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1999

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Reprint Holodeck heute


Millionenteure Hightech-Installationen wie
Star Trek: The Experience verweben Elemene
von Museum, Theater und Kino mit modernster
Simulationstechnik. Erzeugt die Digitalisierung
eine neue multimediale Erzählform, die dem
Kino Konkurrenz macht? Weiter>

von Gundolf S. Freyermuth

vol. 2008.03 inhalt info holodeck heute 1/36 Ë


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Inhalt
1 Im Hightech-Untergrund ................................................3
2 Fahrstuhl in die Zukunft. Der Reise erster Teil .....................8
3 Die Illusion des Beamens .............................................. 11
4 Fernsehen zum Betreten. Der Reise zweiter Teil ................ 13
5 Im militärisch-kulturindustriellen Komplex ....................... 16
6 Von der Flugsimulation zur Mitspielfiktion ........................ 22
7 Bruchlandung in Vegas. Der Reise dritter Teil .................... 25
8 Unterhaltungstechnische Pionier-Branche ........................ 27
9 Hetzjagd zum Holodeck ............................................... 31
Impressum .................................................................. 36

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1
Kapitel

Im Hightech-Untergrund

Das 24. Jahrhundert hat 70 Millionen Dollar gekostet und wird von
zwei Dutzend Rechnern ferngesteuert. Sie wiederum arbeiten dem
Zwillings-Zentralgehirn zu, das sich in einer Abstellkammer im
Parterre verbirgt, einem Triad-HP-OS-9000-Show-Control-System,
auf das Jeff Borba jetzt zeigt: „Jeder Input, jeder Output, jede
Kleinigkeit läuft über den Triad. An seinem Timing hängt alles.“
Jeff ist 29 Jahre alt und trägt den Arbeitstitel Department Manager of Engineering. Da-
mit ist er Herr über dreizehn technische Angestellte, die seit Januar 1998 im Las Vegas
Hilton Star Trek: The Experience am Dauerlaufen halten.

„In all den Monaten hatten wir keine zehn Minuten downtime“, sagt Jeff Borba, „und
selbst die gingen zum größten Teil nicht auf tatsächliche Defekte zurück.“ Er grinst

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jungenhaft. „Am meisten beschäftigen mich die Bedienungsfehler. Was haben wir nicht
schon getan, um das System noch narrensicherer zu machen …“

Die Narren, das sind die futuristisch uniformierten Akteure, die ein Stockwerk höher
von morgens elf bis abends elf auf modernsten Illusionsbühnen Sternenflotte spielen
– wobei sich Theater-, Film- und Flugsimulatorerlebnisse mischen und das Publikum
mitten in die Handlung gerät. Die interaktiven Kleingruppen-Shows für jeweils 27 Per-
sonen dauern 22 Minuten. Bis auf die raumgreifende Rekonstruktion der legendären
Enterprise D aus Star Trek – The Next Generation, ihrer Brücke und ihres großen Korri-
dors, existieren alle Einrichtungen doppelt. Deshalb können die Shows mit 30 Sekunden
Abstand starten. Zu Stoßzeiten werden so gut 2000 zahlende Zeitreisende pro Stunde in
die Zukunft geschleust, für 15.95 Dollar pro Kopf.

700 000 Besucher strömten allein im ersten halben Jahr nach der Eröffnung herbei,
Wartezeiten bis zu zwei Stunden waren keine Seltenheit. Inzwischen hat das Gedrängel
nachgelassen, doch auch wer sich an diesem Montagmorgen im Sommer 1999 um Punkt
elf in die Schlange der Wartenden einreiht, muss sich noch 45 Minuten die Beine in den
Bauch stehen.

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Was er oder sie am Ende erlebt, ist Resultat einer avancierten Hightech-Installation,
aufwendiger und komplizierter als jedes Broadwayspektakel und auch als die meisten
Hollywoodproduktionen. Mit 50 Millionen Dollar hatten die Verantwortlichen von Pa-
ramount Parks Inc., einer Subfirma des Unterhaltungsmultis Viacom, das Projekt 1996
veranschlagt. In wenigen Monaten sollte es realisiert werden. Als nach zweieinhalb Jah-
ren und immer neuen logistischen Problemen endlich der Betrieb aufgenommen werden
konnte, war das Budget um fast 50 Prozent überschritten. Dafür allerdings hatte ma die
beste Technik eingekauft, die zu haben war.

aufwendiger und komplizierter als die meisten


Hollywoodproduktionen
Im Hintergrund lärmen die gewaltigen Generatoren der hydraulischen Hochleistungs-
systeme, von denen die Kulissen verschoben und die Bewegungsplattformen in Gang
gehalten werden. Jeff Borba spricht mit erhobener Stimme dagegen an und betet die
einschlägigen Daten herunter. Die 6000 Quadratmeter große Star-Trek-Enklave, ein An-
bau zum Las Vegas Hilton, das selbst mit über 3000 Zimmern das siebtgrößte Hotel der
Welt ist, birgt 37 so genannte „themed places“.

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In diesen CAD-geplanten, labyrinthisch angelegten und thematisch inszenierten Um-


welten existiert nichts, das nicht von Elektronengehirnen gesteuert würde. Als han-
dele es sich um eine terrestrische Raumstation, läuft der ungewöhnliche Alltag nach
strengem Software-Programm: die Sauerstoffzufuhr, die Regelung von Temperatur und
Luftfeuchtigkeit, die Beleuchtung, die Kontrolle des szenischen Umbaus, natürlich die
Koordination des Simulationsritts, dazu die „normale“ Geräuschkulisse, die speziellen
akustischen und visuellen Effekte, etwa jeder Blick durch die Panoramafenster in die
galaktische Außenwelt.

