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Antonio Cho

Das Gespenst des Individualismus

Ich jedenfalls möchte wohl tatsächlich, glaube ich,


Tyrann werden, am liebsten über alle Menschen,
wenn aber nicht, über möglichst viele. Aber auch du,
glaube ich, und alle anderen Menschen möchten dies
gerne, vielleicht aber noch lieber ein Gott sein.
Theages (12 jährig) im Dialog mit Sokrates
(unechter „Platon-Dialog“)

... Ebenso wenig ist die Kollektivität eine Möglichkeit


und ein Mittel, die Ichsucht zu befriedigen.
Leopold von Wiese, 1964

Der Individualismus setzt einen Gebrauch der Freiheit


voraus, indem das Subjekt macht, was es will und was
ihm nützlich erscheint, indem es selbst „die Wahrheit“
dessen, was ihm beliebt, „festlegt“: Es duldet nicht,
dass andere von ihm etwas im Namen einer objektiven
Wahrheit „wollen“ oder fordern. Es will einem anderen
nicht auf der Grundlage der Wahrheit „geben“, es will
nicht zu einer „aufrichtigen“ Hingabe werden.
Der Individualismus bleibt somit egozentrisch
und egoistisch.
Papst Johannes Paul II., 1994

Am Anfang war die Unterwerfung

Was kann ich als Einzelne oder als Einzelner gegen die übermächtigen Verhältnisse, in denen ich lebe,
ausrichten? Das ist die Urerfahrung der Individuen in der Menschheitsgeschichte, die immer auch eine
Geschichte der kulturell vielfältigen Gestaltungen der Unterwerfung der Einzelnen unter die Diktatur von
Gemeinschaft und Gesellschaft ist, Gestaltungen die von den äußeren Lebensformen bis in die seelischen
Tiefen der einzelnen Persönlichkeiten reichen.
Dagegen stand und steht die Kultur der Auflehnung, der Unbotmäßigkeit, des Ungehorsams, ja der
Emeute: des Aufstands und Aufruhrs, der Empörung, der Revolte, des Streiks und der Verweigerung – ein
zunehmender Anspruch auf Selbstbestimmung und Autonomie der Individuen. Die schlimmste Ketzerei
wider den heiligen Geist der ewigen Wahrheit ist jedoch der Anspruch der Einzelnen, jede und jeder für
sich, die alleinige und letzte Instanz zu sein, die bestimmt, welchen Wert oder Unwert irgendwelche
Dinge des Lebens und Ereignisse dieser Welt für sie oder für ihn haben.
Das schlimmste Vergehen wohl zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte war, ist und wird sein, der
Gemeinschaft seinen Dienst zu versagen – schlimmer noch als Mord, Vergewaltigung, Folter, Raub, falls
diese im Dienste des Kampfes für irgendeine Gemeinschaft stehen. Zwar gibt es heute Völker- und
Menschenrechte, die solches kriminalisieren und garantieren sollen, dass jeder Mensch nach seinen
persönlichen Ansprüchen leben kann. Doch der Egoist wird in der Hölle braten, und die Rechtschaffenen
denken heimlich oder sagen es offen: „Recht geschieht ihm...“, denn am jüngsten Tage wird die
Siegermacht der ewigen Wahrheit und der Werte der Gemeinschaft über die Hybris der Eigenartigen,
Einzigartigen und ihre hochmütige Selbstbestimmung zu Gerichte sitzen – obgleich dies die weltlichen
Instanzen der Gesellschaft zumeist schon vorher getan haben.
Solipsismus – Narzissmus
Mir geht nichts über Mich.
Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, 1844

Wir sehen auch im groben einen Gegensatz zwischen Ichlibido und Objektlibido.
Je mehr die eine verbraucht, desto mehr verarmt die andere.
Sigmund Freud, Zur Einführung in den Narzissmus, 1914

