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Freitag, 6.

November 2009 Altkreis Münden

November ’89: Die Grenzöffnung vor 20 Jahren

Das Thema
Die Massenflucht von DDR-Bürgern im Spätsommer 1989
über Ungarn war endgültig der Anfang vom Ende des ost-
deutschen Staates. Auch im Altkreis Münden kamen Men-
schen an, die sich nicht länger hinter Mauern und Todes-
streifen einsperren lassen wollten. Als dann, ab dem 9.
November, endgültig die DDR-Grenzen aufgingen, knat-
terten endlose Schlangen von Trabis und Wartburgs
durch die Dreiflüsseregion. Unsere Redakteure Axel
Schmidt und Katja Rudolph sowie die HNA-Mitarbeiter
Herbert Till und Petra Siebert erinnern in einer Serie an
Schicksale und Ereignisse in jenen bewegenden Tagen.

Fast 120 Neubürger


aus der DDR seit ’88
Aus- und Übersiedler oft ohne Personalpapiere

D
as Ein ohnermelde- aber auch Fälle, so eiß Ha-
amt ist für die DDR- rald Graef, der Leiter des Mün-
Übersiedler meist die dener Ein ohnermeldeamtes,
erste Anlaufstelle an ihrem u berichten, die eder das
neuen Wohnort. 119 Frauen, eine noch das andere besit en.
Männer und Kinder, das sind Dann ird auch schon mal ein
so um die 77 Familien, haben DDR-Führerschein als Perso-
sich seit De ember 1988 als naldokument anerkannt.
Neubürger on Münden regis- Das Ein ohnermeldeamt in
trieren lassen. Staufenberg registriert allein
Die einen legen Legitimati- im Oktober 1989 elf Personen,
onspapiere or, die on der die sich als Über- oder Aussied-
Meldestelle einer Poli eibe- ler niederließen. In Dransfeld
hörde ausgestellt urden, an- melden sich fünf Personen aus Ausschnitt aus der Hauptstadtzeitung Sri Lankas im Spätsommer 1989. Das Foto zeigt einen Strom von ausgereisten oder geflüchteten
dere haben Dokumente on einem der östlich gelegenen Bürgern der DDR mit Menschen und Koffern und Taschen auf dem Hann. Mündener Bahnhof. Es ging seinerzeit um die Welt. Repro: nh

einer DDR-Botschaft. Es gibt Staaten. (pht)

Knöllchen auch Gerührt im fernen Land


für Trabi-Fahrer Sommer ’89: Wie Münden durch die Ereignisse in Europa in Sri Lanka bekannt wurde
VON AXEL SCHMIDT land, or iegend über Un- als Leiter eines Eisenbahnpro- Ent icklungen in Deutsch-
Kein Extra-Bonus für Besucher aus dem Osten garn...“ jekts im Inselstaat or der Süd- land und Osteuropa mit. „Dass

S
o enig Bürokratie ie et as müsse schon pri at or- HANN. MÜNDEN. Man Es ar die Zeit der Ausreise- spit e Indiens. Selbst dort, fast dann plöt lich unsere kleine
nötig, so iel mitmensch- ganisiert erden, meint der schrieb den Spätsommer und Flucht ellen – der An- auf der anderen Seite des Erd- Heimatstadt in der Colombo
liche Hilfe ie möglich.“ Ver altungschef. Die Stadt 1989, als die Mündenerin Ing- fang om Ende der DDR. Hel- balls, erfolgte das Ehepaar Times auftauchte, das ar na-
Das ird für die Ver altung olle aber gerne solche Ange- rid Hampe im fernen Sri Lan- mut Hampe arbeitete damals gespannt die dramatischen türlich as“, erinnert sich die
der Stadt Hann. Münden an bote sammeln, die die Rat- ka (früher Ce lon) die Haupt- Mündenerin, die beim Er äh-
den besucherstarken Wochen- haus ache dann an Interes- stadt eitung „Colombo Ti- len heute noch leuchtende Au-
enden nach der Gren öffnung sierte eitergegeben ürde. mes“ aufschlug und ihren Au- gen bekommt Klar, dass der
die Leitlinie ihres Handelns Was die Über achung des gen nicht traute: „Hann. Mün- Zeitungsauschnitt aufgeho-
sein. Dies macht der damalige ruhenden Verkehrs angeht, so den“ stand da auf dem Foto ei- ben und bis heute gut er-
Stadtdirektor Karl-Wilhelm set t der Stadtdirektor auf nes be ölkerten Bahnhofs u ahrt urde.
Lange in einem Inter ie Gleichbehandlung. Will hei- lesen.
deutlich. ßen: Auch DDR-Besucher er- „Wir hätten doch nie
Besondere Werbemaßnah- den an ihrem Trabi Knöllchen „Dass unsere kleine geglaubt, dass wir das
men, um DDR-Gäste an u ie- orfinden, enn sie die Park- Heimatstadt plöt lich noch erleben werden.“
hen, soll es nicht geben, aller- eit über iehen. Allerdings, so in der Colombo Times
dings auch keine gebühren- räumt er ein, koste das Parken HELMUT HAMPE
freie Stadtführungen oder An- an den Samstagnachmittagen
auftauchte, das war na-
gebote u kostenlosen Über- ebenso ie an den Sonntagen türlich was.“
nachtungsmöglichkeiten. So ohnehin nichts. (pht) INGRID HAMPE Beide sind übrigens froh,
dass alle nachfolgenden Ereig-
nisse so friedlich abliefen und
Da u eine Bildunterschrift, schließlich ur Wieder ereini-
die die historischen Ereignisse gung führten. „Für unsere Ge-
jener Tage iderspiegelte: neration ar das immer ein
„Zehntausende on über ie- großes Thema“, er ählt Hel-
gend jungen Leuten aus der mut Hampe. „Aber ir hätten
DDR erreichten seit August Bis heute eine schöne Erinnerung: Ingrid und Helmut Hampe mit doch nie geglaubt, dass ir
die Bundesrepublik Deutsch- dem Münden-Bild in der „Colombo Times“. Foto: Schmidt das noch erleben erden.“

Werden die Wohnungen reichen?


