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Einführung

in das Heilsmysterium

in 4 Teilen
auf 4 Semester aufgeteilt
ab WS 2004-05

P. Dr. Karl Josef Wallner OCist

Phil.-Theol. Hochschule Heiligenkreuz

Vorlesungsskriptum

ad usum tantum privatum audientium!


Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 -2-

1. Teil: WS 2004 / 2005 (1 Sws)

„Die anthropologischen Voraussetzungen für die Frage nach


Gott und die natürliche Gotteserkenntnis“

§ 1: Einleitung

1. Die Neuordnung der kirchlichen Studien durch das 2. Vatikanum

Der Kurs trägt den Titel „Einführung in das Heilsmysterium“ und geht direkt auf einen
Wunsch des 2. Vatikanischen Konzils (1962-1965) zurück. Im Dekret über die Priester-
ausbildung „Optatam Totius“ (=OT) ist in Artikel 13 zunächst von einer gründlichen
Vorbildung der Alumnen die Rede. U. a. sollen sie „soviel Latein lernen“, dass sie die
wissenschaftlichen Quellen und kirchlichen Dokumente verstehen und benutzen können.
In Artikel 14 geht es dann um eine grundsätzliche Neugestaltung der kirchlichen Studien.
Das Konzil will die neuscholastische Ordnung der Fächer zumindest im Rahmen des
Möglichen lockern.
Zwei Negativa sind es, die überwunden werden sollen:
1. Die strikte Trennung von Philosophie und Theologie: In der Neuscholastik wurden
Philosophie und Theologie strikt voneinander getrennt vorgetragen. Jedes Fach hatte ihre
genau definierten Traktate, sodass die Beziehung zwischen Denken und Glauben, Philo-
sophie und Theologie kaum mehr sichtbar war. Das spezifische Problem lag auch darin,
dass die Alumnen sich zunächst einige Semester nur durch Philosophie quälen mussten.
2. Die Vernachlässigung der „heilsgeschichtlichen“ Dimension: Die neuscholastische
Theologie verstand sich als eine absolute, ein für allemal gültige Form der Theologie, die
die geschichtliche Bedingtheit jeder theologischen Form nicht reflektierte; sie war „ge-
schichtslos“. Das Konzil aber wünscht eine so genannte „heilsgeschichtliche“ Betrach-
tung: Theologie hat zu bedenken, dass das Geheimnis Christi, „das die ganze Geschichte
der Menschheit durchzieht“ (OT 14,1), in jeder Zeit auf je neue Art und Weise bedacht
wird. Theologie ist ja nur die Form, in der das in sich unveränderliche Mysterium Christi
ausgedrückt wird. Die Form aber ist variabel und unterliegt den Bedürfnissen der Zeit.
Damit diese Ziele erreicht werden, soll ein spezieller Einführungskurs in das Theologie-
studium aufgenommen werden (OT 14,2):
„Damit diese [heilsgeschichtliche] Sicht den Seminaristen schon vom Anfang ihrer
Ausbildung an vertraut werde, sollen die kirchlichen Studien mit einem ausreichend
langen Einführungskurs beginnen. In dieser Einführung soll das Heilsmysterium so
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dargelegt werden, dass die Alumnen den Sinn, den Aufbau und das pastorale Ziel der
kirchlichen Studien klar sehen; dass ihnen zugleich geholfen werde, ihr ganzes per-
sönliches Leben auf den Glauben zu gründen und mit ihm zu durchdringen; dass sie
endlich in der persönlichen und frohen Hingabe an ihren Beruf gefestigt werden.“
(OT 14,2)
Der „Cursus introductorius“, in dem es um das „Mysterium salutis“ geht, hat also ein
dreifaches Ziel1:
1. Orientierung: Der Theologiestudent soll gleich am Beginn seiner Ausbildung die
rechte Orientierung für die zu studierenden Fächer im Gesamtplan seiner Studien gewin-
nen. Er soll sich also nicht in einer Vielfalt von Gegenständen oder in der Unwirtlichkeit
der philosophischen Begriffswelt verloren fühlen. Zugleich soll er von diesem Kurs her
die Bedeutung der theologischen Studien für seinen zukünftigen priesterlichen und seel-
sorglichen Dienst erfassen.
2. Intellektuelle Sammlung: Der Theologie soll in seinem eigenen Glaubensleben ge-
stärkt werden. In einer pluralistischen, wertefreien und doch zugleich antikirchlichen ge-
sellschaftlichen Atmosphäre bedarf der Alumne der Hilfe: Eine Theologie, die als ihr
Zentrum das „Geheimnis Christi“ hat, wird ihm mitten „in der Welt von heute“ (Thema
und Titel von GS) die Möglichkeit geben, die Fülle von Erfahrungen, die er schon in sein
Studium mitbringt, neu zu ordnen und selbst im Geheimnis Christi seine Lebensmitte zu
finden. Didaktische Hilfen bei der Vorlesung: Sätze, Fragen, Zwischenbemerkungen.
usw.
3. Spirituelle Vertiefung: Der Kurs soll schließlich den Sinn und die Größe der priester-
lichen Berufung zeigen und so eine vertiefte Freude an der Berufung wecken. Im Artikel
12 wurde es den Bischöfen anheim gestellt, ihre Alumnen in eine Art „Noviziat vor dem
Studium“ zu schicken, damit der intellektuellen Schulung eine spirituelle Vertiefung vo-
rausgehe.

2. Klärung des Begriffes „Mysterium“

Der Traktat heißt „Heilsmysterium“.


Das „Geheimnis“, um das es hier geht, ist das Geheimnis Gottes selbst, der will, dass „al-
le Menschen gerettet werden“ (1 Tim 2,4). „Gott wohnt in unzugänglichem Licht“ (1 Tim
6,16). Im AT gibt es nicht nur das Verbot, sich ein Bild von Gott zu machen. Es wird
vielmehr sogar gedroht, dass jeder, der Gott schaut, sterben muss. - Heute: Bewusstsein
für diese Sphäre des Mysteriums im Christentum verloren gegangen. Achtung auf die
Begriffe:

1 Vgl. J. NEUNER, Kommentar zu Optatam Totius, in LThK 13,339


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Mysterium = das sich lichtende Geheimnis


Aenigma = das Rätsel. - Ein Rätsel kann gelöst werden, dann hat es keine Heilsbedeu-
tung mehr. (Kreuzworträtsel wird weggeworfen). Gott kann manchmal „aenigma“ sein
(z. B. im Leid), aber er ist nie lösbar. Er ist immer Mysterium.
Nach Anselm von Canterbury liegt das Ziel der Theologie darin, zu begreifen, dass Gott
unbegreiflich ist: Comprehendere, Deum incomprehensibile esse!2
Der wahrhafte Theologe wird „am Schluss“ zum Spielenden, zum Kind, das verträumt
und lachend Löwenzahn durch die Lüfte bläst. Selbst ein Thomas von Aquin hat, wenige
Wochen vor seinem Tod, nach einer innerlichen Schau vor dem Allerheiligsten, seine
Gelehrtenfeder beiseite gelegt. Nie mehr wollte er ein Wort über Gott schreiben, weil
das, was er gesehen hatte, viel größer war, als der Verstand es je ausschöpfen könnte.
Dazu drei Zitate des heiligen Thomas von Aquin, des größten Theologen:
• „Hoc est ultimum cognitionis humanae de Deo: quod sciat se Deum nescire.“
(Thomas von Aquin, Pot 7,5 ad 14)
• Non enim de Deo capere possumus quid est, sed quid non est, et qualiter alia se
habeant ad ipsum.“ (C. G. I, 30)
• „Deus honoratur silentio, non quod de ipso nihil dicamus vel inquiramus, sed
quia intelligimus nos ab ejus comprehensione defecisse.“ (In Trin. 2,1 ad 6).
Bitte beachten: Mystik, Spiritualität - braucht immer das Schweigen über das Ge-
heimnis Gottes. Aber: Es ist nicht das Schweigen, weil man nichts sagen kann, weil
man nichts weiß (= Agnostizismus), sondern es ist das Schweigen angesichts dessen,
was man weiß.
b.) geht es um eine geistliche Haltung angesichts dieses Geheimnisses. In dem Gedicht ist
deshalb von einer ungewissen Reise die Rede. Und doch: „Freue, freue, freue dich!“
Die Freude ist die schönste Aufgabe des Theologen. - Alle suchen Gott, wir kennen ihn! -
Und Gott ist Faszinosum und Tremendum.
Der Religionsphilosoph Rudolf Otto nennt Gott „Mysterium fascinosum et tremendum“.
- Schauder der Erhabenheit. Z. B. in der christlichen Kunst immer eingefangen: Ka-
thedralkirchenbau.
Hans Urs von Balthasar fordert eine „kniende Theologie!“
Das Theologiestudium ist eine „ungewisse Reise“, auch für die Spiritualität. --- viele ver-
lieren dadurch ihren Glauben.

2 ANSELM, Monologion 64 (Schmitt I, 75, 11-12): „Consideratio rationabiliter comprehen-


dit incomprehensibile esse.”
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Ziel des Studiums: besteht nicht im begriffen haben und im Wissen. Wer meint, er sei der
Theologie, der Logik Gottes, Herr geworden, hätte nicht gesiegt, sondern diabolisch ver-
loren. Welcher Mensch könnte sich auch angesichts der Weisheit Gottes selbstherrlich
rühmen (Röm 3,27)?
Am Ende soll also die Klarheit stehen, die schaudern macht vor der Größe des Unbe-
greifbaren.

3. Praktische Vorbemerkungen zum Theologiestudium

1. Intellektuell glauben: Der Kurs „Einführung in das Heilsmysterium“ ist im Verlauf des
Studiums der erste Kurs, in dem die Hörer mit eigentlicher „Theologie“ konfrontiert wer-
den. Nach klassischer Definition kommt Theologie dadurch zu Stande, dass der Glaube
nach tieferem intellektuellen Erkennen und Verstehen strebt: „fides quaerens intellec-
tum“. Zum anderen ist sie aber „intellectus quaerens fidem“, also natürliches Denken, das
nach dem Göttlichen sucht. Ausdrücklich ist dies in der Enzyklika von Papst Johannes
Paul II. 1998 „Fides et Ratio“ dargelegt.
2. Die Dialektik von Sünde und Gnade in der theologischen Erkenntnis. Die Glaubenser-
kenntnis ist durch und durch ambivalent:
Zum einen ist sie eine Folge der Erbsünde, denn der paradiesische Mensch hätte keine
intellektuelle Theologie notwendig, seine Gotteserkenntnis wäre eine unmittelbare und
intuitive (vgl. die Reflexionen über Adam und Eva in Sir 17,3-9). Der prälapsare Mensch
lebt in einer naturhaften Einheit mit Gott, der „im Abendwind“ durch das Paradies spa-
zieren geht ( Gen 3,8). Erst die Verweigerung gegenüber Gott lässt den Menschen aus
dieser Lebensgemeinschaft mit Gott herausfallen, erst die Erbsünde macht es notwendig,
dass der Mensch nunmehr der „Anstrengung des Begriffs“ bedarf, wenn er über Gott
nachdenken will. Man kann sogar sagen, dass erst die Sünde aus der unmittelbaren Du-
Beziehung, die Adam zu Gott hatte, eine Es-Beziehung machte: Gott ist von einem per-
sonalen Gegenüber zu einem Objekt der Erkenntnis geworden, dem man sich sogar ver-
weigern kann, vor dem man sich verbergen kann. Theologie steht also immer auch unter
dem Gesetz der Sünde, die Kirchengeschichte mit ihren vielen Häresien und Verkürzun-
gen gibt ein beredtes Zeugnis, wie sehr die Sünde die Gotteserkenntnis begrenzt und ver-
dunkelt.
Dies ist die eine Seite, die andere aber ist ebenso gewichtig: Theologie ist ebensosehr ein
Geschenk der Gnade. Gerade die katholische Theologie hat dies gegenüber den Erkennt-
nispessimisten aller Zeiten immer wieder betont: Der Mensch ist wahrhaft befähigt, von
seiner intellektuellen Natur her und dann noch tiefer durch die göttliche Offenbarung, die
Geheimnisse Gottes zu durchdringen. Offenbarung bedeutet ja, dass Gott seine Wahrheit
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schenkt. Theologie ist nichts anderes als das demütige annehmen dieses göttlichen Ge-
schenkes, ist also Gnadenaktes Tun.
Fassen wir zusammen: Das Studium selbst steht in der Dialektik von Sünde und Gnade,
wie sie uns von Anfang an in der christlichen Offenbarung vorgegeben ist: • einerseits
will Gott die Sünde nicht; andrerseits ermöglicht er sie indirekt durch die Gabe der Frei-
heit; • einerseits ist die Sünde die Ursache für die Erlösung in Jesus Christus (o Felix
Club); andrerseits verhindert sie weiterhin die volle Annahme dieser Erlösung durch den
Menschen; • auf die Theologie umgelegt: einerseits ist Theologie eine Folge der Erbsün-
de: ohne Erbsünde hätten wir die unmittelbare Gottesschau: Vision beatifica! • Andrer-
seits ist die Theologie auch eine Folge der Gnade, denn ohne Sünde keine Christusoffen-
barung: dann wäre das Wort eben nicht Fleisch geworden und hätte sich uns nicht in
Menschengestalt geoffenbart.
3. Spiritualität: Dem Wunsch des 2. Vatikanums gemäß soll die „Einführung in das
Heilsmysterium“ insbesondere auch zu einer spirituellen Vertiefung des Glaubenslebens
führen. Hans Urs von Balthasar hat vor einer rein „sitzenden Theologie“ gewarnt und die
Aufwertung der „knienden Theologie“ gefordert3. Nach Balthasar müßten dogmatische
Aussagen sogar in irgendeiner Weise „betbar“ sein4. Theologie ist eben immer „fides
quaerens intellectum“, glaubenslose Theologie, die sich dem Gebet verweigert, ist ein
Widerspruch in sich selbst. Deshalb betonte die Weltbischofssynode über das Priestertum
1991 die Verschränkung von Theologie und Spiritualität5. Dies ist wohl auch der Grund,
warum sich in neuerer Zeit im europäischen Raum die „kleineren“ Ordenshochschulen
neuer Beliebtheit erfreuen.
4. Fachvokabular: Der Gebrauch von Fremdwörtern ist in der Theologie nicht nur Mode
und Ausdruck von Bildung, sondern er ist eine Notwendigkeit. Theo-logie bedient sich,
wie der Name schon sagt, vor allem des Wortes, des Logos und seiner Logik. Der Theo-
logiestudent muss in diese Sphäre des Sprechens und Begreifens, des Formulierens und
Argumentierens unbedingt eindringen. Jeder theologische Begriff muss gleichsam intel-
lektuell „geknackt“ und erobert werden. Gemeint sind hier nicht nur Fremdwörter, die oft
sogar sehr leicht zu verstehen sind, wenn man sie nur ins Deutsche übersetzt. Fremdwör-
ter müssen bloß gelernt werden, Begriffe aber müssen begriffen werden. Die schwierigen
Begriffe sind oft sehr harmlos klingende deutsche Worte wie z. B. „Versöhnung“ (nicht:

3 H. U. V. BALTHASAR, Verbum Caro, 224; vgl. dazu K. Rahner, Schriften zur Theologie
1,10, Anm. 1: „ein an sich problematisches Wort”!
4 H. U. V. BALTHASAR, Spiritus Creator, 328
5 Vgl. JOHANNES PAUL II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben „Pastores dabo vo-
bis” vom 25. März 1992: AAS 84 (1992) 657-804; vgl. bes. auch: Kongregation für den
Klerus, Direktorium für Dienst und Leben der Priester vom 31. März 1994, deutsch hrsg.
v. Sekretariat d. Österreichischen Bischofskonferenz, St. Pölten 1994.
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Vertöchterung) „Unbefleckte Empfängnis“, „Heilsgeschichte“, „erlösen“, „Geheimnis“,


„Sohn Gottes“ usw. Wenn etwa Rudolf Bultmann von „eschatologisch“ spricht, meint er
etwas anderes als beispielsweise Kardinal Joseph Ratzinger.
5. Die rechte Zuordnung von Glaubenswissen (fides quae) und Glaubenstun (fides qua):
Inhalt der „Einführung in das Heilsmysterium“ ist die „fides quae“, also das Glaubens-
wissen. In den letzten Jahrzehnten wurde eher die Bedeutung der „fides qua“, also der
Glaubensakt als solcher, die Glaubensintensität. Es hat sich aber gezeigt, dass das Glau-
ben dort, wo nicht mehr gewußt wird, was geglaubt wird, nicht funktioniert. Das Erschei-
nen des „Katechismus der Katholischen Kirche“ korrigiert diese Entwicklung und möch-
te die Gläubigen auf die inhaltliche Dimension des christlichen Glaubens aufmerksam
machen. Der KKK hat sich in seiner Darlegung der Glaubenslehre als Strukturprinzip das
Apostolische Glaubensbekenntnis gewählt6.
Zitat Kierkegaard: „Eines ist es, dass einer für uns litt; ein anderes ist es, dass einer
Professor wurde für einen, der litt.“

4. Die Glaubensbekenntnisse als „regula fidei“

Wenn wir über das Heilsmysterium Christi sprechen, dann brauchen wir gleichsam einen
„Leitfaden“, eine Richtschnur, um dieses Geheimnis Christi inhaltlich darzustellen. Hier
bieten sich natürlich die in der Glaubenspraxis der Kirche bewährten Glaubensbekennt-
nisse an, die sogenannten Symbola. Unsere „regula fidei“ wird das Apostolicum sein. Es
handelt sich bei den Symbola um keine Gebete, sondern um inhaltliche Bekenntnisfor-
meln. Wir fragen zuerst nach ihrer Entstehung und zählen dann die wichtigsten auf.

A. Die Entstehung der ersten Glaubensbekenntnissen


Das Apostolicum gehört zur theologischen Gattung der Glaubensbekenntisse. Im wesent-
lichen gibt es drei verschiedene Formen von Bekenntnissen.
1. Die ältesten konfessorischen Kurzformeln: Schon in den frühesten Anfängen der Kir-
che, versuchten die Jünger Jesu, ihre Glaubensüberzeugung in Formeln zu artikulieren.
Die ältesten formelhaften Bekenntnisse beziehen sich darauf, dass Jesus der Herr, der
Christus ist, den Gott von den Toten auferweckt hat.
Phil 2, 10f. (Jerusalemer Bibel): „auf dass im Namen Jesu sich jedes Knie beuge…
und jede Zunge zur Ehre Gottes des Vaters bekenne: Jesus Christus ist der Herr!“

6 Der „Katechismus der Katholischen Kirche” (KKK) gliedert sich in 4 Teile: 1. Glaubens-
lehre anhand des Apostolischen Glaubensbekenntnisses; 2. Gelebtes Mysterium anhand
von Liturgie und Sakramenten; 3. Moral anhand der 10 Gebote; 4. Gebet anhand des Vater
Unser
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Oder 1 Kor 15,3-5: „An erster Stelle habe ich euch ja überliefert, was ich auch über-
kommen habe, nämlich: Christus ist für unsere Sünden gestorben nach der Schrift, er
ist begraben worden und am dritten Tage auferweckt worden nach der Schrift, und er
ist dem Kephas erschienen, dann den Zwölfen…“
Diese Kurzbekenntnisse zu Jesus Christus waren aber bald zuwenig, um die Identität der
Kirche im Bekenntnis zu den Heilstaten Gottes zu sichern. Wie erfolgte die Erweiterung?
Ein anderes Beispiel, an dem das Erlösungsverständnis der frühen Kirche aufleuchtet
ist Röm 3,25: „Gott hat Christus aufgestellt als ‘hilasterion’ für uns!“
2. Die Taufbekenntnisse (Baptismalsymbola, deklaratorische Bekenntnisse):
Die Glaubensunterweisung der Katechumenen erfolgt anläßlich der Taufvorbereitung.
Die Taufe wurde nach dem Taufbefehl in Mt 28,19 gespendet: „Gehet hin und machet
alle Völker zu Jüngern und taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des
Heiligen Geistes…“ Die dreigliedrige Taufformel wurde so zum Grundgerüst für die
Glaubensbekenntnisse, die sich entwickelten. Die sogenannten „Symbola“ (von grie-
chisch „snyballein“, d. h. „zusammenwerfen“ von Wort und Bedeutung zu einem „sym-
bolon“, Sinnzeichen7) oder „Credo“ (nach dem lateinischen Anfangswort „Ich glaube“)
übernahmen also den trinitarischen Aufbau. Ihre grammatikalische Struktur entspricht
der dreifachen Tauffrage nach dem Glauben an die göttliche Dreifaltigkeit. „Ich Glaube
an Gott den Vater … den Sohn … und an den Heiligen Geist“. Das apostolische Glau-
bensbekenntnis (symbolum apostolicum) gehört dieser Gattung an8.
3. Die dogmatischen Glaubensbekenntnisse (Synodalsymbola):
Im 3. und 4. Jahrhundert und danach kam es zu einer immer tieferen denkerischen
Duchdringung der Glaubensgeheimnisse, wozu die griechische Philosophie mit ihren
Begriffen entscheidend beitrug. Die biblische Sprache reichte aber folglich nicht mehr
aus, um das Geglaubte auszudrücken.
Jede Neuformulierung bringt jedoch die Gefahr mit sich, den eigentlichen Inhalt zu ver-
kürzen oder gar ihn zu mißdeuten. Die Kirche musste deshalb ab dieser Zeit immer wie-
der sprachliche Orientierung für die Gläubigen schaffen. Sie tat dies erstmals in weitrei-
chender Form auf dem Konzil von Nizäa 325 (erstes der sogenannten „Ökumenischen
Konzile“), wo gegen Arius formuliert wurde, dass der Sohn dem Vater „wesensgleich“
(homoousios) sei. Das Konzil von Nizäa bediente sich der Form eines Glaubensbekennt-

7 Vgl. KKK 188: Symbolon bezeichnete eine Hälfte eines entzweigebrochenen Gegenstan-
des, z. B. eines Siegels: Es war Erkennungszeichen, dass dazu diente, die Identität des Trä-
gers zu überprüfen. Das Glaubenssymbol dient als Erkennungs- und Gemeinschaftszeichen
für die Gläubigen.
8 Vgl. DH 7-36 über die verschiedenen Formen des Apostolischen Glaubensbekenntnisses.
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nisses (nizänisches Glaubensbekenntnis), nicht um die Gläubigen zu unterweisen, son-


dern um eine Irrlehre abzuweisen. So entstand ein ganz neuer Typ von Symbola, die so-
genannten Synodalsymbola: Nizäa (Dh 125f.), Konstantinopel I (DH 150); die 11. Syno-
de von Toledo (DH 800-802), Lyon II. (DH 851-861), Trient (1862-1870)9. In der feierli-
chen Liturgie ist das nizäno-konstantinopolitanische Credo heute noch in Verwendung10.
In diesen Bekenntnissen geht es nicht um die Gläubigkeit an sich, sondern präziser um
die dogmatisch-orthodoxe Gläubigkeit.

B. Herkunft des Apostolicums

Unter „apostolischem Glaubensbekenntnis“ versteht man eine Glaubensformel, von der


man durch viele Jahrhunderte annahm, sie sei von den Aposteln selbst verfaßt worden11.
Ambrosius nennt es Ende des 4. Jahrhunderts erstmals das „Symbolum der Apostel“12.
Die Behauptung, dass Bekenntnis stamme direkt von den Aposteln, führte zur Entstehung
einer Legende: Schon 404 erzählt Tyrannius Rufinus von Aquileia dass die Apostel vom
Herrn den Befehl erhielten, nach Pfingsten seine Botschaft in der ganzen Welt zu predi-
gen:
Als sie daher im Begriff standen, sich voneinander zu verabschieden, einigten sie sich
zunächst auf eine Norm für ihre zukünftige Predigt, damit sie wegen der weiten Ent-
fernung, in der sie sich voneinander befinden würden, den Menschen, die sie zum
Glauben an Christus einlüden, nicht verschiedene Lehren geben müßten. Also traten
sie an einem Ort zusammen und verfaßten, vom Heiligen Geist erfüllt, dieses kurze
Sinnzeichen (Symbolum), wie ich es nannte, ihrer künftigen Predigt, indem jeder da-
zu beitrug, was er für angemessen hielt; und sie setzten fest, dass es überall als gülti-
ge Lehre den Gläubigen ausgehändigt werden sollte.13
Diese Legende hat zwei theologische Absichten: Zum einen zu zeigen, dass der Glaube
tatsächlich auf der Lehre der Apostel beruht (Authentizität); zum anderen, dass dieser
Glauben - in der Vielfalt seiner Aspekte und Formulierungen - die Einheit der Kirche und
der Christen ausmacht (Identität). Der Hinweis des Rufinus, dass jeder Apostel das Sei-
ne beitrug wird in der folgenden Entwicklung noch legendenhafter ausgestaltet. Wohl aus
dem 8. Jahrhundert stammt die folgende Erzählung, die an Joh 20, 19 anknüpft:

9 Vgl. auch das Quicumque (athanasianisches Glaubensbekenntnis) und das in dieser Weise
völlig neuartige Credo des Gottesvolkes von Paul VI.
10 Vgl. GOTTESLOB Nr. 356
11 Vgl. DH S. 23
12 Ambrosius, Epistula 42,5: PL 16, 1174
13 RUFINUS, Expositio in Symbolum 2: PL 21,337; zitiert nach J. N. D. KELLY, Altchristli-
che Glaubensbekenntnisse, 9.
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Am zehnten Tag nach der Himmelfahrt, als sich die Jünger aus Furcht vor den Juden
versammelt hatten, sandte der Herr ihnen den verheißenen Parakleten. Bei seiner He-
rabkunft wurden sie entflammt wie glühendes Eisen und, da sie mit der Kenntnis aller
Sprachen erfüllt waren, verfaßten sie das Glaubensbekenntnis. Petrus sagte: ‚Ich glau-
be an Gott, den allmächtigen Vater … Schöpfer des Himmels und der Erde’ … And-
reas sagte ‘und an Jesus Christus, Seinen Sohn … unseren einzigen Herrn’ … Jako-
bus sagte ‘der empfangen wurde vom Heiligen Geist … geboren von der Jungfrau
Maria’ … Johannes sagte ‘der unter Pontius Pilatus litt … gekreuzigt wurde, starb
und begraben wurde’ … Thomas sagte ‘der zur Hölle niederfuhr … am dritten Tage
wieder auferstand von den Toten’ … Jakobus sagte ‘auffuhr gen Himmel … sitzt zur
Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters’ … Philippus sagte ‘von dannen er kommen
wird, zu richten die Lebendigen und die Toten’ … Bartholomäus sagte ‘Ich glaube an
den Heiligen Geist’ … Matthäus sagte ‘die heilige katholische Kirche … die Gemein-
schaft der Heiligen’ … Simon sagte ‘die Vergebung der Sünden’ … Thaddäus sagte
‘die Auferstehung des Fleisches’ … Matthias sagte ‘ein ewiges Leben’.14
Satz 1: Das Apostolicum ist ein Baptismalsymbolum aus dem 2. Jahrhundert;
wie die Legendenbildung zeigt, galt es den Kirchenvätern als authenti-
sche Zusammenfassung des Glaubensinhaltes, wie er von den Aposteln
überliefert wurde.

C. Aufbau und Inhalt des Apostolicums

KKK 194 spricht davon, dass es apostolisch genannt wird, „weil es mit Recht als treue
Zusammenfassung des Glaubens der Apostel gilt“. Seiner Struktur nach geht es auf die
trinitarische Taufformel in Mt 28 zurück und gliedert sich folglich gemäß den Werken
der drei göttlichen Personen15.
Die drei Hauptteile sind: Im 1. Teil geht es um Gott, den Vater und Schöpfer, also auch
um das Schöpfungswerk; im 2. Teil geht es um die Menschwerdung der zweiten göttli-
chen Person, des Sohnes, in Jesus Christus und damit auch um das Geheimnis der Heils-
geschichte und unserer Erlösung; im 3. Teil schließlich geht es um den Heiligen Geist
und sein Wirken, das in der Kirche, durch die Gnade und in den Sakramenten erfolgt.
Dieses Wirken Gottes gipfelt in der Auferstehung der Toten und im ewigen Leben.
Der Kurs „Einführung ins Heilsmysterium“ wird dieser Struktur folgen.

14 PSEUDO-AUGUSTINUS, Sermo 240: PL 39, 2189; zitiert nach J. N. D. KELLY, Alt-


christliche Glaubensbekenntnisse, 11. Zur Geschichte dieser Legende vgl. H. de Lubac,
Credo, 9-28.
15 ORIGENES, In Exod. homilia IX,3 (GCS 29 = Origenes WW 6,239) nach F. Courth, Der
Gott der dreifaltigen Liebe, 148: Das trinitarische Taufbekenntnis ist „das dreifache Seil,
das nicht zerreißt, an dem die ganze Kirche hängt und von dem sie getragen wird.”
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Wenn der KKK auf das apostolische Glaubensbekenntnis als Strukturprinzip zurückgreift
und namhafteste Theologen unseres Jahrhunderts das Apostolicum interpretieren16, dann
nicht nur deshalb, weil dieses Bekenntnis durch die Tradition ehrwürdig geheiligt wurde,
sondern auch, weil seine trinitarische Gliederung dem dogmatischen Gedanken als sol-
chem entspricht. Unser theologisches Denken ist durch und durch „trinitarisch“, wie die
folgenden Begriffsternare zeigen:
Vater — Sohn — Geist
AT — NT — Kirche
Schöpfung — Erlösung — Vollendung
Religion — Offenbarung — Glaube
Verborgenheit — Enthüllung— Schau Gottes
Tugend — Gnade — Heiligung
Bevor wir aber auf diese eigentlichen Glaubensinhalte eingehen, gilt es im ersten Haupt-
teil etwas anderes abzuklären und zu hinterfragen.
Das 1. Wort des Symbolums lautet bezeichnenderweise: Credo - Ich glaube! Das erste,
das hier ins Spiel gebracht wird, ist der Mensch, ist das Ich des Menschen. Dieses Ich
kann dort, wo es um Gott geht, nicht außer acht gelassen werden: Ist der Mensch über-
haupt fähig, Gott zu erkennen? Was führt ihn dazu, nach „Gott“ zu suchen? Wer ist der
Mensch, dass er zu sagen wagt, er glaubt an Gott? Ist dieser Glaube nicht nur Einbildung
und Phantasie; ist es nicht nur ein Wunschbild, dem ein innerer Instinkt des Menschen
nachjagt? Das sind die Fragen, die uns zuerst beschäftigen müssen, bevor wir über das
eigentliche Heilsmysterium sprechen. Wir müssen die Frage nach dem Menschen stellen,
damit wir die Antwort Gottes auf diese Frage überhaupt in ihrer Klarheit und Schönheit
hören können.

16 J. RATZINGER, Einführung in das Christentum. Vorlesungen über das Apostolische


Glaubensbekenntnis, München 1968 u. ö.; F. W. KANTZENBACH, Credo. Das Apostoli-
kum und christlicher Glaube heute, München 1985; K. BARTH, Dogmatik im Grundriß im
Anschluß an das Apostolische Glaubensbekenntnis, Berlin 1948 (Zürich 1947 u. ö.); W.
PANNENBERG, Das Glaubensbekenntnis ausgelegt und verantwortet vor den Fragen der
Gegenwart, Hamburg 1972 u. ö.; H. U. V. BALTHASAR, Credo. Meditationen zum Apos-
tolischen Glaubensbekenntnis. Einführung von Medard Kehl SJ, Freibrug-Basel-Wien
1989; H. DE. LUBAC, Credo. Gestalt und Lebendigkeit unseres Glaubensbekenntnisses,
Einsiedeln 1975;
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§ 2. „ Ich glaube“:
Das religiöse Subjekt und der Akt des Glaubens

1. Der Mensch auf der Suche nach Gott

A. Die Endlichkeitserfahrung als Ausgangspunkt der Suche nach Gott

Der Mensch, um den es hier geht, ist noch nicht der Mensch, der sagen kann: Ich glaube.
Es geht hier zunächst einmal um den Menschen als solchen, um den „natürlichen Men-
schen“, der noch nichts von Gott gehört hat, der noch nicht auf diese oder jene religiöse
Lehre gestoßen ist. Dieser natürliche Mensch ist seinem Wesen nach dadurch von allen
anderen Lebewesen unterschieden, dass er zu geistiger Erkenntnis befähigt ist. Sein
Menschsein liegt in dieser seiner Geistigkeit begründet.
Diese geistige Erkenntnisfähigkeit des Menschen ermöglicht ihm zwar - tiefer als jedes
andere Wesen - die Schönheit des Daseins, der Welt, die Liebenswürdigkeit der Mitmen-
schen usw. zu erkennen; sie ermöglicht ihm die positive Erfahrung der Geborgenheit im
Sein dieser Welt. Zugleich aber liegt im Selbsterkennen des Menschen immer auch die
Erfahrung der Endlichkeit und der Begrenztheit. In der Philosophie des 20. Jahrhunderts
wurde diese Endlichkeitserfahrung zu einem bestimmenden Thema, ja für einige sogar
zum Ausgangspunkt ihres Denkens: Nietzsche, Existenzphilosophie…
Die Pastoralkonstitution des 2. Vatikanischen Konzil, welche ja die Kirche mit dem
„natürlichen Menschen“, dem noch-nicht-glaubenden Menschen in Dialog bringen woll-
te, hat über die merkwürdig zwiespältige Daseinserfahrung des modernen Menschen re-
flektiert und dies so zum Ausdruck gebracht. Zuerst wird geschildert, wie die neuzeitli-
chen Entdeckungen und Entwicklungen dem Menschen aus den Händen zu gleiten dro-
hen (GS 9). Dann:
In Wahrheit hängen die Störungen des Gleichgewichts, an denen die moderne Welt
leidet, mit jener tiefer liegenden Störung des Gleichgewichts zusammen, die im Her-
zen des Menschen ihren Ursprung hat. Denn im Menschen selbst sind viele wider-
sprüchliche Elemente gegeben (in ipso enim homine plura elementa sibi invicem
oppugnant). Einerseits erfährt er sich nämlich als Geschöpf vielfältig begrenzt, ande-
rerseits empfindet er sich in seinem Verlangen unbegrenzt und berufen zu einem Le-
ben höherer Ordnung. Zwischen vielen Möglichkeiten, die ihn anrufen, muss er dau-
ernd unweigerlich eine Wahl treffen und so auf dieses oder jenes verzichten. Als
schwacher Mensch und Sünder tut er oft das, was er nicht will, und was er tun wollte,
tut er nicht (vgl. Röm 7,14ff.). So leidet er an einer inneren Zwiespältigkeit, und dar-
aus entstehen viele und schwere Zerwürfnisse auch in der Gesellschaft. Freilich wer-
den viele durch eine praktisch materialistische Lebensführung von einer klaren Erfas-
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 13 -

sung dieses dramatischen Zustandes abgelenkt oder vermögen unter dem Druck ihrer
Verelendung sich nicht mit ihm zu beschäftigen. Viele glauben, in einer der vielen
Weltdeutungen ihren Frieden zu finden. Andere wieder erwarten vom bloßen
menschlichen Bemühen die wahre und volle Befreiung der Menschheit und sind da-
von überzeugt, dass die künftige Herrschaft des Menschen über die Erde alle Wün-
sche des Herzens erfüllen wird. Andere wieder preisen, am Sinn des Lebens verzwei-
felnd, den Mut derer, die in der Überzeugung von der absoluten Bedeutungslosigkeit
der menschlichen Existenz versuchen, ihr nun die ganze Bedeutung ausschließlich
aus autonomer Verfügung des Subjekts zu geben. Dennoch wächst angesichts der
modernen Weltentwicklung die Zahl derer, die die Grundfragen stellen oder mit neu-
er Schärfe spüren: Was ist der Mensch? Was ist der Sinn des Schmerzes, des Bösen,
des Todes — alles Dinge, die trotz solchen Fortschritts noch immer weiterbestehen?
Wozu diese Siege, wenn sie so teuer erkauft werden mussten? Was kann der Mensch
der Gesellschaft geben, was von ihr erwarten? Was kommt nach diesem irdischen
Leben17
Die Urerfahrung des Menschen ist also die der Zwiespältigkeit: einerseits diese Sehn-
sucht, dieses Ausgreifen nach immer Größerem (gerade auch im neuzeitlichen Fort-
schritt), andrerseits aber die beständige Bedrohung durch Krankheit, Tod usw. Der
Mensch erfährt sich zugleich unbegrenzt und begrenzt, zugleich unendlich und endlich,
angelegt auf Unsterblichkeit und doch nur allzu gebrechlich und sterblich. Diese Erfah-
rung macht den Menschen zu dem „existierenden Fragezeichen schlechthin“18. „Daher
fragt er nach sich selber!“19
Dieses Fragen nach sich selbst ist der Beginn der Suche nach dem Grund des Daseins.
Der letzte Grund des Daseins aber ist Gott. Deshalb beginnt der natürliche Mensch, der
sich seiner inneren Zwiespältigkeit und damit der Frage nach sich selbst stellt (Wer bin
ich? Wozu lebe ich? Woher komme ich? usw.), bereits, nach Gott zu suchen. Das bedeu-
tet aber noch nicht, dass er auch wirklich zur Erkenntnis Gottes durchdringt. Drei Mög-
lichkeiten gibt es, wie er sich dieser Erkenntnis verweigern kann.

17 2. Vatikanisches Konzil, Gaudium et Spes 10: DH 4310. Dies ist übrigens der einzige Text
des 2. Vatikanums, den Hans Urs von Balthasar zu kommentieren für wert befand, da er als
einziger mit Realismus die sündige Verfaßtheit des Menschen zur Sprache bringt und nicht
von der naiven Aufbruchseuphorie der Sechzigerjahre geprägt ist. Vgl. Theodramatik 3,
403 und 446-449.
18 H. U. V. BALTHASAR, Pneuma und Institution, 13.
19 2. Vatikanisches Konzil, Gaudium et Spes 9: DH 4309. Dies ist die interpretatorische Ü-
bersetzung des lateinischen „Unde seipsum interrogat”.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 14 -

B. Mögliche Reaktionen auf die Endlichkeitserfahrungen

a. Verweigerung durch Selbstbetäubung


Der Mensch ist zwar ein geistiges Wesen, aber er kann sich bis zu einem gewissen Grad
dieser seiner Geistigkeit auch verweigern. Er kann die Fragen, die sich ihm von innen her
stellen, verdrängen und versuchen, sie durch die Befriedigung seiner leiblichen und psy-
chischen Bedürfnisse zum Verstummen zu bringen. Gemeint ist hier eine materialistische
Lebensorientierung, die lebt um zu leben und nicht nach dem Warum oder Wozu fragt.
Vgl. 1 Kor 15,32: Wenn keine Toten erweckt werden, wenn das Leben keinen höheren
Sinn hat, dann „lasst uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot!“
Die Selbstbetäubung des fragenden Geistes erfolgt aber nicht nur durch auf der Ebene
irdischer Bedürfnisbefriedigung, sondern sie erfolgt oft auch auf pseudo-intellektueller
Ebene, indem man sich suggeriert, das Leben und Sterben sei nichts anderes als ein zufäl-
lig entstandener Prozess (Evolution), der seinen Zweck in sich hat. In den materialisti-
schen Lebenseinstellungen geht es um eine Abwehr der Frage nach dem Dasein und da-
mit nach Gott. Insgesamt handelt es sich um einen Irrweg, „da sich der Keim der Ewig-
keit, den der Mensch in sich trägt, nicht auf bloße Materie zurückführen lässt“20.
Zusammenfassung: Die erste mögliche negative Reaktion auf die Endlichkeitserfahrung
kann so formuliert werden: „Es ist sinnlos, die Frage nach einem letzten Grund zu stellen.
Der letzte Grund zu leben, ist zu leben.“

b. Gnostische Erkenntnis als „Durchschauen des Scheines“


Im Menschen gibt es eine Urerfahrung und damit auch eine Urfrage. Die zweite aporeti-
sche Lösung, die sich als Antwort anbietet ist das „Erkenne dich selbst“. Im Unterschied
zur ersten Lebenshaltung stellen sich die Menschen der aufdämmernden Urfrage. Sie
meinen die Antwort zu finden, indem sie nur tief genug in sich hineinhorchen, indem sie
„sich selbst erkennen“. Diese Selbsterkenntnis gilt ihnen dann auch schon als die ganze
Antwort. In der Antike stand über dem Eingang des Tempels zu Delphi eingemeißelt:
„Gnothi sauton“21. Dies sollte bedeuten, dass die Selbsterkenntnis den Weg in den Tem-
pel, den Weg zur Gottheit ebnet.
Aus der Antike wurde diese Selbsterkenntnis in verschiedenen Mysterienkulten zum o-
bersten Ziel des Daseins erhoben. Der Myste gewinnt durch bestimmte Rituale und Initia-
tionen einen Blick auf die göttliche Dimension seines Seins. Die Geschichte dieser Mys-

20 2. Vatikanisches Konzil, Gaudium et Spes 18: DH 4318.


21 Diese Selbsterkenntnis wird von Juvenal als göttlicher Weg geschildert: „E caelo descendit
Gnothi sauton”. JUVENAL XI, 27; vgl. H. U. V. BALTHASAR, Pneuma und Institution,
14.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 15 -

terienkulte ist insofern interessant, da sie heute in der nachchristlichen Gesellschaft wie-
der an Aktualität gewinnen. Den antiken Mysterien ist sind die östlichen „Religionen“
ähnlich, in denen es auch um Selbstversenkung und Selbstdurchdringung geht, den göttli-
chen Funken in sich aufzuspüren und dort im Inneren eins zu werden mit dem Ganzen.
Bemerkenswert ist für diese Weltanschauung auch, dass es durchaus Askese und Selbst-
beherrschung gibt.
Warum beantwortet die Gnosis die Frage des Menschen nach dem Sinn des Daseins letzt-
lich nicht? Der Grund liegt darin, dass die Antwort nur im Erkennen und Durchschauen
seiner selbst gesucht wird. Bei den östlichen Meditations- und Versenkungstechniken
handelt es sich um eine Art suggestiver Selbstberuhigung angesichts der unbeantwortba-
ren Fragen. Dem meditativ in sich selbst Versenkten und Erleuchteten kümmert es nicht,
dass um ihn herum die Menschen verhungern, all das durchschaut er als „Schein“ um
ganz in seiner Erkenntnis in einer vorgetäuschten Glückseligkeit in sich zu weilen. Es ist
evident, dass der Mensch durch bloße Meditation und Selbstversenkung nicht wirklich
erlösen kann.
Zusammenfassung: Die zweite mögliche negative Reaktion auf die Endlichkeitserfahrung
kann so formuliert werden: „Erkenne dich selbst, ziehe dich in deine innere Geistigkeit
zurück. Du trägst den letzten Grund des Seins in dir selbst. Erkenne ihn und lass dich da-
bei von den Fragen dieser Welt nicht beunruhigen. Das Fragen selbst wird hier zur Ant-
wort, die endliche Geistigkeit zur scheinbaren Göttlichkeit, der Weg zum Ziel.“

c. Der Kampf wider die Antwort


Mit der Frage des Menschen nach dem Sinn seines Daseins und mit der Erfahrung seiner
Endlichkeit drängt sich ihm bereits ein Gefühl, eine Vorahnung, ein Ausgriff auf Unend-
lichkeit auf: Er fühlt sich darin schon unendlich, dass er überhaupt die Frage nach einem
letzten Sinn und Grund zu stellen vermag. Es dämmert dem natürlichen Menschen darin
schon die große Ahnung von einem unendlichen Gott. Es gibt nun in der Geschichte der
Philosophie und der Menschheit immer wieder Geister, die so reagieren, dass sie sich aus
dieser Tragik heraus gleichsam in den Kampf gegen die aufdrängende Antwort werfen,
also in den Kampf gegen das Urgefühl, dass es Gott gibt. Diese Haltung umgibt sich mit
dem Flair des tragischen Heldenmutes und des Weltschmerzes: Man spürt förmlich den
inneren Kampf gegen dies innere Gefühl, dass es Gott gibt und das Leben deshalb einen
letzten Sinn hat.
Nietsche, die Gestalt des Faust in Goethe („Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt
der Glaube“), die Existentialisten Sartre, Camus und Amery usw. verdeutlichen die hier
gemeinte Position. Ihr Kampf ist nicht nur ein Kampf gegen die Gotteserkenntnis, son-
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 16 -

dern auch der Kampf gegen sich selbst22. Sie wollen nicht, dass es mehr gibt als die zer-
klüftete Existenz.
Zusammenfassung: Die dritte mögliche Reaktion auf die Endlichkeitserfahrung können
so formuliert werden: „Verachte dein Herz, das Dir zuflüstert: ‘Es gibt Größeres als diese
Welt!’ oder ‘Es gibt einen Gott!’ und bekämpfe in dir die Antwort, die sich dir auf-
drängt.“
Satz 2: Der Mensch kann in dreifacher Weise die Erfahrung der Endlichkeit
zu bewältigen versuchen: durch materialistische Selbstbetäubung,
durch gnostische Selbstberuhigung oder durch eine Haltung des Pro-
testes.

C. Die Offenheit des Menschen auf Gott


Wir sind von der Endlichkeitserfahrung ausgegangen. Der Mensch erfährt sich selbst
endlich und zugleich erfährt er darin die Unendlichkeit eines „Horizontes“ (Rahner), auf
den hin er lebt. In der Endlichkeitserfahrung und in den vielen Fragen nach sich selbst,
die sich dem Geistwesen Menschen stellen, liegt bei näherer Betrachtung ein doppeltes
Vorwissen begründet.
1. Zum einen weiß der Mensch gleichsam instinktiv, dass alle Antworten, die er selbst
sich geben wird, das Letzte nicht treffen werden, dass alles, womit er sich selbst antwor-
tet, letztlich unbefriedigend bleiben muss.
2. Zum anderen ahnt er sogar schon, dass der „Horizont“ selbst ihm die Antwort geben
könnte. (Eine Vorahnung oder Vorhoffnung auf die Selbstoffenbarung Gottes.)
Dieses Vorwissen oder Ahnen bewirkt eine innere Offenheit des Menschen; es formt aus
dem Menschen die Gestalt des beständigen Lauschers, der seine Ohren - mitten im Lärm
der Welt - ja doch gierig aufsperrt, um nur ja von irgendwoher die Antwort auf das Rät-
sel, die Antwort auf sich selbst, zu vernehmen. Um diese Offenheit des Menschen, letzt-
lich die Offenheit des Menschen auf Gott, soll es nun gehen.

a. Der Mensch als „Hörer des Wortes“ oder die „Transzendentalität“


Karl Rahner († 1984) hat wie kein anderer neuzeitlicher Theologe die Ausrichtung des
natürlichen Menschen auf Gott („Horizont“) betont. Hier ist immer noch die Rede vom
natürlichen Menschen, also vom Menschen, der noch nicht im Raum der Offenbarung

22 Jean Amery, eigentlich Johann Mayer, geboren 1912, † 1978 in Salzburg durch Selbstmord
gemäß seinem Buch „Hand an sich legen”.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 17 -

steht. In seiner Dissertation 1941 unter dem Titel „Hörer des Wortes“23 stellt er die
Grundfrage: Ist der Mensch wirklich von Natur aus offen für Gott und damit für eine
mögliche göttliche Offenbarung? Wieso stellt Rahner als Theologe solche Fragen, ist das
nicht eine rein philosophische Fragestellung? Nein. Rahner reflektiert hier sehr bewußt
als Theologe. Er fragt nach den Bedingungen, die auf seiten des Menschen, also in seiner
Geistigkeit vorhanden sein müssen, damit Offenbarung von Gott her überhaupt „ankom-
men“ kann: Wie hat Gott den Menschen angelegt, damit sein Wort, wenn er es spricht,
nicht auf taube Ohren stößt.
Die Antwort Rahners: Die Offenheit des natürlichen Menschen auf Gott hin ist so grund-
legend, dass eben diese Offenheit das Menschsein des Menschen ausmacht. Das Wesen
des Menschen ist es, auf Gott hin zu lauschen:
„Nur wer so hört, ist das, was er eigentlich zu sein hat: Mensch.“24 Und: „Der
Mensch ist das Seiende von hinnehmender Geistigkeit, das in Freiheit vor dem freien
Gott einer möglichen Offenbarung steht, die, wenn sie kommt, in seiner Geschichte
im Wort sich ereignet.“25
Rahner prägt für diese konstitutive Offenheit des Menschen die Begriffe „existential“ und
„transzendental“, die von den ähnlich klingenden Begriffen „existentiell“ und „transzen-
dent“ präzise zu unterscheiden sind:
„Existenz“: die konkrete Art, wie ein Mensch sein Menschsein realisiert, wie er aus dem
allgemeinen Sein herausragt (ex-sistere = herausragen).
„existentiell“: was die Existenz des Menschen bestimmt, was auf den Menschen zu-
kommt; z. B. die Redeweise: „ein existentielles Problem haben“
„existential“: was zur Bestimmung des Menschen geworden ist; was seine Existenz jetzt
durchformt und ausmacht
„Existential“: die Bestimmtheit der Existenz
Existentiell oder existential? Die Endung -tial deutet darauf hin, dass etwas zur Eigen-
schaft, zur Bestimmtheit geworden ist. Dazu muss es aber jemanden geben, der bestimmt.
Wenn Rahner vom „Existential“ im Menschen spricht, so meint er damit zugleich, dass
Gott dieses Existential angelegt hat.
„transzendent“: die Endlichkeit übersteigend (trans-cedere = übersteigen); transzendent
bezeichnet die grundlegende Eigenschaft Gottes

23 Vgl. H. FRIES, in: MySal 1,794-795


24 K. RAHNER, Hörer des Wortes, München 1941, 203
25 K. RAHNER, Hörer des Wortes, München 1941, 209
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 18 -

„Transzendenz“: die Weltjenseitigkeit Gottes


„transzendieren“: Tätigkeit des Menschen, der versucht, in die Sphäre Gottes hinauszu-
dringen
„transzendental“: die Weltjenseitigkeit Gottes ist zur Bestimmtheit des Menschen ge-
worden; transzendental bezeichnet die grundlegende Eigenschaft des Menschen
„Transzendentalität“: die Ausrichtung des Menschen auf Gott, die ihm zuvor schon
von Gott her bestimmt ist
Transzendent oder transzendental? Die Unterscheidung dieser beiden Begriffe ist leich-
ter, da es sich bei ersterem um eine Eigenschaft Gottes, bei letzterem um eine Eigen-
schaft des Menschen handelt. Freilich ist bei Rahner dabei mitgesagt, dass Gott es ist, der
dem Menschen diese Ausrichtung auf IHN hin schenkt. Statt Transzendentalität kann
Rahner auch vom „übernatürlichen Existential“ sprechen. Er meint damit, dass schon das
Existieren des Menschen als Geistwesen von Gottes Selbsthingabe in Jesus Christus er-
möglicht ist26, Die eigentlich theologische Grundthese Rahners lautet: Die Selbstmittei-
lung Gottes, wie sie in Jesus Christus offenbar wird, macht den Menschen erst zum Men-
schen. Alles wahrhaft Menschliche ist deshalb auch wahrhaft christlich.
Satz 3: Die Offenheit des Menschen auf Gott hin nennt Rahner die „Transzen-
dentalität“. Sie ist nach Rahner das, was den Menschen erst zum Men-
schen macht.

b. Das „desiderium naturale“


Nach Karl Rahner ist der Mensch von Natur aus „Hörer des Wortes“, seine Existenz ist
hingeordnet auf die Erkenntnis Gottes und findet nur darin ihre letzte Erfüllung. Dieses
Phänomen, das Rahner in Anlehnung an Kant und die Existenzphilosophie des 20. Jahr-
hunderts „Transzendentalität“ genannt hat, war in der Theologie schon lange vorher unter
anderem Namen abgehandelt worden. Thomas von Aquin (†1274) spricht davon, dass in
jedem Menschen ein naturhaftes Verlangen lebt, Gott unmittelbar zu schauen. Er nennt es
das „desiderium naturale videndi Deum“27, die natürliche Sehnsucht nach der Gottes-
schau. Zwei Eigenschaften an diesem desiderium sind den Theologen wichtig:

26 vgl. dazu K. RAHNER, Schriften zur Theologie 14, 48-62; der berühmte „Grundkurs des
Glaubens”, an dessen Beiträgen Rahner seit 1964 arbeitete und der 1976 erschien ist das
Handbuch für die Theologie Rahners. Der „harmlose” Titel stammt vom Verlag, der Unter-
titel von Rahner: „Einführung in den Begriff des Christentums”. Es geht hier also um den
Begriff des Christentums. Vgl. H. Vorgrimler, Karl Rahner verstehen. Eine Einführung in
sein Leben und Denken, Freiburg-Basel-Wien 1985
27 Vgl. J. ALFARO, Art. Desiderium naturale, in: LThK 3,248-250
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 19 -

1. Erstens die Naturhaftigkeit: Es handelt es sich um ein desiderium naturale, d. h. es


gehört zur Grundausstattung des Menschen von der Schöpfung her; es ist deshalb eine
konstitutive Eigenschaft eines jeden Menschen und nicht etwa erst eines von Gott in be-
sonderer Weise ergriffenen Gläubigen. In der Geschichte der Theologie hat es jedoch
gerade über diesen Aspekt heftige Streitigkeiten gegeben28.
2. Zweitens die Ungeschuldetheit. Es muss klargestellt sein, dass auch dann, wenn Gott
die Sehnsucht, die er als Schöpfer in den Menschen hineingelegt hat, als Erlöser nicht
erfüllen würde, die Existenz des Menschen trotzdem nicht sinnlos wäre. (Gott versagt als
Schöpfer nicht, auch wenn er als Erlöser nicht tätig wäre.) D. h. aber konkret, dass das
„desiderium naturale“ schon etwas in sich Positives ist, auch wo es nicht auf Christus als
letzte Erfüllung trifft. Wichtig ist den Theologen die Ungeschuldetheit. Dass Gott den
Menschen auf sich hin ausrichtet, besagt nicht, dass er jetzt gleichsam gezwungen ist,
Mensch zu werden, um so die Sehnsucht des Menschen zu erfüllen. Der Schöpfer zwingt
sich nicht, Erlöser zu werden. Gott hätte - trotz des von ihm geschaffenen desiderium
naturale - auch ein schweigender Gott bleiben können29
Insgesamt hat das Christentum ein positives Menschenbild: Der Mensch ist von sich aus
offen für das Gute, das Schöne, offen für Gott. In seinem regen Geist lebt eine existentia-
le Sehnsucht nach Gott, wie die berühmte Formulierung von Augustinus sagt:
„Du hast uns auf dich hin geschaffen, und ruhelos ist unser Herz, bis es ruht in Dir!
(…inquietum est cor nostrum, donec requiescat in Te!)“30
Dieses naturhafte Streben nach Gott hat Karl Rahner gemeint, wenn er von „anonymen
Christentum“ spricht; Stoeckle nennt es „vorchristliches Christentum“31. Wo diese grund-
legende Offenheit für Gott so gehandhabt wird, dass der Mensch dann sich selbst die
Antwort gibt, dort entsteht das, was wir im theologischen Sinn „Religion“ nennen.
Satz 4: Es gibt im Menschen eine naturhafte Religiosität in Form einer Sehn-
suchtsdynamik hin auf Gott. Diese nennt Thomas „desiderium natura-
le“.

28 Cajetan etwa lehnt die Naturhaftigkeit des desiderium ab. Auch für Rahner ist ja die Trans-
zendentalität schon eine „übernatürliche” Sache, weil sie von der Selbsthingabe Gottes in
Christus Jesus ermöglicht ist.
29 H. FRIES, in: MySal 1,167
30 AUGUSTINUS, Confessiones 1,1,1.
31 B. STOECKLE, in: MySal 2,1047
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 20 -

2. Die Religionen und das Christentum

A. Das Wesen von Religion

a. Etymologie des Wortes Religion


Es gibt also eine grundsätzliche Offenheit des Menschen, es gibt das, was Thomas von
Aquin „desiderium naturale“, was Karl Rahner „Transzendentalität“ nennt als anthropo-
logische Ureigenheit. Hierin liegt das Wesen von „Religion“ begründet. Der Begriff Re-
ligion ist hier theologisch genau zu bestimmen, da er im herkömmlichen Sprachgebrauch
ganz allgemein für alle jene Weltdeutungen verwendet wird, die etwas mit Gott oder dem
Göttlichen zu tun haben. So spricht man auch von der „christlichen Religion“ oder der
„katholischen Religion“; katholischen Schülern wird der „Religionsunterricht“ erteilt.
„Religion“ scheint ein Überbegriff zu sein, der für alle und jede Weltanschauung gilt. Die
Frage ist aber, ob der Begriff Religion so einfachhin auch als Bezeichnung für das Chris-
tentum verwendet werden kann? Ist Christentum nur eine Religion unter anderen? Was
ist - theologisch gesehen - das Wesen von Religion? Von seiner Etymologie her paßt der
Begriff zunächst tatsächlich auf alles und jedes, was mit Gott zu tun hat.
Die ursprünglichste Bedeutung des lateinischen Begriffes „religio“ liegt im Dunkeln.
Thomas von Aquin unterscheidet im Anschluß an Augustinus drei Bedeutungen, die alle
zusammen dem Begriff seine Bedeutung geben32:
1. Von „re-legere“, „durchgehen“. Cicero interpretiert „religio“ in dieser Weise als
„Durchmachen“ bestimmter kultischer Verpflichtungen33. Gottesverehrung ist bei den
Römern weniger eine Sache des Herzens, sondern die gesellschaftliche Beobachtung ge-
wisser kultischer Pflichten gegenüber den Göttern. Nach Walter Brugger ist diese Ausle-
gung jene, die der ursprünglichen Bedeutung von religio am nächsten kommt.
2. Von „re-eligere“, „immer wieder wählen“. Augustinus berichtet diese Interpretation34.
Gemeint ist, dass durch die Religion der Mensch sich seinen ursprünglichen Zustand
wiederherstellen möchte. „Religio“ wird also als die Wiederherstellung einer ursprüng-
lich vorhandenen Einheit mit Gott.

32 THOMAS VON AQUIN, Summa theologica II-II, q. 81, a. 1, resp. dic. Vgl. Vgl. W.
Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg-Basel-Wien, 11. Auflage, 1964,
263ff.
33 Cicero, De natura deorum 2, 28, 72.
34 AUGUSTINUS, De Civitate Dei 10, 4: „Wir müssen uns wieder für Gott entscheiden, den
wir durch Vernachlässigung verloren haben”
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 21 -

3. Von „re-ligare“, „zurückbinden“. Diese Interpretation gefällt Augustinus am besten35,


besagt sie doch das Gebundensein des Menschen an Gott bzw. die Rückbindung sogar
des Sünders an Gott36. Die Kirchenschriftsteller Laktanz, Ambrosius, Hieronymus ver-
wenden „religio“ ebenfalls in dieser Bedeutung. Deshalb werden auch im heutigen kirch-
lichen Sprachgebrauch die Ordensleute als „Religiosen“ bezeichnet: „religiosi“ sind jene,
die sich durch Gelübde an Gott gebunden haben. Thomas von Aquin dazu: „Obwohl alle,
die Gott verehren, gemeinhin ‘religiosi’ genannt werden können, so werden doch jene in
besonderer Weise ‘religiosi’ genannt, die ihr ganzes Leben dem göttlichen Dienst weihen
und sich von weltlichen Dingen fernhalten.“37
Im Zusammenhang mit dieser Wortklärung definiert Thomas von Aquin Religion als
„Tugend, durch welche die Menschen Gott den geschuldeten Kult und die Ehre erwei-
sen.“38

b. Eine extreme Position: „Religion“ nach Karl Barth


Im 20. Jahrhundert hat sich der Schweizer reformierte Theologe Karl Barth († 1968) des
Themas Religion besonders angenommen. Für ihn besteht ein absoluter Unterschied, ja
Gegensatz zwischen „Religion“ und Christentum. Religion ist die Suche des Menschen
nach Gott. In der Religion greift die natürliche Sehnsucht hinaus in den Raum der Unend-
lichkeit und möchte sich über diesen Raum ein Bild machen. Religion ist also der Ver-
such des endlichen Geistes, in den verborgenen Bereich Gottes vorzudringen: die Bewe-
gung des „hinaus“. Hingegen handelt es sich beim Christentum um die genau umgekehrte
Bewegung: Gott dringt in diese Welt ein, Er sucht den Menschen, Er offenbart sich ihm.
Der Christ ist nicht ein Suchender, sondern ein Gesuchter. Nach Barth ist das Christen-
tum keine „Religion“, denn es gilt: Hier Offenbarung Gottes, da Religion!39
Bis hierher haben die Überlegungen Barths einen Wahrheitsgehalt, der mit der katholi-
schen Auffassung übereinstimmt. Eine Analyse der Struktur von nichtchristlicher Religi-
osität zeigt, dass sie sich grundsätzlich von christlicher Religiosität unterscheidet. Doch
Barth geht einen Schritt weiter: Wenn sich Gott allein in Christus offenbart, dann sind
alle religiösen Versuche, Gott anderswie oder anderswo zu finden, sündhaft40. Alle Reli-

35 AUGUSTINUS, De vera religione 55, 111, 307: „Religat nos religio uni omnipotenti
Deo.” Retractationes 1, 12, 13.
36 AUGUSTINUS, De quantitate animæ 36, 80.
37 THOMAS VON AQUIN, Summa theologica II-II, qu. 81, a. 1, ad 5.
38 THOMAS VON AQUIN, Summa theologica II-II, qu. 81, a. 1, Conclusio
39 Vgl. z. B. RGG 5,981f.
40 Diese Konzentration auf Christus ist typisch für die protestantische Theologie: Luthers
„Christus solus” klingt hier durch. Was ist darunter zu verstehen? Nach lutherischer Auf-
fassung ist das Werk des Schöpfers durch die Sünde durch und durch verdorben, d. h. im
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 22 -

gionen stehen deshalb unter dem Gesetz der Sünde, sie wollen selbstherrlich von sich aus
das Geheimnis Gottes lüften; sie sind diabolischer Hochmut, die Epiphanie des „Eritis
sicut Deus!“41
Wir fassen zusammen:
Satz 5: „Religion“ bezeichnet im nichtchristlichen Sinn die Bewegung „hin-
aus“, Offenbarung die Bewegung „hinein“.
Religion ist „Mensch zu Gott“, Offenbarung ist „Gott zum Menschen“.
Deshalb ist Christentum nicht einfachhin eine Religion unter anderen.

Nach Karl Barth offenbart sich Gott allein in Christus, Religion ist deshalb grundsätzlich
widerchristlich und sündhaft. Das ist aber nicht die katholische Auffassung.

c. Die katholische Auffassung von „Religion“ ist positive Hinordnung auf Gott
Zur Erinnerung: Der Mensch ist das einzige Wesen mit der Fähigkeit zur Selbstreflekti-
on. Mittels seines Geistes kann der Mensch über sich selbst nachdenken und die Frage
nach dem Sinn des Daseins überhaupt stellen. Während das Tier über seine Taten und das
Woher und Wohin seines Daseins nicht nachdenken kann, drängt sich dem menschlichen
Geist die Frage nach dem Warum auf. Diese geistige Sensibilität kann zwar durch die
vordergründige Befriedigung der materiellen Wünsche verdrängt, aber in keinem Men-
schen je ganz getilgt werden42. Jeder Mensch ist offen auf eine Wahrheit, die ihm die
Antwort auf die Fragen seines Geistes gibt, er ist „Hörer des Wortes“.
Das Geistwesen Mensch sucht also gleichsam „instinktiv“ nach dem Letzten, nach dem
Wahren. Der Mensch ist somit von Natur aus, also vom Schöpfer her, als ein religiöses
Wesen geschaffen. Er ist durch und durch ein „ens religiosum“, sogar dann wenn er gar
nicht ausdrücklich nach Gott sucht. Religion kann mit Thomas von Aquin († 1274) am
kürzesten definiert werden als „ordo hominis ad deum“, eine Hinordnung des Menschen
auf das Göttliche. Diese Hinordnung ist zunächst etwas unendlich Positives, ein Ge-
schenk des Schöpfers an sein Geschöpf. Die naturhafte Religiosität gleicht den Ohren,
die Gott dem Menschen schenkt, damit er Sein Wort hören kann. So ist Religion also et-
was Positives, da sie Zeugnis ablegt von der Güte des Schöpfers, der dem Menschen die
Fähigkeit gibt, ihn zu suchen:

natürlichen Menschen ist nichts Gutes mehr; folglich ist und bleibt alles, was er tut, Sünde.
Nur das Werk Christi bringt Positives. Da Religion also das Werk des natürlichen Men-
schen ist, die Suche des Menschen nach Got_, ist sie Sünde.
41 K. BARTH, Der Römerbrief, 251; vgl. Kirchliche Dogmatik I/2, 344-356 („Religion als
Unglaube”)
42 Vgl. oben die Ausführungen zu Gaudium et Spes 10.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 23 -

„Die Menschen erwarten von den verschiedenen Religionen Antwort auf die ungelös-
ten Rätsel des menschlichen Daseins, die heute wie je die Herzen der Menschen im
tiefsten bewegen: Was ist der Mensch? Was ist Sinn und Ziel unseres Lebens? Was
ist das Gute, was die Sünde? Woher kommt das Leid, und welchen Sinn hat es? Was
ist der Weg zum wahren Glück? Was ist der Tod, das Gericht und die Vergeltung
nach dem Tode? Und schließlich: Was ist jenes letzte und unsagbare Geheimnis unse-
rer Existenz, aus dem wir kommen und wohin wir gehen?“43
Sind die anderen Religionen deshalb für uns nur etwas Positives? Nein. So sehr die Got-
tessehnsucht und Gottesverehrung grundsätzlich positiv ist44, und sosehr die Religiosität
an sich Zeugnis ablegt von der Güte des Schöpfergottes, sosehr sind die konkreten Reli-
gionen doch auch Zeugnis für die Schwäche des Menschen. Problematisch ist es, wenn
der Mensch aus seiner Religiosität eine Religion macht, indem er sich selbst ein Bild von
Gott machen, dass sie das eigentliche Wort Gottes nicht hören und sich selbst eine Musik
produzieren, die sie in ihren Lebensfragen beruhigt.
Satz 6: Nach katholischer Auffassung ist Religiosität (ordo hominis ad deum)
etwas Positives, da sie Zeugnis gibt für die Güte des Schöpfergottes, der
die Natur des Menschen auf sich selbst hingeordnet hat.

B. Das Christentum und die Religionen

a. Das Wesen der nichtchristlichen Religion und die Religionskritik Feuerbachs


Wir vergleichen jetzt Christentum mit der Struktur der anderen konkreten Religionen.
Frage: Wie entstehen konkrete Religionen? Da es eine grundsätzlich Religiosität, Offen-
heit auf Gott gibt, kann es geschehen, dass sich der Mensch aufgrund seiner Lebenserfah-
rung, seines Nachdenkens über die Fragen des Lebens nicht nur eine „Weltanschauung“
bildet, sondern auch eine „Gottanschauung“. Was er über Gott denkt, wird formuliert,
geschildert, weitergegeben. Aus der privaten „Gottanschauung“ eines einzelnen wird die
Religion einer Sippe, einer Gruppe usw. Die Stifter der großen Religionen wie etwa
Siddhartha Gautama Buddha oder Muhammad, sind durchaus Menschen mit einer beson-
deren Offenheit für die letzten Lebensfragen nach dem Sinn des Daseins. Als religiösen
Menschen verstehen sie ihre Vorstellungen über das Göttlichen anderen mitzuteilen.
Kommen zu der von der Gruppe akzeptierten Gottanschauung des Stifters noch heiligen
Schriften, Ritualen, Traditionen und Kulte hinzu, so ist aus der Gotteserfahrung des ein-
zelnen eine Religion erwachsen.

43 2. Vatikanisches Konzil, Declaratio „Nostra aetate” 1: DH 4195. Vgl. KKK 2566: „Alle
Religionen zeugen von diesem Suchen, das dem Wesen des Menschen entspricht.”
44 THOMAS VON AQUIN, Summa theologica II-II, qu. 81, a. 1: Religio est virtus per quam
homines Deo debitum cultum et reverentiam exhibent.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 24 -

Die grundsätzliche Frage lautet aber: Ist der Mensch berechtigt, soweit zu gehen? Ist er
überhaupt fähig, von sich aus Gott zu erkennen, Gott zu erfahren, das Geheimnis Gottes
zu enträtseln? Die biblische Offenbarungsreligion widerspricht hier eindeutig! Wo der
Mensch versucht, sich „aus eigenem“ (de suo) ein Bild von Gott zu machen, entsteht ein
„Götzenbild“ (Idol).
Ludwig Feuerbach (1804-1872) hat hier in gewissem Maße mit seiner Religionskritik
recht. Religion entsteht nach seiner Auffassung aus dem Wunschdenken, dem Sehn-
suchtsstreben des Menschen nach Unendlichkeit. Für Feuerbach gilt. Eines seiner
Hauptwerke trägt auch den bezeichnenden Titel: „Vom Wesen der Religion“, ein anderes
heißt „Vom Wesen des Christentums“. Was ist also nach Feuerbach das Wesen der Reli-
gion? Nicht Gott hat den Menschen geschaffen, sondern der Mensch hat sich seinen Gott
geschaffen. Gott ist eine Projektion des menschlichen Selbstbewußtseins. Der Mensch
projiziert das, was er selbst in sich ist, nach außen und verehrt es als seinen Gott. Dem-
nach gibt es keine Transzendenz, sondern diese ist nur die eingebildete und in ein schein-
bares Jenseits projizierte Immanenz. D. h. der Mensch möchte nicht sterben und macht
aus diesem Wunsch einen Gott, der unsterblich ist; der Mensch möchte nicht begrenzt
sein und macht daraus einen Gott, der unbegrenzt, unendlich ist usw.
„Der Mensch schuf Gott nach seinem Bilde.“45 Das absolute Wesen, der Gott der
Menschen, ist sein eigenes Wesen. Wie der Mensch denkt, wie er gesinnt ist, so ist
sein Gott. Das Bewußtsein Gottes ist das Selbstbewußtsein der Menschen, die Er-
kenntnis Gottes ist die Selbsterkenntnis des Menschen. Aus seinem Gott erkennst du
den Menschen, und wiederum aus dem Menschen seinen Gott.“46
Mit dieser Bestimmung von Religion hat Feuerbach in gewisser Weise recht. Der ewige,
unsichtbare, unnahbare und radikal transzendente Gott muss dem Menschen, die ihn in
ihrer Religiosität suchen ein letztlich verborgenes Geheimnis bleiben. Wo der Mensch
sich aus seiner Endlichkeit aufmacht, um von sich aus das Ewige zu erfassen, entsteht
notwendig eine „Projektion“ der Endlichkeit, die dann zwar „Gott“ (deus) genannt wird,
aber nicht „Gott“ (Deus) ist. Auch nach christlicher Auffassung kann der Mensch von
sich aus - wie es die Religionen tun - keine tragende Brücke der Erkenntnis zu Gott bau-
en. Wenn es eine Brücke zwischen Welt gibt, dann muss sie von der anderen Seite her
gebaut worden sein: von der Seite Gottes her. Gott muss sich schenken, um erkannt zu
werden. Nach dem Urteil des Alten Testamentes ist die „Verbildlichung“ des unendli-

45 L. FEUERBACH, Sämtliche Werke, hrsg. v. W. Bolin / F. Jodl, Bd. VI, 297


46 L. FEUERBACH, ebd. Bd. VI, 15
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 25 -

chen Gottes sündhaft, ist Idolatrie47. In der jüngeren Philosophie hat Ernst Bloch über
Religion gespottet als „Kontingenzbewältigung“.
Worin besteht also das Wesen der Religionen? Die Religionen sind immer die Versuche
der Menschen, von sich aus Brücken von der Endlichkeit in die Unendlichkeit, von der
Welt zu Gott hin zu bauen. Diese Versuche beinhalten zwar in verschiedenen Graden
„Wahres und Heiliges“48. Doch dies nur bruchstückhaft, denn der Mensch kann Gott
„von sich aus“ nicht im letzten erkennen. Und es wird so sein, dass dort, wo Gott sich
den Menschen in letzter und vollendeter Weise zeigt, nämlich in Jesus Christus, alle diese
religiösen Versuche ihrer Vorläufigkeit und Fragmentarität überführt werden. Dort zeigt
sich dann, dass die Weisheit Gottes weiser ist als die Weisheit dieser Welt (1 Kor 1). In
Jesus Christus gibt sich Gott selbst dem Menschen als der Weg, die Wahrheit und das
Leben (Joh 14,6), sodass die Menschen erst und nur in ihm „die Fülle des religiösen Le-
bens finden, in dem Gott alles mit sich versöhnt hat.“49
Satz 7: Das Wesen der nichtchristlichen Religion liegt darin, dass der endliche
Geist sich - von sich aus - ein Bild von Gott macht, das letztlich selbst
endlich sein muss. Alle religiösen Gottesbilder sind in gewisser Weise
„Projektionen“, was aber nicht ausschließt, dass sie auch „Wahres und
Heiliges“ enthalten.

b. Das Wesen der christlichen Religion


Das Wesen des Christentums besteht in der Erkenntnis, dass Gott selbst auf den Men-
schen zugeht50. Die Struktur der Religionen lag in dieser Bewegung vom Menschen hin
zu Gott: „ordo hominis ad deum“. Die Struktur des Christentums ist die umgekehrte Be-
wegung Gottes hin zum Menschen, also der „ordo Dei ad hominem“. Man kann von hier
aus verstehen, warum Karl Barth sich weigerte, das Christentum als „Religion“ zu be-
zeichnen.
Ein Einwand könnte aber lauten: Die Unterscheidung gelte nicht, da es doch auch das
Christentum eine Hinordnung, Hinbewegung auf Gott sei: In der christlichen Theologie

47 Idol = Abbild. Das sündhafte Moment der Religionen ist eine Folge der Erbsünde, die eine
natürliche vollkommene Gotteserkenntnis verhindert. Nach der Erbsünde gilt: Gott muss
sich offenbaren, um in seinem Wesen erkannt zu werden.
48 2. Vatikanisches Konzil, Nostra aetate 2: DH 4196. Je bescheidener sich die Erkenntnisfä-
higkeit des Menschen gibt, desto höher ist von christlicher Sicht diese Religiosität zu be-
werten. Z. B. in der Philosophie die demütige Erkenntnis des Sokrates: „Scio me nihil sci-
re!”; in den Religionen die Einsicht einiger östlicher Religionen, Gott nicht erkennen zu
können.
49 Ebd. 2. Vatikanisches Konzil, Nostra aetate 2: DH 4196.
50 Vgl. KKK 50-53.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 26 -

sucht doch auch der Mensch, Gott zu erkennen, und im christlichen Gebet, in der Medita-
tion usw. sucht er nach der Einheit mit Gott wie dies die Nichtchristen tun. Dagegen ist
zu antworten: Es trifft zu, dass auch der Christ auf dem Weg zu Gott ist, aber diesem sei-
nen „Hin-zu-Gott“ liegt etwas voraus und zugrunde: nämlich das „Hin-zum-Menschen“
Gottes, wie es die Offenbarung zeigt. Gott war immer schon vorher der, der uns gesucht
hat, bevor wir begonnen haben, ihn zu suchen. Die Theologie spricht hier von einem
„Prius“ der Offenbarung Gottes, um mit diesem Komparativ grammatikalisch auszudrü-
cken: Das Offenbaren Gottes ist „immer vorher“ als unser Suchen nach ihm51. Dieses
Prius nach den Formulierungen des Corpus Johanneum:
„Nicht darin besteht die Liebe, dass wir Gott geliebt haben (Mensch zu Gott), son-
dern dass er uns geliebt und seinen Sohn als Sühne für unsere Sünden gesandt hat
(Gott zum Menschen).“ (1 Joh 4,10f.)
„Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt.“ (Joh 15,16)
Zu diesem Prius kommt ein weiteres Moment: Das Streben der Religionen zu Gott ist
eine Form des „Aufstieges“, ein Hinaufgreifen in die Sphäre des Göttlichen. In allen Re-
ligionen wird ja auch als Ort Gottes das „Oben“, bzw. das „Außerhalb“ angegeben. Die
„Aszendenz“ gehört zum Wesen der Religion. Das Wesen des Christentums liegt nun
wieder in einer umgekehrten Bewegung, nämlich im Abstieg Gottes, in seiner „Deszen-
denz“. Gott, „der in unzugänglichem Licht wohnt“ (1 Tim 6,16) neigt sich in die End-
lichkeit hinab: In der Menschwerdung des Sohnes wird er sogar selbst ein „Teil“ dieser
Endlichkeit. Aus diesem Prius der Deszendenz Gottes ergeben sich drei grundlegende
Eigenschaften für das christliche Verhältnis von Gott und Welt:
1. Gott handelt initiativ: Die Initiative, der Impuls, eine letztgültige Verbindung zwischen
Endlichkeit und Unendlichkeit, Welt und Gott herzustellen, liegt auf der Seite Gottes.
Gott wird aktiv, um sich der Welt mitzuteilen. Gott gibt sich, weil es ihm selbst gefällt
und nicht weil der Mensch nach ihm verlangt52. In der Heilsgeschichte kommt dies so
zum Ausdruck, dass die Adressaten über die Offenbarung Gottes „erschrocken“ und
„verwundert“ sind, da sie von ihr gleichsam überrumpelt werden: z. B. Abraham: Gen
17; Moses: Ex 2; Samuel: 1 Sam 3; Zacharias: Lk 1,12; Maria: Lk 1,29 usw.
2. Gott handelt personal und partnerschaftlich: Gott geht auf den Menschen als ein perso-
nales, freies „Du“ zu. Wenn Gott in die Endlichkeit absteigt, dann hebt das die Freiheit

51 Karl BARTH spricht in seinem „Römerbrief” immer wieder davon, dass diese vorauslie-
gende Offenbarung Gottes „senkrecht von oben” in die Menschenwelt eingebrochen ist.
52 Vgl. 2. Vatikanisches Konzil, Dei Verbum 2: „Es hat Gott in seiner Güte und Weisheit
gefallen, sich selbst zu offenbaren und das Geheimnis seines Willens bekannt zu machen,
dass die Menschen durch Christus, das Fleisch gewordene Wort, im Heiligen Geist Zugang
zum Vater haben und der göttlichen Natur teilhaftig werden.”
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 27 -

nicht auf; Freiheit wird auch nicht von Gott bloß noch geduldet, sondern gerade die Frei-
heit ist Adressat der Offenbarung Gottes. Gott erhebt den freien Menschen zu seinem
Partner, schließt einen Bund mit ihm.
3. Gott handelt dialogisch: Der Abstieg Gottes zum Menschen ist keine Einbahnstraße.
Gerade dadurch, dass Gott sich dem Menschen gibt, eröffnet er dem Menschen einen
Weg zu Gott: Gott redet, damit der Mensch antwortet. Auf diese Weise entsteht ein
Wechselverhältnis zwischen offenbarendem Gott und antwortendem Menschen, ein Dia-
log.
Satz 8: Das Wesen des Christentums liegt im Prius des Handelns Gottes. Alle
christliche Religiosität ist (nur) Antwort auf das Zuvor des Sich-
Schenkens Gottes.