Hat je ein Philosoph ernsthaft an die Variante im erkenntnistheoretischen Gedankenspiel geglaubt: „Es
gibt nur mich, und alle anderen sind ausschließlich Produkte meiner Phantasie“? Der Begriff des
„Solipsismus“, ein absurder, aber philosophisch unwiderlegbarer Jux, war wie geschaffen dafür, auch
jenem Gesichtspunkt im Ethikdiskurs, der allein die Autorität des Einzelnen über Wert und Unwert
anerkennt, zum vornherein den Geruch des Absurden zu verleihen oder gar den des Monströsen,
Teuflischen. Dabei müsste ein Solipsist, wenn es ihn denn gäbe, der selbstgenügsamste Mensch auf Erden
sein. Das wussten im 17. Jahrhundert schon Dichter wie Jakob Balde (1604-1664) und Angelus Silesius
(1624-1677 / „Cherubinischer Wandersmann“, 1674), für welche die Selbstliebe in mystischer
Selbstschau zum Selbstgenügen führt. Doch geht es hier nicht um philosophische Terminologie, sondern
um Bilder für die Abgründe und Anhöhen der menschlichen Seele.
Bereits für den Kirchenvater Augustinus (354-430) gilt die Selbstliebe („amor sui“) als der Anfang
aller Sünden und die Wurzel allen Übels („De civitate Dei“ / „Vom Gottesstaat“, 413-26) und auch für
den Mystiker Meister Eckhardt (1260-1328) ist die „eigenminne“ wie alles Eigene des menschlichen
Willens als Fremdes zu betrachten und zu verneinen, damit sich Gottes Liebe in ihm entfalten kann; die
Hinwendung zu sich aber ist die Hinwendung zur Finsternis („Predigten 6“ / 1313-22). Die „amor sui“
oder „amor privatus“ hält von der Nachfolge Christi ab; frei sein heißt, nichts selbst sein wollen (Thomas
von Kempen [1379-1471, „Nachfolge Christi“, 1420). Zuvor schon haben italienische Franziskaner
dargelegt, dass der Mensch im Sündenfall den wahren „ordo amoris“ („Liebesordnung“) umgekehrt hat,
indem er sich in Selbstliebe selber umarmt und an die Stelle des Schöpfers setzt. Um wieder allen
Menschen in Liebe verbunden sein zu können, bedarf es der Vernichtung des Selbst und des Selbsthasses
(Iacopone da Todi [1230-1306]: Le Laude, Nr. XLIII, 9-12). Außerhalb des christlichen Mythos finden
sich solche Perspektiven noch früher ausgeprägt im asiatischen Buddhismus. Die Tradition des
Augustinus und der Mystik setzt sich über die Jahrhunderte hinweg fort in der Rede von „amor propio“,
„amor di sé“, „propria carità“ (Dante, 1265-1321), „amer soi meismes“, „amour propre“, „amour de soi“,
„eygen lieb“, „philautia“ (Spinoza, 1632-1677), „self-love“ (Francis Bacon, 1561-1626), und wie das
Gift der Selbstliebe auch immer genannt wird.
Das Schreckgespenst von Ichsucht, Selbstsucht, Egoismus, Egozentrik, Ichbezogenheit,
Selbstbesessenheit, ja der Ich-Trunkenheit in Lieblosigkeit und Sichversagen, scheint auch noch den
Kulturkritiker Sigmund Freud (1856-1939) bewegt zu haben, als er für die kindliche Entwicklung einen
„primären Narzissmus“ postulierte, in dem die Liebe zu sich und zu anderen sich konkurrieren würden.
„Seelische Gesundheit“ wird zu großen Teilen nach dem Maß der Reifung zur Gemeinschaftstauglichkeit
und der gesellschaftlichen Bedürfnisse definiert. „Egoismus“ und „Narzissmus“, vorerst und bis heute
durchaus im disqualifizierenden Wortgebrauch, lösen im 20. Jahrhundert das Wort „Selbstliebe“ ab.
Der Colditzer Psychiater, Kriminal-Anthropologe und Rassenhygieniker, Paul Näcke (der 1907 auch
Karl Mays Geisteszustand begutachten musste) hat den Begriff „Narzissmus“ („Die sexuellen
Perversitäten in der Irrenanstalt“, 1899) als „Selbstverliebtheit“ und „schwerste Form des
Autoerotismus“ in die psychologische Literatur eingeführt. Narziss als Symbol der Selbstliebe zu
betrachten, war schon ein Einfall des Philosophen Francis Bacon; doch erst das 19. Jahrhundert (vor allem
die Epoche der Décadence) stilisierte die Figur des Narziss zum Symbol des Lebensgeizes und des
(negativ gesehenen) Egoismus. Für die vorherigen Jahrhunderte war Narziss vor allem ein Beispiel für
hoffnungslose Liebe, für ein durch Illusion getäuschtes Opfer.
Doch die antike Sage lässt sich auch anders interpretieren; etwa als Bild von der Tragik der
Selbsterkenntnis des leidenschaftlich Liebenden: „Lieben – ich muss es und schauen; doch was ich
erschaue und liebe, / Kann ich nicht greifen: den Liebenden hemmt eine mächtige Täuschung. / ... / Ach,
ich bin es ja selbst! ich merk es, mein Bild ist mir deutlich! / ... / Oh, wenn ich doch vom eigenen Leib
mich zu trennen vermöchte!“ (Ovid / 43v.u.Z.-ca. 17: Metamorphosen, III/446 ff) Nicht Selbstliebe ist das
Fatum, sondern die tödliche Unerträglichkeit der Erkenntnis, dass die Verschmelzung von Eigensein und
Welt für immer Illusion bleibt.
Die Abwehrmechanismen der gesellschaftlichen Angst vor den Ansprüchen von Eigensein sind auch
im Unbewussten der großen Denker und Forscher verinnerlicht. Beim Gegenstand des „Ich- oder
Selbstgefühls“ wird die ängstliche Sorge um sich mit der Liebe zu sich verwechselt. Der schöne Jüngling
Narkissos wird von der Göttin Artemis nicht wegen irgendwelcher „Selbstliebe“ mit der drohenden
Verzweiflung über die Erkenntnis, dass sein Geliebter nur sein Spiegelbild ist, bestraft, sondern für seine
Ablehnung aller Liebe der Männer und Frauen, seine eigenwillige Verweigerung der Hingabe. Außerdem
wäre der heutigen psychopathologischen Terminologie entgegen zu halten, dass sogenannt „narzisstisch
Gestörte“ nicht „in sich selber verliebt“ sind, sondern an ihrer extremen Abhängigkeit von Zuwendung
und Wertschätzung durch andere, an einer tiefliegenden Verlustangst, leiden.
Der Wahn, als etwas Besonderes Beachtung finden zu müssen, die zwanghafte Beschäftigung mit der
eigenen Großartigkeit, mit Phantasien grenzenlosen Erfolges, Macht, Glanz, Schönheit, idealer Liebe
dienen lediglich der Abwehr drohender Angst vor Geltungs- und Identitätsverlust. Selbstverständlich geht
mit der zwanghaften Beschäftigung, wie sehr ich bei anderen (!) zur Geltung komme oder nicht, ein
Mangel an Einfühlungsvermögen, nagender Neid, eine krasse Anspruchshaltung und eine übermäßige
Empfindlichkeit gegenüber aller Kritik einher – doch die Diagnose müsste lauten: (Selbst-) Angst, nicht
(Selbst-) Liebe. Der Kult um das „Ego“ verdeckt nur die zwanghaft ängstliche Sorge um die eigene
Position; es sind Formen, Gestaltungen der Angst vor dem Nichtsein, vor dem Ein-Nichts-sein, vor dem
kränkenden Ausschluss aus der Gemeinschaft. In Bezug auf die ängstliche Sorge um mich oder um andere
wäre Freuds Feststellung wohl zutreffend: „Je mehr die eine verbraucht, desto mehr verarmt die andere.“;
wenn sie von ihrem Autor im Kontext seiner Triebtheorie auch etwas anders gemeint ist.
Doch der moralischen Belehrung, dass die Kollektivität kein Mittel sei, die Ichsucht zu befriedigen,
bedarf Eigensein nicht. Wofür soll „die Gesellschaft“ denn da sein, wenn nicht mir zuhanden? Selbst in
einer Zeit, in der immer mehr Einzelne, vor allem in der Anonymität der Großstädte, an seelischer
Isolation leiden, besteht das Weltproblem keineswegs in Horden von Egoisten, die nur danach trachten,
ihre eigenen Bäuche vollzuschlagen. Machen wir uns nichts vor: die Einzelnen haben immer das
Nachsehen, es sei denn, sie wären mächtig (d.h. reich) genug, sich weniger um gesellschaftliche Diktate
kümmern zu müssen. Aber nur ganz wenige sind so mächtig. Und selbst ihre Macht ist klein gegenüber
der Macht der Gesellschaft.
Wird die „Würde von Eigensein“ auf die Throne der Herrscher über alle Ethik erhoben, so hat dies
nichts zu tun mit Verherrlichung der seelischen Not jener, welche, aus zwanghafter Sorge um sich,
unfähig sind, auch für andere zu sorgen. In der Realität des Lebens lässt sich das Gegenteil beobachten: Je
souveräner die sich eigene Person in sich selbst ruht, desto differenzierter erscheint auch ihr Sinn für die
Not anderer.