Stadt Münden nutzt unter anderem das Haus der Jugend, um die Ausreisewelle aufzufangen

H
erbst 1989: Seit Wo- den Wohnungen. Das macht Für die orübergehende Un- rektor Rolf Blumentritt, kön-
chen schon sch appt auch etlichen Alt-Bundesbür- terbringung nut t die Stadt ne die Aus- und Übersiedler
die Ausreise elle über gern Sorgen. das Haus der Jugend, die ehe- höchstens orübergehend un-
Ungarn auch auf den Altkreis „Noch kann ich die Leute malige Vorschule am Plan und terbringen, ihnen aber eder
Münden über. Seit dem 3 . unterbringen“, stellt Hubert Ferien ohnungen. Daneben Wohnungen noch Arbeitsplät-
September kommt usät lich Sorgat , der stell ertretende hat die Stadt ein Haus in Bona- e anbieten.
die Tschechoslo akei als neu- Leiter des So ialamtes, fest. 62 forth angemietet, und es steht „Wir haben bisher on dem
Schon nachts in Warteposition es Transitland hin u. Zu Zehn- Übersiedler aus der DDR hät- im Bedarfsfall auch noch das großen Zustrom nichts ge-
Nach dem Berliner Mauerfall Jeder will der erste sein. Unser tausenden flüchten DDR-Bür- ten sich in seinem Amt nach Haus Warstein beim Haus We- merkt“, ieht der Dransfelder
am 9. November 1989 wer- Bild entstand Mitte Novem- ger in den Westen. Da u kom- einer Wohnung erkundigt. serland bereit. Was fehlt, sei- Samtgemeindedirektor Burk-
den Tag für Tag neue Über- ber morgens um 4 Uhr bei men noch diejenigen, deren Die meisten seien aber sicher- en große Wohnungen, sagt hardt Eggert Z ischenbilan .
gänge geschaffen. Wo immer Mackenrode im Südharz, zwi- Ausreiseantrag genehmigt lich bei Ver andten und Be- Sorgat . Diejenigen, die in jüngster
eine Grenzöffnung bekannt schen Bad Lauterberg (West) urde und die Aussiedler. kannten untergekommen. In der Gemeinde Staufen- Zeit gekommen seien, hätten
wird, stehen schon des und Nordhausen (Ost). (asc) In den Kommunen läuten Da u seien noch 6 Aussiedler berg ist das Wohnungspro- über den normalen Woh-
Nachts die Trabis Schlange: Foto: Schmidt bereits die Alarmglocken, ins- aus Polen und 37 Russland- blem noch größer. Die Kom- nungsmarkt untergebracht
besondere egen der fehlen- deutsche gekommen. mune, so erklärt Gemeindedi- erden können. (pht)
Samstag, 7. November 2009 Altkreis Münden