CAD-geplante, labyrinthisch
angelegte, thematisch inszenierte und komplett von
Computern gesteuerte Umwelten
Um das künstliche Environment komplett steuerbar zu machen, wurden 16 Kilometer
Audiokabel verlegt und 300 Lautsprecher in den Kulissen verborgen. 13 automatische
Türen mit eigenen Steuerplatinen öffnen und schließen sich während der Show auf
Zehntelsekunden genau. Für die illusionistischen Lichteffekte sorgt ein halbes Tausend
einzelner Schaltungen. Sie regeln das Glühen der 15 000 Sterne über dem Eingangshim-

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mel ebenso wie das planmäßige Leuchten und Flackern der allgegenwärtigen Neonröh-
ren, von denen ein guter Kilometer installiert ist. Die Bilder auf den 28 Videomonitoren
sowie die allgegenwärtigen akustischen Effekte stammen aus 32 Pioneer Laserdisc-
Spielern, die für den industriellen Einsatz geeignet sind.

Zur minutiösen Kontrolle des Spektakels wird neben handelsüblichen Rechnern reichlich
spezielle Hardware eingesetzt, Basic Animation Real Time Controllers (BARTs), Laser
Dics Controllers (LDCs), Programmable Logic Controllers (PLCs) der Allen-Bradley-Abtei-
lung von Rockwell International sowie MediaMatrix MM-740 und MM-940 Computer. Auch
die Software ist ein bunter Mix aus proprietärem Kode wie dem Stage Command System
von Scenic Technologies, das die mechanischen Effekte kontrolliert, und einer Vielzahl
kommerzieller Programme. Nur eine Komponente fehlt auffällig: Windows nach 1995.

„Wir benutzen neben OS 9000 auch DOS und Windows 3.11“, sagt Jeff Borba. „Alles
Neuere ist zu instabil. Wir können es uns einfach nicht leisten, dass unser System drei-
mal am Tag abstürzt. Was sollen wir denn mit den Leuten da oben machen, während
wir hier unten endlos neustarten?“

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2
Kapitel

Fahrstuhl in die Zukunft. Der Reise erster Teil


Ein Stockwerk höher hat sich die Schlange der Wartenden in Bewegung gesetzt. Aus
ihnen ragt ein hoch gewachsenes, zu Klingons kostümiertes Pärchen heraus, sonst aber
handelt es sich um Humanoiden beiderlei Geschlechts, die zwar in einem babylonischen
Sprachengewirr plappern, sonst aber recht normal scheinen. Die Mehrheit ist zwischen
dreißig und fünfzig Jahren alt und stellt längere, meist schüttere Haare, kräftige Kör-
per und stämmige Schenkel in kurzen Röcken und Hosen zur Schau.
Der gewundene Weg des Publikums zum eigentlichen Eingang der Attraktion führt durch
das Museum für die Geschichte der Zukunft. Kitschig und faszinierend zugleich stimmt
die Ausstellung mit Star-Trek-Devotionalien und Videoschnipseln auf die bevorstehende
Show ein. Chronologisch werden die wichtigsten Schritte in der Entwicklung intelligen-
ten Lebens von der rückständigen Erdenmenschheit zur transhuman-interplanetarischen
Zivilisation präsentiert; von Galileos Forschungen also bis zur Geschichte schreibenden
Hochzeit von Whorf und Dax. Kleiderpuppen zeigen 23 Kostüme, darunter Captain Kirks
Tunika, Odos Uniform oder die knappen S&M-Ledergebinde von Klingon-Kriegerinnen.
Hinter Glas liegen rund 200 „Original“-Schwerter und Phaser, Masken von Romulans
und Cardassians, Tricorder, Spocks Raketenstiefel, ein Universalübersetzungsgerät und

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- wohl als Verbeugung an den primitiven Aborigines-Stammvater der Hochtechnik des


23. und 24. Jahrhunderts - ein beiger, leicht angegammelter Apple Macintosh Plus, „ca.
1986“.

Bei der Sperre und den Sternenflotten-Schönheiten angelangt, die den Besucherstrom
in Kleingruppen einteilen, diskutiert ein mittelalterliches Ehepaar aus Deutschland
die im Museum aufgelesene Trivial-Enthüllung, dass die Original-Weinkrüge, aus denen
man im Star-Trek-Universum Blutwein trinkt, zum ersten Mal in dem 1956er-Hollywood-
schinken Die zehn Gebote zum requisitären Einsatz kamen. Bis dann ein älterer Herr
in Museumswächter-Uniform die Gruppe zu dem Fahrstuhl führt, der sie angeblich zu
dem ganz normalen computersimulierten Shuttle-Flug bringen soll, den die Attraktion
verspricht.

Die Lifttür schließt sich, in der klaustrophobisch engen Kabine laufen auf mehreren
Videomonitoren weitere Schnipsel aus alten Star-Trek-Folgen. Die Langeweile ist fast
körperlich zu spüren.

Plötzlich aber ruckt der Lift hart. Auf den Monitoren flackern Störstreifen, und als sie
sich stabilisieren, erscheint für Sekunden überall dasselbe, von Hass verzerrte Gesicht
eines Klingon-Kriegers.

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Der Tourführer blickt entsetzt in die Runde, bis nur noch Blackout ist. Der Fahrstuhl
stockt in einer Nacht, die schwärzer nicht sein könnte.

„Mama, ich habe Angst“, sagt eine körperlose Kinderstimme.

Rauschen hebt an, ein starker, kühler Windsog fährt über die Gesichter.

„Da kann man auch Angst haben“, kommt die mütterliche Antwort.

Aus dem Nichts erscheinen winzige, rötlich tanzende Lichtpunkte, wie sie nicht nur
jeder Trekker kennt.

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3
Kapitel

Die Illusion des Beamens


Der Spruch „Beam me up, Scotty“, schreibt der Physiker Lawrence M. Krauss in seiner
amüsanten Analyse der Star-Trek-Technik, sei so bekannt wie das Wort Ketchup. In den
USA zumindest. Kein Zweifel also, was in dem stecken gebliebenen Fahrstuhl gerade
passiert: molekulare Desintegration! Doch wer beamt hier wen? Und warum und wohin?

