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In Vielfalt geeint?

Inter- und Transkulturalität in der europäischen Kulturpolitik


Bachelor-Arbeit

vorgelegt von
Sven Golob
deutsch-französischer integrierter Studiengang Politikwissenschaft
Matrikel-Nr.: 333939
geb. am 26.03.1986 in Attendorn

Anschrift:
App. 40, Freiwasser 5
85072 Eichstätt

beim
Lehrstuhl für politische Theorie und Philosophie
der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt

zur Korrektur durch


Prof. Dr. Dr. Manfred Brocker

Eichstätt, den 17.06.2009


Inhalt

Vorbemerkungen 1

1 Kulturpolitik 3
1.1 Kulturbegriff(e) 3
1.2 Europäische Kultur und Identität 4
1.3 Kulturpolitik(en) 5
1.4 Kulturpolitik in Europa 7
1.4.1 Der Europarat 7
1.4.2 Die Europäische Union 10

2 Inter- und Transkulturalität 14


2.1 Multikulturalität 15
2.1.1 Genese des Multikulturalismus in den USA 15
2.1.2 Die europäische Multikulturalismus-Rezeption 17

2.2 Interkulturalität 18
2.2.1 Scheitern des Multikulturalismus 18
2.2.2 interkulturelle Philosophie und Politik 19

2.3 Transkulturalität 20
2.3.1 Abschied vom Herder'schen Kulturbegriff in der Postmoderne 21
2.3.2 Hybridkulturen und Transkulturalität als gesellschaftliche Realität 22

3 Analyse ausgewählter europäischer Kulturpolitiken 23


3.1 Vorgehensweise 24
3.2 Kriterienkatalog 25
3.3 „KULTUR 2007 – 2013“ 26
3.3.1 Kulturbegriff 27
3.3.2 Ziel 28
3.3.3 Gesellschaftsanalyse 29
3.3.4 Adressaten 30
3.3.5 Theoretische Klassifizierung 31
3.4 „Intercultural Cities“ 32
3.4.1 Kulturbegriff 33
3.4.2 Ziel 34
3.4.3 Gesellschaftsanalyse 35
3.4.4 Adressaten 35
3.4.5 Theoretische Klassifizierung 36

4 Fazit 37

5 Bibliographie 39

2
Vorbemerkungen
Die Forschungsmotivation hinter dieser Arbeit resultiert aus einem persönlichen und
politischen, bzw. politikwissenschaftlichen Interesse an der Kulturpolitik. Besondere
Aufmerksamkeit gilt daher der Verknüpfung von politischer und Kultur-Theorie und der
praktischen Anwendung im Bereich des policy-making. Die Auseinandersetzung mit der
pragmatischen Umsetzung theoretischer Erwägungen aus dem Bereich der politischen
Philosophie steht am Ursprung der Frage nach den Zielen europäischer Kulturpolitik, der
in der Politikwissenschaft bisher wenig Beachtung geschenkt wurde. Die Suche nach der
europäischen Identität ist mit dieser Fragestellung eng verknüpft und bereits Objekt
zahlreicher Forschungen gewesen, während die damit einhergehende europäische Kultur
und der Kulturraum Europa als politisches Objekt noch kaum in den Fokus der
Wissenschaft gerückt ist.

Im Bereich der Kulturpolitik wird vor allem auf die Arbeiten von Oliver Scheytt, Olaf
Schwencke, Thomas Röbke, Norbert Sievers und Bernd Wagner zurückgegriffen, die für
die Kulturpolitische Gesellschaft e.V. einige Sammelbände und eigene Beiträge
herausgegeben und veröffentlicht haben. Grundlegend für die Darstellung europäischer
Kulturpolitik ist allen voran der Sammelband über „Kulturpolitik in Europa“ von Olaf
Schwencke1, der eine Sammlung und Interpretation sämtlicher bisheriger
Grundlagendokumente auf europäischer und internationaler Ebene darstellt.
Die Präsentation der Transkulturalität beschränkt sich in weiten Teilen auf die
Ausführungen von Wolfgang Welsch2 selbst, die verhältnismäßig jung sind in der Debatte
um die Verfasstheit von Kultur in den heutigen Gesellschaften.
Die Forschung auf dem Gebiet der europäischen Kulturpolitik ist auf einen kleinen
Personenkreis beschränkt, aktuelle Analysen der kulturpolitischen Tätigkeit von EU
und/oder Europarat sind sehr selten.3 Hier sei ebenfalls auf die Veröffentlichung von Olaf
Schwencke verwiesen, ebenso wie auf den Sammelband „Jahrbuch der Kulturpolitik
2007. Thema: Europäische Kulturpolitik.“ 4
In Bezug auf die theoretischen Grundlagen dieser europäischen Dimension von
Kulturpolitik finden sich bisher keine Beiträge aus der politischen Theorie und
Philosophie.

Die vorliegende Arbeit orientiert sich an der Leitfrage, welche Ziele mit europäischer

1 Schwencke ²2006.
2 Welsch 1990; 1997; 1999.
3 Robins 2006; Oppemann 1992; Kruse 1993; Büttner/Merkle 2005; Behrens 1999.
4 Wagner/Sievers 2007.

3
Kulturpolitik verfolgt werden. Daher die These, dass das Motto, unter das Europapolitik
häufig gestellt wird, „In Vielfalt geeint“ (in seiner lateinischen Version ist dies auch das
Motto der USA: „E pluribus unum.“), sich auf zweierlei Arten interpretieren lässt. Zum
einen durch eine interkulturelle Politik, die auf Austausch und Wahrung von kultureller
Differenz beruht und zum anderen durch eine transkulturelle Politik, deren Ziel die
Hybridisierung von kulturellen Ressourcen in der Gesellschaft ist. Eine weitere These
ergibt sich aus dieser ersten: wenn es eine Europäische Kulturpolitik gibt, beruht diese auf
einem dieser beiden Ansätze, um eine europäische Kultur zu etablieren und die „Einheit
in der Vielfalt“ zu erreichen.
Nachdem im ersten Teil das Politikfeld der (europäischen) Kulturpolitik beschrieben
wird, soll das zweite Kapitel dieser Arbeit die theoretischen Grundlagen anhand von
Multikulturalismus, Interkulturalität und Transkulturalität erläutern. Dabei liegt der
Schwerpunkt auf der Unterscheidung von Inter- und Transkulturalität5 . Drittens dient
diese Unterscheidung einer qualitativen Inhaltsanalyse von zwei konkreten Programmen
europäischer Kulturpolitik des Europarates und der Europäischen Union. Diese erfolgt
mittels eines Analyserasters, das in der methodischen Heranführung zu Beginn der
Analyse erläutert und erstellt wird.
Im Anhang findet sich eine CD-ROM, die sämtliche elektronischen Quellen beinhaltet,
die für die Erstellung dieser Arbeit herangezogen wurden.