Die Verderbnis des Individualismus


Dass kein Herr auf Erden sein soll,
denn nur einer ist Herr, Christus selbst!
Joseph Priestley, 1769
individualistischer englischer Dissidenterprediger,
Entdecker des Sauerstoffs

Auf dieser Welt müssen das Vormachtsstreben,


die Arroganz und der Egoismus ausgerottet werden.
Fidel Castro 1998

Es geht hier nicht um eine Verteidigung des historischen Begriffs vom Individualismus, der ursprünglich
(Claude-Henri de Saint-Simon / 1760-1825) in seiner negativen Bedeutung gegen die aufklärerische Idee
des Gesellschaftsvertrages (die politische Herrschaft als selbst geschaffenes Rechtsverhältnis, dem man
sich freiwillig unterwerfe) gerichtet war.
Die Unterwerfung unter den „Gesellschaftsvertrag" geschieht ja nicht freiwillig, sondern erzwungen,
denn die Einzelnen sind zuerst einmal in eine Gesellschaftsordnung hinein geboren, die sie nicht gewählt
haben. Natürlich ist Einsicht in Notwendigkeit der Anpassung möglich. Doch das Verhältnis von
Individuum und Staat ist kein Vertrag, sondern ein Machtverhältnis, in das man ohne eigenes Zutun
geworfen ist. Dem Staat geht weder ein friedlicher, noch ein kriegerischer Naturzustand ursprünglich
freier Einzelner voran, „der Mensch“ ist nicht frei geboren. Nicht nur in der „bürgerlichen“ Gesellschaft
(wie Karl Marx [1818-83] unterstellt), sondern in jeder Gesellschaft ist der Einzelne unfrei, darum kann
es nicht um „die Freiheit“ gehen, sondern um Freiräume selbstbestimmter Lebensgestaltung.
Positiv gewendet wird der „Individualismus“ in der Aufklärungsphilosophie vorerst zum Begriff der
Befreiung des Individuums aus den absolutistischen und klerikalen Bindungen und schließlich zum
Inbegriff des Willens, den Interessen, Bedürfnissen und Rechten des Individuums Vorrang vor denen der
Gesellschaft zu geben.
Eine nicht repräsentative Stippvisite in die jüngere Geschichte der Angst vor dem Individualismus:
• Anfang des 19. Jhs. wird der Individualismus-Begriff zum Schreckgespenst stilisiert, als
widernatürliches Zerreißen des Zusammenhangs von individuellem Gewissen und
öffentlicher Meinung („Doctrine de Saint-Simon“, später auch bei Isidore-Marie-Auguste-
François-Xavier Comte / 1798-1857, „Catéchisme positiviste“, 1852). Noch beim
französischen Staatsdenker und Politiker Alexis de Tocqueville (1805-1859), erscheint das
Wort „Individualismus“ nur mehr moralisch abwertend, als Gefahr, dass die Masse
isolierter Individuen dem Despotismus eines Diktators erliegen könnten („De la
démocratie en Amérique“, 1835) – womit er, so wie er es meint, wohl nicht so unrecht hat.
Später aber, von England ausgehend, wurde der Begriff „Individualismus“ zur Grundlage
des Liberalismus.
• Kritik kam dann wieder von den Gemeinschaftsromantikern vor allem gegen die vom
Individuum her konstruierten Staats- und Wirtschaftssysteme („Laissez faire, laissez
passer, le monde va de lui-même“ / „Lasst, machen, lasst gehen, die Welt funktioniert von
selbst“ / Schlagwort des wirtschaftlichen Liberalismus im 18. und 19. Jahrhundert).
• Individualismus wird gebrandmarkt als anti-humanistische Loslösung von der
Gesellschaft,
• als entgegengesetztes Extrem zum Kollektivismus / Sozialismus.
• Der Individualismus verstehe den Menschen als bloße Summe der einzelnen Menschen
ohne innere Einheit, Gesellschaft sei dann nur ein System utilitaristischen
Interessenaustausches (ohne ideale Werte).
• Die Kritik Friedrich Nietzsches (1844-1900), der darin uneingestandenermaßen z.T. auf
Max Stirner (1806-1856) zurückgreift, ist schon differenzierter. Bei ihm ist es nicht die
Angst vor dem Individualismus, sondern ein Belächeln. Er verachtet den tugendhaften
Menschen, der „nur Mensch“ (als allgemeines Schema) ist und keine „Person“ [die
Unterscheidung stammt von Stirner, welcher statt Person „Ich“ sagt], er habe
seinesgleichen, und solle nicht einzeln [Stirner: einzig] sein: „Der Individualismus ist eine
bescheidene und noch unbewusste Art des ‚Willens zur Macht’; hier scheint es dem
einzelnen schon genug, freizukommen von einer Übermacht der Gesellschaft ... was er
erkämpft, das erkämpft er nicht sich als Person, sondern sich als Vertreter einzelner gegen
die Gesamtheit ... der Sozialismus ist bloß ein Agitationsmittel des Individualismus ... was
er will ist nicht die Sozietät als Zweck des einzelnen, sondern Sozietät als Mittel zur
Ermöglichung vieler einzelnen ... der Anarchismus ist wiederum bloß ein Agitationsmittel
des Sozialismus ... er zieht die Mutigen, die Gewagten auf seine Seite, selbst noch im
Geistigsten. Trotz alledem: der Individualismus ist die bescheidenste Stufe des Willens zur
Macht.“ Für Nietzsche soll diese Treppe vom Herdenschaf zur gemeinsamen Befreiung,
dann zu den Vorrechten, der Rangordnung und schließlich der „alleinigen Macht“ des
Stärkeren führen. Der Individualist der Gleichberechtigungs-Kampfgemeinschaft bleibt
„ein kleines, liebes, absurdes Schaf mit Hörnern“. (GW Bd. III, 604ff / Schlechta-Ausg.)
Das sind kraftvolle Worte, aber jenseits des Mitlebens in real existierenden
Machtverhältnissen gesprochen.

Vive les libertins!