„Die Schauspieler müssen dafür Sorge tragen, dass das Publikum innerhalb gewisser Pa-
rameter bleibt, damit bei dem sekundenschnellen Umbau der Szene niemand verletzt
wird“, sagt Jeff Borba in dem Raum unterhalb des vermeintlichen Fahrstuhls – bei dem
es sich realiter um eine dreiachsige hydraulische Bewegungsplattform handelt. „Bevor
alle Akteure auf ihren Plätzen sind und die verborgenen Fußtasten betätigen, geht gar
nichts ab.“
Dann aber umso schneller.

Der saugende Wind nämlich, der dem Publikum so hervorragend an den Haaren wie an
den Nervenenden zerrt, ist kein Effekt, den die Designer der Installation geplant hät-
ten. Er entsteht durch das automatische Verschieben der stählernen Kulissen und wurde
von den Verantwortlichen mit Verblüffung erst bemerkt, als sie diese computerisierte

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Hochgeschwindigkeitsversion traditioneller Theaterzauberei probeweise in Betrieb nah-


men.

Vorher galt ihre ganze Aufmerksamkeit der schwierigen Aufgabe, das aus TV und Kino
bekannte Beam-Geflimmer zu realisieren. In den Star-Trek-Filmen wird der Effekt durch
Scheinwerfer erzeugt, die außerhalb des Kamerabildes postiert sind. Das Ergebnis wird
obendrein digital nachbearbeitet. Beide Möglichkeiten fallen bei der Live-Inszenierung
aus. Trotzdem sollte die Erfahrung so echt wie nur irgendein anderer Effekt in der Show
wirken, da an der Glaubwürdigkeit dieser ersten Szene wesentlich hängt, mit wie viel
Bereitwilligkeit sich das Publikum auf den Rest der innovativen Star-Trek-Fiktion ein-
lässt.

Die Lösung, die schließlich gefunden wurde, bestand darin, den Boden des Fahrstuhls
aus stahlverstärktem Plexiglas herzustellen und mit speziellen Reflexionsfolien zu
bekleben. Unter den Füßen des Publikums ruhen computergesteuerte fluoreszierende
Lichtquellen. Geschickte Beleuchtung lässt das Glas anfangs so massiv erscheinen, wie
es jeder gewöhnliche Lift ist. Erst nach dem Blackout, in dem Augenblick, da die Stahl-
wände davon zu sausen beginnen, läuft das bunte Beam-Progamm an.

Für bange 6,5 Sekunden. Dann ist der Spuk vorbei.

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4
Kapitel

Fernsehen zum Betreten. Der Reise zweiter Teil


Es wird wieder Licht, grell und brutal - und im 24. Jahrhundert. Wo eben noch die Ge-
genwart und ein enger Fahrstuhl war, befindet sich nun der weitläufige Transporterraum
des Raumschiffs Enterprise. Ein Empfangskomitee aus Star-Fleet-Offizieren warnt erregt
vor höchster Gefahr – einem klingonischen Entführungsversuch – und hetzt die 27köpfige
Gruppe der unfreiwilligen Zeitreisenden auf die Brücke des Schiffs.

Authentischer könnte sie nicht sein: Faux-Holzverzierungen, warme, erdige Farbtöne,


die Vermeidung aller mechanischen Kennzeichen unserer ausgehenden industriellen
Epoche wie Schrauben, Haken oder Schlösser, dazu eine ranghohe, schwer beschäftigte
Bedienungsmannschaft. Und in der Tat ist der Nachbau der Star-Trek-Dekoration sogar
echter als echt. In AutoCAD wurde er ein wenig größer als das Original entworfen, um
den Abstand zu kompensieren, den das Publikum zum Machtzentrum mit seinem ver-
dächtig verwaisten Kapitänssessel halten muss.

Warum Jean-Luc Picard weit und breit nicht zu sehen ist, die Antwort auf diese im
Raum hängende Frage und auch die Lösung aller anderen Rätsel bringen dann Comman-
der Will Riker und Lieutenant Commander Geordi LaForge höchstpersönlich. Die Star-

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Trek-Stars schalten sich aus dem Maschinenraum des Schiffs auf den großen Schirm der
Brücke und erklären in hastigen Worten:

Der teuflische Klingon-General Korath, dessen Gesicht kurz vor dem Blackout auf den
Monitoren des Fahrstuhls erschien, hat einen Zeitriss produziert und die 27 Erdlinge aus
dem 20. ins 24. Jahrhundert entführt. Der Grund: unter den Gekidnappten befindet sich
ein – unbekannter - Vorfahre von Captain Picard. Der oder die Entführte vermag nun die
historisch notwendige Nachwuchskette nicht mehr in Gang zu setzen. Weshalb der gute
Captain sich in Luft aufgelöst hat, sobald die Reisegruppe aus der Vergangenheit im
Transporterraum materialisierte.

vom Publikum zu Mitspielern mutiert


Um Picard zu erneuter Existenz zu verhelfen, muss die Anomalie des Raumzeitkonti-
nuums rückgängig gemacht werden. Den Entführten befiehlt Commander Riker daher,
schleunigst in die Zeit zurückkehren, in die sie gehören, auf dass sie dort ihre Zeu-
gungsaufgaben erfüllen.

Alle Gäste aus der fernen Vergangenheit - vom Publikum zu Mitspielern mutiert – wer-
den zu einem Turbolift getrieben, der sie zu der Shuttle-Bucht des Schiffes transpor-

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tieren soll. Was er letztlich auch tut, allerdings, da gleichzeitig General Korath eine
Attacke auf die Enterprise fliegt, nach einem rumpeligen, mehr oder weniger freien,
von schrillen Publikumsschreien begleiteten Fall. An den Fenstern des Lifts sausen dazu
lichteffektvoll Sterne und Planeten vorbei.

