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freyermuth.com
Inhalt
1 Im Hightech-Untergrund ................................................3
2 Fahrstuhl in die Zukunft. Der Reise erster Teil .....................8
3 Die Illusion des Beamens .............................................. 11
4 Fernsehen zum Betreten. Der Reise zweiter Teil ................ 13
5 Im militärisch-kulturindustriellen Komplex ....................... 16
6 Von der Flugsimulation zur Mitspielfiktion ........................ 22
7 Bruchlandung in Vegas. Der Reise dritter Teil .................... 25
8 Unterhaltungstechnische Pionier-Branche ........................ 27
9 Hetzjagd zum Holodeck ............................................... 31
Impressum .................................................................. 36
1
Kapitel
Im Hightech-Untergrund
Das 24. Jahrhundert hat 70 Millionen Dollar gekostet und wird von
zwei Dutzend Rechnern ferngesteuert. Sie wiederum arbeiten dem
Zwillings-Zentralgehirn zu, das sich in einer Abstellkammer im
Parterre verbirgt, einem Triad-HP-OS-9000-Show-Control-System,
auf das Jeff Borba jetzt zeigt: „Jeder Input, jeder Output, jede
Kleinigkeit läuft über den Triad. An seinem Timing hängt alles.“
Jeff ist 29 Jahre alt und trägt den Arbeitstitel Department Manager of Engineering. Da-
mit ist er Herr über dreizehn technische Angestellte, die seit Januar 1998 im Las Vegas
Hilton Star Trek: The Experience am Dauerlaufen halten.
„In all den Monaten hatten wir keine zehn Minuten downtime“, sagt Jeff Borba, „und
selbst die gingen zum größten Teil nicht auf tatsächliche Defekte zurück.“ Er grinst
jungenhaft. „Am meisten beschäftigen mich die Bedienungsfehler. Was haben wir nicht
schon getan, um das System noch narrensicherer zu machen …“
Die Narren, das sind die futuristisch uniformierten Akteure, die ein Stockwerk höher
von morgens elf bis abends elf auf modernsten Illusionsbühnen Sternenflotte spielen
– wobei sich Theater-, Film- und Flugsimulatorerlebnisse mischen und das Publikum
mitten in die Handlung gerät. Die interaktiven Kleingruppen-Shows für jeweils 27 Per-
sonen dauern 22 Minuten. Bis auf die raumgreifende Rekonstruktion der legendären
Enterprise D aus Star Trek – The Next Generation, ihrer Brücke und ihres großen Korri-
dors, existieren alle Einrichtungen doppelt. Deshalb können die Shows mit 30 Sekunden
Abstand starten. Zu Stoßzeiten werden so gut 2000 zahlende Zeitreisende pro Stunde in
die Zukunft geschleust, für 15.95 Dollar pro Kopf.
700 000 Besucher strömten allein im ersten halben Jahr nach der Eröffnung herbei,
Wartezeiten bis zu zwei Stunden waren keine Seltenheit. Inzwischen hat das Gedrängel
nachgelassen, doch auch wer sich an diesem Montagmorgen im Sommer 1999 um Punkt
elf in die Schlange der Wartenden einreiht, muss sich noch 45 Minuten die Beine in den
Bauch stehen.
Was er oder sie am Ende erlebt, ist Resultat einer avancierten Hightech-Installation,
aufwendiger und komplizierter als jedes Broadwayspektakel und auch als die meisten
Hollywoodproduktionen. Mit 50 Millionen Dollar hatten die Verantwortlichen von Pa-
ramount Parks Inc., einer Subfirma des Unterhaltungsmultis Viacom, das Projekt 1996
veranschlagt. In wenigen Monaten sollte es realisiert werden. Als nach zweieinhalb Jah-
ren und immer neuen logistischen Problemen endlich der Betrieb aufgenommen werden
konnte, war das Budget um fast 50 Prozent überschritten. Dafür allerdings hatte ma die
beste Technik eingekauft, die zu haben war.
