit sehr vertraut geworden. Sie
behandeln mich wie einen der ihrigen. Der alte Maluga teilte mir unlängst mit, sollte mich
Antosia nach dem Krieg heiraten wollen, würde er sich nicht widersetzen. Für unseren
Neuanfang würde er uns ein Pferd und eine Kuh geben, sowie uns dabei helfen, ein Haus
zu bauen. Frau Jozefa ihrerseits versprach, aus ihrem Landgut fünf Hektar Ackerboden für
uns abzuschneiden, den wir dann über einen sehr langen Zeitraum abzahlen könnten. Ich
glaube aber, dass aus diesen Plänen nicht wird, da sie nie wieder ein freies Polen zu
sehen bekommen werden. Bei der Sowjetmacht aber, wenn alles gut läuft, kann ich eine
wichtige Person werden. Mit solchen Rüpeln wie den Malugas werde ich mich dann nicht
mehr abgeben. Sie selbst werden mit Sicherheit in einer Kolchose zwangsverpflichtet.
Inzwischen besuche ich die Malugas immer häufiger und werde von ihnen für Antosias
Bräutigam gehalten. Für mich ist das günstig, denn so gewinne ich das volle Vertrauen
aller in der Gegend und erfahre viele interessante Dinge. So weiß ich zum Beispiel, wer
von den Bauern Waffen bei sich verborgen hält. Die Malugas besitzen drei Karabiner und
viel Munition. Das Versteck für die Waffen befindet sich im Pferdestall. Frau Jozefa hat auf
dem Dachboden die Browning ihres Mannes. Einmal holte sie sie hervor, reinigte und
versteckte sie dann wieder. Diese Polen sind tatsächlich ein sehr gefährliches Element.
Sie wissen doch sehr gut, dass ihnen für so etwas die Todesstrafe droht - und trotzdem
wollen sie sich keiner bestehenden Obrigkeit unterordnen.
Der Major freut sich sehr, wenn ich ihm solche Nachrichten über die Einwohner dieser
Gegend überbringe. „Sobald unsere Leute kommen“, sagt er, „werden wir schon für
Ordnung hier sorgen.“ Ich weiß, dass er das kann. Ich meinerseits werde ihm gerne dabei
helfen.

17. Mai 1944. In der Bauernscheune.

Seit Mitte April bin ich im Wald. Wir haben unsere eigene Partisanengruppe gegründet.
Der Major ist der Anführer, ich sein Stellvertreter. Wir haben sieben Leute: Vier unserer
Soldaten, die sich bei den Bauern versteckt hielten, und drei polnische Kommunisten aus
dem Städtchen.
Im April sagte mir der Major, dass es zurzeit sicherer im Wald sei als zu Hause zu
hocken, wo uns jederzeit die deutsche Gendarmerie oder die Polizei hervorholen könnte.
Außerdem müsse man sich für die Zukunft absichern, indem man sich durch einen
schönen und heldenhaftem Kampf hinter der Frontlinie auszeichnete. Das wäre eine
wichtige Diversions-Aktion. Natürlich akzeptierte ich das als vollkommen richtig.
Es war einfach, uns die Waffen zu besorgen. Die polnischen Kommunisten aus dem
Städtchen lieferten sie uns. Vom Kommunismus haben die soviel Ahnung wie ich von der
Astronomie. Sie bereiteten sich rechtzeitig darauf vor, bessere Posten einzunehmen,
wenn die sowjetische Macht zurückkehren würde. Diese Polen werden uns sehr nützlich
sein, weil sie die hiesigen Ortschaften gut kennen und überall Bekannte haben. Sie
erledigen alle Angelegenheiten mit der Bevölkerung und erklären ihnen, wir seien eine
polnische Kampfgruppe. Also unterstützen uns alle. So haben wir genug zu essen und vor
allem gute Informationen.
Wir haben schon einige wichtige Diversations-Aktionen durchgeführt. Unsere Abteilung
heißt "Kommunistische Wanda-Wasilewska-Partisanenabteilung". Ich hatte den Namen
“Stalin“ vorgeschlagen, aber der Major meinte, da wir unter den Polen agieren würden,
passe der Name der größten polnischen Patriotin viel besser.
Ich fragte ihn:
„Warum dann nicht den Namen des größten polnischen Patrioten Dzierzynski?"
Er erklärte mir darauf:
„Warum nicht. Dzierzynski Feliks war eine große Person und ein ausreichend roter
Kommunist. Wanda Wasilewska aber hat darüber hinaus den Vorteil, dass sie, wie man
weiß, die größte zeitgenössische Schriftstellerin der Welt ist. Und sie liebt die Sowjetunion
und unseren Vater Stalin mehr als ihr eigenes Vaterland."
Als ich mich anschickte, in den Wald zu gehen, war Frau Jozefa sehr unglücklich. Sie
weinte vor Trauer sogar.
„Ich mache mir große Sorgen um dich, Janeczek", sagte sie. „Ich habe Angst, dir könnte
etwas Schlimmes passieren in dieser Guerilla."
Ich sah die Tränen in ihren Augen, wollte selbst weinen, aber es gelang mir nicht. Also
bedankte ich mich bei ihr für ihren Schutz, dafür, dass sie mich drei Jahre lang vor den
Deutschen versteckt und wie ihren eigenen Sohn behandelt hatte.
„Ich weiß nicht, ob wir uns je wiedersehen werden.", antwortete ich ihr. „Ich gehe gegen
die blutrünstigen Faschisten kämpfen und kann dabei sterben. Werde ich aber am Leben
bleiben, dann werde ich mich für alles ordentlich revanchieren, und Ihr gutes Herz werde
ich bis zum Tod nicht vergessen."
Sie verabschiedete mich bereits, dann aber war ihn noch was eingefallen:
„Warte mal, Janeczek, ich werde dir etwas mit auf den Weg geben, was dich bei Gefahr
beschützen wird. Du musst es aber immer bei dir haben."
Sie brachte ein Silbermedaillon mit dem Abbild der Heiligen Mutter von Ostra Brama und
hängte es mir um den Hals. Sollte es mir einmal schlecht gehen, sagte sie noch einmal,
oder wenn ich mich wieder verstecken müsste, dann solle ich zu ihr kommen.
Dann ging ich die Malugas verabschieden. Zu Hause gab es nur den Alten und die
Töchter, denn die Söhne waren schon lange bei den Partisanen. Der Alte gab mir eine
Flasche eines sehr starken Selbstgebrannten mit auf den Weg. Und Antosia steckte zwei
Paar dicke Wollsocken in meine Taschen, die sie selbst für mich gestrickt hatte. Schon
vorher hatte mir Frau Jozefa viel Wurst, Speck und Haustabak in die Tasche gepackt. Also
war ich für den Weg gut vorbereitet. Ich konnte nicht klagen.
Maluga wiederholte noch einmal, dass Antosia es willigte, mich zu heiraten, und auch er
nichts dagegen habe. „Denn“, so sagte er, „Du bist zwar arm, aber von gutem Charakter.“
Zum Schluss stellte er fest:
„Sobald ihr den Feind verjagt habt, komm wieder hierher. Nach Weihnachten heiratet ihr.
Wir werden erst die Hochzeit feiern und danach eure Wirtschaft einrichten. Obwohl du ein
Bolschewik bist, bist du doch anders, weil du ein gutes Herz hast. Deshalb haben wir dich
gern und werden dir helfen."
Sehr entzückend war das alles. Ich verabschiedete mich von ihnen und ging. Das
Medaillon von Frau Jozefa schmss ich natürlich gleich weg. Es gehört sich schließlich
nicht, dass ich, Offizier und Kommunist, solche Dinge am Hals trage.