Dem Tod im Lift haarscharf entkommen, führt der Weg weiter über den großen, neun
Meter hohen Korridor der Enterprise. Hinter seinen gewaltigen Lichtfenstern glitzert
das All. Fünfzig Meter weiter wartet das Shuttle.

Traut man den besorgten Gesichtern der freundlichen Star-Fleet-Helfer, die das An-
schnallen überwachen, Schwangere und Herzkranke vor der Weiterfahrt warnen und
sich dann auf Nimmerwiedersehen verabschieden, haben die Zeitreisenden wenig Chan-
cen, ihre Gegenwart lebend zu erreichen. Einige lässt denn auch der Gedanke an das,
was sie nun erwartet, recht blass werden.

Die Türen schließen sich zischend, jeden Augenblick muss der vierminütige Hightech-
Ritt durch Raum und Zeit beginnen.

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5
Kapitel

Im militärisch-kulturindustriellen Komplex
Die bescheidenen Anfänge realistisch-virtueller Ausflüge, wie sie heute zum digitalen
Massenvergnügen werden, datieren in die analoge Vorzeit. Bereits 1929 wurden in den
USA erste Flugsimulatoren betrieben. Bei ihnen handelte es sich um Cockpit-Nachbau-
ten, die auf hydraulischen, dreiachsigen Plattformen montiert waren.Den Aktionen des
Piloten entsprechend rollten und kippten sie. Visuelles Feedback zu produzieren, diese
Möglichkeit existierte in den Zeiten des schwarzweißen Stummfilms allerdings nicht.
Die Trainingsmöglichkeiten beschränkten sich auf den Instrumentenblindflug.

Im Laufe des Zweiten Weltkriegs wurden mit einigem Aufwand zwar die motorischen
Elemente der Trainingsplattformen optimiert, dem Bildermangel konnte aber erst in
den fünfziger Jahren die Einführung kommerzieller Videokameras ein Ende bereiten.
Sie glitten an beweglichen Gelenken über maßstabsgetreue Modelle von Flughäfen und
Landschaften. Im Verein mit den Bewegungsplattformen reagierten die Kameras auf die
Steuerbefehle des Piloten exakt genug, um ihn übend über die Modelle hinweg fliegen
und auch in sie hinein landen zu lassen.

Während der nächsten zwanzig Jahre ersetzten immer bessere Simulationsanordnungen


die Schwarzweißkameras durch farbige und erweiterten auch mit der Anzahl der einge-

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setzten Kameras die simulierte Perspektive. Der entscheidende Sprung in der Entwick-
lung von Flugsimulatoren allerdings gelang erst mit dem Einsatz von Computern, durch
so genannte „scene generators“. Den Prototypen baute David Evans 1968. Die Kombina-
tion von optimierter Hard- und innovativer Software errechnete aus digitalisierten Auf-
nahmen realer Szenen neue Bilder, die perspektivisch den Pilotenbefehlen entsprachen.
Bereits vier Jahre später stellte die US Navy ein computergesteuertes Trainingsgerät in
Betrieb.

Die Adaptation der neuen Technik an Unterhaltungszwecke ließ etwas länger auf sich
warten. 1986 präsentierte Disney den ersten, noch recht primitiv simulierenden vir-
tuellen Ritt. Mit dem Ende des Kalten Kriegs akzelerierte jedoch die Entwicklung.
Kürzungen im Militärhaushalt beraubten die Rüstungsindustrie eines wesentlichen Teils
ihrer traditionellen Einkünfte. Viele Firmen suchten nun nach ziviler Kundschaft und
drängten auf den Unterhaltungsmarkt.

Ein Musterbeispiel für die Entwicklung liefert der steile Aufstieg der Firma, von der
die Bewegungsplattformen in Star Trek: The Experience stammen. Seit 1963 hatte
McFadden Systems avancierte Bewegungssimulatoren für das US-Militär, die NASA sowie
die Luft- und Raumfahrtindustrie gebaut. Der erste Kontakt mit der Entertainment-
Branche kam 1992: Warner Bros. bestellte die elektronisch gesteuerte Hydraulik für den

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VR-Simulationsritt Batman. Der Auftrag bedeutete einen Wendepunkt in der Firmen-


geschichte. Binnen fünf Jahren vervierfachte sich der Umsatz. Über 200 Bewegungs-
plattformen hat McFadden seitdem weltweit in Themenparks, Vergnügungsarkaden und
Museen montiert, drei Dutzend allein in Las Vegas.

„Mir bereitet es Freude“, sagt Larry Hayashigawa, Präsident von McFadden, „dass wir
eine Technologie mit militärischen Anwendungen in etwas verwandelt haben, das Kin-
dern das Gefühl gibt zu fliegen.“

Zweckentfremdung avancierter Rüstungstechnik für


Hightech-Unterhaltung
Nicht unwesentlich für die Integration der Rüstungs- und Computertechnik in die Ver-
gnügungsindustrie, die sich im vergangenen Jahrzehnt vollzog, war die enge geographi-
sche und personelle Verbindung zwischen den Hightech-Branchen. Nahezu alle betei-
ligten Firmen operieren wie McFadden, beheimatet im kalifornischen Santa Fe Springs,
aus dem Westen der USA. Star Trek: The Experience verdankt seine Existenz nahezu
komplett diesem einzigartigen regionalen Talentpool.

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Die Bauleitung hatte die Landmark Entertainment Group, das wichtigste und innovativ-
ste Multimedia-Studio für die Konstruktion von Themenpark-artiger Unterhaltung. 1980
in North Hollywood von den Ex-Disney-Mausketieren Gary Goddard und Tony Christopher
mit bescheidenen 5000 Dollar Kapital gegründet, gehört die Hälfte der Firma seit 1996
Michael Jackson und dem saudischen Hightech-Investor-Prinz Alwaleed Bin Talal Bin Ab-
dulaziz Al Saud. Die beiden ließen sich ihren Einstieg 50 Millionen Dollar kosten. Zu den
Projekten, die Landmark weltweit realisiert hat, zählten vor Star Trek: The Experience
das Sanrio Puroland bei Tokio (1991, 630 Millionen Dollar teuer) und Jurassic Park - The
Ride in den Universal Studios Hollywood (1996, 110 Millionen). Seitdem folgten James
Bond 007: License To Thrill, ein virtueller Ritt, der 1998 in allen fünf Paramount Parks
zugleich öffnete, und der Terminator 2/3D in den Universal Studios Florida.