CAD-geplante, labyrinthisch
angelegte, thematisch inszenierte und komplett von
Computern gesteuerte Umwelten
Um das künstliche Environment komplett steuerbar zu machen, wurden 16 Kilometer
Audiokabel verlegt und 300 Lautsprecher in den Kulissen verborgen. 13 automatische
Türen mit eigenen Steuerplatinen öffnen und schließen sich während der Show auf
Zehntelsekunden genau. Für die illusionistischen Lichteffekte sorgt ein halbes Tausend
einzelner Schaltungen. Sie regeln das Glühen der 15 000 Sterne über dem Eingangshim-
mel ebenso wie das planmäßige Leuchten und Flackern der allgegenwärtigen Neonröh-
ren, von denen ein guter Kilometer installiert ist. Die Bilder auf den 28 Videomonitoren
sowie die allgegenwärtigen akustischen Effekte stammen aus 32 Pioneer Laserdisc-
Spielern, die für den industriellen Einsatz geeignet sind.
Zur minutiösen Kontrolle des Spektakels wird neben handelsüblichen Rechnern reichlich
spezielle Hardware eingesetzt, Basic Animation Real Time Controllers (BARTs), Laser
Dics Controllers (LDCs), Programmable Logic Controllers (PLCs) der Allen-Bradley-Abtei-
lung von Rockwell International sowie MediaMatrix MM-740 und MM-940 Computer. Auch
die Software ist ein bunter Mix aus proprietärem Kode wie dem Stage Command System
von Scenic Technologies, das die mechanischen Effekte kontrolliert, und einer Vielzahl
kommerzieller Programme. Nur eine Komponente fehlt auffällig: Windows nach 1995.
„Wir benutzen neben OS 9000 auch DOS und Windows 3.11“, sagt Jeff Borba. „Alles
Neuere ist zu instabil. Wir können es uns einfach nicht leisten, dass unser System drei-
mal am Tag abstürzt. Was sollen wir denn mit den Leuten da oben machen, während
wir hier unten endlos neustarten?“
2
Kapitel
Bei der Sperre und den Sternenflotten-Schönheiten angelangt, die den Besucherstrom
in Kleingruppen einteilen, diskutiert ein mittelalterliches Ehepaar aus Deutschland
die im Museum aufgelesene Trivial-Enthüllung, dass die Original-Weinkrüge, aus denen
man im Star-Trek-Universum Blutwein trinkt, zum ersten Mal in dem 1956er-Hollywood-
schinken Die zehn Gebote zum requisitären Einsatz kamen. Bis dann ein älterer Herr
in Museumswächter-Uniform die Gruppe zu dem Fahrstuhl führt, der sie angeblich zu
dem ganz normalen computersimulierten Shuttle-Flug bringen soll, den die Attraktion
verspricht.
Die Lifttür schließt sich, in der klaustrophobisch engen Kabine laufen auf mehreren
Videomonitoren weitere Schnipsel aus alten Star-Trek-Folgen. Die Langeweile ist fast
körperlich zu spüren.
Plötzlich aber ruckt der Lift hart. Auf den Monitoren flackern Störstreifen, und als sie
sich stabilisieren, erscheint für Sekunden überall dasselbe, von Hass verzerrte Gesicht
eines Klingon-Kriegers.
Der Tourführer blickt entsetzt in die Runde, bis nur noch Blackout ist. Der Fahrstuhl
stockt in einer Nacht, die schwärzer nicht sein könnte.
Rauschen hebt an, ein starker, kühler Windsog fährt über die Gesichter.
„Da kann man auch Angst haben“, kommt die mütterliche Antwort.
Aus dem Nichts erscheinen winzige, rötlich tanzende Lichtpunkte, wie sie nicht nur
jeder Trekker kennt.
3
Kapitel
„Die Schauspieler müssen dafür Sorge tragen, dass das Publikum innerhalb gewisser Pa-
rameter bleibt, damit bei dem sekundenschnellen Umbau der Szene niemand verletzt
wird“, sagt Jeff Borba in dem Raum unterhalb des vermeintlichen Fahrstuhls – bei dem
es sich realiter um eine dreiachsige hydraulische Bewegungsplattform handelt. „Bevor
alle Akteure auf ihren Plätzen sind und die verborgenen Fußtasten betätigen, geht gar
nichts ab.“
Dann aber umso schneller.