C. Christentum als Offenbarungsreligion

a. Der Begriff „Offenbarung“


Die Deszendenz Gottes, sein Sich-Zeigen in die Geschichte des Menschen hinein, wird
herkömmlich als „Offenbarung“ bezeichnet, Christentum ist demnach die Religion der
Selbstoffenbarung Gottes. Die griechischen bzw. lateinischen Bezeichnungen
(αποκαλυπτειν, αποκαλυψις, revelare, revelatio) bedeuten: „die Hülle, den Schleier
wegziehen“. Apokalypse ist demnach die „Enthüllung“. Der deutsche Terminus „Offen-
barung“ nimmt ein anderes Bild zu Hilfe: die „Bahre“, das „Aufbahren“. „Offenbaren“
meint, „etwas obenauf bahren“, sodass alle es sehen können.
Gott wohnt im „unzugänglichen Licht, so dass ihn kein Mensch je gesehen hat noch se-
hen kann“ (1 Tim 6,16). Offenbarung bedeutet nun, dass er den undurchdringlichen
Schleier zurückgezogen hat, sein Wesen enthüllt hat. Nach der Theologie der Evangelien,
vor allem des Johannes, geschieht diese letzte Enthüllung Gottes am Kreuz: wo die Hülle
des Leibes Christi durchstoßen wird und aus dem Herzen Blut und Wasser strömen (Joh
19,31-37: Gottes Liebe fließt vollständig aus in diese Welt), wo der Vorhang im Tempel
zerreißt (Mk 15,38; Lk 23,45; Mt 27,51: Gottes innerstes Heiligtum ist jetzt nicht mehr
verborgen, sondern offenbar; vgl. Hebr 10,20), wo schließlich nicht mehr ein Tuch den
Blick auf Gott verhüllt wie einst bei Moses am Horeb (Ex 34,33-35), sondern das Tuch
liegt „zusammengewickelt an einer besonderen Stelle“ (Joh 20,7).
Gott entschleiert sein Geheimnis aber nicht nur, indem er sich selbst - beginnend von Ab-
raham bis zu Christus - durch sein Heilswort oder seine Heilstaten in der Welt darstellt.
Offenbarung gibt es auch außerhalb des Christentums. Wir unterscheiden im katholischen
Verständnis drei grundlegende Arten von göttlicher Offenbarung.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 28 -

1. Die „natürliche Offenbarung“ oder „Schöpfungsoffenbarung“: Gott ermöglicht es


dem Menschen, kraft seiner geistig-vernünftigen Natur - trotz der Erbsünde - ihn aus den
Werken der Schöpfung zu erkennen. Instrument der Erkenntnis Gottes ist hier die natürli-
che Vernunft, deshalb „natürliche Offenbarung“. Einige Stellen der Schrift weisen aus-
drücklich darauf hin, dass Gott aus seinen Werken erkannt werden kann: Außer den
Psalmen 8, 19 und 24 v. a. Weish 13,1-7 und
Röm 1,20: „Denn sein unsichtbares Wesen, seine ewige Macht und Göttlichkeit sind
seit Erschaffung der Welt an seinen Werken durch die Vernunft zu erkennen!“
Das 1. Vatikanische Konzil hat 1870 in der Abwehr des Fideismus die natürliche Er-
kennbarkeit Gottes als Dogma erklärt53.
2. Die „übernatürliche“ oder „heilsgeschichtliche Offenbarung“: Gott enthüllt sich
dem Menschen in der Heilsgeschichte des Alten und Neuen Bundes; er macht so sein
ewiges Wesen und seine Ratschlüsse kund (1 Kor 2,7-10). Instrument der Erkenntnis
Gottes ist hier die von der Gnade zum Glauben erhobene Vernunft, deshalb „übernatürli-
che Offenbarung“. Die übernatürliche Offenbarung ereignet sich in zwei Stufen: im Alten
Testament offenbart Gott durch Menschen; im Neuen Testament offenbart Gott als
Mensch.
3. Die „eschatologische Offenbarung“: Gott enthüllt sich dem vollendeten Menschen
unmittelbar und gewährt ihm die selige Schau „von Angesicht zu Angesicht“. Diese letz-
te Form steht hier nicht zur Diskussion.
Satz 9: Offenbarung ist die Selbstbewegung Gottes, in der er sich dem Men-
schen aus eigener Initiative selbst erschließt. Die Theologie unterschei-
det zwischen natürlicher, heilsgeschichtlicher und eschatologischer
Gottesoffenbarung.

b. Die 7 Strukturelemente der alttestamentlichen Gottesoffenbarung


Die Tatsache, dass Gott sich von sich her offenbart, und die Weise, wie er dies tut, unter-
scheidet bereits das alttestamentliche Geschehen von anderen Religionen. Einige der
wichtigsten Charakteristika der anhebenden Selbstoffenbarung Gottes:
1. Medialität
Gott offenbart sich „medial“, d. h. er „vermittelt“ sich und gebraucht dazu auch „Mittel“
und „Mittler“. Nicht nur Propheten und Hagiographen sind die „Medien“ der Selbstof-
fenbarung Gottes, sondern auch die Erfahrungen, die Israel in der Geschichte macht. Je-
denfalls ist klar, dass Gott sich einerseits selbst zeigen will (z. B. Ex 2, brennender Dorn-

53 DH 3026
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 29 -

busch), dass aber andrerseits dieses Sich-Zeigen noch nicht in unmittelbarer Weise er-
folgt, sondern Mittler eingeschoben sind. Erst in Christus werden Mittler und Gottesof-
fenbarung identisch sein (vgl. Hebr 8,6; 9,15; 12,24).ss
2. Dialogisch
Gott offenbart sich „dialogisch“, d. h. er spricht den Menschen als seinen wahrhaftigen
Partner an, geht mit diesem Menschen sogar einen Bund ein. Die Dialogik Gottes zeigt
sich nicht nur in den ringenden Wechselgesprächen der Propheten mit Gott54, sondern in
dem Auf-und-Ab in der Beziehung zwischen Gott und seinem Volk.
3. Partikularität
Gott offenbart sich „partikulär“ bzw. „komprimiert“, d. h. er verendlicht sich, um dem
Menschen zugänglich zu werden. Im Alten Testament sehen wir das unfaßbare „Vortre-
ten des absoluten Subjekts“55, das durch sein Wort und seine Taten seine Absolutheit der
Endlichkeit preisgibt: der Wille Gottes wird durch konkrete Gesetze und Vorschriften
ausgedrückt (Torah). Unendlichkeit wird zugänglich, indem sie endlich wird; Absolutheit
wird zugänglich, indem sie konkret wird. Was unter „Partikularität“ gemeint ist, zeigt
sich auch darin, dass - zum Skandal für alle anderen Völker - dieses absolute göttliche
Subjekt an ein einziges kleines Volk binden möchte: der konkrete Bund Gottes mit dem
einen Volk meint aber zugleich das umfassende Heil für alle.
4. Geschichtlich
Gott offenbart sich „geschichtsmächtig“, d. h. er agiert in der Geschichte dieses Volkes.
Mehr als ein Drittel der ersttestamentlichen Bücher sind Geschichtsliteratur. Gott offen-
bart sich, indem er in der Geschichte Israels mitredet, mitentscheidet. Die hebräische
Sprache drückt dies so aus, dass Gott sich durch seine „dabar“ offenbart: „dabar“ bedeu-
tet zugleich „Wort“ und „Tat“.
5. Pädagogik
Gott offenbart sich „pädagogisch“, d. h. er erzieht Israel, ihn so zu akzeptieren, wie Er ist.
In erster Linie soll Israel allen selbstmächtigen Versuchen abschwören, sich selbst ein
Bildnis von Gott zu schaffen. Israel muss lernen, das Prius des Sich-Gebens Gottes anzu-
nehmen (vgl. das täglich zu betende Bekenntnis „Schema Jisrael“ Dtn 6,4). Diese Päda-
gogik beinhaltet auch den „Zorn Gottes“. Der Zorn und die Eifersucht des sein Volk er-
ziehenden Gottes ist aber eine Modalität seiner Liebe. Nur wer liebt, eifert und zürnt. Die
Kirche lehnt die Irrlehre des Markion im 2. Jahrhundert ab, der im Alten Testament die

54 Z. B. Abraham, der mit Gott um Sodom feilscht; Jona, der Gott nicht gehorchen möchte;
Jeremia, der sich seiner Berufung verweigern möchte usw.
55 H. U. V. BALTHASAR, Herrlichkeit 3/2/1, 15
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 30 -

Offenbarung eines zornig-bösen Gottes sehen wollte, im Neuen Testament aber die des
liebenden Gottes. Es ist derselbe liebende Gott, der einst sein treuloses Volk strafte, der
in der Fülle der Zeit diesen seinen Zorn auch nicht „unter den Tisch kehrt“, sondern an
sich selbst erleiden möchte: an seinem Sohn am Kreuz.
6. In der Enthüllung verhüllt
Gott offenbart sich in einer „Dialektik von Enthüllung und Verhüllung“, d. h. je mehr er
von sich enthüllt, desto geheimnisvoller erscheint er den Menschen. Die Enthüllung Got-
tes führt gerade nicht dazu, dass der Mensch dadurch Gottes habhaft wird, alles über Gott
wüßte. Der offenbare Gott ist kein gelöstes Kreuzworträtsel. Vielmehr gibt es ein dialek-
tisches Wechselspiel: Je näher Gott dem Menschen kommt, desto unnahbarer und ferner
erscheint er ihm. Das „Bild“, das Gott von sich gibt, besteht im Nicht-Bild (Ex 20,4). Das
Schauen Gottes besteht im Nicht-Schauen-Können: Moses muss sein Angesicht verhül-
len, um Gott gegenübertreten zu können (Ex 34,33-35).
7. Linear eschatologisch
Gott offenbart sich, indem er Hoffnung auf eine heile Zukunft und insbesondere auf ei-
nen endzeitlichen Heilsmittler (Messias) gibt. Die heidnische Zeitvorstellung ist geprägt
von dem immer wiederkehrenden Zyklus der Jahreszeiten und des Lebensablaufes (ge-
zeugt werden - wachsen - gebären - sterben usw.), sie ist in sich gefangen und zukunfts-
los. Im Unterschied dazu hat Israel aus seiner Begegnung mit Gott heraus „Geschichte“:
es lebt aus jener Begegnung mit Gott heraus, die den Vätern einst in der Vergangenheit
widerfahren ist, es schöpft daraus Kraft für die Gegenwart und es erwartet, dass Gott
selbst einmal in der Zukunft die Geschicke seines Volkes in die Hand nehmen wird. Im
Unterschied zu dem paganen Zeitgefühl kennt Israel also das Ausgespanntsein zwischen
einer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Dem Zyklus steht die lineare Ausrichtung
gegenüber, wobei das futurische Moment, die Hinordnung auf eine große, heile Zukunft
das Charakteristische ist. Israel lebt geistig von der Kategorie des „Noch-Nicht“ (Ernst
Bloch). Die Erwartung eines zukünftigen göttlichen Heiles in der Geschichte macht Israel
zum „Volk der Hoffnung“56. Ein wesentlicher Aspekt dieser futurischen Grundoption
Israels ist die Hoffnung auf einen „meshiach“, einen von Gott gesandten Heilsmittler.
Der Ausdruck kommt zwar nur 38mal vor und es wäre folglich unrichtig, das ganze Alte

56 Vgl. E. BLOCH, Gesamtausgabe Bd. 5: Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt 1959; J. Molt-
mann, Im Gespräch mit Ernst Bloch, München 1976; J. MOLTMANN, Theologie der
Hoffnung. Untersuchungen zur Begründung und zu den Konsequenzen einer christlichen
Eschatologie, München 1964; E. FEIL, Marxistischer Denker der Hoffnung. Zum Tod von
Ernst Bloch, in: Herder Korrespondenz 31 (1977) 478-481.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 31 -

Testament nur als Ankündigung des Messias zu verstehen57, doch macht der Begriff doch
klar, dass Israel stets mit dem konkreten geschichtliche Eingreifen Gottes rechnet, dass
die Heilssehnsüchte dieses Volkes sich in einem besonderen Punkt kristallisieren werden.
Satz 10: Die Haupteigenschaften der altestamentlichen Gottesoffenbarung sind
die Institution von Mittlerpersonen, die dialogische Bundesbeziehung,
die Erwählung eines partikulären Volkes, die Geschichtsereignisse als
Pädagogik Gottes, die Steigerung des Mysteriums durch dessen Ent-
hüllung und die eschatologische Hinordnung auf ein von Gott gesetztes
Heil (Messias).

c. Die Inkarnation im biblischen und im hellenistischen Verständnis


1. Aktualistisches und ontologisches Denken
Die Struktur der neutestamentlichen Gottesoffenbarung bringt die alttestamentliche zur
Erfüllung darin, dass hier Gott selbst „die Bühne der Welt“ betritt. Er tut dies in Jesus
Christus, seinem Sohn.
„Vielmals und auf mancherlei Art hatte Gott von alters her zu den Vätern gesprochen
durch die Propheten. In der Endzeit dieser Tage hat er zu uns gesprochen durch den
Sohn, den er zum Erben des Alls eingesetzt, durch den er auch die Welten geschaffen
hat. Er, der der Abglanz seiner Herrlichkeit und Ausprägung seines Wesens ist, der
auch das All trägt durch sein machtvolles Wort, hat Reinigung von den Sünden voll-
bracht und sich zur Rechten der Majestät in der Höhe gesetzt…“ (Hebr 1,1-3)
Der zentrale Satz, die gleichsam „theologischste“ Formulierung, die dieses endzeitliche
Sprechen Gottes „durch den Sohn“ ausdrückt, findet sich im Prolog des Johannesevange-
liums, Joh 1,14: και ο λογος σαρξ εγενετο και εσκηνωσεν εν ηµιν - et verbum caro
factum est et habitavit in nobis. Im Anschluß an die lateinische Ausdrucksweise (verbum-
caro-factum) nennt die Theologie das Geschehnis, dass Gottes Sohn Mensch wurde, um
unser Heil zu wirken „Inkarnation“, d. h. „Fleisch- oder Menschwerdung“58. Und wenn
die Theologie von Jesus Christus unter der Hinsicht spricht, dass er der menschgeworde-
ne Gott ist, so nennt sie ihn „Verbum-Caro“, den „inkarnierten Logos“ oder einfach das
„fleischgewordene Wort“.
Was ist unter „Fleischwerdung des Wortes“, gemeint? Was ist darunter zu verstehen,
dass der Logos zur Sarx wurde, das Verbum zur Caro? An dieser Stelle ist vor allem zu

57 Vgl. H. GAZELLES, Alttestamentliche Christologie. Zur Geschichte der Messiasidee, Ein-


siedeln 1983; E. ZENGER, Jesus von Nazaret und die messianischen Hoffnungen des alt-
testamentlichen Israel, in: W. Kasper (Hrsg.), Christologische Schwerpunkte, Düsseldorf
1980, 37-78.
58 KKK 461ff.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 32 -

fragen, was Johannes unter „Logos“ versteht. Hier ist zu beachten, dass sich in der theo-
logischen Interpretation immer zwei grundsätzliche Weisen der Betrachtung ergeben, die
voneinander oft unterschieden sind: die jüdische und die hellenistische Auffassung.
Die jüdische Fragestellung bezieht sich immer auf das Handeln und Wirken einer Sa-
che: Was tut es, was bringt es mir, was habe ich davon. Biblisch-jüdisches Denken ist
aktualistisch. (Was ist es für mich? Was bringt es mir? Was habe ich davon, wie wirkt es
sich aus?)
Die hellenistische Fragestellung ist im eigentlichen Sinn philosophisch und metaphy-
isch: Was steckt dahinter, dass es so ist wie es ist (meta-physisch: was ist hinter seiner
Natur); wie ist sein Wesen, seine Substanz usw.
Satz 11: Jüdisches Denken ist aktualistisch und effektbezogen, hellenistisches
Denken ist ontologisch und metaphysisch.

2. Zwei Sichtweisen von Inkarnation


Der johanneische Satz vom Logos, der zur Sarx geworden ist, ist eindeutig von beiden
Denkformen geprägt und beeinflußt, sodass beide - jüdische und hellenistische - Denk-
form zu berücksichtigen sind:
1. Im alttestamentlich-jüdischen Verständnis ist „Verbum-Caro“ vom hebräischen
„dabar“ her zu verstehen. Dabar ist nicht nur das gesprochene Wort (siehe oben), sondern
es bezeichnet das geschichtliche Handeln Gottes selbst. In dieser Interpretation wäre un-
ter Joh 1,14 also zu verstehen: Das Handeln Gottes Jahwes an seinem Volk verdichtet
sich, konkretisiert sich, wird greifbar, sichtbar in der Person und im Handeln Jesu. Gott
handelt in Jesus, seiner konkreten dabar, an seinem Volk. Typisch „jüdisch“, die Antwort
die Jesus in Mt 11,5 (Lk 7,22) auf die Frage gibt, wer er sei. Er verweist auf sein Wirken,
seine Taten, die sein Wesen offenbaren: „Blinde sehen, Lahme gehen…“
2. Im hellenistisch-philosophischen Verständnis, durch das der Johannesprolog
beeinflußt ist (Philo von Alexandrien) bezeichnet „Logos“ etwas spezifisch Göttliches59.
Nach der griechischen Vorstellung gibt es einen ewigen göttlichen Geist (Nous), der aus
sich heraustreten kann. Dieses Heraustreten Gottes aus sich selbst wird „Logos“ genannt.
Logos bezeichnet also die Weise, in der die göttliche Einheit zur Welt hin „eine Brücke
schlägt“; Logos ist eine Form der göttlichen Substanz. „Verbum-Caro“ heißt dann, dass
der göttliche Logos sich in der Begrenztheit des Fleisches mitten in der Welt konkreti-
siert. Gott wird zum „Faktum“ dieser Welt. Die griechische Auffassung der Inkarnation
ist also mehr ontologisch: dass es wirklich die Wesenheit Gottes ist, die in Jesus Christus

59 Vgl. H. MÜHLEN, Die Veränderlichkeit Gottes als Horizont einer zukünftigen Christolo-
gie, Münster 1969.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 33 -

(„dem Sohn“) erschienen ist: „Wer mich sieht, sieht den, der mich gesandt hat!“ (Joh
12,45).
Die Gemeinsamkeit der beiden Interpretationsweisen liegt in der Bewegung: Das göttli-
che Handeln wird zum angreifbaren geschichtlichen Faktum; die ewige Substanz wird
zum endlichen Menschen: Gott selbst tritt in die Geschichte ein, wird Akteur auf der
Bühne dieser Welt, um sein verborgenes Wesen letztgültig zu offenbaren.
Satz 12: Die Fleischwerdung des Logos wird im biblischen Denken als die letzt-
rettende Tat Gottes (dabar) verstanden, im hellenistischen Denken als
Verendlichung der göttlichen Substanz.

Bitte unbedingt den Unterschied zwischen biblisch-jüdischem Denken (= aktualisti-


schem, „Was bedeutet es für mich“) und „hellenistischem“ Denken (= substanzontolo-
gisch, „Was ist es in sich“) merken:
Denn nach biblisch-jüdischem Verständnis bezeichnet der johanneische Ausdruck „Ver-
bum-Caro“ das unüberbietbare erlösende Handeln Gottes in Jesus Christus. Nach helle-
nistisch-philosophischem Verständnis meint „Verbum-Caro“ aus, dass Gott selbst es sei-
nem Wesen nach ist, der in Jesus Christus handelt.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 34 -

3. Das Verhältnis von Glauben und Wissen: „Fides et Ratio“

A. Das neuzeitliche Problem mit dem Glauben

Bisher wurde klargestellt, dass der Mensch von sich aus „religiös“ ist; dass diese Religio-
sität nicht ins Leere geht, nicht bloß Wunschdenken ist, sondern dass Gott sich von sich
aus dem Menschen zuneigt. Offenbarung ist dieses Phänomen des Zuneigens Gottes. A-
ber auch diese geht nicht ins Leere, sondern sie zielt auf eine Antwort des Menschen her
ab. Gott möchte, dass der Mensch auf seine Zuwendung „re-agiert“, dass er Liebe mit
Liebe beantwortet. Die von Gott erwirkte und eingeforderte Reaktion des Menschen ist
der Glaube.
Die Neuzeit hat mit dem Akt des Glaubens durchaus Probleme, denn Gegenstand und
Ursache dieses menschlichen Verhaltens ist ja das Handeln Gottes, seine Offenbarung,
also etwas Übernatürliches. Eine übernatürliche Ursache jedoch paßt nicht in ein aufge-
klärtes Weltbild. Immanuel Kant und mit ihm die Philosophie des 17. und 18. Jahrhun-
derts sieht im Glauben eine Form der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“. Die Aufklä-
rung möchte allein die Vernunft als oberstes Kriterium der Erkenntnis sehen (Rationalis-
mus: „Wahr ist nur, was vernünftig ist!“). Noch einen Schritt weiter geht die materialisti-
sche Weltanschauung ab dem 19. Jahrhundert: Auch die denkende Vernunft kann irren,
deshalb darf aus Prinzip nur das gelten, was man statistisch quantitativ erfassen kann, das
was der empirischen Erkenntnis zugänglich ist, was meßbar und zählbar ist (Naturwis-
senschaft: „Wahr ist nur, was man empirisch beweisen kann!“). Auf der anderen Seite
gab es in der evangelischen und teilweise auch in der katholischen Theologie eine Ge-
genbewegung zu diesen Rationalismen: Der Vernunft wurde die Fähigkeit zur Wahr-
heitserkenntnis gänzlich abgesprochen, allein der Glaube könne zur letztgültigen Er-
kenntnis der Wahrheit gelangen (Fideismus: „Das kann man nur glauben!“).
Alle diese Auffassungen widersprechen dem christlichen Glaubensbegriff. Glaube ist
sowohl übernatürlich als auch vernünftig. Seit der Aufklärung lautet daher die große
Problemstellung für die Theologen: Wie ist das Verhältnis zwischen Glauben und Wis-
sen, Glauben und Vernunft? Kann man vernünftig glauben? Bis in die Zeit vor dem 2.
Vatikanische Konzil hat diese Frage die größten Theologen des Jahrhunderts umgetrie-
ben60. Die neuscholastische Theologie war sogar soweit gegangen, den Glaubensakt de-
tailliert analysieren zu wollen (Analysis fidei).

60 Z. B. Rahner, Guardini, Balthasar, Söhngen usw. Vgl. A. LIEGÉ, Der Glaube, in: Die ka-
tholische Glaubenswelt, Bd. 2, 396-445; A. KOLPING, Einfühung in die katholische
Theologie, Münster 1963, 97-104.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 35 -

Satz 13: Der Rationalismus der Aufklärung und der Empirismus der Naturwis-
senschaften lehnen „Glauben“ als Form der Wahrheitserkenntnis ab.
Der Fideismus verfällt ins andere Extrem und möchte ohne Vernunft
auskommen.

B. Biblischer und griechischer Glaubensbegriff

a. Der biblische Glaubensbegriff


Ein gängiges, sprichwörtlich gewordenes Vorurteil lautet: „Glauben heißt: nichts wis-
sen!“ Zunächst soll vom biblischen Glaubensbegriff her festgehalten werden, dass „glau-
ben“ zunächst sehr wohl etwas mit „wissen“ zu tun hat, dass dieses „Wissen“ aber auch
einen ganzmenschlichen Akt umfaßt: den Akt des Vertrauens auf Gott als Herren über
Leben und Tod, Himmel und Erde. Im Zentrum des biblischen Glaubensbegriffes steht
das Vertrauen auf die unsichtbare Wahrheit:
Hebr 11,1: „Der Glaube ist das feste Vertrauen auf das Erhoffte, ein Überzeugtsein
von dem, was man nicht sieht.“
Joh 20,19: „Selig, die nicht sehen und doch glauben!“
Unter Glaube (πιστις) versteht die Schrift aber keineswegs ein verstandeslos, blindes
Vertrauen. Vielmehr bedeutet glauben, wie es vor allem bei Paulus begegnet, die Hinga-
be des ganzen Menschen - mit Verstand und Willen - an eine Wahrheit, die von Gott
gleichsam garantiert wird. Für Paulus ist diese ganzmenschliche Glaubenshingabe die
Voraussetzung unserer Rechtfertigung: Nicht Werke machen den Menschen vor Gott ge-
recht, sondern allein der Glaube (Röm 1,17; Gal 3,11; Hebr 10,38 im Anschluß an Hab
2,4). „Glauben“ bezieht sich im Neuen Testament auch stets auf einen bestimmten Inhalt,
vor allem an die Auferweckung Christi, an sein „Herr-Sein“. Paulus nennt ja diesen zent-
ralen Inhalt „sein Evangelium“ (1 Kor 15,1). So lautet eine alte Formel, die er im Römer-
brief zitiert:
Röm 10,9f.: „Wenn du mit deinem Mund Jesus als den Herrn bekennst und in deinem
Herzen glaubst, dass Gott ihn von den Toten auferweckt hat, wirst du gerettet werden.
Denn mit dem Herzen glaubt man zur Gerechtigkeit, und mit dem Mund bekennt man
zum Heil.“
Insgesamt ist festzustellen, dass im biblischen Verständnis von „glauben“ der personale
Akt des Menschen, seine Hingabe an Gott betont wird. Dies entspricht dem semitischen
Denken, dem es - aktualistisch - immer auf die Handlung und deren Wirkung ankommt.
Wendet man hier die klassische Unterscheidung von fides quae (Glaubensinhalt) und fi-
des qua (Glaubensakt) an, so liegt die Betonung eindeutig auf letzterem.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 36 -

b. Der hellenisierte Glaubensbegriff


Mit der Übernahme der Kulturform der Griechen in die Kirche verändert sich auch die
Denkform. Die hellenistische Philosophie ist ja stets an der intellektuellen Seite einer
Sache, ihrem „Warum ist es“ und „Was ist es in sich“ interessiert. Das Interesse konzent-
riert sich jetzt auf den Inhalt des Glaubens. Es genügt nicht mehr, dass geglaubt wird,
sondern von Bedeutung wird immer mehr, was geglaubt wird. Den Griechen geht es
mehr um die fides quae, um das kognitive Moment. Und je mehr die ersten hellenisti-
schen Philosophen - angefangen von Origenes - aus der biblischen Sprache eine intellek-
tuelle, begriffliche Theologie formen, desto wichtiger wird, welche Inhalte im einzelnen
geglaubt werden.
Genügte für Paulus noch ein Bekenntnis zu Christus als dem Herrn, um gerettet zu wer-
den (Röm 10,9f.), so wird es jetzt als heilsentscheidend angesehen, das Richtige zu be-
kennen. Um richtig glauben zu können, muss man auch theologisch richtig erkannt haben
und sich zur richtigen Formulierung bekennen. Einschneidend für dieses Verständnis von
Glauben ist die Tatsache, dass 325 das 1. Ökumenische Konzil von Nikaia eine dogmati-
sche Glaubensformel, das nizänische Symbolum, vorlegt. Bezeichnend ist, dass diese
Lehrformel einfach „der Glaube“ genannt wird: die „fides“ von Nikaia,
η πιστις η κατα Νικαιαν. Auch im Deutschen gab es den Ausdruck „Beten wir den
Glauben!“, der verrät, dass hier „glauben“ und „Glaubensformel“ einfach gleichgesetzt
werden.
Im Laufe der Jahrhunderte trat auf diese Weise eine immer stärkere Verengung des Beg-
riffes „Glauben“ ein, sodass darunter nur mehr ein intellektuelles Fürwahrhalten61 be-
stimmter übernatürlicher Lehren und Sachverhalte verstanden wurde. Die Seite des Ge-
mütes, der ganzmenschlichen Hingabe, also die fides qua wurde vernachlässigt.
Satz 14: Der biblische Glaubensbegriff ist mehr affektiv im Sinn von „Vertrau-
en“; der hellenistische Glaubensbegriff ist mehr kognitiv im Sinn von
„Fürwahrhalten“ bestimmter Heilslehren zu verstehen.

C. Die Definition des kirchlichen Glaubensbegriffs

a. Elemente des Glaubensbegriffes


1. Glauben heißt nicht „meinen“. Im täglichen Sprachgebrauch wird Glauben oft im
Sinne von „meinen“ gebraucht: „Ich glaube, dass das Wetter schön bleibt.“ Dem „Mei-
nen“ steht aber das „Wissen“ gegenüber, denn dieses bedeutet ja, sich verstehend einer

61 So die Definition, die das 1. Vatikanische Konzil in der Konstitution „Dei Filius” gibt:
Glauben ist das Annehmen, dass das von Gott Geoffenbarte wahr ist (DH 3008).
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 37 -

Sache gewiß sein. Würde das Vokabel „glauben“ im Sinn von „meinen“ aufgefaßt wer-
den, dann hieße Glauben wirklich „nichts wissen“. Aber wenn die Theologie von „glau-
ben“ spricht, dann in einem ganz anderen Sinn. Die Bedeutung von „meinen“ ist für den
Glaubensbegriff auszuschließen.
2. Glaube ist die vernünftige Übernahme von Fremdeinsicht. Das Fürwahrhalten einer
Sache kann sich auf die eigene Einsicht stützen. Hier ist es die Evidenz der Sache selbst,
die mich zum Erkennen nötigt. Aber viele Dinge muss ich Fürwahrhalten, ohne dass sie
mir selbst unmittelbar evident sind. So ist einem Nicht-Reisenden die eigene Einsicht in
das Vorhandensein des Kontinents Amerika verwehrt. Er muss sich auf die Zeugenschaft
anderer stützen. Dennoch wird ihm die Existenz Amerikas nicht weniger gewiß sein als
die Existenz seiner Schuhe. Dies ist ein wesentlicher Aspekt des theologischen Glau-
bensbegriffes: Gewisses Fürwahrhalten aufgrund der Einsicht eines anderen erkennenden
Wesens. Zum Glauben gehört die Übernahme von Fremdeinsicht.
3. Glaube gründet in der Glaubwürdigkeit des Verkündigers. Wenn Glaube also die
Übernahme fremder Erkenntnis ist, so werde ich dessen Erkenntnis nur annehmen, wenn
er mir selbst vertrauenswürdig, glaubwürdig erscheint. Der entscheidende Grund dafür,
dass ich ihm glaube, liegt in seiner Glaubwürdigkeit (Kredibilität, credibilitas). D. h. a-
ber, dass ich, um ihm glauben zu können, erkannt haben muss, dass er die Fähigkeit und
Autorität hat, solches mitzuteilen. Glaube ist also die in der Kredibilität des Verkündigers
begründete Übernahme von Fremdeinsicht.
4. Glaube ist ein personal freier Willensakt. Die Existenz meiner Schuhe anzuerkennen
zwingt mich die Evidenz der Eigeneinsicht. Es gibt hier gleichsam keine Möglichkeit,
sich dieser Erkenntnis zu verweigern. Anders ist dies jedoch bei der Übernahme von
Fremdeinsicht, hier spielt das Wollen eine entscheidende Rolle. Augustinus sagt:
„Cetera potest facere homo nolens, credere non nisi volens! - Alles andere kann der
Mensch tun auch ohne zu wollen, glauben aber kann er nur, wenn er will!“62
Der Wille muss gleichsam dem Verstand befehlen, die von fremder Hand vermittelten
Einsichten zu ergreifen. Matthias Joseph Scheeben: Der Glaube ist ein „assensus“ (Zu-
stimmung des Verstandes) aufgrund eines „consensus“ (Übereinstimmung des Willens)
mit einer glaubwürdigen Person. Der Glaubenskonsens, also die willentliche Komponen-
te, macht den Glaubensakt deshalb zu einer freien Handlung. Auch wenn die Glaubens-
evidenz so wäre, dass der Verstand fasziniert und überwältigt ist, so bliebe dem Men-
schen immer noch die Freiheit, willentlich diese Glaubenserkenntnis abzulehnen. Damit
ist sichergestellt, dass der Glaube immer ein freier, personaler Akt ist. Diese bleibende
Freiheit im Glauben macht die Glaubenstreue letztlich zu einem verdienstvollen Tun.

62 AUGUSTINUS, Tractatus 26 in Ioannem


Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 38 -

Diese Freiheit zum Ja oder Nein gegenüber Gott macht die Würde der menschlichen Per-
son aus. Alle Menschen - und insbesondere der Staat - sind verpflichtet, diese Glaubens-
freiheit bzw. „Religionsfreiheit“ zu respektieren, wie das 2. Vatikanische Konzil lehrt,
sodass „niemand gegen seinen Willen zur Annahme des Glaubens gezwungen werden
darf“. Es entspricht nämlich „völlig der Wesensart des Glaubens, dass in religiösen Din-
gen jede Art von Zwang von seiten der Menschen ausgeschlossen ist.“63
5. Glauben in diesem Sinn ist nichts außergewöhnliches, denn die begründete Über-
nahme von Fremdeinsicht ist eine Selbstverständlichkeit im alltäglichen Leben. Ohne
Wissenserwerb aufgrund dessen, dass wir anderen Vertrauen schenken, uns von fremder
Einsicht leiten lassen, könnten wir im alltäglichen Leben nicht bestehen.
6. Der, dem geglaubt wird, ist Gott selbst. Ist Glaube also die begründete Übernahme
fremder Einsicht, ein personaler Willensakt, der in der Glaubwürdigkeit des Verkündi-
gers gründet, dann ist noch zu fragen, wer eigentlich der „Fremde“ ist, dem hier geglaubt
werden soll. Die Antwort: Gott selbst. Glaube ist die Übernahme dessen, was Gott von
sich offenbart aufgrund der Glaubwürdigkeit Gottes selbst. Daraus wird freilich auch er-
sichtlich, dass die Struktur des Glaubens zirkulär ist: Wir Glauben Gott aufgrund seiner
selbst: credimus Deo propter Deum.
Satz 15: Glauben im theologischen Sinn hat nichts mit bloßem „meinen“ zu tun,
denn es handelt sich um die begründete freie Übernahme von Fremd-
einsicht aufgrund der Glaubwürdigkeit des Verkünders und der Auto-
rität Gottes.

b. Die kirchliche Definition des theologischen Glaubens


Das 1. Vatikanische Konzil betont in der Konstitution „Dei Filius“, dass der Glaube sei-
nen letzten Grund in der Autorität Gottes hat:
„Cum homo a Deo tamquam creatore et Domino suo totus dependeat et ratio
creata increatae Veritati penitus subiecta sit, (1) plenum revelanti Deo intellec-
tus et voluntatis obsequium fide praestare tenemur. Hanc vero fidem, quae hu-
manae salutis initium est, Eclesia catholica profitetur, virtutem esse supernatu-
ralem, qua, Dei aspirante et adiuvante gratia, ab eo (2) revelata vera esse credi-
mus, non propter intrinsecam rerum veritatem naturali rationis lumine perspec-
tam, sed (3) propter auctoritatem ipsius Dei revelantis, qui nec falli nec fallere
potest. ‘Est enim fides, testante Apostolo, sperandarum substantia rerum, ar-
gumentum non apparentium’ (Hebr 11,1).
Da der Mensch ganz von Gott als seinem Schöpfer und Herrn abhängt und die ge-
schaffene Vernunft der ungeschaffenen Wahrheit völlig unterworfen ist, sind wir

63 2. Vatikanisches Konzil, Dignitatis humanae 10: DH 4245.


Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 39 -

gehalten, dem offenbarenden Gott im Glauben (1) vollen Gehorsam des Verstandes
und des Willens zu leisten. Dieser Glaube aber, der der Anfang des menschlichen
Heiles ist, ist nach dem Bekenntnis der katholischen Kirche eine übernatürliche Tu-
gend, durch die wir mit Unterstützung und Hilfe der Gnade Gottes glauben, dass das
von ihm (2) Geoffenbarte wahr ist, nicht [etwa] wegen der vom natürlichen Licht
der Vernunft durchschauten inneren Wahrheit der Dinge, sondern (3) wegen der Au-
torität des offenbarenden Gottes selbst, der weder sich täuschen noch täuschen
kann. ‘Der Glaube ist nämlich’ nach dem Zeugnis des Apostels ‘die Gewißheit zu
erhoffender Dinge, der Beweis des nicht Sichtbaren’ (Hebr 11,1).“64 (DH 3008)
Wieder lässt sich die Zirkelstruktur klar erkennen: Der glaubt Gott wegen der Autorität
Gottes selbst. Diese Zirkelstruktur wird auch dadurch ausgedrückt, dass der Glaube eine
„übernatürliche Tugend“ genannt wird, also etwas, das letztlich nicht in der Natürlichkeit
und der bloßen Vernünftigkeit gründet. Im einzelnen sind folgende drei Eigenschaften
des Glaubens von Interesse.
1. Glaube wird als Gehorsam verstanden, der Intellekt und Willen umfasst. Entschei-
dend ist der personale Aspekt: Dieser Gehorsam wird nicht blind geleistet, sondern ist
gleichsam die Reaktion auf die Offenbarung Gottes. Er gilt deshalb „revelanti Deo“, dem
offenbarenden Gott.
2. Glaube ist ein Fürwahrhalten der „revelata“ (Nominativ Plural!), also der einzelnen
Offenbarungsinhalte. Hier kommt die hellenistische Verkürzung des Glaubensbegriffes
auf bloßes Fürwahrhalten von Dogmen und Lehren zum Tragen.
3. Glaube ist „vernünftig“ und verantwortbar, weil er in der Wahrheit Gottes selbst be-
gründet ist. Gottes Glaubwürdigkeit ist Garant der Vernunftmäßigkeit des Glaubens, da
Gott weder sich täuschen noch täuschen kann. Die „Autorität“ Gottes begründet im letz-
ten die Wahrheit des Geglaubten und damit auch Sinnhaftigkeit des Glaubens.
Satz 16: Glaube ist nach der Lehre der Kirche der Gehorsam des Willens und
des Verstandes gegenüber dem sich offenbarenden Gott. Glaube ist
vernünftig, da er in der Autorität des absolut wahren Gottes begründet
ist.

c. Der Glaubensakt ist ein freier gesamtmenschlicher Akt


Die theologische Definition des Glaubens, wie das 1. Vatikanum sie vorlegt, ist in ihrer
Logik zwar unumstritten, sie klammert jedoch die eigentliche geistliche Tiefe des Glau-
bens aus. Glaube ist wesentlich nicht nur die - vor der Vernunft legitimierbare - Akzep-
tanz von Glaubenswahrheiten. Glaube ist das gnadenhaft geschenkte freie und befreiende

64 1. Vatikanisches Konzil, Dei Filius: DH 3008.


Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 40 -

Vertrauen in die Wahrheit Gottes; und diese Wahrheit hat sich in der Liebe Christi zu uns
eröffnet. Paulus kann deshalb schreiben:
„Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir. Soweit ich aber jetzt noch in die-
ser Welt lebe, lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für
mich hingegeben hat.“ (Gal 2,20)
In der Erklärung über die Religionsfreiheit gibt das 2. Vatikanische Konzil eine Vertie-
fung des Glaubensverständnisses, indem es erstens betont, dass der Glaube den Charakter
einer Antwort hat. Glaube ist nicht die phantasievolle Selbstproduktion von religiösen
Vorstellungen, sondern Glaube ist Antwort auf das Wort Gottes. Zweitens wird der
Glaube ein „Anhangen“ an Gott genannt, also ein ganzmenschliches Tun, nicht bloß ein
intellektuelles Akzeptieren von göttlichen Lehrsätzen. Der Glaube ist somit nicht nur ein
„actus hominis“ (wie z. B. das Denken), sondern es ist mehr: ein Tun, das alle Dimensi-
onen des Menschseins umfaßt, und an dem sich die Menschlichkeit des Menschen eigent-
lich erst bemißt: ein „actus humanus“. Dass das Konzil hierbei besonders die Freiwillig-
keit des Glaubensaktes betont, ist durchaus nichts Innovatives, sondern entspricht der
klassischen Lehre der Kirche:
„Es ist ein Hauptbestandteil der katholischen Lehre, in Gottes Wort enthalten und von
den Vätern ständig verkündet, dass der Mensch freiwillig durch seinen Glauben Gott
antworten soll, dass dementsprechend niemand gegen seinen Willen zur Annahme
des Glaubens gezwungen werden darf. Denn der Glaubensakt ist seiner Natur nach
ein freier Akt, da der Mensch, von seinem Erlöser Christus losgekauft und zur An-
nahme an Sohnes Statt durch Jesus Christus berufen, dem sich offenbarenden Gott
nicht anhangen könnte, wenn er nicht, indem der Vater ihn zieht, Gott einen ver-
nunftgemäßen und freien Glaubensgehorsam leisten würde. Es entspricht also völlig
der Wesensart des Glaubens, dass in religiösen Dingen jede Art von Zwang von
seiten der Menschen ausgeschlossen ist.“65
Satz 17: Der Glaube an den offenbarenden Gott ist ein „actus humanus“, der al-
le Dimensionen des Menschen umfasst: Verstand und Herz, Geist und
Leib.

65 2. Vatikanisches Konzil, Dignitatis humanae 10: DH 4245. Auf dem 1. Vatikanischen


Konzil wurde die Behauptung, der Glaubensakt sei „keine freie Zustimmung, sondern
werde durch Beweise der menschlichen Vernunft notwendig hervorgebracht” mit dem A-
nathem belegt (DH 3035).
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 41 -

4. Theologie als Auswortung des Glaubens

A. Der Begriff der wissenschaftlichen Theologie

a. Wissenswertes zum Ausdruck „Theologie“

Etymologisch bedeutet Theologie „Rede über Gott“ (περι του θεου λογος). „Logos“
bezeichnet in der Antike eine in sich systematisch gegliederte Rede, also eine sinnvolle
Rede. Logos bezeichnet daher das, was innerlich zusammenhängt, das „Sinnhafte“. Zu-
nächst bezeichnet Theologie also jede sinnhafte Rede über Göttliches oder über Gott66.
Im spezifisch christlichen Sinn müßte man sogar besser von „Theo-Logik“ sprechen,
denn es geht hier ja nicht um irgendeine Rede über Gott, sondern es geht um die „Logik
Gottes“, die Er seinen Geschöpfen offenbart. So nennt Hans Urs von Balthasar den 3.
Teil seiner Trilogie auch „Theologik“. Entscheidend ist, dass es mehr um ein Reden, das
von Gott her kommt, geht, als um ein Selbst-Denken Gottes67.
Von seiner Geschichte her wurde der Ausdruck „theologia“ in der Antike als Bezeich-
nung für mythische Erzählungen verwendet. Alles religiöse Poesie, die über die Götter
oder über Göttliches handelte, war den Griechen „Theologie“. Theologie ist für sie My-
thologie68. Die großen Mythendichter werden deshalb Theologen genannt: Hesiod, Ho-
mer, Orpheus. Auch Plato, dessen Philosophie stark auf das Göttliche, den göttlichen ei-
nen Geist konzentriert ist, wird Theologe genannt69.
Für die frühen Christen war das Vokabel „Theologie“ - wie viele andere Ausdrücke auch
- heidnisch belastet, sodass sie es nur zögernd verwendeten. Tertullian und Augustinus
reden durchaus noch im abwertenden Sinn von „Theologie“, indem sie darunter heidni-
sche Götterdarstellungen bezeichnen. . Ab dem 4./5. Jahrhundert bürgert sich vom Osten

66 AUGUSTINUS, De Civitate Dei VIII, 1: Theologia, quo verbo graeco significari intelligi-
mus de divinitate rationem sive sermonem.
67 Vgl. J. RATZINGER, Wesen und Auftrag der Theologie. Versuche zu ihrer Ortsbestim-
mung im Disput der Gegenwart, Einsiedeln 1993; A. NOSSOL, Der Mensch braucht Theo-
logie, Einsiedeln 1986.
68 F. KATTENBUSCH, Die Entstehung einer christlichen Theologie. Zur Geschichte der
Ausdrücke theologica, theologia, in: ZThK (NF) 11 (1930) 159-205.
69 Aristoteles hingegen wird bezeichnenderweise nie Theologe genannt; er spottet auch über
die „Theologen” und meint damit die Mythendichter: A. KOLPING, Einführung in die ka-
tholische Theologie, Münster 1963, 17ff.; P. EICHER, Theologie. Einführung in das Stu-
dium, München 1980, 46-54. Aristoteles teilte seine Philosophie in drei Teile: Mathematik,
Physik und Metaphysik (=„das, was nach der Naturbetrachtung kommt”). Der dritte Teil
handelt philosophisch über Gott. „Theologie” ist für Aristoteles dort gerade nicht Mythen-
dichterei, sondern „erste Philosophie”.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 42 -

her der Ausdruck „theologia“ doch im christlichen Sprachgebrauch ein. Er hat jedoch
eine spezifische Bedeutung: Die griechischen Väter stellen immer „theologia“ und „oiko-
nomia“ gegenüber: Theologie bezeichnet die Lehre von „Gott in sich“ (das Wesen Got-
tes, die Gottheit, die immanente Trinität); Ökonomie bezeichnet das Heilshandeln Gottes
an uns (Schöpfung, Erlösung, Heiligung, ökonomische Trinität usw.). Beide zusammen,
Theologia und Ökonomia, ergeben die gesamte Glaubenslehre.
Satz 18: „Theologia“ bezeichnete in patristischer Zeit spezifisch die Lehre über
das innere Wesen Gottes, im Unterschied zur „Ökonomia“, dem Heils-
handeln Gottes.

Ab dem 8. Jahrhundert wird jedoch „Theologie“ schon für die gesamte Glaubenslehre
verwendet. In der Scholastik spricht man auch von „sacra doctrina“, „sacra scriptura“
oder „sacra pagina“, wenn man die Gesamtheit der Glaubenslehre meint. Thomas von
Aquin nennt sein Hauptwerk „Summa theologiae“. So setzt sich durch, dass der Begriff
Theologie das gesamte Gotteswissen bezeichnet, wie er uns heute selbstverständlich ist.
Heute bezeichnet Theologie das gesamte Bemühen um Verstehen der Glaubenslehre (in-
tellectus fidei).
Satz 19: Heute bezeichnet„Theologie“ im allgemeinen religiösen Sinn ein „Re-
den des Menschen über Gott“; im besonderen dogmatischen Sinn je-
doch „das Reden des Menschen über die Rede Gottes von sich selbst“
(Theo-Logik).

b. Drei Formen des Theologietreibens


Meint „Theologie“ also die sinnhafte Erkenntnis und Rede über Gott, dann gibt es - ent-
sprechend den zwei Zugängen zur Erkenntnis Gottes - auch zwei Arten und Weisen, wie
über Gott gesprochen werden kann. Schließlich ist drittens die eschatologische Schau
Gottes zu nennen, die das Ziel aller kreatürlicher Gotteserkenntnis ist.
1. Die natürliche Theologie („theologia naturalis“). Die erste Form der Gotteserkenntnis
ist die „natürliche“, allein auf den natürlichen Gegebenheiten basierende, also Gotteser-
kenntnis ohne Offenbarung. Instrument dieser Erkenntnis Gottes und seiner Eigenschaf-
ten, ist die Vernunft. So sagt Paulus in Röm 1,19-20:
„Was von Gott erkennbar ist, das unter ihnen [den Heiden] offenbar. Gott selbst hat
es ihnen offenbar gemacht, denn sein unsichtbares Wesen lässt sich seit Erschaffung
der Welt an den Schöpfungswerken mit den Augen der Vernunft wahrnehmen, näm-
lich seine ewige Macht und göttliche Majestät.“70

70 Vgl. auch Weish 13-15; Apg 14,15-17; 17,24-28


Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 43 -

Man nennt diese „natürliche Erkenntnis“ Gottes auch die „philosophische Gotteserkennt-
nis“ oder eben „natürliche Theologie“. So ist es Lehre der Kirche, feierlich definiert auf
dem 1. Vatikanischen Konzil, dass Gott „aus dem, was geschaffen worden ist, mit dem
natürlichen Licht der Vernunft mit Sicherheit erkannt werden kann“71 (DH 3004). Seit
Leibniz gibt es auch den Begriff „Theodizee“, was die vernunftmäßige Rechtfertigung
eines Schöpfergottes bezeichnet. Der Gottesbegriff, den die philosophische Vernunft er-
arbeiten kann, nennt man auch den „Gott der Philosophen“. Die natürliche Theologie
kann aufgrund ihres Prinzips der Seinsanalogie von den Wesenseigenschaften Gottes vie-
les erkennen: dass es ein höchstes, einfaches göttliches Wesen geben muss, das unverur-
sacht, in sich unbegrenzt, unendlich und unsterblich, alles Endliche durchdringend und es
zugleich in allem übersteigend sein muss usw. Die natürliche Gotteserkenntnis wird in
der Fundamentaltheologie ausführlich behandelt.
2. Die übernatürliche Theologie.
Die eigentliche „Theologie“, die im Mittelpunkt der Dogmatik steht, ist die „übernatürli-
che Theologie“ (theologia supranaturalis). Sie will Gott nicht bloß aus den Werken der
Natur kraft der bloßen Vernunft erkennen, sondern die Weise bedenken, wie Gott sich
dem Menschen geoffenbart hat. Objekt der natürlichen Theologie ist Gott, insofern er
gesucht wird; Objekt der übernatürlichen Theologie ist Gott, insofern er den Menschen
gefunden hat, d. h. insofern er sich geoffenbart hat: Deus inquantum revelatus. Instru-
ment dieser eigentlichen Theologie ist der von der Gnade erleuchtete Verstand. Die über-
natürliche Theologie setzt also die Annahme der übernatürlichen Offenbarung voraus,
den Glauben an die im AT und NT offenbar gewordene Heilsgeschichte Gottes mit dem
Menschen.
Satz 20: Die natürliche Theologie denkt sich mit der Vernunft an die Existenz
und das Wesen Gottes heran, indem sie vom endlichen Sein auf das
göttliche Sein schließt.

3. Kontemplative Theologie
Eine dritte - letztlich wichtigste - Weise des Zuganges zu Gott sei hier noch erwähnt.
Während in der theologischen Ausbildung sowohl natürliche als auch übernatürliche Got-
teslehre „diskursiv“, also methodisch und schlußfolgernd betrieben werden, so ist doch
die entscheidende Form der Begegnung mit Gott die Kontemplation! Es ist das innere,
nicht bloß intellektuell-rationelle „Schmecken“ und „Verkosten“ Gottes (lateinisch: sape-
re, davon „sapientia“). Akademische Theologie ist ihrer Natur nach eher „scientia“, doch
sie braucht zu ihrer Ergänzung die „sapientia“ als Grundhaltung auf seiten des Theolo-
gen. Hier sei an das Postulat Balthasars nach einer „knienden Theologie“ erinnert. Diese

71 1. Vatikanisches Konzil, Dei Filius: DH 3004; vgl. den dazugehörigen Canon DH 3026
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 44 -

„schmeckende“ oder „kniende“ Form der Theologie ist letztlich ein Geschenk des Heili-
gen Geistes, wie Franz von Sales schreibt:
„Es gibt keine andere wahre Wissenschaft als die, die der Heilige Geist gibt. Aber sie
wird bloß den Demütigen zuteil. Haben wir nicht große Theologen gesehen, die
Wunderbares über die Tugenden gesagt haben, aber ohne sie zu üben? Im Gegensatz
hierzu haben wir sehr viele Frauen gesehen, die nicht in der Lage waren, sich über die
Tugenden gelehrt zu äußern, aber wohl verstanden, die Werke der Tugenden würdig
zu praktizieren. Jene hat der Heilige Geist zu Weisen gemacht, weil sie sowohl die
Furcht des Herrn als auch die Frömmigkeit und Demut besaßen.“72
Nach unserem Verständnis hat wissenschaftliche Theologie somit drei verschiedene
Hauptdimensionen: zuerst gibt es tatsächlich einen naturhaften Zugang mittels der Ver-
nunft (theologia naturalis), sodann ist es Aufgabe der Theologie, die übernatürlichen
Glaubenswahrheit verstandesmäßig zu durchdringen (intellectus fidei, theologia suprana-
turalis), schließlich muss in alledem die innere Glaubensbeziehung des Theologen zu
Gott zum Tragen kommen (contemplatio, sapientia).
Satz 21: Theologie als systematische „scientia“ muss stets getragen werden von
der „sapientia“, also der Spiritualität der existentiellen Gottesbegeg-
nung.

B. Die Kriterien authentischer kirchlicher Theologie

Gerade in der heutigen pluralistischen Zeit, in der jede noch so geistlose Meinung - auch
innerhalb der Theologie - sich Gehör zu verschaffen versteht, stellt sich die Frage: Wel-
che Kriterien gibt es, um kirchliche Theologie von nichtkirchlicher Theologie zu unter-
scheiden. Diese Frage stellt sich gerade dem katholischen Christen, der ja davon ausgeht,
dass es nicht beliebig viele „Wahrheiten“ geben kann, sondern sich die Fülle der Wahr-
heit in Jesus Christus uns geschenkt hat. Die Kirche als etwas, das ja „dem Herrn gehört“
(das deutsche „Kirche“ leitet sich von „κυριακη“ ab), ist letztlich auch gegründet, um
die Authentizität der Theologie zu gewährleisten. Nicht jede Rede, die von Gott spricht,
ist schon authentische kirchliche Theologie, manchmal kann sie vielleicht sogar das Ge-
genteil sein.
Eine theologische Lehre, eine Theologieform ist dann authentisch kirchlich, wenn sie
einer Prüfung durch fünf Kriterien standhält: Schrift, Tradition, Lehramt, wissenschaftli-
che Theologie, Glaubenssinn der Gläubigen. Die Harmonie mit allen fünf Kriterien ergibt

72 FRANZ VON SALES, Sermo 23 vom Pfingstmontag, zitiert nach A. KOLPING, Einfüh-
rung in die katholische Theologie, Münster 1963, 21.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 45 -

die Stimmigkeit. Die Authentizität ist abhängig von der Konsonanz der fünf wichtigsten
Kriterien73.

a. Das Kriterium der Schrift (scriptura)


Nach 1 Joh 1,1 war das Urereignis der christlichen Offenbarung die Begegnung mit dem
lebendigen „Logos“ Gottes in Menschengestalt. Die Apostel schauten, hörten und be-
tasteten den, der unter den Menschen zelten wollte (Joh 1,14). Diese - gleichsam konkret
interpersonale - Form der Begegnung mit dem sich offenbarenden Gott ist mit dem Tod
des letzten Apostels abgeschlossen, sodass es darüberhinaus keine weitere Offenbarung
mehr gibt, welche der Substanz des Offenbarten etwas hinzufügen könnte74. Die Urkunde
dieser personalen Offenbarung ist die Heilige Schrift. Insofern sie von der Offenbarung
kündet ist sie unfehlbare Norm aller Glaubenslehren, die von niemandem geändert wer-
den kann: „norma normans non normata“. Eine Auffassung, die der Heiligen Schrift
dem Wortlaut oder dem Sinn nach widerspricht oder sich nicht aus ihr ableiten lässt, kann
niemals kirchliche Lehre sein. Inhalte, die nicht den Glauben betreffen - z. B. naturwis-
senschaftliche Auffassungen der biblischen Autoren - sind unverbindlich.
Eines der drei „Sola-Prinzipien“ bezieht Martin Luther auf die Heilige Schrift: „sola fides
- sola gratia - sola scriptura“. Hier ist aber übersehen, dass schon die Schrift ein Produkt
eines Traditionsprozesses innerhalb der frühen Kirche ist. Schon früh schied der kirchli-
che Glaubenssinn Schriften, selbst wenn sie hohe Autorität hatten (z. B. die Didache) aus,
und nahmen nur bestimmte in den Kanon auf. Schließlich ist das Christentum auch eben
keine Buchreligion wie etwa der Islam oder einige östliche Religionsformen; sein Ur-
sprung liegt in der lebendigen Begegnung der Apostel mit Christus und in deren Verkün-
digung, die zunächst auch rein mündlich erfolgte.

b. Das Kriterium der Überlieferung (traditio)


Tradition kommt von „tradere“, was soviel wie „weitergeben“, „überliefern“, „auslie-
fern“ bedeutet75. Gott hat seine Offenbarung wahrlich dem Tun der Menschen ausgelie-
fert. Die Weitergabe des Glaubens erfolgt durch Menschen, die in verschiedenen Zeiten,
unter verschiedenen Umständen und mit verschiedenen Voraussetzungen über die Offen-
barung nachdenken. Dabei ist es von großer Bedeutung, dass der Prozess der Glaubens-
weitergabe eine bleibende Identität in sich selbst hat. Ein Beispiel: Auch wenn die Theo-

73 Nach W. BEINERT, Dogmatik studieren. Einführung in dogmatisches Denken und Arbei-


ten, Regensburg 1985, 47
74 2. Vatikanisches Konzil, Dei Verbum 4: DH 4204.
75 Der Begriff „traditionell” ist streng von dem Ausdruck „traditionalistisch” zu unterschei-
den. Unter letzterem versteht man ein Erstarren und Festhalten an den Äußerlichkeiten ei-
ner vergangenen Frömmigkeits- oder Theologieform.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 46 -

logie sich weiterentwickelt hat, so ist der Glaube eines Katholiken des 17. Jahrhunderts
doch identisch mit dem eines Katholiken im 3. Jahrhundert. Die Tradition beschenkt uns
mit der Authentizität des Geglaubten und bewahrt davor, den Glauben nach zeitgeistigen
Kriterien stets neu erfinden zu müssen, die Schrift stets nach der heutigen Mode interpre-
tieren zu müssen.
Im engeren Sinn versteht man in der Dogmatik unter „Tradition“ die Bezugnahme auf die
anerkannten Kirchenväter der patristischen Epoche, ebenso die Bezugnahme auf die li-
turgische und pastorale Praxis vergangener Zeiten.
Allgemein anerkannt wird in der Welt von heute die Gültigkeit eines synchronen Kon-
senses: „das, was heute alle machen“ wird gerne als Norm akzeptiert. Die Kirche kennt
darüber hinaus aber einen diachronen Konsens: das, was zu allen Zeiten geglaubt wurde,
ist auch heute Norm des Glaubens. Von Vinzenz von Lerins († vor 450) stammt eine
klassische Definition dieses Traditionskonsenses. Das von Vinzenz in seinem „Commo-
nitorium“ formulierte Traditionsprinzip besagt, dass nur das Glaubenswahrheit ist,
„In ipsa item catholica ecclesia magnopere curandum est, ut id teneamus quod ubi-
que, quod semper, quod ab omnibus creditum est. Hoc est etenim vere proprieque
catholicum!“ - „was immer, was überall, was von allen geglaubt wird!“76
c. Das Kriterium des Lehramtes (magisterium)
In der antiautoritären westlichen Gesellschaft ist die Institution eines kirchlichen Lehram-
tes (magisterium ecclesiae bzw. magisterium eclesiasticum) auch zu einem theologischen
Problem geworden, insofern die Kirche glaubt, dass es sich dabei um eine durchaus „au-
toritäre“ Instanz für die Bewahrung, Weitergabe und Interpretation der Glaubenswahrheit
handelt. Die Bischöfe als Nachfolger der Apostel sind die Träger dieser Lehrautorität, die
wiederum in ihrer sakramentalen Identität mit Christus gründet: „Wer euch hört, hört
mich.“ (Lk 10,16) „Wer euch aufnimmt, der nimmt mich auf.“ (Mt 10,40) Es gibt ein
wahres Bleiben Christi bei den Aposteln bis ans Ende der Zeiten (Mt 28,20).
Für die Bischöfe bedeutet diese Auszeichnung zugleich die Pflicht, den Glauben unver-
fälscht zu bewahren. Sie bilden zusammen mit dem Nachfolger des Petrus das Bischofs-
kollegium. Aufgrund der Einsetzung des Simon zum Felsen/Petrus und zum Binden und
Lösen (Mt 16,18-19) und zum Hirten der ganzen Herde (Joh 21,15-17) ist dem Petrus
eine besondere Aufgabe übertragen. Das bedeutet, dass der Papst einen gewissen Primat
innehat, den die Kirche so versteht:
„Der Römische Bischof hat kraft seines Amtes, nämlich des Stellvertreters Christi
und des Hirten der ganzen Kirche, die volle, höchste und allgemeine Vollmacht über

76 VINZENZ VON LERINS, Commonitorium 2.


Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 47 -

die Kirche, die er immer frei ausüben kann.“77 Die Person des Papstes ist „das im-
merwährende und sichtbare Prinzip und Fundament für die Einheit der Vielheit so-
wohl von Bischöfen als auch von Gläubigen“.78
Das Bischofskollegium (Papst und Gesamtheit der Bischöfe) übt die Glaubensverkündi-
gung entweder auf gewöhnliche oder auf außergewöhnliche Weise aus: als Magisterium
ordinarium oder als Magisterium extraordinarium.
Magisterium ordinarium:
1. Ein einzelner Bischof ist in seiner gewöhnlichen Lehrverkündigung nicht sicher irr-
tumsfrei. Das gilt auch für den Papst! Wenn aber die Gesamtheit der Bischöfe aber in der
gewöhnlichen Verkündigung moralisch übereinstimmen, dann lehren sie unfehlbar, auch
außerhalb eines Konzils. Z. B.: Wenn alle Bischöfe darin übereinstimmen, dass Abtrei-
bung eine Sünde wider das menschliche Leben ist, braucht es keiner feierlichen Definiti-
on, um hierin eine für die ganze Kirche gültige Glaubenslehre zu sehen.
2. Die gewöhnliche Verkündigung der Bischöfe spricht, auch wenn sie nicht sicher irr-
tumsfrei ist, dennoch „authentisch“, d. h. sie interpretiert wahrheitsgemäß die göttliche
Offenbarung und ist so von den Gläubigen als Norm zu akzeptieren.
Magisterium extraordinarium:
1. Papst – Kathedralentscheidungen. Zunächst ist es der Papst alleine, der sein Lehramt in
„außerordentlicher Weise“ ausüben kann, indem er feierliche „ex cathedra“ spricht. Es
geht dabei darum, theologische Unklarheiten zu beseitigen, indem gewisse Sätze feierlich
als von Gott geoffenbarte Wahrheit verkündet werden. So geschehen in den Mariendog-
men von 1854 (Immaculata Conceptio) und 1950 (Assumptio corporalis). In diesen Fäl-
len lehrt der Papst „infallibel“, untäuschbar bzw. irrtumsfrei, da er den Glauben der Kir-
che durch einen Satz, ein Dogma, interpretiert.
2. Bischofskollegium – Ökumenisches Konzil: Das außergewöhnliche Lehramt üben aber
auch die Bischöfe aus, wenn sie sich, vom Papst einberufen, zu einem Ökumenischen
Konzil versammeln und dort - mit dem Papst - Glaubenswahrheiten definieren. So ge-
schehen auf dem 1. Vatikanischen Konzil 1870. Zur Ausübung des außerordentlichen
Lehramtes gehört die Absicht, infallibel zu sprechen. Wichtig ist, dass solche infallible
Dogmatisierungen keine „Erfindungen“, sondern „Feststellungen“ sind. Das Lehramt
stiftet den Glauben nicht, es bewahrt ihn und verteidigt ihn.
Muss man auf das Lehramt hören? Die Katholiken betrachten das Lehramt, das Christus
seinen Apostel übertragen hat, als Geschenk, denn dadurch wird ihnen sichergestellt, dass

77 2. Vatikanisches Konzil, Lumen gentium Nr. 22: DH 4146.


78 2. Vatikanisches Konzil, Lumen gentium Nr. 23: DH 4147.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 48 -

sie nicht irgendwelchen Fabeleien und ideologischen Moden glauben, sondern Jesus
Christus selbst, dessen Botschaft zu allen Zeiten eine Provokation des Zeitgeistes war!

d. Das Kriterium der wissenschaftlichen Theologie (theologia)


Aufgabe der wissenschaftlichen, akademischen Theologie ist es, den Glauben intellektu-
ell immer tiefer zu erfassen. Theologie ist nicht bloß Religionswissenschaft über das
Christentum, also Betrachtung „von außerhalb“, sondern sie ereignet sich innerhalb des
Raumes des Glaubens, gemäß der Definition von Theologie als „intellectus fidei“. And-
rerseits ist die Theologie der Vernunft verpflichtet, d. h. sie darf kritisch, frei und dialo-
gisch mit der Welt sein. Freilich würde man sich angesichts der heutigen Situation wün-
schen, dass die Theologie gläubiger wird, dass sie nicht das Evangelium kritisiert, son-
dern auf der Basis des Evangeliums dort kritisch auftritt, wo sich nicht nur Unchristli-
ches, sondern auch Widerchristliches zeigt.
Obwohl die wissenschaftliche Theologie nicht selbst Lehramt ist, haben ihre Erkenntnis-
se doch einen bedeutenden Einfluß auf das Glaubensverständnis. So hat beispielsweise
die nachkonziliare Theologie wichtige vergessene Aspekte neu ins Bewußtsein gebracht,
die heute allgemeine Lehrmeinung geworden sind, z. B. die grundsätzliche Gnadenprä-
gung jedes Menschen (Karl Rahner: übernatürliches Existential). Im vorigen Jahrhundert
lieferte die Theologie des Duns Scotus († 1308) ein Verständnismodell für die erbsünd-
freie Empfangensein Mariens und ermöglichte durch die Idee der „Præservatio“ die feier-
liche Dogmatisierung eines schon lange in der Volksfrömmigkeit verankerten Glaubens-
gutes.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 49 -

e. Das Kriterium des Glaubenssinnes (sensus fidei)


Glaube ist ja nicht abstraktes Theoretisieren, sondern setzt sich in die Praxis, in das kon-
krete Leben der Gläubigen um. Das ganze christliche Volk (insofern es wahrhaft aus dem
Glauben lebt) besitzt nun den „Sinn Christi“ (1 Kor 2,16) und kann kraft des Geistes den
Glauben verstehen (Kol 1,9; vgl. Joh 14,17 u. a.). Man könnte hier auch - mit den Kir-
chenvätern - von einem „instinctus fidei“ sprechen. Stellt der Glaubenssinn also eine Art
„demokratisches“ Kriterium für Glaubenswahrheiten dar? Die Innerlichkeit und Heilig-
keit des Gläubigen wird als Gradmesser für den Glaubenssinn heranzuziehen sein. Je tie-
fer einer aus dem Heiligen Geist lebt, desto tiefer er in die Abgründe der Pläne Gottes
schauen können, desto mehr Gewicht ist seinem Glaubensverständnis zuzumessen. Je
heiliger, desto tiefer der Glaubenssinn.
Der Sensus fidei funktioniert also nicht nach demokratischen Prinzipien, wo jede Stimme
- unabhängig von der Qualifikation des Wählenden - gleiches Gewicht hat. Glaubens-
wahrheiten können nicht mittels eines demokratischen Mehrheitskonsenses geändert
werden. Deshalb bringen Umfrageergebnisse unter Gläubigen oft nur zum Vorschein,
dass eine Mehrheit keinen „sensus fidei“ besitzt. Hingegen war in vergangenen Zeiten für
die Dogmatisierung der Unbefleckten Empfängnis Mariens das Drängen des gläubigen
Volkes von entscheidender Bedeutung. Verschiedene Kaiser und Fürstenhäuser, viele
Heilige „kämpften“ für diese ihnen teuer gewordene Glaubenserkenntnis, für die progres-
sive „nova opinio“ des Duns Scotus. Der Dominikanerorden hingegen hielt an der alten
thomanischen Lehre fest. An der Universität in Paris wurde beispielsweise 1497 die Ver-
leihung eines akademischen Grades vom Eid abhängig gemacht, die Immaculata Concep-
tio zu verteidigen79. Das Abgehen von kirchenarchitektonischen Utopien, wie sie um
1970 Mode wurden, ist nicht zuletzt dem Widerstand der einfachen Gläubigen und ihrem
Charisma des rechten Glaubensverständnisses zu verdanken.
Satz 22: Authentische Glaubenslehre ist, was sich in Übereinstimmung mit
Schrift, Tradition, Lehramt, Theologie und dem Glaubenssinn der
Gläubigen befindet.

79 Vgl. U. HORST, Die Diskussion um die Immaculata Conceptio im Dominikanerorden,


Paderborn 1987, hier 15.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 50 -

2. Teil: SS 2005 (1 Sws)

„Das Mysterium Gottes, - des Vaters“

§ 3: „…an Gott“:
Die Erkenntnis Gottes durch das natürliche Subjekt

1. Die natürliche Erkenntnis der Existenz Gottes

A. Kann Gott allein kraft der Vernunft erkannt werden?

a. Die Lehre von Schrift und Tradition


Die Schrift lehrt, dass jeder Mensch das Dasein Gottes aus der Natur erkennen kann. Das
bereits unter dem Einfluss griechischen Denkens alttestamentliche Buch der Weisheit ist
hierfür ein Hauptbeleg: In Weish 13 klagt der Hagiograph, wie töricht doch die Men-
schen sind, denen die Erkenntnis Gottes fehlt. Töricht, weil sie nicht aus den sichtbaren
Dingen, aus der Schönheit der Weltdinge die noch größere Schönheit Gottes erkennen.
Vielmehr bleiben die Heiden bei den geschaffenen Dingen stehen und halten sie selbst
für Götter.
Weish 13,5 „Denn aus der Größe und Schönheit der Geschöpfe wird durch Verglei-
che (αναλογως) der Schöpfer erschlossen.“
Dieselbe Argumentation verwendet Paulus an verschiedenen Stellen. Der Grundtenor
lautet, dass Gott das Vermögen, ihn aus den Werken der Schöpfung zu erkenne bzw. sei-
nen Geboten zu folgen, in das Herz des Menschen eingeschrieben hat (vgl. Röm 2,14f.).
Die Heiden hätten also Gott - als den Höchsten, den erhabenen Schöpfer - sehr wohl kraft
ihres bloßen Verstandes aus den Werken der Natur erkennen müssen. Darin, dass die
Heiden aber nicht zur wahren Gotteserkenntnis gelangen, sondern zur Anbetung von
Götzen, darin offenbart sich der Zorn Gottes. Die berühmte Stelle in Röm 1 lautet:
Röm 1,18-23: „Gottes Zorn enthüllt sich vom Himmel her über alle Gottlosigkeit und
Ungerechtigkeit der Menschen, die die Wahrheit in Ungerechtigkeit niederhalten. Ist
doch, was sich von Gott erkennen lässt, in ihnen offenbar; Gott selbst hat es ihnen
kundgetan. Denn sein unsichtbares Wesen, seine ewige Macht und Göttlichkeit sind
seit Erschaffung der Welt an seinen Werken durch die Vernunft zu erkennen. Sie sind
darum nicht zu entschuldigen, weil sie trotz ihrer Erkenntnis Gottes ihn nicht als Gott
verherrlichten und ihm nicht dankten; sondern sie verfielen in ihren Gedanken auf
Nichtigkeiten, und ihr unverständiges Herz wurde verfinstert. Sie rühmten sich, weise
zu sein, und sind zu Toren geworden. Sie vertauschten die Herrlichkeit des unver-
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 51 -

gänglichen Gottes mit dem Abbild der Gestalt von vergänglichen Menschen, von Vö-
geln, Vierfüßlern und Gewürm.“
Auch in der Apostelgeschichte finden wir in der Verkündigung des Paulus die Konzepti-
on, dass die Erkenntnis Gottes eigentlichen allen Menschen, gerade auch den Heiden,
zugänglich sein müßte: Rede zu Lystra (Apg 14,14-16; Rede auf dem Areopag zu Athen
(Apg 17,26-29, „denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir“).
Die frühen Kirchenväter, welche den christlichen Gottesbegriff in eine griechisch vorge-
bildete Welt zu verkünden hatten, knüpften gerne an die paulinische Lehre von der all-
gemein zugänglichen, natürlichen Erkennbarkeit Gottes an. Wegen dieser Selbstverständ-
lichkeit des Gott-Erkennen-Könnens meint Tertullian, dass jede Seele von Natur aus
christlich sei: Anima humana naturaliter christiana!80
Satz 23: Nach Weish 13 und Röm 1,20 kann jeder Mensch von Natur aus Gott
aus den Werken der Schöpfung erkennen.

b. Gibt es eine angeborene Gottesidee?


Wenn also die Erkenntnis Gottes jedem Menschen - kraft seiner Vernunft - jedem Men-
schen zugänglich ist, stellt sich die Frage, ob nicht vielleicht die Idee Gottes als solche
dem Menschen angeboren sein könnte. Im vorigen Jahrhundert wurden solche Thesen
von katholischen Theologien vertreten (Heinrich Klee, Anton Staudenmaier, Ludwig
Thomassinus, Johannes von Kuhn); deren Lehre wird als sogenannter „Ontologismus“
bezeichnet. Wenn es eine „idea innata“, eine angeborene Idee vom Dasein Gottes gibt,
dann hätte dies weitreichende Konsequenzen: erstens könnte die Existenz Gottes nie mit
Sicherheit erkannt werden, da die angeborene Gottesidee ja auch bloß ein Spiel der Phan-
tasie sein könnte, dem in der objektiven Wirklichkeit nichts entspricht. Zweitens wäre
damit die Vernunft in ihrer Fähigkeit zur Wahrheitserkenntnis entmachtet, sie könnte gar
nicht anders als das zu erkennen, was ihr ein innerer Betriebsplan vorgibt. Drittens wider-
spricht eine solche Auffassung der Tatsache, dass die Schrift immer wieder davon
spricht, dass Gott „aus den Werken der Natur“ erkannt wird. Damit ist aber gegeben, dass
die Vernunft Gott „diskursiv“, also „schlußfolgernd“ erkennt.
Die Kirche hält in ihrer Lehre fest, dass nicht die Gottesidee selbst dem menschlichen
Verstand angeboren ist, wohl aber hat Gott von Natur aus dem Verstand die Fähigkeit
eingepflanzt, ihn schlußfolgernd zu erkennen81. Die natürliche Gotteserkenntnis ist also

80 Im Original lautet das Zitat TERTULLIANS, Apologia 17: „„O testimonium animae natu-
raliter christianae!”
81 THOMAS VON AQUIN, In Boethium De Trinitate qu. 1 a. 3 ad 6: „Eius [Dei] cognitio
nobis innata dicitur esse, in quantum per principia nobis innata de facili percipere possu-
mus Deum esse.”
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 52 -

eine „ratiocinatio“, eine logische, diskursive Schlußfolgerung: Von der Existenz der end-
lichen Dinge wird auf die Existenz des Unendlichen, von der Schönheit der Welt auf die
Schönheit Gottes usw. geschlossen.
Satz 24: Nicht die Idee Gottes ist angeboren, sehr wohl aber die Fähigkeit Gott
zu erkennen.

B. Die Lehre der Kirche über die natürliche Gotteserkenntnis


Das 1. Vatikanische Konzil lehrt in seiner Konstitution „Dei Filius“ von 1870: Es formu-
liert dort die traditionelle Lehre der Kirche über die Gottfähigkeit der Vernunft in einer
dogmatischen Formel aus:
„Dieselbe heilige Mutter Kirche hält fest und lehrt, dass Gott, der Ursprung und das
Ziel aller Dinge, mit dem natürlichen Licht der menschlichen Vernunft aus den ge-
schaffenen Dingen gewiß erkannt werden kann; ‘das Unsichtbare an ihm wird näm-
lich seit der Erschaffung der Welt durch das, was gemacht ist, mit der Vernunft ge-
schaut (Röm 1,20)…“82
Die Konzilsdefinition beinhaltet folgende Präzisierung der kirchlichen Position:
1. Wer kann Gott erkennen? Jeder Mensch, insofern er „mit dem natürlichen Licht der
menschlichen Vernunft“ ausgestattet ist. Die Fähigkeit, Gott zu erkennen, ist also eine
allgemein-menschliche Anlage. Hingegen lehrt der „Fideismus“, dass Gott nur dem
Glaubenden zugänglich ist, die Gotteserkenntnis also strikt übernatürlich ist.
2. Wie kann man Gott erkennen? Die Gotteserkenntnis geschieht „aus den geschaffenen
Dingen“. Der Blick auf die Weltdinge gleitet weiter zum Blick auf den Schöpfer dieser
Dinge. Hingegen lehrt der „Ontologismus“, dass die Gottesidee selbst schon angeboren,
im Inneren des Menschen verankert sei, und nicht von außen gewonnen wird.
3. Was kann von Gott auf diese Weise erkannt werden? Das Konzil nennt Gott hier „Ur-
sprung und Ziel aller Dinge“. Gott kann also zumindest als Schöpfer der Welt erkannt
werden.
4. Wie sicher ist eine solche Erkenntnis? Das Konzil spricht in sehr kluger Weise davon,
dass Gott solcherart „gewiß erkannt werden kann“ (certo cognosci posse). Das heißt ei-
nerseits, dass niemand von seinem Verstand gezwungen wird, die Existenz eines Schöp-
fergottes zu erkennen (posse: gegen den Erkenntnisrationalismus, der meinte, die Gottes-
erkenntnis sei notwendig zwingend). Aber andrerseits die natürliche Gotteserkenntnis in
ihrer Art doch keine bloße Einbildung oder Wunschidee ist, sondern kraft ihrer Logik

82 1. Vatikanisches Konzil, Dei Filius: DH 3004; vgl. den dazugehörigen Canon 3026.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 53 -

„sicher“ ist (certo: gegen den Vernunftpessimismus, der meinte, die Vernunft allein kön-
ne nichts mit Sicherheit erkennen).
Das 2. Vatikanum hat diese Lehre in einem einzigen Satz aufgegriffen und in anderer
Weise akzentuiert: Ging es dem 1. Vatikanum um die Fähigkeit der Vernunft, Gott zu
erkennen, geht es dem 2. Vatikanum um Gott, der dem Menschen die Chance gibt, ihn
aus den geschaffenen Dingen zu erkennen. Der lapidare Satz in der Konstitution „Dei
Verbum“ lautet:
„Gott, der durch das Wort alles erschafft (vgl. Joh 1,3) und erhält, gibt den Menschen
jederzeit in den geschaffenen Dingen Zeugnis von sich (vgl. Röm 1,19-20).“83
Satz 25: Lehre der Kirche ist, dass Gott als Schöpfer in den geschaffenen Din-
gen Zeugnis ablegt von sich selbst. Deshalb kann der Mensch mit ver-
nünftiger Gewissheitserkenntnis die Existenz Gottes aus den geschaffe-
nen Dingen erschließen.