Den Auftrag, die Kulissen und ihre komplizierten Verschiebemechanismen zu bauen,


vergab Landmark an die Las-Vegas-Filiale von Scenic Technologies. Die gigantischen,
eine Million Dollar teuren Raumschiffmodelle, die über dem Eingang der Attraktion
dräuen, stammen von Penwal Industries Inc. aus Rancho Cucamonga. Edwards Tech-
nologies, 1984 in Malibu von dem Informatiker und Physiker Brian Edwards gegründet,
sorgte auf der Deep-Space-9-Promenade für interaktive Sound- und Video-Effekte. Die
restliche Audio-Programmierung leistete die Nevada-Niederlassung von Signal Perfec-

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tion Ltd. Lediglich die Gesamtablaufkontrolle programmierte mit Triad aus Illinois eine
Firma, die außerhalb des Westens residiert.

computergesteuerte Kombination der


visuellen Szenerie – des „Ritt-Films“ – mit der physischen
Bewegungssimulation
So wichtig das Zusammenspiel aller Theater- und Show-Elemente ist, die zu dem simu-
lierten Shuttle-Flug führen – er natürlich ist der Höhepunkt, der über Erfolg oder Nicht-
Erfolg des illusionären Unternehmens entscheidet. Sein Realismus wiederum beruht
hauptsächlich auf der exakten Kombination der visuellen Szenerie – des „Ritt-Films“
– mit der physischen Bewegungssimulation. Die Programmierung der Befehle, die vom
Triad an die McFadden-Hydraulik ausgegeben werden, erfolgte in Graphic Motor Lan-
guage (GML) durch die L.A.-Firma Catalyst Entertainment, deren Gründer einst mit an
der Back to Future-Attraktion in den Universal Studios arbeitete. Den Ride-Film selbst
drehte das Rhythm & Hues Studio aus Culver City, 1996 mit einem Special-Effects-Oscar
für die sprechenden „Babe“-Schweine ausgezeichnet. Beide Firmen arbeiteten Seite an
Seite in den Hollywooder Paramount Studios.

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Die Herstellung des Vier-Minuten-Streifens dauerte anderthalb Jahre, das Budget lag
um die fünf Millionen Dollar. Produzent war Rick Berman, der seit 1987 alle wesentli-
chen Star-Trek-Produktionen leitet und der auch in diesem Fall jede ästhetische Abwei-
chung vom etablierten Trekker-Kosmos verhindern sollte. Regie führte Mario Kamberg.
Er ließ die Raumschiffmodelle, mit denen die TV-Produktionen arbeiten, digitalisieren
und „drehte“ den Film zu zwei Dritteln komplett im Computer. Der Rest bestand aus
Montagen traditionell produzierter und digital verbesserter Bilder mit Animationen. Die
Hubschrauberaufnahmen von der finalen Crash-Landung des Shuttles wurden etwa im
Computer stabilisiert und um fast 300 Prozent beschleunigt.

Am Ende erzielte Mario Kamberg einen Realismus, der sich mit dem Goldstandard des
jungen Hybrid-Genres virtueller Ritte messen konnte, der 1993 eröffneten Installation
In Search of the Obelisk.

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6
Kapitel

Von der Flugsimulation zur Mitspielfiktion


Die Fantasy-Trilogie Secrets of the Luxor Pyramid lässt sich am anderen Ende des Strips
erleben. An der gekippten Fassade des Luxor Hotels, einer pechschwarzen Pyramide,
hangeln sich anstelle von Fahrstühlen um 39 Grad geneigte Inklinatoren hoch, von der
Spitze erstrahlt der Welt größter Laserbeam, und im Innern des Hotels findet sich eine
15 Stockwerke hohe Luxor-Imitation samt archäologisch korrekter Kopie der Grabkam-
mer Tutanchamuns. Die Hauptattraktion des Erlebnis-Hotels aber ist die 50 Millionen
Dollar teure Fantasy-Trilogie. Über deren ersten Teil In Search of the Obelisk schrieb
nach der Premiere 1993 ein Reporter des Tech-Magazins Omni, er bedeute nichts weni-
ger als eine „Revolution“, „the future of fun“, die Zukunft des Vergnügens.

Herbeigezaubert hat die virtuelle Attraktion Douglas Trumbull, ein Pionier der Special-
Effects-Branche. Zu seinen Hollywood-Meriten gehören die Tricks in SF-Klassikern
wie 2001 – A Space Odyssee, Third Encounter of the Close Kind und Bladerunner.
Doch Trumbull strebte immer schon über den gewöhnlichen Film hinaus. Bereits 1974
konstruierte er den ersten simulierten Ritt in einer Raumkapsel, 1981 baute er erste
eigenständige Simulationstheater, 1989 kreierte er für Steven Spielberg die damals sen-
sationell wirkende Back to the Future-Attraktion im Imax-Format. Für seinen Luxor-Ritt

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verwendete er ein selbst entwickeltes Bewegungsgefährt und ein halbes Hundert Work-
stations, darunter 40 Silicon Graphics. Das Ergebnis war zum ersten Mal so realistisch,
dass Sensiblen schwindelig werden kann, als schaukelten sie tatsächlich Hunderte von
Metern auf und ab - obwohl das ruckelige Gefährt sich nie mehr als ein paar Zentimeter
bewegt.

ein Film wie ein Live-Ereignis


„Die Simulatoren sind revolutionär, sie erzeugen einen simulierten Ritt, der alle Qua-
litäten eines Spielfilms hat“, sagt Trumbull. „Es war ein Experiment, wie man durch
sorgfältige Kontrolle von Filmaufnahmen und Projektionsverfahren endlich die Grenze
zur vollständigen Glaubwürdigkeit überschreiten kann, so dass ein Film wie ein Live-
Ereignis erscheint“ - inklusive rudimentärer Interaktion des Publikums mit den handeln-
den Figuren.