Der saugende Wind nämlich, der dem Publikum so hervorragend an den Haaren wie an
den Nervenenden zerrt, ist kein Effekt, den die Designer der Installation geplant hät-
ten. Er entsteht durch das automatische Verschieben der stählernen Kulissen und wurde
von den Verantwortlichen mit Verblüffung erst bemerkt, als sie diese computerisierte
Vorher galt ihre ganze Aufmerksamkeit der schwierigen Aufgabe, das aus TV und Kino
bekannte Beam-Geflimmer zu realisieren. In den Star-Trek-Filmen wird der Effekt durch
Scheinwerfer erzeugt, die außerhalb des Kamerabildes postiert sind. Das Ergebnis wird
obendrein digital nachbearbeitet. Beide Möglichkeiten fallen bei der Live-Inszenierung
aus. Trotzdem sollte die Erfahrung so echt wie nur irgendein anderer Effekt in der Show
wirken, da an der Glaubwürdigkeit dieser ersten Szene wesentlich hängt, mit wie viel
Bereitwilligkeit sich das Publikum auf den Rest der innovativen Star-Trek-Fiktion ein-
lässt.
Die Lösung, die schließlich gefunden wurde, bestand darin, den Boden des Fahrstuhls
aus stahlverstärktem Plexiglas herzustellen und mit speziellen Reflexionsfolien zu
bekleben. Unter den Füßen des Publikums ruhen computergesteuerte fluoreszierende
Lichtquellen. Geschickte Beleuchtung lässt das Glas anfangs so massiv erscheinen, wie
es jeder gewöhnliche Lift ist. Erst nach dem Blackout, in dem Augenblick, da die Stahl-
wände davon zu sausen beginnen, läuft das bunte Beam-Progamm an.
4
Kapitel
Warum Jean-Luc Picard weit und breit nicht zu sehen ist, die Antwort auf diese im
Raum hängende Frage und auch die Lösung aller anderen Rätsel bringen dann Comman-
der Will Riker und Lieutenant Commander Geordi LaForge höchstpersönlich. Die Star-
Trek-Stars schalten sich aus dem Maschinenraum des Schiffs auf den großen Schirm der
Brücke und erklären in hastigen Worten:
Der teuflische Klingon-General Korath, dessen Gesicht kurz vor dem Blackout auf den
Monitoren des Fahrstuhls erschien, hat einen Zeitriss produziert und die 27 Erdlinge aus
dem 20. ins 24. Jahrhundert entführt. Der Grund: unter den Gekidnappten befindet sich
ein – unbekannter - Vorfahre von Captain Picard. Der oder die Entführte vermag nun die
historisch notwendige Nachwuchskette nicht mehr in Gang zu setzen. Weshalb der gute
Captain sich in Luft aufgelöst hat, sobald die Reisegruppe aus der Vergangenheit im
Transporterraum materialisierte.
Alle Gäste aus der fernen Vergangenheit - vom Publikum zu Mitspielern mutiert – wer-
den zu einem Turbolift getrieben, der sie zu der Shuttle-Bucht des Schiffes transpor-
tieren soll. Was er letztlich auch tut, allerdings, da gleichzeitig General Korath eine
Attacke auf die Enterprise fliegt, nach einem rumpeligen, mehr oder weniger freien,
von schrillen Publikumsschreien begleiteten Fall. An den Fenstern des Lifts sausen dazu
lichteffektvoll Sterne und Planeten vorbei.
Dem Tod im Lift haarscharf entkommen, führt der Weg weiter über den großen, neun
Meter hohen Korridor der Enterprise. Hinter seinen gewaltigen Lichtfenstern glitzert
das All. Fünfzig Meter weiter wartet das Shuttle.
Traut man den besorgten Gesichtern der freundlichen Star-Fleet-Helfer, die das An-
schnallen überwachen, Schwangere und Herzkranke vor der Weiterfahrt warnen und
sich dann auf Nimmerwiedersehen verabschieden, haben die Zeitreisenden wenig Chan-
cen, ihre Gegenwart lebend zu erreichen. Einige lässt denn auch der Gedanke an das,
was sie nun erwartet, recht blass werden.
Die Türen schließen sich zischend, jeden Augenblick muss der vierminütige Hightech-
Ritt durch Raum und Zeit beginnen.