November ’89: Die Grenzöffnung vor 20 Jahren

Dem Mauerfall zuvorgekommen


Skizzen und
Notizen von der
Grenzöffnung
Am 7. November 1989, zwei Tage vor der Grenzöffnung, floh Carsten Timm (damals 23) über Tschechien
Ganz flott kommt das
VON KATJA RUDOLPH
Begrüßungsgeld ohin. „Teil eise fuhr der
Über ihren eigenen Schatten Zug Richtung Osten, da ka-
HANN. MÜNDEN. „Liebe men sofort ilde Spekulatio-
springt die vielgescholtene bun-
Landsleute ...“, als der Leiter nen auf, dass ir jet t urück-
desdeutsche Bürokratie.
der Bundesgren schut -Kaser- müssten“, erinnert sich
Weil an einem Sonntag ein uner-
ne in Fulda die Republikflüch- Timm.
wartet starker Ansturm von
linge aus der DDR mit diesen
DDR-Besuchern verzeichnet
Worten begrüßt, schießen
wird, die ihr Begrüßungsgeld im Zahlen, die mit seiner
Carsten Timm (heute 43) die
Rathaus abholen wollen, gerät Flucht usammenhän-
Tränen in die Augen. Es ist der
Sozialamtsleiter Willibald Oehl
in arge Bedrängnis. Das Geld in
8. No ember 1989, und Cars- gen, tippt Carsten Tim
seiner Kasse reicht nicht.
ten Timms Leben in der BRD heute noch im Lotto.
ist gerade mal einen Tag alt.
Kurzerhand ruft er den Zweig-
Was er u diesem Zeitpunkt
stellenleiter eines Geldinstituts
noch nicht eiß: Nur einen In Fulda heißt es für seinen
an mit der Bitte, ihm doch noch
Tag später ird die innerdeut- Waggon: Aussteigen. Man
etwas Geld zur Verfügung zu
sche Gren e fallen. ird in der Kaserne unterge-
stellen.
Bis dahin hatte der 23-Jähri- bracht und erpflegt – und
Wenig später stapeln sich
ge Brandenburger (aus Rück- on Bundesgren schut beam-
40 000 DM in seiner Kasse.
ersdorf nahe dem Spree ald) ten befragt. „Das ar schon
seinen Abschied aus der DDR
Ein Mündener hilft mit ohne große Gefühlsausbrüche
aufregend, denn aus der DDR
hatten ir ja keine guten Er-
1000 D-Mark aus hinter sich gebracht. Es ar fahrungen mit der Poli ei.
Von der Geldnot in der Stadtkas- ohl eher die Abenteuerlust, Aber dann habe ich gemerkt:
se hatte zuvor auch ein Münde- die den jungen Malergesellen He , die sind ja gan locker.
ner Bürger erfahren. gen Westen og. Mit ehn Sie hatten gar nicht dieses
Schnurstracks macht er sich auf Freunden heckte er an einem herrschaftliche Denken: Wer
den Weg ins Rathaus, um auszu- Kneipenabend den Plan aus, ein Organ des Staates ist, steht
helfen. Er zieht 1000 DM aus sei- als die Gren e u Ungarn be- über den Leuten.“
ner Tasche und übergibt sie Oehl reits offen ar. Die Clique ar Am Abend des 9. No ember
gegen Quittung. am 7. Oktober, dem 4 . und dann flimmern im Aufent-
Einen Tag später kann er sein let ten Nationalfeiertag der haltsraum der Kaserne die Bil-
Darlehen wieder abholen. DDR, auch ur Demo nach Hält nichts vom Ost-West-Schubladendenken: „Ich fühle mich als Mündener – nicht als Ossi, nicht als
Wessi“, sagt Carsten Timm. Heute vor 20 Jahren, genau zwei Tage vor der Grenzöffnung, ist er aus der der on der Gren öffnung
Leip ig gefahren – nicht um über den Fernsehbildschirm.
400 DDR-Bürger mit umachen, sondern aus DDR nach Westdeutschland geflohen. Foto: Rudolph
„Ich konnte das erst gar nicht
ab einem Tag Neugier. „Wir hatten enig glauben“, sagt Timm. Kur
Genau 105 DM Begrüßungsgeld politische Ambitionen, ir Am 7. No ember set t er ren, die rübermachen ollen, Er guckt auf die Armbanduhr: habe er überlegt, ob er ieder
erhält jeder der rund 400 DDR- ollten damals einfach unse- sich mit einem Fahrschein ein Ta i ur Gren e – 2 Ost- 16. 4 Uhr ist es am 7. No em- urück fahre – ie et a die
Besucher, die sich an einem Tag re Ruhe und unseren Spaß“, nach Karlsbad in den Zug. mark kostet ihn die kur e ber, als der 23-jährige die 4 Hälfte der Menschen in der Ka-
bei der Stadt Münden melden. sagt Timm. ,Wir sehen Euch doch so ieso Fahrt. Dann geht es u Fuß ei- Jahre alte Deutsche Demokra- serne. „Aber dann ar mir
100 DM werden der Kommune Doch als die geplante Flucht nicht ieder’, sagen die ost- ter, querfeldein ins Gren ge- tische Republik erlässt. Die klar, ich mache eiter.“
vom Bund erstattet, die restli- über Tschechien näher rückte, deutschen Gren beamten u biet. Mulmig ist es dem jungen Zahlen 16, 4, 7, 11, 23, 4 tippt Ärgert er sich nicht manch-
chen fünf DM trägt der Landkreis sprang einer nach dem ande- den Menschen im ollbeset - Mann schon. „Da standen Carsten Timm noch heute mal über sein schlechtes Ti-
Göttingen. ren ab. Zum Schluss ar dem ten Zug, erinnert sich Timm. tschechische Gren er mit Ma- beim Lotto. ming damals? Nein, kommt
Um Missbrauch zu verhindern, damals 23-Jährigen klar: Ich „Die ussten auch, as die schinenpistolen um den Hals, Die erste Nacht in der BRD ohne Zögern die Ant ort.
gibt’s bei der Auszahlung zwei muss das allein durch iehen. Stunde geschlagen hat.“ und ir ussten nicht, ie sie erbringt er in einer Turnhal- „Z ei Tage später äre ich
Stempel in den DDR-Personal- Der Mutter hatte er on seinen In Eger, einer der ersten Sta- reagieren.“ Sie ließen die DDR- le, usammen mit hunderten ahrscheinlich nicht mehr
ausweis: einmal das Stadtsiegel, Plänen schon er ählt. „Sie hat tionen hinter der Gren e, leert Bürger passieren. anderen DDR-Bürgern. Am gegangen. Der Ansporn hätte
das andere mal den Datums- gan schön geschluckt“, erin- sich der Zug schlagartig. Cars- Carsten Timm eiß, dass er nächsten Tag erden sie in ei- gefehlt – das konnte dann ja
stempel. nert sich Carsten Timm. ten Timm teilt sich mit ande- jet t einen großen Schritt tut. nen Zug geset t, keiner eiß, jeder.“

Finanzausschuss
erhöht Etatposten
Auf den unerwartet starken An-
sturm von DDR-Bürgern in die
Stadt Münden reagiert der Fi-
„Ich wollte hier ein Leben anfangen“
nanzausschuss der Dreiflüsse- Für die Unterstützung nach seiner Ankunft in Hann. Münden ist Carsten Timm heute noch dankbar