Je le soupçonne encore d'être un peu libertin:
Je ne remarque point qu'il hante les églises.
Molière: Tartuffe (V.524f), 1669

live the life you love


T-Shirt-Aufdruck, 1997

Jedem gesellschaftlichen Diktat seine Häresie. Doch die Gesellschaft schenkt dir nichts; zum libertinus,
dem freigelassenen Sklaven, musst du dich schon selber machen, denn deine Freiheit wird dir von
niemandem gegeben. „Libertin“ beginnt als Schimpfname, mit dem man Häretiker belegt. So beschimpfte
Calvin (1509-1564) die Wiedertäufer als üble Bande von Libertins (1545: „Contre la secte phantastique
et furieuse des Libertins, qui se nomment Spirituels“ / „Wider die versponnene und tobende Sekte der
Libertins, die sich Geistliche nennen“), denn sie beanspruchten Glaubensfreiheit, wollten Gott überall in
der Natur sehen, betrachteten die bestehenden Religionen als rein politische Erfindungen und postulierten,
die Kirche könne nur aus bewusst Freiwilligen bestehen. Da haben die katholischen Apologeten auch
nicht zugewartet, flugs all jene, deren religiöse und moralische Verhaltensweisen von der römischen
Rechtgläubigkeit abwichen, als Libertins zu schmähen.

Epicuri de grege porcorum


Ibi nullus timet mortem, sed pro Baccho mittunt sortem.
Primo pro nummata vini; ex haec bibunt libertini ...
[Keiner fürchtet hier den Tod, sondern spendet sein Vermögen Bacchus.
Als erstes auf die an Wein reiche Schenke trinkt das lockere Volk ...]
Carmina Burana, In taberna, 13. Jh.

Damit war auch schon die Idee der Libertinage geboren, vorerst als kleines Monster des ausschweifenden
Übermaßes an moralischer und religiöser Freiheit, bald aber auch als elitäre Überzeugung von der
Notwendigkeit eines Doppellebens nach dem Motto: „Intus ut libet, foris ut moris est“; für sich privat oder
im Zirkel der Eingeweihten huldigte man einer Freizügigkeit, welche der Öffentlichkeit, in der man sich
den herrschenden Sitten entsprechend gibt, verborgen bleiben soll. Die Selbstironie des römischen
Dichters Horaz (65-8 v.u.Z.), welcher sich, als Liebhaber des Weins und der Frauen, „epicuri de grege
porcorum“ (ein „Schwein aus der Herde Epikurs“ / Episteln, Buch 1, 4,16 / 20 v.u.Z.), nennt, wird von
den Moralpriestern zur Beschimpfung verkehrt.
Der Libertin glaubte weder an den Kultus, noch an die Dogmen der römischen Religion, entzog sich
den Vorschriften der Kirche, den Regeln der Gemeinschaft und als Schriftsteller zugleich den
Normierungen der Sprache. So wurde im Frankreich des 17. Jahrhunderts die Libertinage zum Privileg
von Aristokraten, die sich damit auch gegen die staatliche Zentralisierung auflehnten. Immer stärker sollte
der Begriff des Libertin die Abweichung von der sozialen Norm kennzeichnen: intellektuell als den
Atheisten, den Gottlosen, den Freidenker; moralisch als wollüstig, dem Wein und den abwegigsten
sexuellen Vergnügungen ergeben, ohne jedes Maß; und schließlich gesellschaftlich als den Vagabunden
oder gar Banditen. Im Sprachschatz des 18. Jahrhunderts fluktuierte die Bedeutung der „Libertinage“
zwischen Mondänität und sozialer Ausschließung, Sinnlichkeit und Intellektualität.
Selbst die Aufklärung – gewissermaßen als Zeitalter der Vernunft gemäß den Bedürfnissen des
Kollektivs – vermochte vom Image der Libertinage als Inbegriff des Bösen nicht ganz abzusehen. Ihre
moralischen Maßstäbe waren nun geprägt vom Diktat des sozial Nützlichen und der Libertin verfiel der
Kritik am ausschweifenden Leben und an den „Sonderrechten“ des verkommenen Adels; im Namen der
Natur, zu welcher die Sexualität zwar gehört, wurden Kreuzzüge gegen die Selbstbefriedigung und den
Horror der Geschlechtskrankheiten geführt. Doch wurde der Bedeutungsgehalt des „Libertin“ zunehmend
ambivalent. Indem sich die Revolution für die moralische Regeneration stark machte, verstrickte sie sich
damit auch in Widersprüche zum eigenen Freiheitsideal. Verbreiteten die Revolutionäre Pamphlete gegen
die „Vie privée, libertine et scandaleuse...“ (das „private, zügellose und skandalöse Leben“) von
Königshaus und Adeligen, donnerte Jean Paul Marat (1743-93), dass die „libertins crapuleux“
(„schändlichen Libertins“) zu bestrafen seien, wurde derselbe Marat nach Ablösung der
Jakobinerherrschaft von den Termidorianern zum perfekten Epikureer und Apostel der Libertinage
mutiert, während das Regime der Termidorianer von den Montagnards des Directoire der Rückkehr zu
Verderbtheit und Libertinage bezichtigt ward.
Aber die Revolution ist auch unter dem Schlagwort der Ablehnung der Libertinage durchgeführt
worden – „Libertinage“ nicht mehr als Widerstand gegen das Diktat der Normen, als intellektueller
Nonkonformismus und sexuelle Befreiung verstanden, sondern als sexuelle Perversion, als
Verschwendungssucht der Aristokratie, als Nutzlosigkeit des Klerus und als Gewalttätigkeit des Volkes.
Die Rolle, welche die Sittenskandale auch in den zeitgenössischen politischen Kämpfen spielen und mit
deren Hilfe die Medien um ihre Auflagen kämpfen, zeigt, mit welcher Lüsternheit auch die heutigen
Menschen Skandalberichte konsumieren.