5
Kapitel
Im militärisch-kulturindustriellen Komplex
Die bescheidenen Anfänge realistisch-virtueller Ausflüge, wie sie heute zum digitalen
Massenvergnügen werden, datieren in die analoge Vorzeit. Bereits 1929 wurden in den
USA erste Flugsimulatoren betrieben. Bei ihnen handelte es sich um Cockpit-Nachbau-
ten, die auf hydraulischen, dreiachsigen Plattformen montiert waren.Den Aktionen des
Piloten entsprechend rollten und kippten sie. Visuelles Feedback zu produzieren, diese
Möglichkeit existierte in den Zeiten des schwarzweißen Stummfilms allerdings nicht.
Die Trainingsmöglichkeiten beschränkten sich auf den Instrumentenblindflug.
Im Laufe des Zweiten Weltkriegs wurden mit einigem Aufwand zwar die motorischen
Elemente der Trainingsplattformen optimiert, dem Bildermangel konnte aber erst in
den fünfziger Jahren die Einführung kommerzieller Videokameras ein Ende bereiten.
Sie glitten an beweglichen Gelenken über maßstabsgetreue Modelle von Flughäfen und
Landschaften. Im Verein mit den Bewegungsplattformen reagierten die Kameras auf die
Steuerbefehle des Piloten exakt genug, um ihn übend über die Modelle hinweg fliegen
und auch in sie hinein landen zu lassen.
setzten Kameras die simulierte Perspektive. Der entscheidende Sprung in der Entwick-
lung von Flugsimulatoren allerdings gelang erst mit dem Einsatz von Computern, durch
so genannte „scene generators“. Den Prototypen baute David Evans 1968. Die Kombina-
tion von optimierter Hard- und innovativer Software errechnete aus digitalisierten Auf-
nahmen realer Szenen neue Bilder, die perspektivisch den Pilotenbefehlen entsprachen.
Bereits vier Jahre später stellte die US Navy ein computergesteuertes Trainingsgerät in
Betrieb.
Die Adaptation der neuen Technik an Unterhaltungszwecke ließ etwas länger auf sich
warten. 1986 präsentierte Disney den ersten, noch recht primitiv simulierenden vir-
tuellen Ritt. Mit dem Ende des Kalten Kriegs akzelerierte jedoch die Entwicklung.
Kürzungen im Militärhaushalt beraubten die Rüstungsindustrie eines wesentlichen Teils
ihrer traditionellen Einkünfte. Viele Firmen suchten nun nach ziviler Kundschaft und
drängten auf den Unterhaltungsmarkt.
Ein Musterbeispiel für die Entwicklung liefert der steile Aufstieg der Firma, von der
die Bewegungsplattformen in Star Trek: The Experience stammen. Seit 1963 hatte
McFadden Systems avancierte Bewegungssimulatoren für das US-Militär, die NASA sowie
die Luft- und Raumfahrtindustrie gebaut. Der erste Kontakt mit der Entertainment-
Branche kam 1992: Warner Bros. bestellte die elektronisch gesteuerte Hydraulik für den
„Mir bereitet es Freude“, sagt Larry Hayashigawa, Präsident von McFadden, „dass wir
eine Technologie mit militärischen Anwendungen in etwas verwandelt haben, das Kin-
dern das Gefühl gibt zu fliegen.“
Die Bauleitung hatte die Landmark Entertainment Group, das wichtigste und innovativ-
ste Multimedia-Studio für die Konstruktion von Themenpark-artiger Unterhaltung. 1980
in North Hollywood von den Ex-Disney-Mausketieren Gary Goddard und Tony Christopher
mit bescheidenen 5000 Dollar Kapital gegründet, gehört die Hälfte der Firma seit 1996
Michael Jackson und dem saudischen Hightech-Investor-Prinz Alwaleed Bin Talal Bin Ab-
dulaziz Al Saud. Die beiden ließen sich ihren Einstieg 50 Millionen Dollar kosten. Zu den
Projekten, die Landmark weltweit realisiert hat, zählten vor Star Trek: The Experience
das Sanrio Puroland bei Tokio (1991, 630 Millionen Dollar teuer) und Jurassic Park - The
Ride in den Universal Studios Hollywood (1996, 110 Millionen). Seitdem folgten James
Bond 007: License To Thrill, ein virtueller Ritt, der 1998 in allen fünf Paramount Parks
zugleich öffnete, und der Terminator 2/3D in den Universal Studios Florida.
tion Ltd. Lediglich die Gesamtablaufkontrolle programmierte mit Triad aus Illinois eine
Firma, die außerhalb des Westens residiert.