Der beachtliche Erfolg des virtual rides im Luxor begründete den aktuellen Unterhal-
tungs-Trend: fort von der aufwendigen und Platz fressenden naturalistischen Erzeugung
von Thrills, wie sie in den großen, oft an filmischen Blockbustern orientierten Roller-
Coaster-Ritten der Themenparks üblich ist, und hin zur digitalen Simulation. Sie spart
Platz, ist daher universeller einsetzbar, und sie gewährt ein Mehr an kreativer Freiheit,

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da nicht die widerständige Realität selbst kopierend erzeugt werden muss, sondern
lediglich ihre Erfahrung.

Wer solche Ritte erlebt hat, dem fallen die Parallelen zum utopischen Holodeck auf,
dem Vergnügungszentrum der Star-Trek-Zukunft. Der massenkulturelle Kunstmythos
hat sich, seit Gene Roddenberry ihn vor 33 Jahren erfand, über vier TV-Serien mit
600 Sendestunden, dazu acht Spielfilmen und rund 500 Romanen weltweit verbreitet.
Statistisch werden allein in den USA jede Minute 13 Star-Trek-Bücher verkauft. Zu den
erklärten Fans zählen einflussreiche Wissenschaftler und Intellektuelle, etwa Stephen
Hawking und Camille Paglia. Und selbst im renommierten Smithsonian-Institut lockte
die fiktive Enterprise mehr Publikum an als jene unglamourösen NASA-Vehikel, die
tatsächlich einmal durchs All sausten. Der Gedanke, das Star-Trek-Franchise um einen
virtuellen Ritt zu erweitern, lag also nahe.

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7
Kapitel

Bruchlandung in Vegas. Der Reise dritter Teil


Von Anfang an steht die Zeitrückreise aus dem 24. Jahrhundert ins gute alte 20. unter
keinem guten Stern. Mit einer Beschleunigung, die in die Sessel drückt, startet das
Shuttle aus der Landebucht – und rast direkt in das Sperrfeuer von General Koraths Bird
of Prey. Aus kühlschrankgroßen Boxen tobt ein wahrhaft außerirdisches Soundsystem,
und für die entsprechende visuelle Illusionierung sorgt eine 18 Meter breite Leinwand,
die den Fensterblick ins All simuliert. Anders als in den Standard-Ritten, wie sie sich in
den meisten Themenparks finden, ist das Bild nicht plan. Die Leinwand wölbt sich sphä-
risch über dem Shuttle zu einem Dom und produziert eine 160 Grad umfassende Sicht
aus Front-, Seiten- und Oberfenstern. Der eigene Absturz lässt sich so bestens beobach-
ten.

Ein Treffer nach dem anderen schleudert die Reisenden in alle sechs Bewegungsrich-
tungen, die das vollbesetzte, sechs Tonnen schwere McFadden-Simulator-Ungetüm be-
herrscht. Das Shuttle steigt auf und stürzt ab, es kippt nach vorne und neigt sich nach
hinten, es rollt, schlingert, wiegt und wankt, bremst und beschleunigt, und tut das,
was Nautiker gieren nennen.

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Nach drei Minuten virtueller Achterbahn ist dann das raumzeitliche Wurmloch erreicht.
Aus ihm stürzt man kreischend hinunter auf das Las Vegas, in dem alles begann. Funken
sprühend knallt das Shuttle auf, rast schleudernd über den Asphalt und kommt kra-
chend in der Lobby des Hilton zum Stehen.

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8
Kapitel

Unterhaltungstechnische Pionier-Branche
„Knochentrocken, ziemlich perfekt programmiert“, sagt Jeff Borba. Er steht, stämmig
gebaut und in Blue Jeans, die leicht angebügelt erscheinen, eine Etage tiefer in fahlem
Licht neben einem runden rostroten Tank, der von Ferne an das Shuttle erinnert; das
richtige, das Space Shuttle der NASA. Zwischen Gummischläuchen und isolierten Kabeln
ragen hydraulische Schäfte verschiedener Dicke, vom Kinderarm bis zur Catcherhüfte,
ölig glitzernd gen Decke; dorthin, wo gerade 27 Personen durch Raum und Zeit gejagt
werden. Die Bewegungen, zu denen die elektronische Steuerung die Hydraulik treibt,
sind sehr fließend und realistisch - aber auch recht zahm, gerade im Vergleich zu Trum-
bulls Luxor-Abenteuer oder zum neuen 3-D-Race for Atlantis im nahen Caesar’s Palace.

Der Einwand lässt den jungen Techniker überlegen lächeln. „Wir haben’s ein wenig soft
eingestellt, maximal 0,9 G.“

Warum? Shuttle-Astronauten erleben 3 G, mancher Themenpark-Ritt produziert bis zu


4 G, die Piloten von überschallschnellen Kampffliegern erdulden erst bei 8 G, wenn die
Schwerkraft das Blut aus den Köpfen presst, ihren Blackout ...

Jeffs Lächeln wird breiter. „Die meisten Star-Trek-Fans sind schon zwischen 40 und 50,
die mögen‘s nicht mehr so hart.“

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Wie viel G die Installation im Bestfall hergibt?