2. Die Kausale Schlussfolgerung auf die Existenz Gottes

A. Zum Begriff „Gottesbeweis“

a. Was heißt „Gottesbeweis“?


Bisher wurde festgestellt, dass Gott von jedem Menschen erkannt werden kann, sodann
dass diese Erkenntnis „a posteriori“ erfolgt. Die Existenz eines Gottes ist keine angebo-
rene Idee, sondern erschließt sich dem menschlichen Erkennen aus der Begegnung mit
den geschaffenen Dingen. Die Frage lautet: Gibt es die Möglichkeit, dass Dasein Gottes
schlüssig logisch aufzuzeigen? Gibt es „Gottesbeweise“? Dabei ist zu sagen, dass der
deutsche Ausdruck „Gottesbeweis“ irreführend und falsch ist, wenn „Beweis“ im moder-
nen naturwissenschaftlichen Sinn verstanden wird: Die Naturwissenschaft „beweist“,
indem sie experimentiert, quantifiziert und somit die Vernunft „zwingt“, gewisse zu-
nächst verborgene „geheimnisvolle“ Wahrheiten (z. B. das Gesetz der Relativität von
Raum und Zeit) unwiderlegbar anzunehmen. Der Verstand ist etwa nicht frei, anzuneh-
men, dass die Erde rund ist. Er muss es, da die Beweise dafür absolut evident sind. In
diesem Sinn kann Gott selbstverständlich nicht bewiesen werden. Aufgrund des Gegens-
tandes, der erkannt werden soll, nämlich Gott als unendlich erhabenes, absolut transzen-
dentes Wesen, ist klar, dass der endliche Verstand dieses Gottes niemals habhaft werden
kann. Der Mensch bleibt immer frei, die Existenz Gottes - auch wenn sie noch so logisch

83 2. Vatikanisches Konzil, Dei Verbum 3: DH 4203: „Deus, per Verbum omnia creans et
conservans, in rebus creatis perenne sui testimonium hominibus praebet…”
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 54 -

sein sollte - anzunehmen, da Gott eben gerade nicht naturwissenschaftlich evident bewie-
sen werden kann.
Wenn von „Gottesbeweisen“ die Rede ist, dann ist gemeint, dass die Existenz Gottes
durch schlußfolgerndes Denken „aufgewiesen“ werden kann. Der Begriff „Gottesauf-
weis“ wäre demnach vorzuziehen. Die Lehre der Kirche spricht von einem „demonstra-
re“. Wurde 1870 durch das 1. Vatikanum definiert, dass Gott „mit Sicherheit erkannt
werden kann“, so erweitert Papst Pius X. diese Lehre, wenn er im Antimodernisteneid
1910 festlegt, dass die Existenz Gottes „adeoque demonstrari posse“, sogar aufgewiesen
werden könne:
„Ich bekenne, dass Gott, der Ursprung und das Ziel aller Dinge, mit dem natürlichen
Licht der Vernunft, durch das, was gemacht ist’ (Röm 1,20), das heißt durch die
sichtbaren Werke der Schöpfung, als Ursache vermittels der Wirkungen (tamquam
causam per effectus) sicher erkannt und sogar auch bewiesen werden kann (certo
cognosci, adeoque demonstrari etiam posse).“84
Ebenso hat Pius XII. in seiner Enzyklika „Humani Generis“ von 1950 erklärt, dass „die
menschliche Vernunft ohne die Hilfe der göttlichen ‘Offenbarung’ und göttlichen Gnade
mit Argumenten, die aus den geschaffenen Dingen abgeleitet wurden, beweisen kann,
dass ein persönlicher Gott existiert.“85
Satz 26: Nach der Lehre der Kirche ist ein argumentativ stringentes Aufweisen
(demonstrare) der Existenz Gottes – a posteriori – möglich.

b. Die fünf kosmologischen Gottesbeweise


Die Lehre der Kirche von einem „Deum demonstrari posse“ ist keineswegs neu, sondern
entspricht einer langen philosophischen Tradition. Nicht erst die Kirchenväter (die Apo-
logeten, Tertullian, Augustinus, Anselm usw.) suchten Argumente für die Existenz Got-
tes anzuführen, sondern schon die Philosophen der Antike, allen voran Aristoteles und
Platon.
Was macht eine Argumentation aber zum „Gottesbeweis“ im spezifischen, vom Lehramt
gemeinten Sinn? Von entscheidender Bedeutung ist, dass der Denkweg „a posteriori“
erfolgen muss, also von der evidenten Seinserkenntnis ausgehend kausal auf die Existenz
Gottes schließen muss, von der Wirkung auf die Ursache. Im Lateinischen nennt man

84 DH 3538. Vgl. schon DH 2751, wo gegen den Fideisten und Traditionalisten Louis-
Eugène Bautain festgestellt wurde, dass das „schlußfolgernde Denken (le raisonnement)
die Existenz Gottes mit Sicherheit beweisen kann (peut prouver avec certitude l’existence
de Dieu…”
85 PIUS XII, Humani Generis: DH 3890. Vgl. die Studie von G. KRAUS, gotteserkenntnis
ohne Offenbarung und Glaube, paderborn 1986.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 55 -

dieses logische Schlußfolgern „ratiocinatio“. Da hier von der Beobachtung des endlichen
Seins (kosmos) ausgegangen wird, spricht man auch von den „kosmologischen Gottes-
beweisen“86.
Die Systematisierung der kosmologischen Argumentation, die bereits von Aristoteles
bzw. Platon entwickelt wurde, erfolgt durch Thomas von Aquin in der Summa theologica
I, q. 2, a. 387. Thomas spricht auch nicht von „Gottesbeweisen“ oder ähnlichem, sondern
er nennt es die „Wege“, auf denen die Vernunft zur Einsicht in die Existenz Gottes ge-
langen kann. Da er fünf solcher logischer Denkformen aufzählt, spricht er von den „quin-
que viae“. Im Deutschen hat sich das Wort „Gottesbeweis“ eingebürgert. Die fünf tho-
manischen Wege, alle basierend auf dem kosmologischen Argument, lauten:
1. Von der Bewegung in der Welt wird auf einen ersten unbewegten Beweger geschlos-
sen (Aristoteles).
2. Die Kausalität, also die Ordnung von Ursache und Wirkung in der Welt verweist auf
eine erste unverursachte alles verursachende Ursache (Aristoteles).
3. Das Seiende in der Welt ist nur möglich, nur zufällig; es fordert daher ein ermögli-
chendes, begründendes und letztnotwendiges Sein (Platon).
4. Es gibt in der Welt eine Stufung der Seienden, dazu ist ein höchstes vollkommenes
Sein notwendig (Platon).
5. In der Welt gibt es Zweckmäßigkeit und Zielstrebigkeit, daher muss es einen höchsten
geistigen Urheber geben (Platon)
Satz 27: Unter „Gottesbeweis“ im engeren Sinn versteht die Theologie den apos-
teriorischen, schlussfolgernden Aufweis einer letzten nichtkontingenten
Ursache der geschaffenen Dinge.

c. Der „ontologische Gottesbeweis“ des Anselm von Canterbury


Es gibt in der Theologiegeschichte auch den Versuch, gleichsam „apriori“ die Existenz
Gottes aufzuweisen. Anselm von Canterbury († 1109) wollte von der Tatsache, dass es in
unserem Denken die Vorstellung von etwas gibt, worüber hinaus nichts größeres gedacht
werden kann (aliquid quo maius cogitari nequit) auf die Existenz eines solchen Größten
zu schließen: Nach Anselm gehört zum Begriff des „Größten“ auch das Sein, die Exis-
tenz, sonst wäre es nicht das Größte. Also ist Gott!

86 Vg. F. COURTH, Der Gott der dreifaltigen Liebe, 49-55. Courth zählt neben dem kosmo-
logischen Argument noch weitere „Gottesbeweise” auf.
87 Vgl. auch in der Summa contra gentiles I, 13.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 56 -

Die Kritik an diesem Gottesbeweis ist nicht schwer: Hier werden die Ebene der Idee und
die Ebene der Wirklichkeit miteinander gleichgesetzt. Schon Gaunilo von Marmoutier
veröffentlichte eine Spottschrift auf Anselm „Liber de insipiente“ (Schrift über den
Dummkopf): Nach Gaunilo könnte es ja auf diese Weise auch eine höchst vollkommene
Insel geben, die angeblich irgendwo bestehe, obwohl sie niemand je gesehen hat. Gemäß
der anselmschen Logik müsse diese Insel sowohl im Verstehen als auch in der Wirklich-
keit existieren, da sie ja die höchst vollkommene Insel sei. Anselm hat in einem „Liber
apologeticus contra Gaunilonem“ dagegen geantwortet, dass die Idee einer vollkommens-
ten Insel innerlich unmöglich sei, da jede Insel Begrenzung und Unvollkommenheit ein-
schließe.
Sehr scharf hat Thomas von Aquin auf die Unlogik des anselmschen Gott-Denkens hin-
gewiesen; er ist trotzdem unter dem Namen „ontologischer Gottesbeweis“ in die Theolo-
giegeschichte eingegangen. Der logische Fehler ist, dass hier vom Vorhandensein eines
Gedankens auf das Vorhandensein einer objektiven Wirklichkeit geschlossen wird, also
von der Idee auf das Sein, vom Begriff auf die Wirklichkeit.
Wir merken uns: Der „ontologische Gottesbeweis“ stellt einen Zirkelschluss dar, der vom
Gedanken eines Höchsten auf die Existenz eines Höchsten schließen möchte. Dies wider-
spricht der Logik, der „Ratiocinatio“.
Satz 28: Der von Anselm entwickelte „ontologische Gottesbeweis“ schließt vom
Vorhandensein der Idee eines Höchsten (id quo maius) auf dessen Exis-
tenz.

B. Die Struktur der klassischen „Gottesbeweise“


Unter Gottesbeweis versteht man also die Möglichkeit, innerhalb eines rein philosophi-
schen Denkens, die Existenz Gottes schlußfolgernd aufzuweisen. Die „quinque viae“ des
Thomas von Aquin sind, um es nochmals zu betonen, weder empirische Beweise im Sinn
quantifizierbarer Experimente, noch logisch stringente Beweise im Sinne mathematischer
Formeln. Alle fünf Wege haben die gleiche Struktur (mit Ausnahme des fünften, soge-
nannten „teleologischen“ Beweises): Ausgangspunkt sind für Thomas letztlich zwei Phä-
nomene der Metaphysik, nämlich die „Kontingenz“ und die „Kausalität“. Exemplarisch
soll hier nur der „erste Weg“ vorgestellt werden, der auch der Beweis aus der „Bewe-
gung“ genannt wird. „Bewegung“ meint hier nicht die geographische Ortsveränderung,
sondern die Seinsentwicklung, das „Werden“. Alles Werden ist ja eine Bewegung aus der
Möglichkeit in die Wirklichkeit, aus der Potentialität in die Aktualität. Hier die „prima
via“:
„Fünf Wege gibt es, das Dasein Gottes zu beweisen. Der erste und nächstliegende
geht von der Bewegung aus. Es ist eine sichere, durch das Zeugnis der Sinne zuver-
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 57 -

lässig verbürgte Tatsache, dass es in der Welt Bewegung gibt. Alles aber, was in Be-
wegung ist, wird von einem anderen bewegt. Denn etwas kann nur in Bewegung
sein, sofern es unterwegs zum Ziel der Bewegung ist… Bewegen heißt nämlich
nichts anderes als: ein Ding aus seiner Möglichkeit in die entsprechende Wirklichkeit
überführen… Es ist unmöglich, dass etwas sich selbst bewegt. Also muss alles, was
in Bewegung ist, von einem anderen bewegt sein. Wenn demnach das, wovon etwas
seine Bewegung erhält, selbst auch in Bewegung ist, so muss auch dieses wieder von
einem anderen bewegt sein, und dieses andere wieder von einem anderen. Das kann
aber unmöglich so ins Unendliche fortgehen, da wir dann kein erstes Bewegendes
und infolgedessen überhaupt kein Bewegendes hätten. Denn die späteren Beweger
bewegen ja nur kraft des ersten Bewegers, wie der Stock nur insoweit bewegen kann,
als er von der Hand bewegt wird. Wir müssen also unbedingt zu einem ersten Bewe-
genden gelangen, das von keinem bewegt ist. Dieses erste Bewegende aber meinen
alle, wenn sie von Gott sprechen.“88
In der Argumentationsstruktur ist Thomas ein treuer Schüler des Aristoteles89Die Denk-
schritte der kosmologischen Gottesbeweise lassen sich summarisch zusammenfassen:
1. Alles, was ist, ist kontingent, d.h. es kann (so) sein, muss aber nicht mit letzter Not-
wendigkeit so sein. (Kontingenzprinzip)
2. Alles, was ist, ist verursacht. Jede Ursache ist aber wieder zugleich die Wirkung einer
kontingenten Ursache. (Kausalitätsprinzip)
3. Aus diesen Prämissen kann die Konklusion gezogen werden: Da alles Kontingente
eine kontingente Ursache hat gibt es, wenn alle Ursachen kontingent sind, keine hinrei-
chende Erklärung für das Dasein der Welt. Oder einfacher gesagt: Endliches kann nicht
nur von Endlichem allein verursacht sein. Auch ein „regressus ad infinitum“ würde nichts
erklären, da auch eine „unendliche Kette“ von verursachten Ursachen nicht die Existenz
der Kausalkette an sich erklären könnte. Es erhebt sich also die Frage nach einer Ursache,
die jenseits der kontingenten Kausalität steht, die Frage nach einer Ursache, die nicht
wieder verursacht ist. Diese letzte, unverursachte Ursache, so Thomas, meinen alle, wenn
sie von Gott sprechen.
Diese Schlussfolgerung ist im eigentlichen Sinne schon „theologisch“, denn der Philo-
soph könnte ja die kontingente Ursache als unbeantwortbare Frage abtun. Eine letzte un-
verursachte und absolute Ursache von allem anzunehmen, ist ein Akt meta-
philosophischer Reflexion. Es ist deshalb korrekt, hier bereits von „natürlicher Theolo-
gie“ zu sprechen, noch dazu wenn man bedenkt, dass das thomanische Denken in weite-
ren Schlüssen - mittels der Seinsanalogie - durchaus auch Eigenschaften dieser letzten

88 THOMAS VON AQUIN, Summa theologica I, q.2,3.


89 K. OEHLER, Der Unbewegte Beweger des Aristoteles, Frankfurt 1984.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 58 -

Ursache zu erdenken weiß: sie muss transzendent, vernünftig, unbewegt, bewegungslos,


leidlos, personal usw. sein.
Satz 29: Die logische Struktur der Gottesbeweise geht von der Vernunfter-
kenntnis aus, wonach es 1. ein Gesetz der allgemeinen Kontingenz und
2. ein Gesetz der allgemeinen Kausalität gibt. Von daher gelangt man
zu folgendem Syllogismus: Da alles Kontingente eine kontingente Ursa-
che hat, der letzte Grund des Seins aber nicht in einer unendlichen Ket-
te kontingenter Ursachen liegen kann, muss es eine unverursachte Ur-
sache geben.

C. Einige Irrtümer hinsichtlich der natürlichen Erkennbarkeit Gottes

1. Der Traditionalismus, der hier gemeint ist, ist eine theologische Strömung im Frank-
reich des 19. Jahrhunderts. Seine Vertreter sprechen der Vernunft die Fähigkeit ab, Gott
von sich aus zu erkennen90. Dass in allen Menschen eine Form der Gottessehnsucht vor-
handen ist, wird so erklärt, dass Gott dem Menschen bei der Schöpfung eine Art „Urof-
fenbarung“ seiner selbst geschenkt hat. Diese gnadenhafte geschenkte Erkenntnis der
Existenz Gottes und der sittlichen Grundwahrheiten wurde dann durch Tradition von Ge-
neration zu Generation weitergegeben.
2. Der Atheismus versucht die Existenz Gottes und damit auch die Erkennbarkeit Gottes
zu leugnen. Atheismus ist Agnostizismus. Nun kann nach katholischer Auffassung Gott
aber mit Sicherheit - kraft aposteriorischer Vernunfterkenntnis - erkannt werden. Daraus
folgt, dass es nach der Lehre der Kirche eine sichere Einsicht, dass Gott nicht existiert,
nicht geben kann! Konkret heißt das: Es widerspricht der Vernunft mehr, nicht zu glau-
ben, als zu glauben! Der Atheismus tritt in verschiedenen Formen auf: als Agnostizismus,
Skeptizismus, Materialismus, Pantheismus und Kritizismus. Das 2. Vatikanische Konzil
hat in 3 Kapiteln von „Gaudium et Spes“91 versucht, das Wesen des Atheismus zu ver-
stehen; darauf hingewiesen, dass der Atheismus nicht nur der Würde des Menschen wi-
derstreitet, sondern dass er auch die Fragen des Menschen in schmerzlicher Weise unbe-
antwortet lässt. Paulus spricht in Röm 1,20 davon, dass jene, die sich der Erkenntnis Got-
tes widersetzen „unentschuldbar“ sind.
3. Eine besondere Rolle in der Lehre von der Erkennbarkeit Gottes nimmt Immanuel
Kant ein. In der 1781 erschienen Schrift „Kritik der reinen Vernunft“ leugnet er die
Stringenz der klassischen, thomanischen Gottesbeweise. Ansatzpunkt seiner Kritizismus

90 Wichtige Vertreter des Traditionalismus sind: L. E. Bautain, F. de Lamenais, L. G. A. de


Bonald. Schon 1855 wurde Augustin Bonetty verurteilt, weil er traditionalistische Er-
kenntnislehre vertrat: DH 2811-2814.
91 2. Vatikanisches Konzil, Gaudium et Spes 19-21.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 59 -

ist die Auffassung, dass es im menschlichen Geist eine Reihe von Schemata gibt, soge-
nannte Kategorien, welche vorgegeben - apriori - sind und die sinnlich aufgenommene
Erkenntnis ordnen. So ist das Kausalitätsprinzip für Kant durchaus nichts, das in der Ob-
jektivität allgemeingültig gegeben ist, sondern ein inneres Apriori, ein Raster; und diese
Kategorie gelte nur für die sinnenfällige Erkenntnis. So könne man nicht mittels der Kau-
salität von der Schöpfungswelt auf Gott schließen. Die Unerkennbarkeit Gottes ist die
logische Folge dieser Voraussetzungen. Für Kant ist der Begriff Gott nichts anderes als
das innere Apriori einer höchsten Kategorie92.
4. Erwähnenswert ist auch der „Modernismus“, eine binnenkatholische Zeitströmung am
Anfang des 20. Jahrhunderts. Nach Alfred Loisy und George Tyrell ist die Religion et-
was, das aus dem inneren Gottesbedürfnis entsteht. Die Vernunft ist nicht fähig, in diesen
seelenimmanenten Bereich der Bedürfnisse und Sehnsüchte vorzudringen. Nach dem
Modernismus ist letztlich die Idee Gottes selbst ein Produkt der eigenen Wünsche.
Satz 30: Alle Richtungen, welche Fähigkeit der Vernunft bezweifeln, Wahres zu
erkennen, bestreiten folglich auch die natürliche Erkennbarkeit Gottes.

92 K.-H. MICHEL, Immanuel Kant und die Frage der Erkennbarkeit Gottes, Wuppertal 1987,
197-248.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 60 -

§ 4: „…an Gott, den Vater den allmächtigen“

1. Die Seinsanalogie

Begriffe: analogia (gr.) = similitudo (lat.) = Ähnlichkeit (dt.)

A. Gibt es eine Ähnlichkeit zwischen Welt und Gott und wie ist sie beschaf-
fen?

a. Die Bedeutung der Seinsähnlichkeit


Das Wesen der Gottesbeweise besteht darin, von der Tatsache, dass es endliches Sein
gibt, auf die Tatsache zu schließen, dass es unendliches Sein gibt: vom Sein der Welt
wird auf das Sein Gottes geschlossen. Dies ist nur unter der Voraussetzung möglich, dass
es eine natürliche Ähnlichkeit (Analogie) zwischen den beiden Dimensionen gibt: eine
Ähnlichkeit im Sein, eine „Analogia Entis“. Die Lehre von der Analogia Entis ist eines
der Fundamente der katholischen Theologie. Sie besagt, dass Gott die Welt nach seinem
Bild geschaffen hat, also ähnlich zu sich selbst. Gott ist das reine Sein (actus purus) und
die geschaffene Welt partizipiert allein dadurch, dass sie ist, an diesem Sein Gottes. Alles
endliche Sein ist Sein durch Teilhabe, partizipatives Sein. Die Folge ist, dass ein Blick
auf die endliche Welt tatsächlich einen Blick freigibt auf die unendliche Welt, so wie das
Anschauen eines Kunstwerkes etwas vom Wesen des Künstlers verstehen lässt.
Der kalvinistische Theologe und Schweizer Pfarrer Karl Barth († 1968) lehnte die katho-
lische Analogielehre heftig ab. Für ihn kann es eine Gotteserkenntnis nur aufgrund Jesu
Christi geben, nur aufgrund des Glaubens (solus Christus, sola fides). Allein der Glaube
ermöglicht ein Art Verstehen Gottes. Es gibt keine Analogia Entis sondern nur eine Ana-
logia Fidei. Die katholische Lehre von der natürlichen Gotteserkenntnis kraft der Seins-
analogie ist für ihn geradezu widerchristlich, da sie doch bedeutet, der Mensch brauche
Jesus Christus nicht, um Gott zu erkennen. Der Mensch könne ohne Glauben nach Gott
greifen. Der „Gott der Philosophen“ ist für Barth aber ein Götze, ein menschliches
Selbstprodukt. Nach Barth ist Gott „ganz anders“ als diese Welt. Nach eigenem Aus-
spruch ist die Analogielehre der einzige Grund, nicht katholisch werden zu können.
In der Konfrontation mit Karl Barths sogenannter „dialektischer Theologie“ - „Dia-
lektik“ im Sinn von „Wider-spruch“ (Gott ist ganz anders!) - hat die katholische Theolo-
gie ihr Analogieverständnis präzisiert. Hier sind vor allem P. Erich Przywara SJ und
Hans Urs von Balthasar zu nennen. Sie räumen vor allem das Missverständnis aus, die
Analogielehre würde dem - noch ungläubigen - Menschen gleichsam erlauben, Gottes
habhaft zu werden, das Geheimnis Gottes von selbst ergründen zu können. Dem ist nicht
so. Schon 1215 hat die Kirche auf dem 4. Laterankonzil das Prinzip der Analogie defi-
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 61 -

niert. Anlass war die naive Trinitätslehre des Zisterzienserabtes Joachim von Fiore (†
1202). Die berühmte Definition lautet:
„Quia inter creatorem et creaturam non potest tanta similitudo notari, quin in-
ter eos maior sit dissimilitudo notanda! - Denn von Schöpfer und Geschöpf kann
keine noch so große Ähnlichkeit ausgesagt werden, ohne dass nicht eine noch größere
Unähnlichkeit ausgesagt werden muss.“ (DH 806)
Dies ist gleichsam das Prinzip jedes Redens über Gott: Zunächst ist festgehalten, dass es
eine „similitudo“ (Ähnlichkeit) zwischen Schöpfer und Geschöpf gibt. Hiergegen würde
Barth heftig protestieren. Sodann ist aber zugleich gesagt, dass diese Ähnlichkeit eine
„noch größere Unähnlichkeit“ miteinschliesst. Das Wesen Gottes liegt also in einer „ma-
jor dissimilitudo“, in einer größeren Andersheit. Dem könnte Barth wohl zustimmen. Ein
Beispiel: Da zur Vollkommenheit des endlichen Seins auch die Weisheit gehört, ist kraft
der Analogie zu schließen, dass auch Gott weise sein muss. Zugleich ist jedoch die „ma-
jor dissimiltudo“ dieser göttlichen Weisheit zu bedenken: Gott ist also ganz anders weise
als wir Menschen weise sind93.
Satz 31: Zwischen Schöpfer und Geschöpf besteht die Ähnlichkeit des Seins (A-
nalogia Entis). Deshalb ist es erlaubt, vom Sein der Welt auf das Sein
Gottes zu schließen, Ähnlichkeiten festzustellen. Die dialektische Defi-
nition des 4. Laterankonzils hält fest, dass Gott der Welt mehr unähn-
lich als ähnlich ist (maior dissimilitudo)!

b. Augustinus: Die endlichen Dinge rufen „Ich bin nicht Gott“


Hier ein berühmter Text über die Seinsanalogie von Augustinus († 430), Aus den „Be-
kenntnissen“ (Stundenbuch II / 15. Woche / Mittwoch)
Herr, ich zweifle nicht, sondern ich bin mir klar bewusst, dass ich dich liebe. Du hast
mein Herz mit deinem Wort getroffen, da liebte ich dich. Was liebe ich aber, wenn
ich dich liebe? Nicht körperliche Anmut und zeitliche Schönheit; nicht den Glanz
des Lichtes, der unseren Augen so lieb ist; nicht die süßen Weisen vielfältiger Gesän-
ge; nicht den Duft von Blumen, Salben und Gewürzen; nicht Manna und Honig, nicht
liebevolle Umarmung. Das ist es nicht, was ich liebe, wenn ich meinen Gott liebe.
Und doch ist es etwas wie Licht, was ich liebe, etwas wie eine Stimme, ein Duft, eine
Speise, eine Umarmung, wenn ich meinen Gott liebe: das Licht, die Stimme, der

93 1 Kor 1, 21-24: „Denn da die Welt angesichts der Weisheit Gottes auf dem Weg ihrer
Weisheit Gott nicht erkannte, beschloß Gott, alle, die glauben, durch die Torheit der Ver-
kündigung zu retten. die Juden fordern Zeichen, die Griechen suchen Weisheit. Wir dage-
gen verkündigen Christus als den Gekreuzigten: für Juden ein empörendes Ärgernis, für
Heiden eine Torheit, für die Berufenen aber, Juden wie Griechen, Christus, Gottes Kraft
und Gottes Weisheit.”
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 62 -

Duft, die Speise, die Umarmung meines inneren Menschen. Da leuchtet meiner Seele
etwas, was keinen Raum umfasst; dort erklingt, was die Zeit nicht wegrafft; dort duf-
tet, was der Wind nicht verweht, dort schmeckt, was beim Essen nicht sättigt; dort
werden Liebende durch keinen Überdruss entzweit. Das ist es, was ich liebe, wenn
ich meinen Gott liebe.
Und was ist das? Ich habe die Erde gefragt, und sie sagte: Ich bin es nicht 1 Und al-
les, was es auf ihr gibt, bekannte dasselbe. Ich habe das Meer befragt und seine Tie-
fen und die Lebewesen, von denen sie wimmeln, aber sie antworteten: Wir sind nicht
dein Gott. Suche droben, über uns! Ich habe die wehenden Winde gefragt, aber der
ganze Luftkreis und alle seine Bewohner sprachen: Anaximenes irrt sich; wir sind
nicht Gott! Ich fragte den Himmel, Sonne, Mond und Sterne, und sie sagten: Auch
wir sind der Gott nicht, den du suchst! Da sagte ich zu allem, was da vor der Tür
meines leiblichen Daseins umhersteht: Sprecht mir von meinem Gott, da ihr es nicht
seid, sagt mir etwas über ihn! Da riefen sie mit lauter Stimme: „Er hat uns geschaf-
fen.“ (Ps 100,3) Fragend schaute ich aufmerksamer hin, und die Antwort war ihre
Schönheit.
Da wandte ich mich an mich selbst und sprach zu mir: „Wer bist du?“ Ich erwiderte:
„Ein Mensch!“ Es gibt bei mir einen Leib und eine Seele, das eine die Außen-, das
andere die Innenseite. Was davon muss ich gebrauchen, um meinen Gott zu suchen?
Ich habe ihn im Bereich des Leiblichen gesucht, überall von der Erde bis zum Him-
mel. Soweit nur der Blick meiner Augen als Boten reichte.
Aber was innen ist, das ist besser. Denn das Innere ist der Herr und Richter über die
Antworten von Himmel und Erde und über alles, was in ihnen ist, wenn sie sagen:
„Wir sind nicht Gott“ und: „Er hat uns gemacht.“ Der innere Mensch gewinnt seine
Erkenntnisse durch den Dienst des äußeren! Ich, der innere, erkenne es, ich, der
Geist, durch die Sinne meines Leibes.
So habe ich die gewaltige Welt über meinen Gott gefragt, und sie hat mir geantwor-
tet: „Ich bin es nicht; er hat mich gemacht!“

B. Die Weise der analogen Gotteserkenntnis

a. Die drei Prinzipien der analogen Gotteserkenntnis


Es wurde festgehalten, dass zwischen Welt und Gott eine Ähnlichkeit des Seins besteht,
die Gott in sie hineingelegt hat. Beide „sind“, wenn auch der unendliche Gott in einer
ganz anderen Weise als die endliche Welt „ist“. Die katholische Theologie macht sich
diese Ähnlichkeit zunutze, indem sie vom geschöpflichen Sein Schlüsse auf das Sein
Gottes zieht, z. B. etwa aus der Weisheit innerhalb der Naturordnung auf die „Weisheit“
Gottes. In der Analogielehre lassen sich drei klassische Prinzipien dieses Schließens un-
terscheiden: durch Bejahung, durch Verneinung und durch Übersteigerung.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 63 -

1. „Via affirmativa“: Der Mensch erkennt in den Dingen dieser Welt verschiedene gute
Eigenschaften. Die Scholastik nennt solche auch „perfectiones“, Vollkommenheiten. Das
Kausalitätsprinzip berechtigt nun, diese Vollkommenheiten auch von Gott zu behaupten.
Gott ist ja die letzte Ursache des endlichen Seins, und da die Wirkung nicht vollkomme-
ner sein kann als die Ursache - nemo dat, quod non habet -, muss auch in Gott die gute
Eigenschaft vorhanden sein. Z. B.: eine Vollkommenheit im endlichen Sein ist die Perso-
nalität, also kann geschlossen werden, dass auch Gott personal sein muss. Gott kann nicht
bloß ein abstraktes wabberndes Nirvana sein, während seine geistigen Geschöpfe die
Würde der Personalität besitzen; die Ursache kann nicht weniger sein als die Wirkung.
2. „Via negativa“: Der Mensch erkennt im Sein der Welt aber auch etliche negative Ei-
genschaften, etwa die Vergänglichkeit, die Begrenztheit, die Sterblichkeit, das Unterwor-
fensein unter die Gesetze des quantitativen Raumes usw. Dies alles stellt eine Einschrän-
kung im eigentlichen Sein dar, eine „privatio“ des Seins, eine „Unvollkommenheit“. Die-
se „imperfectiones“ aber können sich in Gott nicht vorfinden, da er reines uneinge-
schränktes Sein sein muss, sie müssen von Gott negiert, ferngehalten werden. Die „Via
negativa“ oder auch „Via remotionis“ schaut auf das reine Sein Gottes: Gott ist folglich
un-endlich, un-sterblich, un-begrenzt, un-vergänglich usw. Wo in der natürlichen Gottes-
erkenntnis die Negation vernachlässigt wird, entstehen sehr menschliche Vorstellungen
von Gott, Mythen. Das Wesen der anthropomorphen Gottesidee - wie etwa die antiken
Göttervorstellungen - liegt ja eben darin, auch die endlichen Unvollkommenheiten (Kör-
perlichkeit, Affekte, Vielheit usw.) auf das göttliche Sein zu übertragen.
Schon Xenophanes († 478 v. Chr.) kritisiert die mythologische Göttervorstellung:
„Homer und Hesiod haben alles den Göttern angehängt, was nur bei Menschen
Schimpf und Tadel ist: Stehlen und Ehebrechen und einander Betrügen… Auch wäh-
nen die Sterblichen, die Götter würden geboren und hätten Gewand und Stimme und
Gestalt wie sie. Doch wenn die Ochsen und Rosse und Löwen Hände hätte oder ma-
len könnten mit ihren Händen und Werke bilden wie die Menschen, so würden die
Rosse roßähnliche, die Ochsen ochsenähnliche Göttergestalten malen und solche
Körper bilden, wie jede Art gerade selbst ihre Form hätte. Die Äthiopier behaupten,
ihre Götter seien stumpfnasig und schwarz, die Thraker, blauäugig und rothaarig…“94
So droht, wo die Negation vernachlässigt wird, die Mythologie. Wo hingegen nur das
„Nicht-So-Sein“ Gottes betont wird, entsteht eine „negative Theologie“, auch „apophati-
sche Theologie“ genannt, in der Gott immer nur der Unbegreifliche, Ganz-Andere ist.
Die östlichen Religionen sind zu sehr von diesem „Aliud“ Gottes geprägt. – Treffend die
Sicht des Nikolaus von Kues: Gott ist das „Aliud“, weil er das „Non-aliud“ ist.

94 XENOPHANES, Fragmente 11f. und 14-16, zitiert nach: W. Jaeger, Die Theologie der
frühen griechischen Denker, Stuttgart 1953, 54.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 64 -

3. „Via eminentiae“: Das dritte Prinzip besagt, dass alles, was von Gott aus dem endli-
chen Sein abgeleitet wurde, ins Übermaß gesteigert werden muss. Weisheit, Güte, Un-
endlichkeit usw. gibt es in Gott nicht nur in großem Maß, sondern in einem alles überra-
genden, unvorstellbaren Maß, eben im „eminenten Sinn“. Endliche Eigenschaften dürfen
nicht bloß quantitativ vergrößert werden (wie man von einem Wassertropfen auf ein gan-
zes Meer denkt), sondern müssen auch qualitativ ins Unendliche übersteigert gedacht
werden. Die „Via eminentiae“ hat das klarzustellen, was die Analogiedefinition des 4.
Laterankonzils die „major dissimilitudo“ nennt: Erkenntnis des endlichen Seins und Got-
teserkenntnis sind nicht univok, sondern eben nur analog.
Die drei Wege von Affimation, Negation und Eminenz, sind voneinander nicht zu tren-
nen, wenn man zu einem Begriff vom Sein Gottes gelangen möchte. In jeder Übertragung
auf Gott müssen alle drei Prinzipien ihre Anwendung finden. Z. B.: Die Schönheit ist
eine Vollkommenheit des endlichen Seins, also ist auch das unendliche Sein schön (via
affirmativa). Die Schönheit Gottes ist aber nicht an materielle Ausdrucksformen gebun-
den wie das endliche Sein, sie ist also weder beschränkt noch vergänglich (via negativa).
Da Gott also ohne Einschränkungen in höchstem Maße schön sein muss, ist er die absolu-
te Schönheit, die Schönheit selbst (via eminentiae).
Die neuscholastischen Lehrbücher geben eine Bibelstelle an, in welcher die drei phi-
losophischen Prinzipien analoger Gotteserkenntnis zusammengefaßt scheinen. Aus
didaktischen Gründen sei auf diese Stelle Sir 43,27ff. verwiesen. Dort ist davon die
Rede, dass „Gott alles ist: το παν εστιν αυτος!“ (affirmatio), sodann jedoch heißt es,
dass er „größer ist als all seine Werke!“ (negatio). Und schließlich wird dazu aufge-
fordert, den Herrn nach allen Kräften zu preisen, denn „er ist noch größer!“ (eminen-
tia)95.
Satz 32: Ein verstandesmäßiges Schließen vom endlichen Sein auf das Sein Got-
tes ist unter der Bedingung möglich, dass die Prinzipien der Affirmati-
on, Negation und Eminenz angewendet werden.

b. Die Grenzen der bloß natürlichen Gotteserkenntnis


Die katholische Theologie traut dem natürlichen Verstand sehr viel zu: so kann nicht nur
die Existenz des Schöpfergottes „sicher“ (1. Vatikanum) erkannt werden, sondern auch
bestimmte Wesenseigenschaften kann sich die Philosophie erdenken. Die Einsicht, dass
Gott allmächtig, weise, gütig, allumfassend, unendlich, unvergänglich, ewig, geistig, per-
sonal usw. ist, bedarf keines Glaubensaktes, sondern ist der bloßen Vernunft zugänglich,

95 M. PREMM, Katholische Glaubenskunde. Ein Lehrbuch der Dogmatik, Bd. 1: Wien 1951,
86.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 65 -

sodass es tatsächlich eine philosophische Gotteslehre96 gibt! Es ist hier jedoch festzuhal-
ten, dass die natürliche Gotteserkenntnis, auch wenn sie nach den beschriebenen Prinzi-
pien vorgeht, begrenzt ist, sie bleibt der von Paulus sosehr gelästerten „Weisheit dieser
Welt“ verhaftet. Aus folgenden Gründen:
1. Die analoge Gotteserkenntnis häuft Eigenschaft über Eigenschaft auf Gott und trifft
gerade damit nicht das Wesen Gottes. Gottes Sein ist ja nicht zusammengesetzt, sondern
höchst einfach. Gott ist nicht allweise und allmächtig und unendlich usw., sondern er ist
das einfache Sein schlechthin. Das zusammengesetzte und sukzessive Beschreiben des
Wesens Gottes ist bereits Zeichen, dass wir Gott nicht adäquat erkennen.
2. Die analoge Gotteserkenntnis ist nur analog. Erich Przywara hat in unserem Jahrhun-
dert - mit dem 4. Laterankonzil - unablässig betont, dass Gott immer größer ist als er er-
dacht werden könnte: „Deus semper major“97. Anselm von Canterbury hat recht, wenn er
Gott dasjenige nennt, „quo maius cogitari nequit“, worüberhinaus man nichts Größeres
denken kann98. Es gibt also das Prinzip des beständigen „maius“, d. h. deshalb auch: das
Prinzip des beständigen: „ganz anders“! Ein Beispiel: Die natürliche Erkenntnis stellt mit
Sicherheit fest, dass Gott mächtig ist, aber ebenso sicher stellt sie fest, dass Gott ganz
anders (maius) mächtig ist, als wir dies aus dem Endlichen kennen. In der christlichen
Offenbarung wird Gott selbst dem Glaubenden diese Einsicht bestätigen, indem er seine
Allmacht gerade in der Ohnmacht des Kreuzes zeigt.
3. So bleibt festzustellen, dass die Gotteserkenntnis der Philosophie letztlich inadäquat
bleibt. Der endliche Verstand hat keine Möglichkeit das Wesen Gottes adäquat, d. h. sei-
nem wahren Sein gemäß, zu erfassen. Nur Gott erkennt sich selbst in adäquater Weise.
Dennoch ist die Anstrengung solcher Gotteserkenntnis nicht falsch oder überflüssig. Sie
führt gleichsam in die Erkenntnis der Unerkennbarkeit Gottes:
Przywara: „Das denkende Erkennen Gottes beginnt und muss beginnen mit der theo-
logia positiva der Eigenschaften Gottes, wie sie sich gleichermaßen in der Schöpfung
widerspiegeln; aber sein Höhepunkt, da, wo es einigermaßen zu erkennen beginnt,
was eigentlich Gott sei, ist die Erkenntnis Gottes als des Unbekannten, d. h. als desje-

96 Vgl. W. BRUGGER, Summe einer philosophischen Gotteslehre, München 1979; B.


WEISSMAHR, Philosophische Gotteslehre, Stuttgart 1983.
97 „Deus semper major” ist der Titel eines der Hauptwerke Przywaras (ein dreibändiger
Kommentar zu den ignatianischen Exerzitien, 1938). Das andere Hauptwerk nennt Przywa-
ra „Analogia Entis” (1932
98 Urheber der Formulierung „semper major” ist AUGUSTINUS, In psalmum 62,16: „Wie
sehr wir auch wachsen würden, immer ist Er je größer, sodass wir unter Ihm, dem je Grö-
ßeren, immer die Kücken bleiben.”
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 66 -

nigen, dessen eigentliche Transzendenz erst an der Wesensschranke dieses denkenden


Erkennens geheimnisvoll aufleuchtet.“99
Die Unbegreiflichkeit Gottes - als die Form seines Wesens - ist somit das eigentliche Ziel
der natürlichen Theologie. Die Anstrengung der Vernunft ist also gerade dort, wo sie im
Staunen über die Unfaßlichkeit der Größe Gottes endet, nicht umsonst, sondern an ihrem
eigentlichen Ziel. Und damit ist auch die Fähigkeit der Vernunft definiert:
Anselm von Canterbury: „Consideratio rationabiliter comprehendit, [Deum] in-
comprehensibile esse! - Das Denken kann mit der Vernunft erfassen, dass Gott mit
der Vernunft nicht zu erfassen ist!“100
Satz 33: Philosophische Gotteserkenntnis bleibt inadäquat, da Gott vom endli-
chen Verstand nicht endgültig erfaßt werden kann; sie bleibt auch
fragmentarisch angesichts der Herrlichkeit, mit der sich Gott in seiner
Offenbarung selbst zu erkennen gibt.

C. Der „Gott der Philosophen“ ist (noch) nicht der lebendige Gott Jesu
Christi

a. Menschenweisheit
1. Obwohl die Philosophie hier der Theologie Hilfe und Vorschub leisten kann, bleibt das
Gottesbild, das der Mensch philosophisch erreicht, doch immer nur ein skizzenhaftes Ne-
belbild. Das 4. Laterankonzil hat definiert, dass die Unähnlichkeit zwischen Gott und
Welt immer größer ist als die Ähnlichkeit, die der menschliche Geist ergründen kann. Die
philosophische Gotteslehre bleibt fragmentarisch. Wie könnte der Mensch auch ohne
Gottes Offenbarung ahnen, dass Gott das liebende „Du“ des Menschen sein will101. Die
Dreifaltigkeit, die Menschwerdung, die sühnende Selbstdarbringung des Sohnes Gottes
für die Sünden der Menschen am Kreuz, all das bleibt dem Philosophen „undenkbar“!
Hier zeigt sich, dass die Weisheit auch der philosophischen Theologie nur Menschen-
weisheit bleibt.
Es gab Zeiten in der Theologie, wo man dem philosophischen Gottesbild sehr huldigte.
Vor allem die Aufklärung, die dem Deismus huldigte, wollte Gott vor allem bei seinen
vernunftmäßig zugänglichen Eigenschaften begreifen: Gott als erstes Sein, höchstes Gut,

99 E. PRZYWARA, Religionsphilosophie katholischer Theologie, 32, hier zitiert nach M.


PREMM, Katholische Glaubenskunde. Ein Lehrbuch der Dogmatik, Bd. 1: Wien 1951, 85.
100 ANSELM VON CANTERBURY, Monologion 64 (Schmitt I, 75, 11-12)
101 So kann beispielsweise der Philosoph Martin Buber in seiner dialogischen „Du-
Philosophie” nur deshalb von Gott als dem Über-Du sprechen, weil er als Jude geprägt ist
von der alttestamentlichen personalen Gottesoffenbarung.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 67 -

als Weltenbauer usw. Die aufgeklärte Sprache ersetzte sogar das Wort Gott durch Eigen-
schaften des göttlichen Wesens: „die Vorsehung“ (La providence), „die göttliche Weis-
heit“, „der erhabene Baumeister“ (Le grand architecte) usw.
2. Der Ausdruck „Gott der Philosophen“ stammt aus dem Mémorial von Blaise Pascal
(1623-1662, Frankreich).
Blaise Pascal († 1662) hat gegen die aufgeklärte Religionsphilosophie streng unterschie-
den zwischen dem philosophisch erdachten Gott und dem Gott der christlichen Offenba-
rung. Er prägt in seinem Mémorial für den philosophisch erdachten Begriff von Gott den
Ausdruck vom „Gott der Philosophen“ und stellt ihm den „Gott Abrahams, Isaaks und
Jakobs“ gegenüber. Eine Gegenüberstellung, die in die Sprache der Theologie eingegan-
gen ist102. Der bewiesene und beweisbare Gott, der Gott des kühlen reinen Seins, der Gott
als letzte Ursache ist nicht der lebendige Gott103.
Pascal hatte sich in seiner Jugend als Mathematiker und Physiker hohes Ansehen er-
worben. 1654 erfuhr er eine Bekehrung, ein mystisches Erlebnis. Bislang war sein
Gottglaube der übliche „Deismus“: also ein abstraktes göttliches Etwas jenseits der
Weltwirklichkeit.
Das Mémorial ist ein Stück Papier, das man nach Pascals Tod eingenäht in seine
Kleider fand. Handschriftlich hat er dort sein Bekehrungserlebnis festgehalten: „Jahr
der Gnade 1654. Montag, den 23. November, Tag des heiligen Klemens, Papst und
Märtyrer, und anderer im Martyrologium… Seit ungefähr abends zehneinhalb bis un-
gefähr eine halbe Stunde nach Mitternacht: Feuer: ‚Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott
Jakobs’, nicht der Philosophen und Gelehrten. Gewißheit, Gewißheit, Empfinden:
Freude, Friede. Gott Jesu Christi… Nur auf den Wegen, die das Evangelium lehrt, ist
er zu finden… Freude, Freude, Freude und Tränen der Freude… Nur auf den Wegen,
die das Evangelium lehrt, kann man ihn bewahren…“
Pascal schloss sich dann der jansenistischen Bewegung (streng, antijesuitisch, sola
gratia – eine katholische Form des rigorosen Luthertums – an.) Man kämpfte dort vor
allem gegen den moralischen Laxismus der Jesuiten!
Was merken wir uns? Dass beides gilt: Gott ist grundsätzlich dem vernünftigen Nach-
denken erkennbar. Diese natürliche Erkenntnis wird aber überhöht / und korrigiert / durch
die Selbstoffenbarung Gottes. Die Kirche hält immer daran fest, dass die natürliche Got-

102 Blaise PASCAL, Über die Religion und über einige andere Gegenstände (Pensées). Übers.
und hrsg. von E. Wasmuth, Heidelberg 1972, 250-254.
103 Vgl. JOHANNES PAUL II., Die Schwelle der Hoffnung überschreiten, Hamburg 1994,
56.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 68 -

teserkenntnis die übernatürliche Offenbarung nicht überflüssig macht104, sondern be-


gründet.
Satz 34: Der Gott, den die Vernunft erkennen kann, ist noch nicht der Gott, wie
er sich in Jesus Christus geoffenbart hat. Die übernatürliche Offenba-
rung wird also durch die natürliche Theologie nicht überflüssig.

b. Der Wert der natürlichen Theologie für die übernatürliche Theologie


Wozu dann überhaupt die Bemühungen des Verstandes, wozu die im 19./20. Jahrhundert
von der Kirche so heftig verteidigte „ratiocinatio“ (logische Schlussfolgerung) hin zum
Sein Gottes? Warum die langen und argumentativen Ausführungen von Papst Johannes
Paul II. in seiner Enzyklika „Fides et Ratio“ von 1998, die im letzten dem Schutz des
Heiligtums der Vernunft dienen?
1. Der erste und wichtigste Grund liegt in der Behauptung, dass der Glaube an Gott nicht
„widersinnig“ oder „widervernünftig“ ist. Zwischen Vernunft und Glaube gibt es keinen
Gegensatz, beide arbeiten einander in die Hand. So das 1. Vatikanische Konzil in „Dei
Filius“:
„Aber auch wenn der Glaube über der Vernunft steht, so kann es dennoch niemals ei-
ne wahre Unstimmigkeit zwischen Glauben und Vernunft geben: denn derselbe Gott,
der die Geheimnisse offenbart und den Glauben eingießt, hat in den menschlichen
Geist das Licht der Vernunft gelegt; Gott aber kann sich nicht selbst verleugnen, noch
kann jemals Wahres Wahrem widersprechen.“105
Das 2. Vatikanische Konzil schlägt - etwas moderater - denselben Ton an, indem es fest-
stellt, dass das Bekenntnis zu Gott dem Menschen weder seinen Verstand noch seine
Freiheit raubt106. Glaube ist nicht Aberglaube.
2. Der zweite Grund liegt schließlich darin, dass die natürliche Gotteserkenntnis gleich-
sam die Höhe erkennen lässt, aus der sich Gott in seiner Selbstoffenbarung in Jesus
Christus gleichsam „hinabstürzt“. Christliche Offenbarung hat ja die Struktur des Ab-
stiegs, Gott offenbart sich in einer absteigenden Bewegung „de arriba“, „von oben her-
ab“107: der Unendliche wird zum Endlichen, der Allmächtige zum Ohnmächtigen, der
Unsterbliche zum Sterblichen usw.

104 1. Vatikanisches Konzil, Dei Filius: DH 3027. Vgl. das grundlegende zweibändige Werk,
hrsg. v. W. WEISCHEDEL, Der Gott der Philosophen, Darmstadt 1971/1972; auch: J.
SPLETT, Über die Möglichkeit, Gott heute zu denken, in HFTh 1,136-155
105 1. Vatikanisches Konzil, Dei Filius: DH 3017.
106 2. Vatikanisches Konzil, Gaudium et Spes 21: DH 4321
107 So Ignatius von Loyola in seinem Exerzitienbüchlein.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 69 -

3. Der dritte Grund liegt darin, dass die philosophisch erdachten Eigenschaften des Seins
Gottes in der christlichen Offenbarung nicht geleugnet werden, sie werden jedoch „sub
contrario“, durch ihr Gegenteil (hier hat Luther recht) geoffenbart: Z. B. Gott verliert in
seiner Menschwerdung keineswegs seine Unsterblichkeit, er beweist die Weise seiner
Unsterblichkeit gerade darin, dass er auch sterblich werden kann, konkret: dass er am
Kreuz stirbt. So ist die Unsterblichkeit Gottes - in der Auferstehung Jesus Christus ge-
schaut - ganz anders als die abstrakte Unsterblichkeit, wie die Philosophen sie sich
erdachten. Die Erkenntnisse der Theologia naturalis werden von der Theologia suprana-
turalis nicht abgestreift, sondern durch die konkrete Offenbarung präzisiert und auf un-
ausdenkbare Weise vertieft.
Satz 35: Die natürliche Gotteserkenntnis ist für die katholische Theologie un-
entbehrlich, da sie zeigt, dass das Werk der Erlösung (übernatürliche
Offenbarung) dem Werk der Schöpfung (natürliche Offenbarung) ent-
spricht.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 70 -

2. Der Vatername Gottes im AT und in der heidnischen Antike

A. Die Vaterschaft Gottes im Alten Testament

1. „Vatersein in Israel“: Wir betrachten zunächst das normale Vatersein in Israel. Israel
ist von einer patriarchalen Kultur geprägt. Die hebräischen und aramäischen Worte für
Vater (hebräisch ‘ab, aramäisch ‘abba) kommen etwa 1200mal im Alten Testament vor,
jedoch meist in der Bedeutung des Familien-Vaters oder der Vorfahren. In der sozialen
Stellung unterscheidet sich der hebräischer Familienvater als Haupt und Zentrum der
Familie nicht vom Vaterbild der umliegenden Kulturen.
In der späteren Zeit bezeichnet man als „Väter“ auch religiöse Persönlichkeiten, also jene
bedeutenden Männer der Vorzeit, an die die Gottesoffenbarung erging. Sir 44 schildert
diese Väter der Vorzeit, an deren Taten sich das Selbstbewußtsein der Nachkommen
erbauen kann (Sir 44,1-50,26). Hier liegt der Ursprung der „Kirchenväter“.
2. Gottes Vater-Sein als Fürsorge im AT: In übertragenem Sinn wird Jahwe also selbst
mit dem Vaternamen bezeichnet, und zwar an 15 Stellen. Es handelt sich dabei keines-
wegs um ein biblisches Spezifikum, wie der Vergleich mit den umliegenden orientali-
schen Religionen zeigt108. – Auch in den anderen Religionen wird Gott als „Vater“ be-
zeichnet. - Spezifisch für Israel ist jedoch, dass sich die Vaterschaft oder Väterlichkeit
Jahwes im geschichtlichen Handeln dieses Gottes an seinem erwählten und an ihn ge-
bundenen Volk erweist: darin, dass er sein ganzes Volk zur Kindschaft bestimmt. Wohl
um mythologische Mißverständnisse zu vermeiden, nennen die Schriften Gott nur selten
Vater109, meist im Zusammenhang mit dem „elterlichen Eifer“ Jahwes für sein Volk:
„Der Sohn ehrt den Vater, und der Knecht fürchtet seinen Herrn. Wenn ich nun Vater
bin, wo ist meine Ehre? Und wenn ich der Herr bin, wo ist die Furcht vor mir?, spricht
Jahwe Sebaot.“ (Mal 1,6)
3. Der Name „Mutter“ als Bild für die Fürsorge Gottes: Das Alte Testament kann Gott
ebenso als Mutter, mit weiblich-mütterlichen Zügen zeichnen herausgestellt (z. B. Hos
11,1-11; Jer 31,20; Jes 66,9-13). Wenn Jahwe Vater oder Mutter genannt wird, so soll
damit bildlich ein Fürsorge-Verhältnis charakterisiert werden, die Sorge Gottes um Israel:
„Kann denn eine Frau ihr Kind vergessen, eine Mutter ihren eigenen Sohn? Und

108 J. ASSMANN, Das Bild des Vaters im Alten Ägypten, in: Vaterbild - Mythos, 12-49; zum
jüdischen personalen Gottesbild: M. VOGEL, Einige Reflexionen über die jüdischen
Gottesbegriffe, in: Conc (D) 13 (1977) 155-159.
109 Dtn 32,6; 2 Sam 7,14; 1 Chr 17,13; 22,10; 28,6; Jes 63,16; 64,7; Jer 3,4.9; 31,9; Mal 1,6;
2,10; Ps 89,27; Sir 23; l.4; 5l,l0; Weish 2,16; 14,3; Tob 13,4.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 71 -

selbst wenn sie ihr Kind vergessen würde, ich vergesse dich nicht!“110 (Jes 49,15)
Der Vatername Jahwes erweist sich somit als ein Symbol, das die elterlich-fürsorgende
Beziehung Gottes zu seinem Volk ausdrücken soll. Vater ist, auf Gott angewandt, ein
„Beziehungswort“111.
Im Judentum ist es zur Zeit Jesu ungewöhnlich, Gott etwa im Gebet Vater zu nennen.
Wir finden das ja übrigens in den Psalmen: „Dixi: Pater meus es tu!“ (Ps 89,27; ebenso
Sir 51,10; Mal 1,6; 2,10).
Warum ist der Vatername häufiger, wichtiger: Um Mythologische Mißverständnisse zu
vermeiden!
Satz 36: Der Vatername ist im Alten Testament eine Metapher für die ge-
schichtsmächtige Fürsorge Gottes – Gott sorgt „wie ein Vater“ - , die
auf keinen Fall eine Geschlechtsbestimmung Gottes sein will.

B. Gott als Vater in der heidnischen Antike


Die Bezeichnung Gottes / der Götter als Vater gibt es auch in der heidnischen Antike.
Die griechische und römische Kultur der Antike war zunächst von einem mythologischen
Polytheismus, dann zunehmend von einem abstrakt-philosophischen apersonalen Gottes-
bild geprägt. Sie unterschied sich darin grundlegend von der personalen Offenbarung des
einen Gottes in der jüdischen Religion112. Dementsprechend besteht ein grundlegender
Unterschied in der religiösen Verwendung des Vaternamens!
Also: Judentum personal, griechische Philosophie: apersonal

a. In der griechischen Mythologie


Wenn Homer Zeus rund hundertmal „Vater“ bzw. „Vater der Menschen und Götter“113
nennt, so wird damit dem ranghöchsten Gott ein Ehrentitel zugesprochen. Das väterliche
Verhältnis Gottes zur Welt und zu den Menschen, das im Alten Testament durch den Va-
ternamen Gottes symbolisiert wird, kommt nicht in den Blick. Im Gegenteil: Der Ober-

110 Jes 49,15; vgl. Hos 11,1-4; Jes 66,9.13.


111 L. PERLITT (s. Anm. 10) 51; zustimmend: R. HAMERTON KELLY, Gott als Vater in
der Bibel und in der Erfahrung Jesu. Eine Bestandsaufnahme, in: Conc (D) 17 (1981) 247-
256, hier: 249
112 Vgl. N. LOHFINK, Das Alte Testament und sein Monotheismus, in: K. Rahner (Hrsg.),
Der eine Gott und der dreieine Gott, München-Zürich 1983, 28-47; R. NEUDECKER, Die
vielen Gesichterdes einen Gottes. Zur Gotteserfahrung im rabbinischen Judentum, in: ebd.
86-116.
113 Odysse 1,28; 2,1.544; Illias 1,544; weitere Belege: ThWNT 5, 952-953; RAC 18/4, 2120-
2121.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 72 -

gott verhält sich nicht fürsorgend-väterlich, sondern er ist „der Vater“ als oberster
Machthaber über den Kosmos und die Götter. Im Überstieg vom Mythos zur Philosophie
ergeben sich in dieser Bestimmung des göttlichen Vaternamens kaum Änderungen.

b. In der griechischen Philosophie

Wenn etwa Plato oder die Stoiker die Idee des Guten, Höchsten und Letzten „πατηρ“114
nennen so steht hier Vater als Synonym für den Inbegriff an Macht und Vollkomenheit.
Zeus ist Vater, weil er der „allmächtige Tyrann“ der Welt ist; aber auch die abstrakten
Philosophen können Gott Vater nennen: sie meinen damit keine personale Bestimmung
des göttlichen Wesens, sonder einfach, dass das Göttliche eben das letzte Prinzip des
Seins und Denkens ist115.
Die Kirchenväter haben später diese Differenz zum biblischen Vater-Gott durchaus er-
kannt. Klemens von Alexandrien schreibt: „Nicht auf den Ausdruck soll man achten,
sondern auf die Bedeutung. So sagt auch Homer ‚Vater der Menschen und Götter‘, ohne
zu wissen, wer der Vater ist und wie er ist.“116
Bei Plato beschränkt sich das Verhältnis der göttlichen Idee zur Weit, das durch den Va-
ternamen ausgedrückt werden soll, auf eine Art kosmologischer, ursprünglicher Zeugung
der materiellen Welt: „Den Vater und Schöpfer dieses Alls zu finden, ist eine schwere
Aufgabe, und wenn man ihn gefunden hat, ist es unmöglich, ihn allen zu verkünden.“117
Der Vaterbegriff bei Plato ist also kosmologisch. Vater sein heißt: Ursprung von allem
sein.
Satz 37: Der griechische Mythos nannte Zeus Vater, weil er durch geschlechtli-
che Handlungen die anderen Götter hervorbringt; die griechische Phi-
losophie nennt das Göttliche Vater, weil es das kosmologische Ur-
sprungsprinzip von allem ist.

3. Die Offenbarung der Vaterschaft Gottes im Neuen Testament

Das Neue Testament spricht in dreifacher Hinsicht von einer Vaterschaft Gottes: im trini-
tarischen, kirchlichen und kosmologischen Sinn.

114 V. GROSSI, Il titolo cristologico „Padre“ nell antichità cristiana, in: Augustinianum 16
(1976) 237-269, hier: 239-240; ThWNT 5, 954-955.
115 W. MARCHEL (s. Anm. 10) 39-43; P. GUTIERREZ, La paternité spirituelle selon saint
Paul, Paris 1968.
116 KLEMENS VON ALEXANDRIEN, Stromata 6, l7, l5l-l52 (GCS 2,510).
117 PLATO, Timaios 28 C; vgl. Epistola VII, 341 C.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 73 -

A. Die biblischen Grundlagen der Vateroffenbarung Jesu

a. Gott ist für Jesus anders Vater als für uns


1. Nach dem Zeugnis der Synoptiker: Vgl. ThWNT 5 (1954) 946-1016. In der Sache
steht unter allen christlichen Theologen heute einmütig fest, dass Jesus von Nazaret von
Gott in einer ausschließlichen, einmaligen Weise als „seinem Vater“ gesprochen hat. Es
besteht Analogie zwischen „eurem Vater“ und „meinem Vater“, aber keine Identität.
Das heißt: nach exegetischem Befund hat Christus sein persönliches Verhältnis zu Gott
als seinem Vater qualitativ radikal anders verstanden als das Verhältnis der anderen, sei-
ner Jünger zu Gott. Diese Differenz kommt deutlich zum Ausdruck: z. B.: Mt 7,21:
„Nicht wer zu mir sagt ‘Herr, Herr’ … sondern wer den Willen meines Vaters im Him-
mel tut.“ Noch eindrucksvoller etwa in Joh 20,17, wo Jesus am Ostermorgen zu Maria
von Magdala sagt: „Ich gehe hinauf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem
Gott und zu eurem Gott.“ (Joh 20,17)
2. Der sogenannten Logienquelle entstammt angeblich der Text in Mt 11,27 = Lk
10,21ff: „Alles ist mir von meinem Vater anvertraut worden; niemand kennt den Sohn
außer dem Vater, niemand kennt den Vater, außer der Sohn und der, dem der Sohn es
Offenbaren will.“ Daraus folgt: In der Verkündigung Christi klafft ein Unterschied zwi-
schen dem „euer Vater“ und dem „mein Vater“. Ersteres ist in Mt 6 und 7 siebenmal ent-
halten, das zweitere fünfmal. Durch diese Rede kennzeichnet sich Jesus in ausschließli-
cher Weise als den Sohn. Vgl. z., B. Mk 13,32: den jüngsten Tag kennt „nicht einmal der
Sohn, sondern nur der Vater“. Im Gleichnis von den Winzern nennt er als letzten, den der
Vater sendet, „seinen geliebten Sohn“ (Mk 12,6).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass nach den Synoptikern Jesus den Anspruch er-
hebt, mit dem Vater so innig verbunden zu sein, dass nur er ihn erkennt und diese Er-
kenntnis weitergeben kann (Mt 11,27; Lk 10,22); dass er existentiell vom Vater her und
auf den Vater hin lebt, dass er in Gott einen Vater sieht, dessen Güte und Väterlichkeit
auch jenen offensteht, die zu ihm als ihrem Vater beten.

b. Jesus nennt Gott seinen „abba“


1. Dieses einzigartige Gottesverhältnis Jesu wird vor allem durch die Zeugnisse belegt,
nach denen Christus im Gebet Gott als „seinen Vater“ anruft: Mk 14,36: „Abba, Vater,
alles ist dir möglich…“ Die Abba-Anrede an Gott den Vater ist schlicht auffällig!
Zentral für das Gottesverhältnis Jesu ist die Stelle im ältesten synoptischen Evangelium:
in Mk 14,36par. Es fällt dabei auf, dass der griechischschreibende Markus dieses aramäi-
sche Fremdwort dort in der extrem zugespitzten Todessituation am Ölberg bringt. Sonst
übersetzt er immer mit „pater” und bringt überhaupt wenig Aramäisches. Warum gerade
hier „abba”? Ihm scheint es wichtig zu sein, dass Jesus auch und gerade da noch abba
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 74 -

sagt: In der Situation menschlicher Isolation und Frustration gibt es also immer noch die-
se Relation auf Gott, ist Gott immer noch „abbah”.
2. Für den evangelischen Exegeten Joachim Jeremias ist dies gleichsam der springende
Punkt der neutestamentlichen Offenbarung, an dem sich die Richtigkeit der Trinitätslehre
entscheidet: dass Jesus seinen Vater als liebenden „Papa“ betrachtet. Lange Zeit hat man
mit J. Jeremias (Abba. Studien zur neutestamentlichen Theologie. Göttingen 1966) ge-
meint, dass es sich bei dem Ausdruck „abbah” um eine völlig außergewöhnliche, diminu-
tive und affektive Form von „ab” handelt. Sie sei etwa im Sinn von „Papi, Vater, Daddy”
zu verstehen. — Später hat Jeremias dann zurückgezogen: Abbah sei die normale, unver-
bindliche Anrede des Kindes an den Vater gewesen. Auch Erwachsene hätten ihren Vater
so angesprochen. Dies ist auch heute die gängige Meinung. Freilich: ein Hauch von Inti-
mität schwingt schon durch. Sicher ist auch, dass die Juden zur Zeit Jesu Gott zwar als
„ab” oder „abi” anredeten, nicht aber als „abba” „Abba” ist ganz sicher originäre Sprache
Jesu!
3. Aus den Passionsberichten sind uns ähnliche Ausdrücke überliefert (Mt 26,53f.; Lk
22,42; 23,34; 23,46), wenngleich der aramäische Koseausdruck „Abba“ sich nur in der
Passionserzählung des Markus findet und dann in Gal 4,4-7, wo der Geist des Sohnes es
ist, der in den Herzen der Gläubigen ruft „Abba, Vater!“ und sie so von Knechten zu
Söhnen, von Söhnen zu Erben macht!
Kurz: Dass Jesus den erhabenen Gott Israels in der Umgangssprache und mit großer Di-
rektheit als „abba, Vater” anredet, bezeugt wie vertraut und intim er mit ihm ist.
Satz 38: Jesus nennt Gott-Jahwe nicht nur Vater im metaphorischen Sinn, son-
dern im Sinn einer einzigartigen personalen Beziehung („abba“: Mk
14,36).

c. Der ewige Vater sendet seinen ewigen Sohn (johanneisch)


1. Die Synoptiker sind der „Historie“ viel näher als Johannes. Johannes betreibt bereits
Theologie: Wenn Gott der ewige Vater Jesu ist, wie ist dann das ewige Verhältnis zwi-
schen Vater und „Sohn“? Das ist seine Fragestellung.
Nach dem Zeugnis der johanneischen Schriften. Im Johannesevangelium findet sich
allein quantitativ 115mal der Name Vater für Gott: Der Vater ist nach Joh der Veranstal-
ter und Spender der Offenbarung, der Sohn ist der Offenbarende schlechthin. Wie Paulus
in seinen Hauptbriefen vertritt auch der vierte Evangelist die Präexistenz Christi. Schon
der Prolog nennt Jesus Christus den im Anfang bei Gott Weilenden, der dann Fleisch, das
heißt wirklicher Mensch geworden ist und unter uns gelebt hat. Der präexistente Sohn ist
also vom Himmel herabgestiegen (3,13). Jesus bezeichnet sich selbst als das vom Him-
mel herabgekommene Lebensbrot (6,33.35.48-51). Zu den Juden sagt er zu ihrer Empö-
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 75 -

rung: „Wahrlich, wahrlich ich sage euch: Ehe Abraham ward, bin ich.“ (8,58). In den
Abschiedsreden spricht er von der Herrlichkeit, die er vor seinem irdischen Dasein besaß
(17, 5.24). Das Menschwerden des Präexistenten hat einen Grund: der Wille des Vaters.
Das Gekommensein ist ein Gekommensein im Gehorsam (3,19; 9,39; 11,27); 8,42; 13,3)
gegenüber dem Vater, damit dieser von der Welt erkannt werde.
2. Das Erkennen des Vaters, der Heilsveranstaltung des Vaters, ist das Grundthema der
johanneischen Schriften: Der Sohn kennt den Vater, weil er von ihm her ist, was er ist
(Joh 7,29); er kennt ihn und bewahrt sein Wort (Joh 8,55); er verkündigt sein Wort, damit
die Menschen den Vater erkennen und den, den er gesandt ht, denn das ist ewiges Leben
(17,3). Im Sohn wird der Vater erkannt, denn wer den Sohn erkennt, der erkennt, dass in
ihm der Vater ist und er im Vater ist (10,38)
Im „hohenpriesterlichen Gebet“ bittet Jesus den Vater, die Glaubenden mögen unterein-
ander ein sein, so wie der Vater im Sohn und der Sohn im Vater ist (17,21). Die Liebe
zwischen Vater und Sohn, das ist auch die Wirklichkeit, in welche der Geist einführen
soll. Der Geist wird erkennen lassen, „dass ich in meinem Vater bin und ihr in mir und
ich in euch“ (14,20) Es gibt nach dem Zeugnis des Johannesevangeliums eindeutig eine
trinitarische Selbstunterscheidung Gottes, sie wird mit der Gottesdefinition in 1 Joh
4,8.16 in die Formel gebracht: „Gott ist die Liebe!“
3. Bei Joh gibt es also eine eindeutige „Aktionsrichtung“, sie verläuft vom Vater zum
Sohn und vom Sohn zu den Jüngern und hat den einen Zweck: dass im Sohn das Wesen
des Vaters kundgetan werde. Das geschieht in seiner Hingabe, in seinem Für-Sein. Dieses
Für-Sein ist sosehr Wesen des Sohnes und darin Wesen des Vaters, dass es bei Johannes
nicht weiter hinterfragt wird. Während bei den Synoptikern und bei Paulus oder im Heb-
räerbrief das Geheimnis des Kreuzes gleichsam aufgearbeitet wird als ein sühnendes,
stellvertretendes Sterben für uns, eine Genugtuung für unsere Sünden usw., so spekuliert
Joh nicht. In der Hingabe des Sohnes leuchtet die Liebe, und damit soll es gut sein. Wa-
rum Gott liebt, welche Gründe er dafür hat, das ist bei Johannes nicht reflektiert, wird im
Geheimnis gelassen. Die Liebe darf nicht befragt werden, warum sie liebt. Ihr Wesen ist
es grundlos zu sein. Diese Grundlosigkeit hebt im Vater an, der seinen Sohn hingibt, stei-
gert sich in der Hingabe des Sohnes zu einer welthaften heilsdramatischen Darstellung
dieser Liebe und wird im Heiligen Geist in den Herzen der Jünger erkannt und angebetet.
Satz 39: In der Theologie des Johannesevangeliums wird das Verhältnis zwi-
schen Jesus und Gott bereits als vertrauliches Verhältnis des präe-
xistenten Sohnes zu seinem ewigen Vater dargestellt.
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B. In welcher Weise ist Gott „unser Vater“?

a. Gott ist Vater im Sinn von Schöpfer


Im Apostolikum heißt es: „ich Glaube an Gott den Vater, den Pantokrator“.
Der ewige Vater des Sohnes und der fürsorgliche Vater der Kirche ist aber zugleich in
einem dritten Sinn der souveräne Vater und Schöpfer der Welt. Was die vorchristlichen
Philosophien schon ahnten, ist im Christentum durch Gott selbst offenbart worden: Gott
ist ein schöpferischer Vater. Dasselbe Motiv von Gott als dem Vater des Kosmos, das
bereits im Hellenismus begegnete, findet sich somit auch im Neuen Testament (vgl. Röm
1,7; Gal 1,1; Eph 4,5 usw.), wobei die Unähnlichkeit überwiegt, denn die schöpferische
Vaterschaft Gottes wird durch die Mittlerschaft des Logos in neuer Weise bestimmt.
Gott ist Vater auch im neutestamentlichen Sinn, insofern er Urheber und Ursprung aller
Menschen und Dinge ist, daher „hat von ihm jede Vaterschaft im Himmel und auf Erden
ihren Namen“. (Eph 3,15)

b. Gott ist Vater im Sinn von „fürsorgend wie ein Vater“


Im AT haben wir gesehen: Gott ist fürsorgend „wie ein Vater“ – Jesus hat das andauernd
in seinen Ansprachen. Es ist jener Vater der Gleichnisse und Parabeln Jesu, der sich wie
ein barmherziger Hausvater zu seinen Geschöpfen verhält, und an den sich die Kirche im
Gebet vertrauensvoll wenden darf: „Unser Vater im Himmel“ (Lk 11,2; Mt 6,9). Also:
Jesus mahnt uns, Vertrauen in den Fürsorge Gottes zu haben, so wie man einem Vater
vertraut.
Diese neue kindschaftliche Beziehung der Menschen zu Gott, ihrem fürsorgenden Vater,
verlangt nach Exklusivität. Daher das Herrengebot: „Auch sollt ihr niemand, unter euch
auf Erden Vater nennen, denn einer ist euer Vater, der im Himmel.“ (Mt 23,9). Dieses
Wort verbietet sicher nicht, den leiblichen Vater „Vater“ zu nennen; es wurde auch nie-
mals so verstanden. Auch kann schwer erwiesen werden, dass sich der Evangelist hier
bereits gegen den Gebrauch von Vatertiteln in der jungen Kirche wendet118. Der konkrete
Sitz im Leben liegt wohl am wahrscheinlichsten darin, dass sich das Herrengebot gegen
den Brauch der Rabbinen richtet, die sich damals üblicherweise mit Rabbi, Ab oder Ab-
bah anreden ließen119. Hier soll die Einzigartigkeit des göttlichen Vaters betont werden,

118 Diese Meinung vertreten u.a.: E. NEUHÄUSLER, Der Bischof als geistlicher Vater nach
den frühchristlichen Schriften, München 1964, 44; K. HEUSSI, Der Ursprung des
Mönchtums, Aalen 1981 (Neudruck der Ausgabe Tübingen 1936), 166, Anm. 1.
119 Vgl. Anm. 25. Die Anrede „Väter“ für die Schriftgelehrten ist uns sogar in der Schrift
überliefert Stephanus wendet sich in Apg 7,2 mit den Worten an den Hohen Rat: „Brüder
und Väter, hört mich an.“ (Vgl. Apg 22,1). Es sind zudem verschiedene Inschriften
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 77 -

die durch menschliche Vaterschaftsverhältnisse, wie sie sich in Titeln manifestieren,


nicht relativiert werden darf.

c. Gott ist unser Vater, weil er uns Christus als seine Söhne adoptiert hat
Jedoch steht auch diese Weise der Vaterschaft Gottes nicht einfach in reiner Kontinuität
zu der alttestamentlichen Väterlichkeit Jahwes. Schließlich haben die Jünger nur über den
Sohn Zugang zur Vaterschaft Gottes; nur als Miterben und Söhne dürfen sie teilhaben an
der Sohnschaft Christi und im Geist rufen: „Abba, Vater“ (Gal 4,6; Röm 8,15). Diese
beiden Stellen sind älter als die Abba-Stelle in Mk 14,36! Hier ist etwas Neues gesche-
hen: der betende Christ weiß sich Gott unmittelbarer als der betende Jude!
„Der jüdische Sprachgebrauch zeigt, wie das urchristliche Vater-Kindes-Verhältnis zu
Gott alle im Judentum gesetzten Möglichkeiten an Intimität weit übertrifft, vielmehr an
dessen Stelle etwas Neues setzt.“120

d. Konkrete Folgerungen
Die Sohnschaft Jesu Christi umfasst kraft seiner Menschwerdung alle Menschen. Sie
muss freilich im Glauben angenommen und im Leben bewährt werden.
Es geht darum, dass wir erkennen, dass wir Kinder Gottes sind. Jesus hat Gott, seinen
„Vater“ unendlich geliebt. Er wollte offenbaren, dass dieser Vater kein grausamer Des-
pot, verborgen hinter Blitzen und Donner ist, wie die Römer und Griechen das dachten;
er wollte offenbaren, dass Gott nicht bloß eine abstrakte mitleidslose Schicksalsmacht ist,
wie die Gnosis damals und New Age heute das lehren; er wollte offenbaren, dass Gott
den Sünder nicht verwirft, sondern ihn retten will, dass er wie ein barmherziger Vater
Ausschau hält nach der Rückkehr des verlorenen Sohnes. – Daher geschah es, als die
Jünger Jesus baten: „Herr, lehre uns beten!“, da antwortete er: So sollt ihr beten: Und er
lehrte die Jünger, Gott als „unseren Vater“ (Mt 6,9; Lk 11,2) anzureden. Er will, dass wir
erkennen, dass sein Vater auch unser Vater sein will. Anders gesagt: Er will, dass wir
Kinder Gottes werden.
Wie wird man zum Kind des Vaters? Indem man zum Christus wird, indem man in die
Gestalt Christi eintritt; das geschieht durch die Taufe. In der Taufe ziehen wir Christus
wie ein Gewand an (Taufkleid), er wird zu unserem inneren Licht (Taufkerze), wir wer-

überliefert, die den Synagogenvorsteher „pater synagogiae“ nennen: H. LECLERCQ, Art.