Die Herstellung des Vier-Minuten-Streifens dauerte anderthalb Jahre, das Budget lag
um die fünf Millionen Dollar. Produzent war Rick Berman, der seit 1987 alle wesentli-
chen Star-Trek-Produktionen leitet und der auch in diesem Fall jede ästhetische Abwei-
chung vom etablierten Trekker-Kosmos verhindern sollte. Regie führte Mario Kamberg.
Er ließ die Raumschiffmodelle, mit denen die TV-Produktionen arbeiten, digitalisieren
und „drehte“ den Film zu zwei Dritteln komplett im Computer. Der Rest bestand aus
Montagen traditionell produzierter und digital verbesserter Bilder mit Animationen. Die
Hubschrauberaufnahmen von der finalen Crash-Landung des Shuttles wurden etwa im
Computer stabilisiert und um fast 300 Prozent beschleunigt.
Am Ende erzielte Mario Kamberg einen Realismus, der sich mit dem Goldstandard des
jungen Hybrid-Genres virtueller Ritte messen konnte, der 1993 eröffneten Installation
In Search of the Obelisk.
6
Kapitel
Herbeigezaubert hat die virtuelle Attraktion Douglas Trumbull, ein Pionier der Special-
Effects-Branche. Zu seinen Hollywood-Meriten gehören die Tricks in SF-Klassikern
wie 2001 – A Space Odyssee, Third Encounter of the Close Kind und Bladerunner.
Doch Trumbull strebte immer schon über den gewöhnlichen Film hinaus. Bereits 1974
konstruierte er den ersten simulierten Ritt in einer Raumkapsel, 1981 baute er erste
eigenständige Simulationstheater, 1989 kreierte er für Steven Spielberg die damals sen-
sationell wirkende Back to the Future-Attraktion im Imax-Format. Für seinen Luxor-Ritt
verwendete er ein selbst entwickeltes Bewegungsgefährt und ein halbes Hundert Work-
stations, darunter 40 Silicon Graphics. Das Ergebnis war zum ersten Mal so realistisch,
dass Sensiblen schwindelig werden kann, als schaukelten sie tatsächlich Hunderte von
Metern auf und ab - obwohl das ruckelige Gefährt sich nie mehr als ein paar Zentimeter
bewegt.
Der beachtliche Erfolg des virtual rides im Luxor begründete den aktuellen Unterhal-
tungs-Trend: fort von der aufwendigen und Platz fressenden naturalistischen Erzeugung
von Thrills, wie sie in den großen, oft an filmischen Blockbustern orientierten Roller-
Coaster-Ritten der Themenparks üblich ist, und hin zur digitalen Simulation. Sie spart
Platz, ist daher universeller einsetzbar, und sie gewährt ein Mehr an kreativer Freiheit,
da nicht die widerständige Realität selbst kopierend erzeugt werden muss, sondern
lediglich ihre Erfahrung.
Wer solche Ritte erlebt hat, dem fallen die Parallelen zum utopischen Holodeck auf,
dem Vergnügungszentrum der Star-Trek-Zukunft. Der massenkulturelle Kunstmythos
hat sich, seit Gene Roddenberry ihn vor 33 Jahren erfand, über vier TV-Serien mit
600 Sendestunden, dazu acht Spielfilmen und rund 500 Romanen weltweit verbreitet.
Statistisch werden allein in den USA jede Minute 13 Star-Trek-Bücher verkauft. Zu den
erklärten Fans zählen einflussreiche Wissenschaftler und Intellektuelle, etwa Stephen
Hawking und Camille Paglia. Und selbst im renommierten Smithsonian-Institut lockte
die fiktive Enterprise mehr Publikum an als jene unglamourösen NASA-Vehikel, die
tatsächlich einmal durchs All sausten. Der Gedanke, das Star-Trek-Franchise um einen
virtuellen Ritt zu erweitern, lag also nahe.
7
Kapitel
Ein Treffer nach dem anderen schleudert die Reisenden in alle sechs Bewegungsrich-
tungen, die das vollbesetzte, sechs Tonnen schwere McFadden-Simulator-Ungetüm be-
herrscht. Das Shuttle steigt auf und stürzt ab, es kippt nach vorne und neigt sich nach
hinten, es rollt, schlingert, wiegt und wankt, bremst und beschleunigt, und tut das,
was Nautiker gieren nennen.