„Wir hatten‘s beim Probebetrieb mal auf 1,3“, sagt Jeff. „Ich schätze, 1,7 G wären
drin, ohne dass alles auseinander fliegt.“

Ein wenig scheint es, als würde es ihn reizen, das Gerät an seine Grenzen zu treiben.
Gleichzeitig erweckt Jeff Borba den handfesten Eindruck, er könne es dann schon wie-
der reparieren. So sehr diese Haltung Star-Trek-Fans an einen gewissen Chief Engineer
erinnern mag, dieser Manager of Engineering ist kein Trekker. Aber er ist Selfmade-
Ingenieur, und das muss jedem, der an die deutsche Kastengesellschaft mit ihren klaren
Initiationsriten und umständlichen Ausbildungswegen gewöhnt ist, fast ebenso phanta-
stisch erscheinen.

Fragt man nach Abschlüssen, so ist der Herr über die millionenteure High-Technik ge-
wöhnlicher Schweißer. Was er darüber hinaus weiß, hat er gelernt, indem er anderen
zugeschaut hat. Zum Hydraulik-Experten wurde er erst bei der Air Force, dann als
Jahrmarkt-Manager im benachbarten Circus, Circus-Hotel. Und wie man Computer am
Laufen hält, repariert und auch umprogrammiert, darin hat er sich schlicht fünf Monate
lang von den Experten einweisen lassen, die die Star-Trek-Attraktion aufbauten – und
die selbst mehrheitlich ihr Wissen und Können im learning by doing erworben hatten.

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Wie in der ersten Hälfte des Jahrhunderts die Filmindustrie und um die Jahrhundert-
mitte die US-Raumfahrtindustrie, wie heute noch ein Großteil der Computer- und
Internetbranche ist auch das funkelnagelneue und explodierende Geschäft mit der
Hightech-Unterhaltung ein Pioniergewerbe. In ihm zählen formale Ausbildung wenig,
dafür Talent, praktisches Wissen und Phantasie umso mehr. Vielleicht am meisten hat
die Roller-Coaster- und Virtual-Ride-Szene mit Hollywoods Anfängen gemeinsam, denn
in ihren jungen Firmen paaren sich technischer und künstlerischer Erfindungsreichtum.

Die Roller-Coaster- und Virtual-Ride-Szene erinnert


an Hollywoods Anfänge.
Etablierte Produktionsverfahren gibt es ebenso wenig wie eine kanonische Ästhetik.
Fast jeder Ritt gleicht noch dem über den Bodensee. Die Besten der Branche erfinden
sie täglich neu. Auf der technischen Seite mixen die Ad-hoc-Lösungen Know-how sowie
Hard- und Software aus einem halben Dutzend Bereichen: von der Luft- und Raumfahrt
über industrielle Steuerungstechnik und Umweltkontrolle bis zu Beleuchtungstechnik,
Kulissenbau und Bühnenmanagement, wie es im Showgewerbe, Theater und Film üblich
ist.

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Nichts anderes kann freilich über die künstlerische Seite der meisten Produktionen
gesagt werden. Ästhetisch stellen sie eine bunte Mixtur aus Bewährtem da, leidlich
originell zusammengeschraubt. Der Vorteil, dass keine jahrhundertealte Tradition das
neue Genre belastet, dass es keine verbindlichen Handbücher gibt, die erklären, wel-
che subtilen Strukturen ein ordentlicher Ritt aufzuweisen hätte, hat bislang keineswegs
zu avantgardistischen oder auch nur künstlerisch überraschenden und spannenden
Experimenten geführt. Von den Bau- und Sicherheitsvorschriften werden die Unterhal-
tungspioniere, wie sie nicht müde werden zu erklären, zu unzähligen konservativen
Kompromissen gezwungen – und das natürlich zu Recht. Genauso aber vermeiden sie
notwendige Risiken in der künstlerischen Gestaltung.

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9
Kapitel

Hetzjagd zum Holodeck


Drei Standardelemente bestimmen in nahezu alle Ritten deren Handlung. Sie scheinen
denselben Handbüchern über mythologische Strukturen entnommen, aus denen sich
auch George Lucas zu bedienen pflegt. Da ist zum einen die Störung der alten Ordnung,
unter modern-technischen Gesichtspunkten: der Störfall. Etwa Jurassic Park – The Ride
oder Back to the Future inszeniert ihn. Da ist zum zweiten das Hilfeersuchen, das den
oder die Helden in die Handlung zieht. The Race for Atlantis gibt dafür ein Musterbei-
spiel, indem es die Zuschauer in zwei Gruppen aufteilt, die anstelle der Götter das
Rennen entscheiden sollen. Und da ist zum dritten, wie etwa im Luxor-Ritt, der un-
vermutete und unverschuldete Angriff, der Kampf, dem der oder die Helden sich nicht
entziehen können, obwohl sie mit seinen Ursachen und Hintergründen nichts zu tun
haben.

Star Trek: The Experience geht nun so weit auf Nummer sicher, dass gleich alle drei
Elemente zusammengeklaubt werden: der scheinbare Störfall im Fahrstuhl, der sich als
unvermuteter Klingon-Angriff entpuppt, dessen man sich erwehren muss, und das nicht
nur im eigenen Interesse, sondern um auf Bitten Commander Rikers das (Über-)Leben
des bewunderten Captain Picard zu ermöglichen.

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Was diesem allgemeinen Ritt-Schema, das sich allmählich als narrative Basisstruktur
des Genres herauszuschälen beginnt, an Speziellem aus dem fiktionalen Fundus des
Star-Trek-Universums hinzugefügt wurde, ist nicht minder bewährt. Das Beamen fehlt
in kaum einer TV-Folge, und die Zeitreise ist seit H.G. Wells eins der bekanntesten und
beliebtesten Erzählelemente der Science Fiction. Allein Star Trek – The Next Gene-
ration, das unmittelbare TV-Vorbild für diesen Ritt, benutzt den paradoxen Sprung in
Zukunft oder Vergangenheit in gut zwei Dutzend Folgen als Erzählvehikel.