1. Juni 1944. Im Wald nahe Landwarow.

Eine fantastische Diversions-Aktion führten wir durch und, dass kann man wohl sagen,
bedrohten von hinten ernsthaft die deutsche Armee. Sollte es so weitergehen, würden wir
als unerschrockene Partisanen die Sowjetunion mit großem Ruhm bedenken.
Unsere erste Razzia galt einem Forsthaus. Im Winter stationierte dort eine deutsche
Einheit, die Waldarbeiter und Holzausfuhr beaufsichtigte. Im Frühjahr verließen die
Deutschen die Gegend, und es blieb ein leeres Kasernengebäude für ein Dutzend
Menschen zurück.
Wir schlugen an einem Abend zu. Die polnischen Kommunisten zeigten uns den
Eingang zum Forsthaus und versteckten sich im Gebüsch. Wir sechs gingen - mit Gewehr
im Anschlag - wagemutig hinein. Die Familie des Försters saß am Tisch beim Abendbrot.
Wir befahlen ihnen, die Hände hoch zu heben. Der Major fragte drohend:
„Warum hast du Schuft die Deutschen unterstützt?"
Darauf antwortete der Förster:
„Was hätte ich denn tun sollen? Sie sind hierher gekommen, bauten die Kaserne auf und
kontrollierten die Holzausfuhr. Es brach mir das Herz, zu sehen, wie sie in unseren
Wäldern herumwirtschafteten, aber ich konnte nichts dagegen unternehmen."
„Du hast die Arbeiter für ihre Arbeit bezahlt!"
„So wurde mir befohlen. Und ich habe niemandem einen Schaden zugefügt."
Die Frau des Försters und seine Kinder weinten vor Angst. Der Major gab der
Kapitalistin in die Fresse und befahl ihr zu schweigen. Dann konfiszierten wir das Geld und
beschlagnahmten die Produkte aus der Speisekammer. Die Frau flehte uns an, etwas für
die Kinder zurück zu lassen. Wir brachten sie mit Gewehrkolben zur Ruhe. Bei der
Gelegenheit konfiszierte ich auch einen Goldring. Immerhin war das ein wertvoller
Gegenstand und konnte vielleicht irgendwann nützlich sein. Auch alle Kleider und Schuhe
nahmen wir ihnen weg und verließen dann das Haus. Draußen berieten wir uns, was wir
mit ihnen anfangen sollten. Ich schlug vor, alle zu erschießen, um das Kapitalisten-Nest
auszurotten. Der Major aber erklärte:
„Es lohnt sich zurzeit nicht, größere Spuren zu hinterlassen. Wir werden sie schon in
aller Stille liquidieren, wenn die Unseren kommen. All diese Förster und Waldaufseher
muss man als Erste ins Lager verschicken. Sie kennen sich sehr gut in den Wäldern aus
und sind damit für den Sozialismus sehr gefährlich. Beim ersten Mal haben wir mehr als
die Hälfte dieser Schufte liquidiert. Beim nächsten Mal werden wir auch mit dem Rest
fertig."
So wurde es beschlossen. Dem Förster und seiner Familie befahlen wir, über unseren
Besuch kein Wort zu verlieren, denn sonst würden wir zurückkommen und alle wie die
Hunde erschießen. Dann zogen wir uns in völliger Kampfordnung in den Wald zurück.
Unsere zweite wichtige Partisanenaktion war die Konfiszierung des Postamtes im
Städtchen. Unsere polnischen Kommunisten wussten zwar über alles gut Bescheid,
gingen aber noch einmal hin, um die Lage zu erkunden. Nach zwei Tagen waren sie
zurück. „Es gibt keine deutschen Soldaten mehr in der Stadt.“, sagten sie. Ganz so, als ob
sie gewusst hätten, dass wir in der Nähe waren, hauten die Deutschen nach Wilno ab.
Am Abend gelangten wir quer durch die Felder zum Hintereingang des Postgebäudes.
Die polnischen Kommunisten blieben auf dem Hof zurück, um unsere Aktion abzusichern.
Es ging darum, dass sie im Städtchen bekannt waren und nicht mit uns zusammen
gesehen werden sollten. Also gingen wir zu sechst in die Wohnung des Postamtvorstehers
hinein. Das Amt selbst war schon zu. Im Übrigen kein großes Amt, sondern ein kleines
Haus aus Holz. Im Zimmer an der Frontseite befand sich die Post. Hinten raus waren die
zwei Zimmerchen des Vorstehers. Also fielen wir wie ein Gewittersturm in die Wohnung.
Die Familie des Postamtchefs bereitete sich gerade darauf vor, schlafen zu gehen. Wir
ließen sie die Hände hoch heben und führten eine genaue Hausdurchsuchung durch. Wir
fanden ein bisschen Geld und Briefmarken sowie fünf versandbereite Pakete. All das
konfiszierten wir. Und dann nahmen wir uns den Vorsteher wegen seiner Dienste für die
Faschisten vor.
Der aber protestierte:
„Ich diene mich denen gar nicht an. Ich arbeite hier schon seit 25 Jahren. Auch bei
eurem ersten Aufenthalt hier habe ich das Amt geleitet, denn jemand muss das tun. Und
mein Gehalt ist so, dass man davon nicht leben kann. Meine Frau verdient mit Nähen
etwas dazu, damit wir zu essen haben. Wie kann man das als Dienste für die Deutschen
bezeichnen?"
Ein zungenfertiger Polacke! Man konnte gleich sehen, dass er keine Angst vor uns hatte.
Wir ließen ihn die Schuhe auszuziehen, weil sie gut waren. Auch die Nähmaschine
nahmen wir ihm weg, weil einer unserer Kommunisten uns vorher gebeten hatte, sie für
seine Freundin zu besorgen. Wir wollten schon wieder hinaus gehen, als der Vorsteher
bat:
„Die Pakete solltet ihr aber nicht mitnehmen. Ihr könnt doch sehen, dass alle an
Gefangenenlager in Deutschland adressiert sind. Unsere Soldaten werden dort gefangen
gehalten, und ihre Familien helfen ihnen, wie sie nur können."
Der Major stampfte mit dem Fuß auf:
„Du sollst deine Stimme nicht erheben, du Faschist. Sonst kannst du gleich eine Kugel in
die Rübe kriegen!"
„Ich bin kein Faschist. Ich diene nur der Bevölkerung. Und ihr sollt mir für diese Pakete,
Geld und Briefmarken eine Quittung ausstellen."
Wir stellten ihm eine solche "Quittung" aus, die er wohl bis an sein Lebensende nicht
mehr vergessen wird! Als wir mit ihm fertig waren, zogen wir uns in fester Kampfordnung
in Richtung Wald zurück. Bei diesem Feldzug erbeutete ich einen Wecker. Eine
zusätzliche Uhr konnte nützlich sein. Ich könnte sie aber auch irgendwann einmal
verkaufen.
Jetzt leben wir ständig in den Wäldern. Nicht einmal schlecht leben wir. Zum Fressen
haben wir soviel wir wollen. Sollten wir mal etwas brauchen, machen wir nachts Razzien in
den einsamen polnischen Siedlungen. Auf diese sozialistische Art und Weise ergänzen wir
unsere Vorräte. Mehrmals konnten wir auch schon Wodka erbeuten, da unsere
Kommunisten wissen, wo die meisten Produzenten von Selbstgebranntem wohnen.
Zweimal schnitten wir die Telefondrähte an den Telefonmasten durch. Laut dem Major
vollzogen wir so bedeutungsvolle Diversions-Aktionen, die die Deutschen in ihren
Kriegshandlungen stören konnten. Jede unsere Aktionen trägt der Major in ein spezielles
Tagebuch mit der Überschrift "Tagebuch der Diversions-Aktionen der Kommunistischen
Wanda-Wasilewska-Partisanenabteilung" ein. Jeder von uns ist hier erwähnt, und alle
haben wir ein Pseudonym. Der Major heißt “Der Strenge“, ich hingegen bin natürlich “Der
Stalinist“. Neulich las mir der Major die detaillierte Beschreibung unserer Aktion auf die
Försterei vor. Sehr schön hatte er das beschrieben. Am besten gefiel mir die Stelle, an der
er schilderte, wie die Deutschen nach unserer Bravour-Attacke in Panik geflohen sind und
uns eine riesige, fünf Millionen Rubel werte Kriegsbeute in Form von Holzbalken zurück
ließen.
Ich schreibe weiterhin meine "Aufzeichnungen". Denn in Zukunft können sie mir wieder
nützlich sein - bei der Arbeit an einem großen, sozialistischen Roman. Ja, die
Sowjetunion, die Rote Armee und die Kommunistische Partei können stolz auf mich sein!