Land des Wahns


Der Aufruhr ... ist keineswegs ein moralischer Zustand
und dennoch muss er der permanente Zustand einer Republik sein...
Marquis de Sade, La philosophie dans le boudoir (anonym), 1795

Doch der Zwiespalt der moralischen Entrüstung, ihre offenkundige oder verdeckte Bigotterie, betrifft
nicht nur den Bereich der Sexualität, weit darüber hinaus wurzelt er im Zwiespalt zwischen dem Bedürfnis
nach freier Selbstbestimmung und dem Bedürfnis nach Geborgenheit in der Unterwerfung unter die
gesellschaftlichen Konventionen. Selbst ein erklärter Libertin wie Donatien Alphonse François Marquis
de Sade (1740-1814) war nicht frei davon. Als Phantast der Wollust und des Bösen, der sexuellen
Despotie, wandte er die herrschende Tugendlehre einfach in ihr Gegenteil: „Die Tugend des richtig
denkenden Menschen ist die, jeden möglichen Genuss zu erreichen und jeden möglichen Wunsch zu
befriedigen.“ – zugleich aber forderte er die aufgeklärte, egalitäre Gesellschaft. In der Glut der Revolte
des Abnormen formen sich neue Normen. So wird später der französische Dichter Arthur Rimbaud (1854-
91) programmatisch verkünden: Der Dichter „ist die zur Norm werdende Abnormität... der große Kranke,
der große Verbrecher, der große Verfemte – und der höchste aller Wissenden“ („Lettres du voyant“ /
„Seher-Brief“ an Paul Demeny, 1871).
Der selbsternannte Chevalier de Seingalt, Giacomo Girolamo Casanova (1725-98, „Histoire de ma
vie“), erklärte das Französische zur Sprache der Libertinage, die schließlich für ganz Europa zum
französischstämmigen, zugleich erschreckenden und faszinierenden Mythos geworden ist. Die Idee der
Libertinage stellt den Lustgewinn der einzelnen Person über die gesellschaftlichen Zwänge, verworfen
werden die Ordnungen und Vorschriften, welche stets den Fluss und die Impulse des unmittelbaren
Lebens blockieren.
Schon Jean-Jacques Rousseau (1712-78) war von der notwendigen Unversöhnlichkeit zwischen Ich
und Welt überzeugt – Psychopathen sind manchmal hellsichtiger, als die allzu sehr im Gefängnis der
Normalität Eingesperrten. „Lieber gehasst als normal zu sein“, das ist, ob bewusst oder nicht, bereits ein
Aspekt der Logik der Libertins; eine Einstellung, die man auch bei den Dichtern des folgenden
Jahrhunderts wieder findet, den „poètes maudits“ („verfemten Dichtern“), wie Paul Verlaine (1844-96 /
„Les Poètes Maudits“, 1884) sie unter einem Begriff von Alfred Comte de Vigny (1797-1863 / in
„Stello“, 1832) beschreibt: Dekadenz als Literatur- und Lebensform.
Über den objektiv unüberbrückbaren Zwiespalt zwischen Ich und Welt gibt es eine subjektive Brücke:
die Phantasie. Sie allein bringt das Glück: „Das Land des Wahns ist auf dieser Welt das einzige, das
bewohnt zu werden lohnt...“ (Rousseau, 1761 / VI,8). Für Denis Diderot (1713-84 / „L’Encyclopédie“,
1751ff) ist die Phantasie die lenkende Kraft des Genies: „Wahr und Falsch sind nicht mehr
Unterscheidungsmerkmale des Genies.“ Das Genie ist der Einzelne gegenüber der Gesellschaft; er hat das
Recht zur Wildheit; seine faszinierenden Fehler werden zu Funken des Schöpferischen, das im Adlerflug
seiner Ideen Häuser baut, die keine Vernunft beziehen würde. Seit der Antike bis zu Lessing und Kant
wollten die Philosophen und Dichter Erkenntnis, Ethik und Ästhetik in eine einheitliche Ordnung fügen
und das Außerordentliche des Genies an die Kontrollwerte des Wahren und Guten binden. Diderot
dagegen verweist darauf, wie häufig (wenn auch unerklärlich) Immoralität und Genialität,
gesellschaftliche Untauglichkeit und geistige Größe, zusammentreffen (z.B. „Le Neveu du Rameau“,
1762).

Die Heiligkeit des Bösen


Gloire et louange à toi, Satan, dans les hauteurs
Du Ciel, où tu régnas, et dans les profondeurs
De l'Enfer, où, vaincu, tu rêves en silence!
Fais que mon âme un jour, sous l'Arbre de Science,
Près de toi se repose, à l'heure où sur ton front
Comme un Temple nouveau ses rameaux s'épandront!
[Ehre und Lob dir, Satan, in den Höhen
des Himmels, wo du herrschest, und in den Tiefen
der Hölle, wo du besiegt im Schweigen träumst!
Gib, das meine Seele einst unter dem Baum der Erkenntnis
nahe bei dir ruht, zur Stunde, da über deiner Stirn
gleich einem neuen Tempel sich seine Zweige ausbreiten werden!]
Baudelaire, Les Litanies de Satan (Les Fleurs du Mal / CXX), 1853

„Dans tous les pays du monde l'enfantillage est maître et l'on nomme scandale l'infraction publique aux
lois qu'il a forgées“ („In allen Ländern der Erde regiert die Kindischkeit, und den öffentlichen Verstoß
gegen die Gesetze, die sie geschmiedet hat, nennt man Skandal“), schrieb Louis Aragon (1897-1982 / „Le
Libertinage“, 1924), einige Jahre bevor er der Kommunistischen Partei beitrat. Im Geiste des
Surrealismus postulierte er „le scandale pour le scandale“ („den Skandal um des Skandals willen“). Schon
in der Mitte des 19. Jahrhunderts wollte Charles Baudelaire (1821-67), was die Surrealisten in unseren
Zwanzigerjahren dann fortsetzten: eine Kunst, die der kreativen Phantasie entspringt. Der göttlich
diabolische Marquis de Sade wurde wieder entdeckt, dieser Seiltänzer über dem Abgrund zwischen der
Phantasie und der Realität der Herrschaft des Bösen, dessen Werk dem Skandalon verpflichtet ist.
Baudelaire machte aus dem Abnormen, dem Armseligen, Verfallenden, Bösen, Nächtlichen und
Künstlichen (im Sinne der Kunst) ein Faszinosum. Im Gefolge seiner Ästhetik des Hässlichen wurde die
Abnormität zum Beweggrund modernen Dichtens. Seine „Fleurs du Mal“ („Blumen des Bösen“, 1857)
bezeichnete er als „Erzeugnis des Hasses“, geschrieben aus der „leidenschaftlichen Lust am Widerstand“
und mit dem „aristokratischen Vergnügen zu missfallen“. Die Kluft in der Seele des Dichters zwischen
der satanischen Selbstbehauptung und der verborgenen Sehnsucht nach himmlischem Behaustsein ist in
der Lebensrealität unüberbrückbar. Sein „Ekel am Wirklichen“, welches die Leiden der Individuen an
diesem Konflikt nur zudeckt und beschönigt, wirft ihn immer wieder zurück in die Welt der Phantasie, in
den Traum um des Traumes willen – die himmlische Heimat bleibt leer, am Ende wartet nur der sinnlose
Tod, das Nichts. Träumend wünschte er sich „rotgefärbte Wiesen, blaugefärbte Bäume“. Rimbaud dichtete
von solchen Wiesen; der Surrealismus zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg wird diesen über das
Wirkliche triumphierenden Traum zum Programm erheben.
Das Böse und das Absurde
Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Jesus am Kreuz