Pater, Pateressa, in: DACL 13, 2414-2415. Wie die zahlreichen Funde beweisen war
πατηρ συναγωγης ein feststehender Titel, ob es sich dabei jedoch um den geistlichen
Leiter der Synagoge oder bloß den „Patron“ des Gebäudes handelte, lässt sich nicht mit
Sicherheit sagen. Die Tatsache, dass es auch eine weibliche „pateressa“ gab, spricht eher
für Letzteres.
120 G. KITTEL, in: ThWNT 1,6.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 78 -

den gesalbt (Chrisam), weil Christus ja Gesalbter heißt, und düfen fortan den Namen
Christ tragen, was ja soviel heißt wie „Gesalbter“. Durch die Taufe sind wir Kinder Got-
tes, genauer: wir sind Söhn im Sohn. Und weil der Sohn den Heiligen Geist ausgießt,
schreibt Paulus: „ihr habt den Geist empfangen, der euch zu Söhnen macht, den Geist, in
dem wir rufen: Abba, Vater!“ (Röm 8,15; vgl. Gal 4,6)
„Söhne im Sohn“, „Adoptivsöhne“
Das ist eigentlich aufregend: Wir sterblichen Menschen haben durch den Sohn Gottes
eine solche Salbung durch den Geist empfangen, dass wir in genau derselben Zutraulich-
keit zu Gott beten dürfen, wie Jesus selbst. Wir dürfen zu Gott auch sagen: „Abba“, „Pa-
pa“. Unser guter lieber Vater.
Und keine Angst: Dadurch verharmlosen wir Gott nicht, weil er ja weiterhin der allmäch-
tige bleibt, der Schöpfer, der erhabene Herrscher aller Mächte und Gewalten. Wir haben
als Christen das Privileg, diesen Gott, den alle Religionen suchen, als unseren guten Va-
ter zu kennen und anzubeten. Wir können mit dem Epheserbrief beten: „Gepriesen sei der
Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus: Er hat uns mit allem Segen seines Geistes
gesegnet durch unsere Gemeinschaft mit Christus im Himmel.“ (Eph 1,3; vgl. 1 Petr 1,3;
2 Kor 1,3)
Satz 40: Das Bekenntnis zu Gott als Vater umfaßt 1. das Bekenntnis zu seiner
absoluten Schöpfermacht (Pantokrator), 2. das Bekenntnis zu seiner
väterlichen Fürsorge, und 3. im höchsten Sinne das Bekenntnis dazu,
dass Gott uns in Jesus Christus als seine Söhne angenommen hat.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 79 -

§ 5: „…den Schöpfer des Himmels und der Erde“

1. Der christliche Schöpfungsglaube

A. Zum Begriff „Schöpfung“

a. Schöpfung ohne Schöpfer?


1. Für den Christen beinhaltet der Begriff „Schöpfung“ eine grundlegende Aussage über
Gott. So lautet der 1. Artikel des Apostolicums: „Ich glaube an Gott, den allmächtigen
Vater, den Schöpfer des Himmels und der Erde! …creatorem caeli et terrae!“ Ebenso das
Nicänoconstantinopolitanum: Gott ist der factor! – Wenn wir von Schöpfung sprechen,
dann meinen wir Christen immer mit, dass Gott der Schöpfer ist, der Urheber und Ur-
sprung aller Dinge, der sichtbaren und der unsichtbaren.
2. Heute erlebt der Begriff „Schöpfung“ außerchristlich eine Rennaissance, er hat einen
positiven Klang und wird fast schon inflationär gebraucht. Man spricht von „Zerstörung
der Schöpfung“, „Erhaltung der Schöpfung“; sogar der Ökumenische Kirchenrat etwa hat
die „Bewahrung der Schöpfung“ zu einem Hauptthema der christlichen Konfessionen
gemacht. Im säkularen Denken scheint der Begriff der Schöpfung wieder heimisch ge-
worden zu sein.
Das ist deshalb auffällig, als man sich bis in die Moderne (wir leben ja in der Postmoder-
ne) bemühte, eben diesen Schöpfungsbegriff durch den Begriff der „Natur“ zu ersetzen.
Wobei auch das eine fatale Ent-kleidung des Naturbegriffes war, denn der Begriff
„natura“ stamm ja von lat. „nasci“, geboren werden, hervorgebracht werden. Also der
ursprüngliche Begriff „Natur“ impliziert eine Herkünftigkeit, die nicht in der „Natur“
– im Geboren-Seienden – selber liegt! Aber im 19. Jh. wurde der Naturbegriff völlig
„naturalisiert“, seiner theologischen Implikationen entkleidet.
Heute also: Wiederentdeckung des Begriffes „Schöpfung“ und inflationäre Verwendung
desselben. Romano Guardini etwa (Das Ende der Neuzeit, 36) klagt noch über den Ver-
lust des Schöpfungsbegriffes. Sollen wir uns also freuen, dass der Begriff der „Schöp-
fung“ wiederentdeckt worden ist???
3. Aber bei genauerem Hinsehen fällt auf: Der Begriff wird nicht schon im theologischen
Sinn verwendet. Scheffczyk stellt fest: „Der neu aufgekommene und verbreitete Wort-
gebrauch ist frei von jedem christlich-theologischen Inhalt!“ (Schöpfungslehre, 1997,
12). Vielmehr wird „Schöpfung“ in einem neutralen Sinn verwendet, aber immerhin so,
dass durch diesen Begriff das Positive der Welt betont werden soll. Sinnbedeutung meis-
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 80 -

tens: das Unverfügliche, das, was der Mensch nicht zerstören soll, weil es ihm nicht zu-
steht.
Man darf also mit Scheffczyk vermuten, dass Schöpfung eben doch nichts anderes besagt
als „Natur“, dass die Vorstellung von einem Schöpfergott, dem man letzte Verantwortung
schuldet, doch heute keine Rolle spielt für die vielen ökologischen Bemühungen um die
„Bewahrung der Schöpfung“. Jedenfalls gibt es dort, wo man heute mit Interesse von
„Schöpfung“ redet zugleich ein ebensogroßes Desinteresse am „Schöpfer“ selbst. Dies
führt dann nicht selten dazu, dass man diese „Schöpfung ohne Schöpfer“ absolut setzt
und vergöttert (Öko-Sekten) oder doch in seinem grünen Weltbild zu eklatanten Wider-
sprüchen kommt (Katze ja, zugleich Kind nein; Müllvermeidung bis zum Exzesse,
zugleich Abtreibung [Vermüllung des Kindes]).
Wo „Schöpfung“ aber vergöttert wird, kann sie zum Götzen werden. Für den, der hinter
der Schöpfung den Schöpfer nicht mehr sieht, wird sie eine in sich selbst feststehende
Größe.

b. Gott ist Schöpfer der Schöpfung


Das christliche Reden von „Schöpfung“ ist deshalb zuerst das Bekenntnis zum „Schöp-
fer“, die Welt ist nur das Werk dieses Schöpfers und deshalb „Schöpfung“. Wenn wir
Christen von Schöpfung sprechen, dann bekennen wir uns primär zu einer Person und
einer Tat: zu Gott und seinem Werk. Petrus Lombardus (+ 1160), der erste Systematiker,
überschrieb deshalb den entsprechenden Traktat nicht einfach „De creatura“, sondern
„De creatore“. Auch der 1. Artikel des Nicänoconstantinopolitanums ist ja Bekenntnis zu
einer Person, nicht zu einem Sachverhalt: „Credo in Deum Creatorem!“
N. B.: Ohne Blick auf den Schöpfer, wenn wir immer nur auf die Schöpfung blicken,
werden wir unsere Welt nie wieder „ökologisch“ in den Griff bekommen. Denn wenn
Egoismus und Eigeninteresse nicht an eine Letztverantwortung gebunden sind, nämlich
an die Verantwortung gegenüber Gott.

B. Creatio actualis und Creatio continua

Wenn wir von Schöpfer und Schöpfung sprechen droht ein Missverständnis, das seit der
Aufklärung und dem seit damals vorherrschenden mechanistischen Denken zusammen-
hängt: das Missverständnis, Gott nur als punktuelle Ursache des geschaffenen Seins zu
sehen. // Also: Schöpfung nur als das, was Gott zum Beginn der Zeiten gemacht hat. Wie
er also alles konstruiert hat, so als hätte er nur den Ankick zum Fußballmatch gegeben,
sich dann aber auf die Zuschauertribüne gesetzt.
Das ist letztlich das Missverständnis des Deismus. Gott als erhabener Konstrukteur, als
Weltenplaner. Die klassische Theologie hat deshalb immer schon unterschieden in „Crea-
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 81 -

tio actualis“ und „Creatio continua“. Vor allem dem hl. Thomas war das sehr wichtig,
dass Gott sich mit seiner Schöpfungsmacht nie aus dem endlichen Sein zurückzieht, so-
dass Gott als „ens a se“ stets eine aktive Beziehung zum „ens ab alio“ aufrecht erhält. Die
Scholastik nannte dies die „conservatio“ und den „concursus“ und die „providentia“.
Gott ist Schöpfer besagt also, dass er fortwährend wirkt, seine Schöpfungsbeziehung zur
Welt ruht nie. Heute liebt man in der Theologie den Begriff der Beziehung (Ratzinger, G.
L. Müller, Dogmatik 157): „Schöpfung“ als bleibende Beziehung Gottes zur Welt - und
umgekehrt: „Geschöpflichkeit“ als bleibende Bezogenheit auf einen letzten Ursprung und
tragenden Grund.
Satz 41: Der christliche Begriff „Schöpfung“ beinhaltet immer das Bekenntnis
zu einem transzendenten Schöpfergott, der 1. ursprünglich (creatio ac-
tualis) und 2. kontinuierlich (creatio continua) in Relation zum Endli-
chen steht.

C. Drei Ideologien im Widerspruch zum Schöpfungsglauben

Wir leben im 20. Jahrhundert, im Zeitalter nach Einstein, nach Hieroshima, im Zeitalter
komplexer physikalischer Theorien über Weltentstehung usw. Wir schauen einmal auf
die klassischen Gegner des Schöpfungsdogmas, wie sie im Laufe der 2000jährigen
Schöpfungsgeschichte aufgetaucht sind.
Wir müssen dazu sagen, dass diese Gegner ja nicht primär Gegner des Christentums wa-
ren, da der Glaube an einen Schöpfergott ja ein weit verbreitetes religiöses Gut ist. Auch
die beiden anderen großen monotheistischen Religionen glauben an einen Schöpfergott!
Die Gegnerschaft ereignet sich daher mehr auf philosophischer als auf offenbarungstheo-
logischer Ebene.
Schöpfung besagt nach theologischem Verständnis den freien Akt Gottes, durch das er
sich ein endliches Gegenüber setzt. Es gibt alte, klassische Gegnerschaften gegen diese
Auffassung (die übrigens ja nicht nur christlich ist, sondern auch von anderen Religionen
vertreten wird). Wir nennen sie kurz:

a. Der Materialismus
Der Materialismus in seiner absoluten Form leugnet die Existenz eines transzendenten
göttlichen Wesens. Folglich ist alles, was es gibt, die Materie. Man landet dann aber bei
dem Problem der Herkünftigkeit dieser Materie. Dass die Materie aus sich selbst kommt,
behauptet niemand ernsthaft. Man muss eine Art Urmaterie oder Urstoff annehmen, aber
das dahinter bleibt unbeantwortet (so auch in der modernen populistisch-heidnischen Ur-
knall-Theorie).
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 82 -

Den Materialismus gibt es bereits sehr früh, nämlich in der griechischen Antike. Dort
lehren bereits Demokrit (aus kosmologischem Interesse) und Epikur (aus hedonistischem
Interesse), dass es keine Götter und keinen Gott gibt, der über der Welt stünde. Im 19.
Jahrhundert: Ludwig Feuerbach, Karl Marx und Ernst Haeckel.
EXKURS: Ernst Haeckel: Zoologe und naturphilosophischer Schriftsteller (1834-
1919); hat wie kein anderer die christliche bzw. theologische Apologetik in Gang ge-
setzt. Warum? Haeckel ist der leidenschaftliche Popularisator des Darwinismus im
vorigen Jahrhundert auf deutschem Sprachgebiet. Durch 2 Werke vor allem (Die
Welträtsel 1899 und Die Lebenswunder 1904) hat er das atheistisch-naturalistische
Denken eines ganzen Jahrhunderts geprägt. Symptomatisch etwa ist, dass der chris-
tentumsfeindliche Nationalsozialismus ihn als „den“ Biologen schlechthin zelebrierte.
LThK 2. Aufl. 5,1303: Seine Ideologie, weil er alles Leben für mechanisch erklärbar
hielt, „fand als Religionsersatz bei der Menge der Halbgebildeten größten Anklang.“
1866 besucht er für einen Tag in England Charles Darwin, was er zu den glücklichs-
ten Ereignissen seines Lebens rechnet. Er betreibt dann naturwissenschaftliche Stu-
dien, wird 1865 Professor für Zoologie in Jena. Wird zum kämpferischen Verteidiger
der darwinistischen Lehren, die damals ja noch nicht anerkannt waren. Er wendet die
Abstammungslehre erstmals auf den Menschen an und möchte dessen Stammbaum
aus den Wirbeltieren rekonstruieren. Das Buch Haeckels „Abstammung des Men-
schen“ erscheint noch vor dem Darwins 1871, das den gleichen Titel trägt. Haeckel
greift das Christentum polemisch, ja Hasserfüllt an. (Übrigens war er bis zu seinem
30. Lebensjahr ein lauer Christ; seinen Hass gegen das Christentum hat er von einer
Italienreise mitgenommen.)
• Vertritt die Urzeugungshypothese: (Fehldeutung), dass sich alles aus einem Ur-
schleim entwickelt. • Haeckelsche Grundgesetz ist auch überholt, dass sich in der
Embriogenese die Biogenese wiederholt (heute ebenfalls widerlegt, spielt aber bei
Befürwortern der Abtreibung noch Rolle.)
Haeckel hat sich selbst nicht als „Materialist“ verstanden, sondern als Monist, denn
die Materie hat in sich ein „geistiges Prinzip“. In seinem Buch „Welträtsel“ schreibt
er: „Alles ist differenzlose Materie!“ - Ja gegen Ende seines Lebens neigt er zum
pantheistischen Spiritualismus!
Materialismus: Heute die selbstverständliche Versuchung. Auch Menschen, die sagen,
dass sie an Gott glauben, ehren ihn nicht als Schöpfer und geben sich so dem Materiellen
hin als wäre diese letzter Grund und Sinn des Lebens.

b. Der Pantheismus
Der „Materialismus“ ist eine monistische Weltsicht, weil es für ihn „monos“ die Materie
gibt. Dem Materialismus gegenüber steht der Pantheismus, der ja seit Baruch Spinoza in
die lateinische Formel gebracht werden kann: „Deus sive natura!“ Auch ein Monismus!
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 83 -

Dem Pantheismus ist die Materie selbst Gott. Wie der Materialismus ist auch der Pan-
theismus ein monistisches Denksystem, beide nehmen ja nur eine Substanz an.
Der pantheistische Gottesbegriff ist wegen seiner Gleichsetzung mit „dem Ganzen“ der
Welt kein personaler Gott. Gott ist dort zum Neutrum geworden, zum „Göttlichen“, zum
Divinum, zum Numen, zur „göttlichen Natur“ (Romantik des vorigen Jahrhunderts, z. B.
Ode an die Freude bei Beethoven).
EXKURS: Baruch Spinoza, (1632-1677)
latinisiert Benedict(us) de Spinoza
niederländischer Philosoph
einer der bedeutendsten Vertreter des Pantheismus
24. November 1632 Geburt als Kind spanisch-portugiesischer Juden in Amsterdam
klassische jüdische Ausbildung
-> jedoch bald Abweichen von der Lehre des traditionellen Judentums-> 1656 Aus-
schluss aus der jüdischen Gemeinde und Verbannung aus Amsterdam
Zeit der Verbannung: Arbeit als Linsenschleifer und Verfassen seines ersten philoso-
phischen Werkes: Tractatus de Deo et Homine Ejusque Felicitate (Kurzes Traktat von
Gott, dem Menschen und seinem Glück)
1661 Umzug nach Rijnsburg bei Leiden und drei Jahre später nach Voorburg bei Den
Haag
aufgrund der Beschränkungen, die der Philosophie durch die Theologie auferlegt wa-
ren und um die Unabhängigkeit seines Denkens zu wahren, Ablehnung eines Lehr-
stuhls für Philosophie an der Universität Heidelberg, den ihm der pfälzische Kurfürst
Karl Ludwig angeboten hatte
Tod 1677 Spinozas
Werke:
Tractatus theologico-politicus (1670, Theologisch-politisches Traktat)
-> anonym und unter irrführenden Angaben über seinen Ursprung im Jahr 1670 ver-
öffentlicht - Spinoza waren seine philosophischen und theologischen Ideen über die
Denkfreiheit und die Religion sowie seine staatstheoretischen Überlegungen selbst so
brisant, dass er es vorzog, den Druckort (Hamburg statt Amsterdam) und den Namen
des Druckers zu fälschen. 1674 wurde das Werk verboten. [-> ein Auszug aus Spino-
zas Vorrede als Quelle]
De Intellectus Emendatione (1677, Über den Fortschritt des Verstehens)
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 84 -

Ethica Ordine Geometrico Demonstrata (1674, Ethik, nach geometrischer Ordnung


dargestellt)
● Vertreten der Auffassung, dass das Universum mit Gott, der durch sich und aus
sich selbst geschaffenen Substanz aller Dinge, identisch ist
Substanzbegriff: es gibt nur 2 Aspekte dieser EINEN SUBSTANZ:
NATURA NATURANS (Substanz als schaffende Natur)
NATURANS NATURATA (Erscheinungsform der Substanz)
'Einzeldinge' gemäß Spinoza: -> universeller oder wesenhafter Charakter
Fazit dieses Pantheismus: Nur durch die Identifikation mit der Substanz oder Gott
lässt sich Unsterblichkeit – und damit Frieden – erreichen
Diesen Pantheismus vertraten nach Spinoza vor allem die deutschen Idealisten: ●
Fichte, Schelling und natürlich Hegel. ● Einfluss auf Philosophen wie G. W. Leibniz,
G. E. Lessing, J. G. Fichte, J. G. Herder, F. Schleiermacher und F. W. J. Schelling
sowie auf Dichter wie J. W. von Goethe, William Wordsworth und Percy Shelley
Der Pantheismus ist immerdar die Versuchung der Gescheiten, der Denkenden. Warum?
Weil der Denkende 1. erkennt, dass es ein Absolutes geben muss! Weil er 2. nicht das
Gegenüber von Absolutem und Relativem logisch erklären kann. Das dem Verstand so
anstößige ist das Gegenüber von Absolutem Gott und endlicher Welt! Und dann versucht
der Verstand zu versöhnen. Der Pantheismus ist der Versuch, Gott angesichts der End-
lichkeit der Welt, doch Gott sein zu lassen. Heute ist der Pantheismus eine Versuchung,
die uns aus dem östlichen Denken zukommt!
Andrerseits ist der Pantheismus aber auch – wie Premm (I,347) schreibt – eine ver-
kappte Form des Atheismus, „man könnte sagen die vornehmere Art des Atheismus
im Gegensatz zum platten, das feinere Empfinden beleidigenden Materialismus“. Es
ist nobler vom der Entwicklung des Geistes durch die Weltstadien zu sprechen, als
zuzugeben, dass dieser Geist nur die sich entwickelnde Materie ist. (z. B. Buddhis-
mus: Diskussion, ob das überhaupt eine Religion ist, weil es ja keinen Gottesbegriff
gibt; bzw. der Begriff von gott ist der, dass es keinen Begriff von Gott gibt wegen sei-
ner Umfassendheit. – sehr tief gedacht!)
Wir Christen werden durch die Offenbarung klar belehrt, dass die Welt nicht identisch ist
mit Gott, sondern dass sie ihre Freiheit zwar von Gott hat, aber doch „außer Gott“ ist.

c. Der Dualismus
In Gegnerschaft zum Glauben an die Weltschöpfung sind klassischerweise die Dualisten
(die es in dieser Form eh nicht mehr gibt). Nämlich jene Dualisten, die ein Gegenüber
von zwei gleichwertigen göttlichen Größen annahmen, aus deren Ringen miteinander
dann die Welt hervorgeht. Solche dualistische Vorstellungen prägten den Manichäismus,
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 85 -

sie finden sich aber auch in den diversen kosmogonischen Mythen des Orients oder des
germanischen Heidentums. Dualistische Auffassungen gibt es aber auch in verschiedens-
ten Sekten und gnostischen Strömungen (Markion im 2. Jh.; Priscillianer sind eine mani-
chäisch gnostische Sekte im 3.-6. Jh. usw.)
Der hier abgelehnte Dualismus entspringt im letzten auch dem Wunsch nach einer Erklä-
rung der Herkunft des Bösen. Unde malum, wenn Gott als Schöpfer doch gut ist? Und
man zieht dann als Erklärung einen bösen Gegengott heran, der auch an der Schöpfung
mitwirkt.
Für uns ist klar: Gott allein ist Schöpfer. Achtung, wenn wir Dualismus ablehnen, dann
meinen wir damit nicht die Ablehnung von Dualität! Denn genau das vertreten wir ja,
dass es eine Dualität zwischen Gott und Welt gibt, besser gesagt ein Gegenüber. Die
Schöpfung entspringt aber einem einzigen Gott, „unum universorum principium“, wie
das 4. Laterankonzil 1215 formuliert.
Satz 42: In klassischer Gegnerschaft zum christlichen Schöpfungsglauben ste-
hen die beiden monistischen Ideologien des Materialismus und des
Pantheismus, sowie der absolute Dualismus.

D. Die biblischen Schöpfungserzählungen

a. Zur Hermeneutik der Schöpfungserzählungen


Die grundlegenden Aussagen über den christlichen Schöpfungsglauben finden sich be-
reits auf den ersten Seiten des AT in den beiden Schöpfungsberichten: dem jüngeren Be-
richt der „Priesterschrift“ (Gen 1,1-2,4a) und dem älteren Bericht, der dem Jahwisten zu-
geschrieben wird und eher anthropomorphe Züge trägt (Gen 2,4b-3,24).
Insgesamt werden die ersten 11 Kapitel von Genesis 1-11 die „Ur-Geschichte“ genannt.
Es geht hier nicht um „Geschichte“ im Sinn von historischer Chronologie oder physikali-
scher Beschreibung! Das Präfixum „Ur“ deutet hier mehr das Typische an, die Gegeben-
heiten, die vom Hagiographen als fundamental und universal erkannt worden sind (also
das „Urtypische“, das „Ursprüngliche“…)
Wenn man also davon ausgeht, dass es sich bei den Schöpfungserzählungen und der Ur-
geschichte nicht um historisch-chronologische Berichte handelt, so ist zugleich das ande-
re Extrem zu vermeiden: dass man nämlich in ihnen bloß fabulierende Erzählungen oder
religiöse Dichtungen versteht, die keine Wahrheit und Wirklichkeit treffen wollen. Also
Mythos im reinsten Sinn. Mythos ist ja immer Deutung der menschlichen Wirklichkeit
mit Hilfe von religiösen Vorstellungen dessen, was sich hinter dem Bühnenvorhang der
Endlichkeit abspielt. Also produktive Fantasie über das Dahinter.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 86 -

Dei Verbum 12: „Um die Aussageabsicht der Hagiographen zu ermitteln, ist neben
anderem auf die literarische Gattung zu achten.“
Deshalb sind apriori für uns zwei Arten der Deutung auszuschließen: die verbale und die
rein mythische.
Müssen deutlich machen, dass es um keinen naturwf. Bericht geht. Wie sollen wir da
argumentieren:
1. Schon in der Schrift haben wir zwei ganz unterschiedliche Erzählungen über
die Schöpfung vor uns, die Diskrepanzen aufweisen (hat die Kirchenväter beschäftigt
bis herauf in die Bibelkommissionen des Pius X.): Die jahwistische Schrift und die
priesterliche weichen voneinander ab:
Beispiele:• Während in P der Mensch nach den Tieren erschaffen wird, ist die Rei-
henfolge in J umgekehrt. • Während in P Mann und Frau gleichzeitig erschaffen wer-
den, wird die Frau nach J erst nach dem Mann erschaffen. • Während Gott-Elohim in
P ohne irgendein Material schafft, nämlich nur durch sein Wort („wajomer“) formt er
in J den Menschen aus Erde. • Und: J kennt die Einteilung in 6 bzw. 7 Schöpfungsta-
ge nicht!
 2. Nicht einmal der Redaktor, der die beiden Erzählungen wohl um 400 v. Chr.
zusammengestellt hat, hat sich bemüht, diese „logischen“ Diskrepanzen zu harmoni-
sieren, sondern beide einfach nebeneinandergestellt. Schon daraus zeigt sich, dass es
ihm klar war, dass hier kein „Polizeibericht“ vorliegt.
 3. Das Problem ist schon, dass ja der Verfasser der beiden Berichte, nicht selber
dabeigewesen sein konnte. – Man meinte immer - welche Nothypothese - Mose sei
der Verfasser gewesen und habe Visionen gehabt, jedenfalls eine spezielle Schau, wo
er dann all die Schöpfungsereignisse gesehen hat. (So auch in einem Hollywood Film
über Mose)
Satz 43: Zwischen den biblischen Schöpfungserzählungen und den naturwissen-
schaftlichen Weltentstehungstheorien besteht nur zum Schein eine
Kontroverse, da die Schrift ja gar nicht das naturwissenschaftliche
„Wie“ von Schöpfung zum Gegenstand haben kann.

b. Zum Verständnis des Hexaemeron


Der erste Schöpfungsbericht ist der jüngere, er ist nach heutiger Ansicht in der Mitte des
6. Jh. im babylonischen Exil von israelitischen Priestern verfaßt worden. Der Grund:
Weil die von Nebukadnezar nach Babylon deportierte Oberschicht in Gefahr war, vom
Gott ihrer Väter abzufallen und die scheinbar erfolgreicheren babylonischen Gottheiten
anzubeten. So meint man, in P deutliche Polemik gegen die babylonischen Kulte zu ent-
decken. Für die Abfassung im babylonischen Exil spricht u. a., dass im Deuterojesaja (Jes
40-55) auch dieselbe Vorstellungswelt herrscht: ein Souveräner Gott, der Himmel und
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 87 -

Erde erschaffen (bara, bzw. asah) hat, vor dem die anderen Götter „Nichtse“ (41,29) sind
usw. Deuterosjesaja ist mit Sicherheit im Babylonischen Exil geschrieben.
Jedenfalls meint man folgende Ant-Mythischen Elemente in P zu entdecken:
1. Nach heutigem Forschungsstand ist das babylonische Enuma-Elisch-Epos dasjenige,
dessen Vorstellungswelt am ehesten dem von P entspricht, gegen das P aber eigentlich
scharf polemisiert. Ja, es wird gleichsam „entmythisiert“. Wir haben ja schon von den 4
Arten der Welterschaffung im Mythos gehört (Claus Westermann, s. oben): • Ur-Sprung
(Weltenei) bzw. Götterkampf; • Geschlechtsverkehr der Götter; • Handwerkliches For-
men von Stoff durch die Götter; • Zauberwort. – Die Priesterschrift scheidet die ersten 3
völlig aus. Der Verfasser entscheidet sich für die Schöpfung durch das WORT. Darunter
versteht er aber auch nicht ein gerauntes Zauberwort, sondern eine souveräne Willensäu-
ßerung des Schöpfers.
2. Während die Gestirne in Babylon und Ägypten als Götter verehrt werden, werden sie
im priesterlichen Text als bloße Lichter oder Beleuchtungskörper bezeichnet, die der Gott
Israels geschaffen hat (1,14-19).
3. Die Tiere, die in Babylon teils kultische Verehrung genossen, sind ebenfalls nur Ge-
schöpfe Elohims und dem Menschen untertan.
4. Der babylonischen Hauptgott Marduk wird so vorgestellt, dass er nach einem erbitter-
ten Kampf mit dem Meerungeheuer „Tiamat“ (ähnlich: tehom – Urflut) aus dessen zer-
rissenem Leib die einzelnen Schöpfungsdinge formt. Vor allem eine Festung, welche die
Urwasser, die über dem Himmelsgewölbe sind (Wasser ist hinter dem Firmamentum,
deshalb regnet es ja) zurückhält. - Hingegen hat der Gott Israels ohne theogonische Vor-
stellungen und ohne jede fremde Hilfe einer anderen Gottheit allein durch sein Wort ge-
schaffen.
5. Es ist den priesterlichen Verfassern ein Anliegen, ihre Glaubensbrüder im Exil gegen
den Zweifel an ihrem Gott zu immunisieren, ihnen zu sagen, dass ihr Gott kein Versager
ist: Deshalb wird er als mächtiger Gott beschrieben, der sorgfältig, behutsam und planend
vorgeht, und vor allem: der das Chaos ordnet. Der hymnische Aufbau mit den rhythmi-
schen Refrains: „Und Gott sprach… und es geschah also… und Gott sah, dass es gut
war… es wurde Abend und es wurde Morgen…“ verstärken diesen Eindruck eines ge-
waltigen Gottes noch mehr.
6. In Babylon war man in der Situation, den Tempel verloren zu haben. Bis dahin war das
Kriterium der Zugehörigkeit zum Glauben an den Gott Israels, ob man den Jerusalemer
Tempelkult mitvollzog oder nicht. Das fiel jetzt im Exil weg. Das Kriterium der Erkenn-
barkeit war jetzt geworden, ob jemand den Sabbat einhielt oder nicht. Deshalb gipfelt
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 88 -

alles in die Ätiologie des Sabbatgebotes: weil der mächtige Gott selbst ruhte, deshalb
auch sein Volk.
7. Das „Wie“ der Weltentstehung, das in den Mythen sosehr interessiert, steht gar nicht
zur Diskussion, das wird vielmehr aus der allgemein bekannten, als selbstverständlich
vorausgesetzten Vorstellungswelt des Alten Orients entlehnt (z. B. die Vorstellung, man
müsse über die Erde eine unsichtbare Feste [firmamentum] spannen, um die Urwasser
des Himmels zurückzuhalten.)
Satz 44: Dem Sitz im Leben nach entmythologisiert die Priesterschrift, die zur
Zeit des babylonischen Exils verfasst wurde, im Hexameneron (Gen
1,1-2,2a) babylonische Schöpfungsmythen, indem dort hymnisch die
absolute Macht des Gottes Israels dargestellt wird, der allein kraft sei-
nes Wortes alles schafft und souverän ordnet.

2. Die geschaffenen Geister (Engel) im Glauben der Kirche

A. Name und biblisches Zeugnis

1. Das deutsche Wort Engel ist Übersetzung bzw. Lautnachbildung des lateinischen ange-
lus, das wiederum auf das griechische αγγελο zurückgeht. Diese Fremdwörter heißen
soviel wie Bote, Gesandter, Gesendeter. Ursprünglich bezeichnete man damit nicht ein
Wesen, sondern die Funktion eines überirdischen Geistes (spiritus).
AUGUSTINUS: ,,Angelus enim officii nomen est, non naturae.“ (Sermo 8,3).
2. In der Vorstellungswelt des AT sind Engel selbstverständlich. Sie gehören zum Hofe
JHWH, zum Himmel, sie sind seine Mittler. Im Hebräisch der Bibel heißt Engel maleak,
in der LXX angelos, beides heißt Bote.
Manchmal werden sie auch einfach nach ihrer Erscheinungsgestalt ,,Männer“ genannt,
oder ,,Heer Jahwes“ beziehungsweise ,,Heer des Himmels“. Daher wird Gott ,,Jhwh Se-
baoth“ genannt, das heißt: Gott der Heere (Hos 12,6; Amos 3,13). Das Alte Testament
spricht auch von Kerubim, die den Eingang zum Paradies hüten (Gen 3,24) und Träger
der Bundeslade Gottes sind (2 Sam 22,10; Ps 18,11). Über der Bundeslade, in der inners-
ten Kammer des Allerheiligsten waren zwei große Kerubfiguren aufgestellt, die ihre Flü-
gel über die Lade ausbreitet (Ex 25,18-22). Ezechiel erblickt vier Kerubim als Feuerwe-
sen, die mit ihrem Menschen-, Löwen-, Stier- und Adlergesicht Vorbild für die Evange-
listensymbole sind (Ez 1 und 10).
Was der Name Kerubim bedeutet, ist unklar. Der ebenfalls gebräuchliche Name Sera-
phim heißt ,,Brennende“. In der Berufungsvision Jesajas werden sie als sechsflügelige
Wesen mit Gesicht, Händen und Füßen, die vor dem Thron Gottes stehen, geschaut. Ke-
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 89 -

rubim und Seraphim werden in der Schrift nie Engel genannt und erst seit dem Spätju-
dentum unter dem ,,Gattungsbegriff“ Engel (angeloi) geführt.
3. Ihre Funktionen sind nach dem NT mannigfaltig [vgl. HThG 1, 273-274], ihr Auftritt
am Beginn der Christus-Erlösung (Gabriel - Zacharias, - Maria - Josef) und an dessen
eschatologischem Ende (Apokalypse) ist immerhin bemerkenswert!

B. Scheinbare Argumente Contra die Existenz und Verehrung der Engel

Videtur quod angeli non sunt! Es scheint, als ob der Engelglaube heute keine Bedeutung
mehr hat, als ob man die Engel problemlos aus dem Glaubensgut der Kirche streichen
kann, wie man sie schon seit Jahren aus der Spiritualität verbannt hat.
1. Die naturwissenschaftliche Weltsicht braucht keine kosmologischen Lückenbüßer
Der Glaube an die Existenz von Engeln als personale Geistwesen sei veraltet: Er sei frü-
her auch im außerbiblischen Raum allgemein verbreitet gewesen, da der Mensch solche
Zwischenwesen zur Erklärung gewisser kosmologischer, physikalischer und psychologi-
scher Phänomene bedurfte. Heute in einer rationalisierten Zeit sei ein solcher Hilfsglaube
aber weder lebbar noch verkündbar, er sei Aberglaube. Es sei nicht mehr Notwendig,
geistige Existenzen zur Deutung gewisser Phänomene heranzuziehen.
2. Engel als mythische Reste in der Bibel
In der Entwicklung zum Monotheismus half die Vorstellung von Engeln, die Götter der
umliegenden Völker in Form von „Engeln“ Jahwe unterzuordnen, ohne sie deshalb ganz
aufgeben zu müssen. In Wirklichkeit, seien die biblischen Engeldarstellungen stark
beeinflußt von der reichen Mythologie der persischen, griechischen und römischen Kul-
tur Auch von den Essenern (Qumran) wurde der Engelglaube stark beeinflußt. Heute
jedoch sei der mythische Engelglaube allerorts geschwunden, deshalb müsse man auch
im binnenchristlichen Bereich solcher neuer Vernünftigkeit Rechnung tragen.
3. Engel als Symbole für das Handeln Gottes
Als moderner Christ müsse man den Glauben an die Engel nicht völlig abtun. Man könne
die biblischen Engelberichte in einer vor der Vernunft verantwortbaren Weise als
,,zeitgebundene bildhafte Darstellung des geheimnisvollen Wirkens Gottes“ an der Welt
und für den Menschen verstehen. Die Engel seien jedenfalls nichts Personales und Selb-
ständiges, sondern ,,Bilder“ und phantasievolle ,,Symbole“ für die Wirkungen des einen
transzendenten Gottes innerhalb von Zeit und Raum. Die Engel seien Veranschaulichun-
gen der Eigenschaften Gottes.
4. Engel nur periphere Glaubenswahrheit
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 90 -

Die Engel seien in der Hierarchie der christlichen Glaubenswahrheiten nebensächlich und
können deshalb in der Verkündigung und in der spirituellen Praxis vernachläßigt werden,
insofern diesbezügliche Disputationen zu nichts als fruchtlosen Reibungen und unnötigen
Polarisierungen führen, überdies in einer Zeit, in der die Säkularisierung bereits wesentli-
che und wichtigste Bestandteile des christlichen Glaubens, etwa den Glauben an den Er-
löser Jesus Christus, verseichtet hat.
5. Der Glaube an Engel tut nichts zu meinem Christsein
So sagt man: Man könne auch ein ,,guter Christ“ sein, ohne an die Engel zu glauben. Der
Glaube an die Engel habe nicht wirklich etwas mit der Zugehörigkeit zu Christus zu tun.

C. Fünf Argumente für die Existenz und Verehrung der heiligen Engel
1. Die Existenz der Engel ist nicht nur dem AT, sondern auch dem NT eine absolute
Selbstverständlichkeit. Nicht nur den Synoptikern, sondern auch dem Paulus, den Hagio-
graphen der Deuteropaulinen, des Hebr und der Apokalypse.
Jesus selbst spricht oft von den Engeln: Er sagt, dass sie immerdar das Angesicht des Va-
ters schauen (Mt 18,10); dass sie beim Gericht die Auerwählten versammeln werden (Mt
26,53 – Christkönig!); dass sie über dem Menschensohn auf und absteigen werden (Joh
1,51).
2. Die Schrift bezeugt die Engel als Geschöpfe Gottes. Sie hat sogar eine reiche Sprach-
welt für das, was wir heute unter Engel zusammenfassen: Mächte Throne und Gewalten,
Fürsten und Heerscharen. So heißt es Kol 1,16: „In ihm (im Sohn) ist alles erschaffen,
was im Himmel und auf Erden ist, Sichtbares und Unsichtbares: sive throni sive domina-
tiones, sive principatus sive potestates: die Throne und Fürstentümer, die Herrschaften
und die Mächte“. (Kol 1,16)
3. Die frühesten Symbola bezeugen den Engelsglauben als Teil des Schöpfungsglaubens:
Gott als Schöpfer von „Himmel und Erde“! Was Himmel ist, wird ja im Nizänischen
Symbolum übersetzt „Unsichtbares“ (aooratoon). Übrigens ist die Schriftstelle dazu das
obige Kol 1,16!
Das Lehramt hat das auch ausdrücklich definiert: Gegen die Katharer und Albigenser
formuliert das 4. Laterankonil 1215: „Deus sua omnipotenti virtute simul ab initio
temporis utramque de nihilo condidit creaturam, spiritualem et corporalem, angeli-
cam videlicet et humanam“ (DH 800)
Dem biblischen und kirchlichen Glauben lag immer die Vorstellung einer kosmologi-
schen Dualität von Geist und Materie zugrunde: Schöpfung ist polar, ist beides zugleich:
Himmel und Erde, visibilia et invisibilia, geistige Welt und materielle Welt, geschaffene
Engel und geschaffene Materie. Damit ist auch die Vorstellung einer Stufenordnung ver-
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 91 -

bunden, die sich zwischen Himmel und Erde entwirft: eine von unten nach oben aufstei-
gende materielle Welt. Das ist für die Sicht vom Menschen, für die Anthropologie sehr
wichtig, denn er ist gleichsam Bürger zweier Welten: durch seine Seele gehört er zu den
invisibilia, durch seinen Leib zu den visibilia.
Das Lateranense IV hat das auch ausdrücklich gesagt: Nach der Schöpfung der geistigen
und der körperlichen „schuf Gott die menschliche [Kreatur], die gewissermaßen zugleich
aus Geist und Körper besteht.“ (DH 800)
4. Das Argument, sie seien zeitgebundene Vorstellungen, wird durch die funktionale
Wichtigkeit der Engel im Erlösungswerk des Sohnes sowie durch deren quantitative Häu-
figkeit entkräftet. Wir haben es hier nicht mit phantasievollen Illustrationen zu einem
abstrakten Handeln Gottes zu tun. Im NT geht es ja um das Eingehen der 2. göttlichen
Person in die Geschichte. Wollte man hier von Vorstellungen sprechen, die nur damals
ihre Bedeutung hatten, so würde man auch dieses Eingehen in die Geschichte nicht ernst
nehmen, das ja ein „eph-hapax, ein,,Ein-für-alle-mal“ der Erlösung bedeutet. Wenn die
Engel, die hier mitwirken, bloß „zeitgebundene Vorstellungen“ sind, dann könnten ge-
nausogut auch anderes an dem in der Geschichte wirkenden Herrn - etwa sein Kreuzestod
- als zeitgebundene Vorstellungen interpretiert werden.
Eine solche Argumentation gegen den Engelsglauben landet dann meist schnell in einer
Argumentation gegen den Inkarnationsglauben. Da wird dann bald auch nicht mehr daran
geglaubt, dass sich in Jesus Christus Gottes Heil dem Menschen aller Zeiten (nicht nur
der damaligen) in einer endgültigen Weise ausgelegt hat. Zu dieser endgültigen Ausle-
gung Gottes gehört das Mitwirken der heiligen Engel.
5. Man gibt Gott nicht eine größere Ehre, wenn man die Engel nicht verehrt, sondern „di-
rekt“ Gott. – Gott will sich ja in der Größe der Engel ehren, und uns helfen, indem er sie
uns zur Seite stellt. Gott handelt immer vermittelt, und die Vermittlung ist etwas, das ihm
zur Ehre gereicht.
Verehrung der Engel u. Heiligen abzulehnen: Gleicht einem Mann, der von seiner Frau
zum Geburtstag eine Torte geschenkt bekommt. Nein mein Schatz, ich brauche das nicht,
denn ich liebe dich auch so. Und die Torte in den Mistkübel wirft! Pervers. – Das hätte er
sagen können, wenn die Frau ihm nicht eine Torte geschenkt hätte! Aber da sie ihm die-
ses konkrete Zeichen der Liebe gegeben hat, hat er die selbstverständliche Pflicht, es an-
zunehmen.
Zusammenfassung: Engel gibt es. Die Frage nach der Existenz der Engel müssen wir als
Gläubige positiv beantworten, denn das Dogma der Kirche – Schrift, Tradition und unge-
brochene Lehre - legt uns diese Antwort vor! Die positive Antwort auf die Frage nach der
Existenz von Engeln klärt auch zugleich das Wie ihrer Existenz: Engeln existieren in der
Weise, wie die Heilige Schrift sie beschreibt: Als von Gott abhängige, auf Gott total be-
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 92 -

zogene, von Gott getrennte und damit in ihrer Erscheinungsform selbständige, geistige
und, übermaterielle Wesen, die ebenso wie die ,,sichtbare Welt“ zu Gott grundlegend in
der Beziehung der Geschöpflichkeit stehen. Sie handeln und agieren personal, wenn-
gleich sie nicht aus eigenem, sondern aus dem Willen Gottes handeln.
Satz 45: Der Glaube an Existenz von rein geistigen Kreaturen (Engel) gehört
aufgrund von Schrift, Tradition und Lehramt unverzichtbar zum ka-
tholischen Dogma.

D. Das überpersonale geistige Wesen und die Aufgaben der Engel

a. Die Überpersonalität der reinen Geistigkeit


Für die Personalität spricht die Namenhaftigkeit und Engelsgruppen: Dass Engel nicht
einfach nur bildhaft das Wirken Gottes in der Welt ausdrücken sollen, ergibt sich schon
daraus, dass sie in der Schrift teilweise
Einzelnamen (Michael, Gabriel, Raffael) und
Gruppennamen (Mächte - Röm 8,38; 1 Kor 15,24; Eph 1,21; Gewalten 1 Kor 15,24;
Eph 1,21; Kol 1,16; Fürstentümer - Röm 8,38; 1 Kor 15,24; Eph 1,21; Kol 1,16; Herr-
schaften - Eph 1,21; Kol 1,16; Throne - Kol 1,16). Nur personales Sein ist
,,namensfähig“; Uber Strukturen innerhalb der Engelswelt wissen wir aber nichts aus der
Offenbarung.

b. Der Schutzengel
Erst Dionysius Areopagita, ein Neuplatoniker aus dem späten 5. Jahrhundert hat in sei-
nen Spekulationen die Engel in 9 Chöre geteilt. Da er sich in der mittelalterlichen Scho-
lastik großen Ansehens erfreute, wurde diese Engelsystematik übernommen und in der
Frömmigkeit verbreitet. Auch über die Anzahl der Engel wissen wir aus der Offenbarung
nichts. Aus der Aussage Jesu, dass Kinder ,,ihre Engel im Himmel“ haben (Mt 18,10),
kann man schließen, dass jedem Menschen (nicht nur den Getauften) mindestens ein sol-
cher Engel zugeeignet ist. Die Funktionen solcher Schutzengel werden in der Schrift
zahlreich beschrieben: Gen 24,7; Ex 14,19; Ex 23,20-22; PS 33,8; PS 19,11f; Jdt 13,20;
Tob 5,27; Bar 5,5; Dan 3,49.. 6,22, Apg.12,15 usw.
Hebr 1,14 nennt die Engel ,,dienende Geister zum Dienst ausgesandt um deren willen, die
das Heil erben sollen.“

c. Die kreatürliche Geistigkeit der Engel


Ebenso wie die Existenz und Personalität stand immer fest, dass Engel ,,geistige Wesen“
sind, psychoi oder pneumata genannt, im lateinischen spiritus. Paulus schreibt: „Wir
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 93 -

haben nicht gegen Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern gegen die Mächte, gegen die
Gewalten, gegen die Heerscharen dieser finsteren Welt, gegen die bösen Geister unter
dem Himmel.“ (Eph 6,12). Lk 24,39: „Geister haben nicht Fleisch und Knochen“. – Frei-
lich erscheinen die Engel in der Schrift oft in körperlicher Gestalt, das aber sind Erschei-
nungsformen, wie sich auch an der raum- und zeitungebundenen Weise dieses Erschei-
nens zeigt: Sie kommen und gehen plötzlich, verschwinden, steigen hinauf und hinunter
(Jakobsleiter; Jünglinge im Feuerofen.)
In den Symbola der frühen Kirche wurden sie unter dem Begriff der ,,unsichtbaren Welt“
zusammengefaßt (Nizänokonstantinopolitanum) oder unter dem Begriff des ,,Himmels“
(Apostolicum). Unter Himmel versteht man im theologischen Sinn die Daseinsform der
rein geistigen Welt, also in unmittelbarer Nähe zum Ewigen Gott, der ja ,,im Himmel
ist“, das heißt in den Existenzakten dieser Geister von seiner Schöpfung adäquat umfan-
gen und angebetet wird.
Auch die menschliche Seele ist etwas Geistiges, ja sie kann sogar für sich allein existie-
ren, dennoch ist sie kein reiner Geist, sondern eine unvollständige Substanz: sie ist ihrer
Natur nach auf den Leib hingeordnet. (Deshalb ist der Zustand der Seele nach dem Tod
nicht deren Vollendung, sondern „präternatural“, das gilt selbst für die Heiligen, denen ja
in der Seligkeit die verklärte Leiblichkeit und Gesamtgeschichte noch fehlt!)
Das 4. Laterankonzil sagt, Gott habe geschaffen „creaturam spiritualem et corporalem,
angelicam videlicet et mundanam, ac deinde humanam, quasi communem ex spiritu et
corpore constitutam“ (DH 800) Der Mensch ist gleichsam das Zwischenwesen zwischen
rein geistiger und rein materieller Schöpfung. Er ist in seiner Leib-Seele-Konstitution die
Klammer zwischen den beiden Schöpfungsebenen.
Die Lehre der Kirche hat sich dafür entschieden, die Engel für reine Geister zu halten.
Einige frühe Kirchenväter hatten ihnen nämlich einen feinen, luftartigen Leib zuge-
schrieben. Das „rein“ bedeutet also, dass sie frei sind von jeder Form von geschaffener
Materialität.
Aus dieser reinen Geistigkeit folgen 2 wichtige Eigenschaften: ihre natürliche Unsterb-
lichkeit und ihre substantielle Unveränderlichkeit.
Jeder stoffliche Körper ist der Potentialität unterworfen, ist in seinem Dasein kontingent,
da er in die Koordinaten von Raum und Zeit ausgestreckt ist. Sein Medium ist es, nicht
notwendig zu sein. Alles Materielle ist also vergänglich, sprich sterblich. So auch etwa
bei den Stammeltern Adam und Eva: auch für sie war die Unsterblichkeit nichts „norma-
les“, da sie ja stofflich-geistige Wesen sind. (Der Glaube lehrt freilich, dass sie durch au-
ßernatürliche Gnade „unsterblich“ waren – aber eben nicht von Natur!)
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 94 -

Anders bei den Engeln, da sie nicht zusammengesetzt, nicht stofflich, den Koordinaten
der Kontingenz – Raum und Zeit – nicht unterworfen sind. Sie sind ein einfacher geisti-
ger Seinsakt. So sind sie von Natur aus weder sterblich noch veränderlich.

d. Überlegungen zur Über-Personalität der Engel


Die Personalität der Engel ist aber unserer Personalität nur analog. Sie befindet sich, da
es sich um reine Geister handelt, eher in einer größeren Nähe zur Personalität Gottes,
welcher sie an seinem Erlösungswirken beteiligt. Diese reine und doch geschöpfliche
Geistigkeit der Engel wurde in der Scholastik vielfach erörtert, und aus ihrer Verwandt-
heit zur menschlichen Geistseele vieles spekulativ abzuleiten versucht. Die Aussagen der
Scholastik lassen uns Heutige jedoch, die wir weniger nach dem Sein als nach dem Tun
denken, kalt: Demnach besitzen Engel keine Ausdehnung, da sie immateriell sind (Auf
einer ,,Nadelspitze“ haben unendliche viele Engel Platz). Sie haben keine Gebundenheit
an Raum und Zeit. Die Scholastiker sagen, dass ihre Existenzform nicht „zirkumskriptiv“
(Symbol: Flügel seit dem 4. Jh., Biblisch: Seraphim, die ihre Flügel über die Bundeslade
breiten), ergo auch keine Gebundenheit an Sinne (Sehen, Hören...), sie sind von Natur
aus unsterblich und unvergänglich.
Den Engeln eignet eine tiefe Kenntnis Gottes, den sie ohne Unterlaß anbeten. Ihre
Leiblosigkeit bedeutet nicht, dass sie ohne Beziehung zur Materie stünden. Im Gegenteil
scheint ihr Einfluß auf kosmische und naturhaft Vorgänge enorm (Apokalypse). Diese
Befähigung der Geister zur Einflußnahme auf die materielle Welt findet ihren Nieder-
schlag in der Verehrung der heiligen Schutzengel, und in der Befürchtung, dass in den
Naturkatastrophen bösgeistige Mächte mitwirken können.
Schließlich schreibt die Scholastik den Engeln ein konzentriertes Erkennen und Wollen
zu. Das Wollen der Engel ist so endgültig, dass es für immer gilt. So sei den Engeln auf-
grund ihres Wesens nach einer von Gott gewährten Phase der Entscheidung für oder ge-
gen ihn, keine Änderung ihres einmaligen Entschlusses mehr möglich. Diese angelo-
ontologischen Spekulationen haben aber den Nachteil, dass sie die Engel losgelöst von
ihrer Funktion betrachten. Eine solche Betrachtung liegt dem heutigen Menschen nicht!

e. Zeitpunkt der Engelerschaffung


Auch darüber wurde viel spekuliert. Zweifaches ist nur sicher: 1.) sie sind nicht von E-
wigkeit; 2.) sie existieren bereits zur zeit Adams (Gen 3,1; 3,24).
Diskutiert wurde also die Frage, ob sie vor der Erschaffung der Welt oder gleichzeitig mit
ihr erschaffen worden sind. Die meisten Theologen lehren eine gleichzeitige Erschaffung.
Das spiegel sicht auch in der Definition des 4. Lateranums wieder, wo es heißt: „Deus
simul ab initio temporis utramque de nihilo condidit creaturam“ (DH 800)
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 95 -

Die Kirche lehrt, dass die Engel nicht automatisch im Himmel waren! Auch sie mussten
sich alle die übernatürliche Seligkeit verdienen (S. th. I, 62,4; 63,5). Dazu hat Gott ihnen,
wie dem Menschen durch die Spanne des Lebens, eine Phase der Entscheidung gewährt
(Gott möchte ja nie Marionetten schaffen, das Geistige muss immer auch die geistige
Freiheit abspiegeln!). Diese Entscheidungsphase – „status viae“ – ist nicht zeitlich zu
verstehen, sondern als „Augenblick“, als Intensitätsphase der Entscheidung. Ein Teil von
ihnen blieb nun im Guten standhaft, andere sündigten und fielen von Gott ab. Sie heißen
böse Engel, oder die Schrift nennt sie „dämones“. Da sie als Geister ein einziger Akt der
Entschiedenheit sind, so ist ihre Entschiedenheit gegen Gott auch ewig. Das Wirken der
Dämonen ist ebenso wie das der guten Engel ein geistiges.
Der Engelssturz, also die Entscheidung einiger Geister gegen Gott, wird aus einigen
Schriftstellen geschlossen:
• 2 Petr 2,4: „Gott hat die sündigen Engel nicht geschont, sondern sie in die finsteren
Abgründe der Hölle gestürzt.“ • 1 Joh 3,8: „Wer sündigt, stammt vom Teufel, denn der
Teufel sündigt von Anfang an.“ • Die Zentralstelle dafür ist Offb 12 (Großes Zeichen,
Frau gebiert Kind, dann Engelskampf, Sturz Satans auf die Erde). • Mt 25,41: „Weichet
von mir, ihr Verfluchten, ins ewige Feuer, das dem Teufel und seinem Anhang bereitet
ist.“ • Joh 8,44: nennt Jesus den Teufel einen Menschenmörder von Anfang an, der in der
Wahrheit nicht feststand. (diaballo – durcheinanderwerfen, entzweien.)
Teufel: Nach Thomas (I, 63,7) war der Anführer der bösen Engel, den wir Teufel nennen,
vorher wohl der schönste, höchste aller Engel. Bei ihm war gerade die Sünde am schreck-
lichste, corruptio optimi pessima. Gerade seine hervorragende Stellung wurde ihm zum
Verderben, denn die Satanssünde ist die des Hochmutes: „non serviam“. Einige Kirchen-
väter meinen, Gott habe dem Satan den Logos in Gestalt des Menschsohnes gezeigt, und
das habe zur Verweigerung geführt: denn es bedeutete ja die Verpflichtung der Engel,
Gott in Menschengestalt anzubeten. (Man sieht, dass es den Vätern hier um die größe des
Inkarnationsmysteriums geht!) Die Hochmutsünde Satans geht aus dem hervor, was er
Adam und Eva einflüstert: „Ihr werdet sein wie Gott“ (Gen 2) – Der Anführer der guten
Engel heißt wie zur Bestätigung: „Michael“, wer ist wie Gott. – Es sind jedenfalls viele
Engel, die gesündigt haben: Mk 5,9 redet ein Dämon: „Legion ist mein Name, denn unser
sind viele.“ Nach Thomas und Augustinus sind aber weit mehr Engel auf der Seite Gottes
geblieben als von ihm abgefallen sind. – Die Verdammung Satans dauert ewig, weil seine
Entscheidung gegen Gott irreversibel ist (gegen Origenes). Siehe Offb 20,9f: „Der Teufel
wird in den Feuerpfuhl geworfen werden zu dem Tier. Dort werden sie gepeinigt werden
in alle Ewigkeit.“
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 96 -

E. Die Funktion der Engel gegenüber Gott

Gegenüber ihrem Schöpfer übernehmen die in die Übernatur erhobenen Engel die Funk-
tion der höchstmöglichen Anbetung. Ihr Lobruf ist das dreimalige Kadosch (Heilig: Jes
6). Diese. Anbetung bereitet Gott alle Ehre, da die Engel ja seine erhabensten Geschöpfe
sind. Sie sind die von ihm bestimmten Vermittler zum Menschen, und vermitteln ebenso
umgekehrt den Menschen zu Gott. Anbetung Gottes und Führung der Geschöpfe sind
somit die zwei Grundakte der Engel. Dabei sind diese Akte in jeder Richtung freiwillig,
keineswegs naturnotwendig. Denn auch Engel sind freie Wesen, damit sie in Freiheit lie-
ben können.
Bedarf Gott solcher selbständiger Vermittler, könnte er nicht selbst unmittelbar in die
Ursachengefüge der Welt eingreifen? Er bedarf solcher Vermittler nicht. Aber ebenso
wie der Sohn die Welt in freiwilliger Liebe erlöst und damit die Liebe zum Vater und die
Ehre des Vaters über die Maßen erhöht, ebenso erhöht die Existenz und der freiwillige
Dienst der Engel die Ehre Gottes.
Die Weigerung der materielosen Geister zu solchem Dienst stellt die höchste Unehre, die
größte Lüge gegen Gott dar (Satan).
Satz 46: Die Konstitution der Engel spiegelt die Geistigkeit des Schöpfergottes
wider, wobei die Schrift nur an ihrer Funktion gegenüber Gott und
nicht an ihrer Ontologie interessiert ist.

F. Engel in der Spiritualität der Kirche

Das Vertrauen zu den Engel spielt eine große Rolle in der subjektiven Frömmigkeit der
Gläubigen (Schutzengelumhänger, Kindergebete, Schutzengelgebete usw.), ebenso aber
in der objektiven Frömmigkeit der Kirche, also in der Liturgie:
Präfation, Engelsfest, Exorzismen, der vormals am Ende jeder Messe zu sprechende gro-
ße Exorzismus zum Erzengel Michael usw. Nirgends erscheinen sie als Konkurrenz zu
Christus, sondern als Interpreten und Lehrmeister, die die Gläubigen in sein Heilswerk
einführen wollen. So steht das Gebet - ,,mit allen Engeln und Heiligen“ - am Tor zum
eucharistischen Opfer, in dem sich die Gläubigen mit ChristusThem Vater darbringen
sollen. Die Engel erscheinen hier als Helfer und Lehrmeister einer inneren Haltung der
Anbetung. Zu beachten ist aber, dass die Anbetung des Menschen letztlich wertvoller ist,
da die Engel ja nur im Geist, wir Menschen aber im Geist und im Leib (Haltung!) anbe-
ten können.
Engelserscheinungen der jüngsten Zeit (z. B.: Fatima) gehören in den Bereich der Privat-
offenbarungen und fügen dem geoffenbarten, in der Bibel fundierten Glauben der Kirche
an die Engel kein Jota hinzu. Da Engel übermateriell und leiblos sind, ist ihre Erschei-
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 97 -

nungsform nur ein für die Sinne des Sehers notwendigerweise angenommenes Bild jener
geistigen Überpersonalität, die wir uns keineswegs menschlich vorstellen dürfen (siehe
oben). Allzu naive Darstellungen von Engeln in Menschengestalt mit Flügeln oder gar in
Form von kleinen drolligen Puttos verstellen dem heutigen materialistisch- Menschen,
der das Geistige in der Hülle des Materiellen (Kunstdekadenz) nicht mehr zu erkennen
vermag, eher den Blick auf die den Engeln von Gott zugeteilten geistigen Funktionen
innerhalb der Welt und des Menschentums. Man beachte jedoch das hohe Niveau der
vergeistigten Engelsdarstellungen auf den mittelalterlichen (französischen) Kathedralen.
Vertrauen dürfen wir darauf, dass uns die Heiligen Engel nach dem Willen Gottes führen
wollen. Ihr Ziel ist ein Eschatologisches, dass wir zur Anschauung Gottes gelangen, den
sie schon unverhüllt schauen.

3. Der Mensch als Geschöpf Gottes

A. Grundzüge der theologischen Anthropologie


Wir bekennen von Gott dem Vater, dass er Schöpfer des Himmels und der Erde ist, der
„sichtbaren und der unsichtbaren Welt“. Der Mensch ist nun nach dem Glauben der Kir-
che jenes einzige Geschöpf, dass beide Schöpfungsberichte miteinander verbindet: die
Welt der geschaffenen Materie und die Welt des geschaffenen Geistes. Kurz: Der
Mensch besteht aus LEIB (Materie) und GEIST (Seele), er ist die Einheit von geschaffe-
nem Geist und geschaffener Materie, - und damit „ein Bürger zweier Welten“.

a. Besteht der Mensch aus Leib und Seele?


1. Grundsätzlich sind in der Anthropologie zwei Extrempositionen möglich:
• Die völlige Leugnung der Seele, das ergibt Materialismus pur. Der Mensch als zufälli-
ges Evolutionsprodukt, dessen Geistigkeit sich auch nahtlos aus der Materialität ableiten
lässt. Geist bloß als Phänomen der Materie. (Moral wird dann schwierig, da es dann auch
keine letzte Würde des Menschen gibt.)
• Die falsche Einschätzung der Geistseele, vor allem deren Überbewertung ist immer
wieder eine Versuchung. Schon im Platonismus: Allein das Geistige zählt. Ebenso im
Gnostizismus.
2. Durch Jahrhunderte war die dichotomische Auffassung vom Menschen, also dass er
aus Leib-und Seele besteht eine Selbstverständlichkeit in der Theologie. Von der Patristik
weg über die Scholastik bis in die jüngere Philosophie und Frömmigkeit hinein war die-
ses Modell akzeptiert (neuscholastische Philosophie: Mensch als „animal rationale“
selbstverständlich! neuscholastische Frömmigkeit: „Rette deine Seele!“ – „Wie viele See-
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 98 -

len hat ihre Pfarre?“). Verunsicherung kam durch die Bibelwissenschaften. Man entdeck-
te, dass in dieser anthropologischen Sicht vieles aus der griechischen Philosophie rezi-
piert worden war, dass das biblische Denken den Menschen nicht zweiteilt, dass die bib-
lische „nephesch“ nicht automatisch identisch ist mit der thomistischen „anima“.
3. Verunsicherung auch in der katholischen Theologie. Kirchliche Lehre von der Seele,
einst allgemein rezipiert gewesen. Heute gerade in der Theologie große Verunsicherung.
Man meint, dass die Auffassung, wonach der Mensch eine Leib-Seele-Einheit wäre, nicht
christlich, sondern griechisch-philosophisch sei. Symptom: Aus den Texten des Meßbu-
ches wurde der Begriff „Seele“ systematisch getilgt. Sogar in den Totenoffizien kommt
der Begriff „Seele“ nicht vor.
4. Außerkirchliche und außertheologisch gibt es heute freilich eine große Wende, die in-
nerkirchlich noch nicht wahrgenommen scheint: Der Glaube an die Existenz einer geisti-
gen Seele ist geradezu der Kern der neuen Religiosität! New Age lebt davon, den Men-
schen zu sagen: Du bist nicht nur ein biologisches Etwas, sondern ein geistiges, immate-
rielles Wesen, und dieses Immateriell-Göttliche in Dir musst du kultivieren.
Z. B. beziffern Umfragen in europäischen Ländern die Reinkarnationsgläubigen mit
bis zu dreißig Prozent der jeweiligen Bevölkerung. (Mitschuld daran auch: dass die
liberale Theologie, die die Seele getilgt hat, kein wirkliches Modell für die Auferste-
hung bieten kann. Die „Auferstehung im Tod“ von Greshake – Lohfink ist unlogisch
und zutiefst leibfeindlich!)
b. Die 5 Hauptpunkte der Lehre über die Leib-Seele-Konstitution des Menschen
Der katholische Glaube lehrt,
1. dass jeder Mensch eine individuelle geistige Seele besitzt. Verworfen wird auf dem 5.
Laterankonzil (DH 1440f.) die Auffassung, dass es in allen Menschen nur eine einzige
universale Welt-Seele gibt, und dass nur diese universale Weltseele unsterblich sei.
2. dass die Seele unmittelbar bei der Zeugung von Gott erschaffen worden ist (Kreatia-
nismus: DH 360f.) Das wurde gegen Plato und Origenes gesagt, die eine Präexistenz der
Seele annahmen und deshalb auch eine Art vorweltlichen Sündenfalls. Diese origenisti-
schen Thesen wurde 543 von Kaiser Justinian, der sich als großer Origenistenverfolger
hervortat, verworfen (DH 403). Abgelehnt wird der Generatianismus (Eltern produzie-
ren auch die Seele: DH 360f.) und der Emanatismus (Seelen gehen durch Ausfluß aus
der göttlichen Substanz hervor (DH 190 u.a.). Während Thomas eine Sukzessive Anima-
tion kannte, vertritt die neue christliche Philosophie die Auffassung, dass die Seele im
Augenblick der Empfängnis von Gott durch einen Schöpfungsakt (creatio) geschaffen
wird.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 99 -

3. dass die Seele die einzige Form des Leibes ist: anima unica forma corporis. Nach der
hylemorphistischen Auffassung durchformt die Seele den Leib ganz und gar, ist dessen
Gestaltungsprinzip (DH 902 u. ö.). Gerade in Gaudium et Spes gibt es eine schöne For-
mulierung zur Leib-Seele-Einheit des Menschen (dort nachlesen: GS 14. DH 4314 – sie-
he unten)
4. dass die Seele unsterblich ist (DH 1440f., 5. Laterankonzil Bei den Vätern war die
Unsterblichkeit unbestritten. Es gab eine häretische Richtung, die den Namen „Thne-
topsychiten“ erhielten (thanatos + psyche), die den Tod der Seele lehrten.
5. dass die Seele nach dem Tod des Menschen in einer Zwischenzeit fortbesteht. Der
Ausdruck „Zwischenzeit“ ist sehr plump. Die Instruktion von 1979 spricht DH 4653 von
einem „interim“.
Satz 47: Der Glaube lehrt, dass der Mensch die Einheit von Leib und Seele ist.
Die menschliche Seele ist geistig, individuell, unsterblich und unmittel-
bar von Gott geschaffen, sie entfaltet ihre Natur nur in einer substanti-
alen Einheit mit dem Leib.

B. Konsequenzen aus der theologischen Anthropologie

Wir können es natürlich akzeptieren, dass die dichotomische Auffassung vom Menschen
den Charakter eines „Modells“ hat. Es ist eine Form des Denkens über den Menschen,
die zu besserem Verständnis hilft. Das soll heißen, dass wir „naive“ Vorstellungen von
der „Seele“ besser beiseite lassen. (Etwa im Mittelalter, wo man dann – obwohl Thomas
so spekulativ und hochtheoretisch dachte – gefragt hat, ob denn etwas von der Seele ver-
loren geht, wenn man ein Körperglied verliert…)
Warum ist für die Theologie die dogmatische Lehre – also wir halten sie für von Gott
geoffenbart – vom Menschen als Leib-Seele-Einheit so unverzichtbar?
1. Seele begründet Gleichheit und Würde des Menschen. Von der unsterblichen Seele,
die der Mensch durch einen Schöpfungsakt von Gott hat, wird kaum gesprochen, oder gar
nicht. Diese Seele aber ist nach katholischer Auffassung der Wesenskern des Menschen,
sie ist einmalig und wurde beim Beginn der einzelnen menschlichen Existenz von Gott
für jeden persönlich geschaffen. Und zwar in dem Augenblick der Verschmelzung der
väterlichen Samenzelle mit der mütterlichen Eizelle. Gott bindet gewissermaßen die zur
Einheit verschmolzenen Zellen in die Seele ein und zeichnet damit das entstandene
menschliche Lebewesen als unsterbliche Persönlichkeit aus. – Das ist ganz wichtig für
die Fragen nach der Würde des Menschen. Die unsterbliche Geistseele konstituiert den
Menschen in seiner letzten Würde, in seiner letzten Gleichheit, in seiner letzten Sinnhaf-
tigkeit. Wird diese in der Seele begründete Würde nicht gesehen, öffnet sich Tür und Tor
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 100 -

für Abtreibung, Euthanasie, aber auch jede Form von Ächtung und Verachtung, Schä-
dung und Ausbeutung des Mitmenschen.
2. Wir sind als Christen auf eine ganzmenschliche Kultur verwiesen, die auch eine
Kultur der Seele ist. Auf den alten Missionskreuzen stand: „Rette deine Seele!“ (Einer-
seits durchaus problematisch, da heilsegoistisch deutbar. Andrerseits aber auch ein groß-
artiges Zeugnis für eine Kultur der Seele. – Bei uns: Kultur des Leibes (fit for fun) oder
Kultur der Sozialität (Geschwisterlichkeit). Aber auf den Geistkern des Menschen vergißt
man. Klöster waren und sind immer Zentren einer solchen geistigen Kultur!
Die Seele macht das Ich des Menschen aus, philosophisch gesprochen: den Ort seiner
Identität, den Ort auch, von wo aus er mit Gott und der Welt in Kommunion zu stehen
vermag. Scholastik: Anima est quodammodo omnia! – Die Seele macht das Sein des
Menschen aus: „Cogito, ergo sum!“  Ergo: Kultur der Seele ist Kultur des positiven
Ich. Wir brauchen das: Gebet, Stille, Meditation… Wenn die Kirche keine Kultur der
Seele mehr bietet, dann suchen sich die Leute das woanders. Ein Wort Jesu abgewandelt:
„Was nützte es der Kirche, wenn sie die ganze Welt gewinnt, ein positives Image hätte
usw., aber die Seelen der Menschen schaden nehmen?“
3. Der Begriff der „Seele“ bezeichnet die Verantwortung des Menschen vor Gott.
Und das ist heute wichtiger denn je, dies zu begreifen, dass wir unser Leben allein Gott
verantworten müssen. Jesus sagt z. B.: „Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib tö-
ten, die Seele aber nicht töten können“ (Mt 10,28). Mit „Seele, die nicht getötet werden
kann“, ist eindeutig die unsterbliche Seele gemeint. (Franz Jägerstetter in OÖ, der den
Kriegsdienst im 2. Weltkrieg unter Hitler verweigerte berief sich immer auf seine Seele,
der er es schuldig sei, sie nicht durch den Dienst in der Hitler-Armee zu entehren.) Nach
Gerhard Ludwig Müller bezeichnet „Seele“ die grundsätzliche „Gottverwiesenheit“ des
Menschen!
Die Seele ist also eine Art „Speicher“ der Verantwortung des Menschen gegenüber Gott,
all dessen, was er aus freier Entscheidung in diesem Dasein vollzogen hat und noch voll-
zieht. Im Leben, im Sterben und nach dem Tod trägt sie die Lebensverantwortung in sich
und mit sich vor Gott. Ohne dieses Bewusstsein kann es keine Märtyrer geben! Ohne
Pflege der Seele – Verantwortunglosigkeit und Unmoral!
4. Seele bezeichnet die Unmittelbarkeit zu Gott, ist deshalb Zentrale des Gebetes.
Die Seele ist nicht irgendein Teil des Körpers wie etwa das Herz, das Gehirn oder ir-
gendein nicht näher definierbarer tiefenpsychischer Komplex. Seele ist das Einfallstor
Gottes, sie macht uns „capax infiniti“. Sie ist deshalb Träger des Gebetes, Zentrale Ver-
bindungsstelle mit Gott (z. B. auch alle Sakramente sind sinnliche Zeichen, zielen aber
durch die sinnliche Vermittlung auf die Heiligung der Seele ab.). GEBET: Wer mit Gott
Verbindung aufnimmt, „erhebt seine Seele zu Gott“. In Psalm 146 heißt es: „Lobe den
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Herrn, meine Seele! Ich will den Herrn loben, solange ich lebe.“ Hier wird übrigens deut-
lich, dass die Schrift „Seele“ mit „Ich“ verbindet.
5. Garant der Identität zwischen Individuum und Eschaton. Ohne „Seele“ ist das Ge-
heimnis des ewigen Lebens nicht denkbar. Zunächst: Die Seele ist das „Mehr-als-mein-
Körper“. Offensichtlich: Körper wird im Tod vernichtet, ja schon durch das Altern hin-
weggerafft! Seele = das „Andere Etwas“. Sie ist das im Tod Unzerstörbare. Sie ist Träger
der Identität und Kern der Persönlichkeit. Weil sie jedem von uns geschenkt wurde, ist
jeder von uns auch nach dem Tod weiterhin ein Ich. Die Seele existiert weiter, freilich in
einer veränderten Daseinsdimension. Und somit lebt jeder in und aus seiner Seele weiter,
d. h. das „Ich“ des Menschen bleibt bestehen.
Anders: Zeugen Jehovas, Evangelische: GANZTODTHEORIE, Lohfink/Greshake:
Auferstehung im Tod. – Heute: Unsterblichkeit der Seele ist in der Reinkarnations-
lehre sehr populär!
6. Ein weiterer Grund, warum wir das Modell der Leib-Seele-Einheit brauchen, liegt
nicht in der Anthropologie, sondern in der Christologie. Die Christologie hatte sich im
4. Jahrhundert für das dichotomische Modell entschieden und so auch Christus eine gan-
ze Menschlichkeit zugesprochen: Er ist seiner Menschennatur eben auch Leib-Seele-
Einheit. (Gegen Appollinaris, der die Seele durch den Logos ersetzen wollte.)
Satz 48: Es ist eine unverzichtbare Offenbarungswahrheit, dass jeder Mensch
schöpfungsgemäß aus würdevollem Leib und unsterblicher Seele kon-
stituiert ist, die zugleich universalen katholischen Humanismus be-
gründet.
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3. Teil: WS 2005/06 (1 Sws)

„Jesus Christus, der ewige Sohn des Vaters, zu unserem Heil


Mensch geworden aus der Jungfrau Maria“

§ 6: … und an Jesus Christus…“

1. Wer ist Jesus Christus?

A. „Jesus Christus“ als Name und Bekenntnis

a. Jesus
1. Der Name JESUS ist die griech.-lat. Form des hebräischen Jeschua, einer späteren Bil-
dung aus Jehoschua oder Joschua. Jesus bedeutet demnach: „Der Herr ist Heil / Rettung“.
Die Bibel kennt mehrere Träger dieses Namens:
• Jesus steht im griech. Text in Apg7,45; Hebr 4,8 und bezeichnet dort „Joschua“, den
Sohn Nuns, den Schüler des Moses. Im Dt. übersetzt mit Josua, um Mißverständnisse zu
vermeiden.
• ein Judenchrist mit dem Beinamen Justus, von dem Paulus die Gemeinde in Kolossä
grüßt (Kol 4,11).
• Das Buch Jesus Sirach
2. Für uns: Jesus ist der Name, der nach dem Gottes Willen seinem einzigen Sohn gege-
ben wurde (Mt1,21; Lk1,31; 2,21). Die Ehrfurcht vor dem Namen Jesus: Seitdem ist die-
ser Name, „der über alle Namen ist“ und vor dem sich jedes Knie beugt (Phil2,9), der
einzige Name, „durch den wir sollen selig werden“ (Apg4,12).
N. B.: Daher gibt es eine eigene Votivmesse vom Namen Jesus und seit dem neuen Mis-
sale Romanum 2004 auch einen eigenen „Gedenktag des Namens Jesu“ am 3. Jänner.
3. Frühchristliche Abkürzung: IHS

b. Christus
1. CHRISTUS ist der Titel, die Amtsbezeichnung Jesu. Das griech. christos ist die Über-
setzung des aram. meschicha bzw. des hebr. maschiach und bedeutet „der Gesalbte“
(Messias).
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 103 -

2. Zum Messias-Christus-Titel: Priester und Könige wurden in Israel durch eine Salbung
mit Öl feierlich in ihr Amt eingesetzt (Ex 29,7; 1 Sam 10,1 u. ö.). Die Bezeichnung „der
Gesalbte“ wurde zunächst vom König gebraucht (vgl. 1 Sam 24,7). Darüber hinaus
schauen die Propheten einen kommenden König aus Davids Geschlecht, einen „Gesalb-
ten“, der - Priester und König in einem - alles das erfüllen wird, was Israel von einem
wahren Friedenskönig erwartet. Von dieser Erwartung zeugen die messianischen Weis-
sagungen (vgl. Ps 110; 132; Jes 9,5f; 11,1f; Jer 23,5f; Mi 5,1; Sach 9,9-11).
3. Frühchristliche Abkürzung: Chi-Rho XP

c. Der Name Jesus Christus als Bekenntnis


1. Das Neue Testament kennt für den irdischen und den auferstandenen Christus etwa
fünfzig verschiedene Namen und Bezeichnungen. Der Christus-Titel kommt mit etwa
500 Stellen am häufigsten vor;
der Ehrenname Kyrios begegnet gegen 350 mal;
des weiteren nennt man Jesus: Menschensohn 80,
Sohn-Gottes etwa 75,
und Sohn Davids 20 mal121.
Diese Würdenamen sind zusammenfassendes Bekenntnis und Deutung von Weg und Per-
son Jesu als des Heilsboten Gottes und seines Anspruchs gegenüber den Menschen. Sie
zeigen uns, wie die älteste Predigt und Bekenntnisbildung an Vorstellung und Sprache
des Alten Testamentes anknüpft und sie zugleich übersteigt122
2. Der Doppelname Jesus Christus ist das kürzeste Bekenntnis der Christenheit: Jesus von
Nazareth ist in seiner Person der verheißene Christus (Messias). So hat es die Frühkirche
begriffen. Von den über 50 Titeln, die das NT Jesus gibt, ist der „Christus-titel“ der zent-
rale: Petrus: „Mit Gewissheit erkenne also das ganze Haus Israel: Gott hat ihn zum Herrn
und Christus gemacht, diesen Jesus, den ihr gekreuzigt habt!“ (Apg 2,36)
3. Das Messiasgeheimnis: Jesus lebte und wirkte in der Gewissheit, der im AT geweis-
sagte Messias zu sein, war aber darauf bedacht, dass seine Messiaswürde verborgen blieb
(Mt 16,20; 17,9; Lk 4,41); er wollte nicht, dass die Menschen sich seiner für ihre (z.B.
politischen) Ziele bemächtigten (Joh 6,15). Tatsache ist, wie Theodor Schneider auf-
merksam macht (Was wir glauben 197), dass sich Jesus selbst nie als Messias bezeichnet.
(((Nur hin und wieder hat Jesus sich einzelnen Gläubigen als den Christus zu er-

121 Zur Statistik vgl. F. Mußner, Jesusprädikate, LThK2 V, 966-968.


122 Vgl. A. Grillmeier, Jesus der Christus I, Freiburg 1979, 16.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 104 -

kennen gegeben, etwa der Samariterin (Joh4,25f) und dem Blindgeborenen


(Joh9,35-37)))- Aber auch hier ist die Bezeichnung „Messias“ nicht im Munde Jesu!
Warum? Antwort: Wir glauben, dass Jesus sich sehr wohl als Messias verstanden hat, als
solcher auch von den Jüngern bekannt worden ist, dass im Messias-Begriff zugleich aber
die Gefahr eines Mißverständnisses lag. Es handelt sich dabei zur Zeit Jesu um einen
schillernden Begriff - freilich faszinierend - aber eben schillernd. Jesus wollte in seiner
Messianität nicht mißverstanden werden, er gibt dem Messias-Begriff einen spezifischen
Inhalt. (Also eine Worthülse, ein Luftballon, der erst durch ihn Füllung erhält.)
Warum? • Die Epiphanie der Gottesmacht, die in dieser Art von Wundern erfolgt, ist
noch nicht das endgültige Heil, das Jesus bringt. Sie enthüllt auch noch nicht endgültig
das wahre Wesen Christi. - Es gibt deshalb nach der Verklärung auf Tabor das ausdrück-
liche Verbot, von der geschauten Herrlichkeit zu sprechen, bis nicht der Menschensohn
von den Toten auferstanden ist (9,9). D. h.: Das Wesen Jesu enthüllt sich Schritt für
Schritt in den Zeichen und Wundern, aber nicht darin erschöpft sich sein Christus-Sein,
sondern dies bedeutet weit mehr!
• Markus betont die Notwendigkeit des Schweigens über das Wesen Christi auch darin,
dass er immer wieder das Unverständnis der Jünger hervorstreicht: Sie begriffen nicht,
(etwa nach der Brotvermehrung in Mk 6,52), „ihr Herz war verstockt“.
• Die volle Erkenntnis Jesu Christi ist nach Mk erst im Tod möglich bzw. nach der Auf-
erstehung. Mk 15,39 sagt der Hauptmann unter dem Kreuz: „Wahrhaftig, dieser Mensch
war Gottes Sohn“.
Kurz: Wenn bei Markus Jesus so ein Geheimnis um sich selbst, seine Identität
macht, so hat dies die Bedeutung: Ich passe nicht in das Schema eines Messias, das
ihr euch zurechtgemacht habt. Was ich bin, das definiere ich selbst! Und diese Defi-
nition ist erst von Kreuz u. Auferstehung her möglich.
4. Jesus bezeichnete sich selbst als „der Menschensohn“ (bar nascha), wodurch er für
seine Zeitgenossen seine Messiaswürde gleichzeitig zu erkennen gab und verhüllte
(Mt 8,20; 9,6; 26,64; Lk 9,56; Joh 1,51; 3,14 u.ö.). Diese Selbstbezeichnung steht im
Zusammenhang mit der Weissagung vom Kommen des Menschensohnes mit den
Wolken des Himmels (Dan 7,13).
Seinen Einzug in Jerusalem hat er im vollen Bewußtsein seiner Messiaswürde nach
Sach 9,9 gestaltet (Mt 21,1-11) und die Frage des Hohenpriesters, ob er der Christus
sei, mit „Du sagst es“ beantwortet (Mt 26,63f). Auf die gleiche Weise bestätigt er
auch die Frage des Pilatus, ob er ein König sei, und erklärt ihm, er sei in die Weit ge-
kommen, die Wahrheit zu bezeugen (Joh 18,37). Durch seinen Sohnesgehorsam hat
sich Jesus als der von Gott gesandte Christus erwiesen, und Gott hat ihn durch seine
Auferweckung als solchen vor aller Welt bestätigt. Seine Gemeinde entstand eben
dadurch, dass Gott in Menschen dieses Messiasbekenntnis wirkte; und ihre Verkün-
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 105 -

digung hat zum Inhalt, dass Jesus der Christus Gottes ist (Apg 2,36; Rom 10,9; 1 Joh
4,15).
Satz 49: Der hebräische Name „Jesus“ ist bereits Programm, er bedeutet „Jah-
we schafft Heil“. Der griechische Name Christus ist die Übersetzung
des hebräischen „Messias“ und ist der schlechthinnige Hoheitstitel.

d. Die Grundregel dogmatischen Sprechens von Christus:


Jesus Christus ist Gott, ist Mensch und ist die Einheit von beidem. Deshalb:
• Sprechen wir vom göttlichen Aspekt, dann sagen wir: Sohn oder Logos oder 2. göttli-
che Person
• Sprechen wir vom menschlichen Aspekt, dann sagen wir: Jesus, oft: Jesus von Naza-
reth
• Sprechen wir vom gott-menschlichen Aspekt, dann sagen wir: Christus
Satz 50: In dogmatisch exakter Sprache bezeichnet „Jesus von Nazareth“ die
Menschheit Christi, „Logos“ oder „Sohn“ die Gottheit Christi, „Chris-
tus“ die Einheit von beidem.