5 Wie sie von Wolfgang Welsch, Professor für Philosophie an der Friedrich-Schiller-Universität
zu Jena, in den Diskurs um Kulturbegriffe eingebracht wurde.

4
1 Kulturpolitik
In der vorliegenden Analyse soll es vor allem um den oftmals nur undeutlich umrissenen
Bereich der Kulturpolitik und dabei besonders um seine praktische policy-Dimension
gehen. Um eine Annäherung an dieses Feld der Gesellschaftspolitik zu ermöglichen, muss
zunächst geklärt werden, auf welchem Kulturbegriff die Kulturpolitik aufbaut (1.1).
Vertiefend soll daraufhin ein Versuch unternommen werden, Europäische Kultur und
Identität als Objekte europäischer Kulturpolitik zu identifizieren (1.2), bevor Kulturpolitik
(1.3) und Europäische Kulturpolitik (1.4) als konkrete Politikfelder mit ihren wichtigsten
Akteuren und den für die qualitative Analyse relevanten Kulturprogrammen (1.4.1, 1.4.2,
1.4.3 und 1.4.4) vorgestellt werden sollen. Für den Abschnitt zur Europäischen
Kulturpolitik berufe ich mich überwiegend auf die umfassende Zusammenstellung und
Analyse von Olaf Schwencke6, der sämtliche für Kulturpolitik in und für Europa
relevanten Verträge und Dokumente gesammelt herausgegeben und kommentiert hat.
Zudem ist eben diese Zusammenstellung eine der wenigen Quellen in Bezug auf
europäische Kulturpolitik, insbesondere was den Europarat und seine Rolle bei der
Entwicklung eines kulturellen Integrationsprozesses anbelangt.

1.1 Kulturbegriff(e)
Der lateinische Ursprung des Begriffes „Kultur“ legt den Bildungsaspekt nahe, der sich in
der Polity- Dimension von „Kulturpolitik“ äußert: von der Bestellung und Veredelung des
Feldes als Ausgangspunkt von „cultura“ zur Mobilisierung und Weiterbildung des
Menschen. Der ursprüngliche Kulturbegriff war ein spezieller, der erst in der Neuzeit die
Entwicklung zum weiten Kulturbegriff durch Samuel Pufendorf (17. Jh.) erfuhr.7 Durch
Johann Gottfried Herder kam dann die Bestimmung der modernen Konzeption von Kultur
als Wesensform hinzu, namentlich durch die Konzepte „Volksgeist“ und „Volksidentität“.
Dieser traditionelle Herder'sche Kulturbegriff birgt drei zentrale Elemente in sich:
(1) soziale Homogenisierung, (2) ethnische Konsolidierung und (3) interkulturelle
Abgrenzung. Die kulturelle Prägung wird seitdem als entscheidender Faktor für die
Sozialisation der Individuen einer Gesellschaft angesehen, es gilt ein Bild vom
kulturgeleiteten Handeln8. Die tatsächliche Realität aber, so stellt Wolfgang Welsch fest,
sollte zu Skepsis dieser hermetischen und determinierten Kulturauffassung gegenüber
führen:
„Ihm [dem Herder'schen Kulturbegriff, Anm. d. Verf.] gegenüber ist es heute
geboten, mit verschiedenen, einander überlagernden und durchkreuzenden

6 Schwencke ²2006.
7 Vgl. Welsch 1990: 141.
8 Welsch 1999: 195.

5
Kulturbegriffen und Kulturformen zu rechnen.“9
Es sind eben diese Überlagerungen, die im Herder'schen Konzept nicht vorkommen
(können) und welche erst in der Interkulturellen Philosophie und der von Welsch
konzeptualisierten Transkulturalität, auf die in Kapitel 2 genauer eingegangen werden
soll, zur Geltung kommen. Zunächst kann jedoch festgehalten werden, dass
transkulturelle Erscheinungen als Hybridisierungen aus kulturellen
Aushandlungsprozessen bezeichnet werden können. Grund für das Abrücken vom
traditionellen, hermetischen Konzept der Kultur ist vor allem die mangelnde Flexibilität
der kulturellen Sphären, die im Widerspruch zu Phänomenen der Hybridisierung steht.
Daher die radikale Absage an Herders Auffassung von Kultur als „Kugel.“10
„[...] [T]he traditional concept of culture proves to be factually inadequate: it
cannot cope with the inner complexity of modern cultures.“ 11
Kultur kann im weiteren Verlauf dieser Arbeit als „Selbsterzeugung qua Sinnerzeugung“
verstanden werden, also als ein Konzept, dass sowohl Kultur als auch Zivilisation
umfasst. Die der deutschen Sprache eigene Unterscheidung in „Kultur“ und „Zivilisation“
deutet hierbei auf eine gewisse „Ohnmachtserklärung“ der Kultur hin, da keine „Pflicht
zur Verwirklichung ihrer Gehalte“ besteht.12 Dem soll ein Konzept von Kulturpolitik als
Gesellschaftspolitik (siehe 1.3) entgegen gestellt werden. Die Postmoderne schafft
außerdem mit einer steigenden Reflexivität (dem Legitimationsdruck, dem sich sämtliche
Traditionen ausgesetzt sehen) und einer ebenso exponentiell zunehmenden Pluralisierung
(Gruppen- statt Gesellschaftskonsens) neue Aufgaben für die Kultur13 und
Konzeptualisierungen kultureller Phänomene.

1.2 Europäische Kultur und Identität


Um den Begriff der kulturellen Identität, der insbesondere auf europäischer Ebene zum
Schlüsselbegriff im Zusammenhang mit Kulturpolitik geworden ist, näher zu erläutern,
ziehen wir zunächst eine Definition basierend auf den Erkenntnissen von Jan Assmann
und Maurice Halbwachs14 heran: kulturelle Identität ist demnach eine spezifische
Prägung, die ein Individuum als Teil einer bestimmten Gruppe und deren kultureller
Spezifika erfährt. Die Übertragung dieser Prägung auf das Individuum geschieht durch
die Sozialisation und in Form von Überlieferungen, woraus sich eine Art „kulturelles
Gedächtnis“15 bildet. Dieses Gedächtnis ist es, was auch als kulturelles Erbe Europas

9 Welsch 1990: 141.


10 Herder 1774/1967: 72.
11 Welsch 1999: 195.
12 Vgl. Welsch 1990: 142.
13 Vgl. Terkessidis 2006: 311.; Welsch 1990: 144.
14 Vgl. Assmann ²1999; Halbwachs 1967.
15 Vancea 2008: 9.