Nach drei Minuten virtueller Achterbahn ist dann das raumzeitliche Wurmloch erreicht.
Aus ihm stürzt man kreischend hinunter auf das Las Vegas, in dem alles begann. Funken
sprühend knallt das Shuttle auf, rast schleudernd über den Asphalt und kommt kra-
chend in der Lobby des Hilton zum Stehen.
8
Kapitel
Unterhaltungstechnische Pionier-Branche
„Knochentrocken, ziemlich perfekt programmiert“, sagt Jeff Borba. Er steht, stämmig
gebaut und in Blue Jeans, die leicht angebügelt erscheinen, eine Etage tiefer in fahlem
Licht neben einem runden rostroten Tank, der von Ferne an das Shuttle erinnert; das
richtige, das Space Shuttle der NASA. Zwischen Gummischläuchen und isolierten Kabeln
ragen hydraulische Schäfte verschiedener Dicke, vom Kinderarm bis zur Catcherhüfte,
ölig glitzernd gen Decke; dorthin, wo gerade 27 Personen durch Raum und Zeit gejagt
werden. Die Bewegungen, zu denen die elektronische Steuerung die Hydraulik treibt,
sind sehr fließend und realistisch - aber auch recht zahm, gerade im Vergleich zu Trum-
bulls Luxor-Abenteuer oder zum neuen 3-D-Race for Atlantis im nahen Caesar’s Palace.
Der Einwand lässt den jungen Techniker überlegen lächeln. „Wir haben’s ein wenig soft
eingestellt, maximal 0,9 G.“
Jeffs Lächeln wird breiter. „Die meisten Star-Trek-Fans sind schon zwischen 40 und 50,
die mögen‘s nicht mehr so hart.“
„Wir hatten‘s beim Probebetrieb mal auf 1,3“, sagt Jeff. „Ich schätze, 1,7 G wären
drin, ohne dass alles auseinander fliegt.“
Ein wenig scheint es, als würde es ihn reizen, das Gerät an seine Grenzen zu treiben.
Gleichzeitig erweckt Jeff Borba den handfesten Eindruck, er könne es dann schon wie-
der reparieren. So sehr diese Haltung Star-Trek-Fans an einen gewissen Chief Engineer
erinnern mag, dieser Manager of Engineering ist kein Trekker. Aber er ist Selfmade-
Ingenieur, und das muss jedem, der an die deutsche Kastengesellschaft mit ihren klaren
Initiationsriten und umständlichen Ausbildungswegen gewöhnt ist, fast ebenso phanta-
stisch erscheinen.
Fragt man nach Abschlüssen, so ist der Herr über die millionenteure High-Technik ge-
wöhnlicher Schweißer. Was er darüber hinaus weiß, hat er gelernt, indem er anderen
zugeschaut hat. Zum Hydraulik-Experten wurde er erst bei der Air Force, dann als
Jahrmarkt-Manager im benachbarten Circus, Circus-Hotel. Und wie man Computer am
Laufen hält, repariert und auch umprogrammiert, darin hat er sich schlicht fünf Monate
lang von den Experten einweisen lassen, die die Star-Trek-Attraktion aufbauten – und
die selbst mehrheitlich ihr Wissen und Können im learning by doing erworben hatten.
Wie in der ersten Hälfte des Jahrhunderts die Filmindustrie und um die Jahrhundert-
mitte die US-Raumfahrtindustrie, wie heute noch ein Großteil der Computer- und
Internetbranche ist auch das funkelnagelneue und explodierende Geschäft mit der
Hightech-Unterhaltung ein Pioniergewerbe. In ihm zählen formale Ausbildung wenig,
dafür Talent, praktisches Wissen und Phantasie umso mehr. Vielleicht am meisten hat
die Roller-Coaster- und Virtual-Ride-Szene mit Hollywoods Anfängen gemeinsam, denn
in ihren jungen Firmen paaren sich technischer und künstlerischer Erfindungsreichtum.