D
stadt. er 7. No ember ist im- Nach einer kur en Z i- Mit seiner offenen Art erinnert sich Carsten Timm später – mit dem Solidaritäts-
Er erhöht den im Etat 1989 mit mer noch ein Festtag schenstation im Gren durch- knüpfte er schnell erste Kon- amüsiert. Heute er altet er uschlag, als die Einheit an-
220 000 DM angesetzten Posten für Carsten Timm, der gangslager Friedland kam takte in der Drei-Flüsse-Stadt, mit seiner gleichnamigen Fir- fing, den Steuer ahler Geld u
für Begrüßungsgeld um 280 000 in ischen in Hann. Münden Carsten Timm am 1 . No em- mit der Hilfe on Margret Hen- ma 1 Wohneinheiten im kosten.“ Und die gelegentli-
DM auf eine halbe Million DM. als Immobilien er alter ber 1989 nach Hann. Münden. kel fand er schon Mitte No- Altkreis, in Kassel und Göttin- chen Wit e u seiner Her-
Die bei der Auszahlung angefal- selbstständig ist. Er begeht ihn „Ich möchte irgend ohin, o ember einen Job beim Maler- gen und beschäftigt fünf An- kunft nimmt Timm noch heu-
lenen Personalkosten muss die mit Menschen, die ihn seit der man Hochdeutsch spricht“, betrieb Gessner, o er on Fa- gestellte. te gelassen. „Über Ba ern und
Kommune aber selbst tragen. Ankunft hier unterstüt t ha- hatte er auf die Frage nach sei- milie Nitschmann her lich Mit Ost-West-Denken kann Ostfriesen macht man sich
ben und Einfluss auf sein Le- nem Wunsch iel gesagt. „Da- aufgenommen urde. „Dabei er nichts anfangen: „Ich fühle doch auch lustig.“
Glühwein, Würstchen ben in Westdeutschland hat- mals dachte ich, dass ich auch habe ich gleich am ersten Tag mich nicht als Ossi und nicht
am Rathaus ten. Hochdeutsch spreche“, sagt erschlafen“, erinnert sich als Wessi – ich bin Münde-
Humorvoll
Treffpunkt Rathaus - so heißt Timm und lacht. Seinen Ost- Timm. „Ich ollte erst gar ner“, sagt der 43-Jährige Vater
eine Aktion der Mündener dialekt habe er sich mit der nicht mehr hingehen, denn in einer dreijährigen Tochter. Al-
Soli in Ost und West
Stadtverwaltung für die Besu-
cher aus der DDR.
Neue Eindrücke Hilfe seiner ersten Chefin
schnell abtrainiert. Wer heute
der DDR hatten ir gelernt:
Wenn man im Kapitalismus
lerdings habe er außer u El-
tern und Gesch istern kaum Aus dem Ost-West-Thema
An einem Sonntag gibt es Glüh- mit Timm spricht, ürde lebt und einmal erpennt, ist noch Kontakte in seine alte machte Carsten Timm auch ger-
wein, Würstchen und Getränke Kiwis als Kartoffeln nicht auf die Idee kommen, man seinen Job los.“ Natürlich Heimat. Nur einige Zeit nach ne selbst mal einen Scherz. So
für eine Mark (Ost oder West) An eine Anekdote aus den ersten dass er Brandenburger Wur- flog der junge Mann nicht seinem Wechsel in die Bun- habe er staunende Gesichter ge-
auf dem Rathausplatz. Im Ange- Mündener Tagen erinnert sich eln hat. raus, sondern blieb fünf Jahre desrepublik merkte er, dass er erntet, als er einmal erzählte, als
bot sind ferner eine Zimmerbör- Carsten Timmheute noch mit Am ersten deutsch-deut- im Betrieb. im Osten als „Wessi“ gesehen Ossi im Westen müsse er keinen
se; Gästen werden hier Über- Schmunzeln. Mit einem Bran- schen Wochenende strömten Dann machte er eine Fort- urden. „Die Stimmung ur- Soli zahlen.
nachtungsmöglichkeiten ver- denburger, der ebenfalls hier un- seine bisherigen Landsleute in bildung um Immobilienfach- de irgend ann schlechter – Im Osten foppte er Bekannte mit
mittelt. tergekommen ist, geht er zum Massen nach Hann. Münden. irt und eröffnete seine eige- ar halt doch nichts mit blü- einer anderen Variante des Wit-
Einkaufen in den Supermarkt. War das nicht ein komisches nen Haus er altung. „Mein henden Landschaften.“ zes: Wer im Westen lebt und aus
Kaufleute richten Eine Frau hat vier Kiwis im Wa- Gefühl? Keines egs, findet erstes Büro ar gerademal Im Westen habe er nach sei- der DDR kommt, bekomme den
gen. „Kiek mol“, staunt Timms Timm. „Ich ar ja nicht Besu- ehn Quadratmeter groß, und ner Flucht keine negati en Er- Solidaritätszuschlag zurücker-
Pendelverkehr ein Begleiter, „die verkaufen hier die cher, ich ollte hier ein Leben ich hatte anfangs nur ei fahrungen gemacht. „Die stattet – schließlich habe man ja
Einen kostenlosen Buspendel- Kartoffeln sogar einzeln.“ nichts von der Verwendung.
anfangen.“ Miet ohnungen im Angebot,“ dummen Sprüche kamen erst
verkehr zwischen Witzenhausen
und Münden richtete die Mün-
dener Werbegemeinschaft für
Besucher aus der DDR Mitte No-
vember ein.

Fahrpläne für Strecke


nach Nordhausen
Schneller als die Deutsche Bun-
desbahn ist die HNA-Mündener
Allgemeine, in deren Geschäfts-
stelle es von Mitte November an
den Fahrplan für die neue Bahn-
strecke Northeim - Nordhausen Trabis, Tränen, Zukunftsträume... Am Montag setzen wir diese Serie fort
gibt. Nach dem Mauerfall am 9. November schen aus dem Altkreis Münden erlebten bis und Wartburgs heranknatterten, Wohnheim für DDR-Flüchtlinge wurde.
Auf dieser Strecke verkehren zu in Berlin gingen auch die Grenztore die Grenzöffnung am Eichsfeld mit, vor wie die Apfelsinenstände des Münde- So setzen wir unsere Serie ab kommen-
dieser Zeit fünf Züge fahrplan- zwischen Nordhessen/Südniedersach- Hohengardern oder bei Duderstadt, und ner Markts belagert und die Landespo- dem Montag mit Schicksalen und Ereig-
mäßig. (pht) sen und Thüringen auf. Viele Men- wie danach endlose Schlangen von Tra- lizeischule zum vorübergehenden nissen aus jenen Tagen fort. (asc)
Montag, 9. November 2009 Altkreis Münden

November ’89: Die Grenzöffnung vor 20 Jahren

Skizzen und
Notizen von der
Grenzöffnung
Bananen, Ananas,
Kiwis die Renner
Bananen, Orangen, Ananas und
Kiwis, aber auch Erdnüsse und
bunte Paprika sind die Renner
auf dem Mündener Wochen-
markt. Die doppelte, wenn nicht
sogar die dreifache Menge an
Südfrüchten will das Händler-
paar Mundstock im Großmarkt
ordern. (zpy)

Ein Kaffee, Gespräch


und Übernachtungen Kaufen leicht gemacht: An den Schaufenstern einiger Geschäfte prangten einladende
Für Übersiedler aus der DDR bie- Hinweise für Gäste, dass auch mit der DDR-Währung bezahlt werden kann.
Repro oben: nh, Repro unten: Till:
tet sich die Arbeiterwohlfahrt
(Awo) als Anlaufstelle an. Sie hat
eine Liste von Mündener Bür-
gern zusammengestellt, die be-
reit waren, Gäste aus der DDR zu
einem Kaffee, zu Gesprächen
oder auch für eine Übernach-
tung einzuladen.