6
bezeichnet werden kann. Ausgehend von der Kritik am Herder'schen Kulturkonzept lässt
sich am kollektiven Gedächtnis aufzeigen, wie transkulturelle Phänomene zunehmend
nationale Identifikationsmerkmale verdrängen. 16
So umfasst für Constantin von Barloewen kulturelle Identität zwar einerseits die
angeeigneten kulturellen Paradigmen, ist aber auch „zunächst keine festgelegte
Persönlichkeitsstruktur, sondern ein vielschichtiger Vorgang einer fortschreitenden und
deutenden Aktivität.“17 Für die europäische Dimension bedeutet diese inter-, bzw.
zunehmend auch transkulturelle Dimension des kulturellen Gedächtnisses die Chance auf
eine eigene Identität.
„Die europäische Kultur ist auf einer komplexen Synthese [...] gegründet:
Hellenismus, römische Antike, Judentum und Christentum. Die Eigenart des
Europäischen besteht also aus Verschiedenheit, und eine europäische Identität
muss folglich das kulturell Andere stets erkennen und verstehen lernen.“ 18
Diese Synthese allerdings ist keineswegs die Summe ihrer Teile, sondern – wie bei
Hybridisierungsphänomenen scheinbar die Regel – ein komplexes Konstrukt, das die
nationalen Partikularitäten transzendiert. Eine europäische Kultur kann demnach dort
verortet werden, wo Spezifika regionaler Art überlagert werden von einer gemeinsamen
Erinnerungskultur, geteilter Geschichte und einem common sense des Zusammenlebens.19
In dem 1997 veröffentlichten Report der vom Europarat initiierten „European Task Force
on Culture and Development“ wird diese Sicht von einer diversen, multiplen
europäischen Identität aufgegriffen:
„It is perhaps best to see Europeanness as a set of variably shared assumptions in
societies which happen to occupy part of the same land mass, and have the same
historic roots and interests. “20
Diese europäische Kultur und Identität sollte im Idealfall, und dies wird später der
Ausgangspunkt der Analyse sein, von einer europäischen Kulturpolitik gefördert werden.

1.3 Kulturpolitik(en)
Als Kulturpolitik kann nun solches Handeln bezeichnet werden, welches zur Herstellung
von Rahmenbedingungen für das Zusammenleben von Menschen in einem geteilten
Raum, das kreative und freie Schaffen von kulturellen Werten und Erzeugnissen sowie die
Förderung und Erhaltung von solchen Werten und Erzeugnissen dient.21 Max Fuchs

16 Ebenda: 10.
17 Barloewen 1993: 312.
18 Vancea 2008: 17.
19 Vgl. Oppermann 1992: 75.; Behrens 1999: 2.
20 European Task Force on Culture and Development 1997: 27.
21 Vgl. Pfennig 2007: 187. „Aktive Kulturpolitik beschränkt sich nicht auf die Förderung von Kunst
und Kultur, sie richtet sich in ordnungspolitischer Hinsicht auf die Entwicklung von
Rahmenbedingungen zur Entfaltung von Kunst und Kultur.“; Schwencke ²2006: 71.

7
argumentiert ebenfalls mit dieser ordnungspolitischen Dimension von Kulturpolitik.22 Er
stellt zudem heraus, dass Kulturpolitik die Funktionen von kulturellem Schaffen in und
für die Gesellschaft unterstützen muss. Diese Kulturfunktionen verlangen von den
Künsten, „dass sie der Gesellschaft Möglichkeiten verschaffen, sich selbst den Spiegel
vorzuhalten, Lebensstile zu reflektieren, Identitätsangebote zu produzieren und
Orientierungen bereitzustellen, die eine Verortung in Raum und Zeit ermöglichen.“ 23
Somit sind die wichtigsten Funktionen, die Kultur erfüllen kann und so auch und vor
allem zum Gegenstand von Politik werden lässt, die Sensibilisierungs- und
Orientierungsfunktion. In diesem Sinne dient Kultur als Frühwarnsystem für
gesellschaftliche Fehlentwicklungen, Missstände, als Wegweiser zu und in akuten und
permanenten Diskursen und als Bereich der Erprobung neuer Wirklichkeitsmodelle.24
Daher ist es die unerlässliche und ursprünglichste Aufgabe von Kulturpolitik, kreativen
Freiraum zu schaffen, um diese Funktionen zu ermöglichen.
Auch auf europäischer Ebene wurden bereits 1976 solche Forderungen formuliert: in der
Osloer Erklärung zur Kulturpolitik, der Abschlusserklärung der ersten durch den
Europarat initiierten Kulturministerkonferenz wurden seinerzeit Kriterien für eine
moderne nationale Kulturpolitik zum Ausdruck gebracht.
„Kulturpolitik muss zur politischen Herausforderung der Gesellschaft werden; die
Verbesserung der Lebensqualität muss durch ein vielfältiges, auch alternatives
Kulturangebot geschehen. Die kreativ Arbeitenden, die sogenannten
Kulturschaffenden, sind in die soziale Fürsorge und Altersversorgung
einzubeziehen. Kulturpolitik muss als ein politisches Innovationsmedium
begriffen werden und ist dementsprechend konkret zu organisieren. Kulturpolitik
ist Bestandteil der Regierungsverantwortung.“25
Wie später (Kapitel 2) gezeigt werden soll, ist es für eine moderne Kulturpolitik von
oberster Priorität, der wachsenden Pluralisierung der Gesellschaft Rechnung zu tragen.
Aufgabe der Kultur und der Kulturpolitik muss es daher sein, in dieser Pluralität für
Verständigungsformen und Sinn zu sorgen.26 In Anbetracht des gewandelten
Kulturbegriffes, „muss [Kulturpolitik] heute eine „Streitkultur“ ins Auge fassen. Anders
als plural und auseinandersetzungsbereit wird sie ihre eigentliche Aufgabe, die Mitarbeit
an der Generierung von Sinn – den die Moderne zunehmend auflöst, ohne den wir aber
nicht zu leben und zu handeln vermögen -, nicht erfüllen können.“ 27

22 Fuchs 2003: 16f.


23 Schwencke ²2006: 17.
24 Ebenda: 146.
25 Zit. nach Schwencke ²2006: 106 – 109.
26 Welsch 1990: 148.
27 Ebenda: 144.

8
1.4 Kulturpolitik in Europa
Wie bereits mit der Osloer Erklärung deutlich gemacht, sahen schon in der Zeit der
schwerpunktmäßig wirtschaftlich orientierten europäischen Einigung viele Kulturpolitiker
hier auch ein Betätigungsfeld auf europäischer Ebene: mit der Kulturminister-Konferenz
von Athen im Jahr 1981 - auf der Osloer Erklärung aufbauend – wurde die
„Überzeugung“ geäußert, „dass das wirtschaftliche Wachstum kein Selbstzweck ist,
sondern dass es als Quelle notwendiger Investitionen in die menschliche und kulturelle
Entwicklung angesehen werden sollte.“28 So wurde, wieSchwencke hervorhebt, nicht nur
der Kulturbegriff erweitert, „sondern auch das Feld der Kulturpolitik.“ 29
Sowohl die erste europäische Organisation, der Europarat, als auch sein zunächst
wirtschaftliches Pendant, die spätere Europäische Union, betätigen sich mittlerweile aktiv
im Bereich der Kulturpolitik, beide im Sinne der Stiftung, Förderung und Erhaltung einer
europäischen Kultur und Identität. Die Kompetenzen der beiden Institutionen sind hierbei
geprägt von einer steten Weiterentwicklung und Präzisierung, sowie – im Falle der EU –
einer Ausweitung der Kompetenzen.