Ein ursprüngliches, sozusagen natürliches Unterscheidungsvermögen


für Gut und Böse darf man ablehnen ...
Das Böse ist also anfänglich dasjenige, wofür man mit Liebesverlust bedroht wird;
aus Angst vor diesem Verlust muss man es vermeiden.
Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur (VII), 1930

Der Begriff des „Bösen“ gehört zum Wortschatz der Leidenschaften und nicht der Skepsis, denn
vernünftig ist er nicht bestimmbar. Im Kosmos der Leidenschaften wird die Macht des Bösen zum Symbol
der Würde von Eigensein. Das Böse, die Niedertracht, ist der Gegenpol im Spannungsfeld zwischen dem
Willen von Eigensein, und den Forderungen von Gemeinschaft und Gesellschaft – es ist das Symbol für
die radikale Absage an diese Forderungen, das Symbol der Selbstbehauptung des Ich gegen die immer
wieder meine Grenzen infragestellende Sturmflut der Anmaßungen der anderen. Ist diese Feststellung
absurd? Ja – sie ist ebenso absurd wie die „Würde von Eigensein“, widersinnig, unlogisch, die Grenzen
des diskursiven Verstandes überschreitend.
Die Absurdität unserer Selbstbehauptung als Einzige, in deren Leidenschaften allein Werte begründet
und vernichtet werden, ist seit Baudelaire, den Surrealisten und der französischen Existenzphilosophie
immer wieder herausgestellt und bis zum heutigen Tage durch Schwalle ethischer Diskurse wieder
zugedeckt worden. Das Absurde scheint in deinem Lebensgefühl auf, wenn du, so oft du Gott anrufst, nur
Schweigen erntest, wenn du nach dem Sinn des Lebens fragst, dein Schicksal beschwörst und keine
Antwort erhältst. Als Existenzweisen des Ekels und der Langeweile erfährst du es nach Jean-Paul Sartre
(1905-80 /„Der Ekel“, 1938 / „Das Sein und das Nichts“, 1943), da alle Versuche, die freie Subjektivität
rational zu begründen und das ihr begegnende Seiende philosophisch abzuleiten, vergeblich sind. In der
Revolte gegen die deine Freiheit einschränkenden Lebensbedingungen erfährst du, nach Albert Camus
(1913-60 / „Der Mensch in der Revolte“, 1951), das Absurde schließlich als Bejahung deines eignen
Lebens und des Lebens aller anderen: die gemeinsame Absurdität aller Existenzen führe zur Solidarität –
denn für uns alle gebe es nur einen obersten Wert: das Leben. Doch hier entgleitet Camus ins Abstrakte.
„Das Leben“ der Menschen ist eine Mystifizierung; es gibt nur mein Leben und dein Leben... und das ist
nie dasselbe; auch Solidarität in der Absurdität ist mehr Wunsch oder ethisches Postulat als Realität.
Doch „das Böse“ ist nicht als Inbegriff alles Leidens, aller Unbilden des Lebens gemeint, obwohl es in
Tortur, Mord und Krieg nichts als Elend bringt, Leben schändet und vernichtet. Das Böse ist der Aufstand
gegen das Gesetz; so wie die Figur des Satans in der jüdisch-christlichen Mythologie zum Widersacher
Gottes, der das Gesetz verkörpert, wird. Die Gesetze der Religionen sind Ausdrucksformen versuchter
Gesellschaftsordnungen, die nicht nur mit brachialer Gewalt durchgesetzt werden, sondern sich durch
Mystifizierung und Heiligung in psychischen Machtstrukturen behaupten können, ob wir diese nun
Rechtschaffenheit, Gewissen oder Überich der Persönlichkeit nennen – als öffentliche Moral schließlich
etabliert die Massenpsyche wieder den objektiven, handgreiflichen und psychischen Terror der
Gemeinschaft gegen die Leidenschaften von Eigensein. Bis heute gilt das Böse als das Gottwidrige, als
Abweichung von der Bestimmung des Menschen, die von Gott oder von „der Natur“ gesetzt worden ist.
Anderseits wird von den Apologeten des Bösen oft gerade die Natur zum rechtfertigenden Vorbild erklärt:
„Der Mord ist das oberste Gesetz der Natur... durch den Mord tritt sie täglich in ihre Rechte ein, die ihr die
Fortpflanzung raubt“, lässt de Sade („Historie de Justine ou les Malheurs de la Vertu“, 1797) den
grausamen Mönch Sylvestre zu Justine sagen. Der de Sade'sche Libertin fordert die uneingeschränkte
Autonomie selbst im Entscheid über Leben und Tod der anderen.
Das Böse ist aber etwas anderes als der biologisch-psychische Aggressionstrieb, das „sogenannte
Böse“ (Konrad Lorenz, 1963); es ist kein Abkömmling eines Todestriebes, und es ist auch nicht das Böse
um des Guten willen, wie die Ermordung von Tyrannen und die Propaganda der Tat enragierter
Anarchisten; es ist ebenso wenig das Böse aus der Verzweiflung rasender Eifersucht oder aus dem
Gefangensein im Gesetz der Sippenhaft – nein, es ist das Böse um des Bösen willen, das scheinbar sinnlos
Böse, das doch, ob erkannt oder unerkannt, die Behauptung des Individuums gegen das Gesetz der
Gemeinschaft beinhaltet. Auch der rachsüchtige Gott quält die Menschen, um sich, mit der Peitsche seiner
Willkür deren Eigenwillen brechend, als absoluter, einziger Herrscher über Gut und Böse darzustellen.
Gleich einem sich unablässig wiederholenden Ritual beschwört der Marquis de Sade in seinem Werk
die Szenen sexueller Ausschweifungen und ungeheuerlichster Brutalität – was damit gemeint ist, legt er
etwa der Figur des Herzogs von Blangis in den Mund: „Ich bin völlig sicher, dass es nicht das Objekt der
Ausschweifung ist, das uns reizt, sondern die Idee des Bösen“ („Die hundertzwanzig Tage von Sodom
oder die Schule der Auschweifung“, 1785/hg.1904). Sie ist der Inbegriff der Wollust. Doch nicht die
Realität, sondern die Phantasie ist der Tummelplatz der Leidenschaft des Bösen um des Bösen, um der
Selbstbehauptung des Individuums gegen die Arroganz des Guten der Gemeinschaft willen. Die
Faszination des Bösen lebt nicht zuletzt vom unterdrückten Aufstand gegen die Tyrannei des Guten –
heute präsentiert sie sich nicht nur in der Literatur, sondern vermittelt durch Tagespresse und
elektronische Medien als knisternde Mischung aus geiler Abscheu und sensationslüsterner Jagd nach den
latest news auf dem Markt der Berichte über alte und neue Kriegsverbrecher, Kinderschänder,
Vergewaltiger, TerroristInnen, Serienmörder ...
In der Pose des Bürgerschrecks schreibt André Breton (1896-1966) im „Zweiten Surrealistischen
Manifest“ (1930): „Die einfachste surrealistische Handlung besteht darin, mit Revolvern in den Fäusten
auf die Straße zu gehen und blindlings soviel wie möglich in die Menge zu schießen. Wer nicht
wenigstens einmal im Leben Lust gehabt hat, auf diese Weise mit dem derzeit bestehenden elenden
Prinzip der Erniedrigung und Verdummung aufzuräumen – der gehört eindeutig selbst in diese Menge ...“
Der Surrealismus sucht die Würde von Eigensein im absoluten Nonkonformismus, worin er dem 1916
in Zürich ins Leben gerufenen Dadaismus folgt. „Dada ist die lachende Gleichmütigkeit, die mit dem
eigenen Leben Erhängen spielt, ohne Mitverantwortung an dem europäischen Schwindel“, schreibt 1921
der Berliner Dadaist Raoul Hausmann (1868-1971); womit die Dada an das Ironieverständnis Nietzsches
anknüpft: „... einstweilen ist die Komödie des Daseins sich selber noch nicht ‚bewusst geworden’ –
einstweilen ist es noch immer die Zeit der Tragödie, die Zeit der Moralen und Religionen“ (Nietzsche /GW
Bd. II, 34 / Schlechta-Ausg.). Die lachende Gleichmütigkeit jedoch fehlt so manchem der alten und neuen
Libertins, die glauben, wie Revolutionäre fordern zu müssen, dass – oder schlimmer noch: wie – die Welt
verändert werde!