Dringender Aufruf
zu Kleiderspenden
Wegen des dringenden Bedarfs
an Kleidung für die umgesiedel-
ten DDR-Bürger rufen DRK, ASB
und die Landespolizeischule
Niedersachsen gemeinsam die
Bürger im Altkreis zu rascher Hil-
feleistung auf. „Die Schlacht um die Südfrüchte“ titelte die HNA-
Mündener Allgemeine Mitte November ’89. Orangen und an-
Freier Eintritt dere Früchte fanden an den Mündener Markttagen und an-
derswo reißenden Absatz. Repro: nh
mit DDR-Ausweis
Bei Vorlage des DDR-Ausweises

„Da muss ich dabei sein!“


erhielten Besucher für einen
Theaterbesuch (Menagerie von
Curt Goetz) im Rittersaal des
Welfenschlosses freien Eintritt.
Beim Besuch eines der beiden
Kinos (Schiller-Lichtspiele und
Wintergarten) wurde der Eintritt
Gerd Neufang, damals 2. Vorsitzender der Kaufleute, und seine Erinnerungen an den 9. November
auf drei DM reduziert. (pht) VON PETRA SIEBERT meinschaft allen Ein elhänd-
lern durch Rundruf bekannt,

N
och heute kann ich dass die Ladenöffnungs eiten
Vereine mich gan genau erin-
nern, ie ir das erste
für Sonntag freigegeben ur-
den.
verzichten auf Mal on der Gren öffnung
hörten“, er ählt Gerd Neu-
Die Stadt ar dann auch
rappel oll, die Parkplät e mit
Beiträge fang, langjähriger Mündener
Geschäftsmann und damals
Trabis und Wartburgs belegt.
Dieses Schauspiel iederholte

V
ereine, egal ob sportlich stell ertretender Vorsit ender sich an den folgenden Sonnta-
oder kulturell ausge- der Mündener Werbegemein- gen. Die Menschen in Münden
richtet, bieten große In- schaft. „Es ar Donnerstag, begrüßten die Gäste her lich,
tegrationschancen. Aus dieser der 9. No ember. Wir aren schenkten ihnen Obst, Süßig-
Überlegung heraus schlägt die ur Vereidigung unseres Soh- keiten und Geld. Zu der Zeit
Mündener CDU-Fraktion dem nes gefahren. Als ir am entstanden eine Menge
Rat or, die Stadt möge für Abend ieder uhause aren, Freundschaften ischen Bür-
Umsiedler ölf Monate lang erlebten ir bei Freunden or gern aus Ost und West, unter
die Mitgliedsbeiträge für ei- dem Fernseher den Fall der den Ein elhändlern und den
nen Sport- oder Kultur erein Mauer.“ Vereinen. Einige haben bis
übernehmen. Die Vereine sind Gleich am nächsten Tag heute Bestand.
jedoch schon on sich aus be- habe er bei Hans Schösso an-
reit, auf Mitgliedsbeiträge u gerufen, dem Vorsit enden Sofort mit Plänen zum „Fest
er ichten oder diese umin- der Werbegemeinschaft und der Freu(n)de“ begonnen
dest u erringern. gesagt: „Du, ich fahre mit mei- Der Vorstand der Werbege-
ner Frau nach Duderstadt. Da meinschaft hatte dann die
Einige Neubürger schon muss ich einfach dabei sein.“ Idee ein Fest der Freu(n)de u
Mitglied in Sportvereinen Das Ehepaar Schösso schloss feiern“, erinnert sich Neufang.
Der MSV beispiels eise hat sich sofort an. „Römm tömmtömm“: Den Sound der Zweitakter wird man mal nie vergessen, ebensowenig den „Das fand dann im Mai 199
einen ehemaligen DDR-Bürger „Wir haben da S enen er- „Duft“ des Treibstoffgemischs, das in blauen Wolken über die Fahrbahnen waberte. Dieses Repro ei- statt, doch die Planungen lie-
bereits solange beitragsfrei ge- lebt, die man sich nicht or- nes Zeitungsbildes vom November zeigt Trabis in Münden beim Einbiegen auf die Pionierbrücke. Der fen sofort an.“
stellt, bis dieser sich die Bei- stellen kann“, berichtet Neu- Wagen links trägt übrigens ein Göttinger Nummernschild. Repro: nh Dieses Fest urde eine der
träge leisten könne, sagt Vor- fang. Ein Mann sei ihm entge- größten Veranstaltungen in
sit ender Jürgen Toelle bei ei- gen gekommen und gefragt: len. Dann sei den Mündenern eingeladen und ihnen Geld ge- den Seiten jahrelang gepflegt. der Stadt, an der 5 Akti e
ner Umfrage, Ähnlich die TSG „Bin ich in Deutschland?“. Als eine Familie mit ei Kindern geben, eil sie sich gerne Am Samstag, ei Tage mit irkten und tausende on
Münden. Auch hier, so Vorsit- sie dies bejahten, sei ihenn entgegen gekommen. „Die ha- Jeans kaufen ollten“. Diese nach dem 9. No ember, gab Gästen und Einheimischen
ender Günter Schmidt, er- der Mann um den Hals gefal- ben ir gan spontan u uns Bekanntschaft urde on bei- der Vorstand der Werbege- feierten.
ichte man orerst auf den
Vereinsbeitrag.

Motiviert und lernwillig


.Bei der Mündener Turnge-
meinde ist der eil noch kein
Aufnahmeantrag on Über-
siedlern oder Flüchtlingen ge- Firmen machten damals gute Erfahrungen mit ehemaligen DDR-Bürgern
stellt orden. Das Thema er-