B. Zweifel an Jesus Christus

a. Die Problemstellung des 19. Jahrhunderts


Bis Ende des 19. Jh. waren alle Kirchen der festen Überzeugung, dass natürlich Jesus
Christus eine historische Person war, die Kirche seine Stiftung ist. Die Kritik setzt ein mit
der Aufklärung (ab dem 17. Jh.) der atheistischen Religionskritik im 19. Jh. (D. F.
Strauß). Die atheistischen Philosophen sind der Meinung, dass Jesus entweder gar nicht
gelebt hat, bzw. dass er zwar gelebt hat aber nicht der Sohn Gottes ist, bzw. nicht aufer-
standen sei.
● Die Zweifel an der historischen Existenz Jesu werden durch die „Leben-Jesu-
Forschung“ zu beantworten versucht.
● Hauptproponenten der Kritik am „dogmatischen“ Jesus sind im 18. Jh. Hermann Rei-
marus und im 19. Jh. David Friedrich Strauß.

b. Die Fragmente des Hermann Samuel Reimarus


Es gibt gleichsam ein Compendium des Hasses auf den christlichen Jesus, dieses sind die
Fragmente des Orientalistik-Professors in Hamburg Hermann Samuel Reimarus (1694-
1768). Ein typischer Rationalist! Interessant die Geschichte dieser Schriften: Gotthold
Ephraim Lessing, selbst Oberaufklärer veröffentlichte von 1774 bis 1778 (also Reimarus
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 106 -

war schon tot!) 7 Fragmente eines unbekannten Autors. Lessing war damals Leiter der
Bibliothek in Wolffenbüttel und gab die Schriften als dort gefunden aus. Er nannte sie
deshalb: „7 Fragmente eines Wolffenbüttelschen Ungenannten“. Diese „Wolffen-
büttelschen Fragmente sind nach Albert Schweitzer: „die großartige Ouvertüre, in wel-
cher alle Motive der kommenden Leben-Jesu-Forschung anklingen“ (Geschichte der Le-
ben Jesu Forschung 1977, 68.) Derselbe: „Selten war ein Haß so beredt, selten ein Hohn
so großartig!“ (ebd. 58).
Diese Schriften waren ein ungeheurer Affront, lösten eine große Diskussion aus, den sog.
„Fragmentenstreit“. Es handelte sich um die größte theologische Kontroverse in Deutsch-
land seit der Reformation, freilich betraf diese Kontroverse vor allem die evangelische
Theologie. — Die „Wolffenbüttelschen Fragmente“ sind heute innerhalb der Schriften
Lessings publiziert, erst 1814 wurde öffentlich, dass Reimarus der Autor ist.
Reimarus lehrt tatsächliche alles, was den Christentumsfeinden später lieb und heilig
wird. Es gibt keine neuzeitliche populistische Anti-Christus-Propaganda, die nicht aus
Reimarus geschöpft hätte. In Kürze:
1. Jesus verkündete ein irdisch politisches Reich. Er verstand unter der „Basileia“ eine
politische Herrschaft und unter dem Messias einen politischen Befreier. D. h. Jesus hat
die Menschheit keineswegs von der Sünde erlösen wollen, sondern nur von politischer
Tyrannei.
2. Jesus ist in seinem irdischen Anspruch gescheitert, so ist den Jüngern nichts anderes
übrig geblieben, als die handfeste politische „Reichs“-Botschaft in eine spirituell-
jenseitige umzudeuten. Aus dem politischen Reich wurde das Himmelreich.
3. Das 5. Fragment enthält die Osterkritik des Reimarus. Er erfindet die Betrugshypothe-
se, die ja schon im Matthäusevangelium auftaucht (Mt 27,64) und dort entkräftet wird.
Demnach wurde der Leichnam Jesu von seinen Jüngern in der Nacht gestohlen und heim-
lich verscharrt. Eine Fülle kriminalistischer Indizien, Ungereimtheiten in den Osterbe-
richten, trägt Reimarus zusammen, um die Auferstehung als Jüngerbetrug zu zeigen.
4. Auch das Motiv für den Betrug der Jünger kennt Reimarus, als wäre er dabeigewesen.
Es ist ganz einfach das Geld! Während sie zuerst als Fischer mühsam ihren Lebensunter-
halt verdienten, so hatten sie in der Begleitung Jesu erlebt, wie sich mit schönen Worten
viel Geld machen lässt, und das bei nicht allzu anstrengender Arbeit. Zum bequemen Le-
ben kam ein beachtliches gesellschaftliches Ansehen. Das war Motiv genug, die Lüge
von der Auferstehung zu erfinden. (Nach Reimarus haben sie ganz bewußt die Lüge er-
funden, ein vorsätzlicher Betrug!) (Darin steckt natürlich auch Kirchenkritik: vorsätzli-
cher Priesterbetrug - Nationalsozialismus hat das aufgegriffen!!!)
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 107 -

5. Was dann vor allem Albert Schweitzer im 20. Jh. verkünden wird, findet sich auch
schon bei Reimarus: Dass Jesus das nahe Anbrechen des Reiches erwartet hat, sich darin
aber getäuscht hat.
6. Der ganze christliche Glaube, der Glaube an Christus und seine Erlösung ist ein speku-
latives System, das die Jünger sich anschließend zusammenkonstruiert haben - noch dazu
aus betrügerischer Absicht. Reimarus unterscheidet streng zwischen Jesus, wie er wirk-
lich war, und Jesus, wie ihn die Christen erfunden haben.
Wir: Abgesehen von der ungläubigen Voraussetzung des reinen Rationalismus, die hinter
diesem massiven Angriff auf Christus steht, sind die historischen Thesen des Reimarus
reine Polemik, und so nicht haltbar. Wegen ihrer „Primitivität“ haben sie aber den Anstoß
zu dem gegeben, was wir heute die Leben-Jesu-Forschung nennen. Man wollte - meist
gegen Reimarus - im 19. Jh. eben zeigen, wie es wirklich war mit dem historischen Jesus.
Und das ist meist nicht weniger ungläubig ausgefallen.

c. David Friedrich Strauß


D. F. Strauß war ein Schüler Hegels. Er veröffentlicht 1835 das zweibändige Werk „Das
Leben Jesu, kritisch betrachtet“. Er ist damit zwar nicht der erste, der dem - historisch
betrachteten - Leben Jesu eine gewisse Substanz abgewinnen will, aber sein Werk erzielt
eine ungeheure Breitenwirkung. Für Strauß ist Jesus (nicht: Christus!) zwar eine ge-
schichtliche Persönlichkeit, aber die Berichte der Evangelien über ihn sind im Kern „My-
thos“. Die altzeitlichen Göttermythen seien auf Jesus übertragen worden. Die Aufgabe
der neuzeitlichen Theologie sei es, den Kern herauszuarbeiten, durch die Schale des My-
thos zum Eigentlichen vorzudringen. Strauß steht dabei in einer durchaus religiösen
Nachfolge Hegels; für Hegel ist der Geist alles, der menschliche Geist sei fähig, in der
höchsten Anstrengung des Begriffes das Gottmenschentum zu verwirklichen. In ihm
können die höchsten Gegensätze versöhnt werden. Der Ansatz von Strauß ist also nicht
grundsätzlich antireligiös; Jesus ist für ihn jedoch ein gewöhnlicher, wenn auch besonde-
rer Mensch: ein Lehrer der Religion und der Sittlichkeit, an dessen Lebensgeschichte der
endliche Geist „zu sich zu kommen“ vermag. Der dogmatische Jesus ist nichts anderes
als das Produkt des urchristlichen Gemeindegeistes, der sich dieses Jesusbild nach Maß-
gabe des alttestamentlich jüdischen Messiasbildes unbewusst zusammendichtete.
Im Kern geht es im Christentum um die „Idee der Menschheit“, die sich in der Lebensge-
schichte Jesu in besonderes tiefer Weise darstellt. Seine Deutung ist die konsequente
Anwendung Hegelscher Philosophie. Der Sohn Gottes ist nicht Mensch, sondern die „I-
dee der Menschheit“. Strauß kann Jesus – fast chalcedonensich – als Menschen und als
Gott betrachten: Als Gott (von oben) sei Jesus der sich seiner Herrlichkeit entäußernde
unendliche Geist, als Mensch (von unten) sei er der sich seiner Unendlichkeit erinnernde
endliche Geist. - Die christliche Religion ist jedenfalls ein bloßes Phänomen des mensch-
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 108 -

lichen Geistes. - Die radikalisierte Fortführung dieser Auffassung findet sich bei Ludwig
Feuerbach († 1872), für den Religion schlechthin im Drang des Verstandes besteht, die
Eigenschaften des Menschen zu einem überdimensionierten Göttlichen zu projizieren.
Gott ist die bloße Projektion des endlichen Geistes, ein Produkt des menschlichen
Wunschdenkens.
Zusammenfassung: D. F. Strauß. Mag sein, dass Jesus gelebt hat, die Kirche sei aber nur
zufällig passiert und habe es sich so entwickelt. ► F. Nietzsche: Paulus hat die Kirche
gestiftet.

d. Bruno Bauer

• Bei den Linkshekelianer wir die Jesuskritik noch radikaler: Jesus hat gar nicht existiert.
Erste, der das behauptet hat, war Bruno Bauer († 1882): Jesus Bild der Evangelien ist
eine Schöpfung der Evangelisten, bzw. der ihrer Phantasie und das ganze NT ist eine Fäl-
schung des 2. Jh, entstand in Rom und Alexandrien. Bei Bruno Bauer wird noch undeut-
lich, ob ein Mensch, Jesus von Nazaret, je existiert hat, auf den dann unter Umständen
die Evangelisten ihre Projektion eines Jesusbildes entwerfen.
• Ganz deutlich beim Bauers Schüler Artur Drews († 1935). In seinem Buch „Die
Christusmythe“ bestreitet schlichtweg, dass es je historisch einen Jesus gegeben habe.
(Das hat eine merkwürdige Spätfolge, nämlich ein Buch eines John M. Allegro (Gb 3):
Der Geheimbund des heiligen Pilzes. Jesus Christus sei der geheime Name für einen
Fliegenpilz, den die ersten Christen bei ihren Treffen zu sich genommen hätten und durch
dessen Genuß dann Halluzinationen bekommen Haben - einer Person Jesu Christi - eine
Droge (geschrieben und der Blütezeit der Hippie-Bewegung). Dass Jesus gelebt hat wird
heute nicht bestritten (von seriösen Historiker). Die Diskussion geht allerdings darum,
wie man zu historischen Aussagen über Jesus gelangt.
Satz 51: Im 18. Jahrhundert wird durch den Orientalistikprofessor Reimarus
die kirchliche Auffassung von Jesus als Sohn Gottes erstmals radikal
kritisiert. Im 19. Jahrhundert ist für David Friedrich Strauß Jesus nur
der Anlass für ein religiöses Vorstellungsmodell und Otto Bauer leug-
net die historische Existenz Jesu völlig.

C. Außerbiblische Quellen zur Existenz Jesu

a. Die drei römischen antiken Quellen


Die Frage ist: Ist Jesus überhaupt eine historische Gestalt? Dies zu leugnen, wäre ver-
messen, denn es gibt nicht nur das Zeugnis seiner Jünger, das Zeugnis der Wirkungsge-
schichte, sondern auch außerbiblische Zeugnisse: (HThGrundbegriffe 1, 739ff.):
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 109 -

1. Sueton (ca. 70-125 nach Christus) berichtet vom Judenedikt des Kaisers Claudius.
Dieses wird auch in der Apostelgeschichte 18,2 überliefert: Dort trifft Paulus auf einen
Juden namens Aquila, der mit seiner Frau Priscilla vor kurzem Italien verlassen hatte,
weil Claudius angeordnet hatte, dass alle Juden Rom verlassen müssen. - Bei Sueton
heißt es wörtlich: „Claudius verjagte die Juden aus Rom, die auf Anstiften des Chrestos
nicht aufhörten, Unruhen zu stiften“ (Vita Claudii, Leben des Claudius 25)
Deutung heute: Sueton scheint hier innerjüdische Auseinandersetzungen um die Messia-
nität Jesu als Unruhen mißverstanden zu haben, die durch „Chrestos“ (ein häufiger Skla-
venname) angestiftet worden waren..
2. Informativer ist Plinius (RGG 5,418): Um 112 schreibt der römische Schriftsteller Pli-
nius Caecilius Secundus, der Legat von Bithynien in Kleinasien ist, an Kaiser Trajan.
(Brief 96) Der Brief ist zweifellos echt. ER bittet den Kaiser um Weisung, weil er unge-
wiß ist, wie er gegen die Christen vorgehen soll in seinem Amtsgebiet. Es geht darum,
dass sie nicht en Göttern opfern wollen, es gibt anonyme Anzeigen, einige haben darauf-
hin Christus verflucht, man hat sie über das verhört, was sie da machen, und es sei etwas
ganz Harmloses - freilich ein erschreckender Aberglaube - zum Vorschein gekommen.
Denn obwohl er diese Leute gefoltert hat, ist nichts anderes zum Vorschein gekommen
als das: Man trifft sich an einem bestimmten Tag vor Tagesanbruch, bei diesem Treffen
werden auf Christus Lieder gesungen wie auf einen Gott (…Christo tamquam deo car-
men dicere…), man verpflichtet sich zu einem sitttenstrengen Leben und nimmt ein un-
schuldiges Mahl ein. Es handelt sich hier um die älteste, freilich ungenaue Beschreibung
der Eucharistie.
Text: „Adfirmabant autem hanc fuisse summam vel culpae suae vel erroris, quod es-
sent soliti stato die ante lucem convenire carmenque Christo quasi deo dicere secum
invicem seque sacramente non in scelus aliquod obstringere sed ne furta, ne latroci-
nia, ne adulteria committerent, ne fidem fallerent, ne depositum appellati abnega-
rent…“
Das Reskript Kaiser Trajans ist auch erhalten (Brief 97): Er rät zur Zurückhaltung, be-
strafen soll man nur Überführte; Anonym Angezeigt soll man überhaupt in Ruhe lassen
(requirendi non sunt). Hartnäckige freilich sind mit dem Tod zu bestrafen..
3. Tacitus (55-120 n. Chr.), Historiker: Er beschreibt in seinen Annalen (XV,44) die
Christenverfolgung unter Nero um 64 in Rom. Er erklärt dabei auch, woher der Name
„Christen“ kommt:
„Auctor nominis eius Christus - Tiberio imperitante per procuratorem Pontium Pila-
tum supplicio affectus erat; repressaque in praesens exitiabilis superstitio rursum e-
rumpebat, non modo per Iudaeam, originem eius mali, sed per urbem etiam, quo
cuncta undique atrocia aut pudenda confluunt celebranturque.“ — Übers.: Dieser
Name stammt von Christus, den der Prokurator Pontius Pilatus unter der Herrschaft
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 110 -

des Tiberius zum Tod verurteilt hatte. Dieser abscheuliche Aberglaube, der eine Wei-
le verdrängt worden war, verbreitete sich von neuem nicht nur in Judäa, wo das Übel
begonnen hatte, sondern auch in Rom, wo aslles, was es auf der Welt Schreckliches
und Schändliches gibt, zusammenströmt und zahlreiche Anhänger findet (eigentl.
„celebratur“) (Tacitus, Annales XV,44)
Dort wird auch berichtet, wie die Christen dann zu Tode gebracht wurden: durch
Verbrennen, eingewickelt in Tierhäuten, als Fackeln für die kaiserlichen Gärten; oder sie
wurden ans Kreuz geschlagen. Nero ging so grausam vor, dass es dann heißt „miseratio
oriebatur“, weil sie nicht aus allgemeinem Interesse umgebracht wurden, sondern aus der
Brutalität des Nero (in saevitiam unius).
Geschichtlich gesichert ist somit nach Tacitus die Herkunft des Namens „Christen“. Er
leitet ihn von einem „Christus“ her, „den Pontius Pilatus, Prokurator unter Kaiser Tiberi-
us, zum Tode verurteilt habe.“ (Annales 15,4).

b. Die jüdischen antiken Quellen


Unecht aber bemerkenswert sind die 2 Christusstellen bei Flavius Josephus. Sie standen
bei den Vätern für die Apologetik hoch im Kurs. Die lange Stelle im Buch 18,3,3 gilt als
sog. „Testimonium Flavianum“.
1.) „Während dieser Zeit [des Aufstandes gegen Pilatus, der mit Hilfe der Tempelgel-
der eine Wasserleitung nach Jerusalem hatte bauen lassen] lebte Jesus, ein weiser
Mann, wenn man ihn überhaupt einen Menschen nennen darf. Er war nämlich der
Vollbringer ganz unglaublicher Taten und der Lehrer aller jener Menschen, die mit
Freuden bereit sind, die Wahrheit zum empfangen. So zog er viele Juden und auch
viele Griechen an sich. Er war der Messias. Und obgleich ihn Pilatus auf Betreiben
der Vornehmsten unseres Volkes zum Kreuzestod verurteilte, wurden doch die jeni-
gen, die ihn von Anfang an geliebt hatten, ihm nicht untreu, wie gottgesandte Prophe-
ten dies und tausend andere wunderbare Dinge von ihm vorher verkündet hatten. Und
noch bis auf den heutigen Tag besteht der Stamm der Christen, wie sie sich nach ihm
nannten, fort.“ (Jüdische Altertümer [Antiquitates] 18,3,3)
2.) Die zweite Stelle handelt von der Hinrichtung des Jakobus 62 nChr, dort wird
dieser „der Bruder Jesu des sogenannten Christus genannt (adelphon Iesou tou
legomenou Christou). (20,9,1)
Wer war Flavius Josephus? Geboren um 37/38 nach Christus in Jerusalem, stammt aus
angesehener Priesterfamilie, von hoher hellenistischer Bildung, dennoch Jude durch und
durch; wirkt seit seinem 20. Lebensjahr als Pharisäer in Jerusalem, nachdem er zuvor
auch bei den Essenern un d Sadduzäern war, eine Zeit lang sogar Einsiedler. Mit dem
jüdischen Aufstand von 67 beginnt seine öffentliche Karriere. Er wird zum Statthalter
von Galiläa ernannt, im Kampf gegen die Römer erweist er sich als kluger Feldherr. Es
kommt zum Fall der Festung Jotapata. Josephus, den die Römer überall suchten, ver-
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 111 -

steckte sich mit 40 vornehmen Männern, versehen mit Lebensmitteln in einer höhlenarti-
gen Zisterne. Als sie entdeckt werden, beschließen sie, sich umzubringen (was dem Jo-
sephus gar nicht gefällt, da Boten des röm. Feldherren Vespasian ihm bereits versichert
hatten, ihn am Leben zu lassen). Josephus überredet die Mitgefangen, das Los entschei-
den zu lassen, in welcher Reihenfolge sie sich gegenseitig töten. - Aber übrig bliebe Jo-
sephus! Er dürfte die Lose geschickt arrangiert haben (De Bello Judaico, Buch 5,8,7) Er
ergibt sich, sagt dem Vespasian in schlauer Berechnung voraus, dass er Caesar werde,
Vespasian schenkt ihm das Leben. - Als dieser tatsächlich 2 Jahre später Caesar wird,
lässt er Josephus frei, dieser legt sich den Familiennamen seines jetzigen kaiserlichen
Gönners zu: Flavius Josephus. Es kommt zum zweiten Feldzug gegen Jerusalem, an der
Seite des Titus versucht er seine Landsleute zur Aufgabe zu überreden, wird aber von
ihnen für einen Verräter gehalten, so kommt es zur Zerstörung Jerusalems 70 n. Chr. -
Josephus geht dann nach Rom und wird reichlich entlohnt mit einem großen Landbesitz,
als reicher Mann hat er Zeit, seine „Memoiren“ zu schreiben, das ist sein erstes Haupt-
werk: „De Bello Judaico (7 Bücher)“. Das zweite nennt er „Antiquitates“ (20 Bücher), in
dem er das Judentum als dem Griechentum ebenbürtig darstellen möchte. Es ist eine
Nacherzählung der atl. Geschichte, in elegantem griechischen Romanstil, freilich
manchmal weitschweifig. Josephus wollte auch ein theologisches Buch schreiben über
Gott und seine Eigenschaften, aber dazu dürfte es nicht gekommen sein.
Der Talmud (schriftliche Sammlung ursprünglich mündlich überlieferter jüdischer Ge-
setze aus dem Jahr 70): Polemik gegenüber Jesus aufgrund der jüdischen Polemik gegen
die Christen. „Jesus von Nazareth trieb Zauberei, er verführte Israel, spottete über die
Worte der Weisen, hat 5 Jünger, wurde am Vorabend des Pascha gehenkt, war uneheli-
ches Kind von dem römischen Soldaten Panthera“ (doppelt diskriminiert - unter den Ju-
den bis heute).
ERGO: Dass es Jesus von Nazaret gegeben hat, darüber kann kein historischer Zweifel
bestehen. Im 19. Jh. hat es vereinzelte Versuche gegeben, die historische Existenz Jesu
Christi grundsätzlich abzustreiten. In jüngster Zeit er psychopathische Kirchenhasser Ru-
dolf Augstein, Herausgeber des Spiegel, mit seinem - inzwischen längst vergessenen -
Buch von 1972: Jesus Menschensohn, Gütersloh 1972. (R. Schierse, Christologie, 21 be-
zeichnet ihn als liberalen westlichen Nachbeter dessen, was im Lager des ‘fortschrittli-
chen’ marxistischen Atheismus ausgebrütet wird.).
Tatsächlich: Selbst Bultmann hat gesagt: „Der Zweifel, ob Jesus wirklich existiert hat, ist
keines Wortes der Widerlegung wert!“ (R. Bultmann, Jesus, München-Hamburg 4. Aufl.
1970 [1926], 14).
Die Frage ist nicht, ob Jesus gelebt hat, sondern ob Jesus der ist, für den die Christen ihn
halten: nämlich Christus, der Sohn des lebendigen Gottes: „wahrer Gott vom wahren
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Gott, gezeugt nicht geschaffen, eines Wesens mit dem Vater. Wegen uns und um unseres
Heiles willen ist er vom Himmel herabgestiegen und ist Mensch geworden…“ (Nicänum)
Satz 52: Historisch sicher ist, dass die römischen Schriftsteller Sueton, Plinius
und Tacitus die Herkunft einer judenchristlichen Sekte von einem ge-
wissen Christus bezeugen. Das „Testmonium Flavianum“ ist jedoch
eine christliche Interpolation.

C. Die biblischen „Fakten“

a. Hauptdaten des Lebens Jesu


1. Der Name Jesus ist ein häufiger jüdischer Name (vgl. Joschua, Jeschua). Er heißt ü-
bersetzt: Jahwe rettet, und wurde nach jüdischer Sitte dem Kind bei seiner Beschneidung
von den Eltern/Vater gegeben. Jesus lebte bis zu seinem 30. Lebensjahr in der kleinen
Stadt Nazaret in Galiläa (Mk 1,9). Deshalb wird er als historischer Mensch „Jesus von
Nazaret“ genannt (Mk 1,24 u. ö. in den Evangelien. In der Polemik des Kaisers Julian
Apostata († 363) und wohl schon früher der Juden (Mk 14,70; Apg 2,7) wurde er auf-
grund seiner Herkunft „Galiläer“ genannt. — „Christus“ ist ein jüdisch-urchristlicher Be-
kenntnis- und Würdetitel, der wohl im hellenistischen Christentum bald nicht mehr ver-
standen wurde, sodass „Jesus Christus“ schon damals wie ein Doppelname klang.
2. Mensch inmitten der Historie: Jesus ist aus einer menschlichen Mutter geboren und
damit Mensch wie wir. Er ist „geboren aus der Frau“ (Gal 4,4) und wird von ihr her auch
benannt: „Sohn der Maria“ (Mk 6,3). Geboren zwischen 7 und 4 vor der Zeitrechnung in
Palästina. (Der Mönch Dionysius Exiguus hat 525 erstmals die jahre nach Christus be-
rechnet und sich verrechnet). Spätestens 4 v. C. ist Jesus geboren, denn in diesem Jahr
starb König Herodes († 4 vor Christus), und nach mt 2 und Lk 1,5 fällt die Geburt Jesu in
seine Regierungszeit. (Herodes I: 34-4 v. Chr.) In Rom ist der Adoptivsohn Cäsars Octa-
vianus Augustus 27 v. Chr. bis 14 n. Chr. Kaiser; er ist auch der erste Kaiser im antiken
Verständnis.
3. Davidssohn: Wegen der Adoption durch Josef steht Jesus in der Verheißungslinie des
erwarteten königlichen Messias. Josef war der „Mann Marias, von der Jesus der Christus
und Messias geboren wurde“ (Mt 1,16). Die Adoption wird auch durch Lk 1, wenn auch
aus anderer Perspektive, bezeugt. Die davidische Herkunft ist Grundbestandteil des
Christusbekenntnisses, wie Röm 1,3 zeigt:
Röm 1,3: „Paulus… berufener Apostel zur Verkündigung des Evangeliums Gottes …
von seinem Sohn - gekommen aus dem Samen Davids nach dem Fleisch - eingesetzt
zum Sohn Gottes in Macht „kata pneuma“ nach dem Geist der Heiligkeit seit der
Auferstehung von den Toten: Jesus Christus, unserem Herrn…“
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 113 -

Man hat Jesus seine natürliche Herkunft immer wieder zum Vorwurf gemacht. In einem
theologischen Sinn machen die Stammbäume in Mt 1 (1,1: „Sohn Davids und Sohn Ab-
rahams“) aber deutlich, dass Jesus auch schon von der irdischen Herkunft etwas besonde-
res ist, nämlich die Erfüllung der bisherigen Menschheits und Heilsgeschichte. Bei Lk
3,38 stammt er ja direkt von Adam, und der von Gott. Er ist dort der „neue Mensch“. —
Die davidische Herkunft wird auch durch die Umstände der Geburt unterstrichen: so wird
nach er Lk 2,1-7 und Mt 2,1 in der alten Davidsstadt Betlehem in Judäa geboren (Mi 5,1-
3; 1 Sam 17,12f; Rut 4,11-18).
4. Eltern: Die Namen der „Eltern“ Jesu sind überliefert als Mirjam (gräzisiert: Maria)
und Joseph. Er ist „Sohn der Maria“ (Mk 6,3); Im Johannes-Evangelium identifiziert Phi-
lippus gegenüber Nathanael Jesus als Messias durch die Bezeichnung seiner Herkunft:
„Jesus aus Nazaret, der Sohn Josefs“ (Joh 1,45). Dass Josef als Vater Jesu galt und Jesus
auch von dieser davidischen Herkunft bemessen wurde, hat bei Mt sogar theologischen
Sinn: eben in der Davids-Stammbaumlinie zu stehen. Wegen der Adoption konnte (und
sollte!) man ihn für den Sohn des Zimmermannes halten (Lk 3,23; Joh 1,45). Gleichzeitig
ist uns natürlich die Tatsache der biologischen Nicht-Vaterschaft des Josef in Mt, Lk und
auch Gal 4,4 deutlichst vor Augen gestellt. — Jesus gilt als „Sohn des Zimmermanns“
(Mt 13,55; vgl. Joh 6,42; Lk 3,23). - Da außerhalb der Geburtsgeschichten und der Be-
nennung Jesu als josefssohn in Joh 1,45 von Josef zur Zeit des öffentlichen Wirkens nicht
mehr die Rede ist, während etwa Maria und seine Brüder und Schwestern noch oft ge-
nannt werden, kann man damit rechnen, dass er zu diesem Zeitpunkt nicht mehr gelebt
hat (Patronus morientium!)
5. Die Verwandten Jesu:
Die Evangelisten bezeichnen Jesus als den „Erstgeborenen“ Marias (Mt 1,25; Lk 2,7);
auch nennen sie zweimal namentlich seine „Brüder“, in Mk 6,3 und Mt 13, 55: Es sind 4
Herrenbrüder: Jakobus, Joses (Josef), Judas und Simon. In Mt 13,56 ist auch von sei-
nen „Schwestern“ die Rede, dort geht es um das Anstoßnehmen der Mitbewohner seiner
Heimatstadt Nazaret an ihm, weil er ein gewöhnlicher Mensch ist und sich aufspielt. —
Nach Gal 1,19 war der Apostel Jakobus in Jerusalem ein „Herrenbruder“; der Verfasser
des Judasbriefes legt sich auch den Titel „Herrenbruder“ bei (Jud 1).
[Exkurs: Welche Gründe hat die Kirche, diese „Herrenbrüder“ nicht für leibliche Ge-
schwister Jesu und damit für Kinder von Josef und Maria zu halten?:
1. Argument: Der Ausdruck „Erstgeborene“ ist ein rein juridischer Begriff, der ohne
jede Rücksicht auf das biologische Geburtsfolge verwendet wird, um eine besondere
Stellung zu bezeichnen: Etwa im AT: Jakob und Esau, Jakob luchst dem Esau das
Erstgeburtsrecht mit einem Linsenmus. Außerdem ist natürlich auch der einzige Sohn
der „Erstgeborene“.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 114 -

2. Argument: Die Ausdrücke „Brüder und Schwestern“ bezeichnen im Orient alle


Grade der Verwandtschaft, es gibt im AT zig Stellen, wo der Ausdruck „Bruder“
verwendet wird, um einen andersgradig Verwandten zu bezeichnen. Z. B. nennt Ab-
raham seinen Neffen Lot „Bruder“ (Gen 13,8), Jakob seinen Vetter Laban (Gen
29,12). Sogar Nachbarn werden im weiten Sinne so genannt. (Heute: in der Liturgie
selbstverständlich!) Nach 1 Makk 11,30 werden verdiente Männer mit dem Ehrentitel
„Bruder des Königs“ belegt usw. Kurz: „Bruder“ heißt noch nicht biologische Ge-
schwister. Erst die Angabe der Eltern lässt erkennen, in welchem Sinn dieses Wort zu
verstehen ist.
3. Argument: In der Schrift ist nur die Rede von den „Brüdern und Schwestern“ Je-
su, nie werden Maria und Josef als ihre Eltern genannt. Schon deshalb legt es sich
nahe, an Verwandte Jesu, nicht an leibliche Geschwister zu denken.
4. Argument: Es gibt Frauen, die Jesus mit ihrem Besitz und Vermögen unterstützen
(was wären wir heute ohne sie), die ihn von Galiläa nach Jerusalem begleiteten wird
auch eine „Maria“ genannt, die sicher nicht mit der Mutter Jesu identisch ist. Sie wird
nämlich ausdrücklich nach ihr genannt, stets an zweiter oder dritter Stelle.
Zunächst einfach die 5 Texte:
Mt 27,56: Kreuzigung: „Es waren dort viele Frauen von weitem zusehend, welche
gefolgt waren Jesus von Galiläa, ihm dienen, unter diesen war Maria, die Magdalene-
rin, und Marid, die Mutter des Jakobus und Josef, und die Mutter der Söhne des Ze-
bedäus.“
Mk 15,40: Kreuzigung: „Es waren aber auch Frauen von weitem zusehend, unter
welchen auch Maria die Magdalenerin und Maria, die Mutter des Jakobus und des Jo-
ses, und Salome, welche ihm von Galiläa weg folgten und ihm dienten…“
Mk 15,47: Grablegung: „Aber Maria die Magdalenerin und Maria die Mutter des Jo-
ses, sahen, wohin er gelegt worden ist.“
Mk 16,1: Ostermorgen: „Und als der Sabbat vorüberwar, kauften Maria die Magda-
lenerin und Maria die Mutter des Jakobus, und Salome wohlriechende Öle, um ihn
und salbten ihn.“
Lk 24,10: Ostermorgen: „Es waren aber Maria die Magdalenerin und Johanna und
Maria, die Mutter des Jakobus, und die übrigen mit ihnen.“
Es ist völlig undenkbar, dass es sich bei dieser Maria um die Mutter Jesu handelt,
denn diese wäre natürlich als solche ausgewiesen worden, und nicht als „Mutter des
Jakobus und Joses“ usw. Auch dass sie nur an 2. oder 3. Stelle genannt würde, ist un-
denkbar! So ist Maria z. B. in Apg 1,14 (Pfingstsaal) ausdrücklich namentlich ge-
nannt und sofort als „Mutter Jesu“ qualifiziert, während sonst nur von den „Frauen“
und den „Brüdern“ die Rede ist, die einmütig im Gebet verharren. — Fazit: Hier wird
eine verwandte „Maria“ genannt, die Mutter der Herrenbrüder Jakobus und Joses ist.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 115 -

5. Argument: In der Schrift ist von zwei Jakobussen die Rede, nämlich zum einen
von dem Bruder des Johannes, dieser ist Zebedäussohn, Sohn der Salome: Jakobus
der ältere, interessiert uns hier nicht. Liturgisch verehrt als Jakobus der Ältere, der
um 44 nach Christus als erster Apostel zum Martertod geführt wurde unter König Ag-
rippa I.Gebeine in Santiago di Compostella. Fest: 25. Juli.
Dann gibt es den zweiten Jakobus, den jüngeren, der Herrenbruder ist. nach Gal
1,19 wird er Apostel genannt, aber wohl eindeutig im übertragenen Sinn. Er bildet
mit Petrus die „Säulenapostel“ (Gal 2,9) der Gemeinde in Jerusalem. — In den Evan-
gelien kommt in den Apostelverzeichnissen auch ein Jakobus vor, der Sohn des
Alphäus (Mt 10,3; Mk 3,18; Lk 6,15) genannt wird.
● Wir haben also einen Jakobus als Sohn des Alphäus
● und eine Maria, die Mutter des Jakobus genannt wird.
● Und einen Jakobus, der dann erster Bischof von Jerusalem ist und „Herrenbruder“
genannt wird.
Die christliche Tradition hat hier noch ein Zeugnis hinzugezogen: nämlich Joh 19,25
steht folgende Personengruppe beim Kreuz: „Maria, seine Mutter und die Schwester
seiner Mutter namens Maria, die Frau des Kleopas, und Maria die Magdalenerin.“
Schon um 150 n. Chr. finden wir die folgende Schlussfolgerung bei Hegesipp, das
uns Eusebius in seiner Historia Ecclesiastica bezeugt: Alphäus und Kleopas sind i-
dentisch.
Fazit: Daraus folgt, dass die Schwester der Mutter Jesu, „Maria, die Frau des
Kleopas“ von Joh 19,25 die Mutter des Jakobus ist, der als „Sohn des Alphäus“
bezeichnet wird. Damit ist zumindest „Jakobus“, der „Herrenbruder“ und folglich
auch Joses als „Vettern Jesu“ ausgewiesen. Jakobus wurde übrigesn von Christus
nach der Auferstehung einer besonderen Erscheinung gewürdigt (1 Kor 15,7)
Schon Origenes bezeichnet die Meinung, dass Jesus leibliche Geschwister gehabt ha-
be, als unsinnig. Und Hieronymus hat als Bibelwissenschaftlicher dies mit Vehemenz
zurückgewiesen.
Satz 53: Der immerwährende Glaube der Kirche, wonach die in den Evangelien
sogar namentlich aufgelisteten „Brüder und Schwestern“ (Jakobus, Jo-
ses (Josef), Judas und Simon) nicht die Kinder der jungfräulichen Got-
tesmutter sind, entspricht auch dem Zeugnis der Schrift.

6. Beruf, Heimat und Kultur: Bis zu Beginn seines öffentlichen Wirkens lebt er in sei-
ner „Heimatstadt“ Nazaret in Galiläa (Mk 6,1), in seiner Vaterstadt (Mt 13,54); er ist von
Beruf „Zimmermann“ (Mk 6,3). In Nazaret war er aufgewachsen (Lk 4,16). — Jesus leb-
te in dieser Zeit als palästinensischer Jude und hat sich von seinen Volks und Zeitgenos-
sen nicht unterschieden, weder in Aussehen, Kleidung oder Lebensweise. (Bildrekon-
struktionen können sich auf jüdische Sitte und Brauchtum stützen: lange Haar, dunkel-
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 116 -

farbig usw. - Turiner Leichentuch???) Die Muttersprache war Aramäisch, aber er konnte
auch die hebräische Bibel lesen und verstehen. Es ist anzunehmen, dass ihm auch grie-
chische und lateinische Ausdrücke nicht unbekannt waren, da es ja in Nazaret griechische
Ansiedlungen gab, ebenso Kontakt mit lateinisch-sprechenden Besatzern vorhanden war
(römischer Hauptmann von Kapharnaum). Auch seine Gottesbziehung versteht er als die
Radikalisierung dessen, was im jüdischen Glauben bereits an Gottesbeziehung, an
„Bund“, da ist.
7. Das öffentliche Auftreten: Nach Lk 3,1 trat Johannes der Täufer, von dem sich Jesus
taufen ließ, im 15. Jahr der Regierung des Kaisers Tiberius auf. Dieses dauerte exakt vom
1. Okt. 27 bis 30. Sept. 28 nach Christus. Er war bei seinem Auftreten „etwa 30 Jahre alt“
(Lk 3,23; Joh 8,57: „Du bist noch nicht 50 Jahre alt und willst Abraham gesehen ha-
ben?“) Somit fällt das öffentliche Wirken Jesu in den Ortschaften Galiläs etwa in die Zeit
zwischen 28 und 30. (Über den Inhalt seiner Botschaft später). — Eine exakte zeitliche
Bestimmung der öffentlichen Tätigkeit Jesu ist kaum möglich. Geht man von den Synop-
tikern aus, lassen sich Gründe für eine etwa einjährige Wirksamkeit finden. Aber das Jo-
hannesevangelium berichtet von 3 Paschafesten, sodass man von einem dreijährigen Wir-
ken ausgehen muss. Problematisch ist in Joh, dass gleich am Beginn - in 2,13 - von jenem
Pascha berichtet wird, das bei den Synoptikern das des Endes ist: Hier geht es um den
Tempelprotest Jesu. Nach den Synoptikern kann dieses Pascha nicht von der Passion ge-
löst werden, es ist unmittelbarer Anlaß seiner Hinrichtung. Dann wäre eine Dreizahl der
Paschafeste nicht zu halten, und es blieben nur 2. (Siehe J. Gnilka, Jesus von Nazaret,
316f.)
8. Ort des Wirkens: Das öffentliche Auftreten erstreckte sich auf die vom jüdischem
Volk besiedelten Teile Palästinas, vor allem Ortschaften Galiläas. Jesus wirkt aber auch
in Judäa und Jerusalem, ebenso in der Dekapolis, in Ituräa und im Gebiet jenseits des
Jordan. Die nichtjüdischen Gebiete hat er eher gemieden und kommt dorthin nur, um zu-
nächst auf die Begrenzung seiner Sendung für Israel zu betonen (Mk 7,24-30; Mt 15,24).
Erst als er dort bei einzelnen Heiden Glauben findet, lehrt er, dass die angekündigte Got-
tesherrschaft über das bisherige völkische Israel hinausgreifen wird: Mt 8,5-13par.
9. Tod: Um das Jahr 30, wahrscheinlich am 7. April 30, also der 15. oder 14. Nisan (jüd.
Frühlingsmonat) wurde Jesus hingerichtet. Es ist umstritten, ob es am Paschafest selbst
war (Mk 14,12) oder am Vortag, was eher wahrscheinlich ist. Bezeugt in Joh 18,28;
19,14.31 und im Talmud bSanh 43a). Mit Sicherheit war es ein Freitag (Mk 15,42 und
Joh 19,42), der Vortag eines Sabbats. Den Urteilsspruch fällte der römische Statthalter
Pontius Pilatus (26-36 n. Chr.) und Hoherpriester war Kajaphas (18-36 n. Chr.). Dies war
in der Regierungszeit des Kaisers Tiberius (14-36 n. Chr.). — Der Grund der Hinrichtung
ist verschieden zu sehen: Der Kreuzestod wurde über römische Staatsverbrecher ver-
hängt, offensichtlich also als politischer Aufrührer. Aus jüdischer Sicht wurde er als Got-
teslästerer, Religionsfrevler und falscher Messias. Am Kreuz verhöhnen ihn die Schrift-
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 117 -

gelehrten und Hohenpriester als „Messias und König von Israel“ (Mk 15,32). Ein Hin-
weis darauf, dass jesus sein Wirken mit der Gottesherrschaft selbst identifizierte. Histo-
risch sicher ist der Schuldtitel der Kreuzesaufschrift: „Basileus ton Ioudaion, Rex Iudeo-
rum! INRI“ (Mk 15,26).
10. Die Wirkungsgeschichte: Für die Feinde und Freunde war der Tod Jesu nicht nur ein
biologisches Lebensende, sondern auch tiefster Ausdruck des Scheiterns seines Anspru-
ches, der Mittler der Gottesherrschaft zu sein. Dtn 21,23 heißt es: „Denn ein Gehängter
ist ein von Gott Verfluchter“ So hat das Paulus auch genau aufgefasst, als Skandalon: Gal
3,13: „Verflucht ist jeder, der am Holz hängt“ (kremamenos epi xylu). Diese Interpretati-
on legte sich aus der jüdischen Religiosität automatisch nahe. Für die Wahrheit der E-
vangelien bürgt deshalb wesentlich, dass dies dort auch ungeschminkt berichtet wird:
Nach dem Tod Jesu ist für sie der „Traum“ zu Ende (denn ihr Glaube war bisher ein sehr
irdischer Traum: „Wir glaubten, dass er es sei, der Israel erlösen wird“ in Lk 24…) Von
den Jüngern kann mit historischer Sicherheit angenommen werden, dass ihr Jesusver-
ständnis nach dem Tod erschüttert war und sie das Kreuz als Katastrophe des Scheiterns
empfanden. Sie zerstreuten sich und flohen in ihre Heimat Galiläa. — Doch ist ebenso
sicher, dass um 33 bereits einer der Jünger Jesu, Stephanus wegen seiner Anhängerschaft
an Jesus gesteinigt wird. Und um 33/35 bekehrt sich ein Saulus/Paulus aus Tarsus in
Kleinasien, ein gelehrter Pharisäer, der unter Gamaliel studierte, und mit Hass gegen die
kleine Anhängerschaft Jesu erfüllt war. Er wird mit seinen Schriften maßgeblich die
„Theologie“ des Christusglaubens begründen. Was dazwischen liegt, ist die Auferstehung
Christi, die die Initialzündung des Christusglaubens ist, freilich aber genau das Ereignis,
dass nur dem Glaubenden zugänglich ist, denn auch wenn die Auferstehung etwas objek-
tiv-historisches ist (Leeres Grab), so erfolgte sie ihrer Natur nach nicht unter Labor-
Bedingungen. (((Und selbst wenn sie das wäre, wäre sie noch nicht glaubensschaffend:
Was ich nicht glauben will, das glaube ich nicht. Siehe Turiner Leichentuch, man kann
immer alles anzweifeln.)))
Satz 54: Jesus von Nazaret war ein Mensch. Er gehört nicht dem religiösen My-
thos oder der Legende an, sein Leben ist deshalb faßbar.

b. Gekreuzigt unter Pontius Pilatus


Dass Jesus Christus ein Teil der Geschichte, ein Partikel der Historie ist, wird im Aposto-
lischen Glaubensbekenntnis durch die Nennung des römischen Statthalters Pontius Pila-
tus ausgedrückt: „gekreuzigt unter Pontius Pilatus“. Hier einige Daten zu Pontius Pilatus.
● Das Amt des Statthalter
Seit 6 n. Chr. war Judäa unmittelbar unter römische Verwaltung gestellt. Damit gehörte
Judäa zu den wenigen römischen Provinzen, die einen Statthalter hatten. Solche Provin-
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 118 -

zen waren immer Unruhegebiete, von denen man in Rom glaubte, dass sie unbedingt ei-
ner starken Hand bedurften.
Der Titel des Statthalters von Judäa wird in der zeitgenössischen Literatur unterschiedlich
angegeben. Im Neuen Testament ist der Ausdruck ηγεµων [„hægemón“] vorherrschend.
Flavius Josephus bevorzugt die Bezeichnung επιτροπος [„epítropos“]. Auf der lateini-
schen Inschrift von Kaisareia wird Pilatus "praefectus Judaeae" genannt. Wir können da-
her davon ausgehen, dass Pilatus von Augustus der Titel "praefectus" verliehen worden
war.
Eine große Rolle selbstredend die Steuern, die vom Statthalter einzuziehen waren. Sie
flossen unmittelbar in den kaiserlichen Fiskus, nicht in die Staatskasse. Wahrscheinlich
diente die Gliederung Judäas in elf Toparchien einzig und allein dem Zweck einer rei-
bungsloseren Steuererhebung.
Die judäischen Statthalter residierten in Kaisareia am Meer. Sie pflegten sich aber bei
besonderen Anlässen, vor allem an den hohen jüdischen Festen nach Jerusalem zu bege-
ben. Gerade zu den Festen versammelte sich viel Volk in der Davidsstadt. Die Anwesen-
heit des Statthalters sollte dementsprechend die Ruhe garantieren.
Um dies tun zu können, stand den Statthaltern eine kleine Streitmacht zur Verfügung.
Sie bestand aber nicht aus Soldaten, die das römische Bürgerrecht besaßen, wie sie in den
Legionen zusammengefasst waren. Die Truppen der Statthalter wurden zumeist aus der
Bevölkerung des Landes ausgehoben. Es handelt sich also um Auxiliartruppen.
Weil die jüdische Bevölkerung vom Militärdienst befreit war, werden in erster Linie Sa-
mariter und Araber in der Truppe gedient haben. Die Römer dürften sich deren Gegen-
satz zu den Juden zunutze gemacht haben. So gibt es eine Reihe von Beispielen für Ju-
denhass unter diesen Soldaten.
Blicken wir nun noch kurz darauf, wer die römischen Statthalter im einzelnen waren. In
der Zeit Jesu amtierten fünf von ihnen. Ihre Amtszeit lässt sich dabei nur ungefähr ange-
ben:
Coponius (6-9 n. Chr.)
Marcus Antibulus (9-12 n. Chr.)
Annius Rufus (12-15 n. Chr.)
Valerius Gratus (15-26 n. Chr.)
Pontius Pilatus (26-36 n. Chr.)
● Pontius Pilatus
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 119 -

Der wichtigste Statthalter in unserem Zusammenhang ist selbstverständlich Pilatus, aus


dem Rittergeschlecht der Pontii. Weltberühmt und für alle Zeiten unvergessen wurde er
durch seine entscheidende Mitwirkung an der Kreuzigung Jesu von Nazaret. Mit ihm
müssen wir uns daher etwas eingehender beschäftigen.
Er ist übrigens nicht das einzige Mitglied der Familie der Pontii, das Geschichte gemacht
hat. Ein weiteres Mitglied, L. Pontius Aquilius, ist als ein an der Ermordung Julius Cae-
sars Beteiligter in geschichtlicher Erinnerung geblieben.
Als Name der Frau des Pilatus ist Procula Claudia überliefert. Es ist nicht ausge-
schlossen, dass auch sie in Judäa weilte (vgl. Mt 27,19). Schon Kaiser Augustus hatte das
Verbot, dass römische Frauen ihre Männer auf ihre Statthalterposten in die Provinz be-
gleiteten, aufgehoben.
Über die Person des Pontius Pilatus sind wir vor allem durch Flavius Josephus und Phi-
lo von Alexandrien unterrichtet. Letzterer bezeichnet Pilatus als einen von Natur aus
unbeugsamen, eigenwilligen und unnachgiebigen Menschen und wirft ihm Bestechlich-
keit, Gewalttätigkeit, Räubereien, Misshandlungen, Beleidigungen, fortgesetzte Hinrich-
tungen ohne Gerichtsverfahren sowie unaufhörliche und unerträgliche Grausamkeit vor.
Auch wenn dieses Urteil überzeichnet sein mag, so bleibt doch der Eindruck von einem
unberechenbaren, grausamen Menschen bestehen.
Mehrere aus seiner Amtszeit überlieferte Vorgänge beleuchten diese Art und Weise der
Amtsführung des Pontius Pilatus sowie sein gespanntes Verhältnis zum jüdischen Volk.
• Philo berichtet beispielsweise davon, dass der römische Statthalter vergoldete Wei-
heschilde nach Jerusalem habe bringen lassen. Dass sich die Bevölkerung aufs äu-
ßerste darüber empörte, beeindruckte Pilatus absolut nicht. Die Juden konnten den für
sie unhaltbaren Zustand erst beenden, als sie sich mit einer Beschwerde unmittelbar
an den Kaiser wandten.
• Von einem noch dramatischeren Vorfall erzählt Flavius Josephus: Pilatus ließ dies-
mal Feldzeichen, die das Bild des Kaisers trugen, in die Stadt befördern, obgleich das
jüdische Gesetz alle Bilder verbietet. Nach mehreren vergeblich vorgetragenen Bitten
versammelte Pilatus das Volk in der Rennbahn von Kaisareia, ließ es von Soldaten
umzingeln und bedrohte es mit augenblicklicher Niedermetzelung. Als die Juden sich
zu Boden warfen, ihren Hals entblößten und erklärten, sie wollten lieber sterben als
etwas geschehen lassen, was dem Gesetz zuwiderlaufe, musste sich der Statthalter
geschlagen geben und die Bilder von Jerusalem entfernen lassen.
• Flavius Josephus berichtet auch von einem Aufruhr, der entstanden war, weil Pila-
tus mit Hilfe von Tempelgeldern in Jerusalem eine Wasserleitung bauen ließ. Der
Aufruhr wurde blutig niedergeschlagen.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 120 -

• Nach Lk 13,1 habe der Statthalter darüber hinaus im Tempelbezirk Galiläer nie-
dermetzeln lassen, die dabei waren zu opfern. Von diesem Ereignis hören wir bei
Flavius Josephus allerdings nichts.
Auffallend ist vor diesem Hintergrund, dass während der zehnjährigen Statthalterschaft
des Pilatus kein neuer Hoherpriester berufen wurde. Der von Valerius Gratus bestellte
Hohepriester Josef Kajafas verlor erst im Jahr der Amtsenthebung des Pilatus sein Amt,
als Vitellius, der syrische Legat, Jonatan ben Ananos zum Hohenpriester machte.
Dieses lange Nebeneinanderwirken von Pilatus und Kajafas und der gleichzeitige Amts-
verlust im Jahr 36 n. Chr. lassen darauf schließen, dass der Hohepriester Kajafas doch in
einem beträchtlichen Maß bereit war, mit dem Römer zu kooperieren. Wahrscheinlich ist
das auch für die Hinrichtung Jesu von Bedeutung.
Der Grund für die Amtsenthebung des Pilatus war ein Gemetzel, das er unter Samaritern
im Dorf Tirataba hatte anrichten lassen. Diese wollten gerade ihren heiligen Berg Gari-
zim besteigen. Weil sie aber Waffen bei sich hatten, meinte Pilatus einschreiten zu müs-
sen.
Vitellius, dem daraufhin die Beschwerde der Samariter vorgetragen wurde, befahl Pila-
tus, sich nach Rom zu begeben, um sich vor dem Kaiser zu verantworten. Doch ehe Pon-
tius Pilatus in Rom ankam, war Tiberius schon gestorben. Das ordentliche Verfahren vor
dem Kaiser scheint somit nicht mehr stattgefunden zu haben. Was aus Pontius Pilatus
fortan wurde, ist nicht mehr auszumachen. Der Römer verschwindet gleichsam von der
Bühne der Geschichte.
Später entstandene Nachrichten über seinen Selbstmord oder seine Hinrichtung durch
Kaiser Nero sind der christlichen Legende zuzuorden.

c. Die Römer und der Tempel in Jerusalem

• Bei aller Rücksichtslosigkeit mit der die Römer vorgingen, ließen sie den Tempel in
Jerusalem doch weitgehend unangetastet. Er genoss staatlichen Schutz.
• Die Großzügigkeit dieses Schutzes erwies sich bereits darin, dass das Betreten des hei-
ligen Bezirks hinter der Tempelschranke Nichtjuden bei Androhung des Todes verboten
war. Die Römer ließen entsprechende Warnschilder in griechischer und lateinischer
Sprache anbringen.
• Interessant ist dabei die Tatsache, dass die Juden zweimal am Tag im Tempel ein Opfer
für den Kaiser und das römische Volk darbringen mussten.
• Auch in sofern nahmen die Römer auf jüdisches Empfinden Rücksicht, als sie es ver-
mieden, mit den Feldzeichen, die ja die Kaiserbilder trugen, in Jerusalem einzuziehen.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 121 -

Satz 55: Pontius Pilatus steht mit Recht im Credo, weil der historische Karfrei-
tag unter seiner Statthalterschaft stattfand und sogar durch ihn her-
beigeführt wurde; die Nennung seines Namens bedeutet somit, dass der
Akt der Erlösung in Raum und Zeit fixiert ist.

D. Nichtchristliche Interpretationen der Person des Jesus von Nazareth

a. Jesus als Pharisäer


Unsere Frage lautet: Wer ist Jesus Christus? Wir stellen die Frage bereits als Menschen,
die zum Glauben an ihn gekommen sind, d. h. unsere Sicht auf Jesus ist die Sicht von
Glaubenden. - Nun ist Jesus Christus historische Person, Teil der Geschichte der
Menschheit: Er ist also ein Phänomen, an dem die Menschen im allgemeinen nicht vorü-
bergehen können. Was denken die Nichtgläubigen von Jesus von Nazaret? Wie interpre-
tieren sie seine Gestalt? Je nach eigenem Standpunkt wird die Interpretation des Phäno-
mens Jesus Christus sehr unterschiedlich ausfallen.
Die wichtigsten Deutungen seien hier nur angeführt: zunächst die wichtigste Deutung,
das ist die Deutung welche die Juden Jesus geben, vor allem die heutigen Juden. Was
halten sie heute von Jesus? Die einen meinen Jesus sei einfach ein Pharisäer im Kampf
gegen die Sadduzäer gewesen, die anderen Jesus sei Mitglied der frommen, aber militan-
ten Qumran-Gemeinde, der Essener gewesen und sei im politischen Kampf gegen die
Römer gestorben.
Wir wollen die beiden Auffassungen, die Jesus einer jüdischen Gruppe zuordnen, kurz
beleuchten. Am meisten akzeptiert ist heute die These Shalom Ben-Chorins, Jesus habe
als Pharisäer gegen die Sadduzäer gekämpft. Wie kommt es zu dieser These?
1. Jesus als Pharisäer im Kampf gegen die Sadduzäer: Der Name dieser Religionspar-
tei, der SADDUZÄER, die im NT sehr verschwommen vorkommt, stammt vom Hohen-
priester Zadok, der unter David und Salomo diente. Es handelt sich um eine Priesterklas-
se, die zugleich Königsbeamte waren. Zur Zeit Jesu dürften sie tatsächlich die Tempel-
aristokratie gebildet haben, mit politischem Einfluß,. Rivalitäten zwischen Pharisäern und
Sadduzäern gab es tatsächlich, nicht bloß „kirchenpolitisch“, sondern auch Glaubensun-
terschiede. Apg 23,8 heißt es: „Die Sadduzäer sagen, es gebe weder eine Auferstehung
noch Engel noch Geister.“ Diese Ablehnung des Auferstehungsglaubens wird auch von
Josephus Flavius bestätigt. Die Pharisäer nunmehr glauben all das. (Interessant ist dies-
bezüglich die Frage in Mk 12,25, wem eine Frau nach dem Tod gehört, die schon mit 7
Männern verheiratet war. Die Antwort, die Jesus hierauf gibt, entspricht ganz der pharisä-
ischen Tradition: „Wenn sie von den Toten auferstehen, heiraten sie weder noch lassen
sie sich heiraten.“ (— Dazu ausführlich: K. Schubert, Jesus im Lichte der Religionsge-
schichte des Judentums, 41-137)
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 122 -

2. Pharisäer: Viele andere Indizien sprechen dafür, dass die Lehre Jesu in groben Zügen
dem Glaubensverständnis der Pharisäer entspricht. So der Religionswissenschaftler Sha-
lom Ben-Chorin, der darauf hinweist, dass Jesus ja nach Joh 3,1-11 (Nikodemus), Joh
19,34 (Joseph von Arimatäa) und Lk 7,36 usw. Freunde unter den Pharisäern hatte. In Mt
23,15 bewundert Jesus ihren „Eifer“. Oft und oft ist er bei Pharisäern zum Essen eingela-
den. Schlicht: Jesus sei selbst Pharisäer mit „apokalyptischen Touch“ gewesen. — Dann
bleibt aber an dieser These unverständlich, wieso Jesus, wenn er doch Pharisäer gewesen
sein soll, dauernd gegen die Pharisäer Stellung nimmt. Z. B. die große Scheltrede gegen
die Pharisäer (Mt 23,16-22) usw. Hierauf antwortet Ben-Chorin: Die Polemik in der Je-
susverkündigung gegen die Pharisäer spiegelt die Situation nach 70, also zur Zeit der
Niederschrift der Evangelien wieder. Durch die Zerstörung Jerusalems kam es auch zum
Untergang der Tempelpriesterklasse der Sadduzäer, erst nach 70 blühte die pharisäische
Bewegung auf. Viele Jesuswort, die eigentlich gegen die Sadduzäer gesprochen wurden,
wurden bei der Niederschrift der Evangelien gegen die Pharisäer gerichtet.
3. Ein weiteres Argument gibt es noch: dass nämlich auch Paulus Pharisäer war. (Phil
3,5: „Beschnitten am 8. Tag, aus dem Volk Israel, dem Stamm Benjamin, ein Hebräer
von Hebräern, dem Gesetz nach ein Pharisäer…“). Schließlich berichtet die Apg, dass die
ersten Christen unter den Pharisäern sogar Sympathisanten hatten: Der Pharisäer Gama-
liel I., der ja Lehrer des Paulus war, plädiert vor dem Hohen Rat, diese Apostel freizulas-
sen (Apg 5,34-39). In Apg 23,6-9 versteht Paulus es blendend, bei einem Verhör den Ho-
hen Rat zu spalten, indem er sich ein von den Sadduzäern verfolgter Pharisäer darstellt:
„Brüder, ich bin ein Pharisäer aus einer Pharisäerfamilie. Wegen der Hoffnung und der
Auferstehung der Toten stehe ich vor Gericht.“ (Apg 23,6)
4. Was wollten die Pharisäer: Das Reich Gottes herbeiführen durch getreue Gesetzesbe-
folgung. Sie waren Kasuisten und Legalisten, unterschieden 613 Einzelgesetze!
Soweit die These: Dagegen ist zu sagen: Dass Jesus Pharisäer und das frühe Christentum
eine Form der pharisäischen Bewegung war, ist eine grobe ideologische Vereinseitigung
des Phänomens Jesus Christus. Es kann durchaus gesagt werden, dass Jesus das Gute am
Pharisäismus übernimmt, andrerseits ist die Verkündigung Jesu völlig neuartig und kann
nicht aus der pharisäischen Tradition abgeleitet werden. Jesus verkündet statt Selbstge-
rechtigkeit aufgrund von Gesetzeserfüllung Selbsthingabe an Gott, kindliches Vertrauen
zu Gott; er verkündet statt Legalismus Gottesliebe, statt Selbsterlösung Erlösung durch
Gott, statt hochmütiger Verachtung für die Nichtfrommen die Tatsache, dass es keine
Gerechtigkeit aus sich selbst gibt, dass alle Sünder sind usw. Die Pharisäer waren in ihrer
legalistischen Welt eingeschlossen, Jesus nennt sie „übertünchte Gräber“ (Mt 23,27).
Satz 56: Jesus stand dem Ziel der Bewegung der Pharisäer, die auf die Herr-
schaft Gottes durch penible Gesetzeserfüllung ausgerichtet waren,
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 123 -

zwar nahe. In der Weise, wie das Reich Gottes kommen soll, unter-
scheidet er sich aber radikal von der pharisäischen Bewegung.

b. Jesus als Qumran-Führer


Diesbezüglich gab es in der jüngeren Zeit (1993/94) zahlreiche populistische Publikatio-
nen der verschiedensten Art. 1947 wurden von einem Beduinenhirten in einer Höhle am
Nordwestufer des Toten Meeres Schriften entdeckt (insgesamt 11 Höhlen, mehr als 600
Handschriften, teils jedoch nur Fragmente, darunter auch biblische Schriften: Pentateuch,
Job, Tobit, Sirach usw.) Diese Schriften stammen aus unmittelbar vorchristlicher Zeit.
Die Gemeinde von Qumran hatte eine klosterähnliche Struktur, als ihren Gründer vereh-
ren sie einen Mann, den sie „Lehrer der Gerechtigkeit“ nennen, dieser wird von ruchlosen
Priestern verfolgt usw. Die Sekte war nämlich vom Tempelgottesdienst getrennt; es gab
feste Gebetszeiten, eine hierarchische Struktur, gemeinsames Torastudium, dazu beson-
dere Waschungen usw. Interessant ist vor allem, dass es eine starke Messiaserwartung
gab. - Versuche, Jesus zu einem Essener zu stempeln gab es schon im 18. Jh. In den neu-
eren Publikationen wird nun behauptet, der Vatikan habe einen Teil der Qumran-
Schriften unter Verschluss gehalten. Es wird auch behauptet, dass der „Lehrer der Ge-
rechtigkeit“ niemand anderer sei als Jesus. Aus den Unterlagen ginge hervor, dass Jesus
nicht der Messias sei, dass er nicht auferstanden sei usw. usf. Im Zusammenhang mit die-
sen Publikationen („Verschlußsache Jesus“) lässt sich sagen, dass es faktisch keine Un-
terstellung gegeben hat, welche die Phantasie diesem Sektenführer Jesus zugeschrieben
hat: für die einen ist er verheiratet, für die anderen ein ehefeindlicher Asket; für die einen
ist er eine himmlische Erscheinung, für die anderen ein bloßer Mensch; für die einen ist
er ein Neurotiker, für die anderen ein genialer Manipulateur, für die einen der Sohn einer
Dirne, für die anderen ein nichtleibliches Geistwesen usw. — Diese Behauptungen sind
ineinander so widersprüchlich und so lächerlich, dass sich eine wissenschaftliche Be-
schäftigung mit ihnen erübrigt, sie entsprechen dem Niveau der apokryphen Literatur des
2./3. Jh. bzw. der antichristlichen jüdischen Polemik des 3. Jh.
Literatur dazu: JOSEF DIRNBECK, DIE JESUS-FÄLSCHER. Ein Original wird ent-
stellt, Pattloch: 1994: gibt nichts, was es nicht gibt: Jesus als Vegetarier, als Arier, als
Vollidiot, als Hitler-Wegbereiter, als ägyptischer Zauberer, er sei in Japan begraben, mit
dem Raumschiff gekommen, Auferstehung sei die erste Atomexplosion, Jesus sei ein
germanischer Held usw. Das Schlimme ist, dass eben diese „Jesus-Fälscher“ von sich
behaupten, sie hätten den richtigen Jesus entdeckt, während die Kirche diesen seit Jahr-
tausenden verfälsche. — Ein weiterer Autor, der sich um Jesus-Interpretation müht, ist
PINCHAS LAPIDE, ein Jude, der durch Erlebnisse im 2. Weltkrieg sich für das Chris-
tentum zu interessieren begann. Er bleibt aber weiter Jude, d. h. eine „Gottheit“ Christi ist
ihm ein Ärgernis; für ihn ist Jesus ein weiser jüdischer Rabbi, der verheiratet war usw.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 124 -

Lapide steht der Lehre Jesu von der Nächstenliebe sehr positiv gegenüber, mit der Person
Jesu kann er freilich - typisch - nichts anfangen.
Insgesamt lässt sich sagen: Alle einigermaßen seriösen Interpretationen, die man vom
nichtchristlichen Standpunkt her dem Phänomen Jesus von Nazaret geben möchte, treffen
nicht das eigentliche. Mag es sein, dass sich in der Verkündigung Jesu etwas von den
Lehren der Pharisäer, der Sadduzäer, der Essener usw. widerspiegelt. Das Problem ist,
wenn man Jesus erklären möchte als ein „Nur“: Jesus war „nur“ dieses und jenes. (Re-
duktionismus ist typisch für die Neuzeit, und er erklärt gar nichts: Z. B. wenn man ein
Schnitzel nur von seiner organischen Struktur her erklären wollte: ein Schnitzel ist ein
Geflecht von tierischen Muskelfasern… - wird dem Phänomen Schnitzel nicht gerecht).
Zwei nichtchristliche Jesus-Interpretationen sind heute besonders aktuell und sollen des-
halb hier noch erwähnt werden: die gnostische Jesusinterpretation und die moslemische.

c. Der Christus der Gnosis


Allen Interpretationen, die Jesus vor allem von dem jüdischen Kontext her sehen möch-
ten, ist gemeinsam, dass sie eine Göttlichkeit Jesu Christi ablehnen. Jesus ist für sie der
Rabbi, der Prophet, der mit seiner Lehre scheitert. Wichtig: Interessant bleibt für diese
Deutungen vor allem die Lehre Jesu Christi: was er sagt, was er lehrt. Seine Person selbst
ist uninteressant, da sie nicht göttlich ist, für sie ist die Person Jesu Christi ein natürliches
Phänomen.
Auf der anderen Seite gibt es aber seit dem 2. Jh. n. C. die Tendenz, die Person Jesu
Christi vor allem als ein „übernatürliches“ Phänomen zu deuten. Die Gnosis möchte von
der konkreten Gestalt Jesu Christi abstrahieren, und in ihm ein „zeitloses“ Prinzip ma-
chen. Der geschichtliche Jesus von Nazaret wird abgelehnt, für die Gnosis ist es ein
Skandal zu behaupten, dass Gott Fleisch geworden ist (siehe unseren Dogmengeschicht-
lichen Überblick: Doketismus usw.). Die Gnosis denkt viel Skurriles über Jesus (Astral-
leib usw.). Entscheidend ist all den vielen gnostischen Interpreatation, dass hier wieder
eine Reduktion des Phänomens: aus dem konkreten Gottmenschen Jesus, der zu eine be-
stimmten Zeit gelebt hat, wird ein allgemeines zeitloses „Prinzip“, das „Christus-
Prinzip“. Schon im NT finden sich Tendenzen, dieser „Entgeschichtlichung“ entgegenzu-
treten. Etwa im Glaubensbekenntnis die Feststellung, dass Jesus unter Pontius Pilatus
gelitten hat. (So kommt Pilatus ins Credo, um die Geschichtliche Konkretheit festzuhal-
ten). Bis heute lebt diese Abstraktion Christi in den gnostischen Ideologien fort: Theoso-
phie, Anthroposophie, New-Age, viele östliche Deutungen Jesu Christi.
Satz 57: Hochschätzung für Jesus von Nazaret gibt es auch in nichtchristlichen
religiösen Strömungen, die jedoch entweder die geschichtliche Kon-
kretheit Christi (Gnosis) oder die wahre Gottessohnschaft nicht aner-
kennen.
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d. Jesus im Koran
Hier: nicht Religionswissenschaft! Aber: Es ist wegen des Dialogs zwischen den Religio-
nen wichtig, das Jesusbild des Koran (Islam) in groben Zügen zu kennen. Dem Koran
geht es um Gott: Gott ist ganz absolut vorgestellt: als Schöpfer, als Richter, als einer,
dem Ehre und Anbetung, zutiefst aber Unterwerfung („Islam“) gebührt. Gott hat 99
„schönste Namen“. Der entschiedene Monotheismus des Islam lässt keine Kindschaft
Gottes zu. Ja, Allah Götter zuzugesellen wäre ein schwerer Frevel (Sure IV,51).
Literatur: J. A. HARDON, Gott in den Religionen der Welt, 408-415
Daraus folgt konsequent die Ablehnung der christlichen Dreifaltigkeitslehre. Christus
kann unmöglich Gottes ewiger Sohn sein, da Gott allein ewig ist. Er kann nur ein Diener
und Prophet, ein Gesandter Allah sein. Und als solcher wird im Synkretismus des Koran
Christus tatsächlich akzeptiert: Jesus als Prophet. Was lehrt der Koran über Jesus (v. a.
Sure III, 37.40.42; XIX, 21.22):
1. Maria wird hoch geehrt, 31mal kommt ihr Name im Koran vor, sie ist die Mutter des
Propheten Jesus. Jesus wird oft genannt „ihr Sohn“.
2. Maria und Jesus sind sündlos empfangen. Während jedes Kind sonst vom Satan be-
rührt wird, Maria und Jesus nicht!
3. Maria empfängt jungfräulich: Die Verkündigung an Maria erinnert an das Lukas-
Evangelium:
„Die Engel sprachen: ‘O, Maria, siehe Allah hat dich auserwählt und hat dich gerei-
nigt und hat dich erwählt vor den Weibern aller Welt… Allah verkündet dir ein Wort
von ihm; sein Name ist der Messias Jesus, der Sohn der Maria, angesehen hienieden
und im Jenseits’… Als Maria einwendete: ‘Woher soll mir ein Sohn werden, wo mich
kein Mann berührte? sprach ein Engel: ‘Also erschafft Allah, was er will, wenn er ein
Ding beschlossen hat, spricht er nur zu ihm: ‘Sei!’ und es ist!… Und so empfing sie
ihn und zog sich mit ihm an einen entlegenen Ort zurück!“ (Sure III, 37.40.42)
4. Jesus ist nicht Sohn Gottes: „Nicht steht es Allah an, einen Sohn zu zeugen.“
(XIX,30f.) Christus war nur ein Mensch. Immer wieder findet sich im islam gleichsam
das antichristologische Thema, dass Gott keinen Sohn hatte. „Jesus ist vor Allah gleich
Adam… Fluch über alle Lügner“, die ihn zu Gottes Sohn machen (III,52-54). N. B.: Mo-
hammed hat eine abstruse Vorstellung von der christl. Dreifaltigkeit, und glaubt, dass wir
3 Götter glauben.
5. Ursprünglich wollte Mohammed die drei Religionen - Judentum, Christentum und sei-
ne eigene - miteinander versöhnen und anerkannte das Christentum als eigene Offenba-
rung. Das widerrief er jedoch, und erklärte die Christen für Ungläubige, da sie an einen
dreifaltigen Gott glauben: „Wahrlich ungläubig sind, die da sprechen: ‘Siehe allah ist ein
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dritter von drei.’ Aber es gibt keinen Gott, denn einen einzigen Gott… Nicht ist der Mes-
sias, der Sohn der Maria, etwas anderes als ein Gesandter.“ (V, 76.77.79)
6. Christus steht auf einer Ebene mit Mose und Mohammed, Mohammed aber ist der letz-
te der langen Reihe der Propheten, er ist deshalb mehr als Christus.
7. Christus, der Gesandte Allahs, ist nicht gekreuzigt worden, sondern ein ihm ähnlicher.
Aber er wurde zu Gott erhöht (IV,154). - Doketistische Christologie! - In Sure XIX,34
wird sogar die Auferstehung angedeutet. Dort spricht das Christkind kurz nach der Ge-
burt: „Frieden auf den Tag meiner Geburt und den Tag, da ich sterbe und den Tag, da ich
erweckt werde zum Leben!“ (XIX,34).
Damit hat der Koran die altchristliche Irrlehre des Doketismus übernommen. Das Chris-
tusbild des Koran ist das eines großen Propheten, freilich ohne Kreuzesleiden und Kreu-
zestod. Natürlich ist der Prophet auch nur ein Mensch. Die Vorstellung eines dreifaltigen
göttlichen Wesens wird ja strikt abgelehnt.
8. Die trinitarischen Christen sind Ungläubige und werden deshalb in Ewigkeit brennen :
„Siehe die Ungläubigen, nimmer hilft ihnen ihr Gut noch ihre Kinder etwas wider Allah!
Sie sind die Speise des Feuers. Sprich zu den Ungläubigen: ‘Ihr sollt besiegt und in die
Hölle verstoßen werden…“ (III,1,2.5.8.10) Ebenso V,76: „Wer Allah Götter an die Seite
stellt, dem hat Allah das Pradies verwehrt und seine Behausung ist das Feuer!“
Satz 58: Im Koran, der ein synkretistisches Produkt jener religiösen Bewegun-
gen ist, die der Handelsreisende Mohamed kennenlernte ist Jesus ein
menschlicher Prophet unter anderen. Hochgeschätzt wird seine jung-
fräuliche Mutter Maria; sein Kreuzestod wird mittels einer doketisti-
schen Anschauung geleugnet.