Noch fünf Minuten zu leben


Hinter all den zahllosen Appellen der diversen Gemeinschaftsprediger
und Krisenschwadroneure zu Verzicht und Enthaltsamkeit steckt die gräuliche
Überzeugung, dass Lebensgenuss, Freude an Luxus und Verschwendung
der Wirtschaft und damit der Moral der Gesellschaft und dem „Gemeinwohl“ schade.
Und als Sündenbock für solche gemeinschaftsschädigende Libertinage haben sie
das entwurzelte, entfremdete Individuum ausgemacht.
Herzinger, Die Tyrannei des Gemeinsinns, 1997

Zwar ist die Libertinage heute weiter verbreitet denn je, doch Wörter, wie „Libertinismus“, „Libertiner“,
„Libertin“, sind bereits veraltet und figurieren im Wörterbuch vorab als Bezeichnungen für das
ausschweifende Leben zügelloser Wüstlinge, allenfalls noch für Freigeister. In einer Zeit in der die
gesellschaftsbeherrschenden und gesellschaftsbeherrschten Medien im wirtschaftlichen Überlebenskampf
nichts mehr fürchten müssen, als Opfer des großen Gähnens zu werden, ist Häresie begehrter als verfolgt
und fällt höchstens in Gesellschaften auf, in denen Häretiker noch oder wieder öffentlich verfemt,
bespitzelt, gejagt und an Leib und Leben bedroht werden. Auch wenn die Bigotterie in der „freien Welt“
ihre lächerlichen Orgien feiert, ist die „68er Anarchie“ nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Lediglich
die Weltverbesserungseuphorie musste ihre Waffen strecken (weiß der Teufel, wo sie diese vergraben
hat).
„Vielleicht hast du nur noch fünf Minuten zu leben, aber das sind fünf Minuten nach deinen
Bedingungen“, zitiert Falko Blask („Ich will Spass“, 1996) den heimlichen Trend unserer postmodernen
Gesellschaft zur „kreativen Willkür“. Der metaphysische Pessimismus ist der fraglose Background: „In
Anbetracht des Wärmetods des Universums ist es ziemlich gleichgültig, womit wir uns während unserer
kurzen Lebensdauer beschäftigen.“ Und als gemeinsames Band dieser Chaos- und Spektakel-Gesellschaft
zitiert er den Münchner Philosophen Hans-Martin Schönherr-Mann: „Immer noch besser, wir amüsieren
uns zu Tode, als dass wir den Heldentod für große Ideen sterben!“ Hallo, Moralist im Hedonistenpelz!
Woher weißt du, was es anderen bringt, den Heldentod für große Ideen zu sterben? Gleich um die nächste
Ecke lauert die neue Norm: „Die Zehn Gebote für Soziopathen“ (Blask), das Pflichtenheft für die
Spaßsucher. Wie haben es die Pariser 68er an die Wände geschrieben: „Il est interdit d'interdire“? Im
übrigen gibt es kaum eine irreführendere Floskel als das Mediengeschwätz von unserer „Spaßgesellschaft“
(die nun ja zu Ende sein soll) – welch ein gekünsteltes Gelächter!
Autonomie als ethisches Ideal ist ein hölzernes Eisen: die „Selbstverwirklichung“ als Pflicht, als
Kriterium seelischer Gesundheit. Wege zur Glückseligkeit kann man wohl anpreisen, Anleitungen und
Kurse dazu auf dem freien Markt zu verkaufen versuchen, einander zum gemeinsamen oder einsamen
Genuss verführen – doch was als heimliche neue Freiheit beginnt, gerät, ehe man sich's versieht, zur
heimlichen neuen Sittenlehre. Das Streben nach moralischer Aristokratie durchzieht die Kulturgeschichte
in mannigfaltigen Formen, ebenso oft verleugnet, wie offenkundig. Auch Nullbock-Attitüden wie
Diskurse der Verrücktheit, Nothing-to-loose-Philosophien und welche Nonkonformismen auch immer
werden gelegentlich zur Mode, welche man mitmachen muss, wenn man IN sein will. Warum auch nicht.
Die Libertins begannen als Häretiker. Die Einengung auf das Böse, auf die Wollust, auf die
Sinnlichkeit, auf den Spaß ist oft als Symbol der Würde von Eigensein, des rebellischen Neins zur
Arroganz von Gemeinschaft und Gesellschaft, zu verstehen; doch sie verfehlt stets die Fülle des Lebens
und der Leidenschaften. Jede Befreiung, die sich allzu ernst nimmt, die sich in allzu große Hoffnungen
verstrickt, wird leicht zu einer Befreiung von alten zu neuen Zwängen. „Vive les libertins!“ heißt hier:
Ehre dem Prinzip der Häresie; es lebe die Rebellion gegen die Arroganz der jeweils realen Anmaßungen
der Gesellschaft gegenüber dem Individuum – sofern die Häretiker und Rebellen auch über sich selber zu
lachen verstehen.