B
de aber, so Geschäftsführer eruflich sind sie fast alle ral positi aufgefallen, er äh- sechs öchige Anlern eit.
Hans-Christoph Werner, den qualifi iert, on ihrer len sie. Werksleiter Peter Lübke
Vorstand noch beschäftigen. Einstellung ur Arbeit Werner Breier, Personallei- spricht on einer „sehr guten
Et as anders sieht es beim ungemein moti iert und as ter der Mündener Gummi er- Moti ation“.
Kanu-Club aus. Z ar erde ihre Zukunftsperspekti e an- ke, ersichert: Er ürde sofort 15 ehemalige DDR-Bürger
der Betreffende auch hier für geht ausgesprochen lern il- eitere Umsiedler beschäfti- kommen bei der Firma Haend-
ein Jahr freigestellt. Er müsse lig. So beschreiben die Ge- gen – selbst dann, enn hier- ler & Natermann unter. Sie
aber, so ergän t Vorsit ender schäftsführer und Personal- für keine Planstellen ur Ver- hätten keinem Mündener
Werner Imke, den Anteil be- chefs on drei großen Münde- fügung stünden. Dies sei aber auch nur einen Arbeitsplat
ahlen, den der Verein an den ner Betrieben in einer HNA- nicht so einfach, sagt er. Bis- eggenommen, betont Perso-
Verband ab uführen habe. Umfrage Ende 1989 die bis- her habe er erst einen Mitar- nalchef Günter Lohmann sei-
Der Mündener Tennis-Club lang eingestellten Übersiedler beiter einstellen können. ner eit. Es seien solche Stellen
ill, so kündigt Vorsit ender aus der DDR. Bei der Firma Aeroquip beset t orden, für die man
Dr. Klaus-Peter Lütcke an, bei Die Unternehmenssprecher (heute Eaton Fluid Po er) fin- sonst keine qualifi ierten Be-
Aus- und Übersiedlern umin- eigen sich oll des Lobes über den sechs Umsiedler, alle et- erber gefunden habe. Man
dest auf die Aufnahmegebühr Am Bankschalter: Allzu gerne trennen sich die Neubürger ihre neuen Mitarbeiter. Insbe- as über 2 Jahre alt, einen könnte leicht eitere Stellen
er ichten. (pht) Mündens von ihrer DDR-Währung. Gefragt ist jetzt die harte DM. sondere sei deren Arbeitsmo- Job. Sie durchlaufen eine beset en. (pht)
Dienstag, 10. November 2009 Altkreis Münden

November ’89: Die Grenzöffnung vor 20 Jahren

Zwischen hüben und drüben: Die Grenzöffnung zwischen


Witzenhausen und Hohengandern an der Bundesstraße B 80 (auf
DDR-Gebiet Fernstraße F 80) war von Hann. Münden aus schnell zu
erreichen. So befanden sich auch Menschen aus der Dreiflüsse-
region unter den Schaulustigen, die teilhaben wollten an den
schier unglaublichen Ereignissen jener Tage. Im Bild rechts: Trabi-
Kolonnen bei Eschwege auf dem Weg hinein in den Westen.
unten: Leserfoto/nh, rechts: Foto Baun/nh

Skizzen und
Notizen von der
Grenzöffnung Sie glauben dem Regime nicht mehr
10. November 1989: In der Hann. Mündener Landespolizeischule kommen 150 DDR-Flüchtlinge an
Läden öffnen wegen
VON HERBERT TILL ter Dr. Rolf Morié einen Anruf Verschüchtert schauen sich deshalb haben sie mit ihrem ren, um über die Gren e u ge-
des Ansturms länger aus dem Gren durchgangsla- die Neuankömmlinge um. In Staat gebrochen. langen. Von dort ging es ie-

E
Die Kaufleute in Münden reagie- s ist der 1 . No ember ger in Friedland erhält. „Kön- der Mehr ahl sind es junge In einem der Schulungsräu- der urück in den Norden,
ren auf den Besucheransturm 1989. 15 Flüchtlinge nen Sie noch eitere Men- Männer, aber auch junge Fa- me nehmen die Gäste mit ih- eil sie auch in der Nähe des
und verlängern die Ladenöff- aus der DDR steigen ge- schen aufnehmen?“ Ma imal milien mit kleinen Kindern. rem enigen Hab und Gut, Har es leben ollten, aber auf
nungszeiten. Die Verkäufer und rade in der Landespoli eischu- 1 könnten noch da ukom- Eines ist ihnen gemeinsam: Plat . Da ischen sit t ein estlicher Seite.
Verkäuferinnen machen ohne le Niedersachsen, der heuti- men, sagt er den artenden Sie glauben nicht an die Nach- junger Mann, der am 7. No- Über 1 Kilometer ar
Murren mit. gen Poli eiakademie, aus Journalisten, als er den Hörer haltigkeit politischer Verände- ember mit seinem alters- ein anderes Ehepaar mit ei
ei Bussen aus, als Schullei- auflegt. rungen in ihrer Heimat. Und sch achen Motorrad in Cott- Kindern aus Brandenburg un-
Es gab auch bus losgefahren ar. Die gan- ter egs. Die Familie ill in
schwarze Schafe e Nacht habe er hintem Len- Münden bleiben. Der Mann
Die meisten Menschen aus der ker gesessen, er ählt er mit ei- hofft, schnell Arbeit als Mau-
DDR freuen sich über die 100 ner ge issen inneren Befrei- rer oder Kraftfahrer u finden.
DM Begrüßungsgeld und kaufen ung. Zunächst habe es gereg- In einem der Wohnblocks
davon Dinge, auf die sie jahre- net, dann sei es bitterkalt ge- gibt es für die Neu-Bundesbür-
lang verzichten mussten. Unter esen. Doch schon der her li- ger je eils einen Wohn- und
ihnen gibt es aber auch schwar- che Empfang an der Gren e Schlafraum mit drei Betten.
ze Schafe, die sich das Begrü- habe seine Stimmung erbes- Da sich die Begrüßung in der
ßungsgeld mehrmals ergaunern. sert. Er olle u Ver andten Aula er ögert, ersorgen die
nahe Hanno er iehen. Eltern erst einmal ihre Kinder
Dankbar für Annahme mit Essen und Getränken.
Wunsch: Kellnern an der
von Ostmark Nordsee und in den Alpen Bei „liebe deutsche Freunde“
Viele Geschäftsleute nehmen bricht Beifall aus
auch Ostmark an, im Volksmund Ein anderer Flüchtling
kommt aus dem Vogtland. In Als gegen 18 Uhr ei ei-
ironisch „Alu-Chips“ genannt.
einer Autobahnraststätte habe tere Busse mit eiteren Über-
Die Kunden sind teilweise so
er on einem Gast irt einen siedlern eintreffen, nut t Dr.
dankbar dafür, dass sie bei Mün-
ert ollen Tipp bekommen, Morié die Gelegenheit, um
den-Besuchen noch jahrelang in
errät er. Den ill er umset- alle Neuankömmlinge u be-
diesen Läden einkaufen, dann al-
en: Im Sommer an der Nord- grüßen.
lerdings mit DM.
seeküste, im Winter in den Al- „Liebe deutsche Freunde“,
pen in der Gastronomie arbei- sagt er und muss eine Z angs-
Auch ASB nimmt ten. Aber orher ill er noch pause einlegen. Auf den Ge-
Übersiedler auf seine Freundin nachholen. sichtern der Gäste lässt sich
Insgesamt 84 Umsiedler kom- Einen Riesenum eg haben Erleichterung und Freude ab-
men im ASB-Haus am Katten- ein Ehepaar mit drei Kindern lesen. Sie stehen auf und ap-
bühl unter. Zwar werden sie in und die Sch ester der Ehefrau plaudieren – aus Dankbarkeit
der Landespolizeischule ver- hinter sich. Von Wernigerode für diesen hörbar on Her en
pflegt, erhalten aber im ASB- im Har mussten sie unächst kommenden Willkommens-
Haus umfangreiche Betreuung
Das vorerst neue Zuhause: In der Landespolizeischule Niedersachsen in Münden wurden die
150 DDR-Umsiedler von Schulleiter Dr. Rolf Morié willkommen geheißen. in die Tschechoslo akei fah- gruß.
und Hilfe bei der Bewältigung ih-
res neuen Lebensalltags. (zpy)