2. Jesus Christus im Glauben der Kirche

A. Die Jünger interpretieren das Phänomen Jesus von Ostern her


1. Kein seriöser Wissenschaftler könnte sagen: „Jesus hat nicht wirklich gelebt.“ Diese
Auffassung wurde nur im 19. Jahrhundert erhoben. Da behauptete Bruno Bauer (1809-
1882), alles sei eine bloße Erfindung eines „Urevangelisten“, von dem dann alle abge-
schrieben hätten. Es ist eine historisch sichere Tatsache, dass Jesus gelebt hat. Die Frage
ist nur: wie ist dieses geschichtliche Phänomen eines Menschen, der wunderheilend he-
rumzieht, das Reich Gottes verkündigt, sich selbst als gesandten Sohn Gottes bezeichnet
und deshalb als Gotteslästerer gekreuzigt wird, von dem schließlich seine Jünger behaup-
ten, er sei auferstanden… wie ist dieses Phänomen authentisch zu deuten? Warum geht
es hier um die Deutung, die Interpretation des Phänomens? - Die Antwort ist einfach:
Weil ein bloß „historischer“ Zugang zu Jesus uninteressant, ja belanglos ist.
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Warum geht es uns nicht um den historischen Jesus: Z. B. ein Autorennen: ist eine histo-
rische Tatsache. Ich kann z. B. Setzer bei einer Sportzeitschrift sein und dort die Berichte
über Autorennen lesen, über ihren Verlauf, über ihre Fahrer usw. Aber das Ganze kann
mich völlig kalt lassen, kann mir nichts bedeuten. - So kann ich einfach die Berichte über
die Wunderheilungen Jesu oder seine Kreuzigung und Auferstehung lesen und die Achsel
zucken, weil es mir egal ist. Oder ich kann beginnen, mich von diesem Phänomen Jesus
treffen zu lassen, mich auf ihn einzulassen, das, was mir da über ihn erzählt wird, zu ver-
stehen versuchen… Oder anderes Beispiel: Die Tatsache, dass Johannes XXIII. gelebt
hat, ist ja noch völlig uninteressant, erst wenn ich mich von seiner Persönlichkeit, seinen
Absichten, seiner Frömmigkeit treffen lasse, wenn ich mich für ihn begeistere und damit
„ihn“ in mein Leben hineinnehme, wird die Sache interessant.
So ist es auch mit der Person Jesu Christi. Freilich: er ist ein geschichtliches Phänomen,
das von vielen verschieden interpretiert, gedeutet wird: für die einen Prophet, für die an-
deren Idiot, für die einen ein göttliches Prinzip, für die anderen ein politischer Revolutio-
när. Wir haben ja schon einige der Interpretationen des Phänomens Jesus gehört. Sie ha-
ben eines gemeinsam: sie entsprechen nicht dem, was die Jünger Jesu selbst - als Augen-
und Ohrenzeugen - von Jesus glaubten. Es handelt sich um Jesus-Interpretationen „ne-
ben“ dem Evangelium.
Wir tun uns mit unserer Jesus-Interpretation aber leichter, denn wir sind ja als Glaubende
bereit, die Deutung zu akzeptieren, welche die ersten Jünger Jesu gemacht haben und uns
in ihrer Verkündigung und in ihren Schriften hinterlassen haben. Wir dürfen dabei auch
ein gewisses Selbstbewußtsein entwickeln: denn wir glauben in derselben Weise an Jesus
christus, wie sein Jünger damals (während alle anderen andauernd ihre eigenen Deutun-
gen erfinden). Die Kirche garantiert die Kontinuität dieser Interpretation.
Dazu ist zu sagen, dass die Jünger selbst ja einen Erkenntnisweg hinter sich haben: für sie
war Jesus ja auch anfänglich nichts anderes als ein wundertätiger Rabbi.
Ein Historiker würde von Jesus feststellen können: ein in Nazaret aufgewachsener eh-
renwerter Handwerker, der irgendwann zu Predigen beginnt, getrieben von der Hoffnung
auf ein baldiges Kommen des Gottesreiches, der Jünger um sich sammelt, predigt, mit
den Mächtigen in Konflikt gerät und schließlich von der römischen Besatzungsmacht
hingerichtet wird. Das ist so ungefähr auch das, was sich die Apostel am Karfreitag dach-
ten, als für sie mit der Hinrichtung ihres Meisters eine Welt zusammenbrach. (Ein Histo-
riker kann die volle Wahrheit Christi gar nicht erkennen, da er nur an der Historie inte-
ressiert ist, und diese ist nur ein Teil der Wahrheit.)
2. Die volle Erkenntnis dessen, was Jesus Christus ist, wer er ist, was er bezweckt, was er
getan hat, diese volle Erkenntnis stammt aus dem Osterereignis. Diese volle Erkenntnis
wurde den Jüngern auch erst am Ostermorgen zuteil. Man nennt dieses volle Verstehen
des Phänomens Jesus Christus auch den Osterglauben. Nach Ostern ist den Jüngern erst
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 128 -

klar, dass Jesus mehr war als ein bloßer Mensch. Das älteste Glaubensbekenntnis steht in
1 Kor 15,3-5, es dürfte Mitte der 30er Jahre, also zwei bis drei Jahre nach der Auferste-
hung so ausformuliert worden sein: „Christus ist für unsere Sünden gestorben gemäß der
Schrift, und ist begraben worden. Er ist am dritten Tag auferweckt worden gemäß der
Schrift, und erschien dem Kephas, dann den Zwölfen.“ (1 Kor 15,3-5)
3. Schlussfolgerung: Jede Unterscheidung in „historischer Jesus“ und „Jesus des Glau-
bens“ ist falsch. Mit dieser Unterscheidung wird meistens unterstellt, dass es einen natür-
lichen Menschen Jesus gibt (historisch) und einen Jesus, wie er nur im Glauben, also in
der Phantasie der Jünger existiert. Wir sagen: Der historische Jesus ist der Jesus des
Glaubens. Das Trennenwollen in das was Jesus wirklich getan hat und das, was der
Glaube ihm andichtet, ist falsch. Denn: Uns muss klar sein, dass alle Zeugnisse über Je-
sus aus dem Osterglauben heraus geschrieben wurden, mit anderen Worten: es handelt
sich im eigentlichen Sinne um Schriften von Menschen, die an Jesus den Herrn glauben,
denen es auch darum geht, für den Glauben an Jesus Christus, den auferstandenen Herrn
Werbung zu machen. Will man hier das „Historische“ herausarbeiten, (Harnack: den
Kern aus der Schale lösen) dann unterstellt man den Evangelisten zugleich, dass ihre
Sicht von Jesus nicht die wirkliche ist. Man maßt sich selbst an, Jesus so erkennen zu
können, wie er wirklich ist. Das ist eine rationalistische Reduktion, die nicht gelten lassen
möchte, was ihr nicht paßt. Nochmals: der Jesus, der die Historiker sosehr interessiert,
den gibt es nicht!
Satz 59: Der „historische Jesus“ kann vom „Jesus des Glaubens“ nicht getrennt
werden, da das Phänomen Jesus nur zugänglich ist kraft der Erkennt-
nis, welche die Jünger von Ostern her über ihn gewinnen: dass er der
für uns gekreuzigte und auferweckte Kyrios ist.

B. Ostern garantiert die Wahrheit Christi


Warum ist die Auferstehung sosehr der Mittelpunkt des Glaubens? Überhaupt: Auferste-
hung Christi? Ist das nicht eine schöne Legende, eine fromme Illusion? Welche Gründe
haben wir Christen, um an eine wahrhaftige Auferstehung Christi zu glauben? Was ve-
ranlaßt uns, solch eine Geschichte für wahre Geschichte zu halten. Im wesentlichen fünf
Argumente:
Erstens: Es handelt sich um die endgültige Definition Jesu Christi als Sohn Gottes.
Erst die Auferstehung „definiert“ die Person Jesu als den wahren Sohn Gottes, als den
Herrn, als den Christus. Erst seine Auferstehung lässt die Apostel erkennen, wer ihr
Meister war und ist. Erst nach Ostern können die Jünger aus vollem Herzen zu Jesus sa-
gen: „Mein Herr und mein Gott!“ (Joh 20,28). Historisch gesehen hätte wohl nach Gol-
gotha kein Hahn mehr nach diesem Jesus gekräht; und es hätte dem alttestamentlichen
Recht entsprochen, dass er, der von sich behauptete, Gottes Sohn zu sein (Joh 8,53) als
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 129 -

Gotteslästerer gerichtet wird. Wäre Jesus bloß gestorben - ob eines natürlichen oder un-
natürlichen Todes spielt dann keine so große Rolle mehr -, dann wäre auch seine Bot-
schaft nicht wesentlich mehr wert als das, was heute und zu allen Zeiten Gurus und Wei-
se den Menschen erzählen möchten. So aber ist offenbar geworden: „Gott hat ihn zum
Herrn und Messias gemacht, eben diesen Jesus, den ihr gekreuzigt habt!“ (Apg 2,36)
Zweitens: Es handelt sich um ein reales Ereignis in der Geschichte! Selbst von Seite
einiger Theologen wollte man die aufregenden Erzählungen in den Evangelien so inter-
pretieren, als handle es sich dabei nur um ein subjektives, phantasievolles Erlebnis auf
Seiten der Jünger. Dagegen spricht der in allen vier Evangelien einmütig berichtete Um-
stand, dass den Jüngern erst allmählich aufgrund ganz konkreter Fakten die Auferstehung
klargeworden ist. Da wird vom leeren Grab berichtet, dass man zuerst natürlich an Grab-
raub dachte, dass man das Verschwinden des Leichnams rational erklären wollte, dass
Jesus selbst sichtbar und angreifbar vor die Jünger treten muss. Zum Zeichen dafür, dass
er kein Gespenst ist, lädt der Auferstandene sogar zum Essen mit ihm ein. Die Auferste-
hung ist keine Geschichte, sie ist Geschichte!
Drittens: Es handelt sich um ein Ereignis, das die Jünger völlig überraschte. Man
vergleiche: Während es viele religiöse Schwärmer gibt, die sich alles Mögliche einbilden
und ihre Ideen und Phantasien dann als Wahrheit verkaufen wollen, so sind die Apostel
schon charakterlich aus einem anderen Holz geschnitzt: Es handelt sich um nüchterne
Realisten, um arbeitsgewohnte Fischer, um Menschen, die verträumten Hirngespinsten
nichts abgewinnen konnten. Jesus selbst musste ja oft seine Jünger tadeln, weil sie so trä-
ge im Begreifen göttlicher Dinge waren. Nach der Kreuzigung schildern uns sie Evange-
lien einmütig, dass die wenigen übriggebliebenen Anhänger maßlos frustriert und am
Boden zerstört waren: Ihre Hoffnungen auf den Wunder-Rabbi, der das Reich Israel wie-
der herstellen wird, sind wie eine Seifenblase zerplatzt. Sie reagieren nüchtern: Einige
gehen in Jerusalem „in den Untergrund“, die anderen kehren sofort nach Hause zurück,
nach Emmaus, nach Galiläa, wo wir sie bald wieder an der gewohnten Arbeit finden. Die
Auferstehung ihres Herrn überrascht, überrumpelt sie. Das haben sie weder erwartet,
noch wollen sie dieses unglaubliche Ereignis so ohne weiteres hinnehmen: Die Erzählung
von Thomas zeigt, wie schwer sich die Apostel mit dem Glauben an die Auferstehung
ihres Herrn getan haben. Die Apostel sind die letzten, die auf die Idee gekommen wären,
eine Geschichte von der Auferstehung ihres so schändlich hingerichteten Meisters zu er-
finden.
Viertens: Es handelt sich um ein Ereignis, das das Leben der Jünger Jesu völlig neu
gestaltete. So verunsichert die Apostel über den Tod ihres Meisters waren, so geisterfüllt
und selbstsicher sind sie es, sobald sie zum Glauben an die Auferstehung ihres Herrn ge-
kommen sind. Mit sanfter Ironie schildert etwa Lukas zuerst den feigen dreimaligen Ver-
rat des Simon Petrus und dann das mutige Bekenntnis, das derselbe Petrus am Pfingsttag
vor allem Volk ablegt. Vor der Auferstehung waren die zwölf einfach Männer, die von
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 130 -

Jesus begeistert waren, nach der Auferstehung sind es Männer, die an Jesus glauben, auf
ihn ihre ganze Hoffnung setzen. Nach der kirchlichen Überlieferung sind alle Apostel -
außer Johannes - um ihres Glaubens willen gestorben. Wäre Jesus nicht auferstanden,
wären die Jesusanhänger wahrscheinlich erst an Altersschwäche gestorben.
Fünftens: Es handelt sich um ein universales Ereignis, das alle Menschen betrifft.
Die Auferstehung Jesu ist das „Wunder aller Wunder“. Alle anderen Wundertaten, die
Jesus direkt gewirkt hat, sind nichts im Vergleich zur Auferstehung. Alle anderen Wun-
dertaten haben beschränkte Bedeutung: da wird ein Blinder geheilt, da ein Gelähmter,
dort ein Tauber usw. Die Auferstehung Christi aber schließt alle Menschen in sich ein. In
Christi Tod und Auferstehung wird aller Tod und Auferstehung vorweggenommen. Da
wir Christen glauben, dass durch die Auferstehung Christi allen Menschen ein ewiges
Leben nach dem Tod bereitet ist, kann niemand sagen: Das geht mich nichts an! Die
Wahrheit der Auferstehung Christi entscheidet über unser aller ewiges Leben. „Wenn
Christus nicht von den Toten auferstanden ist, dann laßt uns weiterhin fressen und saufen,
denn morgen sind wir tot!“ (1 Kor 15,32) Wenn die Auferstehung Christi wahr ist, dann
ist der Tod nicht das Ende, sondern der Durchgang in das Leben bei Gott. Dann hat aber
auch das irdische Leben eine neue Dimension erhalten: geschenkte Vorbereitung. Erst
das ewige Leben macht das irdische Leben lebenswert.
Nochmals: Die Auferstehung Christi ist so unerfindbar und unausdenkbar, wird von den
evangelien als so einschneidendes Erlebnis für die - ungläubigen - Jünger genannt, dass
wir in ihr die Garantie für die Wahrheit des Evangeliums sehen dürfen. Hier haben nicht
religiös interessierte Menschen sich etwas über Gott ausgedacht, sondern hier hat Gott
souverän seine Wahrheit geoffenbart.
Satz 60: Die Auferstehung Christi ist das „factum primordiale“ im Bekenntnis
zu Jesus als dem Christus und als dem Sohn Gottes.

C. Jesus Christus als der „abgestiegene“ Sohn Gottes

a. Die nachösterliche Erkenntnis, dass in Christus Gott selbst zu uns gekommen


ist
1. Es wurde gezeigt: Erst zu Ostern wird die Wahrheit Christi von den Jüngern voll und
überwältigend erkannt. Wir fragen jetzt: Worin besteht eigentlich der springende Punkt
der vollen Erkenntnis Jesu Christi, wie Ostern sie geschenkt hat? Antwort: In der Er-
kenntnis, dass in Jesus Christus Gott selbst als Mensch für uns Menschen gehandelt hat!
In der Erkenntnis der Auferstehung liegt auch erst die volle Erkenntnis, dass Jesus Chris-
tus Gottes Sohn im eigentlichen Wortsinn war (siehe oben das 1. Argument). Es würde
hier in der Einführung zu weit führen, die ganze Geschichte des Titels „Sohn Gottes“
aufzuführen. Wichtig ist: die Jünger erleben das Phänomen Jesus, sie erleben seine Wun-
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dertaten und seine Reich-Gottes-Predigt, und schließlich Tod und Auferstehung, und
dann erst verstehen sie, was hier eigentlich der Kern war: dass Gott selbst in Jesus Chris-
tus unter uns erschienen ist.
Diese Ostererkenntnis stellt aber eine Herausforderung auch an das Denken der Jünger
dar: Sie fragen: Was steckt hinter diesem Phänomen des gekreuzigten und auferstandenen
Messias? Woher kommt er? Wer ist er? Was ist der Grund seines Todes und seiner Auf-
erstehung? Sie fragen also nach dem „Dahinter“, nach dem „Woher“ von Jesus! Wie
muss Gott sein, wenn er sich uns so offenbart? — Und sie erkennen, dass Jesus der End-
punkt einer Bewegung, und zwar der Bewegung Gottes zum Menschen. Es ist der Ge-
danke des Abstieges Gottes: In Christus ist Gott selbst zum Menschen abgestiegen.
Im NT zwei wichtige Zeugnisse dieses Abstiegs-Gedankens („Deszendenzchristologie“) :
Phil 2 und Joh 1; daraus wird dann drittens gefolgert, dass der göttliche Teil Christi ewig
schon in Gott war, also präexistent.

b. Die Kenosis nach Phil 2


Der Kenosisgedanke in Phil 2: Christus als die „Kenose“ Gottes. Der Gedanke, das Jesus
das Resultat einer Abstiegsbewegung Gottes ist, findet sich im Philipperhymnus (Phil
2,6-11), einem der ältesten Hymnen des NT folgendermaßen ausgedrückt:
„Das wisset unter euch, wie es auch in Jesus Christus ist (Ermahnung zur Demut): Er
war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte
(ekenosen) sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war
das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod
am Kreuz. Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der
größer ist als alle Namen, damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde ihre
Knie beugen vor dem Namen Jesu und jeder Mund bekennt: ‘Jesus Christus ist der
Herr!’ zur Ehre Gottes des Vaters.“ (Phil 2,6-11)
Eindeutig ist eben die Bewegung: Gott zum Menschen. Gott entleert sich, entäußert sich,
geht in das Gegenteil seiner selbst.
Philipperbrief: Gefangenschaftsbrief um 55, stammt sicher von Paulus selbst. Die Gefan-
genschaft ist wohl nicht die letzte in Rom, wo er um 64 unter Nero enthauptet wurde,
sondern eine in Ephesus um 55. Paulus dankt jedenfalls für die „Gnade“ der Gefangen-
schaft (Phil 1,7) Paulus greift hier einen alten Hymnus auf, hat er in der Liturgie seiner
Zeit kennengelernt: ein Christushymnus.
Paulus ist ganz unten, doch gerade das ist die Wende zum Positiven, zur Erhöhung: Denn
durch seine Gefangenschaft gibt er Zeugnis für Christus, macht er Werbung für Jesus. –
150 Jahre später wird Tertullian sagen: „Sanguis martyrum semen christianorum“! Durch
den Brief möchte er die anderen stärken, deshalb strahlt der Brief eine starke Zuversicht
aus!
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 132 -

Inhalt: Es geht 1. um den Abstieg Christi, die KENOSE; 2. um die Erhöhung Christi.
Christus war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest. – Dogmatisch: Bezeugt den Glauben
an die Ewigkeit Christi.
Christus = Gott, hält sein Gottsein aber nicht fest wie eine Beute. (sicut rapinam) – wie
ein Hund, der sein apportiertes Stöckchen nicht hergeben will, sondern sich darin ver-
beißt. Schönes Bild für die Gier!
► 1. Teil: Christus: ENTÄUSSERUNG; Kenose = Entleerung. D. h.: Läßt los, nicht daß
er aufhört, Gott gleich zu sein. Balthasar: „hinterlegt“ seine göttliche Macht gleichsam
und wird Mensch. ► Paulus hat zwei Einfügungen in den Hymnus gemacht: Ursprüng-
lich hieß es: „wurde den Menschen gleich“, Paulus fügt ein: „wurde wie ein Sklave und
den Menschen gleich. Paulus möchte die Tiefe des Abstieges zeigen: Ganz hinunter!
Nicht nur Mensch – es gibt auch Menschen, die ganz „oben“ sind -, anders bei Jesus: Er
wird wie ein Sklave (doulos).
2. Einfügung: ursprünglich: „gehorsam bis zum Tod“. Paulus fügt ein: „bis zum Tod am
Kreuz“ – Paulus wie kein anderer getroffen vom Kreuz (Fluchholz)
► 2. Teil des Hymnus: Hymnus hat aber Bewegung: nach unten, dann hinauf: Erniedri-
gung/Kenose – Erhöhung: „Darum hat ihn Gott über alle erhöht!“ = Auferstehung, macht
Christus zum „KYRIOS“ (= Gottesname des AT) – Kyrios ist ein allererstes Glaubens-
bekenntnis zu einer Zeit, in der 1.) für die Juden KYRIOS die griechische Übersetzung
von JHWH war; 2.) für die Heiden KYRIOS der Titel für den Cäsar war.
Was den Philipperbrief für uns so interessant macht, ist die Tatsache, daß Paulus den al-
ten Christushymnus in einen spirituellen Kontext stellt: Er macht die Entäußerung Christi
zum ethischen Prinzip des Christen:
„Das sollt ihr untereinander bedenken, daß ihr so gesinnt seid, wie es dem Leben in
Christus Jesus entspricht!“ – „en christo Iesou“ – bezeichnet bei Paulus das
Christsein: eingetauft werden in Christus. So will er uns hier also die Grundhaltung
vermitteln.
c. Die Inkarnation nach Joh 1
Der Inkarnationsgedanke bei Joh 1: Die Auffassung, dass Christus das Resultat des Ab-
stiegs Gottes ist (Johannes: „Sendung“!) wird durch das ganze Joh vertreten. Dort wird
auch bereits sehr intensiv darüber nachgedacht, wie Gott in sich selbst ist. Und dort wer-
den zwei Bezeichnungen für Christus verwendet: der Begriff: „Sohn“ und der Begriff
„Wort-Logos“.
• Der Ausdruck „Logos“ kommt nur im Johannes-Prolog vor und dann noch in 1 Joh 1
(logos tes zoes): Was bedeutet Logos. Logos bedeutet den „Teil“ Gottes, der in Jesus
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 133 -

Christus Mensch wird. Joh 1,14: „Und der Logos ist Fleisch geworden“ (Sarx egeneto;
Ensarkosis). Es ist der Logos, der im Anfang schon in Gott war, der jetzt in Jesus Chris-
tus Menschengestalt annimmt. Sehr klar wird auch der Gedanke zum Ausdruck gebracht,
dass der Logos ewig ist, also die Präexistenz des Logos: Der Logos ist immer schon in
Gott („Im Anfang war das Wort, und das Wort war Gott, und das Wort war Gott“). D. h.:
Gott schafft nicht irgendwann den Logos, sondern der Logos ist immer schon Gott. Der
Ausdruck „Logos“ ist philosophisch (Philo von Alexandrien) und ermöglicht eben, eine
Differenzierung im einen Wesen Gottes zu denken. (So wie der Verstand einen Gedanken
(Logos) bilden kann und sich dadurch nicht teilt. Die joh Theologie ist ganz geprägt vom
Gedanken der Deszendenz, des Abstieges Gottes. Man nennt sie auch - wegen Joh 1,14 -
eine „Inkarnations-christologie“.
• Bei Johannes findet sich aber viel häufiger die Bezeichnung „Sohn“ für Christus. Das
Joh beginnt philosophisch mit dem Prolog vom Logos und fährt dann fort, indem es über
den Sohn und sein Verhältnis zum Vater berichtet. Der Logos ist der Sohn. So schildert
Joh die innige göttliche Einheit zwischen Vater und Sohn: „Niemand hat Gott je gesehen,
der einzige, der Gott ist und am Herzen des Vaters ruht, er hat Kunde gebracht!“ (Joh
1,18). Es gibt interessanterweise bei Mt und Lk sogenannte „johanneische Stellen“, die
auch vom Verhältnis von Vater und Sohn sprechen:
„Erfüllt vom Heiligen Geist rief Jesus aus: Mir ist von meinem Vater alles übergeben
worden; niemand weiß, wer der Sohn ist, nur der Vater, und niemand weiß, wer der
Vater ist, nur der Sohn und der, dem es der Sohn offenbaren will.“ (Lk 10,22; vgl. Mt
11-25-27)
d. Die Präexistenz Christi
Der Gedanke von der Präexistenz des Sohnes: Wenn Christus aber als Resultat der Ke-
nose Gottes bzw. der Inkarnation des Logos verstanden wird, wenn in ihm also der Lo-
gos-Sohn abgestiegen ist und „den Menschen gleich“ geworden ist, dann stellt sich lo-
gisch die Frage: Was war denn Christus, bzw. der Logos, bevor er Mensch geworden ist?
Hat es ihn schon vor der Menschwerdung gegeben? Auch darüber denken die Verfasser
des NT bereits nach und entwickeln die Lehre von der Präexistenz Christi, also von sei-
nem Sein noch vor der Menschwerdung (prae-existere, schon vorher existieren): So sehr
deutlich im Kollosserhymnus 1,15-20
„Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene der ganzen Schöp-
fung. Denn in ihm wurde alles geschaffen im Himmel und auf Erden, das Sichtbare
und das Unsichtbare… alles ist durch ihn und auf ihn hin geschaffen. Er ist vor aller
Schöpfung, in ihm hat alles Bestand. Er ist der Ursprung, der Erstgeborene der Toten;
so hat er in allem den Vorrang. Denn Gott wollte mit seiner ganzen Fülle in ihm
wohnen, um durch ihn alles zu versöhnen.“ (Kol 1,15-20)
Eindeutig ist auch die Präexistenzaussage auch in Hebr 1,1:
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 134 -

1: Viele Male und auf vielerlei Weise hat Gott einst zu den Vätern gesprochen durch
die Propheten; 2: in dieser Endzeit aber hat er zu uns gesprochen durch den Sohn,
den er zum Erben des Alls eingesetzt und durch den er auch die Welt erschaffen
hat. 3: er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Abbild seines Wesens;
er trägt das All durch sein machtvolles Wort, hat die Reinigung von den Sünden be-
wirkt und sich dann zur Rechten der Majestät in der Höhe gesetzt;
Wunderbar kommt in diesen Texten schon der Glaube an die Ewigkeit Christi zum Aus-
druck. In beiden Texten ist Christus präexistent! Und in beiden Texten ist Christus der
„Schöpfungsmittler“, also die Brücke des einen und einzigen Jahwes zur Schöpfung der
Welt! Damit beginnen die ersten Christen aber schon über den heiligsten Bereich Gottes
nachzudenken, nämlich sein innerstes Wesen: Wie ist Gott in sich, damit er in Jesus
Christus Mensch werden kann?
Gedankengang: Ausgangspunkt: Phänomen Christi — F: Was steckt dahinter? — A: Ab-
stiegsbewegung Gottes — F: Warum kann Gott das? Bzw. Wie muss Gott sein, damit er
„absteigen“ kann? — A: Gott muss in sich schon gegliedert sein in Vater-Sohn-Geist,
damit er in Jesus Christus Mensch werden kann.
Fassen wir zusammen: Schon sehr früh interpretieren die Jünger das Phänomen Jesus so,
dass sie in ihm die Manifestation Gottes selbst sehen, der zum Menschen gekommen ist.
Die Vorstellung, dass Gott in sich selbst differenziert ist - nämlich Vater-Sohn-Geist -
hilft ihnen, sich den Abstieg Gottes in die Menschengestalt vorzustellen. Die Grundidee
des Joh lautet also: Gott-Vater hat einen ewigen Sohn, diesen sendet er in Fleischesge-
stalt, um den Menschen aus Sünde und Tod zu erlösen. Dies ist sozusagen der Grundge-
danke und das Grunddogma jeder christlichen Theologie. - Einfach gesagt: Christus wird
erkannt als die Offenbarung des dreifaltigen Gottes.
Satz 61: Im NT findet sich klar das Bekenntnis zur ewigen Präexistenz Christi,
besonders deutlich im Inkarnations- und Kenosisgedanken: Er ist der
göttliche Logos, der Fleisch geworden ist (Joh 1,14), er ist der Gottglei-
che, der sich seiner Gottgestalt entäußert hat (Phil 2).

§ 7: „Gottes eingeborener Sohn“

1. Christus offenbart das Wesen Gottes als ewige Dreifaltigkeit

A. Die Lehre von der immanenten Trinität

a. Gott ist ein Wesen in drei Personen


Nochmals: Ausgangspunkt ist das Phänomen Christi. Die ersten Schriftsteller (Paulus,
Joh…) fragen bereits nach dem „Grund“ dieses Phänomens und stoßen hierbei auf die
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 135 -

Abstiegsbewegung Gottes selbst. Das führt eben zur Frage: Wie ist Gott „in sich“, um
sich so der Welt hingeben zu können.
Durch diese Fragestellung entwickelt sich in den ersten 4 Jahrhunderten die Lehre von
der „immanenten Trinität“. Achtung: Es geht um Gott „in sich“, bzw. Gott noch „vor
Schöpfung und Menschwerdung“, also . Problem war ja vom Hellenismus her gegeben:
wie kann eine göttliche Wesenheit zugleich „geteilt“ sein in Vater-Sohn-Geist. Auch vom
Judentum: Wie kann der eine Gott Jahwe einen Sohn haben (Gotteslästerung, noch dazu
einen gekreuzigten!). Antwort der Kirche: Der eine Gott ist eben schon in sich selbst dif-
ferenziert; er ist ein lebendiges Liebesereignis von Vater-Sohn-Geist. Die christlichen
Theologen wenden in den ersten 4 Jh viel Mühe auf, den trinitarischen Gottesbegriff zu
entwickeln, viele Streitigkeit, ersten beiden Konzilien.
Nizäa 325: gegen Arius; der Logos (Sohn) ist dem Vater gleichwesentlich (homoousios).
D. h. dass der Logos nicht ein untergeordneter Gott ist, sondern genauso Gott wie der
Vater. Das Nizänum führt dafür auch die Sprachregelung ein: er ist vom Vater „gezeugt,
nicht geschaffen“. Was soll der Ausdruck „Zeugung“ besagen? A: dass der Sohn Anteil
am Wesen des Vaters hat. Beispiel: ein Tischler kann ein Möbel, dieses hat aber keinen
Anteil an seinem Wesen; das Kind, das er zeugt aber sehr wohl. Deshalb der Begriff
„Zeugung“. So heißt es auch im apostolischen Glaubensbekenntnis: „an Jesus Christus,
Gottes eingeborenen Sohn“: gemeint ist damit der einziggezeugte Sohn, also der Sohn,
der wahrhaft aus der Substanz des Vaters stammt.
Konstantinopel 381, gegen die Pneumatomachen: es wird definiert, dass der Geist eben-
so Gott ist wie der Vater und der Sohn: er geht nämlich vom Vater aus und wird mit dem
Vater und dem Sohn angebetet und verherrlicht. (Suffix an das nizänische Glaubensbe-
kenntnis - „Nicänoconstantinopolitanum“). Schon Mitte des 4. Jh. hatten die 3 kappado-
kischen Väter (Basilius, Gregor v. Nazianz, Gregor von Nyssa) die Begriffe für die Drei-
faltigkeitslehre entwickelt: es gibt ein einziges göttliches Wesen (ousia), V-S-G werden
„hypostaseis“ (Personen) genannt.
Die kappadokischen Väter erfinden die bedeutende Formel: 1 Ousia in 3 Hypostasen (la-
teinisch: 1 substantia in 3 personae; deutsch: 1 Wesen in 3 Personen) ACHTUNG:
„PERSON“ heißt nicht dasselbe wie im heutigen Sprachgebrauch! Besser: Existenzwei-
sen.
Was ist das Resultat der beiden ersten ökumenischen Konzilien? ein revolutionäres Got-
tesbild! Die Christen stellen sich Gott „in sich“ vor: er ist ein unendliches absolutes We-
sen, das von Ewigkeit her differenziert ist in V-S-G, eine unendliche Lebendigkeit der
Liebe im stetigen Sich-Verschenken der Personen aneinander. Die Väter nannten diese
Spekulationen über „Gott in sich“ die „theo-logia“. Das Verhalten Gottes zur Welt
(Schöpfung, Erlösung) nannten sie Ökonomia.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 136 -

Satz 62: Christus offenbart das Wesen Gottes als dreifaltige Liebe: Gott ist ein
Wesen in 3 Personen. Der Vater zeugt von Ewigkeit den Sohn; Vater
und Sohn hauchen von Ewigkeit den Geist.

b. Die Bedeutung der Lehre vom trinitarischen Gott


Wir waren vom Phänomen Jesus von Nazaret ausgegangen und sehen, dass die Jünger
Jesu daraus ein völlig neues Gottesbild abgeleitet haben: Die Idee einer immanenten Tri-
nität ist revolutionierend: Sie besagt nämlich
1. Es gibt in Gott eine absolute Einheit.
Gott ist seiner Substanz nach ein einziges höchstes absolutes Wesen. Auch die griechi-
schen Philosophen hatten Gott als eine höchste Substanz gedacht, die Juden/Islam wieder
sahen Gott als absolut Einen. Das christliche Gottesbild widerspricht dem nicht und ist
auch monotheistisch. ABER: wir sehen die Einheit als etwas differenziertes, nicht als
etwas Starres-Absolutistisches (Islam) oder als etwas Diffuses (Plato, Nirwana).
2. Es gibt schon in Gott ein Gegenüber, eine Differenz, eine Unterschiedenheit
Der Vater ist anders als der Sohn, beide sind anders als der Geist, und doch dient ihre
Verschiedenheit nur dem einen Zweck: die absolute Einheit zu sein. Differenz ist in Gott
hingeordnet auf eine absolute Einheit in der Liebe: man muss sagen: V-S-G sind vonein-
ander deshalb verschieden, um eins sein zu können. Verschiedenheit und Einssein wider-
sprechen sich nicht. Nur wo Verschiedenes ist, kann es Einigung geben.
Bestes Beispiel für das was gemeint ist, ist der Unterschied von Mann und Frau. Dieser is
hingeordnet auf das Einswerden in der Liebe! Folge: für uns Christen ist Verschiedenheit
nicht von vornherein schlecht und böse! Heute: Tendenz alle Verschiedenheiten abzu-
schaffen, alle Differenzen zu nivellieren! - etwa gerade im Feminismus kommt das zum
Ausdruck! ist unchristlich! Balthasar: Homosexualisierung der Gesellschaft! Das Ver-
schieden-Sein ist in Gott jedenfalls etwas zuhöchst positives!
Nochmals: In Gott widerspricht das Verschiedensein von V-S-G nicht der Gleichheit und
Einheit, sondern begründet diese! - Sehr schwieriger Gedanke, aber auch philosophisch
sehr wichtig!
3. Es gibt in Gott soetwas wie Freiheit
d. h. wo Verschiedenheit ist, da ist auch Freiheit. Dass der Vater den Sohn zeugt ist
nichts Zwanghaftes, sondern ein Akt seiner Freiheit; ebenso antwortet der Sohn in Frei-
heit und entsteigt der Heilige Geist frei. Die Dreifaltigkeit ist kein Mechanismus, sondern
ein zuhöchst freies Ineinander. Es gibt also in Gott ein Urbild von Freiheit.
4. Gott selbst ist die Liebe.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 137 -

Nur von der Trinität her kann verstanden werden, warum Gott selbst, seinem Wesen nach
„die Liebe ist“, wie dies 1 Joh 4,8.16 definiert. Liebe braucht immer Freiheit, sonst ist sie
keine Liebe.
5. Gottes Wesen ist nie etwas Statisches.
Wenn wir sagen, Gott sei die „höchste“ Wesen, meinen wir damit vielleicht etwas zu
Starres. Gottes Wesen aber ist seine dreifaltige Liebe, d. h. Gott ist immer größer als am
am größten. Sein Wesen ist nicht bloß Superlativ, sondern der beständige Komparativ
des Superlativs. Warum? Weil Gott in sich bewegte Liebe ist, ein beständiges sich-
mehr-lieben von V-S-G
6. Auch „Gemeinschaft“ hat ihr Urbild in Gott,
freilich ist es eine sich selbst durchdringende Gemeinschaft, nicht ein Nebeneinander (die
Trinitätsdarstellungen, wo drei gleiche Menschen nebeneinander sind - spätgotisch -
werden verurteilt - Baden St. Helena)
7. Die immanente Trinität
erklärt auch, warum „Schöpfung“ möglich ist. Wäre Gott nur eine höchste, undifferen-
zierte Substanz, wäre es nicht verständlich, warum er „neben“ sich noch eine Welt
braucht! Alle Erklärungsversuche sind mangelhaft: z. B.: • Neuplatoniker: weil er „über-
fließt“ (bonum diffusivum sui); • Islam: weil er herrschen will; • Hegel: weil er bedürftig
ist nach einem Gegenüber; • Fichte: weil er nicht Gott wäre, wenn er nicht eine Welt hät-
te, die ihn anbetet usw. — Wir: er ist in sich freie und erfüllte Liebe, er braucht keine
Welt, ist in sich selig. Aber: er schafft die Welt aus freier Liebe als Abbild seiner inneren
Freiheit. Weil es in Gott schon ein Gegenüber gibt, deshalb kann Gott sich selbst gegen-
über eine Welt in Freiheit schaffen.
8. Schließlich erklärt die immanente Trinität auch den Sinn und Zweck der mensch-
lichen Freiheit.
Denn die menschl. Freiheit ist Abbild der göttlichen Freiheit, deshalb hat sie den Zweck,
Gott zu verherrlichen in der Liebe. Freilich: Gott lässt den Menschen wirklich frei, das
schließt auch mit ein, dass er diese Freiheit mißbrauchen kann: statt mit freier Liebe auf
Gott zu reagieren kann der Mensch auch mit freiem Hass reagieren.
Fassen wir zusammen: Die Definitionen von Nizäa und Konstantinopel, der Streit um das
Homoousios und die Gottheit des Geistes usw. - scheint auf den ersten Blick ziemlich
weltfremd zu sein! Und doch entscheidet sich darin alles!!! Denn das Wesen des Chris-
tentums liegt in dem revolutionären Gottesbild der einen und einzigen göttlichen Dreifal-
tigkeit. Wird dieses Geheimnis nicht erkannt, fällt alles flach!
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 138 -

Satz 63: Christus offenbart in seiner Menschwerdung das Wesen des einen Got-
tes als ewige Dreifaltigkeit (immanente Trinität) unendlicher Liebe.

c. Der Ausdruck „eingeborene Sohn“


Wir wiederholen und halten fest: die kirchliche Reflexion geht vom Phänomen Jesus aus
und erschließt von daher das Wesen Gottes als immanente Trinität. Dann wird der
Denkweg umgedreht: Jetzt denkt man von der immanenten Trinität auf das Phänomen
Jesus hin. Jetzt kann man sein Wesen ganz tief erfassen: Jesus ist in Person der Sohn Got-
tes, er ist der vom Himmel herabgestiegene Gott. Er ist eine der drei göttlichen Personen.
Wir sagen meist kurz: Er ist „Gottes Sohn“. Aber Achtung: Der Ausdruck: „Gottes Sohn“
ist nicht eindeutig! Auch die Zeugen Jehovas nennen Christus „Gottes Sohn“, verstehen
aber darunter etwas ganz anderes.
Das apostolische Glaubensbekenntnis, das wir ja erklären wollen, nennt Christus nä-
herhin den „eingeborenen Sohn Gottes“. Was bedeutet dieser Ausdruck?
Worterklärung: Im Griechischen: monogenes - „einziggezeugt“: Jesus nennt sich selbst
so (Joh 3,16; vgl. auch Joh 10,36). Eine andere Stelle ist Joh 3,18, wo Jesus verlangt, „an
den Namen des eingeborenen Sohnes Gottes“ zuglauben. Der Ausdruck „eingeboren“,
monogenes, ist also biblisch bezeugt. Er soll klarstellen, dass wir die Gottessohnschaft
Christi richtig verstehen, deshalb wird Christus nicht einfach „Gottes Sohn“ genannt,
sondern „Gottes eingeborener Sohn“. Welche Missverständnisse sind möglich bzw. hat
es im Laufe der Geschichte gegeben?
Fehlverständnisse: 1.) Im AT finden wir manchmal den Titel „Gottes Söhne“ manchmals
als Bezeichnung für Engel: Dtn 32,8 (LXX); Hijob 1,6. - Christus aber ist kein Engel.
2.) Manchmal wird auch das erwählte Volk insgesamt als „Sohn Gottes bzeichnet. Vgl.
Ex 4,22; Hos 11,1; Jer 3,19; Sir 36,11; Weish 18,3 usw.
3.) Manchmal werden die Kinder Israels so tituliert: vgl. Dtn 14,1; Hos 2,1.
4.) Manchmal ist er Titel für die Könige Israels: 2 Sam 7,14; Ps 82,6 (Filius meus es tu).
Wenn auch das AT den verheißenen Messiaskönig „Sohn Gottes“ nennt, so heißt das
dem wörtlichen Sinn dieser Texte nach überhaupt noch nicht, dass dieser Messias mehr
sein muss als ein gewöhnlicher Mensch (vgl. 1 Chr 17,13; Ps 2,7). Die Juden verstanden
darunter eher eine Art „Adoptivsohnsschaft“, dass ein prophetischer Mensch, eben ein
Messias, gleichsam von Gott besonders erwählt und gesegnet ist. Dass Gott also diesen
Messias annimmt wie seinen Sohn.
5.) „Sohn Gottes“ als alleiniger Titel für Christus kann auch im Sinne des ADOPTIA-
NISMUS verstanden werden: so im 2. Jh. judenchristliche Sekten. Jesus wird erst bei der
Taufe von Gott angenommen, er ist aber ein gewöhnlicher Mensch.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 139 -

6.) Die Zeugen Jehowas verstehen „Sohn Gottes“ bloß als einen Ehrentitel für Christus,
der aber genausogut allen „Kindern Gottes“ zusteht. Alle sind Söhne Gottes.
7.) Schließlich die Irrlehre des ARIUS: Er versteht Jesus zwar auch als „Sohn Gottes“,
aber eben bloß als einen geschaffenen Sohn. Der Sohn ist ein Geschöpf des Vaters.
— Alle diese Fehlverständnisse sind möglich, wenn man nur von „Sohn Gottes“ spricht.
Das Credo spricht aber präzise vom „eingeborenem Sohn“, monogenes! Es möchte damit
festhalten: Von Ewigkeit her ist der Sohn (der Logos) aus dem Vater gezeugt. Er ist nicht
geschaffen, sondern gezeugt! Die Zeugung ist ein innergöttlicher ewiger Vorgang, der
ohne Anfang und Ende in der immanenten Trinität stattfindet. Und „monogenes“ bedeu-
tet auch, dass Jesus in einzigartiger Weise Gottes Sohn ist. - Freilich auch wir dürfen uns
Söhne und Töchter Gottes nennen, aber Jesus Christus allein ist der ewiggezeugt, einzig-
gezeugte Sohn Gottes.
Der Ausdruck „monogenes“ ist also sehr wichtig für das richtige Verständis der Gottheit
Christi.
Wer also ist Jesus Christus? Das war ja, die Frage, die die Jünger und die Theologen in
den ersten Jh. beschäftigte. Sehr schöne Formel erfunden: Im Jahre 534 fragt Kaiser Jus-
tinian Papst Johannes II., ob man von Jesus Christus sagen dürfe: „einer aus der Dreifal-
tigkeit hat gelitten“ (DH 401). Johannes II. bestätigt das!
Man beachte bitte ernsthaft den anderen Denkweg: zuerst das Phänomen eines wunder-
heilenden Rabbis, von dem seine Jünger sagen, er sei von den Toten auferstanden. Jetzt
ist der Denkweg ein radikal verschiedener: Jesus stammt aus dem göttlichen Wesen, ist
selbst der einziggezeugte Sohn des ewigen Vaters, er ist einer aus der Dreifaltigkeit, der
gelitten hat. Somit genug zur immanenten Trinität und zur Gottessohnschaft.

d. Ein Wort zur ökonomischen Trinität


Zum Schluss dieses Abschnitts ist ein Wort fällig zur „ökonomischen Trinität“. Wir ha-
ben gesehen, was die „immanente Trinität“ ist: Gott in sich, in seiner dreifaltigen Leben-
digkeit. Immanente Trinität: „Gott vor der Welt“, Gott vor Schöpfung und Erlösung! Die
alten Kirchenväter stellen sich sich das so vor, dass sich diese ewige Gottheit der Welt
zuwendet. Das 1. Stadium dieser Zuwendung ist die Schöpfung. Das 2. Stadium ist die
Erlösung. In der Schöpfung wird die Welt ins Dasein gerufen, jedoch - aufgrund ihrer
mißbrauchten Freiheit - gerät sie ins Chaos und Verderben. Um die Schöpfung heimzu-
holen, geschieht dann das Wunder aller Wunder: eben das Herabsteigen Gottes selbst in
seine Welt: die Inkarnation.
Vorstellung der Väter: Gott ordnet sein „Haus“, er räumt Mißstände aus, er hat ein Kon-
zept für seine Welt. Griech: „Ökonomia“ = Hausverwaltung; lat. „dispensatio“ = Ord-
nung; disponieren - alles richtig ordnen, einteilen usw. Der Ausdruck „oikonomia“
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 140 -

kommt im Hymnus von Eph 1,9-10 vor: Die Jerusalemer Bibel übersetzt, dass Gott durch
Christus „alles so ordnet, wie er es sich vorgenommen hatte“. Ökonomia bezeichnet also
das Wirken Gottes an seiner Welt und in seiner Welt. Heute hört man oft: „Heilsökono-
mie“. Ökonomie bezeichnet also das ganze Heilshandeln Gottes!
Für die Väter ist die Tatsache, dass Gott in seiner Welt handelt ein anbetungswürdiges
Mysterium. Symeon der neue Theologe etwa betet: „Ehre sei der Barmherzigkeit Gottes
und seiner Ökonomie!“ (nach H. de Lubac, Credo, 61). Auch heute: bedenkenswert: Gott
ist nicht bloß „jenseits“der Welt, sondern er wirkt in ihr, hat in ihr durch Jesus Christus
sich ein Zelt aufgeschlagen (Joh 1,14).
Fragen wir jetzt noch nach der Inkarnation: Was bedeutet dieses ökonomische Wirken
Gottes in der Welt für Gott selbst: und zwar eine Änderung seines Wesens selbst! Die
Menschwerdung ist nicht anders denkbar, als dass Gott selbst seinem Wesen eine neue
Gestalt gibt: von der immanenten Trinität zur ökonomischen Trinität!

Skizze
Es gibt nichts REVOLUTIONÄRERES als diese Vorstellung: Gott und Mensch, Himmel
und Erde werden hier ineins gesehen, ohne dass beide sich pantheistisch vermischen.
Satz 64: In der Menschwerdung des „eingeborenen Sohnes“ hat sich die ewige
immanente Trinität zur ökonomischen Trinität geöffnet. Ökonomie be-
zeichnet das Handeln des von Ewigkeit in sich dreifaltigen Gottes zu
unserem Heil: „propter nostram salutem“.

B. „Herr ist Jesus Christus“ (Phil 2)

a. Jahwe als „Herr“


Das Apostolikum tituliert Jesus als Christus, unseren Herren, Gottes eingeborenen Sohn.
Uns fehlt noch eine kurze Betrachtung zum Titel „Herr“. Weg von der Selbstverständ-
lichkeit! Was bedeutet es, wenn wir Jesus „Herr“ nennen. Ein Blick auf den Hymnus in
Phil 2 zeigt ja, dass es sich um das eigentliche „Urbekenntnis“ zu Jesus handelt, wenn
man ihn „Herr“ nennt: „Jedes Knie muss sich beugen, jede Zunge muss bekennen, dass
Herr ist Jesus Christus (Kyrios Iesous Christos) zur Ehre Gottes des Vaters!“ (Phil 2,11 -
Gipfel und Schlußsatz des Hymnus - Über diesen Hymnus unten mehr!
Im alltäglichen Sprachgebrauch bezeichnete „Kyrios“ eine Rechtsstellung: Kyrios wird
genannt der Vater einer Familie, der Leiter eines Betriebes (Chef), der Besitzer eines
Sklaven usw. - Kyrios bedeutet ein Herrschaftsverhältnis. So wird der Vorgesetzte vom
Untergebenen mit „Kyrios“ angeredet. Dies hat sich bis zum heutigen Tag nicht geändert.
— Im religiösen Sprachgebrauch ist die Anrede an die Götter „Herr“ und „mein Herr“
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 141 -

bei den Griechen und Römern selbstverständlich, haben doch die Götter die Herrschaft
über Glück und Unglück, Leben und Tod.
Wichtig ist v. a. der Blick ins AT. „Herr“ heißt auf hebräisch „Adon“ (auch adoni, ado-
nai). Im profanen Sprachgebrauch wird er im selben Sinn verwendet wie im außerbibli-
schen Bereich: Großgrundbesitzer, Führende Staatsmänner usw. werden „Herr“ genannt.
Insbesondere wurden die Könige als „Adonai“ bezeichnet. — Interessant ist aber die reli-
giöse Bedeutung. Im AT finden sich unzählige Stellen, wo der Gott Israels angeredet
wird als „Herr der ganzen Erde“ (z. B. in den Psalmen Ps 114,7; Jes 1,24; 3,1; 6,1-3
usw.). Aber Achtung! Dort, wo wir in der deutschen Übersetzung „Herr“ lesen, steht im
hebräischen Original meist nicht „adon“, sondern „JHWH“.
Warum: In der Spätzeit des Judentums wurde der Eigenname Gottes (JHWH) aus über-
großer Ehrfurcht nicht ausgesprochen.
Und dann wurde im 3. Jahrhundert vor Christus das AT ins Griechische übertragen, die
Septuaginta entstand:
Exkurs zur SEPTUAGINTA:
Septuaginta steht lateinisch für 70 (Abkürzung: LXX). Grund: Legende ab, nach der
im ägyptischen Alexandria im 3. vorchristlichen Jahrhundert 72 jüdische Gelehrte
den ganzen Tanach (= die hebräische Bezeichnung für das AT!) in 72 Tagen aus dem
Hebräischen ins Griechische übersetzt hätten. LXX ist eine lateinische Bezeichnung,
die im Griechischen nicht verwendet werden. Der übliche griechische Titel ist Kata
tous Ebdomêkonta (Nach den Siebzig).
Diese Legende geht auf den so genannten Aristeasbrief, der als Entstehungszeit einer
Übersetzung des hebräischen Pentateuchs (NUR DES PENTATEUCHS!) ins (Koine-
)Griechisch die Regierungszeit Ptolemaios II. angibt. Die Übersetzung sollte für die
Bibliothek von Alexandria (dort starke jüdische Gemeinde!) angefertigt werden. Die
72 jüdischen Gelehrten (je 6 aus den 12 Stämmen Israels) hätten kostbare Schriftrol-
len mit sich geführt und die Übersetzung innerhalb von 72 Tagen vollendet. – Diese
Geschichte des Aristeasbriefes wurde von Josephus Flavius ebenso weitergesponnen
wie von Philo von Alexandria. Letzterer schmückt aus: demnach seien alle72 Gelehr-
ten in unabhängiger Arbeit zum identischen Ergebnis gekommen seien. – In alledem
ging es nur um den PENTATEUCH: Die Kirchenväter folgten der Legende und er-
weiterten die Übersetzungstätigkeit auf das gesamte Alte Testament.
An seiner Stelle wurde der Königstitel „adonai“ gelesen. Als dann die heiligen Bücher
ins Griechische übersetzt wurden (LXX, Septuaginta) wurde anstelle des Gottesnamens
JHWH fast immer „Kyrios“ geschrieben. Damit aber schleicht sich auch ein Klang von
Hoheit und Souveränität, von Macht und Herrschaftlichkeit in das Gottesbild ein.
► Klassisches Beispiel dafür ist die „Selbstvorstellungsformel“ am Beginn der Zehn Ge-
bote in Ex 20: „Ich bin JHWH, dein Elohim“. LXX: Ich bin Kyrios, dein Theos. Deutsch:
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 142 -

Ich bin der Herr, Dein Gott! - D. h. im Original stellt sich hier eigentlich Gott mit seinem
Eigennamen vor, und der lautet JHWH. Das hat aber noch nichts mit der Assoziation ei-
nes „Herrn“ zu tun, sondern JHWH hat ja vielmehr einen Beigeschmack von Zuneigung
und Liehe. Vgl. Ex 3,14: „Ich bin der Ich bin für euch da!“

b. Die Übertragung des Kyrios-Titels auf Jesus


Wichtig zu sehen: Kyrios ist im AT die Bezeichnung für Gott-JHWH; das bezeugt uns
auch das NT, wo an etlichen Stellen direkt aus dem AT zitiert wird „Bereitet dem Herrn
den Weg“ (Mk 1,3 = Jes 40,3); „Gesegnet sei er, der kommt im Namen des Herrn“ (Mk
11,9); oder „Engel des Herrn“ (Mt 1,20), „Name des Herrn“ usw. Es ist sehr bedeutungs-
voll zusehen, welchen hochheiligen Klang der Name Kyrios für die Juden in neutesta-
mentlicher Zeit hatte, um die Bedeutung des Vorganges zu verstehen, der nach der Auf-
erstehung Christi einsetzte:
Der als Gotteslästerer hingerichtete, entehrte Jesus von Nazareth, der - nach Paulus - zum
„Fluch“ geworden ist, wird plötzlich mit dem Titel „Kyrios“ versehen. D. h.: dieser Jesus
ist in die Macht Gottes eingesetzt.
Phil 2,6-11: „Er war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz. Darum hat ihn Gott
über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen, damit alle
im Himmel, auf der Erde und unter der Erde ihre Knie beugen vor dem Namen Jesu und
jeder Mund bekennt: Herr ist Jesus Christus zur Ehre Gottes des Vaters!“ - Durch die
Kenose ist Jesus erhöht worden. Wichtig: Es geht um den NAMEN, der Jesus verliehen
wurde: ist nicht bloß ein Wort, eine Bezeichnung, sondern ist eine ontologische Qualität:
Wer den Namen empfängt, der empfängt den Status, die Macht die Würde. (ist ja auch
bei uns so: sogar Geistliche reißen sich um irgendwelche Titel!)
Wir finden im NT großes Vertrauen zum „Namen des Herrn“: So etwa bei Paulus, der
Joel 3,5 zitiert (dort wird JHWH gemeint, Paulus meint aber Christus): „Jeder der den
namen des Herrn anruft, wird gerettet!“ (Röm 10,13; die zweite wichtige Stelle ist 1 Kor
12,3) Aus den Apostelbriefen geht hervor, dass das geradezu die erste Bezeichnung für
die Christen war: „die den Namen des Herrn anrufen“ (1 Kor 1,2; 2 Tim 2,19-22; Apg
9,14; 22,16). Eindeutig: die Tatsache, dass die Urgemeinde den Gottesnamen „Herr“ auf
Jesus übertrug, ist ein Glaubensbekenntnis, ein Urbekenntnis zur Gottheit Christi. — Ein
letztes Argument dafür ist der armaäische Ruf „Maran-atha“, den die Urgemeinde wohl
oft gebetet hat. Er heißt soviel wie: „Unser Herr, komm“ (mar = Herr) und ist in 1 Kor
16,22 und Offb 22,17 überliefert. Gemeint ist eindeutig Jesus, angerufen wird er mit dem
Gottesnamen „Herr“.
Wir fragen noch: welche Bedeutung hat das Bekenntnis zu Jesus Christus „unserem
Herrn“ heute? - Zunächst ist es ein dogmatisches Bekenntnis zum Gottsein Christi und zu
seiner göttlichen Macht. - Sodann schwingt aber in dem Bekenntnis zum „Herrn Jesus“
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 143 -

ein vertraulicher Klang mit. Das ist schon in der Szene grundgelegt, wo Thomas vor Je-
sus niedersinkt und bekennt: „Mein Herr und mein Gott!“ (Joh 20,28). - Gemeint ist hier
auch die Hingabe, die Lebensübergabe an Jesus Christus. Es genügt nicht, Jesus nur rein
verstandesmäßig, intellektuell als Sohn Gottes - inkarnierten Logos - zu bekennen. Er
muss auch im Herzen als solcher bekannt werden!
Satz 65: Die LXX übersetzt den Gottesnamen JHWH meist mit Kyrios über-
setzt. Die Übertragung des Kyriostitels im NT auf den auferstandenen
Jesus von Nazareth kommt einem Bekenntnis zur Gottheit Christi
gleich.

2. Wodurch hat uns Christus erlöst?

A. Die zwei Dimensionen des Erlösungshandelns Christi

Bisher gehandelt: die Zugänge zu Jesus Christus, wie vom Phänomen Jesus her GOTT
selbst in seinem Wesen als dreifaltiger erkannt wird; dann auch über die Titel Jesu, die ja
zugleich ein Bekenntnis darstellen. JETZT: interessiert uns das Wirken Jesu. Wir könnten
auch sagen: die Ökonomie, das Heilshandeln Gottes in Jesus Christus.
Schaut man sich das Apostolikum an, so fällt auf, dass es jetzt plötzlich „breit“ wird; bis-
her: kurze dogmatische Kernaussagen, jetzt plötzlich wird es „narrativ“ und ausführlich,
wenn es das Heilshandeln Christi beschreibt:
„geboren aus der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben
und begraben, hinabgestiegen in das Reich des Todes, auferstanden von den Toten,
aufgefahren in den Himmel. Er sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters, von
dort wird er kommen zu richten die Lebenden und die Toten.“
Wir sehen: es geht um das gesamte Wirken Christi auf Erden. Man unterscheidet im irdi-
schen Wirken Christi zwei Phasen:
1. Die Zeit seiner öffentlichen Verkündigung, sein Lehren; die
2. Phase nennt man - seit dem 2. Vatikanischen Konzil - das „Pascha-Mysterium“, ge-
meint ist das Leiden, Sterben und Auferstehen Christi. Beide Phasen gehören untrennbar
zusammen, wie nachfolgend gezeigt wird. Freilich fällt es auf, dass das Apostolicum
gleich vom „geboren“ zum „gelitten“ springt, die Zeit dazwischen, in der Jesus als Lehrer
und Heiler durch Welt zieht, ist damit aber nicht beiseite geschoben.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 144 -

B. Die 1. Dimension: Die Proklamation der erlösenden Ethik des Reiches


Gottes

a. Jesus verkündigt die „Basileia Gottes“


Im Zentrum der Verkündigung Christi steht die Botschaft vom „Reich Gottes“. Nach Mk
lautet das erste Wort Christi in seiner Predigt: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist
nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium.“ (Mk 1,15)
Erklärung: „Reich Gottes“ heißt wörtlich griechisch „basileia“ (von basileus = König);
Übersetzungsmöglichkeiten: 1. „Königreich“ (beachte: Zeugen Jehovas „Königreichs-
saal“; auch christlich: Basilika = Königshalle); 2. „Reich Gottes“ oder: „Himmelreich“.
Gefahr dieser Übersetzungen: die Vorstellung eines irdischen Reiches (Nationalsozialis-
ten: 1000jähriges Reich).
Wichtig: Jede Vorstellung einer Institution, eines Staatengebilds usw. ist falsch. Beste
Übersetzung: Basileia = Herrschaft Gottes: dort, wo Gott regiert; Reich Gottes ist dort,
wo Gottes Liebe von den Menschen angenommen wird. Gott möchte Herr sein über die
Herzen der Menschen, er möchte sein Königreich aufrichten in den Herzen der Men-
schen. Die Herrschaft Gottes beginnt dort, wo der Mensch mit freiem Herzen Gott als
Herrn anerkennt und liebt.

b. Jesus verkündigt eine radikale Ethik für die Basileia Gottes


Aus der Verkündigung der Gottesherrschaft ergeben sich sehr weitreichende ethische,
sittliche und moralische Forderungen. Jesus ist in seinen Moralvorstellungen sehr rigoros.
ACHTUNG: Jesusfälschung ist überall dort, wo Jesus als im Kampf gegen Moral und
Sittlichkeit stehender Laxist geschildert wird (Drewermann: Christus als Kämpfer gegen
die kirchliche Moral! Ebenso Dostojewksi: Großinquisitor… - J. DIRNBECK, Die Jesus-
fälscher!) Heute beliebt geworden, einen selbstkonstruierten Jesus, der alles erlaubt, ge-
gen den Jesus auszuspielen, wie die Kirche ihn treu gegenüber dem Evangelium verkün-
det. Deshalb die Grundelemente der Ethik Jesu
1. Radikale Gottes- und Nächstenliebe: Alles, was Gott fordert, also die Dekalog-
Gebote der Bundesordnung, ist nach Jesus im Hauptgebot zusammengefaßt: „Höre Israel!
Der Herr, unser Gott ist der einzige Herr, und du sollst den Herrn, deinen Gott lieben,
von ganzem Herzen und ganzer Seele, mit deinem ganzen Denken und mit all deiner
Kraft. Das zweite Gebot ist dies: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein
anderes Gebot ist größer als diese beiden!“ (Mk 12,28-34). Jesus bezieht sich hier aus-
drücklich auf das AT und entnimmt beide Teile dem AT und fügt sie zusammen: Dtn
6,4f. und Lev 19,18. - Die Nächstenliebe ist die Frucht der Gottesliebe. So formuliert 1
Joh 4,20 als Frage: „Wie kann einer Gott lieben… wenn er seinen Bruder nicht liebt?“
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 145 -

2. Freiwillige Erfüllung der göttlichen Gebote aus Liebe: Gott will nicht die knechti-
sche Erfüllung seiner Gebote, sondern er möchte, dass sie aus freier Liebe erfüllt werden.
Jesus verkündet so stark, dass Gott ein liebender Vater ist, um der Gefahr der Pharisäis-
mus entgegenzuwirken (Gefahr der monotheistischen Religionen: Judentum, Islam):
Knechtische Erfüllung des Gesetzes, und man glaubt so, sich die Gunst Gottes zu erkau-
fen (Gesetzesformalismus). - Viele kritische Aussagen Jesu über die Pharisäer weisen auf
diese Freiwilligkeit hin. Aber Achtung: Jesus schafft die Gebote nicht ab, aber er gibt
ihnen einen neuen Inhalt. Der Modus der Erfüllung muss ein anderer sein!
3. Die Gebote Gottes dienen dem Heil der Menschen: das Heil der Menschen ist die
oberste Norm der Gebote Gottes. Deshalb ist jede Auslegung der Gebote, die sich gegen
den Menschen richtet, abzulehnen. Z. B.: Der Sabbat ist für den Menschen da. Deshalb
ist es nicht nur erlaubt, am Sabbat Gutes zu tun, sondern man ist sogar dazu verpflichtet.
(Mk 2,23-3,6).
4. Den Sünder lieben, die Sünde hassen: Gottes Güte gilt ausnahmslos allen, sodass der
Mensch kein Recht hat, jemanden auszugrenzen oder zu verurteilen. Gegen die Selbstge-
rechtigkeit der Pharisäer, die sich besser dünkten als die anderen und hochmütig auf die
anderen. Dagegen Jesus: „Gott lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, er lässt
regnen über Gerechte und Ungerechte“ (Mt 5,45). Jesus heilt auch „ausländische“ und
„nichtisraelistische“ Menschen. Aber: heißt nicht, dass Jesus die böse Tat oder den Un-
glauben akkezptiert: Aber er liebt den Menschen als Menschen, ohne ihm seine Schlech-
tigkeit durchgehen zu lassen. Der Grundgedanke, der hinter den oft sehr ernsten und be-
drohlichen Forderungen Jesu steckt, wurde von Augustinus so ausgedrückt: Den Sünder
lieben und die Sünde hassen.
5. Der Christ soll radikal heilig leben: Es gibt die Aufforderung Jesu zur radikalen
Nachahmung Gottes: vollkommen sein, wie der Vater im Himmel vollkommen ist. Aus-
drücklich sagt er: „Wer Vater und Mutter mehr liebt, kann nicht mein Jünger sein.“ (Lk
14,26). Der Jünger Jesu soll sein ganzes Vertrauen auf Gott setzen, soll beten, fasten,
Almosen geben; er soll ein Licht auf dem Berg sein, er soll seine Feinde lieben, Böses
mit Gutem vergelten, er soll sich sogar ausnützen lassen usw. - Die Ethik Jesu hat ein
maximales Niveau.
6. Die goldene Regel. Bekannt ist die goldene Regel in deutscher Fassung: „Was du
nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem anderen zu!“ (stammt übrigens auch
aus Tob 4,15: Was dir verHasst ist, das mute auch einem anderen nicht zu!). Bezeichnend
ist, dass Jesus hier positiv formuliert: „Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun,
das tut auch ihnen: das ist das Gesetz und sind die Propheten!“ (Mt 7,12; Lk 6,31). Norm
für Jesus ist die Liebe zum anderen.
7. Das neue Verhältnis von Mann und Frau: Gerade in diesem Bereich war das jüdi-
sche Gesetz sehr rigoros, was z. B. den Ehebruch betrifft. Auf der anderen Seite gab es
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 146 -

die Polygamie. Jesus stellt hier die ursprüngliche Schöpfungsordnung wieder her: Die
Ehe soll „eins“ sein, und sie ist „unauflöslich“:
„Er antwortete: Habt ihr nicht gelesen, dass der Schöpfer die Menschen am Anfang
als Mann und Frau geschaffen hat (Gen 1,27) und dass er gesagt hat: Darum wird der
Mann Vater und Mutter verlassen und sich an seine Frau binden, und die zwei wer-
den ein Fleisch sein? (Gen 2,24) Sie sind also nicht mehr zwei, sondern eins. Was a-
ber Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen. Da sagten sie zu ihm:
Wozu hat dann Moses vorgeschrieben, dass man (der Frau) eine Scheidungsurkunde
geben muss, wenn man sich trennen will? (Dtn 24,1; Mt 5,31) Er antwortete: Nur
weil ihr so hartherzig seid, hat Moses euch erlaubt, eure Frauen aus der Ehe zu ent-
lassen. Am Anfang war das nicht so. Ich sage euch: Wer seine Frau entlässt, obwohl
kein Fall von Unzucht vorliegt, und eine andere heiratet, der begeht Ehebruch.“ (Mt
19,4-9)
Ferner gibt einige sehr eindeutige Aussagen Jesu zu Ehebruch, dass dieser schon im Her-
zen - beim lüsternen Hinschauen - beginnt. Eph 5 bringt Paulus die „Sexualmoral“ Jesu
gleichsam auf den Punkt: Die Liebe zwischen Mann und Frau soll ebenso „Hingabe“ sein
wie die Hingabe Christi an die Kirche.
8. Der springende Punkt: Abschließende Frage: Was ist der springende Punkt der Ethik
Jesu? U. zw. ein neuer Begriff von Liebe. Jesus gibt dem Begriff Liebe einen ganz neuen
Sinn, ein neues Maß: durch seine Maximalitätsliebe am Kreuz. - Ethisch bedeutet das:
das alle, die Jesus nachfolgen zu solcher Haltung verpflichtet sind. Liebe ist nicht mehr
„ich will geliebt werden“, sondern: „ich will lieben“! Liebe ist HINGABE. (Sosehr hat
Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn für sie dahingab!) Wo der Mensch in
solcher Hingabeliebe lebt, da hat die Herrschaft Gottes (Basileia) schon begonnen.
Satz 66: Die erste Dimension des Erlösungshandelns Christi besteht in der Ver-
kündigung der Herrschaft Gottes (Basileia Gottes), die sich auf Erden
bereits durch eine radikale Ethik der Hingabe an den anderen ankün-
digt.

c. Jesus möchte das ganzmenschliche Heil wirken


Das irdische Lehren Jesu Christi dreht sich um die Verkündigung des Reiches Gottes.
Worum aber geht es in den irdischen Taten Jesu Christi? Antwort: um das ganzmenschli-
che Heil. In den Jahren seiner öffentlichen Tätigkeit fällt Jesus immer wieder dadurch
auf, dass er „heilt“. Er offenbart sich als „Heiland“ (gotisch, Wulfila: heliand) bzw. „Ret-
ter“ oder „Befreier“ dadurch, dass er den Menschen umfassend das Heil schenkt: Er heilt
die Kranken an Leib und Seele. Jesus faßt sein Wirken in dem Wort zusammen: Ich bin
gekommen, um zu retten, was verloren war (Lk 9,56; 19,10), um die Welt zu reten (Joh
5,34) usw.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 147 -

Heil aber hat verschiedene Dimensionen, je nach dem bestehenden Unheil. Es gibt das
körperliche Unheil: Krankheit; das psychische Unheil: die Depression, Trostlosigkeit; das
religiöse Unheil: Unglaube; das existentielle Unheil: die Furcht vor dem Erlöschen im
Tode; das dämonische Unheil: Besessenheit; das moralische Unheil: das Nicht-
Ausbrechen-Können aus der Sünde, das intellektuelle Unheil: Hochmut; das soziale Un-
heil: Ungerechtigkeit und Ausbeutung; das politische Unheil: Unterdrückung und Beherr-
schung usw. — Wir können sagen: das Heil, das Jesus wirken möchte, ist umfassend, es
betrifft alle Dimensionen: er heilt Krankheiten (physisches Unheil), treibt Dämonen aus
(dämonisches Unheil); tröstet (psychisches Unheil); ruft zur Demut auf; v. a. ruft er zur
Umkehr und Buße auf (moralisches Unheil).
Der Kampf Christi gegen das moralische Unheil - die verdorbene Beziehung zwischen
dem Menschen und Gott - mündet ein in seine Lebenshingabe am Kreuz. ACHTUNG:
Bitte den Unterschied sehen: Es gibt viele „Moralapostel“, die die Welt verbessern wol-
len und mit erhobenem Zeigefinder die anderen (!) auffordern, gut zu leben. Jesus geht es
um die Wiederherstellung des Verhältnisses zwischen Gott und Mensch. Er möchte selbst
die Schuld der Menschen auf sich nehmen, um die Strafe, die der Mensch verdient hat, zu
ertragen.
N. B.: Kirche hat Auftrag, für das ganzmenschliche Heil einzutreten. Die erste Dimensi-
on dieses umfassenden Heiles ist freilich der Glaube an Gottes Liebe, die sich über den
Tod hinaus fortsetzt. Kirche ist aber nicht Opium (Betäubung der leidenden Menschen-
seele), sondern ist gefordert gegen jede Form von irdischem Unheil anzukämpfen.

C. Paulus als „Denker“ des stellvertretenden Sühneleidens Christis

a. Paulus: „Theologe“ oder gar „Erfinder der Christentums?


„Immer wenn ich eine Lesung aus den Briefen des heiligen Paulus höre - wöchentlich
zweimal, dreimal, ja viermal, wenn wir nämlich das Gedächtnis der Märtyrer feiern -,
freue ich mich an dem Klang dieser geistlichen Posaune. Ich gerate in Begeisterung und
empfinde ein heißes Verlangen. Wenn ich die liebe Stimme vernehme, meine ich fast ihn
vor mir zu sehen und seine Erklärungen zu hören. Aber es bedrückt und schmerzt mich
dass nicht alle diesen Mann so kennen, wie er es verdient. Manche wissen so wenig von
ihm, dass sie nicht einmal die genaue Anzahl seiner Briefe wissen. Das kommt nicht von
geistiger Unfähigkeit, sondern sie versäumen, sich mit seinen Schriften unablässig zu
beschäftigen. Auch ich verdanke, was ich weiß - wenn ich etwas weiß nicht einer beson-
deren Begabung und Geistesschärfe, sondern ich liebe diesen Mann und beschäftige mich
dauernd mit seinen Schriften. Wer jemand liebt, weiß mehr von ihm als alle andern, eben
weil er ihm wichtig ist. (Johannes Chrysostomus, + 407, Argumentum Epistolae ad Ro-
manos 7,3: PG 60,391; Vigillesung I, 1. Woche, Montag)
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 148 -

Die Kritik an Paulus durch Friedrich Nietzsche ist die Kritik an der Vorstellung vom
Kreuzestod des Gottessohnes: Für Nietzsche stellt das Christentum die Erfindung eines
Juden, nämlich des Paulus, dar. Wenn Nietzsche in seinem Buch „Der Antichrist“ mit der
Gewalt des Wortes gegen das Christentum anrennt, so ist es im Kern auch das „Jüdi-
sche“, dem sein Widerspruch gilt. Nach Nietzsche hatte das Judentum nämlich einen rä-
chenden Gott erfunden. Jesus ist ein normaler Mensch, der einen liebenden Gott verkün-
det und dafür hingerichtet wird. Paulus ist es, der Jesus selbst zu einem Gott machen will.
Doch mit der Vergöttlichung Jesu „tauchte ein absurdes Problem auf“, und zwar das
Problem mit dem Kreuzestod. Wenn Jesus der Sohn Gottes sein soll, dann lautet die Fra-
ge eben: „Wie konnte Gott das zulassen?“ Nietzsche weiter: „Darauf fand die gestörte
Vernunft der kleinen Gemeinschaft eine geradezu schrecklich absurde Antwort: Gott gab
seinen Sohn zur Vergebung der Sünden, als Opfer. Wie war es mit einem Male zu Ende
mit dem Evangelium! Das Schuldopfer, und zwar in seiner widerlichsten, barbarischsten
Form, das Opfer des Unschuldigen für die Sünden der Schuldigen! Welches schauderhaf-
te Heidentum!“123
Weiter führt Nietzsche aus: „Jesus hatte ja den Begriff ‚Schuld‘ selbst abgeschafft, - er
hat jede Kluft zwischen Gott und Mensch geleugnet, er lebte diese Einheit von Gott und
Mensch als seine ‚frohe Botschaft‘.“124 Daher ist der Gedanke eines Sühnetodes des ei-
genen Sohnes, den der Vater zu seiner Genugtuung fordert, die Aufhebung des Evangeli-
ums selbst. Wenn Jesu Tod als Sühnetod verstanden wird, so hat der grausame Tyrannen-
Gott über das von Christus eigentlich Verkündigte gesiegt, dann wird Gott - an Christus
vorbei - weiterhin als unerbittlicher „ehrsüchtiger Orientale“ vorgestellt. Dieses vernich-
tende Urteil Nietzsches wurde in unserem Jahrhundert von dem marxistischen Philoso-
phen Ernst Bloch aufgegriffen, der Gott einen „Kannibalen im Himmel“ nennt125.

b. Ein temperamentvoller Heiliger


Ergo: Blick auf Paulus ist notwendig! Warum tritt bei Paulus sosehr das Kreuz in den
Vordergrund?
Paulus ist – nach Jesus und Petrus und Maria – die bestbekannte und best-analysierbare
Person des Neuen Testamentes. Und ist uns darüber hinaus in besonderer Weise zugäng-
lich, denn sonst haben wir nur Beschreibungen „über“ die großen Gestalten der Bibel
(Maria, Petrus, Jakobus, Johannes usw.) Für Paulus aber haben wir sowohl Beschreibung
(Apg) als auch seine eigenen Briefe. Insgesamt nennen 13 Briefe des NT den Paulus als

123 F. NIETZSCHE, Der Antichrist Nr. 31, Ed. Linden-Dininger, 3, 382


124 F. NIETZSCHE, ebd.
125 Zitiert nach: G. GRESHAKE, Der dreieine Gott, 349.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 149 -

Absender, davon gelten 7 als unbestritten echt: 1 Thess; 1 Kor., Gal; Phil; Phlm; 2 Kor
und Röm.
Kein biblischer Autor ist uns in seinen Emotionen so zugänglich wie Paulus. Auch schon
deshalb, weil die Paulusbriefe insgesamt (einschl. des Röm.) Gelegenheitsschreiben sind.
Also Paulus setzt sich nicht hin und schreibt „nüchtern“ und „distanziert“ usw., sondern
vielfach einfach aus dem „Bauch heraus“.
Z. B. 1. Korintherbrief: Da gibt es in Korinth viele Fragen, die in der jungen Chris-
tengemeinde aufgetreten waren. Wahrscheinlich wird Paulus sogar schriftlich ange-
fragt durch eine Abordnung aus der Gemeinde (7,1; 16,17). Man berichtet ihm von
gefährlichen Spaltungen, die das Weiterbestehen der Gemeinde gefährdeten (1,12-17)
und von einem schweren Fall von Blutschande (5,1-13 – „ein Christ lebt mit der Frau
seines Vaters“), von Streitigkeiten der Christen vor heidnischen Richtern (6,1-11) und
von sexuellen Verfehlungen (6,12-20 – Unzucht, Korinth ist eine Hafenstadt!).
Und Paulus reagiert, er reagiert oft sehr heftig und lässt jedenfalls voll das Tempe-
rament durchkommen. Heute oft falsches Heiligkeitsideal: statisch, fad, blutleer,
emotionslos.
Was lernen wir von ihm? 1. Grundlage von allem ist, sich von Christus „treffen“ zu las-
sen und blind zu werden für alles andere; 2. Mit Christus das Kreuz annehmen und die
Hingabe bis hinein ins Leiden zu leben; 3. Irrlehren und Irrungen dürfen uns nicht
gleichgültig lassen, sondern ruhig aufregen; 3. Grundhaltung muss sein: die Ergebung in
der Liebe.
Paulus hat eine große Bekehrung hinter sich! Wir wissen schon von der Zeit vor seiner
Bekehrung, dass er kein SOFTIE war, sondern ein EIFERER, ein FEUERKOPF. Heute
würde man auch sagen, dass er ein Intellektueller war. Er gehört zu den Pharisäern, das
sind also die Gesetzeslehrer, die das Heil durch die penible, ja pedantische Erfüllung des
jüdischen Gesetzes erwarten.
Einige biographische Fakten: aulus stammt aus Tarsus im heutigen Kleinasien, war also
ein „Türke“. Sein jüdischer Name „Scha’ul“ bedeutet soviel wie „der Erbetene“. Es ist
der klassische Königsname „Saul“. r studierte als Rabbiner bzw. Pharisäer im Alter von
18 oder 20 Jahren in Jerusalem. Das war schon zeitlich nach dem Tod und der Auferste-
hung Jesu, sein Lehrer war Gamaliel I. Von Gamaliel lesen wir in der Apg (Apg 5,34-
39), dass er gegenüber den Christen sehr tolerant war. Als die Juden die Apostel umbrin-
gen wollen gibt Gamaliel folgenden Rat: „Lasst von diesen Männern ab, und gebt sie frei;
denn wenn dieses Vorhaben oder dieses Werk von Menschen stammt, wird es zerstört
werden; stammt es aber von Gott, so könnt ihr sie nicht vernichten; sonst werdet ihr noch
als Kämpfer gegen Gott dastehen!“ (Apg 5,38f.)
Das ist wichtig, denn normalerweise übernimmt ein Schüler die Haltung seines Lehrer.
Saulus aber überhaupt nicht. Er ist im Gegenteil ein totaler Fanatiker gegen die Christen.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 150 -

Er entwickelt sich zum Todfeind der Christusgläubigen. So nimmt er an der Steinigung


des Stephanus teil (Apg 7,58) und lässt sich nach Abschluss seiner Ausbildung zum Rab-
biner, also zwischen 33 und 36 vom Synedrium in Jerusalem Empfehlungsschreiben aus-
fertigen. Er zieht damit nach Damaskus, um die dortige Christengemeinde zu verfolgen.
Wieder wichtig: Saulus ist ein Choleriker! Also einer, der sich ereifern kann. Einer, der
sich etwas in den Kopf setzen kann. – Kann gefährlich sein, aber auch eine Gnade! Alle
großen Heiligen waren „Sturköpfe“, man könnte auch sagen: „Glaubenshelden“. „Stur“
sein heißt ja, einen starken WILLEN haben. Saulus ist stark in seinem Willen, sowohl im
Bösen wie dann auch im Guten.
Gnade: Paulus erhält vor Damaskus viel Gnade. Es ist die Betroffenheit durch Christus,
wie sie uns in Apg geschildert wird. Tatsächlich wechselt Saulus seinen Namen: vom
jüdischen Königsnamen Saul auf den lateinischen Namen Paulus, der sich von „parvu-
lus“, „der Kleine“, ableitet. Paulus bezeichnet sich fortan selbst als „letzten der Apostel“
und sogar als „Missgeburt“. Er lässt sich durch Hananias in Damaskus taufen und zog
sich dann auf 3 Jahre in die Wüste Arabiens zurück, wie er im autobiographischen Gala-
terbrief berichtet. Danach beginnt er mit der unerschrockenen Verkündigung des Evange-
liums an Juden und Heiden.
Paulus wird zum genialsten Theologen und der größten Missionar der apostolischen Zeit;
mit Petrus ist er der erhabendste Apostelfürst der Kirche. Er erleidet um 64 außerhalb der
Mauern Roms das Martyrium für jenen Christus, der ihm vor Damaskus die Frage ge-
stellt hatte: „Saulus, Saulus, warum verfolgst Du mich!“
Viele Denker der Neuzeit halten Paulus für den „eigentlichen Erfinder“ des Christentum
(Friedrich Nietzsche!!!). Ist natürlich übertrieben. Man muss aber sagen: Hätte es Paulus
nicht gegeben, hätte sich alles langsamer und vielleicht sogar falsch entwickelt. Gott hat
ihn – der selbst Christus nie gesehen hat – zum besten Werkzeug auserwählt.
Das erste, was wir also brauchen, ist auch eine große Betroffenheit von Christus: Er muss
uns „einleuchten“ wie damals den Paulus vor Damaskus; er muss uns „blind machen“ für
alles andere, sodass wir ihm allein leben; er muss uns bewusst machen, dass wir in einer
großen Gemeinschaft der Kirche das Heil aller Menschen erstreben müssen: „Saulus,
Saulus, warum verfolgst Du MICH!“ Paulus lässt sich von Christus treffen und sieht auch
schon in seiner Bekehrung die „Kirchen-Weite“ Christi: Christus ist in denen, die Saulus
verfolgt: „Warum verfolgst Du Mich!“

c. Die Einsicht in das Kreuz als Erlösungsereignis


Das eigentliche Ärgernis für Paulus war das Kreuz. Für Saulus als Pharisäer war das
Kreuz das große Ärgernis, der „Skandalon“! Warum? Weil er als Gesetzeslehrer wusste,
dass ein Kreuzigungstod Zeichen der Verworfenheit von Gott ist: Der Kreuzestod Christi
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 151 -

war für Juden ein „Skandalon“, da ein Hingerichtete nach dem Gesetz als „verflucht“,
als Gotteslästerer galt, dessen Leichnam das Land „verunreinigte“: „Verflucht ist jeder,
der am Pfahl hängt!“ zitiert Paulus im Galaterbrief das Gesetz (Gal 3,13: Dtn 21,23; vgl.
Röm 8,3; 2 Kor 5,21. Anspielungen auf die Anstößigkeit des Kreuzestodes finden sich
auch in der Apostelgeschichte Apg 5,30; 10,39).
Kreuz ist für Juden unerträglich! Ein gekreuzigter Messias ist in sich gotteslästerlich! Für
die Juden hätte Christus wirklich vom Kreuz steigen müssen, um als Messias gelten zu
können: Steig herab vom Kreuz! (Mk 15,30.32). Paulus verfolgt die Christen sicher des-
halb, weil sie nach seiner Meinung durch ihre Verkündigung eines Schandtoten als Mes-
sias Gotteslästerung betreiben. Er ist Jude. Für die Heiden, die griechisch Denkenden,
war das überhaupt eine „Dummheit“, wenn hier ein gekreuzigter Aufrührer und Agitator
als Herr und Gott verkündet wurde126.
Paulus schreibt: „Für Juden ein Ärgernis, für Heiden eine Torheit“. Ohne Zweifel schil-
dert Paulus in diesen Worten schon seine konkreten Erfahrungen, wie Juden und Heiden
reagierten - und aufgrund ihrer religiösen Einstellung reagieren mußten -, wenn ihnen ein
gekreuzigter Christus, ein gekreuzigter Sohn Gottes verkündet wurde.
Und jetzt kommt das aufregende: Paulus ist ein Denker! Er hatte vorher tief nachgedacht
darüber, was ihn von Christus abschreckt. Es war das Kreuz. Und DANN WIRD ES GE-
RADE DAS KREUZ SEIN, DAS IHN AN CHRISTUS ANZIEHT!!! Er begreift ganz
tief: Durch das Kreuz kommt Erlösung, kommt Sühne, kommt unendliches göttliches
Verzeihen in diese Welt.
Typisch: In Phil. 2 zitiert Paulus einen alten liturgischen Hymnus, wo von Jesus heißt:
„er erniedrigte sich und wurde für uns gehorsam bis zum Tod“, - Paulus fügt ein „bis zum
Tod am Kreuz“.
Paulus: Für die Gläubigen, die „Berufenen“ ist eben gerade der Gekreuzigte „Gottes
Kraft und Gottes Weisheit“ (1 Kor 1,23-24). Paulus spricht in 1 Kor 1,18 vom „Logos
des Kreuzes“. („Wort vom Kreuz“ – besser: „Logik des Kreuzes“) Welche Logik: Dass
Gott uns abgrundtief liebt und seinen Sohn für uns zur Sühne macht (Röm 3,25).