1.4.1 Der Europarat


Ausgangspunkt der Suche nach den kulturpolitischen Instanzen in Europa ist die
Gründung des Europarats am 5. Mai 1949. Diese intergouvernementale europäische
Organisation, die mittlerweile 47 Mitgliedsstaaten umfasst „wurde zum Hort der
Menschenrechte und zum Kristallisationsort kultureller Demokratie [...].“30 Ziel und
Zweck der Gründung des Europarats war nicht bloß die Einrichtung einer wirtschaftlichen
Interessenkoalition, sondern einer Wertegemeinschaft, die sich vor allem auf „die
Verteidigung der Menschenrechte, der pluralistischen Demokratie und der
Rechtsstaatlichkeit in allen Mitgliedsstaaten […]“ 31 gründet.
Die vom Europarat (COE; Council of Europe) geförderte europäische Kultur (im Sinne
des neuen, vereinigten Europas) ist geprägt von einer abendländischen Orientierung, aber
auch vom kritischen Geist der Aufklärung.32 Ihr zugrunde liegt ein breiter Kulturbegriff:
Demokratie, Gerechtigkeit und Menschenwürde wurden seit Beginn der Arbeit des COE
als daraus erwachsene politische Ziele angesehen. 33
Im Beschluss über den Europäischen Kultur-Kongress von Lausanne 1949 findet sich
bereits der Versuch, diesen Kulturbegriff für spätere Politiken zu operationalisieren:

28 Schwencke ²2006: 101.


29 Ebenda.
30 Schwencke ²2006: 32.
31 Büttner/Merkle 2005: 251.
32 Ebenda: 36.
33 Ebenda.

9
„Sie gibt dem Leben, der Arbeit, der Freizeit und den Beziehungen zwischen den
Menschen eine Bedeutung. Sie ist nicht nur ein Erbe, das bewahrt werden muss,
sondern eine gemeinsame Art zu leben und zu schöpfen in Übereinstimmung mit
einer allgemeinen Auffassung des Menschen, seiner Würde und seiner
Bestimmung.“34
Diese Konvention wurde später die Basis für die Europäische Kulturkonvention des
Europarats (ECC, Paris 1954). Auf diese folgte 1984 die „Berliner Kulturdeklaration“, die
das Übereinkommen von 1954 konkretisierte. Die ursprüngliche ECC gab als
kulturpolitische Richtlinie die Verpflichtung der Mitgliedsstaaten aus, diese sollten „das
Studium der Sprachen, der Geschichte und der Zivilisation der anderen Vertragsparteien
sowie auch ihre gemeinsame Kultur [...] fördern.“ Daraus erwächst auch eine
Verpflichtung „zum Schutze und zur Mehrung des gemeinsamen kulturellen Erbes
Europas.“35 Die konzeptionelle Basis für die Kulturarbeit seit der Verabschiedung der
ECC war und ist ein Werte-Dreiklang aus Menschenrechten, Demokratie und Sicherung
kultureller Vielfalt. Entscheidend für die praktische Gestaltung der Kulturpolitik der COE
sind hierbei die völkerrechtliche Basis der Konventionen und die Perspektiv-Arbeit im
Sinne von Deklarationen und best practices. 36
Der Europarat beherbergt gleich mehrere Organe, die sich mit Kulturpolitik befassen:
zum einen die Parlamentarische Versammlung, zum anderen die Kulturdirektion des
Generalsekretariats. Auch der 1969 eingerichtete „Kongress der Gemeinden und
Regionen Europas“ spielt in der Formulierung von best practices im kulturpolitischen
Bereich eine wichtige Rolle. Die parlamentarische Komponente der Kulturpolitik der
Europarates findet sich im „Ausschuss für Kultur und Erziehung der Parlamentarischen
Versammlung des Europarats“37. 1961 wurde zudem der „Rat für kulturelle
Zusammenarbeit“ (Conseil de la Coopération Culturelle – CDCC) in Form eines
Ministerkomitees mit dem Ziel gegründet, „die kulturelle Zusammenarbeit zwischen den
Mitgliedsstaaten zu fördern und zu intensivieren.“ 38 Ziel des Komitees war die Festlegung
von politischen Zielvorgaben in den Bereichen Bildung, Kultur, Medien, Sport und
Jugend.
Aktuelles Ziel des Europarates auf kulturpolitischer Ebene ist die Förderung der
„Kultur als Gesamtheit der Werte, die der Menschheit den Sinn ihres Daseins und
Handelns vermitteln [...] in Form von Bestrebungen und Wertvorstellungen,
Formen des Seins (zu entwickeln) [...], die Ergebnis der Geschichte wie Triebfeder
der Zukunft sind.“39

34 Zit. nach Schwencke ²2006: 38.


35 ECC 1954, zit. nach Schwencke ²2006: 62ff.
36 Vgl. COE 2007: 75.
37 Vgl. Schwencke ²2006: 42.
38 Ebenda: 43.
39 Berliner Kulturdeklaration 1984; zit. nach: Schwencke ²2006: 44.

10
Der Europarat hat in politischer Hinsicht zwar weder die Ressourcen, noch das explizite
Mandat zur Ausübung aktiver Kulturpolitik – das Prinzip der Einstimmigkeit und die
„nur“ beratende Funktion seiner parlamentarischen Versammlung entfalten lediglich
bedingt Verbindlichkeit –, jedoch wog und wiegt er das auf mit wegweisenden Initiativen
im Bereich der Menschenrechte und der Kulturpolitik40, die er mittels internationaler
Konventionen und Abkommen (die, einmal durch die Mitgliedsstaaten ratifiziert,
rechtsverbindlich sind), sowie mit Regierungsempfehlungen, Untersuchungen, Berichten
sowie Schulungen und Kooperationsprogrammen in die nationalen Kulturpolitiken
einbringen kann.41
Der bewusst schwach geschaffene Europarat beschäftigt sich nunmehr mit „para-
politischen“ Fragen (Sombart).42 Der ehemalige Leiter der Kulturabteilung des
Europarates, Nicolaus Sombart, schrieb 1982 zur „Aktualität der Kulturkonvention“:
„Die Europäische Kulturkonvention wurde als Instrument zur Verwirklichung
einer gemeinsamen europäischen Kulturpolitik konzipiert, wie sie im Rahmen des
Europarats nicht ohne weiteres ins Werk zu setzen ist.“ 43
Das Ministerkomitee des Europarates hat 2001 beschlossen, den CDCC und die ihm
untergeordneten Spezialausschüsse in vier Steuerungskomitees zu transformieren.
Darunter auch das „Steering Committee for Culture (CDCULT)“, mit der Aufgabe,
kulturelle Kooperationsprogramme auszuarbeiten. Der 2006 festgelegte Referenzrahmen
für das CDCULT sieht vor, dass das Komitee für kulturpolitische Aufgaben und deren
Umsetzung, Begleitung und Bewertung verantwortlich zeichnen soll.Seine Arbeit wird
dabei in vier Bereiche eingeteilt: die kulturpolitische Netzwerkarbeit durch Bereitstellung
von Informationen über nationale Kulturpolitiken, best practices und
Kooperationsprogrammen, die Unterstützung bei der Umsetzung dieser Kulturpolitiken,
die Ausarbeitung von europäischen Standards insbesondere im demokratischen Umgang
mit kultureller Vielfalt, Zugängen zu Kultur und der Förderung von Kreativität sowie die
Nachverfolgung der Umsetzung dieser Standards.44