Im Kontrast zur avancierten Technik steht die


Konventionalität der interaktiven Inszenierung.
Gerade im Kontrast zu den avancierten technischen Mitteln, die bei dem multimedialen
Ritt zum Einsatz kommen, fällt daher die Konventionalität der interaktiven Handlung
umso deutlicher auf, ihre peinlich-pedantische Konstruiertheit aus abgehangenen
Versatzstücken. Angesichts der horrenden Kosten der Installationen darf hinter der
radikalen künstlerischen Selbstbeschränkung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner
das Gegenstück zu den einengenden Bau- und Sicherheitsvorschriften vermutet werden:
die inhaltlichen Vorgaben und ökonomischen Interessen derjenigen, die das Vergnügen

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schließlich nicht als kunstsinnige Mäzenaten finanzieren; also nicht zu ihrem Vergnügen,
sondern zu ihrem möglichst großen Gewinn.

Kirmesunterhaltung produziert Thrills, keine Erfahrungen


Verübeln kann man den Unterhaltungsunternehmen den Scheuklappenblick aufs Aller-
populärste nicht. Sie stehen damit in der besten Tradition des Jahrmarktsgewerbes, das
seit Anbruch der industriellen Epoche avancierte Techniken stets vor den etablierten
Künsten einsetzte – aber eben nicht zu ästhetisch-avantgardistischen, sondern zu rein
spektakulären Zwecken. Kirmesunterhaltung produziert Thrills, keine Erfahrungen
oder Einsichten. Komplizierte, den Genuss fördernde narrative Vor- und Nachspiele
interessieren nicht, alles zielt auf den möglichst umstandslosen Höhepunkt. Wie vielen
virtuellen Rides merkt man auch Star Trek: The Experience noch diese Herkunft aus der
Schaustellerei an.

Doch in der erstmaligen Integration theatralischer Elemente, durch die achtzehnminü-


tige Erzählstrecke, die das Publikum im Wortsinne durchlaufen muss, bevor es den vier-
minütigen Ritt-Höhepunkt erleben kann - zudem begleitet von realen Schauspielern,
die mit dem Publikum interagieren -, strebt dieser Ritt über den simplen Thrill hinaus.

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Sein vages Fernziel sind eindeutig kompliziertere ästhetische Sensationen, wie sie nur
entwickeltere Erzählformen erzeugen.

„Die Erfahrung, die die meisten Menschen über die Jahre hinweg mit Star Trek hatten,
konzentrierte sich darauf, Fernsehen zu gucken oder ins Kino zu gehen“, sagt Produzent
Rick Berman. „Dies hier nun sprengt das Proszenium hinweg. Hier ist ein Platz, an den
die Leute gehen und wirklich Star Trek erleben können.“

eine allererste Ahnung zukünftigen Eintauchens in


künstliche Welten
Vom Holodeck, wie es Trekker ersehnen, ist derlei natürlich noch Lichtjahre entfernt.
Doch Installationen wie diese deuten an, dass die Hetzjagd der Unterhaltungsmacher
nach traumhaft-interaktiven Fiktionen begonnen hat. Das rudimentäre Geschichtener-
zählen und die Publikumspartizipation in Star Trek: The Experience produzieren eine
Ahnung zukünftiger Immersion, des Eintauchens in künstliche Welten, in Gegenreali-
täten, die das jahrhundertealte Karnevals-Bedürfnis nach Ausstieg aus dem Alltag mit
modernsten Mitteln befriedigen.

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In Hamlet on the Holodeck, einer Studie zur Zukunft digitaler Fiktionen, hat die MIT-
Informatikerin und Literaturwissenschaftlerin Janet H. Murray die Weitsicht von Gene
Roddenberrys Pop-Phantasie beschrieben. „Das Format, das die Besonderheiten digita-
ler Umwelten am besten ausnutzt, ist nicht die Hypertext-Erzählung oder das Kampf-
spiel, sondern die Simulation: die virtuelle Welt aus beziehungsvollen Entitäten, eine
Welt, die wir betreten, manipulieren und in ihrem Fortschritt beobachten können.“

Neben den virtuellen Ritten der Unterhaltungsindustrie scheinen mehrere andere


Entwicklungen diesem ästhetischen Fernziel zuzustreben. Etwa die interaktiven Instal-
lationen der Hightech-Kunst und CyberArt, die die Grenze zwischen Real- und Daten-
raum verwischen. Oder Virtual-Reality-Forschungen im militärischen und industriellen
Bereich wie das inzwischen weltweit verbreitete Cave Automatic Virtual Environment
(CAVE), dessen Prototyp 1992 an der Universität von Illinois in Zusammenarbeit zwi-
schen Informatikern und Künstlern entwickelt wurde und das in einem geschlossenen
Glaswürfel mit fünfflächigen 3-D-Bildprojektionen begehbare Welten herstellt.

„Ich habe wenig Zweifel“, meint Lawrence Krauss am Ende seiner Überlegungen zu Ho-
logramm-Fiktionen und zur (Un-) Möglichkeit von Holodecks, „dass die versuchsweisen
Vorstöße unseres Jahrhunderts in die virtuelle Realität uns in die Richtung von etwas
führen, das dem Holodeck sehr ähnelt, zumindest im Geiste.“

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Dieses Werk ist unter Impressum
einem Creative Commons
Namensnennung-Keine DRUCKGESCHICHTE
kommerzielle Nutzung- Erstdruck in: C’T - MAGAZIN FÜR COMPUTERTECHNIK, 30. August 1999,
Keine Bearbeitung 2.0 S. 72-77.
Deutschland Lizenzvertrag Auszugsweiser Nachdruck als: Themenpark im Wohnzimmer. In: GDIMPULS
lizenziert. Um die Lizenz 3/99, S. 59-61.
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ÜBER DEN AUTOR
California 94105, USA. Gundolf S. Freyermuth ist Professor für Angewandte Medienwissenschaften an der ifs - Internationale Filmschule
Köln (www.filmschule.de).

Weitere Angaben finden sich auf www.freyermuth.com.

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