126 Der römische Schriftsteller und Historiker TACITUS (55-120 n. Chr.) hat ein Zeugnis sol-
chen verständnislosen Staunens über den „abscheulichen Aberglauben“ an einen Hinge-
richteten hinterlassen. Er beschreibt in seinen Annalen die Christenverfolgung unter Nero
um 64 in Rom, wobei er auch erklärt, woher der Name „Christen“ kommt: „Dieser Name
stammt von Christus, den der Prokurator Pontius Pilatus unter der Herrschaft des Tiberius
zum Tod verurteilt hatte. Dieser abscheuliche Aberglaube, der eine Weile verdrängt wor-
den war, verbreitete sich von neuem nicht nur in Judäa, wo das Übel begonnen hatte, son-
dern auch in Rom, wo alles, was es auf der Welt Schreckliches und Schändliches gibt, zu-
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 152 -

Das verdanken wir Paulus: Das Kreuz „theologisch“ begriffen zu haben. - Paulus
schreibt: „Denn das Wort vom Kreuz ist denen, die verloren gehen, Torheit; uns aber, die
gerettet werden, ist es Gottes Kraft.“ (1 Kor 1,18)127
Die Internationale Theologische Kommission drückt es so aus: „Die Kreuzigung, eine
würdelose Todesform, ist zum ‚Evangelium‘ geworden.“128
Daraus folgt, dass das „Kreuz“ auch zum Lebensethos des Christen gehört.
Paulus drückt das aus, dass er sich
● der Bedrängnis rühmen möchte: „Röm 5,3: Mehr noch, wir rühmen uns ebenso unserer
Bedrängnis...“
● seiner Schwachheit rühmen möchte: „2 Kor 12,9“
● Einer der schönsten Sätze: Gal 6,14: „Ich aber will mich allein des Kreuzes Jesu Chris-
ti, unseres Herrn, rühmen, durch das mir die Welt gekreuzigt ist und ich der Welt.“ (Gal
6,14)
Das Kreuz bedeutet die Umwandlung aller Werte. Der Christ muss nicht der strahlende
Held sein, der unangefochten, immer erfolgreich und siegreich durch alle Versuchungen
geht, sondern er kann seine Leiden annehmen.
Wenn Paulus in der sogenannten „Narrenrede“ in 2 Kor 11 sich selbst rühmt, dann nicht
weil er so erfolgreich ist, sondern weil er soviel leidet:
„Ich ertrug mehr Mühsal, war häufiger im Gefängnis, wurde mehr geschlagen, war
oft in Todesgefahr. Fünfmal erhielt ich von Juden die neununddreißig Hiebe; dreimal
wurde ich ausgepeitscht, einmal gesteinigt, dreimal erlitt ich Schiffbruch, eine Nacht
und einen Tag trieb ich auf hoher See. Ich war oft auf Reisen, gefährdet durch Flüsse,
gefährdet durch Räuber, gefährdet durch das eigene Volk, gefährdet durch Heiden,
gefährdet in der Stadt, gefährdet in der Wüste, gefährdet auf dem Meer, gefährdet
durch falsche Brüder. Ich erduldete Mühsal und Plage, durchwachte viele Nächte, er-
trug Hunger und Durst, häufiges Fasten, Kälte und Blöße. 28 Um von allem andern

sammenströmt und zahlreiche Anhänger findet (eigentlich: „gefeiert wird“) (Tacitus, An-
nales XV,44)
127 „Wo ist ein Weiser? Wo ein Schriftgelehrter? Wo ein Wortführer in dieser Welt? Hat Gott
nicht die Weisheit der Welt als Torheit entlarvt? Denn da die Welt angesichts der Weisheit
Gottes auf dem Weg ihrer Weisheit Gott nicht erkannte, beschloss Gott, alle, die glauben,
durch die Torheit der Verkündigung zu retten. Die Juden fordern Zeichen, die Griechen
suchen Weisheit. Wir dagegen verkündigen Christus als den Gekreuzigten: für Juden ein
empörendes Ärgernis, für Heiden eine Torheit, für die Berufenen aber, Juden wie Grie-
chen, Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit.“ (1 Kor 1,20-24)
128 INTERNATIONALE THEOLOGISCHE KOMMISSION, Gott der Erlöser, 35.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 153 -

zu schweigen, weise ich noch auf den täglichen Andrang zu mir und die Sorge für al-
le Gemeinden hin. Wer leidet unter seiner Schwachheit, ohne dass ich mit ihm leide?
Wer kommt zu Fall, ohne dass ich von Sorge verzehrt werde? Wenn schon geprahlt
sein muß, will ich mit meiner Schwachheit prahlen.“ (2 Kor 11,23b-30)
2 Kor 12,10: „Deswegen bejahe ich meine Ohnmacht, alle Misshandlungen und Nöte,
Verfolgungen und Ängste, die ich für Christus ertrage; denn wenn ich schwach bin,
dann bin ich stark.“
d. Im Kampf für „Christus solus!“
Paulus ist total von Christus betroffen: durch diesen Gekreuzigten wollte Gott alle Men-
schen gerecht machen, also alle retten. Er hat den WERT Jesu Christi erkannt: Er ist nicht
ein Prophet unter vielen, sondern die einzigartige und endgültige Heilszusage Gottes an
die Welt. CHRISTUS SOLUS!!! Paulus wird schreiben: Phil 3,8 „[Um Christi willen]
habe ich alles aufgegeben und halte es für Unrat, um Christus zu gewinnen.“ Paulus ist
daher absolut nicht tolerant, wenn es um Christus geht. Im Gegenteil, er kann dann, wo
Christus „geschmälert“ und „abgewertet“ werden soll, wie eine Furie mit Polemik und
Zynismus loslegen. Und zwar heftig.
Das älteste Zeugnis im Neuen Testament ist der Galaterbrief des Paulus. Er ist viele
Jahrzehnte vor den Evangelien verfasst worden. Emotionsgeladen von Anfang bis zum
Ende. Und total autoritär: Paulus grüßt am Anfang kurz, stellt sich vor: „berufen durch
Christus Jesus“, und dann geht es schon los. Keine höflichen Floskeln, kein Gebet womit
er Gott für die Gemeinde dankt (sonst in allen Briefen üblich), sondern ein heftiger Ta-
del:
„Ich bin erstaunt (miramur, „Also so geht das wirklich nicht!“), dass ihr euch so
schnell von dem abwendet, der euch durch die Gnade Christi berufen hat, und dass
ihr euch einem anderen Evangelium zuwendet.“ (Gal 1,6)
Worum geht es? Um den größten Konflikt der jungen Kirche: Es geht um die Frage, ob
die zu Christus bekehrten Heiden zuerst beschnitten werden müssen: Paulus hatte näm-
lich in Galatien (Kleinasien) mit dem Anspruch missioniert: Christus allein rettet, also
genügt allein die Taufe ohne Beschneidung. Nach Paulus aber waren judenchristliche
Eiferer gekommen, die alle zur Beschneidung zwingen wollten. Paulus reagiert sehr
scharf: „Diese Leute, die Unruhe bei euch stiften, sollen sich doch gleich selbst alles ab-
schneiden lassen.“ (Gal 5,12 – elegant in der Einheitsübersetzung: „Sollen sich doch
gleich selbst entmannen lassen). Also: Paulus konnte nicht nur temperamentvoll sein,
wenn es um das Entscheidende ging, sondern polemisch!
Eine andere Stelle mit ähnlicher Polemik findet sich im Philipperbrief, ebenfalls sicher
von Paulus. Der Wutausbruch des Paulus ist im Text ganz unvermutet.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 154 -

„Vor allem, meine Brüder, freut euch im Herrn! [= 3. Adventsonntag: „Gaudete in


Domino semper!] Euch immer das gleiche zu schreiben wird mir nicht lästig, euch
aber macht es sicher. Gebt acht auf diese Hunde, gebt acht auf die falschen Lehrer,
gebt acht auf die Verschnittenen!“ (Phil 3,1)
Paulus ist hier kompromisslos! Nach seinem Empfinden geht es um eine ganz gefährliche
Irrlehre: Wenn man nämlich die getauften Heiden auch noch beschneiden muss, und die
Taufe allein nicht genügt, dann hieße das doch: Christus genügt nicht. Und das ist für
Paulus unerträglich.
Paulus lässt es hier sogar auf einen Streit mit Petrus ankommen, den er in Gal 2,11-14
auch schildert: Die Jakobusleute – also jene, die für die Beschneidung sind – waren nach
Antiochien gekommen, - also jene Stadt, wo Juden und Heiden zum erstenmal Christen
genannt werden (Apg 11,26), weil sie etwas Neues sind! Die Judenchristen speisen dort
zusammen mit den Heidenchristen ohne Problem, doch die Leute des Jakobus werfen
Petrus vor, dass er als Judenchrist nicht mit den unbeschnittenen Heiden Mahl halten dür-
fe. Daraufhin wird Petrus ängstlich, und er und Barnabas brechen die Mahlgemeinschaft
mit den Heidenchristen. Da kommt Paulus und sagt zu Petrus: du hast dich schuldig ge-
macht, Christus wollte es nicht so, Christ sein heißt auch gemeinsam zu essen.
Dazu muss man sagen: Paulus hat sich durchgesetzt gegen Petrus. Es ging dabei aber
nicht um eine Frage der Glaubenssubstanz, sondern der Disziplin. Petrus ist der „diplo-
matischere“ (er ist ja der 1. Papst und muss eben für ALLE dasein). Petrus hatte ja sehr
wohl die Heidenchristen anerkannt, aber er wollte auch den „schwachen“ und gesetzes-
treuen Judenchristen kein Ärgernis geben. Wir kennen übrigens nur die Schilderung des
Paulus, und die eben sehr subjektiv und emotional, nicht aber die des Petrus. Die Kir-
chenväter haben überhaupt gemeint, Petrus sei hier als Brückenbauer zwischen Juden-
und Heidenchristen selbst zwischen die Fronten geraten.
Paulus: „8 Wer euch aber ein anderes Evangelium verkündigt, als wir euch verkün-
digt haben, der sei verflucht, auch wenn wir selbst es wären oder ein Engel vom
Himmel. 9 Was ich gesagt habe, das sage ich noch einmal: Wer euch ein anderes E-
vangelium verkündigt, als ihr angenommen habt, der sei verflucht.“ (Gal 1,8f)
(Also zum Papst hätte Paulus wegen seiner kompromisslosen Haltung nicht getaugt, aber
zum eifrigen Verkünder. Es muss in der Kirche beides geben: die Eiferer und die ausge-
wogenen.)
Ärger ist freilich nicht das letzte, sondern Hingabe und Apostolat. Paulus hat ja nicht nur
die Fehler der anderen Christen kritisiert, sondern er hat sie wettzumachen versucht, in-
dem er im Apostolat umso eifriger war.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 155 -

g. Ergebung in der Liebe


Wenn jemand so eifrig war wie Paulus, dann muss er eine gewaltige Quelle gehabt ha-
ben. Er war, wie wir gesehen haben, kein sentimentales Softie. Für ihn ist es um alles
oder nichts gegangen.
Und dennoch war seine Quelle: die Liebe.
Achtung: Liebe ist ein sehr ins kitschige abgeglittener Begriff. (Hochzeit, alles so softy
und „lieblich“; Übererwartung an Romantik; die Liebe „aus dem Bauch heraus“ ist aber
nur eine flüchtige Emotion!!! Liebe = willentliche Hingabe aneinander!)
Wenn bei Paulus ganz „zärtliche“ Seiten aufklingen, dann aber eben nur auf dem Hinter-
grund eines sturen Schädels: Er möchte Christus lieben und deshalb nimmt er die Strapa-
zen der Missionsreisen auf sich, den Verrat durch die Brüder; die Verfolgung durch die
Juden und die Undankbarkeit der von ihm gegründeten Gemeinden.
So produziert er in 1 Kor 13 den romantischsten Text über die Liebe, „das Hohelied“
„1 Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete, hätte aber die Liebe
nicht, wäre ich dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke. 2 Und wenn ich prophe-
tisch reden könnte und alle Geheimnisse wüsste und alle Erkenntnis hätte; wenn ich
alle Glaubenskraft besäße und Berge damit versetzen könnte, hätte aber die Liebe
nicht, wäre ich nichts. 3 Und wenn ich meine ganze Habe verschenkte, und wenn ich
meinen Leib dem Feuer übergäbe, hätte aber die Liebe nicht, nützte es mir nichts. 4
Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig. Sie ereifert sich nicht, sie prahlt nicht, sie
bläht sich nicht auf. 5 Sie handelt nicht ungehörig, sucht nicht ihren Vorteil, lässt sich
nicht zum Zorn reizen, trägt das Böse nicht nach. 6 Sie freut sich nicht über das Un-
recht, sondern freut sich an der Wahrheit. 7 Sie erträgt alles, glaubt alles, hofft alles,
hält allem stand. 8 Die Liebe hört niemals auf…“
Das schreibt der Mann, der mit seiner Polemik wie mit einem Schwert auf die Irrlehrer
einschlagen kann. Aber wie gesagt: Softie wir der auch hier nicht, denn die Liebe ist
nicht eine Beliebigkeit, sondern eine Forderung, ein Gebot!
Denn: der Liebe, die Paulus lebt, geht eine Liebe voraus! Zuerst liebt Gott uns. Und die
Maßlosigkeit dieser göttlichen Liebe ist für Paulus im Kreuz offenbar geworden. Wenn
Gott liebt, dann müssen wir zurücklieben.
Gal 2,20: „nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir. Soweit ich aber jetzt
noch in dieser Welt lebe, lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt
und sich für mich hingegeben hat.“
Christus liebt zu erst. Unser Leben hat die Antwort darauf zu sein.
So schließt er den 1. Korintherbrief mit den Worten: „Wer den Herrn nicht liebt, sei ver-
flucht! Marána tha - Unser Herr, komm!“ (1 Kor 16,22)
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 156 -

Uns solche Liebe ist eben möglich. Paulus lebt sie vor. Es ist keine „romantische“ Liebe,
sondern eine emotionsgeladene Liebe. Diese Liebe führt ihn schließlich vor die Mauern
Roms zur Enthauptung. (Trefontane)
Paulus nochmals: Röm 8,37: „Doch all das überwinden wir durch den, der uns geliebt
hat.“
Satz 67: Paulus ist als Pharisäer zunächst über die Behauptung, dass ein Ge-
kreuzigter der Messias sein soll skandalisiert; die Damaskusgnade ist
die Einsicht in die Erlösungsdimension des Gekreuzigten, der stellever-
tretend als Sühne für uns den Menschen vor Gott rechtfertigt.

D. Die 2. Dimension unserer Erlösung: Das Pascha-Mysterium

Wir wenden uns jetzt dem zentralen Erlösungsgeheimnis zu. Sieht man nur die „Lehre“
und das irdische Heilswirken Jesu (Teil A.), dann übersieht man das Wesentliche: dass
Jesus durch sein Leiden und Auferstehen, die Beziehung Gottes zum Menschen positiv
wiederhergestellt hat. Die „Liberale Theologie“ neigt immer dazu, in Jesus bloß den leh-
renden Rabbi zu sehen. - Tatsache ist aber, dass die Lehre Jesu nur Blabla wäre, wenn er
sie nicht durch seine Kreuzeshingabe bezeugt hätte. Jesus ist nicht nur Lehrer, er ist auch
Erlöser.

a. Die stellvertretende Sühne


Stellvertretung ist eine der Grundkategorien der biblischen Offenbarung. Sie besagt, dass
Christus - zwar als einzelnes Individuum „gekreuzigt, gestorben und begraben“ ist (A-
postolicum), aber dass er in seiner Passion stellvertretend „für alle“ die Sünden aller
getragen hat. Der christliche Glaube lehrt, dass Christus in Person die „universale“ Sühne
für unser aller Sünden ist. Stellvertretung besagt also: Einer für alle! (Nicht nur Wahl-
spruch der Feuerwehr). Die Frage aber ist: ist das überhaupt möglich, dass einer für alle
stirbt?
Wir antworten: 1. Der Stellvertretungsgedanke findet sich bereits im AT stark ausge-
prägt. Das Problem, das sich dem atl. menschen stellt: wie werde ich meine persönlichen
Sünden gegenüber Gott wieder los? Was kann ich tun, um mit Gott versöhnt zu werden?
Es kommt hier im Sündenbockritus zu einer Art „Ersatzhandlung“ (vgl. Lev 16,22; Ez
4,4ff.): Der Hohepriester lädt durch Handauflegung dem Bock namens „Azazel“ die Sün-
den des Volkes auf; dieser wird in der Wüste dem sicheren Tod überliefert. Ein symboli-
scher Vollzug, aber immerhin zeugt er für den Stellvertretungsgedanken: das Tier stirbt
anstelle der Menschen, die Schuld auf sich geladen haben, es entsühnt so die Sünder.
2. In den Gottesknechtsliedern wird dieser Gedanke ausgeformt: Deuterojesaja, bes. Jes
53. Dort ist die Rede vom Gottesknecht, der für sein Volk in die Bresche tritt, der sich
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 157 -

anbietet, stellevertretend für sein Volk zu sterben. Es muss darauf hingewiesen werden,
dass Israel auch ein ganz anderes Bild von „Volk“ hatte: Volk ist nicht das Nebeneinan-
der von Individuen (wie heute), sondern Volk ist eine Einheit, ein „kollektives Ich“ („So-
lidarismus“ - bitte auch bedenken, wenn man von der Kirche als „Volk Gottes“ spricht:
nicht ein loser, in Parteien zerstrittener Haufen, sondern eine Einheit! die Nation Gottes!)
3. Jesus versteht sich selbst ganz als der jesajanische Gottesknecht und wird auch von den
Evangelien so interpretiert. Er spricht von der Todestaufe, die er empfangen muss (Mk
10,38; Lk 12,50); beim Abendmahl greift er die Formulierung aus Jes 53 auf, dass der
Gerechte sein Leben hingibt „für die Vielen“.
4. Paulus entfaltet den Stellvertretungsgedanken in seiner Lehre von den Zwei-Adam
in Röm 5: Im ersten Adam lebt jeder für sich selbst, im zweiten Adam ist er neu geschaf-
fen. Durch Christus geschieht die „Ver-söhnung“, d. h. unsere Sünden werden „gesühnt“.
Überhaupt findet sich bei Pl permanent der Ausdruck: „pro nobis“ (hyper hemon). - Auch
in den johanneischen Schriften ist der Stellvertretungsgedanke ausgeprägt: „Daran haben
wir die Liebe erkannt, dass jener für uns sein Leben hingegeben hat, und auch wir sind es
schuldig, für die Brüder das Leben hinzugeben.“ (1 Joh 3,16).
5. Zusammenfassung: Für jüdisches Denken ist es selbstverständlich, dass einer die Sün-
den „der vielen“ auf sich nehmen kann, dass er stellvertretend für die anderen die Sünden
sühnen kann. Die Sühne wird in Israel durch das kultische Opfer vollzogen. Jesus Chris-
tus ist das universale Opfer, „das Lamm, das die Sünde der Welt hinwegnimmt“ (Joh
1,29; vgl. Offb 5,6.12). Wie geht das konkret: das wahre Opfer besteht in der Lebenshin-
gabe, im Ausgießen des Lebensblutes (Ex 12,1; vgl. Joh 19,36: Schechten des Lammes:
Blut ausrinnen lassen).

b. Das Abladen der universalen Weltschuld auf dem Sühnelamm Christus


Hier möchte ich die Lehre Balthasars kurz wiedergeben. Balthasar stellt die Frage: Ist der
Stellvertretungsgedanke bloß graue Theorie, ist er bloß Spekulation, oder zeigt es sich
irgendwie auch konkret aus der Heiligen Schrift, dass Christus die Sünden „aller“ getra-
gen hat. Wer ist mit „alle“ gemeint? Jesus ist ja von konkreten Menschen verurteilt und
hingerichtet worden? Wieso kann man dann sagen, er habe die Sünden aller Menschen
getragen?
Die Antwort: das AT teilte die gesamte Menschheit in zwei Gruppen, entsprechend ihrem
Verhältnis zu Gott: das eine sind die Heiden, die Gott nicht kennen und beständig nach
ihm suchen; das andere sind die Juden, die Gott zu kennen meinen und sich durch die
Erfüllung seiner Gebote das Heil wirken. Zu diesen beiden alttestamentlichen „Ständen“
kommt noch eine dritte: das sind die Christen, die zum Glauben an Christus gekommen
sind; sie werden dargestellt durch jene wenigen Jünger, die zum Glauben an Christus ge-
kommen sind. So gibt es also nach dem NT drei „Menschheits-Stände“: Juden, Heiden
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 158 -

und Christen. Balthasar nun: die Sünde aller drei Weltstände tobt sich mit voller Wucht
an Christus aus; es sind alle drei Gruppen, die - gemäß ihren Prinzipien - sich gegen
Christus versündigen, ihre Sünden auf ihm abladen:
• die Juden: verurteilen Christus zum Tod gemäß ihres Prinzips, wonach sie Gott kennen.
Für sie ist Christus ein Gotteslästerer (Joh 8), weil er für sich in Anspruch genommen hat,
die Wahrheit zu sein. Die Juden kennen die Wahrheit schon: dieser Jesus entspricht „ih-
rer Wahrheit“ nicht.
• die Heiden: richten Christus hin gemäß ihres Prinzips, wonach die Wahrheit immer in
Schwebe zu bleiben hat. Hier radikalisiert einer durch seinen Anspruch die Massen. Die
Römer, die sonst exzessiv tolerant sind, müssen gegenüber einem solchen Menschen in-
tolerant sein. Wahrheit ist für die Heiden definitionsgemäß eine Frage ohne Antwort:
„Was ist Wahrheit“. Die Heiden sind stets am Suchen nach Gott; eine letztgültige Wahr-
heit kann es nicht geben.
• die Christen: sind nach den Evangelien die eigentlichen Sünder (denn Juden und Heiden
handeln logisch nach ihren Prinzipien, Christen aber widersprechen sich in ihrem Verrat
an Jesus selbst. Z. B. ausdrücklich wird das hochmütige Mut-Wort des Petrus geschildert
und dann genüsslich sein dreimaliger Verrat). Ihr Verrat an Christus wiegt schwerer als
der der anderen, die „nicht wissen, was sie tun!“ Die Christus-Jünger aber wissen es. —
Aber in dieser Aussage der Evangelien steckt nicht Verurteilung der Christen (oder die-
ses genüssliche Kokettieren mit der eigenen Schuld! Je öfter man sich sanft an die Brust
tippt, um sich für die Verbrechen der Großväter zu entschuldigen, desto besser kommt
man sich vor!) Es geht hier bereits um die Entsühnung, die durch Christus geschehen ist:
„Wo aber die Sünde sich gehäuft hat, ist die Gnade noch überschwenglicher geworden!“
Röm 5,20: hou de epleónasen he hamartia hypereperísseusen he charis!)
Zusammenfassung: Christus trägt - qualitativ gesehen (nicht quantitativ!) - die gesamte
Sünde der Welt. Ohne selbst persönlich gesündigt zu haben, hat sich doch die gesamte
Sünde in ihm abgeladen (so wie die Sünden des Volkes auf dem Lamm ruhen). Er ist
Sühneopfer für Israel. Der Hebr entfaltet das exzessiv!
Satz 68: Die zweite Stufe des Erlösungshandelns Christi besteht in der stellver-
tretenden Sühne: Der Sohn Gottes nimmt in seiner Menschheit die
Strafe, die den Menschen zugedacht war, selbst auf sich. Da er alle
Sünde trägt, ist in ihm – objektiv – die Erlösung aller begründet.

c. Die beiden Hauptwirkungen des Erlösungsleidens Christi


Das ist eine erstaunliche Erlösungslehre, v. a. für heutige Begriffe: Heute meint man
durch „Tun“ und „Politik“ (= Wirken an der Gesellschaft) die Welt zu verändern. Ein
leidender Gekreuzigter als Erlöser, als Heilbringer, das ist den Juden ein Ärgernis, den
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 159 -

Heiden eine Dummheit. Das Kreuz bleibt immer ein „Skandal“ (1 Kor 1,23); Gal 5,11
spricht vom „Skandal des Kreuzes“. Und doch so wichtig, dass das Apostolicum das
Kreuzesleiden gleich mit 4 Prädikaten festhält: gelitten, gekreuzigt, gestorben, begraben.
- Entscheidende Frage also: Warum musste Christus leiden und sterben? Zu welchem
Zweck, mit welcher Wirkung? Deutsch: „Was bringt das?“
Der Sinn des Leidens Christi wird nur verstanden, wenn auf den zweifachen Schaden
geachtet wird, der durch die Sünde entstanden ist; um das Kreuz zu verstehen, müssen
wir das Wesen der Sünde verstehen; wir müssen verstehen lernen, was Paulus meint,
wenn er schreibt, dass wir alle „unter dem Gesetz der Sünde gefangen waren (Röm 7,23).
Die Sünde, gemeint ist hier das, was wir herkömmlich „Erbsünde“ nennen, besteht ihrem
Wesen nach in einer Umkehrung der positiven Freiheit, die Gott dem Menschen ge-
schenkt hat. Sie zerstört damit den ursprünglichen Schöpfungsplan und verkehrt positive
Werte in negative. Sie hat Folgen für den Menschen. Wir greifen hier die beiden Haupt-
folgen der Sünde heraus, das sind Tod und das Leiden, die Mortalität und die Passiblität.
1. Sterblichkeit: Pl lehrt, dass durch die Sünde der Tod in die Welt gekommen ist (Röm
5,12) und auf alle Menschen überging. Das ist Lehre der Kirche, dass der Mensch ohne
Erbsünde „immortalis“ wäre (vgl. Thomas, S. th. I/II 85,3). - Bitte, wie sollen wir das
verstehen: ist damit gemeint, dass wir physiologisch ohne Ende auf Erden existieren
würden? Gehört der Tod - nicht auch ohne Sünde - zum Wesen des Menschen? Antwort:
Nein, vermutlich wäre die irdische Existenz nahtlos übergegangen in die verklärte Exis-
tenz. Der paradiesische Mensch hätte das Ende seines irdisch-materiellen Lebens nicht in
Angst und Pein erlebt, sondern als freudiges Hinüberwechseln.
Der von der Sünde verursachte Tod aber ist das schreckliche Ende, das Absterben des
Leibes, der Gang ins Ungewisse. - Doch hier setzt die erlösende Wirkung des Todes
Christi ein: Sein Tod bringt jetzt eine Umwandlung des menschlichen Todes: Nach Pau-
lus ist der Tod entmachtet, denn der Christ glaubt, dass sich gerade im Tod sein Leben
vollendet. Der Tod wird durch Christi Tod nicht abgeschafft, sondern verwandelt, ver-
klärt. Das ist seine Vernichtung, dass er nicht mehr als Schrecken empfunden wird.
2. Leiden: Der Glaube lehrt, dass eine weitere Folge der Sünde das Leiden ist. Achtung:
Leiden und Schmerz sind nicht dasselbe: Schmerz ist die bloße Empfindung, das Gefühl,
das „Au weh!“; muss noch kein Leiden sein! Leiden hingegen ist der reflektierte
Schmerz, der bewußtgewordene Mangel oder Versagen (z. B. kann man psychisch gar
nie „Schmerzen“ empfinden, sondern immer nur leiden; andrerseits kann ein Tier nicht
leiden, sondern nur Schmerzen haben. Nur in dem Sinn, dass der Mensch sich über den
Schmerz des Tieres bewußt wird, kann er davon sprechen, dass das Tier leidet!)
Das von der Sünde nun verursachte Leiden heißt wohl, dass der Leib des Menschen auch
schon im Paradies schmerzfähig war, aber der Schmerz eben kein Leiden war. Grund:
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 160 -

Der Geist war ja ganz auf Gott hin konzentriert. [[EXKURS: Diese Unterscheidung in
Schmerz und Leiden ist auch bei der Frage, auf welche Weise Maria geboren hat, von
Interesse. Nach Gen 3,16 ist ja das Gebären unter Schmerzen eine Folge der Sünde. Beste
Antwort: Maria hat sehr wohl biologische Schmerzen empfunden - sine corruptione vir-
ginitatis - aber nicht als Leiden, sondern vielmehr als Akt der Hingabe an Gott.]]
Vom Leiden gilt dasselbe wie vom Tod: durch sein Leiden gibt Christus unserem
menschlichen Leiden einen neuen Sinn. War es bisher sinnlos und widersinnig, zu leiden,
so hat der Leidende jetzt - seit dem Leiden Christi - Anteil am Erlösungswerk. Gerade
der Christ weiß auch um den „heilbringenden Aspekt“ des Leidens (Johannes Paul II.:
salvifici doloris).
Fassen wir zusammen: Wie erlöst Gott den Menschen? Er erlöst ihn nicht von oben her,
gleichsam mittels eines äußeren Dekretes. Warum: auf diese Weise - per richterlichen
Gnadenakt - hätte er nämlich die menschliche Freiheit „überspielt“, „ausgetrickst“. Er
hätte dem Menschen etwas zukommen lassen, was dieser gar nicht frei gewollt hätte. -
Gott wirkt seine Erlösung vielmehr von innen her, indem er sich selbst dem Gesetz der
sünde - der Versuchung, dem Leiden, dem Tod - unterwirft. So bleibt Gott sich treu; er
hebt die Menschlichkeit nicht auf, sondern verwandelt sie, verklärt sie, befähigt sie, jetzt
endlich Gott frei zu lieben.
Achtung: Erlösung ist nicht Zurück ins Paradies! Paradies war weniger als wir durch die
Erlösung erhalten haben!
Bitte: In der Praxis bitte immer wieder bedenken: wir sind die einzige Relgion, die im
Tod und Leid etwas Positives sehen, die es nicht - verzweifelt, weil immer zum Scheitern
verurteilt - austilgen wollen, sondern darin das Tor zum ewigen Leben sehen!
Satz 69: In seinem Pascha-Mysterium leidet Christus die Folgen der Sünde um:
aus dem Angsttod wird der Tod in Gnaden; aus dem Fluchleiden wird
das Leiden in Freude (vgl. Kol 1,24)

3. Cur Deus homo? – Die Frage nach dem Motiv der Menschwerdung

A. Dimensionen der Erlösung

Wir haben von den 2 Phasen im Wirken Christi gehört: vom irdischen Wirken in Lehre
und Heilen; vom Pascha-Wirken als Lebenshingabe an den Vater und Wegnahme der
Sünden. Wir denken jetzt wieder zurück zu eine Problemstellung, die die Theologen im
Mittelalter sehr bewegt hat: Anselm von Canterbury stellt die Frage in einem Traktat:
Warum ist Gott Mensch geworden? (Cur Deus homo?) Es geht also um das „Motiv“
(Grund, Veranlassung) der Menschwerdung. Natürlich lautet die Antwort: um uns zu er-
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 161 -

lösen. Die Erlösung des Menschen ist das entscheidende Motiv für die Menschwerdung.
Das steht außer Zweifel. Aber diese Erlösung hat verschiedene Dimensionen.
1. Eine erste Dimension der Erlösung besteht in der Lehre, die Jesus den Menschen gibt,
dass er ihnen klare sittliche und moralische Weisungen gibt (Joh 18,37). Lehre - siehe
Teil A dieses Abschnitts
2. Eine zweite Dimension der Erlösung besteht darin, dass Jesus den Menschen das gute
Vorbild und Beispiel gibt. „Hat doch auch Christus für euch gelitten und euch ein Vor-
bild hinterlasen, damit ihr in seine Fußstapfen tretet.“ (1 Petr 2,21)
3. Eine dritte Dimension der Erlösung ist, dass Gott sein Wesen in der Welt offenbar
macht. Dies tut er durch seinen menschgewordenen Sohn. Erlösung bedeutet hier also,
dass Gott sich selbst die Ehre gibt, indem er sich zeigt, wie er ist (vgl. Joh 17,4).
4. Eine vierte Dimension von Erlösung liegt schließlich darin, dass Jesus durch sein
Kreuzesleiden die Sünden der Menschen auf sich nimmt, die Strafe Gottes an ihrer statt
erleidet und so die Differenz, die der Mensch durch die Sünde aufgebaut hat, beseitigt.
Dieses letztere, die Erlösung von den Sünden ist sicher die dogmatisch wichtigste Di-
mension.
Gefährlich ist, wenn Theologen „nur“ eine Dimension der Erlösung gelten lassen wollen.
Die liberale Theologie etwa betont nur die erste Dimension (Lehre); die Befreiungstheo-
logie wieder betont nur die 2. Dimension. Drewermann sagt, es ginge bei der Erlösung
nur um die Befreiung aus psychischem Unheil. Usw. Interessant ist die mittelalterliche
Auseinandersetzung zwischen Thomismus und Skotismus über das Hauptmotiv der Erlö-
sung.

B. Das thomistische Inkarnationsmotiv

Die Frage lautet: War für Gott der Beweggrund, der ihn dazu führt, Mensch zu werden,
allein und hauptursächlich die Absicht, den Menschen durch den Kreuzestod von den
Sünden zu erlösen. Thomas antwortet: Ja! Der Logos ist Mensch geworden, weil er den
Menschen von den Sünden erlösen möchte.
Diese Theorie hat die Hl. Schrift auf ihrer Seite: „Der Menschensohn ist gekommen, um
sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele!“ (Mt 20,38; Mk 10,45;) Lk 19,10: „Der
Menschensohn ist gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren war!“ Ebenso
bei Paulus: „Als die Fülle der Zeit gekommen war, schickte Gott seinen Sohn, um jene,
die unter dem Gesetz waren, zu erlösen, damit wir die Annahme an Kindes Statt erlan-
gen.“ (Gal 4,4f.) - Man macht auch auf den Namen Jesus aufmerksam: „Gott rettet“: Mt
1,21: „Du wirst seinen Namen Jesus nennen, denn er wird sein Volk von den Sünden ret-
ten.“ - Es ließen sich noch zig-Stellen anführen: Zeigt: Inkarnation folgt, um die Sünde
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 162 -

wegzunehmen, zu beheben. (Heißt auch im Nicänokonstantinopolitanum: „propter


nostram salutem descendit des caelis“)
Aber hier taucht ein Problem auf: Wenn Gott seinen Sohn nur deshalb menschwerden
lässt, damit dieser die Sünde wegnimmt, dann ist doch die „Sünde“ die Ursache dessen,
dass Gott zu uns gekommen ist. Anders gefragt: Wäre Gott ohne Sünde nicht Mensch
geworden, dann hätten wir doch ein „Weniger“, da Gott uns ja in seiner Menschwerdung
viel viel näher ist als er es im Paradies vor dem Sündenfall war. Müssen wir also die
Sünde preisen? (Ja, das tut die Kirche ja wirklich: Sünde des Adam wird in der Os-
ternacht seliggepriesen). Aber grundsätzliche Frage bleibt: Wird hier nicht der Sünde zu-
viel Macht, zuviel Bedeutung zugewiesen?

C. Das skotistische Inkarnationsmotiv

Skotus, jüngst erst selig, Franziskaner: meint mit vielen anderen: gott wäre auch Mensch
geworden, wenn Adam nicht gesündigt hätte. Denn die Erlösung ist nicht das Hauptmotiv
der Menschwerdung, sondern das Hauptmotiv ist die Verherrlichung Gottes: Gott möchte
sich selbst die höchste Ehre geben, indem er sich selbst in die Endlichkeitsgestalt begibt.
Vorteil dieser Theorie: die Sünde wird nicht als Ursache der Menschwerdung gesehen.
Skotus sagt in etwa: Christus wäre auf alle Fälle gekommen, aber nicht im leidensfähigen
Zustand, sondern schon verklärt.
Vorteil dieser Theorie: bringt die Herrlichkeit, die schon in der Menschwerdung an sich
liegt, zur Geltung. Nachteil: ist mehr eine Theorie, da sie nicht von der realen Weltsitua-
tion ausgeht. Sie fragt ja rein theoretisch: Was wäre, wenn Adam nicht gesündigt hätte…
Wir sagen: die Inkarnation Gottes ist immer schon hingeordnet auf das Kreuz.
Das hat ganz aktuelle Folgen. Denn wir sagen somit: Mit der Inkarnation allein wäre es
nicht getan! (Heute: Inkarnationstheologien etwa Sölles, Tillichs, auch Rahner: Gott ist
Mensch geworden und verherrlicht sich im Menschlichen. Deshalb Hochschätzung des
„Humanismus“ als solchen, auch wenn er unreligiös ist. Rahner: „anonymes Christen-
tum“.) Wir: Inkarnation allein genügt eben nicht, sondern die Inkarnation hat ihr Telos im
Kreuz: Im Liebessterben Christi am Kreuz ist überhaupt erst das Maß dafür gegeben, was
Humanität sein soll, sein muss. Kreuz ist das Richtmaß des Menschlichen. Im Kreuz
zeigt Gott, zu welcher Liebe er den Menschen eigentlich erst befähigt. Der christliche
Humanismus, der sein Maß in der Kreuzeshingabe hat, wird immer größer sein als der
bloß menschliche Humanismus.
Satz 70: Auf die Frage nach dem Inkarnationsmotiv Gottes antwortet Thomas:
wegen unserer Sünde; Duns Scotus antwortet: um sich selbst als die
Liebe zu verherrlichen.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 163 -

4. Teil: SS 2006 (1 Sws)

„Der Heilige Geist und sein ökonomisches Wirken“


pkw

§ 8: Ich glaube an den Heiligen Geist…

1. Zum Aufbau des dritten Abschnitts des Apostolicums

A. Gibt es eine Kohärenz im dritten Abschnitt?

Bevor wir uns dem Bekenntnis zum Heiligen Geist zuwenden, müssen wir uns über die
Struktur des dritten Abschnitts im apostolischen Glaubensbekenntnis klar werden. Auf
den ersten Blick scheint es so, als seien hier - nach dem Bekenntnis zu Vater und Sohn -
willkürlich irgendwelche Glaubenswahrheiten zusammengewürfelt: an den Heiligen
Geist, an die Kirche, an die Vergebung der Sünden, die Auferstehung der Toten und das
Ewige Leben. Gibt es einen Zusammenhang?
Gerade die evangelischen Theologen bestreiten eine Kohärenz der einzelnen Punkte (J.
N. D. Kelly). Das würde dann bedeuten, dass es sich hier - nach dem Bekenntnis zum
Geist - um eine willkürliche Anhäufung wichtiger Glaubensinhalte handelt.
Auf der anderen Seite haben viele moderne katholische Theologen herausgearbeitet, dass
der dritte Abschnitt des Symbols eine Einheit bildet, v. a. Joseph Ratzinger und Henri de
Lubac. Heute kann diese Auffassung als erwiesen gelten. Was bedeutet sie: Sie bedeutet,
dass der Heilige Geist gleichsam der Überbegriff ist, unter den die nachfolgend aufge-
zählten Artikel fallen: Kirche, Sündenvergebung, ewiges Leben haben mit dem Geist zu
tun, gehören zum Geist dazu.
Das entspricht auch der Struktur, die wir bisher bei den anderen beiden trinitarischen Per-
sonen kennengelernt haben: beim Vater wird auch dessen Werk und Wirken genannt,
nämlich, dass er der allmächtige Schöpfer des Himmels und der Erde ist; ebenso wird
beim Sohn ausführlich genannt, was er getan und gewirkt hat: geboren, gelitten, gekreu-
zigt, gestorben, begraben, auferstanden, aufgefahren, sitzt zur Rechten Gottes usw. So ist
es eben auch hier beim Heiligen Geist. All das, was nach dem Bekenntnis zum Geist
folgt, wird als Werk dieses Geistes verstanden. (Die Evangelischen sind deshalb skep-
tisch, weil sie ja dann zugeben müssten, dass die katholische Kirche ein Werk des Heili-
gen Geistes ist.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 164 -

Satz 71: Im Bekenntnis zum Heiligen Geist zählt das Apostolicum dessen öko-
nomische Werke auf: die Kirche, die Eucharistie (communio sancto-
rum), die Taufe (Sündenvergebung) und das eschatologische Heil.

B. Die Werke des Geistes nach dem Apostolicum

Was also sind nach dem Apostolicum die Hauptwerke des Geistes (kurz die drei dort ge-
nannten Werke):

a. Die heilige „katholische“ Kirche


Die Kirche ist das erste und hervorragendste Werk des Heiligen Geistes.
Es fällt auf, dass die Haupteigenschaft des Geistes, seine Heiligkeit, sich bei der Kirche
wiederfindet, da er ja in ihr wirkt. Er ist das Prinzip ihrer Heiligkeit. Aus der Heiligkeit
folgt die „Katholiztät“.
Katholisch heißt „allgemein“, allumfassend.
Der „Apostolische Vater“ Ignatius von Antiochien (35-117) verwendet erstmals den
Ausdruck für die Bezeichnung der Kirche: „denn da, wo Jesus Christus ist, ist auch die
katholische Kirche“ (Ad Smyrnäos 8,2)
In der Kirchengeschichte gibt es verschiedene Interpretationen, warum die Kirche „all-
gemein“ genannt wird:
1. wegen der Allgemeinheit der Lehre, die in ihr verkündet wird (Cyrill von Jerusalem,
Catecheses) Katholisch ist aber auch eine Aussage über die Qualität des Glaubens: er
umfasst die ganze Wahrheit Gottes, die er geoffenbart hat, er „geht auf das Ganze“, da
Gott sich uns ganz geoffenbart hat.
2. wegen der Allgemeinheit aller Tugenden, die in ihr geübt werden (Francisco Suárez im
16. Jahrhundert)
3. wegen der Dauer von Adam bis zum Ende der Welt (Augustinus)
4. wegen ihrer Bestimmung durch Gott, das Leben aller Menschen in allen Lebenslagen
und zu allen Zeiten zu heiligen,
5. wegen ihrer zeitlichen Ausdehnung über die ganze Welt und der Menge ihrer Glieder
aus allen Völkern. Gemeint ist damit aber weniger die geographische Ausbreitung der
Kirche, sondern vielmehr, dass sie alle Dimensionen durchdringt: diachron (durch die
Zeiten und Zeitsphären hindurch) und synchron (also horizontal umfassend), da sie alle
Teilkirche in Einheit zusammenschließt.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 165 -

Satz 72: Die Kirche ist das erste Werk des Heiligen Geistes, sie wird „katho-
lisch“ genannt, weil der Heilige Geist durch sie alles Heil durch alle
Zeiten für alle Menschen in die Geschichte hineinträgt.

b. Communio Sanctorum
Gemeinschaft der Heiligen: Achtung: Lateinisch „communio sanctorum“, hier sind zwei
Übersetzungen möglich:
1.) von „sancti“, die Geheiligten: Kirche faßt die zusammen, die in Glaube und Taufe zu
Christus stehen. Schon Paulus grüßt seine Gemeinden als Heilige. Diese Gemeinschaft ist
nicht bloß eine irdische, sondern umfaßt auch die Sphäre der Ewigkeit; es gibt also eine
himmlische Kirche (Heiligenverehrung; Chorgestühl);
2.) von „sancta“, das Heilige. Das ist die eigentlich korrekte Übersetzung: Gemeinschaft
in den heiligen Sakramenten. „Sancta“ bezeichnet in der Frühkirche die heiligste Eucha-
ristie (auch heute noch: Sanctissimum). Die Einheit der Teilkirchen war dadurch gege-
ben, dass sie Gottesdienstgemeinschaft untereinander haben. (z. B. sandte der Papst nach
dem Gottesdienst einen Teil des konsekrierten Brotes an die römischen Titularkirchen
zum Zeichen der „Communio“). Communio ist dann immer mehr zur Bezeichnung für
die persönliche Begegnung mit Christus im Altarssakrament. — Was hat der Heilige
Geist mit der „Communio sanctorum“ zu tun? Er ist das Band, das alles zusammenhält.
KKK-Kompendium 194: „Was bedeutet der Ausdruck Gemeinschaft der Heiligen? -
Dieser Audruck bezeichnet zunächst die gemeinsame Teilhabe aller Glieder der Kir-
che an den heiligen Dingen (sancta). am Glauben, an den Sakramenten, besonders an
der Eucharistie, an den Charismen und an den anderen geistlichen Gaben…“ – der
Gedanke wird dann weitergeführt zum Teilen der materiellen Güter mit den Bedürfti-
gen.
KKK-Kompendium 195: „Welche weitere Bedeutung hat der Ausdruck Gemein-
schaft der Heiligen? – Dieser Ausdruck bezeichnet auch die Gemeinschaft zwischen
den heiligen Personen (sancti), also zwischen dene, di edurch die Gnade mit dem ge-
storbenen und auferstandenen Christus vereint sind. Die einen pilgern auf Erden; an-
dere sind aus diesem Leben geschieden und werden, auch durch die Hilfe unserer
Gebete, geläutert; wieder andere schließlich genießen bereits die Herrlichkeit Gottes
und treten für uns ein. Alle zusammen bilden in Christus eine einzige Familie, die
Kirche, zum Lob und zur Ehre der Dreifaltigkeit.
Satz 73: Mit „communio sanctorum“ ist ursprünglich die Gemeinschaft in
„Heilgen Sakramenten“ (sancta), vor allem in der Eucharistie gemeint;
später entwickelte sich die Bedeutung der Himmel-und-Erde-
verbindenden „Gemeinschaft der Heiligen“ (sancti).
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 166 -

c. Vergebung der Sünden


Achtung! Welches ist das Sakrament der Sündenvergebung für die frühe Kirche - die
Taufe. Im Nizänokonstantinopolitanischen Symbolum wird das dann ausdrücklich auch
formuliert: „Ich glaube an die eine Taufe zur Vergebung der Sünden“.
KKK-Kompendium 200: „Wie werden die Sünden vergeben? – Das erste und grund-
legende Sakrament der Sündenvergebung ist di eTaufe. Für die nach der Taufe be-
gangenen Sünden hat Christus das Sakrament der Versöhnung oder der Buße einge-
setzt, durch das der Getaufte mit Gott und mit der Kirche versöhnt wird.“
In den ersten 8. Jahrhunderten war man sich viel mehr der sündenvergebenden Wirkung
der Taufe bewußt. Taufe bedeutete für die als Erwachsene Getauften einen Neuanfang
mit dem Bemühen um ein reines und heiliges Leben. Erst als die Kindertaufe allgemein
üblich wird, entsteht im großen Ausmaß das Problem, was machen wir mit denjenigen,
die nach der Taufe nocheinmal schwer sündigen? Also was ist mit den „postbaptismalen“
Sünden, gemeint waren nur die drei Todsünden: Mord (homicida), Ehebruch/Unzucht
(adulteria, fornicatio, moechia) und Glaubensabfall (apostasia).
In der frühen Kirche entwickelte sich dafür das „Bußverfahren“ in 3 Stadien: 1. der Ex-
kommunikation nach dem öffentlichen Sündenbekenntnis (Exhomologese) durch den
Bischof, 2. der Bußzeit, die meist jahrelang dauerte und strenge Übungen vorsah; 3. der
Rekonziliation. Eigenschaften des Bußverfahrens: nur bei schweren Sünden; nur einmal
im Leben; ein Rekonziliierter konnte nicht Kleriker werden; ein Kleriker, der eine schwe-
re Sünde begangen hatte, durfte sein Weiheamt nicht mehr ausüben. — Was hat der Hei-
lige Geist mit der Sündenvergebung zu tun: Er schenkt den Neuanfang, die Abkehr von
der Sünde.
Satz 74: Mit der „Vergebung der Sünden“ ist in der alten Kirche die Taufe ge-
meint; bis zum 8. Jahrhundert gab es für Getaufte, die eine Kapital-
sünde begangen hatten (Mord, Ehebruch und Apostasie) nur die Mög-
lichkeit der folgenschweren Exkommunikationsbuße.

d. Die Auferstehung der Toten und das ewige Leben


Das Apostolicum schließt mit dem eschatologischen Ausblick (Bogen geht vom Schöp-
fergott bis zum Vollendergott). —
Was hat der Heilige Geist mit der Auferstehung und dem ewigen Leben zu tun?
1.) hat der Heilige Geist Christus von den Toten auferweckt: Röm 8,11.
2.) Daraus folgt, dass derselbe Geist, der den Gläubigen verliehen wird, auch für sie das
„Unterpfand“ künftiger Herrlichkeit ist. Unterpfand = Anzahlung! (Sparbuch ist eröffnet!
Jetzt muss man nur noch einzahlen!) So 2 Kor 1,22; 5,5; Eph 1,14. Der Heilige Geist
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 167 -

wird also die Auferweckung wirken, aber mehr noch: der Heilige Geist wird in Gott un-
ser ewiges Leben selbst sein. Ewiges Leben heißt ja, in Gott leben - ohne Langeweile im
beständigen Überraschtwerden von der beseligenden Liebe Gottes. Er selbst ist ja das
Prinzip der unendlichen Liebe in Gott.
Damit sind wir bei der Frage nach dem Wesen des Geistes. Was bzw. wer ist der Geist.
Satz 75: Der Heilige Geist selbst ist die Wirkkraft der Auferstehung Christi und
das „Fluidum“ des Ewigen Lebens.

2. Die Frage nach dem Wesen des Heiligen Geistes

A. Der Heilige Geist – der Namenslose Unbekannte

a. Am Anfang steht die Erfahrung


Worum geht es? — Die Theologie stellt immer die Frage nach dem Wesen einer Sache:
Was ist es in sich, was ist sein innerster Kern, was steckt dahinter. Sicher war es so, dass
am Anfang des Nachdenkens über den Heiligen Geist die Erfahrung des Geistes Gottes
steckt (siehe nachfolgend A.): Die Jünger erlebten zu Pfingsten eine bisher unbekannte
Kraft in sich, eine Kraft vom Himmel, etwas, das zugleich in ihnen und über ihnen war.
Die Dynamik, die sich ihrer bemächtigte erkannten sie als Geschenk Christi selbst. So
gingen sie hin, um im Namen „des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“ zu
taufen (Mt 28). Der Apostel Paulus verabschiedet sich von den Korinthern mit folgendem
Gruß: „Die Gnade des Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft
des Heiligen Geistes sei mit euch allen!“ (2 Kor 13,13).
Man erfährt zuerst das Wirken des Geistes und beginnt dann über sein Wesen nachzu-
denken (wie bei Christus: zuerst Phänomen, dann wird über das „Dahinter“ reflektiert).
Ergebnis wird sein: der Geist ist ganz Gott, ist in Gott, ist Gott selbst, ist die „dritte gött-
liche Person“. Das Konzil von Konstantinopel 381 wird dieses Dogma, diese Glaubens-
erkenntnis ausformulieren. - Freilich: gerade der Heilige Geist bleibt für die Theologen
immer das größte Geheimnis, haben sie doch für ihn nicht einmal einen eigenen person-
spezifischen Namen gefunden: ganz Gott ist Geist und ganz Gott ist heilig. Er ist und
bleibt der große Unbekannte, und genau das ist seine Besonderheit. — Wir wollen die
einzelnen Schritte kurz nachvollziehen.

b. Die Unfasslichkeit in Person


1. Vergleichen wir die Pneumatologie mit der Christologie: Von CHRISTUS bekennen
wir, dass er Gottes Sohn in Menschengestalt, fleischgewordene göttliche Person ist: Wah-
rer Gott und wahrer Mensch. Schon das ist eine in sich schwer vorstellbare Glaubens-
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 168 -

wahrheit: der ewige Sohn in Menschengestalt: der Logos, das Wort, das fleischgeworden
ist! Aber bei Jesus Christus haben wir immer einen Vorteil: Wir können ihn uns vorstel-
len, er ist anschaulich, weil er ja mensch- und menschlich geworden ist. Als Mensch hat
er an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Kultur gelebt,
er hat konkrete Taten und Wunder vollbracht und konkrete Worte formuliert. Jesus ist
fassbar, vorstellbar, anschaulich. Durch Jesus ist sogar das Bilderverbot des Alten Testa-
mentes aufgehoben! Deshalb ist es richtig, wenn wir in unseren Wohnungen und Kirchen
Bilder von Jesus Christus verehren, sei es als Kruzifix oder als Herz-Jesu-Bild.
2. Doch beim Heiligen Geist müssen wir auf diese Anschaulichkeit verzichten. Hans Urs
von Balthasar hat ihn den „Unfaßbaren jenseits des Wortes“ genannt. Wir, die wir uns so
gerne etwas vorstellen, müssen beim Heiligen Geist mit unserer Phantasie kapitulieren.
Schon in der Schrift gibt es nur Bilder von ihm, Symbole seines Wirkens: Sturm und
Feuerzungen am Pfingsttag, Taube bei der Taufe Jesu im Jordan, Salböl und Handaufle-
gung in der Liturgie. Ich finde es schade, dass das Symbol der Taube sich so in den Vor-
dergrund gedrängt hat. Freilich findet sich dieses Bild im Evangelium, wo von der Taufe
Jesu erzählt wird. Aber dort heißt es nur, dass der Geist „wie eine Taube“ auf Jesus he-
rabgekommen ist. Er ist nicht als Taube gekommen, sondern wie ein Taube. Der Geist
hat nicht die Gestalt einer Taube, sondern es geht um die Spontaneität, das Überraschen-
de! Und: Es geht darum, dass der Geist von oben kommt. Er ist der, der vom Himmel her
über uns hereinbricht, überraschend und unerwartet! (Jeder, der schon über den Markus-
platz in Venedig gegangen ist und plötzlich von einer Taube als Landeplatz auserwählt
worden ist, weiß, warum die Taube hier Symbol des Geistes Gottes ist!)
3. Die vielen Bilder zeigen: der Geist ist unfaßlich! Auch die Theologie, die doch soviel
sinniert und spekuliert, konnte den Heiligen Geist nicht auf eine schlüssige Formel brin-
gen. Auf dem ersten ökumenischen Konzil, das Kaiser Konstantin im Jahre 325 in das
kleinasiatische Dorf Nicäa einberufen hatte, wußte man sehr viel über den Sohn zu sagen:
über das, was die 2. göttliche Person ist: „Gott von Gott, Licht vom Licht, gezeugt nicht
geschaffen, eines Wesens mit dem Vater…“ Man formulierte ein eigenes Glaubensbe-
kenntnis, das wir heute noch. Also sagte man viel über den Sohn. Doch als man dann
schließlich zum Heiligen Geist kam, verstummte man: Das berühmte Glaubensbekennt-
nis von Nizäa endet mit dem schlichten Satz: „Und wir glauben an den Heiligen Geist.“
Punkt! Aus! Ende! Erst ein halbes Jahrhundert später hat dann das 2. Ökumenische Kon-
zil, das 381 in Konstantinopel stattfand, dieses peinliche Schweigen beseitigt und das
Credo erweitert: „Und wir glauben an den Heiligen Geist, der Herr ist und lebendig
macht, der aus dem Vater (und dem Sohn) hervorgeht, der mit dem Vater und dem Sohn
zugleich angebetet und verherrlicht wird, der gesprochen hat durch die Propheten.“129

129 DH 125; Gotteslob 356


Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 169 -

4. Die Unfaßlichkeit des Heiligen Geistes bringt uns immer in Verlegenheit. Das zeigt
sich sogar am Namen, den die 3. göttliche Person trägt: Wir nennen ihn „Heiliger Geist“,
doch wenn man es genau nimmt, ist das eigentlich nicht wirklich ein Eigenname für eine
göttliche Person! Warum? Heilig ist auch der Vater und heilig ist auch der Sohn! Und
göttlicher Geist ist auch der Vater und göttlicher Geist ist auch der Sohn vor seiner
Menschwerdung. Wir müssen zugeben, dass wir eigentlich nicht einmal einen zünftigen
Namen für den haben, den wir „Heiliger Geist“ nennen.
5. Die Unfaßlichkeit wird auch durch eine sprachliche Auffälligkeit unterstrichen, das ist
die offensichtliche „Geschlechtslosigkeit“, die ihm zu eigen ist. Im Deutschen sagen wir
„der Geist“ mit männlichem Artikel. Im Griechischen, also in der Sprache, in der das
ganze Neue Testament verfaßt ist, heißt Geist „to pneuma“, das ist ein Neutrum, „das
pneuma“. Auch schon in den hebräischen Texten des Alten Testaments ist vom Geist die
Rede, und das entsprechende hebräische Wort ist „ruach“, das wieder ist ein Femininum:
„die ruach elohim“. Etwa bei der Schöpfung: „Die ruach Gottes schwebte über der Ur-
flut“ (Gen 1,2). Der Heilige Geist erweist sich also sogar von dieser Auffälligkeit her als
unfaßbar! Er ist „der-die-das“ in einem: die ruach, das pneuma, der Geist. Vielleicht ist
das sein Wesen, dass er jedes ist und alles zugleich und doch weder noch. Jedenfalls sehr
kompliziert!
Satz 76: Ein Merkmal des Heiligen Geistes ist die begriffliche Unfasslichkeit, die
sich schon in der Bibel darin ausdrückt, dass der Heilige Geist nur in
Metaphern beschrieben wird.

B. Die Erfahrung des Geistes Gottes

a. Geisterfahrung im AT
Im Alten Testament ist der Geist Gottes noch nicht als Person geoffenbart, sondern er
erscheint als eine göttliche Kraft: Geist Gottes bezeichnet im AT die Kraft des Wirkens
Gottes in der Welt. Geist = die ruach JHWH; griechisch = to pneuma. Wo und wie wirkt
im AT der Heilige Geist?
1. in der Schöpfung! Die Schöpfung von Himmel und Erde ist freies Werk Gottes (anders
als in den babylonischen Schöpfungsmythen, wo sie aus einem Götterkampf hervorgeht).
Über der Urflut bereits schwebt die Ruach Gottes (Gen 1,1). Man hat hier wohl an das für
die Orientalen wichtige Phänomen des Windes zu denken: Wind fächelt Kühlung zu,
bringt den Regen (Vorbote des segensreichen Gewitters). So heißt es Ps 104,30: „Sendest
du deinen Odem aus, so entstehen die Lebewesen neu, und du erneuerst das Antlitz der
Erde.“ Zu denken ist hier auch an Gen 2,7, wo Gott dem Menschen das Leben einhaucht.
Das Atmen ist ja Zeichen dafür, dass jemand lebt. Geist bedeutet also hier, dass Gott mit
seinem Leben die Welt durchformt. — Weil der Geist also in der Schöpfung wirkt, des-
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 170 -

halb sind seine Symbole auch geschöpfliche Zeichen: Wind, Feuer, Sturm, Luft, schließ-
lich Taube.
2. in den Führern des Volkes: Die Leitung des Volkes ist eine wichtige Sache, vor allem
für Israel, das sich ja seit Mose als „Theokratie“ versteht, als von Gott geleitet und re-
giert. Gott lässt seinen Geist über die Führer des Volkes kommen. Drei Beispiele: 1.) bei
den Richtern: immer wieder heißt es: der Geist kam über diesen und jenen (Samson, Gi-
dion, Jephte usw.), es heißt sogar Ri 14,6 und 1 Sam 11,6, dass er sich auf jemand „stürz-
te wie ein Adler“. 2.) die Könige: sie werden zum Zeichen ihrer Geistgeleitetheit gesalbt.
Von daher ist Öl das Zeichen der Geisterfülltheit (wohl deshalb, weil es in die Haut ein-
zieht). 3.) Man erwartet als endzeitlichen Heilsbringer den Messias, den Gesalbten Jah-
wes, - Hinweis auf seine Geisterfülltheit! Jes 11,2 sagt ausdrücklich, dass der Geist des
Herrn auf ihm ruht. Als Jesus diese Worte in der Synagoge von Kapharnaum vorliest,
sagt er, dass sie an ihm in Erfüllung gegangen sind (Lk 4,18).
3. in den Propheten (hebr.: nebiim): Achtung: im Nizänokonstantinopolitanum heißt es
ausdrücklich vom Geist: „qui locutus est per prophetas!“ Das Wort das die atl Propheten
verkündigen, ist nicht ihr Wort, sondern Gottes Wort, und sie müssen es oft gegen ihr
eigenes Wollen und zu ihrem eigenen Nachteil verkündigen. Oft wird das Ergriffenwer-
den vom Geist als ekstatischer Zustand beschrieben; es gibt dafür auch den Ausdruck:
„von der Hand Gottes ergriffen werden“.
4. in allen Menschen: Im AT wird bereits die Ausgießung des Gottesgeistes auf alle Men-
schen angekündigt: Joel 3,1; Ez 36,25. Gerade Ezechiel, der im Exil den Israeliten Trost
zu spenden hat, verkündet diese universale Geistausgießeung. Der Geist wird alles neu
machen (Ez 37: Totengebein wird belebt.)
Zusammenfassung: im AT ist der Geist das irdische „Fluidum“ des Wirkens Gottes, die
Vermittlung des Wirkens Gottes hinein in die Welt. Dies bleibt im Nizänokonstantinopo-
litanum als Glaubenswahrheit formuliert: „qui locutus est per prophetas“.
Satz 77: Im Alten Testament ist der Geist Gottes (ruach, LXX: pneuma) das
machtvolle Wirken Gottes in die Welt hinein, wobei die Personalität
hier freilich noch nicht deutlich wird.

b. Gottes Geist im Neuen Testament


1. Der Geist bei der Empfängnis. Am Beginn des irdischen Lebens Christi steht das Wir-
ken des Heiligen Geistes in der Jungfrau Maria. Beide Kindheitsevangelien unterstrei-
chen diese Tätigkeit des Geistes (Mt 1,20; Lk 1,35). - Es gibt vom AT bis hin zu Johan-
nes dem Täufer Kinder, die auf wunderbare Weise zur Welt kommen (etwa Samson, eben
Johannes der Täufer usw.). Diese Kinder werden dann meist Gott geweiht. ANDERS
aber ist es bei Jesus: Er ist schon vor seiner Geburt nicht „auf Gott hin“ sondern „von
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 171 -

Gott her“: d. h. nicht aufgrund einer Weihe ist er heilig, sondern sein Sein selbst geht
unmittelbar aus dem Heiligen Geist hervor, ist von sich aus „heilig“ (Lk 1,35). — Frei-
lich zeigt die Empfängnis auch das Zusammenwirken von Gott und Mensch (Szene von
Nazaraeth ist die Schlüsselszene aller Mariologie und Anthropologie): Fiat des Menschen
ist Bedingung der Möglichkeit von Wirken Gottes.
2. Der Geist bei der Taufe. Schlüsselszene des Evangeliums ist die Initiation Christi
durch Johannes den Täufer. Irrlehre der Adoptianer, wonach Jesus erst hier zum Messias
geworden sei. Achtung: hier geht es nicht um eine Berufung, sondern schon um eine Of-
fenbarung dessen, was bereits ist. Nicht um ein Werden-zu-Etwas, sondern um ein Zei-
gen-daß-man-etwas-ist (Epiphanie). ——— Taube: ist Vision des Himmels (plötzlich,
unerwartet). Ist auch schon Hinweis auf die Taufe, die Jesus spenden wird: ist eine
Himmlische Taufe mit Heiligem Geist, nicht bloß mit Wasser. Mt 3,11 sagt der Täufer,
dass Jesus mit Feuer taufen werde.
3. Der Geist in Jesus: Jesus wirkt selbst im Heiligen Geist. Schlüsselszene ist Lk 4,14:
Synagoge von Nazaret, wo Jesus Jes 61 vorliest: „Der Geist des Herrn ruht auf mir!“ -
schon vorher: Geist führt Jesus in die Wüste. ——— Balthasar weist darauf hin, dass
Jesus in seinem irdischen Leben „vom Geist verfügt wird“. Der Geist ist das „Zwischen“
in seinem Verhältnis zum Vater. Dieses Zwischen kann für den Inkarnierten verschiedene
Formen annehmen: der Liebe, der Nähe, aber auch der Distanz, ja sogar der Verlassen-
heit. Aber immer ist das Zwischen der Geist Gottes selbst. (Balthasar: Geist ist zur Regel
über dem Sein Jesu geworden. Jesus wird vom Geist verfügt.)
4. Jesus verheißt den Heiligen Geist. Geistverheißungen in den johanneischen Abschieds-
reden. „Parakletos“ = Anwalt, Beistand, Verteidiger, Tröster… Jesus umreißt auch die
Aufgaben dieses „anderen Beistandes“: wird in die ganze Wahrheit einführen.
5. Jesus verfügt über den Heiligen Geist. Der Auferstandene hat sich vom Geist des Va-
ters führen lassen. In seinem Tod aber haucht er den Liebesgeist in die Welt aus: Joh
19,30 „exepneusan“: Johannes möchte die totale Epiphanie und zugleich den Ursprung
aller Sakramente in der Erhöhung am Kreuz sehen: Blut, Wasser, Geist! (Ignace de la
Potterie: = Versöhnung, Taufe, Geisterfülltheit). Die Ausgießung des Geistes Gottes „ü-
ber alles Fleisch“ (Ez 37) beginnt am Kreuz, wo das Sündenfleisch besiegt ist. Achtung:
Jesus haucht den Geist mit seiner Menschheit aus! D. h. auch, dass die Christen fähig
sein werden, diesen Geist mit Jesus auszuhauchen. Die ersten Taten des Auferstandenen
ist auch das Hauchen des HG.
6. Der Geist Gottes bringt die Kirche hervor. So will es die lukanische Darstellung (Lk,
Apg). Wichtig ist Lukas die Identität des Geistes mit dem Geist Christi. Schildert die
Verbindung zwischen Christi-Himmelfahrt - 9 Tage - pfingstliche Geistausgießung. -
Wichtig ist für Lukas auch die Identität zwischen Israel und der Kirche (Hymnus: nos
verus Israel sumus!) Nur: die Kirche steht in der Kraft des Heiligen Geistes!
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7. In der Kirche wirkt der Heilige Geist mit vielen Charismen! Die Urkirche ist der Ort
der Erfahrung des Heiligen Geistes. Paulus spricht vom „Leben im Geiste“ (Gal 2,20;
Röm 8,1), ebenso wie er vom „Leben in Christus“ spricht Paulus ist überhaupt der Lehrer
der Gnade und des HG.
Achtung: Unterscheidung in charis - charisma: grundlegende Gnade des „In-Christus-
Seins“ ist „charis“. „Charismen“ hingegen sind besondere Gnadengaben: Lehre, Heilung,
Glossolalie, Prophetie, Predigt… dazu die „höheren Gaben“ des Glaubens, der Hoffnung
und der Liebe (1 Kor 13). Die paulinische Pneumatologie ließe sich hier weiter fortset-
zen. Wichtig: Paulus lesen! ---- wäre höchst interessant diese beständige paulinische
Geist-Dialektik aufzurollen: zum einen ist der Geist in uns, zum anderen über uns (Im-
manenz - -Transzendenz); zum einen sind wir schon, zum anderen müssen wir erst wer-
den (Indikativ - Imperativ; werde, was du bist); zum einen ist es der Geist aller, zum an-
deren gibt er den einzelnen besondere Gaben (Individualität - Kollektivität).
8. Der Heilige Geist ist ein christologischer Geist! Das ist heute wichtig zu betonen, dass
der Heilige Geist von Christus kommt und zu Christus hinführt. Nicht jeder Geist ist
schon der Geist Christi, es gibt auch den Geist des Antichristen. Heiliger Geist wird an
seiner Beziehung zu Christus gemessen: ob er in das Evangelium hineinführt oder von
ihm wegführt. Unterscheidung der Geister!
Satz 78: Der Heilige Geist ist der Geist Jesu Christi und kann von Christus
nicht getrennt werden. Vom erhöhten Christus in die Welt gehaucht,
verwirklicht er die Christus-Gestalt in verschiedenen Dimensionen: in
der Gemeinschaft Kirche, in jedem einzelnen Gläubigen, durch die
Kraft der Sakramente usw.

C. Das Wesen des Heiligen Geistes nach dem Glauben der Kirche

a. Nach Nikaia: Was ist mit dem Geist?