Somit kann bereits jetzt festgestellt werden, dass die Kulturpolitik, die vom COE verfolgt
wird, maßgeblich von einer interkulturellen (also vom Austausch motivierten) und
kulturellen Pluralismus fördernden Perspektive aus betrieben wird. Wichtig ist hierbei,
dass der mitunter als einzig originäre Quelle von europäischer Kulturpolitik angesehene

40 Vgl. Schwencke ²2006: 70.


41 Vgl. Büttner/Merkle 2005: 251f.
42 Vgl. Ebenda: 71.
43 Sombart 1982: 650.
44 https://wcd.coe.int/ViewDoc.jsp?
id=956237&Site=CM&BackColorInternet=9999CC&BackColorIntranet=FFBB55&BackColorLo
gged=FFAC75 ; 18.05.2009

11
Europarat45 kaum aktive Kulturfördermaßnahmen ergreift, sondern vielmehr als
Multiplikator solche Initiativen in den Mitgliedsstaaten unterstützt und als good practices
verbreitet, wie z.B. mit dem "Compendium of Cultural Policies and Trends in Europe“46,
einer Plattform für die internationale Vermittlung kulturpolitischer Modelle, und dem, für
die spätere Analyse noch einmal heranzuziehende Programm „Intercultural Cities“, das
vom Europarat geleitet und von der Kommission der Europäischen Union unterstützt 47
wird.

1.4.2 Die Europäische Union


Selbst nachdem mit dem Vertrag von Maastricht und dem darin enthaltenen Artikel 128
(seit Amsterdam Art. 154) der so genannte „Kulturartikel“ Einzug in das Vertragswerk der
Europäischen Union (die mit Maastricht erst ins Leben gerufen wurde) hielt, so kommen
doch weiterhin die kulturpolitischen Impulse aus Straßburg, d.h. vom COE. Im Bereich
der Kulturpolitik steht eine pragmatische Praxis der EU einem „utopischen“ Europarat
gegenüber, der maßgeblich an der Formulierung neuer Aufgaben der Kultur in Europa
arbeitet. Dieser Pragmatismus wird dadurch offenbar, dass – im Gegensatz zum COE –
der Kulturbegriff in der EU bisher keine Definition erfuhr, wohl auch um seine Offenheit
und Flexibilität zu bewahren.48
Doch wie oben erwähnt verfügt auch die EU über einen eigenen kulturpolitischen
Auftrag, der mit Art. 154 (ehem. 128) des Vertrages über die Europäische Union
formuliert wurde. Die Betätigung der vormaligen EG, später EU, reicht allerdings weiter
in die gemeinsame Geschichte. Seit der Einführung der Direktwahl des Europäischen
Parlaments 1979 gibt es die „Kommission für Jugend, Kultur, Bildung, Information und
Sport des Europäischen Parlaments“.
Viele Mitglieder dieses Ausschusses waren bei seiner erstmaligen Einberufung
Kulturpolitiker, bzw. im kulturellen Sektor tätig. Gleichwohl die Europäische
Kommission über ein Initiativmonopol verfügt(e), war der Enthusiasmus des
Ausschusses, eigene kulturpolitische Maßnahmen zu ergreifen, groß. Es folgte ein

45 Vgl. Schwencke ²2006: 69: „Alles, was tatsächlich die Bezeichnung „Europäische Kulturpolitik“
- verstanden als Politik für Kultur, einer Kultur-Politik – verdient, hat seinen Ursprung beim
Europarat.“; vgl: Merkle/Büttner 2005: 259: „Als „Gewissen Europas“, Politikberater und
Initiator vielerlei Schlüsselkonzepte und innovativer Programme sowie im Verbund mit seinen
spezifischen Rechtsinstrumenten mit gesamteuropäischer Wirksamkeit präsentiert sich der
Europarat als einzigartiger Partner im internationalen Kulturaustausch. […] Zunehmend
integrativ, mittels vielfältiger Aktionsformen und im Austausch mit den Mitgliedsstaaten als
Auftragsgeber und Abnehmer der Arbeitsergebnisse wird der Europarat weiterhin einen
genuinen Beitrag zur europäischen Integration mittels Kulturzusammenarbeit leisten.“
46 http://www.culturalpolicies.net ; 18.05.2009
47 Durch die Bereitstellung des europäischen Städtenetzwerkes EUROCITIES zur Durchführung
des Programms; Anm. d. Verf.
48 Vgl. Behrens 1999: 8f.

12
Findungsprozess, der bis Maastricht dauerte: Grundsätze des Kultur-Ausschusses heute
sind vor allem die engere Kooperation der Mitgliedsstaaten im Kultursektor, sowie eine
enge Kooperation mit dem Europarat.
Zwar erfolgte der kulturpolitische Durchbruch in der EG/EU erst mit Maastricht und dem
Artikel 128, aber schon 1992 wurde das Neue Kulturkonzept durch die Kommission
vorgestellt, was „den Beginn einer neuen Epoche“ darstellte. 49
Das Neue Kulturkonzept (NKK) der Gemeinschaft von 1992 sah einen horizontalen
Ansatz zur Erreichung der neuen Ziele vor. Vordringliches Ziel des NKK ist die Wahrung
der kulturellen Vielfalt.50 Zu erreichen sei dies, so der Bericht, durch die „Förderung des
Kunst- und Kulturschaffens, damit sich Talent und Kreativität entfalten und die Öffnung
gegenüber anderen Kulturen vollziehen können.“51
Als Schlüssel zum Verständnis des NKK kann darüber hinaus die Entschließung des
Europäischen Parlaments über das Neue Kulturkonzept von 1992 herangezogen werden,
in dem das Europäische Parlament
„in der Erwägung, da[ss] die Kultur ein entscheidendes Instrument für die
Bewahrung des kollektiven Gedächtnisses der europäischen Völker sein und
mithin über gegenseitiges Kennenlernen und regelmäßige Kontakte zur Förderung
des gegenseitigen Verständnisses, des Dialogs, der Zusammenarbeit und des
Friedens beitragen kann, [...] bekräftigt, da[ss] eine europäische Annäherung und
spätere Einigung, wenn sie von Dauer sein soll, in erster Linie ein kultureller
Prozess sein und in den beteiligten Städten, Regionen und Staaten
kulturpolitisch vorbereitet und begleitet werden muss; [...] vertritt [...] die
Auffassung, da[ss] der Weg zur Europäischen Union die Äußerung und Förderung
der europäischen kulturellen Identität als heterogener Einheit beinhaltet, die
umso offensichtlicher ist, je stärker die verschiedenen Kulturen Europas,
beziehungsweise der einzelnen Nationen, Regionen oder Minderheiten sind und je
wirksamer ihre Förderung ist; [...] hält die stete Suche nach einer
interkulturellen Dimension für wesentlich, das heißt nach einer Beziehung
zwischen unterschiedlichen Kulturen, deren Charakteristika zu respektieren sind,
wenn auch von einer Warte aus, die die gemeinsamen ideellen Grundlagen würdigt
und die Notwendigkeit gegenseitigen Kennenlernens und interaktiver
Beziehungen bekräftigt; […].“ 52
Auch hier wird bereits deutlich, dass das der Kulturpolitik in der Europäischen Union,
zugrunde liegende Konzept ein interkulturelles ist.
Dass es eine solche Europäische Kulturpolitik gibt, ist nicht zuletzt dem Neuen
Kulturkonzept zu verdanken, denn bis 1992, also bis zur Formulierung des NKK, mieden
Kommission und Rat den Begriff „Europäische Kulturpolitik“.53 Colette Flesch,
Generaldirektorin in der Kommission und Kulturbeauftragte, „sprach von „kulturellen