18. Juni 1944. Im Gebüsch.

Durch die polnischen Kommunisten aus unserer Abteilung erfuhren wir, dass sich die
Deutschen an der ganzen Front zurückzogen. Die Rote Armee hingegen bewegte sich
heldenhaft vorwärts. Die Alliierten hatten mit der Invasion in Frankreich begonnen und
jagten die Faschisten fort. Mit einem Wort: Wir hatten die Deutschen in die Zange
genommen, und sie würden uns mit Sicherheit auch nicht mehr entwischen.
Wir beriefen einen Kriegsrat ein, an dem unsere ganze, mit unsterblichem Ruhm
bedeckte Partisanenabteilung demokratisch teilnahm, das heißt: der Major, ich, unsere
vier Kämpfer und die drei polnischen Kommunisten. Zu allererst riefen wir zu Ehren
unseres GROSSEN Führers Stalin dreimal “Hurra“ aus. Dann riefen wir nicht mehr ganz
so laut und nur einmal “Hurra“ zu Ehren unserer Patronin Wanda Wasilewska. Erst dann
hielten wir den Kriegsrat ab.
Wir beschlossen, der deutschen Armee den entscheidenden Stoß zu versetzen und die
Holzbrücke auf dem Weg vom Dorf Koszki zum Städtchen zu verbrennen. Es passierte
nämlich mehrmals, dass auf diesem Weg Futter für die Pferde geliefert wurde. Die Brücke
ist etwa 15 Schritte lang und 7 Schritte breit. Sie ist also ein wichtiges, strategisches
Objekt. Durch ihre Zerstörung könnten wir die Approvisation der vertierten Pferde der
hitlerschen Armee ernsthaft erschweren. Und es wäre zugleich eine glanzvolle Kriegstat.
Nachdem man uns aus dem Städtchen eine große Flasche Petroleum geliefert hatte,
machten wir uns auf den Weg. Fünf Kilometer vom Tatort entfernt, schlugen wir ein Lager
auf. Es war auf einer großen Waldlichtung. In der Abenddämmerung tranken wir fünf
Flaschen eines starken Selbstgebrannten aus und rückten so seelisch gestärkt vor.
Der Major ging als Erster. Hinter ihm einer der polnischen Kommunisten, der ihm den
Weg zeigte. Dann ich und der Rest der Gruppe. Als wir der Landstraße nah waren,
blieben wir stehen. Lange lauschten wir, aber es war ganz still. Der Major sicherte seine
Pistole ab, nahm von einem der Kommunisten die Petroleumflasche an sich, und dann
gingen wir weiter. Nach der Überquerung eines mit Gebüsch verwachsenen Grabens
landeten wir endlich auf der Straße. Dann vorsichtig und sehr leise, begaben wir uns zur
Brücke. Wir bewegten uns in völliger Stille, denn der weiche Sand war tief und dämmte
unsere Schritte hervorragend. Die Nacht war so dunkel, dass wir nicht einmal einander
sehen konnten. Gerade das diente unserer wagemutigen Aktion am besten.
Wir waren schon ganz nah an der Brücke. Doch in diesem Moment hörten wir ein
fürchterliches Poltern, Knallen, Rattern, Prasseln...! Mein Herz blieb stehen. Rund um
mich herum kam es zu einem wüsten Durcheinander. Jemand stöhnte. Jemand schrie. Ein
anderer trat mir in den Bauch und stieß mich zu Boden. Schüsse waren zu hören.
Ich registrierte, dass die Sache schlimm aussah, und man sich retten musste. Also warf
ich mein Gewehr weg und stürzte in den Wald. Ich hörte, wie mich jemand verfolgte. Also
beschleunigte ich. An die Eineinviertelstunde rannte ich, bis mir die Luft nur noch so um
die Ohren zwirbelte. Erst dann hielt ich an, sicher, dass mich niemand mehr verfolgte. Eilig
ging ich zur Waldlichtung, denn wir hatten vereinbart, dass wenn sich einer verlieren, er
dort auf die anderen warten sollte. Innerhalb von zehn Minuten erreichte ich die Stelle. Ich
war sehr stolz auf mich, diese fünf Kilometer in völliger Dunkelheit so schnell gemeistert zu
haben. Und ich dachte, ich würde der Erste sein. Es war aber schon jemand da. Er saß in
der Nähe unseres Lagers und rauchte eine Zigarette.
„Wer da?", rief ich mit strenger Stimme.
„Hör auf zu brüllen, du Idiot!", ließ sich der Major vernehmen.
Ich wunderte mich sehr: Er war noch schneller gewesen als ich. Ja, wir können stolz auf
uns sein, auf unsere erstklassigen Beine. Nicht nur ich und der Major, auch die ganze
Rote Armee. 1941 hatten wir an der deutschen Front mindestens fünf Millionen Soldaten.
Aber als Hitler angriff, schafften wir es, so heldenhaft reißaus zu nehmen, dass uns die
Deutschen nicht einmal mit den Autos einholen konnten. Deshalb nahmen sie auch nur die
Hälfte unserer Armee gefangen. Der Rest war husch-husch bis nach Moskau galoppiert.
Absichtlich natürlich, um die Deutschen in die Falle zu locken.
„Was ist denn da an der Brücke passiert?", fragte ich den Major.
„Irgendeine große deutsche Formation. Sicherlich mit Panzern, denn es donnerte im
ganzen Wald. Dann aber hielten sie an und zogen sich vermutlich in Panik zurück. So
könnte man sagen, dass wir heute den Rückzug der Faschisten ernsthaft verzögert haben.
Das kann ihre große Niederlage bewirken."
Einige Zeit später trafen unsere Jungs ein. Zwei von ihnen zusammen und zwei getrennt
voneinander. Einer hatte ein geschwollenes Auge, ein anderer ein angerissenes Ohr. Mit
einem Wort, es hatte auch uns ein bisschen erwischt. Der Major behauptete, ein Panzer
hätte ihn angestoßen, woraufhin er in den Graben gefallen sei. Ich aber vermutete ein
klein wenig, dass es weniger ein Panzer als ich selbst gewesen war, der ihm den Kopf in
den Bauch gerammt hatte, als ich mir den Fluchtweg frei kämpfen musste.
Erst am Morgen erschienen die polnischen Kommunisten. Zwei von ihnen trugen den
dritten. Sein Kopf war voller Blut. Das linke Auge war gar nicht zu sehen. Und er stank
schrecklich nach Petroleum. Der Major untersuchte ihn sorgfältig und stellte fest, dass ein
deutscher Panzer in überrollt und mit Benzin übergossen haben musste. Nur weil die
Straße eine Senkung machte, wäre er nicht zerquetscht worden. Ich jedoch war mir
irgendwie sicher, dass es wohl gerade der Major gewesen war, der dem Mann in der
ganzen Verwirrung die Petroleumflasche auf den Kopf geknallt hatte.
Wir wollten wissen, wer eigentlich geschossen hatte. Einer der Jungs meldete, er hätte
auf einen deutschen General, der die Armee auf einem weißen Pferd anführte, gefeuert.
Es handelte sich also um eine sehr ernsthafte Angelegenheit, und wir hatten Glück, heil
davon gekommen zu sein. Zu verdanken hatten wir das unserem Mut und unserer
außergewöhnlichen Geistesgegenwart.
Der Major trug die Aktion in das "Tagebuch der Kommunistischen Wanda-Wasilewska-
Partisanenabteilung" ein. Dann zogen wir uns umsichtig aus der Gefahrenzone zurück.
Die Deutschen konnten womöglich doch noch wieder zu sich kommen und bei Tageslicht
eine Razzia in den benachbarten Wäldern durchführen. Sie waren in Überzahl, also
könnten wir dadurch Schaden erleiden. Außerdem hatten wir bei diesem Gefecht alle
Waffen verloren. Nur dem Major war es gelungen, seine zweite Pistole, die im Halfter am
Gürtel steckte, zu retten. Wir mussten uns schnellstens wieder bewaffnen, um den Kampf
gegen die Deutschen weiter führen zu können. Es dürfte nicht schwer sein; denn die
polnischen Kommunisten würden uns die Waffen im Städtchen besorgen. Dort gab es
genug davon.