DRK-EINSATZ
1700 Std. Dienst
Plötzlich Frauen und Kinder
Wie die Neuankömmlinge die Polizeischule durcheinander wirbelten
in der Polizeischule
VON AXEL SCHMIDT schaftseinrichtungen neu or- des DRK, bei dem Wesemanns
Am Einsatz des DRK-Kreis- ganisieren. Duschen und Toi- Frau Rita mitarbeitete. Auch

M
verbandes Münden in der anfred Wesemann letten um Beispiel richteten sie hat die Bilder bis heute or
Landespolizeischule nah- (Mielenhausen) gehör- ir so her, dass sie für Männer Augen: „Die Menschen hatten
men Helfer des Betreu- te damals um Füh- und Frauen getrennt nut bar fast nichts als ihre Kleider auf
ungszuges, Aktive aus rungsteam des Landespoli i- aren – damals gab’ ja, im Ge- dem Körper. Wir om DRK
Ortsvereinen, Schwestern- schule. Er erinnert sich genau, gensat u heute, fast nur halfen, sie neu einkleiden,
helferinnen und Sozialar- as der Auftrag des Innnemi- Männer bei der Poli ei. Außer- und urden dabei on der Be-
beiterinnen teil. nisteriums bedeutete, für dem mussten die Übersiedler ölkerung in einer Weise un-
Er umfasste 21 Tage mehrere Wochen 15 Über- essen und trinken. Also nah- terstüt t, die irklich einma-
und Nächte mit fast 1700 siedler unter ubringen und u men sie Teil an der Voll er- lig ar. Wir organisierten die
Stunden Dienst. Es wur- ersorgen – Männer, Frauen, pflegung der Poli eischule. Kinderbetreuung, halfen bei
den 162 Menschen be- Kinder, quasi mitten in einem Behördengängen, füllten Aus-
treut und registriert – fer- Kasernenbetrieb, und ar Für Familienleben eiskarten für die Essensaus-
ner erfolgte die Registrie- on jet t auf gleich. Er er ählt: überhaupt nicht ausgestattet gabe aus...“
rung von Übersiedlern, die „Wir steckten mitten im Ge- Beim So ialamt der Stadt Gan ohne Konflikte ging
beim ASB unterkamen. In triebe der Aus- und Fortbil- haben ir Waschmaschinen dieser Trubel nicht ab, denn
einer eigens eingerichte- dung und aren entspre- und Trockner besorgt. Dann nicht jeder konnte mit seiner
ten Kleider-Annahme- chend ausgelastet. Und nun urden Frei eiträume mit neuen, ermeintlich gren en-
und Ausgabestelle wur- sollten ir aus dem Stand he- Fernsehen eingerichtet so ie losen Freiheit sofort umge-
den 4230 gut erhaltene raus ein gan es Haus freima- Kinderspielräume und eine hen.
Bekleidungsstücke abge- chen. Unsere Räume aren Kinderbetreuung, denn die El- Unterm Strich jedoch bleibt
geben. aber für Familien mit kleinen tern mussten ja u den Äm- für die Wesemann: „Die sonst
Außerdem erfolgten Kindern überhaupt nicht aus- tern gehen, außerdem Räume so uniforme Poli eischule ar
zwei Paralleleinsätze zur gestattet. Also mussten ir se- für Gespräche mit Behörden- plöt lich gan bunt, und über-
Versorgung von Übersied- hen, ie ir das komplette mitarbeitern und und und.“ all herrschte Begeisterung da- Willkommene Stärkung: Erschöpft und durchgefroren nah-
lern in Duderstadt. (asc) Haus familiengerecht neu Unterstüt ung leisteten da- rüber, dass so ieles in Be e- men die Ankömmlinge aus der DDR die Imbissstände mit heißer
möblieren und die Gemein- mals ehrenamtliche Helfer gung gekommen ar.“ Suppe oder Bratwurst gerne an. Foto: nh
Mittwoch, 11. November 2009 Altkreis Münden

November ’89: Die Grenzöffnung vor 20 Jahren

Die Neugier ist


beiderseitig:
Nicht nur im Westen
werden Menschen
aus dem (noch) ande-
ren Teil Deutschlands
gern begrüßt. Auch
die Nachbarn im Os-
ten heißen Besucher
willkommen. Hier im
südharzer Grenzdorf
Mackenrode (zwi-
schen Bad Lauterberg
und Nordhausen),
das Jahrzehnte lang
im besonders scharf
überwachten Sperr-
gebiet der DDR lag.
Foto: Schmidt

Odyssee mit Happy-End


Wie ein Heiligenstädter Ehepaar die DDR-Behörden überlistete und ihr Sohn über Ungarn floh
VON HERBERT TILL Sechs Stunden
lang irrte die