49 Schwencke ²2006: 170; 180.


50 Vgl. Ebenda: 181.
51 Zit. nach Ebenda: 182.
52 Ebenda: 183ff; Hervorhebungen durch den Verfasser.
53 Vgl. Schwencke ²2006: 262.

13
Aktionen“ und begründete das damit, dass „es bisher keine Rechtsgrundlage zur
Kulturtätigkeit der EG gab. [...] Es war immer eine komplementäre, eine zusätzliche
Tätigkeit, zusätzlich zur Aktion der Mitgliedsstaaten. Das ist völlig normal, denn Kultur
hat etwas mit Identität zu tun. Identität hat etwas mit Souveränität zu tun.“54 Flesch
gründete auch den „Beratenden Kulturausschuss“ der 1989 den Schlussbericht „Kultur
für den Bürger des Jahres 2000“ veröffentlichte. Darin forderte der Kulturausschuss „ein
Umdenken auf kulturellem Gebiet“ in der Gemeinschaft und erklärte Kultur zur „conditio
sine qua non für die Europäische Gemeinschaft“. Ebenso klärte er die Frage, was Kultur
für die EG ist:
„Kultur ist kein abstrakter Begriff: Kultur ist die Gesamtheit der zahlreichen,
verschiedenstartigen Sitten und Gebräuche, die in allen Bereichen des täglichen
Lebens ihre Ausdruck finden. In der Kultur spiegeln sich unser jeweiliger
Lebensstil, unsere Traditionen und Ideale wider.“ 55
All diese frühen Initiativen, auf europäischer Ebene einen kulturpolitischen Bereich zu
schaffen, kulminierten 1993 dann im Kulturartikel, der „zum ersten Mal rechtlich für die
Gemeinschaft eine Zuständigkeit für Kultur beziehungsweise kulturpolitisches Handeln“56
festschrieb. Diese Grundlage der Kulturpolitik in und für Europa basiert, wie jede andere
Tätigkeit der EU, auch auf dem Prinzip der Subsidiarität:

„Für Kulturpolitik gilt demnach, dass die europäische Ebene grundsätzlich nur
komplementär tätig werden kann, jedoch, interpretiert man diese Bestimmung
„positiv“, nicht muss.“57
Die Handlungsmöglichkeiten und -Grenzen der EU werden ebenfalls durch den
Kulturartikel58 definiert:
Abs. (1): „Die Gemeinschaft leistet einen Beitrag zur Entfaltung der Kulturen der
Mitgliedsstaaten unter Wahrung ihrer nationalen und regionalen Vielfalt sowie
gleichzeitiger Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes.“
Dieser erste Absatz offenbart, was man als die „Dialektik“ des Kulturartikels bezeichnen
kann: die Zentralität der gleichzeitigen Förderung der kulturellen Vielfalt und des
gemeinsamen Erbes, verstanden als Schutz vor dem (kulturellen) Auseinanderfallen der
Union und aber auch vor einer europäischen „Monokultur“.
Die EU kann, das zeigt der folgende zweite Absatz, nur eine unterstützende, ergänzende
Funktion ausüben: die Kulturhoheit liegt weiterhin bei den Mitgliedsstaaten.
„Die Gemeinschaft fördert durch ihre Tätigkeit die Zusammenarbeit zwischen den
Mitgliedsstaaten und unterstützt und ergänzt erforderlichenfalls deren Tätigkeit in
folgenden Bereichen:

54 Ebenda.
55 Zit. nach Ebenda: 263.
56 Ebenda: 261.
57 Ebenda: 264.
58 Im Folgenden zitiert nach Ebenda: 265ff.

14
Verbesserung der Kenntnis und Verbreitung der Kultur und Geschichte der
europäischen Völker, Erhaltung und Schutz des kulturellen Erbes von
europäischer Bedeutung, nichtkommerzieller Kulturaustausch, künstlerisches und
literarisches Schaffen, einschließlich im audiovisuellen Bereich.“
Das Ziel, die Förderung des europäischen Bewusstseins bei Bürgern, sei vor allem
unterstützend durch „Austausch-, Kooperations- und Informationsprogramme“59 zu
erreichen. Zuvorderst fördert die EU das materielle, aber auch das immaterielle
Kulturerbe von europäischer Bedeutung. Die Betonung des nichtkommerziellen
Kulturaustausches verweist auf die ausschließliche Förderung von Kulturgütern ohne
materiellen Nutzen zur Vermeidung von Konflikten mit dem Wettbewerbsrecht. Für die
weitere Analyse interessant ist der dritte Absatz, der sich mit den Kooperationspartnern
der EU in der Kulturpolitik befasst:
„Die Gemeinschaft und die Mitgliedsstaaten fördern die Zusammenarbeit mit
dritten Ländern und den für den Kulturbereich zuständigen internationalen
Organisationen, insbesondere mit dem Europarat.“ 60
Die Einrichtung einer selbstständigen auswärtigen Kulturpolitik der EU wird hier explizit
als Möglichkeit und Aufgabe genannt. Da die EU in ihren kulturpolitischen Spielräumen
im Inneren wegen des Subsidiaritätsprinzips eingeschränkt ist, verdankt sie dem Absatz 3
die Möglichkeit, sowohl nach Innen mit Hilfe des Europarates einen weitreichenden
Partner mit kulturpolitischer Innovationskraft zu wählen, als auch im Umgang mit
Drittstaaten eine eigenständige kulturelle Identität zu präsentieren. Die Wichtigkeit der
kulturellen Dimension wird schließlich in Absatz 4 herausgestellt, der auch als
„Kulturverträglichkeitsklausel“ bezeichnet wird.
„Die Gemeinschaft trägt bei ihrer Tätigkeit aufgrund anderer Bestimmungen
dieses Vertrags den kulturellen Aspekten Rechnung, insbesondere zur Wahrung
und Förderung der Vielfalt ihrer Kulturen.“
Dieser letzte Absatz betont noch einmal die Bedeutung des Vertrags von Maastricht für
die EU-Kulturpolitik: Kultur gilt fortan als primäres Recht und weist den Weg der
weiteren europäischen Integration
„von der Wirtschaftsgemeinschaft zur politischen und Kulturgemeinschaft. [...]
Die Kultur gilt als besonderer Wert, der nicht reproduzierbar und nicht durch
Geldwert ersetzbar ist und daher nicht den Gesetzen des freien Marktes
unterworfen werden soll. Also werden für die Kultur Ausnahmeregelungen
geschaffen, die im Sinne der französischen „exception culturelle“ [...] gesichert
sind.“61
Von einer vollkommen autonomen Kulturpolitik kann jedoch noch nicht die Rede sein.
Kulturpolitische Beschlüsse müssen auf Grund der Kulturhoheit der Mitgliedsstaaten
einstimmig gefasst werden. Der 2005 am Votum der Franzosen und Niederländer
59 Ebenda: 266.
60 Ebenda: 267.
61 Ebenda: 268.