20. Juni 1944. Im Wald.

Ich entdeckte etwas sehr Peinliches. Glücklicherweise weiß keiner in der Mannschaft
davon. Also, nachdem wir uns aus dem gefährlichen Ort im Wald in der Nähe dieser
strategischen Brücke zurückgezogen hatten, hielten wir uns längere Zeit an einer sehr
bequemen Stelle am Waldbach auf. Eines Tages ging ich mal ein Stück weiter, um die
Gegend zu untersuchen. Bei mir hatte ich eine Pistole und Granaten, denn die
Kommunisten besorgten uns neue Waffen im Städtchen.
Der Tag war schön und warm. Spazierend entfernte ich mich ziemlich weit von unserem
Lager und bekam Lust, etwas zu trinken. Da ich in der Nähe einen Bach flüstern hörte,
drückte ich mich durch einen Erlenbusch in seine Richtung durch. Plötzlich hörte ich etwas
knattern, dann knistern... Also machte ich mich aus dem Staub. Ich zwängte mich
zwischen den Sträuchern hindurch und fiel ohne Vorwarnung ins Wasser. Erst dann hielt
ich an, denn weiter ging es nicht mehr. In diesem Moment verstand ich auch, dass das
ganze Geknatter in meiner Segeltuchtasche, die ich immer auf dem Rücken am Gürtel
trug, geschah.
Ich erzählte bereits von unserer Razzia auf das Postamt im Städtchen und wie ich, im
Einklang mit dem kommunistischen Sozialisierungsgesetz, dem Amtsvorsteher einen
Wecker abgenommen habe. Ich konnte aber mit dem Ding nicht umgehen. Einmal zog ich
es auf, und es fing hinterhältig gerade in dem Moment an zu brummen, als wir die
strategische Brücke zerstören wollten. Damals bin ich nicht darauf gekommen, dass der
Lärm ausgerechnet in meiner Tasche entstanden ist. Heute, als ich nichts zu tun hatte,
zog ich den Wecker wieder auf. Ich drehte an allem, was sich drehen ließ. Und jetzt fing er
an zu lärmen; und beinahe wäre ich seinetwegen im Bach ertrunken. Zum Glück war ich
alleine, sonst könnte entweder Panik in der Gruppe entstehen oder - sollte der Major
dahinter kommen - gäbe es ein ordentliches In-die-Fresse-Hauen, direkt an meine
Adresse.
Ich nahm den Wecker aus der Tasche und schleuderte ihn mit Wut auf die Steine. Er
gongte nochmals kurz auf und versank dann im Wasser. Sehr gefährlich sind diese
kapitalistischen Erfindungen. Es ist besser, so etwas nicht bei sich zu tragen. Ah, würde
ich jetzt jenen verdammten Postamtsvorsteher in die Hände kriegen! Er würde mir teuer
für diesen Scherz bezahlen.
Auch wenn ich den Wecker liquidiert hatte, sah ich miserabel aus. Ich war pitschnass,
weil ich bis zum Hals in den Bach gefallen war. Obendrein hatte ich mir beim Laufen durch
das Gebüsch die Kleidung zerrissen, und mein Gesicht blutete. Wie sollte ich in diesem
Zustand zu meiner Gruppe zurückkehren? Ich dachte längere Zeit nach und merkte dann,
dass diese Geschichte für mich ein großer Verdienst und Anlass zur Auszeichnung
werden könnte.
Ich näherte mich unserem Lager und warf dann eine Granate in einen der Gräben. Als
sie explodierte, fing ich an, aus der Pistole in die Luft zu ballern. Ein Magazin schoss ich
leer, lud das nächste und rannte dann zum Lager. Dort waren schon alle auf die Beine
gesprungen, wussten nicht was sie tun, oder in in welche Richtung fliehen sollten. Ich rief
ihnen zu:
„Deutsche Treibjagd kam durch den Wald auf uns zu. Habe sie aufgehalten. Einige habe
ich mit der Pistole erschossen, einige hat die Granate zerrissen."
Der Major war sehr bewegt. Er drückte mir fest die Hand:
„Vielen Dank, Genosse, für die heldenhafte, eines Offiziers der Roten Armee und
tapferen Wanda-Wasilewska-Partisanen würdige Tat. Jetzt wird uns der Feind nicht mehr
überraschen."
Wir sammelten uns eilig zusammen und zogen in die Gegenrichtung. In die, aus der ich
gekommen war. Etwa dreißig Kilometer weiter hielten wir für einen längeren Aufenthalt an.
Der Major trug meine heldenhafte Tat in das Tagebuch ein.
„Wie viele Hitler-Faschisten hast du aus der Pistole erschossen?", fragte er.
„Fünf mit Sicherheit, denn ich habe gesehen, wie sie fielen."
„Ich schreibe sieben, denn zwei weitere konntest du übersehen."
„Richtig."
„Und wie viele wurden von der Granate zerrissen?"
„Ich vermute, sehr viele, weil ich sie direkt in eine ganze Gruppe von Deutschen
geworfen habe."
„Waren es vielleicht an die zehn Leute?"
„Ich glaube zehn."
Also schrieb der Major gerechter Weise: zehn. Mit einem Wort: Die Liste der
heldenhaften Taten unserer Gruppe wächst ständig. Und vor allem ich trage dazu bei. Das
ist ein sehr angenehmes Gefühl.