Nichts anderes kann freilich über die künstlerische Seite der meisten Produktionen
gesagt werden. Ästhetisch stellen sie eine bunte Mixtur aus Bewährtem da, leidlich
originell zusammengeschraubt. Der Vorteil, dass keine jahrhundertealte Tradition das
neue Genre belastet, dass es keine verbindlichen Handbücher gibt, die erklären, wel-
che subtilen Strukturen ein ordentlicher Ritt aufzuweisen hätte, hat bislang keineswegs
zu avantgardistischen oder auch nur künstlerisch überraschenden und spannenden
Experimenten geführt. Von den Bau- und Sicherheitsvorschriften werden die Unterhal-
tungspioniere, wie sie nicht müde werden zu erklären, zu unzähligen konservativen
Kompromissen gezwungen – und das natürlich zu Recht. Genauso aber vermeiden sie
notwendige Risiken in der künstlerischen Gestaltung.
9
Kapitel
Star Trek: The Experience geht nun so weit auf Nummer sicher, dass gleich alle drei
Elemente zusammengeklaubt werden: der scheinbare Störfall im Fahrstuhl, der sich als
unvermuteter Klingon-Angriff entpuppt, dessen man sich erwehren muss, und das nicht
nur im eigenen Interesse, sondern um auf Bitten Commander Rikers das (Über-)Leben
des bewunderten Captain Picard zu ermöglichen.
Was diesem allgemeinen Ritt-Schema, das sich allmählich als narrative Basisstruktur
des Genres herauszuschälen beginnt, an Speziellem aus dem fiktionalen Fundus des
Star-Trek-Universums hinzugefügt wurde, ist nicht minder bewährt. Das Beamen fehlt
in kaum einer TV-Folge, und die Zeitreise ist seit H.G. Wells eins der bekanntesten und
beliebtesten Erzählelemente der Science Fiction. Allein Star Trek – The Next Gene-
ration, das unmittelbare TV-Vorbild für diesen Ritt, benutzt den paradoxen Sprung in
Zukunft oder Vergangenheit in gut zwei Dutzend Folgen als Erzählvehikel.
schließlich nicht als kunstsinnige Mäzenaten finanzieren; also nicht zu ihrem Vergnügen,
sondern zu ihrem möglichst großen Gewinn.
Sein vages Fernziel sind eindeutig kompliziertere ästhetische Sensationen, wie sie nur
entwickeltere Erzählformen erzeugen.
„Die Erfahrung, die die meisten Menschen über die Jahre hinweg mit Star Trek hatten,
konzentrierte sich darauf, Fernsehen zu gucken oder ins Kino zu gehen“, sagt Produzent
Rick Berman. „Dies hier nun sprengt das Proszenium hinweg. Hier ist ein Platz, an den
die Leute gehen und wirklich Star Trek erleben können.“
In Hamlet on the Holodeck, einer Studie zur Zukunft digitaler Fiktionen, hat die MIT-
Informatikerin und Literaturwissenschaftlerin Janet H. Murray die Weitsicht von Gene
Roddenberrys Pop-Phantasie beschrieben. „Das Format, das die Besonderheiten digita-
ler Umwelten am besten ausnutzt, ist nicht die Hypertext-Erzählung oder das Kampf-
spiel, sondern die Simulation: die virtuelle Welt aus beziehungsvollen Entitäten, eine
Welt, die wir betreten, manipulieren und in ihrem Fortschritt beobachten können.“
„Ich habe wenig Zweifel“, meint Lawrence Krauss am Ende seiner Überlegungen zu Ho-
logramm-Fiktionen und zur (Un-) Möglichkeit von Holodecks, „dass die versuchsweisen
Vorstöße unseres Jahrhunderts in die virtuelle Realität uns in die Richtung von etwas
führen, das dem Holodeck sehr ähnelt, zumindest im Geiste.“
info
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Namensnennung-Keine DRUCKGESCHICHTE
kommerzielle Nutzung- Erstdruck in: C’T - MAGAZIN FÜR COMPUTERTECHNIK, 30. August 1999,
Keine Bearbeitung 2.0 S. 72-77.
Deutschland Lizenzvertrag Auszugsweiser Nachdruck als: Themenpark im Wohnzimmer. In: GDIMPULS
lizenziert. Um die Lizenz 3/99, S. 59-61.
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ÜBER DEN AUTOR
California 94105, USA. Gundolf S. Freyermuth ist Professor für Angewandte Medienwissenschaften an der ifs - Internationale Filmschule
Köln (www.filmschule.de).