15
gescheiterte „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ sollte dies mit seinem
Inkrafttreten ändern. Da also auch weiterhin Subsidiarität und Komplementärität als
oberste Handlungsmaximen der EU gelten, besteht für die Einzelstaaten keine Gefahr,
ihre kulturpolitische Handlungshoheit durch eine „europäische Einheitskultur“62 ersetzen
lassen zu müssen.
Als wichtigstes Organ der EU gilt bisher das Europäische Parlament, das mit Maastricht
in Kultur und Bildung ein Mitentscheidungsrecht bekommen hat. Dies lässt sich als
Chance zur Gestaltung der EU-Kulturpolitik durch demokratisch gewählte Vertreter
interpretieren.63 Insgesamt werden mittlerweile faktisch fast 1% der Haushaltsmittel für
kulturelle Zwecke aufgewendet.64
Als Zwischenergebnis kann festgehalten werden, dass sowohl der Europarat als auch die
Europäische Union über eigene Kapazitäten und auch Kompetenzen auf dem Feld der
Kulturpolitik verfügen, diese aber, im Falle der EU in einem subsidiären System nur in
einem „europäischen“ Bereich, oder - wie der Europarat – fast ausschließlich durch
ideelle Förderung und Kooperationsprojekte der Mitgliedsstaaten geltend machen können.

2 Inter- und Transkulturalität


Wie oben aufgezeigt, wurde und wird Europa auch als Kulturraum politisch erschlossen.
Aus dieser Tatsache ergibt sich die Ausgangsfrage, welche politischen Zielvorstellungen
hinter dieser kulturpolitischen Arbeit auf europäischer Ebene stehen. Da Kulturpolitik
auch als Gesellschaftspolitik zu verstehen ist, wäre es nur logisch, gäbe es eine Vision, die
das politische Gestalten dieses Kulturraumes lenkt und in ein ganzheitliches Konzept ein-
fügt. Nicht zuletzt eignen sich für eine solche Bestimmung von politischen Motivationen
verschiedene Kulturkonzepte, die das Motto Europas (genauer, der Europäischen Union)
„In Vielfalt geeint“ auf unterschiedliche Weise verwirklichen können.
In den folgenden Abschnitten soll daher es darum gehen, die Genese und Definition der
Kernbegriffe der anzustellenden Analyse von europäischen Kulturpolitiken – Inter- und
Transkulturalität – darzulegen, um so eine Kategorisierung unterschiedlicher policies zu
ermöglichen.
Hierbei beginnen diese Ausführungen bei dem ersten politischen Konzept, dass sich mit
der Problematik einer pluralistischen und von Migration geprägten Gesellschaft auseinan-
dersetzte: dem multikulturellen Ansatz (2.1). Anschließend steht das auf dem Multikultu-

62 Ebenda: 269.
63 Vgl. Ebenda.
64 Ebenda: 271.

16
ralismus aufbauende interkulturelle Konzept im Mittelpunkt der Darstellungen (2.2), das
zentrale Annahmen – wie den Kulturbegriff – zwar vom Multikulturalismus übernimmt
und erweitert, jedoch einige Umorientierungen bezüglich der politischen Zielvorstellun-
gen beinhaltet. Um die aktuelle kulturwissenschaftliche und philosophische Debatte in die
hier angestellten Überlegungen einzubeziehen, wird darauf folgend der Ansatz der Trans-
kulturalität Wolfgang Welschs (2.3) vorgestellt und mit ihm ein Konzept, das den klassi-
schen Kulturbegriff zugunsten eines pragmatischen, an Ludwig Wittgenstein orientierten
Konzeptes der Kultur, verwirft.

2.1 Multikulturalität
Mit dem Konzept des Multikulturalismus wird das Zusammenleben von mehreren kultu-
rellen, bzw. ethnischen Gruppen thematisiert. Diese Gruppen bilden innerhalb einer Ge-
sellschaft in sich homogene kulturelle Sphären. Die daraus resultierenden Differenzen be-
stehen allerdings nicht territorial von einander getrennt, sondern innerhalb eines geteilten
(öffentlichen) Raumes.

2.1.1 Genese des Multikulturalismus in den USA


Das von William E. Vickery und Stewart G. Cole in den USA der 1940er Jahre gegründe-
te Intercultural Education Movement formulierte die grundlegende Fragestellung: „[H]ow
can we reconcile the need for cultural diversity in America with the equally important
need for national unity?“65 Wie die weiteren Ausführungen zeigen werden, stellt sich die-
se Frage im Zusammenhang mit jedem der hier vorgestellten Konzepte: es geht um die
viel zitierte „Einheit in der Vielfalt“. Im Falle von Vickery und Cole fand sich die Antwort
in der gemeinsamen kulturellen Basis, genauer in einer „political philosophy on which
American constitutional democracy is founded.“ 66
Toleranz und reziproke Anerkennung sind laut Hildebrandt die wichtigsten Merkmale der
Intercultural Educationers – insofern eine Überschneidung mit dem Taylor'schen Multi-
kulturalismus.67 Das Ergebnis einer solchen interkulturellen Politik wäre dann eine US-
Gesellschaft im Sinne einer „plurality of sub-cultures bound together by a set of common
ideals and practices.“68
Was nun aber die Theorie des Intercultural Education Movement vom Ansatz des Multi-
kulturalismus unterscheidet, ist, so Hildebrandt, die Hervorhebung des Individualismus
vor Gruppenrechten.69 Die Intercultural Education ist demnach vor allem als ein Prozess