2. Juli 1944. Im Gebüsch.

Mit immer größerem Ruhm bedecken wir uns und vernichten mutig die Feinde der
Sowjetunion und des Sozialismus. In den letzten Tagen zerschlugen wir die Wohnung des
Priesters im Städtchen sowie zwei Gutshöfe der blutrünstigen polnischen Herren. Diese
Bastionen der Reaktionäre mussten wir frühzeitig unschädlich machen. Auch das
Proletariat trägt so einen erheblichen Nutzen davon, denn ich besitze bereits drei Uhren,
fünf Ringe und ein silbernes Zigarettenetui. An Kleidern und Schuhen hätte ich eine ganze
Fuhre mitnehmen können, wie aber sollte ich das alles mit mir herum tragen? Insgesamt
profitierten alle Jungen aus unserer Gruppe ordentlich bei unserem hingebungsvollen
Kampf für das Wohl des Proletariats.
Außerdem war es uns gelungen, an einigen Stellen an den Waldwegen telegrafische
Drähte zu durchschneiden. Die größte unserer Taten aber war das Niederbrennen von
zwei großen Heuschobern, etwa zehn Kilometer von Wilno entfernt. Ganz sicher werden
jetzt einige reaktionäre Pferde vor Hunger krepieren.
Vorgestern gingen unsere polnischen Kommunisten in das Städtchen, um die Lage zu
sondieren. Am Abend waren sie zurück und teilten uns mit: Dass die Deutschen Wilno
räumen; dass die deutsche Armee sich in Eile zurückzieht; dass eine ganze Menge der
Zivilbevölkerung in den Westen aufbrach, weil sie nicht im sowjetisch besetzten Gebiet
bleiben will; dass sich die polnischen Partisanengruppen nach den Kämpfen gegen die
Deutschen zur Eroberung Wilnos anschicken.
Wir berieten unsere jetzige Lage. Da unser Kommando keine Uniformen hatte,
beschlossen wir, einen der polnischen Kommunisten in die Stadt zu schicken, damit er
unbedingt einen schönen roten Stoff für die Armbinden und schwarze Farbe zur
Verewigung des Namens unserer Gruppe kaufte.
Ich schlug vor, unsere eigene Fahne herzustellen. Das wäre ein Zeichen von großer
Bedeutung. Der Vorschlag wurde einstimmig angenommen. Der Major befahl dem
Kommunisten, der die Anschaffungen besorgen sollte, unbedingt auch einen schönen
Stoff für die rote Fahne zu kaufen. Der Kommunist erwiderte, er wisse nicht, ob ihm das
gelingen würde, weil die Geschäfte schon längst geschlossen seien. Für die Armbinden
brauche man nicht so viel Stoff, den würde er also irgendwie besorgen können. Etwas
Geeignetes für die Fahne zu finden, wäre aber schwieriger. Der Major aber sagte, dass es
um eine Staatsangelegenheit ginge, und diese unbedingt erledigt werden, müsse. Er gab
ihm viel Geld aus unserer Kasse und befahl ihm, unverzüglich aufzubrechen.

8. Juli 1944. Im Wald.

Gestern marschierten wir in Kampfordnung durch die Wälder in Richtung Wilno ab. Zehn
Kilometer vor der Stadt hielten wir an und schlugen im Wald ein Lager auf. Wir wollten die
Lage erkunden. Es waren starke Explosionen in der Stadt zu hören, abends und nachts
war dort der ganze Himmel rot vom Feuerschein. Nachts dagegen hörten wir deutlich
Kanonenschüsse, Explosionen und Gewehrsalven. Einer der Kommunisten sagte, die
polnischen Partisanen hätten einer deutschen Division den Rückzugsweg abgeschnitten
und mit großen Kräften die Stadt attackiert.
Wir beriefen einen geheimen Kriegsrat unserer Truppe ein. Ich riet, abzuwarten, bis sich
die Lage geklärt hätte, um dann den Kontakt zu den Abteilungen unserer Armee zu
suchen. Der Major teilte meine Meinung. Also beschlossen wir, die Nase nicht in eine
heiße Angelegenheit zu stecken, sondern uns erst einmal hier auszuruhen. Die Zeit
konnten wir dazu nutzen, die Kampffahne unserer Abteilung zu fertigen.
Wir hatten viel roten Stoff und machten daraus Armbinden für alle Mitglieder unserer
Gruppe. Mit schwarzer Farbe schrieben wir auf jede Binde in großen Buchstaben “W. W“.
Das heißt, die ersten Buchstaben des Vor- und Nachnamens unserer geehrten
Schutzherrin Wanda Wasilewska. Daneben malten wir Totenschädel und gekreuzte
Knochen. Insgesamt sah das alles bedrohlich, imponierend und hundertprozentig
sozialistisch aus.
Schwieriger gestaltete sich die Sache mit der Fahne. Der Kommunist hatte aus der Stadt
nur einen roten Frauenrock mitgebracht. Wir untersuchten ihn genau. Er war sehr
schmutzig und zerrissen. Der Major stellte aber fest, dass das gut so sei, weil das Tuch
wie eine alte Kampffahne unserer heldenhaften Gruppe aussehen würde, welche wir,
angesichts unserer Heldentaten, zweifellos auch waren.
Wir schnitten den Rock auseinander, wuschen ihn und breiteten ihn zum Austrocknen
auf dem Rasen aus, um die Falten zu glätten. Dann schnitten wir ein geeignetes Stück für
den Banner aus. Auf der einen Seite malten wir mit schwarzer Farbe gekreuzte Sichel und
Hammer auf, einen fünf-zackigen Stern sowie in großen Buchstaben: “SSSR“. Oben drauf
setzten wir die Worte: “Für Heimat und Stalin“! Und ganz unten “Tod den Feinden
Russlands!“ Auf der Rückseite der Fahne zeichneten wir in der Mitte einen Totenschädel
mit darunter gekreuzten Knochen und seitlich davon große Buchstaben: “W“ - “W“. Es
gelang uns also eine ganz sozialistische Standarte, welche die idealistischen Losungen
der Kommunisten aus der ganzen Welt berücksichtigte.
Als die Farbe austrocknete, befestigten wir die Fahne an einem festen, langen Stiel. Sie
sah ausgezeichnet aus, und wir waren begeistert von unserem Werk. Die Abteilung trat
zum Appell an. Der Major stellte sich vor der Front auf. Ich neben ihm. Die Gruppe
formierte sich in drei Zweierreihen. Und links von uns, alleine, stand als Fahnenträger ein
Kämpfer mit der Fahne. Schön sah das aus. Jetzt konnte sich unsere Kampfgruppe
bedrohlich und idealistisch präsentieren. Die Sowjetunion, der VATER Stalin und das
polnische Genie Wanda Wasilewska konnten stolz sein auf ihre kämpferischen Helden.