S
ie hatten in Hei- Gruppe umher, bis
ligenstadt ein ei- sie endlich einen
Neugierig auf den Osten: Schon kurz nach dem Fall genes Haus, ein bundesdeutschen
der Mauer bieten Busunternehmen und Reiseveranstalter gut gehendes Porzel- Grenzstein vor
erste Tagesfahrten nach Thüringen an. Repros: Till lanmaler-Atelier und sich sah.
eine gemeinsame Lei- Nach einem
denschaft: Antiquitä- Zwischenaufent-
Notizen von der Grenzöffnung ten. Auch der neun
Jahre alte französi-
halt im Durch-
gangslager in Gie-
sche Wagen, für den ßen trafen die jun-
Von Heiligenstadt kostenlos nach Münden sie einst 80 000 Mark gen Leute in Mün-
Zum 1. Advent organisiert die Mündener Werbegemeinschaft einen hingelegt hatten, den ein, wo bereits
kostenlosen Bustransfer ab Heiligenstadt und zurück. Mehrere hun- zeugte von ihrem ihre Eltern auf sie
dert DDR-Bürger werden aus dem Eichsfeld abgeholt, in Münden be- Wohlstand. Peter und warteten.
grüßt und am Abend wieder zurückgefahren. Einhelliger Wunsch Annerose Gelau Was trieb zwei
von Mündenern und Eichsfeldern: Bitte solche Treffen wiederholen. konnten sich vieles gestandene Ge-
leisten und kaufen, schäftsleute dazu,
Vor Begeisterung Waren verschenkt nur eines nicht: Frei- einen solchen
Ein Mündener Geschäftsmann ist von den Ereignissen so angetan, heit. Für diese Frei- schwerwiegenden
dass er tagelang Waren verschenkt oder zu Schleuderpreisen ver- heit nahmen das Paar Schritt zu wagen?
kauft. Bis seine Frau fragt, ob er sich und seine Familie ruinieren will. und sein 19-jähriger Es sei die Perspek-
Einige Besucher aus Heiligenstadt halten ihm danach jahrelang die Sohn Stefan eine tivlosigkeit in der
Treue mit der Bemerkung: „Da kaufen wir, weil man uns damals so Odyssee auf sich – nur DDR gewesen, er-
entgegengekommen ist“. wenige Monate vor klärte Peter Gelau
dem Fall der Mauer. damals. Dringend
Eine ganz persönliche Hilfsaktion Ihre Endstation war benötigtes Rohma-
Eine Mündenerin fragt in der Landespolizeischule, wo 150 Übersied- Münden. Bei Hertha terial für ihr Ate-
ler untergebracht sind, nach einer Familie, die besonders auf Hilfe Fütterer im Fährweg lier sei von Jahr zu
angewiesen ist. Sie findet sie, zieht mit ihr durch Mündener Geschäf- 6 fanden sie vorüber- Jahr knapper ge-
te und fragt die Einzelhändler, ob sie irgendwie helfen könnten. So gehend ein neues Zu- worden.
werden die Eltern mit ihren beiden Kinder von Kopf bis Fuß neu ein- hause. Manchmal sei
gekleidet, ohne dafür etwas zahlen zu müssen. Am Ende kümmert Doch zurück zu ih- Familienzusammenführung: Nach ihren abenteuerlichen Fluchtwegen fanden er tagelang im
sich die Dame noch um eine Wohnung für die Neuankömmlinge. rem fein ausgetüftel- sich Peter und Annerose Gelau (links, mit Windhund „Tishan“) sowie Sohn Stefan und Land umherge-
ten Fluchtplan. Anne- dessen Freundin Sabine in Münden glücklich wieder. Repro: Till
reist, um Keramik-
Wirtschaft bietet Arbeitsplätze an rose Gelau beantragte waren, Farben und
Die Mündener Wirtschaft tut das ihre, um dem Arbeitsamt und den bei der Polizeibehörde in Hei- Seinem Wunsch, seine Frau den Urlaub nach Ungarn ge- Pinsel aufzutreiben. Alles sei
Flüchtlingen und Übersiedlern zu helfen. Sie meldet innerhalb einer ligenstadt ein Visum für einen im Privatwagen nach West- fahren. Seinen Eltern gestand zwar da gewesen, vieles aber
Woche 15 zusätzliche Arbeitsplätze. Arbeitsamtschef Willi Wieland zweiwöchigen Verwandtenbe- deutschland begleiten zu dür- er, dass er auf keinen Fall nur für den Export.
wertete dies als deutliches Zeichen des gemeinsamen Bemühens zur such in Westdeutschland. Den fen, kamen die staatlichen mehr zurück in die DDR kom- Und das Telefon fürs Ate-
raschen Eingliederung der ehemaligen DDR-Bürger. (zpy) Stempel im Pass gab´s pro- Stellen ohne Auflagen nach. men werde. Zusammen mit lier, auf dass sie hatten zehn
blemlos. Nicht verwunderlich, denn seiner Freundin und einem Jahre warten müssen, sei nach
Doch kurz vor Reiseantritt schließlich kannte man den Dutzend anderer DDR-Bürger einem halben Jahr wieder de-
erschien Peter Gelau bei der recht erfolgreichen Geschäfts- gelang es, unbemerkt den montiert worden. Annerose
Behörde, um mit einem ärztli- mann mit seinem Vermögen dreifachen Stacheldrahtver- Gelau: Es habe sich immer
chen Attest die eingeschränk- und traute ihm eine Republik- hau an der ungarisch-österrei- mehr der Verdacht verstärkt,
te Reisetauglichkeit seiner flucht einfach nicht zu. Paral- chischen Grenze zu überwin- dass Selbstständige bewusst
Frau zu belegen. lel dazu war Sohn Stefan in den. kleingehalten werden sollten.

Mit einem
alten Atlas:
Dieser Taxifahrer war-
tete nicht auf Fahrgäs-
te. Als die Grenze auf-
ging, düste er in sei-
nem Fiat Polski spon-
tan allein hinüber
nach Südniedersach-
sen. Als Orientierung
diente ihm ein meh-
rere Jahre alter DDR-
Straßenatlas.
Foto: Schmidt
West trifft Ost: Eine chromblitzende Harley vor einem
Trabant – gesehen auf einem Mündener Parkplatz.

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