1. Wir haben bisher - streiflichtartig - dargestellt, was die Schrift über den Geist sagt.
Jetzt stellen wir die eigentliche dogmatische Frage nach dem Wesen des Geistes. Im NT
finden sich ja - für unsere Ohren selbstverständliche Nennungen von „Vater, Sohn und
Geist“ (Mt 28,19; 2 Kor 13,13). Das kann darüber hinwegtäuschen, dass es einer langen
theologischen Entwicklung bedurft hat, bis deutlich herausgearbeitet war, was und wer
denn da eigentlich gemeint sei. - Wir haben das schon in der Christologie gesehen, dass
sich vom Osterphänomen weg die ganze Lehre von der Präexistenz des göttlichen Sohnes
entwickelte. So ist es auch beim Geist: das Leben in der Urkiche ist problemlos pneuma-
tisch; er wird erfahren usw. Erst allmählich stellt man sich überhaupt erst die Frage: Was
ist denn der Geist, welches Wesen hat er?
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 173 -

Hier haken wir ein: Repetitio: Nikaia 325. Homoousios; aus der Substanz des Vaters…
Damit ist das immanente Verhältnis von Vater und Logos definiert.
Aber wie steht es mit dem Heiligen Geist? Die Pneumatologie entwickelt sich gleichsam
im Schlepptau des „homoousios“ von Nikaia 325. Dort lag das ganze Problem auf der
Frage nach dem Wesen des Sohnes. Deshalb begnügten sich die 318 Väter mit dem lapi-
daren Bekenntnissatz „Wir glauben auch an den Heiligen Geist.“ Und nicht mehr! (DH
125). Daraus ist schon ersichtlich, dass in den nächsten Jahrzehnten, als bekanntlich hef-
tig um das Homoousios gestritten wurde, hier eine Klärung notwendig war. Ebenso wie
man fragte: ist der Sohn nur Geschöpf? fragte man jetzt auch: Ist der Geist nur Geschöpf?
Für Arius war selbstverständlich auch der Geist nur ein Geschöpf. Es gab im Orient eine
eigene Gruppe, welche die „Geist-diebe“ (Pneumatomachen) genannt wurden; fälschlich
auch Macedonianer. (Jemand hängte dem ihm mißliebigen Patriarchen Macedonius diese
Irrlehre an, obwohl er gar nichts damit zu tun hat! Macedonius † 360). Gefahr war im
Verzug: Ist der HG nur ein Mittelwesen zwischen Gott und Geschöpf? Dann aber be-
kommt der Mensch nur eine geschöpfliche Gabe geschenkt und nicht Gott selbst? Wie
soll der Mensch dann geheiligt werden.
Heftigster Kämpfer gegen Arius war Athanasius. Verteidigt die Gottheit des heiligen
Geistes. Wichtiger aber sind die drei Kappadokier: Basilius, Erzbischof von Caesarea,
Gregor von Nazianz, sein Freund; Gregor von Nyssa, sein Bruder. Geistiger Kampf ge-
gen die Pneumatomachen. Sie entwickeln die geniale Formel: 1 Usia in 3 Hypostasen.
Basilius: „De Spiritu Sancto“

b. Die pneumatomachische Herausforderung und das Constantinopolitanum


1. Pneumatomachen oder Macedonianer = Leugnung der Gottheit des Heiligen Geistes.
Die Anfänge der pneumatomachischen Auseinandersetzungen reichen in den Anfang des
4. Jahrhunderts. Es ging um die Frage, um die nizänische Homousie des Logos auch dem
Geiste zuzugestehen sei. Die Pneumatomachen behaupten, die Doxologie, in welcher der
Geist mit dem Vater und Sohn gleichgeordnet ist sei falsch. Der Geist stehe nicht „ne-
ben“ Vater und Sohn, sondern er sei deren Kraft, er sei in ihnen. Interessant ist, daß sich
die Peumatomachen als strenge Nizäner ausgeben! Namen der Häretiker sind hier kaum
merkenswert, Macedonius (Patriarch von Konstantinopel) wurde die Irrlehre nur in die
Schuhe geschoben („Macedonianer“). Basilius nennt als Hauptvertreter Eustathius von
Sebaste. Gegner der Pneumatomachen sind Athanasius und vor allem Basilius mit seiner
Schrift „De Spiritu Sancto“.
2. Die einzelnen Facetten dieses Streites sind uninteressant, von dogmatischem Interesse
ist vor allem die Lösung, welcher er zugeführt wurde. Zunächst wird immer wieder auf
das Taufmandat in Mt 28 verwiesen. Die bloß private Bekämpfung der Pneumatomachen
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 174 -

ist aber schon aus dem Grund nicht ausreichend, da das Nizänum tatsächlich die Stellung
des Geistes offengelassen hat. Die unbedeutenden Pneumatomachen tragen nur zum Wei-
terdenken bei. Schon 374 holt Papst Damasus (†384) das in einem Brief an die Bischöfe
des Ostens nach (DH 144f.). 381 kommt es durch die Einberufung von Kaiser Theodosi-
us des Großen zur Versammlung von 150 Bischöfen in Konstantinopel, eigentlich aus
politischen Gründen; es geht um die Vorangstellung Konstantinopels vor Rom (dieser
Kanon wurde von Rom nie anerkannt). Erst das Konzil von Chalkedon (451) hat diese
Versammlung anerkannt und somit zum 2. ökumenischen Konzil erhoben.
3. Dort wird es als die „Fides“ der 150 Väter von Konstantinopel vorgetragen. Während
das Nizänum mit der lapidaren Feststellung endet: „Und an den Heiligen Geist“, ist der
dritte pneumatologische Abschnitt erweitert. Es werden folgende Aussagen über das
● „Und [wir glauben] an den Heiligen Geist, den Herrn [griechisch: Kyrios] und Le-
bensspender,
● der aus dem Vater [lateinisch: qui a Patre procedit]
So lautet der Text von 381, erst ab dem 8. Jahrhundert fügt der Westen hinzu: „qui a
Patre Filioque procedit“, „der vom Vater und dem Sohn ausgeht“. Seit 1014 defini-
tiv.
● der mit dem Vater und dem Sohne zugleich angebetet und mitverherrlicht wird,
● der durch die Propheten gesprochen hat…“
Die Anfügung der Artikel über die Kirche, die Taufe und Sündenvergebung, die Aufer-
stehung usw. sind nach Henri de Lubac Ausfaltungen dieses pneumatologischen Artikels.
Ohne Zweifel handelt es sich nicht bloß um den Text des Nizänums plus pneumatolo-
gischer Zusatz, da ja ein wichtiger antiarianischer Zusatz weggelassen wurde (tout estin:
ek tes ousias tou patros). Harnack meint, man habe in Konstantinopel den zweiten Ver-
such eines Symbolums gewagt, das Symbolum von Konstantinopel sei also etwas völlig
Neues. Nun, im Großen aber ist die Fides Konstantinopolitana die Erweiterung der Fides
Nicäna, weshalb der Name, den man ihm gegeben hat „Symbolum Nicaenoconstantino-
politanum“ mit Recht besteht. Auch schon deshalb, weil das Constantinopolitanum den
endgültigen Sieg der „fides nicaena“ bedeutet.
4. Das Bemerkenswerte ist, daß die Formel sich von jeder neuen, philosophischen Be-
grifflichkeit frei hält. Alle Ausdrücke sind biblischen Charakters. So werden dem Hl.
Geist die von Paulus schon gebrauchten Titel „Herr“ (2 Kor 3, 17f.) und Lebensspender
(vgl. Röm 8,2; Joh 6,63; 2 Kor 3,6) zuerkannt. Der Titel „Kyrios“ enthebt den Geist dem
Bereich der Kreatur, der Titel „Lebensspender“ wieder besagt eine eminente göttliche
Funktion gegenüber der Schöpfung. Daß der Hl. Geist vom Vater ausgeht, ist aus Johan-
nes (Joh 15,26; vgl. 1 Kor 2, 12). Diese Formel beinhaltet die Ursprungshaftigkeit des
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Vaters für alles innertrinitarische Leben. Die nächste gottheitliche Formulierung, dass der
Geist „mit dem Vater und dem Sohn zugleich angebetet und verherrlicht wird“ ist von
Athanasius übernommen. Die Gleich-Anbetungswürdigkeit nennt man griechisch Homo-
timie (Gleiche Ehre). Achtung: keine philosophischen Begriffe, sondern biblische Begrif-
fe (hervorgehen, angebetet werden, verherrlicht werden…), aber man sagt damit dasselbe
(Homotimie statt Homousie). Mittels der Formulierung von der Homotimie wird auf ge-
schickte Weise die Homousie definiert, ohne den Begriff „homoousios“ für den Geist
verwenden zu müssen: der Geist steht auf der gleichen Ebene wie Vater und Sohn. Damit
ist die immanente Trinitätslehre praktisch ausformuliert: Gott ist eine Substanz; in der
Teilhabe an dieser Substanz sind Vater, Sohn und Geist gleich, auch wenn sie sich da-
durch unterscheiden, dass sie voneinander her und aufeinander zu sind.
5. Im Jahr 382 definiert eine römische Synode unter Papst Damasus (heutiger Damasus-
hof im Vatikan) das, was Konstantinopel gelehrt hat:
„Wir belegen mit dem Bann, die nicht mit allem Freimut bekennen, der Heilige Geist
besitzt mit dem Vater und dem Sohn eine und dieselbe Macht und Wesenheit (sub-
stantia). Wer nicht bekennt, dass der Heilige Geist, wie er Sohn, wahrhaft und eigent-
lich aus dem Vater ist, aus der göttlichen Wesenheit und wahrer Gott, der irrt im
Glauben…“ (DH 153)
Zusammenfassung: Mit Nikaia und Konstantinopel ist der christliche Gottesbegriff defi-
niert: Christen verstehen sich als „trinitarische Monotheisten“: der eine Gott hat drei „E-
benen“, in denen er seine umfassende Göttlichkeit entfaltet: die Unendliche Schöpfer-
macht des Vaters; das konkrete Sich-Offenbaren in der Gestalt Jesu von Nazareth; das
Allgegenwärtigmachen der Liebe Gottes durch den Heiligen Geist: ein Gott in drei Per-
sonen.
Satz 79: Das 2. Ökumenische Konzil in Konstantinopel definiert gegen die Irr-
lehre der Pneumatomachen 381 die Homotimie des Heiligen Geistes
und seine Personalität durch Erweiterung des Symbolum von Nikaia.

c. Der Streit um das Filioque


Achtung: Es gibt im Nicänokonstantinopolitanum 2 Formulierungen, die das Verhältnis
des Geistes zu den anderen Personen definieren wollen:
„Und an den Heiligen Geist, den Herrn und Lebensspender, der aus dem Vater und dem
Sohne hervorgeht, der mit dem Vater und dem Sohne zugleich angebetet und mitverherr-
licht wird, der durch die Propheten gesprochen hat…“ (DH 150
1. „der aus dem Vater hervorgeht“ – „qui a Patre procedit“
2. „der mit dem Vater und dem Sohn zugleich angebetet und mitverherrlicht wird“
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ad 2.) Hier wird die Gottheit des Geistes abgesichert mittels der Formulierung der Homo-
timie: der Geist ist nicht weniger als Vater und Sohn, das er mit diesen angebetet und
verherrlicht wird.
ad 1.) Das Konstantinopolitanum hatte die Gottheit des Geistes schützen wollen. Dazu
hatte es formuliert, dass der Geist als innergöttliche Person „aus dem Vater hervorgeht“.
Das entspricht einer Formulierung in Joh 15,26, wo es in der lateinischen Vulgata heißt:
„a Patre procedit“. Das Gottesbild schaut so aus: ein Vater und dieser Vater hat gleich-
sam zwei Arme (Irenäus von Lyon): den Sohn und den Geist. Der Sohn wird gezeugt, der
Geist wird gehaucht.
ABER: im Westen hatte Augustinus (†430) dieses Gottesbild sehr scharf durchdacht und
war auf einen logischen Fehler gestoßen: Der Vater kann nicht zwei gleichartige Hervor-
gänge haben, die müßten nämlich - aufgrund der Einfachheit Gottes - miteinander iden-
tisch sein. D. h. die Zeugung und die Hauchung des Sohnes wären voneinander nicht un-
terschieden. Daraus folgert er: Der Geist muss in einer anderen Weise hervorgehen als
der Sohn, das ist nur denkbar, wenn er „von beiden“ hervorgeht (a Patre et Filio; bzw. a
Patre Filioque).
Das war das Denken des Augustinus, das im Westen über die Völkerwanderungszeit hin
überaus populär wurde. Augustinus war der Kirchenvater des Westens. Zu diesem Denk-
problem kam ein politisches: Ostrom (Konstantinopel war ja „Roma secunda“) trennte
sich immer mehr vom Westen bzw. umgekehrt. Die Kaiser saßen in Konstantinopel, hat-
ten ihre Exarchen in Ravenna. Entfremdung. Italien ist sich selbst überlassen. --- Ändert
sich als ab dem 7. Jh. die Franken mit den Karolingern auf den Plan treten. Spaltung ver-
größert sich. Man streitet zudem über Äußerlichkeiten, da die Liturgien sich unterschei-
den (Griechen: nehmen gesäuertes Brot für Eucharistie usw.)
Das Filioque im Credo taucht übrigens seit dem 7. Jh. in Spanien auf, das vor allem von
der Theologie des Augustinus beeinflusst war. Die Karolinger forcieren die Hinzufügung
„Filioque“ zum Glaubensbekenntnis, das in den fränkischen Messen gebetet wird (nicht
aber in Rom). Der Osten protestiert, sieht in der Hinzufügung eine Häresie. Tatsächlich
hatte das Konstantinopolitanum verboten, etwas hinzuzufügen. „Filioque“ setzt sich im
Westen durch! 1014 wird Heinrich II. von Benedikt VIII. zum Kaiser gekrönt. Bis dato
wird das Symbolum in der römischen Liturgie nicht gebetet. Heinrich II. zwingt den
Papst dazu. Papst wehrt sich mit dem Argument: die römische Kirche hat noch nie im
glauben geirrt, deshalb muss sie nicht das Glaubensbekenntnis beten. Papst setzt sich
durch und das Nizänokonstantinopolitanische Symbolum wird erstmals - samt dem Filio-
que - gesungen. Und wird zugleich „Anlass“ für das Große abendländische Schisma
1054.
Für die Ostkirche ist das Filioque bis heute ein Grund, die Westkirche der Häresie zu be-
schuldigen. Heute gibt es freilich Konvergenz; in den unierten Kirchen der Catholica
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wird das Filioque nicht mehr gebetet. Ist auch nicht notwendig. Schon 810 hatte Papst
Leo III. erklärt, das Filioque sei rechtgläubig aber überflüssig. Im Prinzip geht es nur um
zwei verschiedene Spekulationen über das innergöttliche Wesen.
Denkerisch gesehen hat freilich Augustinus recht! (V►S)►Geist;
Ostkirche: V►durch den Sohn►Geist. Der Geist kommt nicht ohne Sohn, sondern durch
den Sohn. Im Prinzip haben beide dasselbe Anliegen: der Sohn muss in irgendeiner Wei-
se am Hervorgang des Geistes beteiligt sein: der Geist ist nicht ein x-beliebiger, sondern
einer, der Christus verherrlicht, Christus in die Herzen der Menschen trägt.
Schluß: Die westliche Lehre vom Heiligen Geist wird 1274 auf dem 2. Konzil von Lyon
ausformuliert: Vater und Sohn bilden ein einziges „Hauchprinzip“ (unicum spirationis
principium). Das heißt auch: Vater und Sohn sind sosehr eins in der Liebe, dass aus ihnen
der Geist hervorgeht. Richard von St. Viktor wird deshalb sagen, dass die Trinität analog
ist dem Verhältnis von Mann-Frau-Kind.
Satz 80: Die westliche lateinische Kirche fügt im Laufe der Zeit das „Filioque“
in das Symbolum Nicänoconstantinopolitanum ein, um damit die chris-
tologische Dimension des Geistes zu betonen: Der Heilige Geist geht
von Ewigkeit wesenhaft aus der Einheit von Vater und Sohn, und nicht
bloß aus dem Vater allein, hervor.

D. Annäherungen an den Heilgen Geist als „Wir-Person“ der immanenten


Trinität

a. Der Heilige Geist als ewig-neue Einheit von Vater und Sohn
1. Wer ist der Heilige Geist? Zunächst ist bei aller Unbegreiflichkeit des Geistes festzu-
halten, dass der Heilige Geist Gott ist. Wir nennen ja vieles „Geist“, da gibt es ein breites
Begriffsspektrum: Den „Zeitgeist“, der heute alles dominiert; den „Weltgeist“ Hegels,
der die Selbstentwicklung des Göttlichen im endlichen Bewußtsein bedeutet. Goethe hat
durch seinen Zauberlehrling den modernen Menschen darauf hingewiesen, dass manche
„Geister“ beschworen werden könnten, die man dann nicht mehr los wird. Im weltlichen
Bereich gibt es die „Begeisterung“, oft auch für Dinge, die es nicht wert sind. Viele be-
schwören heute wieder Totengeister. In der Kirche redet man viel vom „Geist“ des Kon-
zils. Aber auch ganz ernsthaft: Von uns selbst glauben wir, dass wir aus einer Geistseele
und einem materiellen Leib bestehen. Und der Glaube der Kirche lehrt, dass es immate-
rielle Geister gibt, die in der Anschauung Gottes leben, das sind die heiligen Engel. Nicht
vergessen dürfen wir die Ungeister, die es auch gibt, das sind die reinen Geister, deren
Wesen das Verwirren und Verkehren ist: das ist der Durcheinanderwerfer „Diabolos“ mit
den gefallenen Engeln.
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Es gibt also viel, auf das wir den Begriff „Geist“ anwenden. Das, was den Heiligen Geist
von allen unterscheidet, ist, dass er unerschaffen ist, dass er Gott ist. Einzigartig ist der
Heilige Geist unerschaffener ewiger Geist. Alle anderen „Geister“, auch Engel und See-
len, sind geschaffen und deshalb nicht göttlich.
2. Da der Heilige Geist also nicht geschaffen ist, ist er ewiger Gott. Ewig besagt, dass die
Kategorien von Raum und Zeit nicht gelten, dass er diese Kategorien übersteigt, trans-
zendiert. Nur Gott ist ewig, das bedeutet, dass er vor den Zeiten ist. „Bevor“ Gott Him-
mel und Erde erschaffen hat, gibt es ihn schon, den Ewigen. Das klingt selbstverständ-
lich, wird aber meist nicht durchgedacht. Wir wollen über die Ewigkeit Gottes nachden-
ken, dass es Gott „vor der Erschaffung von Himmel und Erde“, vor allen Zeiten gegeben
hat und gibt.
Die Offenbarung durch Jesus Christus zeigt uns nicht nur, dass Gott ewig ist, sondern
auch wie Gott in seiner Ewigkeit ist. Er ist nämlich auch vor der Erschaffung des Kosmos
kein einsamer Gott! Manche Philosophen haben ja gemeint, dass Gott gleichsam notwen-
dig etwas schaffen muß, damit ihm in seiner Ewigkeit nicht langweilig ist! Hegel hat ge-
meint, dass Gott die Welt braucht, damit ihn überhaupt wer anbetet, ohne Welt wäre er
gar nicht Gott, weil niemand davon wüßte. Und in der griechischen Antike haben die
neuplatonischen Denker gemeint, dass Gott zwar ewig ist, aber irgendwann gleichsam
notwendig überfließen muß, schöpfen muß. Man stelle sich den ewigen Gott wie kochen-
de Milch vor, die irgendwann einmal übergehen muß vor lauter innerer Glut. „Bonum
diffusivum sui!“ Das Gute fließt notwendig über! haben sie gesagt.
3. Der Glaube lehrt uns, dass Gott vor dem Schöpfungsakt schon selig und glücklich ist,
und dass er die Welt nicht braucht. Er schafft nicht gezwungenermaßen, sondern frei, aus
Liebe. Warum er wirklich etwas Zeitliches neben seiner Ewigkeit geschaffen hat, bleibt
freilich immer ein Geheimnis! Der Glaube lehrt uns aber, mit Sicherheit zu sagen: Gott
hat sicher nicht deshalb geschaffen, weil er hier irgendeiner Notwendigkeit unterlegen ist.
Der Grund dafür ist, dass Gott von Ewigkeit nicht einsam ist, sondern es gibt in ihm eine
innere Lebendigkeit, das nennen wir: Dreifaltigkeit. Der eine Gott ist von Ewigkeit in
seinem Wesen dreifaltig. Ja, er ist ganz und gar eins, aber diese Einheit selbst lebt in sich.
Wir bezeichnen das als die innere oder ewige Dreifaltigkeit, die „immanente Trinität“.
Die Lehre über diese innere Trinität ist den Gläubigen heute sehr fremd, sie ist auch ein
wenig abstrakt und kompliziert. Wir Zisterzienser hatten sogar das Privileg, am Dreifal-
tigkeitssonntag nicht predigen zu müssen. Und doch ist das Verständnis von der Dreifal-
tigkeit Gottes für jeden, der bereit ist nachzudenken, nicht nur einleuchtend, sondern
gleichsam der Schlüssel aller christlichen Gotteserkenntnis. Um die Dreifaltigkeit zu ver-
stehen, ist es wichtig, dass wir in Gott eine Lebendigkeit, eine Bewegung denken, aber
keinesfalls ein zeitliches Nacheinander. Nichts ist vorher, nichts nachher. Also in Gott ist
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alles in Bewegung, aber völlig zeitlos und raumlos. In der ewigen Einheit des einen gött-
lichen Wesens bewegt sich eine dreifache Liebe, die wir Vater, Sohn und Geist nennen.
4. Jetzt wird es kompliziert, wir wenden nämlich unseren Blick diesem dreifaltigen Lie-
besleben zu: Im Inneren Gottes ist der Vater von Ewigkeit die schenkende Liebe, das rei-
ne Verschenken! Es ist eine berechnungslose Liebe, mit der er sich hingibt. Die Theolo-
gie nennt diese Hingabe „Zeugung“, denn aus ihr geht eine zweite göttliche Person her-
vor, das ist der Sohn. Der Sohn ist von Ewigkeit aus dem Vater gezeugt, er ist nicht ge-
schaffen, wie das der Häretiker Arius behauptete. Bitte aufpassen: Mit „Sohn“ meinen
wir hier noch nicht „Christus“, denn Christus nennen wir den Sohn erst in dem Augen-
blick, wo er Mensch wird und in die Geschichte eingeht. Vor der Menschwerdung ist der
Sohn reine, ewige göttliche Person, wir nennen ihn auch Logos, Wort. Johannes beginnt
sein Evangelium mit der Verkündigung der Menschwerdung. Er sagt: „Und das Wort, der
Logos, ist Fleisch geworden.“ (Joh 1,14) Der innergöttliche Logos wird vom Vater ge-
zeugt, er ist der Gezeugte. Auch dieser Ausdruck findet sich bei Johannes: „monogenes“
(Joh 1,18). Also: Vater und Sohn haben eine Liebe, aber sie sind in der Form dieser Liebe
völlig verschieden: Der Vater ist das reine Verschenken, der Sohn das reine Empfangen.
Aber was empfängt der Sohn? Er empfängt vom Vater ja die verschenkende Liebe, so-
dass er im Empfangen sogleich wieder verschenkt. Der Sohn verschenkt sein Empfangen
dem Vater, wir nennen das: er verdankt sich dem Vater.
Bis jetzt scheint es so zu sein, als würde das göttliche Wesen nur aus zwei Liebenden
bestehen, aus Vater und Sohn. Wichtig ist es zu sehen, dass die göttlichen Personen radi-
kal voneinander unterschieden sind. Man kann sagen, dass der Vater dadurch Vater ist,
dass er nicht Sohn ist. Der Sohn ist dadurch Sohn, dass er nicht Vater ist. Der Vater ist
Verschenken, der Sohn ist Empfangen. Der Vater ist Zeugung, der Sohn ist Gezeugtsein.
Das ist ein entscheidender Punkt in der Lehre über die Dreifaltigkeit, die auf den heiligen
Thomas zurückgeht. Das Konzil von Florenz hat diese Lehre 1442 dogmatisiert130. Sie
besagt: Es gibt in der absoluten Einheit Gottes eine „Opposition“, eine „Differenz“131.
Das stößt uns ziemlich vor den Kopf! Wie ist das möglich: Eine absolute Einheit und in
dieser Einheit eine „Opposition“ von Vater und Sohn?
Und hier kommt etwas ganz Entscheidendes, nämlich die Wahrheit des Geistes! Wir ha-
ben beim Begriff der Einheit immer die Vorstellung von einem eingekochten Brei, wo
alles ganz gleich ist. Wenn wir sagen, Gott ist „eins“, dann denken wir vielleicht die Ein-
heit nach der Art eines milchigen Yin-Yang-Nebels, wo alle Konturen verschwimmen!

130 DH 1330: In Deo „omnia sunt unum, ubi non obviat relationis oppositio“.
131 H. U. v. BALTHASAR, Theodramatik 2/1, 234: „Die hypostatischen Seinsweisen bilden ge-
genseitig die denkbar größte Opposition (sind somit füreinander uneinholbar), damit ihre
denkbar intimste Durchdringung möglich wird.“
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Die Offenbarung lehrt aber das Gegenteil, dass nämlich in Gott die „Opposition“, oder
sagen wir den besseren Ausdruck: das Gegenüber eine Form der Einheit ist! Warum ist
Gott nicht ein Einheitsbrei, sondern das Gegenüber von Vater und Sohn? Die Lösung
lautet: Weil er die Liebe ist (1 Joh 4,8.16). Und Liebe gibt es nur, wo es Gegenüber gibt.
Wir können mit Balthasar sagen: „Nur Getrenntes kann sich lieben!“ Vater und Sohn sind
deshalb voneinander verschieden (in der Richtung, in der sie die Liebe vollziehen; die
Griechen nannten das den „tropos tes hyparxeos“, die Lateiner „relatio“), damit sie völ-
lig eins sein können in der Liebe. Und diese Einheit der Verschiedenen in absoluter Liebe
trägt den Namen Heiliger Geist. Der Heilige Geist ist die Einheit der Verschiedenheit von
Vater und Sohn in der Gestalt einer neuen göttlichen Person.
Satz 81: Der Heilige Geist ist in der immanenten Trinität die Einheit der Liebe
von Vater und Sohn. Das „Wir“ der Liebe von beiden „geht hervor“
(procedit) als personale Einheit von absolut Verschiedenen.

b. Der Vergleich des Geistes mit der Hingabe von Mann und Frau
Wir fragen weiter: Wie ist das in Gott zu denken: Vater und Sohn und der Heilige Geist
als deren Einheit als neue Person?
Ein Vergleich, der sich hier geradezu aufdrängt, ist die Beziehung zwischen Mann und
Frau. Ich muß dazu sagen: Es gab einige Kirchenväter, die in der Mann-Frau-Beziehung
ein Abbild der Dreifaltigkeit gesehen haben, aber die haben sich nicht wirklich durchge-
setzt. „Schuld“ daran ist der große heilige Augustinus, der lieber abstrakt denken wollte,
und der ein viel komplizierteres Bild gefunden hat, um die Dreifaltigkeit zu erklären (Das
ich hier nicht darlegen will). Und weil Augustinus eben ein ganz großer Denker war, hat
die Theologie sich an sein kompliziertes Modell gehalten.
Übrigens war der heilige Augustinus vor 1600 Jahren der erste, der über das innere Leben
der Dreifaltigkeit spekuliert hat. Er hat als erster ein umfangreiches Werk über die ewige
Dreifaltigkeit geschrieben: „De Trinitate Libri XV“. Schon seine Zeitgenossen meinten,
dass er da ein bißchen zuviel über Gott spekuliert hat, und so erfanden sie die bekannte
liebenswürdige Legende: Augustinus geht in Gedanken versunken am Meeresstrand spa-
zieren. Er denkt gerade über die innergöttlichen Hervorgänge nach. Da sieht er ein Kind
am Strand, das Wasser aus dem Meer in eine Grube schöpft, beharrlich, unaufhörlich.
Was machst du denn da, fragt er neugierig. Ich schöpfe das Meer aus. Aber das ist doch
unmöglich! Da antwortet das Kind: Es ist genauso unmöglich, das Meer auszuschöpfen,
wie es unmöglich ist, das Geheimnis der Dreifaltigkeit zu ergründen. Mit diesen Worten
ist das Kind verschwunden. – Ich meine, dass diese Legende nur scheinbar liebenswürdig
ist, sie beinhaltet in Wirklichkeit eine scharfe Kritik daran, dass Augustinus allzuviel ü-
ber das Innere Gottes wissen wollte!
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Jedenfalls hat Augustinus sich mit seiner Kompliziertheit durchgesetzt. Leider kam da-
durch auch das einfachere Bild vom Mann-Frau-Verhältnis in Vergessenheit. Erst heute
entdeckt man langsam dieses Bild wieder, etwa im vorigen Jahrhundert der große Matthi-
as Joseph Scheeben, in unserer Zeit Kardinal Balthasar, im Mittelalter schon Richard von
St. Viktor. Heute nimmt man auch die Stelle in Genesis ernst, wo es heißt: „Gott schuf
den Menschen nach seinem Bilde, als Mann und Frau schuf er sie!“ Uns ist es jedenfalls
eine Hilfe, den Heiligen Geist besser zu verstehen: Mann und Frau sind verschieden, bio-
logisch und psychisch. Warum? Ein Konstruktionsfehler des Schöpfers? Nein! Sie sind
verschieden, weil sie auf Einheit hin angelegt sind. Die Verschiedenheit ist eine Chance,
eine Gnade: sie ermöglicht Einigung, sie ermöglicht Liebe, sie erlaubt ein Einswerden in
der gegenseitigen Hingabe. Ich meine hier nicht nur die leibliche Vereinigung, sondern
die ganzmenschliche, die in einem Bund gründet. Der Bund ist eine geistige Größe, die
zum ganzmenschlichen Zusammenwachsen der beiden führt. Jeder, der ein altes Ehepaar,
das sich zusammengelebt hat, gesehen hat, weiß, was da gemeint ist. Und dieser Bund ist
vergleichbar mit dem Heiligen Geist.
Zurück zu Gott, zu Vater und Sohn. Diese sind deshalb als Personen verschieden, um im
Wesen ganz eins zu sein. Und der heilige Geist? Der Glaube lehrt uns, dass der Heilige
Geist aus dieser Einheit von Vater und Sohn als dritte Gottperson entsteigt. Der Geist
geht aus dem Vater und dem Sohn hervor. Das geistige Einssein von Vater und Sohn „re-
alisiert“ sich plötzlich in Gestalt eines dritten132. So wie aus dem Zweierbund von Mann
und Frau plötzlich ein Drittes entsteigt: das Kind. Jedes Kind bezeugt damit, dass die El-
tern in der Liebe eins sind. Ebenso entsteigt der Geist als Zeuge und Bürge der Liebes-
einheit von Vater und Sohn.
Der Geist geht also von Ewigkeit aus der Liebeseinheit von Vater und Sohn hervor. Das
sind nicht bloß welfremde Spekulationen ohne Bedeutung für die Kirche! Denn genau
um diese Frage, wie der Heilige Geist in Gott hervorgeht, entbrannte ab dem 8. Jahrhun-
dert ein heftiger Streit zwischen den Gelehrten im Westen und den Theologen im Osten.
Im ersten Jahrtausend war die katholische Kirche eins und ungeteilt. Freilich fühlte sich
der Patriarch von Konstantinopel, wo ja die Residenz des Kaisers war, immer ein wenig
benachteiligt gegenüber dem Bischof von Rom und umgekehrt. Und die Historiker sagen
uns, dass diese weltlichen Rivalitäten eigentlich der Motor des Unglücks waren. Der
theologische Streit war nur ein Vorwand. Und worum stritt man sich: Man stritt sich eben
um den Hervorgang des Heiligen Geistes in Gott! Der Osten sagte: Der Heilige Geist
geht nur vom Vater allein aus. Der Westen sagte: Das ist unlogisch! Denn schon der
Sohn geht allein vom Vater aus. Wenn auch der Geist nur vom Vater allein ausgeht, dann
wäre er ja gleich mit dem Sohn.

132 Das Konzil von Florenz spricht davon, dass er aus dem Vater und dem Sohn „wie aus ei-
nem Prinzip durch eine einzige Hauchung hervorgeht“: DH 1300.
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Deshalb meinte man im Westen, dass der Geist in Gott nicht vom Vater allein hervor-
geht, sondern vom Vater und vom Sohn. Das alte Glaubensbekenntnis von Nicäa und
Konstantinopel, das man auf der ganzen Welt betete, sagte aber nur, dass der Geist „vom
Vater ausgeht“ – „qui a Patre procedit“. Im Westen fügte man deshalb einfach ein „und
vom Sohn“, lateinisch heißt das „Filioque“. Natürlich ist das richtiger und logischer: Der
Geist ist ja die Einheit von Vater und Sohn. Beide sind eins in der Liebe, ihre verschen-
kende Liebe und empfangende Liebe bilden eine Einheit. Trotzdem wurde diese Einfü-
gung des „Filioque“ im Osten als Frevel betrachtet. Sie war ein ausschlaggebender
Grund, warum sich die Ostkirche dann im Jahre 1054 von der Gemeinschaft mit dem
Papst trennte. Seither gibt es die Orthodoxie. Diese ist dann freilich, da ihr das Einheits-
prinzip des Papstes fehlte, in viele territoriale Landeskirchen zerfallen. Im Laufe der Zeit
aber haben sich solche orthodoxen Teilkirchen wieder mit der katholischen Kirche unter
dem Papst verbunden, das sind die unierten Ostkirchen.
Wir sehen also, welche Folgen der Streit über den Heiligen Geist schon gezeitigt hat. Üb-
rigens wurde im 1978 approbierten griechisch-katholischen Meßbuch das Filioque im
Credo wieder weggelassen; Papst Johannes Paul II. hat 1981 anläßlich der 1600-Jahr-
Feier des Konzils von Konstantinopel den unierten Ostkirchen gestattet, dass das „Filio-
que“ dort im Glaubensbekenntnis nicht mehr gebetet werden muß, um keinen Grund
mehr zum Ärgernis zu geben. Die Orthodoxen halten uns ja wegen des Filioque für Häre-
tiker und nennen sich deshalb „orthodox“, das heißt übersetzt „rechtgläubig“.
Wieder zurück zum Geist: Er ist also die Einheit von Vater und Sohn in Gestalt einer
neuen Person. Fallen die beiden jetzt in einen Brei zusammen? Ist der Geist der Mixer,
der jetzt alles zu einem Einheits-Teig vermischt? Nein! Heribert Mühlen, Kardinal Rat-
zinger, Hans Urs von Balthasar und andere große Theologen haben den Heiligen Geist
gerne das „Wir“ in Person genannt, die „Wir-Person“. Balthasar formuliert: Der Geist ist
„Person als Gemeinschaft“133.
Satz 82: Die Verschiedenheit von Mann und Frau, die „nach dem Bild Gottes
geschaffen sind“ (Gen 1,25) vereinigt sich in der ehelichen Hingabe, die
als „Neues“ dieser Einheit entsteigt und sie zugleich bezeugt: dem
Kind. Sie ist darin Abbild der Trinität.

c. Der Geist als höhere Einheit in bleibender Verschiedenheit


Etwas sehr wichtiges: Zur göttlichen Form von Gemeinschaft gehört immer die bleibende
Verschiedenheit. Das „Wir“ besteht eben bleibend aus einem „Ich“ und „Du“134. Wenn

133 H. U. v. BALTHASAR, Katholisch 46


134 H. U. v. BALTHASAR, Spiritus Creator 115: Der Geist ist ein „personhaftes ‚Wir‘ jenseits
des Ich-Du von Vater und Sohn als Produkt der Einigung“.
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Mann und Frau zueinander Ja sagen bis zum Tod, so geschieht das auch in einem geisti-
gen Bund, im Geist der Einheit; aber beide hören damit nicht auf, ihre Eigenheiten zu
haben. Aber jetzt jedoch beziehen sie diese ganz auf den anderen hin, sind ganz für den
anderen da. Wir müssen also vom Heiligen Geist bekennen, dass er, gerade indem er die
Einheit von Vater und Sohn ist, deren Verschiedenheit offenhält. Das ist jetzt so kompli-
ziert, dass ich hier lieber das Thema wechsle, denn jetzt müßte ich über die Dialektik des
Heiligen Geistes sprechen. Dialektik heißt, dass der Geist immer das Eine ist, das Andere
und die Einheit von beidem135.
Hier kommen wir zu einem traurigen Kapitel, das aber zeigt, wie wichtig es ist, den Hei-
ligen Geist zu verstehen. Das zeigt auch, dass das Prinzip des Heiligen Geistes nichts ist,
das bloß für die Bücherregale theologischer Fakultäten oder die verstaubten Gehirne
weltfremder Theologen ist. Im vorigen Jahrhundert hat der deutsche Philosoph Gottfried
Wilhelm Hegel († 1830) von der Dreifaltigkeit sein Denksystem abgeschaut: Gott ist der
Eine (Vater), der Andere (Sohn) und der Vereinende (Geist). Freilich hat Hegel überse-
hen, dass über allem in Gott die Einheit der Liebe waltet. Und so hat Hegel aus der Drei-
faltigkeit eine brutale Gesetzmäßigkeit gemacht. Das hegelsche Gesetz lautet, dass alle
Wirklichkeit sich immer zugleich in drei Schritten entwickelt: als These, als Antithese
und als Synthese.
Nun, Hegel selber wäre nicht so gefährlich gewesen, er war ein verschrobener weinlauni-
ger Professor in Berlin, den 1831 die Pest hinwegraffte. Aber er hatte einen Schüler na-
mens Feuerbach, und der begeisterte wieder einen gewissen Karl Marx. Jedenfalls war
Marx vom hegelschen Strukturprinzip fasziniert. Es ärgerte ihn nur, dass Hegel immer
vom Geist sprach, den ließ er weg und ersetzte ihn durch Materie. Dann wandte er den
Dreischritt auf die gesellschaftlichen Verhältnisse an: Die These, das ist der soziale Un-
gerechtigkeitszustand, dieser kann nur durch eine Antithese, eine radikale Veränderung
in eine Synthese, das ist ein besseren Zustand, aufgehoben werden. Die Synthese, das ist
das Arbeiterparadies. Aber gefährlich war Marx deshalb, weil er für die Antithese den
Begriff Revolution verwendete. Es muß also beständig Revolution gegen die Ungerech-
tigkeit sein, damit es uns in der Zukunft besser geht. Das ist der Kommunismus. In den
kommunistischen Länder wurde die Revolution zum Dauerzustand erhoben, auch heute
gibt es ja noch „Revolutionsführer“, in Wirklichkeit meist ausbeuterische Diktatoren.
Sie sehen, dass hier der Satan das heiligste Geheimnis Gottes zu einer perversen Ideolo-
gie mißdeutet hat. Der Marxismus hat die Dreifaltigkeitslehre in noch einem Punkt zu
Fatalem mißbraucht, und dieser Mißbrauch ist auch in unserer Zivilisation zu spüren: das

135 H. U. v. BALTHASAR, Theodramatik 2/2, 486: Gott ist in absoluter Identität „der Eine, der
Andere und der Vereinende“ Vgl. ders., Das betrachtende Gebet 166. Und ders., Herrlich-
keit 3/2/2, 243: Der Geist ist die personale Identität der personalen Differenz in der Gott-
heit.
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ist die Nivellierung, die Gleichmacherei. Am Ende steht bei Marx die gesellschaftliche
Synthese, das ist die Aufhebung der Gegensätze in eine völlige Strukturlosigkeit. Im ma-
oistischen Staatskommunismus wurde das so ausgedrückt, dass alle ein Einheitsgewand
tragen mußten. Übrigens: Henri de Lubac, der größte französische Theologe dieses Jahr-
hunderts, in hohem Alter von Papst Johannes Paul II. zum Kardinal erhoben, hat gezeigt,
dass die Mißdeutungen des Heiligen Geistes die Wurzel allen Übels in der westlichen
Geistesgeschichte ist bis hin zu Hitler136.
Jedenfalls ist der Geist in Gottes Dreifaltigkeit gerade nicht ein Gleichmacher! Ja, er ist
die Einheit von Vater und Sohn, aber nicht so, dass dann der Vater plötzlich zum Sohn
und der Sohn zum Vater geworden wäre! Die Einheit ereignet sich auf einer ganz ande-
ren Ebene, die die Unterschiede nicht nivelliert. Und so wirkt der Geist auch in der Kir-
che. Wenn es bei Paulus heißt, dass es nicht mehr „Mann und Frau, Sklave und Freien,
Juden und Griechen gibt“ (Gal 3,28; Röm 10,12) dann heißt das ja nicht, dass jetzt die
Männer aufhören müssen männlich zu sein, alle Arbeitenden beginnen sollen Manager zu
sein oder ähnliches. Mit einer eigenartig unkatholischen Naivität hört man solche An-
schauungen oft auch in der Kirche. Hier wird offensichtlich ein marxistischer Begriff von
Synthese auf das Christentum angewandt, der mit dem Heiligen Geist nichts zu tun. Denn
eine nivellierende Synthese ist nicht die Synthese des Heiligen Geistes, denn der ist alles
andere als ein Gleichmacher! Er ist vielmehr ein Einiger, ein Verbindender, einer, der die
Differenzen zur fruchtbaren Liebe macht, aber nicht ein gleichmacherischer Nebel der
Utopie137.
Hans Urs von Balthasar drückt es so aus: „Der rechte Geist ist der, der die Diastase
zugleich mit der Einigung bekennt.“138 Am Beispiel der Ehe: Wir glauben eben, dass
Mann und Frau nicht zufällig oder irrtümlich eine je-eigene geschlechtliche Identität ha-
ben, für uns ist das Frausein in sich positiv und das Mannsein ebenso. Deshalb wird die
eheliche Gemeinschaft nicht dann tief, wenn sich die Frau vermännlicht und der Mann
verfraulicht, sondern beide ihr Mannsein oder Frausein annehmen und in ihre Liebesge-
meinschaft einbringen, sodass eine Lebenseinheit entsteht. (Freilich ist bei dem Beispiel
anzumerken, dass es auch gesellschaftlich bedingt ist, was man gerade als spezifisch
männlich oder weiblich ansieht, und dass es hier tatsächlich viele Ungerechtigkeiten zu
Lasten der Frau gegeben hat.)
In Gott jedenfalls funktioniert Einheit so, dass die Verschiedenheit nicht ausgelöscht,
nicht überspielt, nicht nivelliert wird, sondern geheiligt! Das hat für unseren Glauben

136 Henri de LUBAC, La postérité spirituelle de Joachim de Fiore, 2 Bände, Paris-Namur 1981.
137 H. U. v. BALTHASAR, Theodramatik 4,79: Der Geist ist das „Je-einig-Sein von verschiede-
nen ‚Standpunkten‘ her“.
138 H. U. v. BALTHASAR, Spiritus Creator 158
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 185 -

hunderte Konsequenzen, die ich hier nur andeuten kann: 1. Dass das Gegenüber von Wei-
heamt und Laientum etwas lebendiges und fruchtbares ist, 2. dass die Kirche sowohl In-
stitution ist aber ebenso die Charismen des Einzelnen braucht, 3. dass wir beim Gebet uns
nicht wie bei der östlichen Mystik in ein Nirvana hinein entselbsten, sondern gerade je
näher wir Gott kommen, desto mehr unser Ich behalten, 4. dass wir unsere Personalität
auch nach dem Tod in der Ewigkeit Gott behalten usw. Der Geist nimmt die Verschie-
denheit nicht weg, aber er wirkt in ihr die größere Einheit. Beim Gebet ist er es, der unser
Ich auf das Wir hin öffnet, auf die Liebe zu Gott und den Menschen139.
Es wäre nicht nur reizvoll, diesen Gedanken weiterzuverfolgen, dass der Geist die abso-
lute Einheit gerade so ist, dass er die Verschiedenheit offenhält, sondern auch in der ge-
genwärtigen Geistlosigkeit innerkirchlicher Diskussionen durchaus notwendig. Diese
heilige Dialektik, die der Geist Gottes ist und wirkt, drückt sich im katholischen Prinzip
des „et-et“ aus, das heißt im Prinzip des „sowohl als auch“. Bei uns heißt es nicht Glaube
oder Werke, Amt oder Laien, Institution oder Charismatik, Kirchenrecht oder Freiheit,
Schrift oder Tradition usw., sondern das eine ist wegen des Heiligen Geistes immer dia-
lektisch an das andere gebunden. Wo weggelassen oder nivelliert wird, da sind andere
Geister am Werk, sicher nicht der Heilige Geist. Und wo die Liebe fehlt, da fehlt er im-
mer, der Heilige Geist.
Satz 83: Der Geist ist die „Wir-Einheit“ von Vater und Sohn, aber eben nur so,
dass er zugleich die Verschiedenheit offenhält. Gott und Vater fallen
nie zu einer nivellierten Einheit zusammen, sondern sind bleibend die
absolute Differenz in der absoluten Einheit.

d. Der Geist als das schöpferische „Außen Gottes“


Doch wieder müssen wir zur Persongestalt des Heiligen Geistes in Gott zurückkehren: In
Gott ist er wirklich die Einheit von Vater und Sohn in der Liebe, deren absolute Vollen-
dung. In ihm erreicht das väterliche Schenken und das sohnliche Empfangen seine Fülle.
Deshalb ist er die Liebe als Person, die Heiligkeit als Person, ja (man muss es wagen zu
sagen) die Geistigkeit Gottes als Person!
Doch was bedeutet das, dass die Liebe von Vater und Sohn im Geist vollendet ist? Was
bedeutet Vollendung der innergöttlichen Liebe? Sind Vater und Sohn hier „am Ende“? Ist
dann einmal Schluß mit dem Lieben? Wir dürfen uns hier nichts menschlich vorstellen:
Bei uns bedeutet „Vollendung“ einen Abschluß, ein Ende: Das Kunstwerk ist vollendet,
jetzt ist es fertig und steht statisch da. Der dreifaltige Gott aber ist Leben, ewiges Leben,

139 H. U. v. BALTHASAR, Theodramatik 2/1, 232: Der Geist versteht in Gott „sein ‚Ich‘ als das
‚Wir‘ von Vater und Sohn“. DERS., Pneuma und Institution 35: Der Geist ist in Gott ein
„triumphales Wir“.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 186 -

bei ihm gibt es keinen „Punkt-Schluß-Stop-Aus“. Daher ist dort, wo Gottes innere Liebe
vollendet ist, zugleich ein neuer Anfang.
Das bedeutet konkret nach der Lehre der Kirche, dass der Geist nicht bloß die Summe
von Vater und Sohn ist, sondern etwas Neues. Die Einheit ist in gewissem Sinne ein „Da-
rüberhinaus“, ein „Mehr“140. Das macht den Heiligen Geist zum Sturmwind, der immer
Mehr will, der schöpferisch drängt. Das ist der Grund, warum der Geist der ist, der das
Innere Gottes in das Äußere kehrt. Der Geist bringt die Liebe zwischen Vater und Sohn
gleichsam zum Überfließen, und er selbst ist es, der dann diese Liebe nach außen trägt141.
Wenn Gott aber nach außen wirkt, dann nennen wir das „schöpfen“.
Die Liturgie der Kirche hat dieses schöpferische Nach-Außen des Geistes sehr gut begrif-
fen und es in einen Hymnus gefaßt, den wir in den neun Tagen zwischen Christi Himmel-
fahrt und Pfingsten mit Inbrunst beten: „Veni Creator Spiritus!“ Komm Schöpfer Geist,
kehr bei uns ein! Der Geist ist der „Creator Spiritus!“ Überall, wo es um ein göttliches
Schaffen, Erneuern und Umwandeln geht, ist der Geist am Wirken. Die Kirche ruft den
Schöpfergeist besonders dort an, wo etwas sakramental umgeschaffen werden soll. Zum
Beispiel bei der Ordensprofeß oder bei der Erteilung der Weihe. Aber auch bei jeder Hei-
ligen Messe kommt die wandelnde Schöpfungskraft des Heiligen Geistes zum Tragen:
Am Beginn des Eucharistischen Hochgebetes breitet der Priester die Hände über die Ga-
ben von Brot und Wein. In manchen anderen Riten wird dabei sogar dramatisch mit Fä-
chern geschwenkt, um das Wehen des Heiligen Geistes auszudrücken. Der Gestus heißt
„Epiklese“, was soviel wie „Herabrufung“ bedeutet; ausdrücklich bittet der Priester den
Geist um die Umwandlung der Gaben: „Sende Deinen Geist auf diese Gaben herab, da-
mit sie uns werden Leib und Blut Deines Sohnes, unseres Herrn Jesus Christus!“
In der Heiligen Messe wirkt deshalb derselbe Geist, der einst das ewige Wort in den
Schoß der Jungfrau getragen hat. Schon in der Kammer von Nazaret wirkte der Geist die
große erste Ankunft des verklärten Herrn. Hier bewahrheitet sich das, was ich zuvor sag-
te, dass der Geist es ist, der das Innere Gottes nach außen kehrt, das Göttliche ins
Menschliche einsenkt. Der Engel sagt zu Maria: „Heiliger Geist wird über dich kommen
und die Kraft des Allerhöchsten wird dich überschatten. Deshalb wird auch das Kind hei-
lig und Sohn Gottes genannt werden.“ (Lk 1,36) Beim Gebet des Engels des Herrn ge-
denken wir jedesmal dieses Wirkens: „Und sie empfing vom Heiligen Geist!“

140 H. U. v. BALTHASAR, Der dreinige Gott als Schöpfer 102: Geist ist „die Liebeseinheit bei-
der, in der sie ihr Anderssein oder Gegenübersein übersteigen, und die mehr ist als nur ‚der
eine plus der andere‘, nämlich die Umarmung der Liebe selbst, nochmals nicht weniger
wesentlich, nicht weniger göttlich die Liebe als der Zeugende und der Gezeugte.“
141 H. U. v. BALTHASAR, Pneuma und Institution 226: Der Heilige Geist ist „der Inbegriff der
Mitteilung Gottes nach außen.“
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 187 -

Der dreifaltige Gott ist in der zweiten göttlichen Person durch den Heiligen Geist Mensch
geworden. Gott geht aus sich heraus, damit wir in Gott hineingehen. Er kehrt sich nach
außen, damit dieses Außen Gottes unser Innerstes werde. Wir blicken jetzt im letzten
Punkt darauf, wie der Sohn uns dieses Innen Gottes ins Herz hinein schenken will, wie er
uns den Heiligen Geist geben will.
Satz 84: Der Geist ist im trinitarischen Prozess das Je-Neu und Je-Größer der
Liebe von Vater und Sohn, er ist deren „Überschwang“. So kommt es
ihm auch zu, das „Innen“ Gottes schöpferisch „nach außen“ zu wen-
den.

E. Der Christus in unseren Herzen gestaltet

In Jesus Christus war Gott in Menschengestalt in dieser Welt. Man konnte ihn anschauen,
angreifen, bestaunen, ja betasten. Maria hat den Gottmenschen ganz wirklich und real in
sich getragen, geboren, die Windeln gewechselt. Die blutflüssige Frau hat Jesus ganz real
berührt. Er war kein Phantom, kein Geist, weil das göttliche Wort wirklich „Fleisch“ ge-
worden ist. Beim letzten Abendmahl hat Johannes sein Haupt an die Brust Christi gelegt,
am Tag vor dem Pascha, am 14. Nisan, das ist der 7. April des Jahres 30 ist Jesus Chris-
tus gestorben. Alles, was Jesus tut, hat Kontur und Profil; es ist kein Märchen, sondern
Geschichte.
Es ist interessant, dass Jesus in den johanneischen Abschiedsreden solch großen Wert
darauf legt, dass er „fortgeht“ (Joh 14-16). In Österreich haben wir das Glück, dieses Er-
eignis des Fortganges Christi in einem staatlichen Feiertag begehen zu können, genau 40
Tage nach der Auferstehung nach Ostern, das ist das Fest Christi Himmelfahrt. Das Fort-
gehen Christi ist eigentlich ein trauriges Ereignis, unter dem wir leiden müßten. Wie
schön wäre es, wenn der auferstandene Herr auch heute noch inmitten seiner Kirche so
gegenwärtig wäre, wie damals in den 40 Tagen nach Ostern. Doch der Fortgang Christi
ist eben kein Unglück, sondern eine Notwendigkeit. Papst Johannes Paul II. nennt in sei-
ner Enzyklika den Fortgang Christi ein „gutes Fortgehen“142.
Warum? Jesus geht heim, um den Geist zu senden, Jesus nennt ihn den „Parákletos“, den
Beistand oder Anwalt. Und siehe da, der Geist kommt am Pfingsttag auf alle herab in
Sturm und Feuerzungen. Was jetzt vom Himmel herabkommt, das ist nicht ein einzelner
Jesus. Das ist nicht eine konkrete Gestalt, wo dann nur wenige etwas davon hätten. Denn
so schön die Gegenwart des Gottessohnes Jesus Christus auf Erden war, er ist doch nur
ganz wenigen Menschen begegnet. Nur Johannes durfte sein Haupt an seine Brust legen,
nur Thomas durfte seine Wundmale berühren… Am Pfingsttag kommt der Geist aber auf

142 JOHANNES PAUL II., Dominum et vivificantem Nr. 14


Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 188 -

alle herab, es ist der allgemeine Geist, der umfassende Geist. Paulus schreibt: „Die Liebe
Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist.“
(Röm 5,5)
Und was wirkt dieser Geist, der in uns ausgegossen ist, konkret? Wie ich schon sagte: Er
kehrt immer das Innerste Gottes nach außen. Und jetzt kehrt er die verklärte Gestalt
Christi aus Gott heraus und prägt sie unseren Herzen ein. Der Geist kommt auf uns herab
und macht uns zu Christen, er formt in uns Christus. Wo der Geist eindringt, da wird ei-
ner in Christus umgewandelt, der Geist macht ihn zu einer „neuen Schöpfung“, sodass er
jetzt sogar einen neuen Namen trägt: Christ. Das Taufkleid drückt dieses Neugeschaffen-
sein aus, die Ordensleute tragen deshalb ein Leben lang ein Taufkleid, um so auch nach
außen hin ihr Umgestaltetsein zu bezeugen. Jedenfalls formt uns der Geist, der in unse-
rem Herzen wohnt, zur Gestalt Christi um. Jetzt sind wir Adoptivsöhne, wir dürfen in
Christus durch den Heiligen Geist zu Gott wirklich sagen: „Abba, Vater“ und „Unser Va-
ter im Himmel“143. „Die vom Geist Gottes getrieben sind, sind Kinder Gottes.“ (Röm
8,14)
Heute scheint es mir wichtig zu betonen, dass der Geist vom verklärten Jesus gesendet
wird. Er ist deshalb nicht ein Allerweltsgeist, sondern ein Geist, der vom konkreten Jesus
und seinem Evangelium nicht zu trennen ist. Er ist immer der Geist Christi144. Paulus
schreibt: „Keiner, der aus dem Geist Gottes redet, kann sagen: Jesus sei verflucht! Und
keiner kann sagen: Jesus ist der Herr!, wenn er nicht aus dem Heiligen Geist redet.“ (1
Kor 12,3) Das ist wichtig für die Unterscheidung der Geister: Niemand kann sich auf den
Heiligen Geist berufen, der nicht auf Biegen und Brechen zu Jesu Wort und Tat steht!
Der Geist ist Gott, der ins Äußere seiner selbst geht! Das ist gewagt, aber für die Liturgie
ist das ganz selbstverständlich, weil sie als tiefstes Symbol für den Heiligen Geist das
Salböl verwendet. Es ist das Öl, das an Christus, den Gesalbten, den Messias Gottes erin-
nert. Messias heißt auf griechisch „Christos“, das Öl heißt deshalb „Chrisam“. Bei der
Taufe und Firmung wird man mit diesem Chrisam gesalbt. Öl hat die Eigenschaft, in die
Haut einzudringen, wir sagen dazu „einziehen“. Ein wunderbares Symbol für den Heili-
gen Geist, der in das Innere des Menschen „einzieht“.
Diese Wirklichkeit ist ja vielleicht das Geheimnisvollste und Überraschendste an unse-
rem katholischen Glauben: Dass Gott der Vater in der Verborgenheit der Ewigkeit wohnt
– wir nennen das „Himmel –, wir nehmen es an! Dass Gott der Sohn in unserer Welt ge-
lebt hat dort in dem Land, das wir seither das „Heilige Land“ nennen, an den Gedanken

143 Vgl. Röm 8,19-22. Vgl. H. U. v. BALTHASAR, Spiritus Creator 142: Der Heilige Geist ist
„das Wir von Vater und Sohn… das nun auch als Gnade zum Wir zwischen Gott und
Mensch werden will.“
144 Gal 4,6; Phil 1,19; Röm 8,11
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 189 -

haben wir uns schon gewöhnt! Aber dass Gott als Heiliger Geist in unseren Herzen woh-
nen möchte, das ist doch ein starkes Stück! Und doch ist das gerade die Wahrheit, welche
die Urkirche fasziniert hatte: „Wißt ihr nicht, dass ihr Tempel Gottes seid und der Geist
Gottes in euch wohnt!“ (1 Kor 3,16; vgl. Röm 5,5; 8,11; 1 Kor 6,19).
Im Barnabasbrief, einer frühchristlichen Schrift heißt es, dass Gott uns in der Taufe die
Sünden vergeben hat: „Deshalb wohnt in uns, in unserem Inneren, wahrhaftig Gott.“145
Die Väter haben dann immer wieder formuliert, dass der Heilige Geist die Gabe (donum)
ist, die in uns gelegt wird. Und was ist das für eine Gabe? Im Westen hat man sie „Gna-
de“ genannt: die unerschaffene bzw. heiligmachende Gnade. Die heiligmachende Gnade
ist aber der heilige Geist selbst in Person, der im Herzen Wohnung nimmt (vgl. Joh
14,23). – Hier müssen wir verstummen! So groß ist der Mensch, so groß ist meine Würde
als einer, den Gott liebt, dass er in mir selbst wohnen will!
Es fällt schon schwer zu glauben, dass der Heilige Geist in der Kirche, in dieser oft so
wirren Gemeinschaft, wie wir sie heute erleben, zu Hause ist. Aber noch weit abenteuer-
licher ist es doch zu zu glauben, dass der Geist drinnen in meinem eigenen Ich ein Zu-
hause finden will. Und doch ist das die tiefste Sicht des Menschen, die es gibt: Gott im
Innersten seines Inneren zu tragen: „Interior intimo meo!“ Gott ist mir innerlicher als ich
es mir selbst bin, sagt Augustinus146. Wenn wir auf Maria, die geisterfüllte, schauen, die
in die Sphäre des Geistes eingehüllt ist wie in einen Mantel, wird uns dieses Geheimnis
vielleicht begreiflicher.
Und was macht er drinnen in meinem Inneren, der Heilige Geist? Er wirkt die Einheit,
die er in der Dreifaltigkeit ist, jetzt auch in uns: unsere Einheit mit dem Vater und dem
Sohn, unsere Einheit in der heiligen Kirche. Er drängt und treibt uns, uns bewußt mit
Gott zu vereinigen, ja er nimmt sich unserer Schwachheit an und betet selbst in uns (Röm
8,26). Er ist der Geist, der uns Hingabe, weil er uns in die ganze Wahrheit einführt; er ist
der Geist, der uns Gehorsam gegenüber Gott lehrt, weil er uns lieben lässt, was Gott ge-
boten hat und verabscheuen lässt, was Gott verboten hat; er ist der Geist, der uns in der
Kirche zusammenfügt und ausharren lässt. Und schließlich ist er der Geist, der in uns die
Sehnsucht nach Gottes Ewigkeit offenhält. Der heilige Märyterbischof Ignatius schreibt,
als er gerade nach Rom deportiert wird, um dort den Löwen vorgeworfen zu werden:
„Ein lebendiges Wasser murmelt in mir, das sagt mir innerlich: Auf zum Vater!“147 Die-
ses murmelnde Wasser der Sehnsucht ist der Heilige Geist!

145 BARNABASBRIEF 16,8


146 AUGUSTINUS, Confessiones 3, 6, 11: CCL 27,33
147 IGNATIUS VON ANTIOCHIEN, Ad Romanos 7,2.
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Satz 85: Der Geist Gottes formt die Herzen der Gläubigen Christus ein; er ist
das Prinzip und die Dynamik der Gotteskindschaft und betet selbst in
den Gläubigen „Abba Vater“.

§ 9: „und an die heilige katholische Kirche“

1. Die Kirche als Werk des Heiligen Geistes

A. Das Wesen der Kirche: die Einheit von Pneuma und Institution

a. Das Problem mit der Institution


Problemstellung: heute wird die Kirche vielfach als Verein verstanden, als ein gesell-
schaftlicher Club, als eine Institution. Eine Art besserer Kulturverein, bzw. Weltverbesse-
rungsverein. Man geht an diese Kirche deshalb auch mit weltlichen Maßstäben herein,
und wie man die Gewerkschaften kritisiert, kritisiert man auch die Kirche. Man möchte
ihre „Statuten“ der Zeit anpassen und meint sogar, ihr damit etwas Gutes zu tun, damit
sie mehr „Erfolg“ hat in diesen geänderten modernen Zeiten. Jedenfalls: Kirche wird bloß
als Institution gesehen. - Natürlich ist das eine oberflächliche Sicht, die dem Wesen der
Kirche nicht entspricht. Aber zugleich müssen wir in der Theologie sagen, dass die Kir-
che doch tatsächlich ein institutionelles Moment hat: Die Kirche hat eine Art „Grundver-
fassung“, nämlich das Evangelium; und hat diese Verfassung sogar präzisiert: das Kir-
chenrecht. Es gibt in der Kirche tatsächlich all die Elemente, die es auch in einer weltli-
chen Institution gibt: also Leitung (Hierarchie), Dienstämter, Termine und Fristen, finan-
zielle Belange usw.
Mit dieser institutionellen Seite haben heute viele ihre Schwierigkeiten, gerade deshalb,
weil das Evangelium in der gegenwärtigen Umbruchszeit zu einer Provokation, einer
Herausforderung an den Zeitgeist geworden ist. So schlägt den treuen Verkündern des
Evangeliums Unverständnis entgegen und die Kritik entlädt sich auf Papst und Bischö-
fen, also auf den hierarchischen Trägern der Institution. Die Folge ist, dass man zwischen
Jesus und Kirche zu unterscheiden beginnt (ist nur möglich, wenn man das Evangelium
nicht gelesen hat). Schlagwort: „Jesus ja - Kirche nein!“
Das sind die aktuellen Probleme. In der Theologie gibt es aber schon seit etwa 100 Jahren
dieselbe Problemstellung. Vor allem evangelische Theologen wollten das institutionelle
Moment der Kirche ganz abgewerten. (Von dort stammt auch die pejorative Bezeichnung
„Amtskirche“.) Man unterschied dort zwischen der Kirche des Geistes (Pneumatische
Kirche) und der Kirche der Institution (institutionelle Kirche) und behauptete, dass die
erstere die eigentliche Kirche sei. Man stellt sich vor, dass es ohne Amt, ohne Kirchen-
recht, ohne Gebote usw. eine freie, gläubige Kirche geben könnte: eine Kirche des Geis-
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 191 -

tes, der Charismen. Man hat die Vision einer amtsfreien Zukunftskirche der Geschwister-
lichkeit, in der alle schon automatisch christusförmig leben usw. Aufgrund dieser Vision
hat man das Auseinanderdividieren von Amtskirche und Volkskirche, von Institutioneller
Kirche und pneumatischer Kirche, von Jesus und der heutigen Kirche zum Programm
erhoben.
Im nachfolgenden werden wir zeigen, dass die Kirche nie nur pneumatisch und nie nur
institutionell sein kann, da sie auf zwei Ursprünge zurückgeht, die in sich eins sind: auf
die Sendung durch Christus und auf die Ausgießung des Heiligen Geistes. Durch ihre
Christusursprung ist sie institutionell verfaßt, durch den Heiligen Geist wird sie von den
personalen inneren Gnadengaben durchweht.

b. Das institutionelle Moment der Kirche ist Teil der Gegenwart Christi
Das erste, was bei jedem Nachdenken über die Kirche zu sagen ist, liegt darin, dass sie
durch Christus gegründet worden ist.
(Oft ist ja in der Kirchenkritik das schon übersehen: dass die Kirche sich nicht selbst
erfunden hat, wie andere Religionsgemeinschaften. Man meint heute überhaupt: Re-
ligion ist Sache der subjektivität, also Selbsterfindung des Menschen: man denkt sich
etwas über Gott. Wir: andere Grundlage: Offenbarungsreligion: Gott offenbart sich.
Und diese Offenbarung ist normativ in Ewigkeit, d. h. sie verpflichtet uns, ist nicht
unserer Beliebigkeit unterworfen, kann nicht dem „Trend“ geopfert werden.)
Christus hat sogar sehr konkrete Stiftungsakte gesetzt, indem er vom Beginn seines öf-
fentlichen Wirkens an Jünger berufen hat, einen Jüngerkreis um sich geschart hat, aus
diesen „to dodeka“ auswählte (12 Stämme Israels = das neue Bundesvolk), diese bevoll-
mächtigte, aussandte, nach Ostern mit der universalen Weltmission betraute usw. Er ver-
spricht diesen Jüngern einen doppelten Beistand: nämlich sich selbst, weil er bei ihnen
bleiben möchte bis ans Ende der Zeit; weil er sie beauftragt hat, das Gedächtnis seines
Leidens und Auferstehens in der Eucharistie zu feiern; der „andere Beistand“, den er ver-
heißt, ist der Heilige Geist. — Jedenfalls: die Kirche hat sich nicht selbst erfunden, son-
dern sie entspringt der Sendung und dem Willen Christi.
Aber Achtung: Jesus verhält sich zur Kirche in ganz anderer Weise, wie ein Religions-
stifter gegenüber seinem Werk, oder ein Vereinsgründer gegenüber seinem Verein. Das
zeigt sich schon darin, dass er es nicht einmal für notwendig hält, ihr eine Art schriftli-
cher Konstitution o. ä. zu geben. Das entscheidende ist, dass Christus in seiner Kirche
gegenwärtig bleibt: er wirkt als Herr in der Kirche durch den Geist (1 Kor 10,7). Die Kir-
che bildet deshalb den fortwährenden Christus ab.
Paulus hat das in seiner Theologie im „Corpus Christi Mysticum“ dargestellt. (Beru-
fungserlebnis!): Alle Getauften sind Glieder am Leib Christi und bilden eine Einheit; in
dieser Einheit des CCM gibt es aber eine Verschiedenheit der Funktionen und Aufgaben.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 192 -

Entscheidend ist der Gedanke vom fortlebenden Christus: So wie Christus in seiner
Menschlichkeit Gott offenbarte, so ist Er auch in den gesellschaftlichen Vollzügen der
Kirche gegenwärtig, also auch in ihrer gesellschaftlichen Verfassung, in ihren Ämtern
und Diensten usw. Ist ja logisch: der historische Mensch Jesus hat eine historisch rele-
vante Kirche gegründet, deren Kern freilich seine unsichtbare göttliche Gegenwart ist.
Das 2. Vatikanum hat deshalb für die Kirche den Ausdruck „Sakrament“ verwendet. Was
ist ein Sakrament: ein äußeres Zeichen für eine unsichtbare, innere Wirklichkeit. Das 2.
Vatikanum nennt auch Christus „Sakrament“ und meint damit sein gott-menschliches
Wesen: seine Menschheit ist äußeres Zeichen seiner Göttlichkeit; durch sein menschli-
ches Tun wirkt er göttliches Heil. - Dasselbe christologisch-sakramentale Prinzip gilt
auch von der Kirche: die Kirche ist „Sacramentum Mundi“ (LG 1), also Heils-sakrament
für die ganze Welt. Sie existiert - in der Form einer Gesellschaft - um der Welt das Heil
zu bringen. Allein ihr Dasein ist für die Welt Zeichen der Zuwendung Gottes.
Z. B. Vatikan: ist einfach wichtig, dass die Kirche auch auf der Ebene der Diplomatie
präsent ist; oder in Pfarren: ist wichtig, dass die Kirche durch die Institution des Pfarrers
auch gesellschaftlich vertreten ist usw. - Kampf gegen das kirchliche Amt ist ein Kampf
gegen Christus, der ihr dieses Amt eingestiftet hat: „Wer euch hört, hört mich; wer euch
verwirft, verwirft mich; wer mich verwirft, verwirft den, der mich gesandct hat!“ (Lk
10,16) FRAGE IST AUCH, ob eine institutionslose Kirche überhaupt möglich wäre: also
ohne Ämter, ohne Kirchenrecht usw. … scheint auch rein theoretisch eine reine Utopie
zu sein, da solch eine Vorstellung ja auch dem Wesen der menschlichen Gesellschaft wi-
derspricht: es braucht einfach bestimmte Strukturen usw. -
Merke: Das institutionelle Moment der Kirche widerspricht nicht ihrer Sendung durch
Christus, sondern entspringt ihr. Wer Jesus wirklich bejaht, wird auch die von ihm ge-
gründete Kirche bejahen.
Satz 86: Das institutionelle Moment der Kirche ist nicht eine Depravation ihrer
Geistigkeit, sondern die Ausdrucksform des Heiligen Geistes in Gestalt
der welthaften Konkretisierung. Kirche als Institution ist also nicht a
priori geistloser Widerspruch zum Pneuma.

c. Das pneumatische Moment der Kirche ist Teil der Gegenwart des Geistes
Das Äußere, Faßbare, Rechtliche, Institutionelle der Kirche lässt sich leicht dem Fortle-
ben Christi zuschreiben. Aber die Kirche ist nicht nur „Institution“, sondern sie ist auch
erfüllt vom Heiligen Geist. Wichtig ist, die trinitarische Stellung des Geistes zum Vater
und Sohn zu beachten: Der HG ist nicht ein Geist der Beliebigkeit, schwirrt nicht frei
herum, sondern kommt aus dem Vater und dem Sohn.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 193 -

Von großer Bedeutung: heute nennt man alles gleich ein Werk des Geistes, die Kir-
che wird als „geistlos“ dargestellt usw. Man beschwört diese und jene Geister. Für
die Kirchenväter war die „Unterscheidung der Geister“ eine der größten Gnadenga-
ben: dieses innere Licht, zu erkennen, was gut und recht ist, was göttlich und was sa-
tanisch ist.
Paulus sagt sehr deutlich, woran man den Geist Gottes erkennt: Der Geist Gottes führt ein
in die Wahrheit Jesu Christi, er führt also zur Annahme des Evangeliums und des Willens
Christi. Der wahre Geist lehrt sagen: „Jesus ist der Herr!“ (1 Kor 12,3). Und auch bei
Johannes: Nur wer sich vom Geist Gottes leiten lässt, kann bekennen, dass Jesus, Gottes
Sohn, im Fleisch gekommen ist (1 Joh 4,2). Es gibt eine fundamentale Relation des Geis-
tes auf Christus. D. h. Niemand kann sagen, er ist vom Heiligen Geist erfüllt, wenn er die
Kirche ablehnt, die Christus gegründet hat!
Papst Leo XIII. nennt in seiner Enzyklika über den Heiligen Geist von 1897 die „Seele
der Kirche“; Papst Johannes Paul II. ebenfalls: „Dominum et vivificantem“.
Wie ist das schließlich mit der Institution, mit dem Amt: hat das auch etwas mit dem
Geist zu tun? Das institutionelle, vereinsmäßige Element ist freilich eher Christus zuzu-
ordnen in seiner äußeren Erscheinung. In seinem inneren Gehalt aber ist es Wirken des
Heiligen Geistes. So lesen wir in Apg 20,28, dass es der Heilige Geist ist, der „zu Bischö-
fen bestellt“ (vgl. auch Röm 12,3-8, 1 Kor 12,4-31). Und von der ersten kirchenrechtli-
chen Entscheidung beim Apostelkonzil (Taufe von Heiden, Verbot des Essens von göt-
zenopferfleisch) heißt es: „Wir und der heilige Geist haben beschlossen“ Apg 15,28)
Satz 87: Es besteht kein Widerspruch zwischen der institutionell-amtlich-
sakramentalen Gestalt der Kirche und ihrem pneumatisch-
charismatischen Wesen. Institution ist geronnenes Pneuma.

B. Die Zeit-Dimensionen der Kirche

a. Die Herkünftigkeit aus Israel


Gerade heute wird man sich bewusst, dass die Kirche in ihrer Konsistenz sehr viel paral-
lel bzw. gemeinsam hat mit Israel. Man denke an das national-patriotische, das die jüdi-
sche Religion heute auszeichnet; man denke, dass dies auch ein Zeichen der übernationa-
len Kirche ist, die auch mit Stolz auf ihre Existenz verweist. So wie Israel sich als Heils-
zeichen Gottes in der Zeit versteht, so auch die Kirche. Durch seine bloße Existenz be-
zeugt Israel das Heilshandeln Gottes; so auch die Kirche. Deshalb hat die Kirche immer
sich als „verus Israel” verstanden, als das „wahre Israel”. Und theologisch ist das eine der
kniffeligsten, weil auch politischsten Fragen, die es überhaupt gibt (siehe Röm 9-11).
In folgenden Dimensionen ist Israel Vorbild für die Kirche, Präfiguration:
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 194 -

• Israel ist GOTTES EIGENTUM. Es ist erst durch Gott überhaupt als Volk konstituiert
worden (Dtn 4,37), also ist es Sein Volk, Gottes Volk. Das ist mitgemeint, wenn es als
„heiliges Volk” im Gegenüber zu den anderen Völkern verstanden wird. Die Schrift be-
zeichnet Israel immer wieder als Gottes Eigentum, seinen Besitz (Ex 19,5; Dtn 7,6). Wei-
tere Ausdrucksformen: Eigentum, Anteil, Besitz, Erbteil (araboon), also eine Art Darle-
hen, das Gott schon vor seiner endgültigen Selbstoffenbarung den Menschen gegeben
hat.
• Israel ist GOTTES BUNDESPARTNER. Zentral ist der Satz in Ex 6,7: „Ich will ihr
Gott sein, und sie sollen mein Volk sein!” Berühmt auch Jes 5, wo Israel als Gottes
Pflanzung und Weinberg beschrieben wird; als Herde in Ps 95; Jer 23 usw.
• Israel ist GOTTES HEILIGTUM. Auch hierfür gibt es in der Schrift eine Reihe von
Bildworten. Gott wohnt inmitten seines Volkes. Realsymbol dafür ist der Tempel, in dem
Gott gegenwärtig ist auf dem Zionsberg. Der Begriff „Zion” wird so zum Begriff für die
Theopräsenz in Israel. Hier auf dem Zion und in Jerusalem, der Heiligen Stadt, erweist
sich Gott als der Immanuel (Jes 7,14), der „gott mit uns”. Von hier geht sein Schalom
aus. (kultisch durch die Zurufe der Priester an das zum Kult versammelte Volk: Schalom
aleikem).
Satz 88: Die Kirche wurde durch den Vater schon vor Christus in Gestalt des
Bundesvolkes Israel vorbereitet.

b. Die Gründung durch Christus


Der fundamentalste Glaubenssatz betreffend die Kirche lautet, dass sie durch Jesus Chris-
tus gegründet worden ist. Dies haben die Reformatoren, die Modernisten usw. bestritten
(Antimodernisteneid nimmt heftig dagegen Stellung) u. v. a. m. Berüchtigt ist der Satz
von Alfred Loisy „Jesus hat das Reich Gottes verkündigt, gekommen ist die Kirche”, den
er durchaus im Sinn einer positiven Entfaltung gemeint hat. Wird ganz anders verstan-
den, Kirche als Depravation des Ursprünglichen.
(Jeder nimmt sich heraus, heute zu wissen, was Jesus wirklich gewollt hat! - Nur die
Kirche nicht. Und wenn man das Evangelium zitiert, dann wird das als zeitbedingt
abgetan. - Die Kriterien der Authentizität liegen also nicht im Objektiven, sondern in
der Subjektivität. Immer ein Zeichen dafür, dass es sich nicht um den Heiligen Geist
handelt, denn der ist der Geist Christi, er erinnert an das, was Christus gesagt hat (Joh
14,26). Der Zeitgeist redet aus sich selbst heraus, nicht aber der Geist Christi: Er wird
sagen, was er hört, und euch verkünden, was kommen wird. Er wird Christi Wort
nicht bloßstellen, sondern es nehmen und uns verkündigen (Joh 16,13-15).
Dass die Kirche von Christus gegründet bzw. überhaupt gewollt worden sei, wird auch
von all den exegetischen Strömungen bestritten, die behaupten, Christus habe nicht ein-
mal über seinen eigenen Tod und sein stellvertretendes Sühneleiden gewußt. Erst die
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 195 -

Jüngergemeinde habe in nachösterlichen Phantasien dies rückprojeziert und sich dabei


selbst im Sinn einer religionsproduktiven Genossenschaft erfunden, damit die Sache Jesu
weitergeht. In dieser Sicht muss natürlich das wegfallen, was für die katholische Ekklesi-
ologie so typisch ist: nämlich die Identifizierung zwischen Kirche und dem im Pneuma
weiterlebenden Christus. Man beachte deshalb auch die begriffliche Trennung zwischen
Jesus und „seiner Sache”. (Jesus ist nicht identisch mit seiner Sache; aber er hat eine Sa-
che - je nach Belieben: gegen Walfang, für Robbenbabies, aber auch: für die imperialisti-
schen Bestrebungen des dt. Reiches wie das von Harnack unterschriebene Manifest von
1914 zeigt usw.)
Heute ist aber in der kath. Theologie unbestritten, dass Christus zu lebzeiten „kirchenstif-
tende” Akte gesetzt hat, auch wenn die Art und weise derselben unterschiedlich bestimmt
werden. Christus hat also seine Kirche direkt gegründet, indem er schon vorösterlich A-
postel und Jüngerinnen und Jünger um sich gesammelt hat; diese Jüngergemeinschaft
wird durch Ostern neu konstituiert als Gemeinschaft des Bekenntnisses und des Zeugnis-
ses für das Paschamysterium. Zentral in dieser so beabsichtigten Gemeinschaft, die Pau-
lus schon 1 Kor 15,9 „ekklesia tou theou” nennt („Ecclesia Dei”) ist das Zeugnis des Pet-
rus-Kephas (Mk 1,16; 3,16; Mt 4,18; Joh 1,42) und der „Zwölf” (dodeka). Darüberhi-
naus nennt Petrus bei der Matthias-Wahl noch die „Männer, die die ganze Zeit mit uns
zusammen waren, als Jesus, der Herr, bei uns ein und aus ging, angefangen von der Taufe
durch Johannes bis zu dem Tag, an dem er von uns ging.und in den Himmel aufgenom-
men wurde.” (Apg 1,21)
Petrus ist eindeutig Erstzeuge der Auferstehung (1 Kor 15,5; Lk 24,34). Er wird schon
durch sein Bekenntnis zu Christus, dem „Sohn des Lebendigen Gottes” (Mt 16,18) zum
„Felsen”, auf der Christus seine Kirche bauen wird. Man beachte hier die „futurische
Formulierung” der Kirchenstiftung. Dies zeigt die Absicht Christi, zumindest aber die
Absicht des redigierenden Evangelisten, die vorösterliche Jüngergemeinschaft als Keim-
zelle der nachösterlich entstehenden Kirche aufzuweisen.
Jedenfalls ist das das Selbstverständnis der Kirche: von Christus selbst gewollt und ge-
gründet zu sein; nicht Menschenwerk, sondern Gotteswerk zu sein. So auch der Gedanke
des 2. Vatikanums, wo die Kirchenkonstitution mit Christus beginnt: „Lumen gentium
cum sit Christus” Und die Kirche möchte dieses Licht allen verkünden, da es sich „auf
dem Antlitz der Kirche widerspiegelt” (LG 1).
Satz 89: Die Kirche wurde in der Zeit durch den menschgewordenen Sohn ge-
gründet.

c. Die Gemeinschaft im Heiligen Geist


Die Kirche ist nach der Struktur der Symbola Kreatur des Heiligen Geistes, sein erstes
Werk. Dies kommt in den Theologien der Evangelisten auf unterschiedliche Weise zum
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 196 -

Ausdruck, die verschiedene Formen wählen, um die pneumatische Dimension der Kirche
darzustellen:
Bei Johannes 19: Alles läuft in Joh auf die „Stunde” zu, diese ist die Erhöhung Christi
am Kreuz. Die johanneische Theologie entspricht den romanischen Kreuzesdarstellun-
gen: Hinrichtung und Auferstehung werden wie zwei Dias ineinander optisch überlagert.
D. h. der Gekreuzigte ist der Erhöhte, der Erhöhte ist der Auferstandene, der Herr, auf
den alle schauen werden. Deshalb ist die Kreuzigungsperikope so gestaltet, als handelte
es sich um die Akte eines Königs von seinem Thron aus: hier gibt er sein Testament an
Maria und den Jünger den er liebte. Diese Gestalten sind, wie die Kirchenväter seit Ori-
genes unablässig betont haben, typologisch zu lesen. (aber nicht nur). Freilich schwanken
die Interpretationen, sind sicher polyvalent: Maria ist das neue Israel, also die Kirche, die
Glaubende; Johannes ist der der mit Maria auch den Glauben übernimmt (so Ignace de la
Potterie). Balthasar: Maria ist die Vollglaubende, in Joh ist das kirchliche Amt repräsen-
tiert. Beide sind einander zugeordnet, wie die Gemeinde (rezeptiv-weiblich) und das
Priestertum (einstiftend-männlich).
Auf jeden Fall wird bei Joh am Kreuz alles geordnet. Und dann natürlich auch nicht bei-
läufig eine dreifache Gabe der Welt hinterlassen: 1. ) der Geist: exepneusan (19,3o) und
2.) Blut und 3.) Wasser (Joh 19,34). Im 1 Joh 5,7 heißt es: „Drei sind es, die Zeugnis ab-
legen: der Geist, das Wasser und das Blut; und diese drei sind eins.” — Der Geist ist es,
der vom Kreuz weg schon eingestiftet wird, der die Glaubenden entzündet. Deshalb er-
folgt die erste Bekehrung bei Joh unter dem Kreuz (Soldat Joh 19,35).
Die lukanische Konzeption ist anders, aber mit denselben Elementen: Dort ist die Kreu-
zigung eher realistischer und historischer verstanden als das Ruhen des Gerechten, nicht
als das johanneische Trara, wo sich schon die ganze Kirchengründung ereignet. Aber der
Geist fällt nicht aus. Mit Sturmbraus wird er der Kirche 50 Tage nach der Auferstehung
geschenkt, und daraus erblüht sie zum Leben.
Die Kirche versteht sich somit insgesamt als pneumatische Gemeinschaft, besser: als
pneumatisches Ereignis von Gemeinschaft durch die Geschichte hindurch. Ohne Geist
Gottes geht in der Kirche nichts, denn ohne Gottesgeist ist die Kirche nichts!
Satz 90: Die Kirche versteht ihr Wesen in ihren hierarchischen, charismati-
schen und sakramentalen Vollzüge als Wirken des Heiligen Geistes.

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