Dem Eigensein die Welt


Der Eigner kämpft nicht mit dem Monarchen;
er ordnet ihn sich ein.
Insofern ist er dem Historiker verwandt.
Ernst Jünger (Eumeswil. 1977)

Meine Einstellung zur Politik: Dem Eigensein die Welt! Das ist ein ernsthafter Scherz. Ernsthaft als
Mahnung zur permanenten Wachsamkeit gegenüber den ethischen Anmaßungen, welche mir weismachen
wollen, es gebe außerhalb der real existierenden Machtansprüche und Machtverhältnisse ein
(himmlisches?) Ideal des wahren Menschentums, dem ich zu genügen hätte. Ethik, welche sich jenseits
der Willkür ihrer jeweiligen Erfinder und Verfechter wähnt, ist zumindest eine philosophische
Selbsttäuschung (seit Aristoteles). Auch der von ganz unterschiedlichen Interessengruppen portierte
Begriff vom „Naturrecht“ ist eine Vokabel aus dem Arsenal der psychologischen Kriegführung. Warum
auch nicht, wenn es in modernen Verhältnissen überzeugender wirkt als „Gottes Wort“.
Kriegführung? Ja. Krieg ist hässlich und schrecklich; wer sich freiwillig darin opfert, bedarf eines
starken Glaubens. Ich könnte und wollte es nicht. Und dennoch kann solches Unglück den unverkrüppelt
Überlebenden gelegentlich Erleichterung und mehr Glück bringen. Aber manchmal auch nicht. Jedenfalls
sind Verhältnisse, welche das real existierende Glück der Individuen ein bisschen nachhaltiger
begünstigen, viel eher auf die pragmatisch kluge Einschätzung der wirklichen Machtverhältnisse und
einen geeigneten Umgang mit ihnen zurückzuführen und kaum auf die ethische oder weltanschauliche
Unbestechlichkeit weiser Mahner.
Dem Eigensein die Welt! Auch das ist ein Machtanspruch, eine leidenschaftliche Vorliebe für
gesellschaftliche Zustände, in denen die unaufhebbare Diktatur der Gemeinschaft so angreifbar und
veränderlich bleibt, dass mein eigener Gestaltungswille sich, obzwar nicht ungehindert, so doch so
lebendig wie nur möglich entfalten kann. Selbst den härtesten Stein muss der Künstler irgendwie nach
seiner Vorstellung behauen können, ist der Widerstand zu groß oder zerbröckelt er zu Sand, wird die
Leidenschaft sinnlos.
Dem Eigensein die Welt! Das ist ernst gemeint in der Leidenschaft von Eigensein, die Welt als die
meinige zu wollen, Erde, Mond, Sonne und Sterne, die Leere, die Hölle und die schwarzen Löcher und die
Luft zum Atmen, die würzige, nicht die erstickende, und den Wein zum Trinken, den köstlichen, nicht den
vergifteten, und die Äpfel vom verbotenen Baum, das Original, nicht die gewachste Kopie.
Die Welt als die meinige, auch dich, die du das selbe willst, doch nicht die Vielen, die glauben, an die
Demut zu glauben, die sich verneigen vor einem Höchsten außer sich, deren Angst vor der Erkenntnis,
selber einzig zu sein, so mächtig ist, dass sie ihnen gar nicht in den Kopf kommt, und kaum in den Bauch,
dass sie ihr Einzigsein aus Furcht vor der schwarzen Einsamkeit in den Spiegel verlegen, irgendwo
draußen. Nicht sie wähle ich, aber die übrige Welt, zum Atelier und Rohstoff meines Wollens
gestaltendem Spiel, in dem ich eigen bin, nicht mich suchend, nur seiend, nicht mich, nur ich.
Dem Eigensein die Welt! Das ist aber auch ein Scherz, weil die Skepsis nicht glaubt, dass die Welt
grad auf mich gewartet hat, sowenig wie auf dich, nicht auf die Völker und nicht auf die Fliegen. Weil ich
auch Spielball dessen bin, womit ich spielen will, Sklave des Steins, den ich behaue, Hofnarr meiner
Leinwand und Farbe, meiner Formen und Töne und Weisheit, Untertan der Tyrannei des Gemeinen, des
Guten und des Bösen der Gemeinschaft, die mich beutelt und nährt, liebt und hasst, so wie ich sie, ein
Spielstein im Gesellschaftsspiel, in welchem mich die Zeit verwürfelt, die Natur wieder verschlingt, kaum
hat sie mich ausgespuckt.
Dem Eigensein die Welt! Oder willst du etwas anderes auf deine Fahne schreiben? Dann geh, wir
müssten uns bekriegen! Mit welchem Sinn? Mit keinem. Ich habe bloß die Spielregeln so bestimmt, aus
Leidenschaft und Skepsis. Zu rechtfertigen gedenke ich sie nicht – vor niemandem!

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Weitere Publikationen des Autors:

Antonio Cho: außer dem nichts – zur Kunst von Eigensein


– des Egoismus Philosophie, Theologie, Poetik – ein Palimpsest
In: Deutsch. 324 Seiten. 480 g. 2007. ISBN: 978-3-9521140-2-5 EAN: 9783952114025
Leinenausgabe CHF 47.50, skepsis verlag, Zürich 2007

Antonio Cho: AnarchoMystik


erscheint 2010 im skepsis verlag

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