14. Juli 1944. Die Stadt Vilnius.

Gestern erfuhren wir von den Bauern, dass die polnischen Partisanen Wilno eroberten
und dass die Deutschen kapitulierten. Auch russische Soldaten sollen in die Stadt
gekommen sein. Also beschlossen auch wir, uns dort hin zu begeben. Die Vorstadt
erreichten wir am Abend. Zu spät, denn jede polnische Wohnung, in die wir zwecks
Sozialisation hinein schauten, war schon von unseren Soldaten besucht worden. Alles
Wertvolle war bereits konfisziert. Also fiel nicht mehr viel von den besseren Sachen in
unsere Hände. Ich eroberte lediglich zwei Damenuhren und einen Ring. Eine große
Enttäuschung war das!
Am Ufer der Wilia schlugen wir unser Lager auf. Der Major befahl uns, zusammen zu
bleiben und keine Wohnungen mehr zu durchsuchen, weil es dort Minen geben könnte. Er
befahl mir, die Gruppe zu beaufsichtigen und ging, um Verbindung mit dem Stab unserer
Armee aufzunehmen. Die Verbindung muss er aufgenommen haben können, denn nachts
kam er stockbetrunken auf allen Vieren zurück gekrochen und war lange krank. Dann
legte er sich auf den Boden und schlief sofort ein.
Ich hingegen konnte viel zu lange nicht einschlafen. Überall war Geschrei unserer
Kämpfer zu hören, sie schossen herum und stritten um die Kriegsbeute. An beiden
Flussufern waren Lagerfeuer zu sehen. Früh morgens wachte ich vor Kälte auf. Die Jungs
waren schon auf den Beinen und kochten im Kessel Teewasser. Der Major war auch
wach.
Ich wollte meine Schuhe aufziehen. Aber es waren keine da. Sie waren verschwunden.
Irgendein Schuft muss sie geklaut haben. Unter meinem Kopf hervor gezogen. Es war
unvorsichtig von mir gewesen, sie auszuziehen. Aber nach dem langen Marsch hatte ich
große Fußschmerzen. Glücklicherweise waren mir die Uhren geblieben. Später schnappte
ich mir auf der Straße einen Polen und zwang ihn, die Schuhe auszuziehen. Sonst hätte
ich Barfuß laufen müssen. Für einen Offizier und stellvertretenden Kommandant einer
wichtigen Partisanenabteilung gehörte sich das jedoch nicht.
Ich werde mal durch die polnischen Wohnungen gehen müssen und mir etwas
Passenderes aussuchen. Allzu große Hoffnungen machte ich mir jedoch nicht, denn
unsere Kämpfer hatten schon alles genau durchsucht. Zeit dafür hatte ich zudem auch
nicht, weil der Major schon wieder verschwunden war und mir befohlen hatte, bei der
Gruppe zu bleiben. So konnte ich nur mit Neid im Herzen beobachten, wie unsere
Soldaten Ordnung in den polnischen Herrenhäusern schafften und Säcke mit Kriegsbeute
heraus trugen. Erst am Nachmittag kam der Major in Begleitung von zwei NKWD-
Offizieren, eines Panzer-Obersten und eines Zivilisten mit Armbinde zurück. Der Zivilist
war Kriegskorrespondent. Er machte mehrere Dutzend Fotos von unserer Gruppe, von der
Fahne, von mir und dem Major. Lange fragte er uns nach den Kampftaten der Abteilung
aus und schrieb irgendwas in sein Notizbuch.
Nach längerem Gespräch quartierten wir uns in einem der heil gebliebenen Häuser in
der Zygmuntowska-Straße ein. Den Kämpfern und den Kommunisten befahlen wir, nicht
alle zusammen, sondern nacheinander und zu zweit in die Stadt zu gehen. Wir selbst
machten uns auf den Weg.
Das NKWD war schon in Wilno und fing an, Ordnung zu machen – ganz wie es sich
gehörte. Unterwegs bemerkte ich auch einige polnische Partisanen mit weiß-roten
Armbinden und Adlerabzeichen an der Mütze. Das gefiel mir gar nicht. Einer der NKWD-
Leute tröstete mich aber und sagte, dass wir in Kürze schon mit denen fertig sein würden.
Der Major befahl mir, mich an ihn zu halten, da wir noch die Sache mit unseren
Dokumenten klären müssten. Und er fragte, ob ich vielleicht beim NKWD arbeiten möchte.
Ich antwortete ehrlich, dass ich als idealistischer Kommunist schon immer davon geträumt
habe. Er versprach, sich für mich einzusetzen.

21. Juli 1944. Vilnius.

Dem großen Stalin Hurra! Hurra! Hurra!

Ich bin in der ganzen Welt berühmt.

Alle Zeitungen in der Sowjetunion schreiben über mich. Mein Foto ziert eine Unmenge
von Illustrierten, wo ich als Held der furchtlosen Kämpfe an der Hinterfront der Feinde der
Sowjetunion beschrieben werde. Und es ist mir nur ein bisschen peinlich, dass über den
Major als Führer unserer Gruppe weniger geschrieben wird.
Der Major sagt, dass über unsere heldenhafte Kampfgruppe Lieder gesungen und
Bücher geschrieben werden, vielleicht sogar ein Film entstehen wird. Und unsere Fahne
wurde bereits nach Moskau geschickt, wo sie in einem Sonderraum als Andenken an die
Zeit der Kämpfe für die Befreiung Russlands vom faschistischen Überfall platziert wird.
Diese Fahne wird zum Leitstern für Russland und für die Kommunisten in aller Welt
werden. Ein sehr angenehmes Gefühl ist das.
11. August 1944

Das letzte Mal habe ich am 21. Juli geschrieben. Danach hatte ich keine Zeit mehr dafür,
obwohl es viel Interessantes zu berichten gab. Jetzt werde ich mehr erzählen.
Also, zur Zeit wohne ich wieder bei den Lehrerinnen. Vor zwei Wochen ging ich dorthin.
Die Weiber waren entsetzt, als sie mich sahen. Und ich ging sofort in mein Zimmer und
stellte fest, dass die Tür geöffnet worden war. Wo ich sie doch mit allen äußeren und
inneren Verschlüssen gut gesichert zurück gelassen hatte.
„Wer hat das getan?", fragte ich drohend.
Maria Iwanowna erklärte:
„Die deutsche Gestapo. Einige Male waren sie hier und fragten nach Euch. Dann haben
sie die Tür aufgebrochen. Irgendeine Prostituierte hat sie hierher geführt, Irena, sie wohnte
gegenüber und hatte was mit Euch. Die Gestapo-Leute fragten uns nach einem Leutnant
Zubow, weil sie erfahren hatten, dass er hier gewohnt hat und ein bekannter Kommunist
war."
Ich verstand, dass ich einen großen Fehler begangen hatte als ich, um diese elende Irka
zu bestrafen, einen Brief an die Gestapo geschickt habe. Im Endeffekt habe ich mich
selbst damit bestraft, weil nun meine wertvollsten Sachen verschwunden waren. Nur die
Drehorgel hatten die Deutschen nicht mitgenommen, also verwahrte Maria Iwanowna sie
in ihren Zimmern. Sofort gab sie sie mir zurück.
Noch eine Sache war im Zimmer unberührt geblieben: Das Hitler-Porträt, das ich beim
Verlassen von Wilno an seinem Ehrenplatz aufgehängt hatte. Ich schimpfte die Weiber
ordentlich aus und befahl ihnen, noch ein Zimmer für mich frei zu machen. Ich sei jetzt
eine wichtige Person und es gehöre sich nicht, schäbig zu wohnen. Und die drei Omas
und das Kind könnten sich problemlos mit einem Zimmer begnügen.
Es ist sehr schade um meinen Koffer und die Schuhe. Aber die Pistole und die
Dokumente, die ich im Sessel versteckt hatte, sind weiterhin intakt.

11. November 1944. Vilnius.

Dem Väterchen der Welt, dem großen Stalin Hurra! Hurra! Hurra!

Der Gosizdat-Verlag gab in einer Auflage von 100.000 Exemplaren und unter dem Titel
“Die Unbeugsamen“ das Buch von Ilia Stalinbzdurg heraus. Es beschreibt die Geschichte
unserer Wanda-Wasilewska-Partisanenabteilung. An erster Stelle im Buch befindet sich,
natürlich, ein Porträt von Stalin, dann eines von Wanda Wasilewska, der Schutzherrin
unserer Gruppe, weiter eines von dem Major, dann eins von mir, und zum Schluss Bilder
unserer ganzen Abteilung in verschiedenen Situationen: in Kampfstellung, am Lagerfeuer
usw.
Es gibt im Buch auch 15 Karten von unserem Operationsgebiet sowie - entsprechend
angepasst und literarisch aufgearbeitet - das Tagebuch der Abteilung. Am
Interessantesten sind jedoch zweifelsohne die Entstehungsgeschichte unserer
Kampfgruppe und ihre Großtaten dargestellt. Ilia Stalinbzdurg beschreibt unsere
bravourösen Kämpfe mit den übermächtigen faschistischen Verbänden so farbenreich und
schön, als ob er mit uns gemeinsam um die Freiheit Russlands und der Welt gekämpft
hätte. Ja, wir können stolz sein auf unsere sowjetischen Schriftsteller. Sie sind unglaublich
begabt.
Außerdem erfuhr ich, dass auch ein Film, ebenfalls unter dem Titel “Die Unbeugsamen“
entstehen soll. Es wird wahrscheinlich der hervorragendste Film der Welt werden,
besonders wertvoll, weil auf echten Ereignissen basierend. Hier erst werden Russland und
die Welt sehen, mit welch fantastischem Mut und mit welcher Aufopferung russische
Offiziere und polnische Kommunisten gemeinsam, von der großen Idee des stalinistischen
Sozialismus geleitet, gehandelt haben.
Sogar ein Theaterstück soll unter diesem Titel gespielt werden. Und sowjetische Dichter
arbeiten schon an Poemen und Balladen über uns. Ihr könnt sehen: Meine ungebrochene
kommunistische Treue zu Russland und seinem GROSSEN Führer zahlt sich aus. Ich
wurde auch reichlich entlohnt für meinen Mut und die schweren Kämpfe mit den
blutrünstigen Nazis. Am Oktoberfest wurde ich zum Hauptmann befördert und mit den
Suworow-, Kutuzow- und Grunwald-Orden dekoriert. Der Major wurde Oberst und bekam
Lenin-, Stalin- und Dzierzynski-Orden.
Es passierte aber dennoch eine Geschichte, die mir gar nicht gefiel. Wir wurden feierlich
dekoriert - nach der Militärparade am Stalinplatz in Vilnius. Ausgezeichnet wurden wir vom
Befehlshaber der Westfront, dem General Wazelinowski persönlich. Zum Auszeichnen
wurden der Major, ich und irgendeine Frau ausgerufen. Mit Erstaunen sah ich, dass sich
links von mir Irka aufstellte. Sie bekam den gold-roten Wanda-Wasilewska-Stern.
Nach der Feier näherte ich mich Irka und fragte:
„Geehrte Irena Antonowna, erkennt Ihr mich wieder?"
Sie aber spuckte nur:
„Hau ab zum Teufel, du Rüpel, sonst kriegst du gleich in die Fresse!"
Ich ließ sie in Ruhe und ging weg, obwohl mich sehr interessierte, warum diese
ekelhafte und ordinäre Straßendirne mit dem Orden der großen polnischen Patriotin und
größten Schriftstellerin der Welt gewürdigt wurde. Später erklärte mir der Major (jetzt
Oberst) alles:
„Sie ist eine große Revolutionärin und ein Gestapo-Opfer. Sie wurde aus dem Gefängnis
befreit, wo sie unter den Deutschen wegen Verdachts auf Spionage für die Sowjetunion
saß. Sie war fast drei Jahre lang da drin. Irgendein sowjetischer Verräter denunzierte sie
bei der Gestapo, sie solle für unseren Geheimdienst gearbeitet haben. Sie aber hielt sich
tapfer und verriet den Deutschen nichts. Deshalb wurde sie als “Unbeugsame“ anerkannt
und dekoriert. Als Person von großen, sozialistischen Moralprinzipien bekam sie bei dem
hiesigen Gorispolkom8 eine Stellung als Vorsitzende der Mutter-und-Kind-Schutz-
Abteilung. Sie wird jetzt eine große Karriere machen, denn unsere Obrigkeit schätzt sie
sehr."
Es war mir sehr peinlich. Nicht genug, dass ich mit meiner Anzeige an die Gestapo dem
Weib keinen Schaden zugefügt hatte, ich habe es sogar befördert. Wer aber hätte das
vorhersehen können?

7. Dezember 1944. Vilnius.

Der Major ist jetzt, wie ich schon geschrieben habe, Oberst und wurde zum NKWD-
Vorsteher in Vilnius ernannt. Mich behandelt er sehr gut und vor allem hat er mir seitdem
nie wieder in die Fresse gehauen. Übrigens bin auch ich nicht irgendwer. Ich bin ein, mit
vielen hohen Orden ausgezeichneter Held der Sowjetunion und – na - Hauptmann der
Roten Armee.
Eines Tages rief der Major mich zu sich und fragte:
„Möchtest du vielleicht Vorsteher der Kreismiliz werden? Es ist eine sehr wichtige
Stellung. Da du über sehr gute Ortskenntnisse verfügst, die Menschen der Gegend kennst
und Polnisch sprichst, ist die Stellung für dich hervorragend geeignet. Du würdest direkt
mir unterstellt sein, und es wäre deine Aufgabe, die Volksmiliz ordentlich zu organisieren.
Zur Hilfe würdest du jene polnischen Kommunisten bekommen, die in unserer
Partisanengruppe waren."
Ich freute mich über diesen Vorschlag und nahm ihn mit großer Dankbarkeit an. Er
verschaffte mir die Möglichkeit, zum Wohle des Proletariats und der Sowjetunion,
selbständig zu arbeiten. Ich würde nicht an die Front geschickt werden, wo man doch so
8 Städtisches Exekutivkomitee
leicht fallen konnte. Außerdem würde ich Feinde der Arbeiterklasse, und dazu gehörten
alle Polen, liquidieren können. Solche Liquidierungen können auch für den
Durchführenden sehr einträglich sein. Also antwortete ich:
„Genosse Oberst, ich nehme das Angebot gerne an und bedanke mich für die Ehre, die
Auszeichnung und das Vertrauen. Ich werde auf diesem Posten die Feinde der
Sowjetunion nicht weniger eifrig vernichten als während unserer gemeinsamen Kämpfe."
Der Oberst ließ mich alle meinen Angelegenheiten in Vilnius abwickeln. Drei Tagen
später sollte ich dann die nötigen Papiere und Instruktionen bei ihm abholen und danach
in die Kreisstadt fahren, um den Posten zu übernehmen.
Es lohnte sich, ein unbeugsamer Komsomolez und treuer Sohn unseres heiligen
Russlands geblieben zu sein. Denn ich wurde so reichlich belohnt für meine uferlose
Treue zu VATER Stalin und dem Kommunismus!

1. Januar 1945. Vilnius.

Seit dem 15. Dezember bin ich Vorsteher der Kreismiliz und habe schon über ein
Dutzend Miliz-Kommandanturen im Landkreis gegründet. Zur Verfügung stehen mir ein
Pkw und ein eigener Chauffeur. Mit einem Wort: Ich bin jetzt ein GROSSER Mann und
eine wichtige Person.
Anhand der Informationen der polnischen Kommunisten stellte ich mehrere Listen von
Feinden des Arbeitervolkes auf und schickte sie an das NKWD zur Erledigung. Mittlerweile
hat sich herausgestellt, dass die ganze hiesige Bevölkerung, mit Ausnahme der
Kommunisten und deren Familien, faschistisch und reaktionär eingestellt ist. Es wird also
viel zu tun sein mit den Verhaftungen und den Verschickungen ins Lager sowie in
entfernte Gebiete in der Sowjetunion. Die Gegend hier muss gründlich von den
konterrevolutionären Elementen gesäubert werden.
Am 22. Dezember bekam ich vom NKWD-Chef in Vilnius einen Befehl: Ich sollte im
Landkreis einen landwirtschaftlichen Betrieb finden, der sich für “podsobnoje chosjajstwo“9
eignen würde. Sofort dachte ich an den Gutshof von Frau Jozefa. Er hatte eine günstige
Lage, einen guten Boden und gute Gebäude. Das lebende Inventar könnte man den
Bauern zu Sozialisierung übergeben. Sowieso würde ich gleich einige Bauernhöfe an das
Gut von Frau Jozefa anschließen. Auf diese Art und Weise würde das Gut nicht nur
vergrößert, sondern auch mit allem Notwendigen ausgerüstet. Vor allem die Wirtschaft der
Malugas musste wegen der guten Pferde und Kühe angeschlossen werden.
Am 24. Dezember führte ich im Landkreis eine Operation durch, um Reaktionäre zu
liquidieren und den NKWD-Besitz abzusichern. Solche Angelegenheiten müssen immer
sofort erledigt werden. Ich nahm einen Lastwagen und als Begleitung sieben Milizionäre
mit. Ich selbst fuhr im Personenwagen. Zu allererst besuchten wir den Gutshof Burki. Frau
Jozefa kam aus dem Haus und schon an ihrer faschistischen Fratze konnte ich sofort
erkennen, dass sie sehr erschrocken war. Ich stieg aus dem Auto und ging in ihre
Richtung. Nach einiger Zeit erkannte sie mich und rief erfreut:
„Mischalein, bist du es wirklich? Ich habe schon gedacht, du wärst gefallen und dich
beweint."
Ich sagte zu ihr scharf:
„Hier gibt es keinen Mischalein, sondern nur einen Hauptmann Zubow, Vorsteher der
Kreisvolksmiliz. Ich bin gekommen, das Haus zu durchsuchen."
Sie wurde blass, schaute mich an, als ob sie ihren eigenen Augen nicht glauben wollte
und sagte nichts mehr. Ich befahl ihr, in die Wohnung hinein zu gehen. Zwei Millizionäre
nahm ich mit ins Haus. Drinnen befahl ich ihr:
„Bitte sofort die versteckten Waffen herauszugeben!"
Sie erwiderte:
9 Hilfswirtschaftsgut
„Ich habe keine Waffen."
„Du hast keine Waffen?"
„Habe ich nicht."
Wie ich ihr dann in die Fresse haute, wie ich sie anbrüllte:
„Und die Browning deines Mannes, die du mir, gemeine Schlange, selbst gezeigt hast,
wo ist die?"
Sie gab mir die Browning. Dann fragte ich sie nach anderen Sachen aus. Vor allem nach
ihren Kontakten zu den ausländischen Reaktionären mittels des Radiogerätes. Sie
leugnete alles. Wieder kriegte sie eine aufs Maul. Und das Radio zog ich selbst aus dem
Versteckt hinter dem Ofen hervor. Sie vermutete nicht einmal, dass ich von diesem
Geheimfach Kenntnis hatte. Das Radio würde mir sehr nützlich sein, daran hatte ich schon
gedacht.
In dem Moment sprach sie mich an:
„Auf die Art also zeigst du, Mischalein, deine Dankbarkeit dafür, dass ich dich drei Jahre
lang unter Lebensgefahr vor den Deutschen versteckt und wie eigenen Sohn behandelt
habe? Viele Male hast du gesagt, dass du mir für meine Güte und Opferbereitschaft bis
zum Tode dankbar sein wirst!"
Also gab ich ihr wieder eine aufs Maul:
„Schweig, du elende Reaktionärin!", schrie ich. „Solche wie du müsste man wie die
Schaben zertrampeln. Von euch kann man nichts anderes als den Verrat an der
Sowjetunion erwarten."
Wir führten im ganzen Gut eine Revision durch. Ich wusste schon genau, was und wo zu
suchen war. Danach fertigte ich ein Durchsuchungsprotokoll und nannte die
Hauptanklagepunkte:

01. Ehemann in England.


02. Verstecken eines Deserteurs der Roten Armee.
03. Verstecken von Waffen.
04. Auslandskontakte mittels eines Radiogerätes.
05. Unterstützung der Partisanen.
06. Kontakte mit den Deutschen sowie Kenntnisse der deutschen und der französischen
Sprache.
07. Verbindungen zur Untergrundorganisation in Vilnius.
08. Faschistische Agitation.
09. Fälschen von Dokumenten.
10. Verbreitung von religiösem Aberglauben.
11. Verleumdung der Sowjetunion.
12. Lobpreisung der faschistischen Systeme in England, Amerika und Frankreich.
13. Kapitalistische Abstammung.

Frau Jozefa lehnte es ab, das Protokoll zu unterschreiben. Das Blut aus dem Gesicht
abwischend, sagte sie:
„Ihr könnt mir mir tun, was ihr wollt, aber diese Lügen werde ich nicht unterschreiben.
Das alles sah ganz anders aus."
Ich warnte sie, dass sie sich durch ihre reaktionäre Verstockung nur noch mehr belasten
würde. Dann sicherte ich das Gutshaus und alles, was drin war, ab. Frau Jozefa ließ ich
auf den Lastwagen werfen und gut bewachen. Dann fuhren wir zu den Malugas.
Glücklicherweise war die ganze Familie beim Abendbrot versammelt. Sie aßen zu
Heiligabend. Ich hatte das vorausgesehen und deshalb den 24. Dezember als Besuchstag
ausgewählt. Antosia warf sich mir, als sie mich sah, an den Hals.
„Mischalein, mein Liebster! Ich hatte große Sehnsucht nach dir und solche Angst um
dich."
Ich aber schob sie zur Seite. Dann befahl ich allen, aufzustehen und die Hände hoch zu
halten. Wir durchsuchten sie, und ich begann, mit ihnen abzurechnen.
Der alte Maluga konnte noch immer nicht glauben, dass ich es ernst meinte. Sobald er
aber ein paar Mal mit der Faust in die Zähne und einige Schläge mit dem Gewehrkolben
bekommen hatte, glaubte er und schwieg.
Wir holten die im Pferdestall versteckten Waffen hervor und gingen zum Bunker im
Wald. Dort fanden wir ein Feldtelefon sowie viele Kampfgeräte und Munition. Wir luden
alles auf den Laster auf. Auch den alten Maluga und seine Söhne, als besonders
gefährliche Verbrecher schön gefesselt, packten wir auf den Lkw.
Die beiden Töchter von Maluga ließen wir zu Hause zurück, damit es jemanden gab, der
auf die Wirtschaft dort und in Burki aufpasste. Auch zwei Milizionäre teilte ich ihnen zur
Bewachung zu. Sollten sie sich langweilen, sagte ich ihnen, dürften sie sich mit den
Mädchen vergnügen.

Die Hauptanklagepunkte gegen die Malugas waren folgende:

01. Verstecken von Waffen.


02. Partisanentätigkeit.
03. Verbreiten reaktionärer Propaganda.
04. Verleumdung der Sowjetunion.
05. Faschistisch-kapitalistische Agitation.
06. Verbreiten von religiösem Aberglauben.
07. Englische Sprachkenntnisse des Hausbesitzers.
08. Vermeidung des Kriegsdienstes der Söhne Malugas in der Roten Armee.

Am nächsten Tag schickte ich sie alle unter starker Eskorte in das NKWD-Gefängnis in
Vilnius. Einen detaillierten Rapport und Protokolle übersandte ich als Geheimdokumente
an den NKWD-Vorsteher. Jetzt konnte ich sicher sein, dass sich unsere Behörden Frau
Jozefa und der Malugas gebührend annehmen würden. Ja!
Auf diese Art und Weise, tatkräftig und glorreich, begann ich meine neue Tätigkeit zum
Ruhme von Russland und des GROSSEN Führers der Menschheit, Stalin, sowie für den
Sieg der kommunistischen Partei in der ganzen Welt.

ENDE DER AUFZEICHUNGEN

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