65 Ebenda.
66 Ebenda.
67 Vgl. Taylor 1992: 25.
68 Ebenda: 53f.
69 Vgl. Hildebrandt: 44.

17
der wechselseitigigen Akkulturation zu verstehen, in den das Individuum kulturelle Spezi-
fika einbringt und zur Erweiterung des gesamtgesellschaftlichen Kulturguts beiträgt.
Dem gegenüber steht die Cultural Anthropology, die sich auf einem umfassenden Kultur-
begriff und ethnischen und kulturellen Relativismus Herders gründete und insbesondere
durch Franz Boas, Margaret Mead, Ruth Benedict, Edward Sapir vertreten wurde. 70 Aus-
gangspunkt für diesen Ansatz ist eine Kritik der Evolutions- und Rassentheorie. Ruth Be-
nedict schrieb hierzu in ihrem Werk „Patterns of Culture“ 71:
„Man is not committed in detail by his biological constitution to any particular va-
riety of behaviour. [...] Culture is not a biological transmitted complex.“ 72
Die jeweilige Kultur, so argumentiert die Cultural Anthropology, sei an ein Volk gebun-
den, oder wie Malinowski schreibt: „Culture transcends the individual.“73 Das Individu-
um, das zuvor in der Intercultural Education noch im Mittelpunkt stand, ist nun voll und
ganz Produkt der es umgebenden Kultur und mit ihm alle seine „Stammesangehörigen“,
die sich durch ihre kulturelle Sozialisation signifikant von anderen Kulturgruppen unter-
scheiden.74
Im weiteren Verlauf der Entwicklung des Multikulturalismus ergab sich die für die
politische Philosophie richtungsweisende Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte. Diese
beinhaltete vor allem eine „Kontroverse um die politische Ethik multikultureller
Gesellschaften im globalen Kontext.“75
Der zentrale Unterschied zwischen der liberalen und der kommunitaristischen Position
besteht, so erläutert Zygmunt Bauman, in der Verortung der „Differenz“.76 Der
Liberalismus sehe diesen außerhalb des Individuums, in Form von vielfältigen
Wahlmöglichkeiten.77 Die Verfechter einer kommunitaristischen Position hingegen sähen
in der Differenz vor allem das Recht einer Gruppe, individuelle Freiheiten zu begrenzen. 78
Kultur und Ethik als zentrale Begriffe sind laut der liberalen Argumentation Teil der
Privatsphäre und somit vollständig von Politik zu entkoppeln.79 Für Liberale wie
Libertarians stehen die Individualrechte im Vordergrund. Aus einer konfliktuellen
Integration80 ergibt sich ein Bild von Identität, das sich von der kommunitaristischen
Auffassung stark unterscheidet, die auf feste Zugehörigkeiten und stabile (kulturelle)

70 Vgl. Hildebrandt: 139.


71 Benedict 1971.
72 Ebenda: 10.
73 Malinowski 1959: 623.
74 Vgl. Hildebrandt 2005: 142.; Benedict 1935/1971: 1.
75 Neubert et al. 2008: 10.
76 Vgl. Bauman 1999: 333.
77 Vgl. Ebenda: 334.
78 Vgl. Ebenda.
79 Vgl. Neubert et al. 2008: 13.
80 Dubiel 1994: 114.

18
Identitäten aufbaut.
„Die 'vollständige Integration' in eine Gemeinschaft ist ersetzt worden durch eine
Mehrzahl von begrenzten Mitgliedschaften in unterschiedlichen Teilsystemen.“ 81

2.1.2 Die europäische Multikulturalismus-Rezeption


Mit Neubert et al. können sechs verschiedene Ebenen des Multikulturalismus in der
Rezeption in Deutschland, stellvertretend für die europäische Debatte, unterschieden
werden.82 In seiner ersten Lesart ist der Multikulturalismus eine Bedrohung: beruhend auf
einem ethnisch-homogenen Nationenkonzept wird die kulturelle Mischung als
Konfliktpotential empfunden. Die zweite Variante des deutschen Diskurses tritt als ein
tolerant-pluralistischer Multikulturalismus auf. Multikulturalismus wird vor allem als
Bereicherung der eigenen Kultur dargestellt. Es besteht bei dieser Ansicht die Gefahr des
naiven Multikulturalismus, der das Konfliktpotential multikultureller Gesellschaften
verkennt und sich vor den innergesellschaftlichen Spannungen durch Rückgriff auf
kulturrelativistische Argumente verschließt. In seiner dritten Auslegung präsentiert sich
der Multikulturalismus als Chance zur Demokratisierung. Indem kulturelle
Fragestellungen auf politische zurückführen wird das Ziel einer Demokratisierung der
gesamten Gesellschaft angestrebt.
An vierter Stelle steht ein radikal-universalistischer Multikulturalismus, der mittels einer
Aufklärungsethik versucht, eine individualistische, und nicht kulturalistische Perspektive
der Politik durchzusetzen, um einer Ethnisierung gesellschaftlicher Konflikte
vorzubeugen. Der Ansatz beruht darauf, „individuelle Lebensstile zu entfalten,
Biographien zu entwerfen und diese immer wieder durch Transformationsprozesse zu
verbinden.“83 Dieser Strömung ist es ein Anliegen, egalitäre Strukturen zu fördern, „die
die Bedingungen zur persönlichen und kulturellen Entfaltung von einzelnen
Gesellschaftsmitgliedern zur Verfügung stellen [...]. Darüber hinaus werden kulturelle
Erfahrungen als Ressource für interkulturelle Kommunikation betrachtet [...].“ 84
An sechster und letzter Stelle steht die Position der Hegel'schen Anerkennung. Die
Anerkennung des Anderen wird hierbei als Grundvoraussetzung von gesellschaftlicher
Partizipation bewertet. Diese, dem Poststrukturalismus zuzuweisende Strömung spricht
von der unhintergehbaren Differenz, da der/die Andere nicht integrierbar ist, sich „nicht
ins Eigene wandeln lässt.“85
Gleichwohl die Cultural Anthropology und später auch der durch sie beeinflusste
81 Neubert et al. 2008: 14.
82 Ebenda: 20f.
83 Ebenda: 21.
84 Ebenda.
85 Ebenda: 22.

19
Multikulturalismus die Austauschprozesse und Diffusionsbewegungen zwischen Kulturen
(beispielsweise bei Franz Boas) herausarbeitet, so besteht dennoch eine immanente
Gefahr der hermetischen Kulturauffassung durch die anti-individualistische
Anthropologie, die ihnen zugrunde liegt. Oder wie Bassam Tibi es ausdrückt:
„Bei der Diskussion, in welcher Form die kulturelle Vielfalt in unserer
Gesellschaft anzustreben sei, müssen sich die Anhänger einer "offenen
Zivilgesellschaft" also für die kulturpluralistische, nicht für die
kulturrelativistische Vielfalt aussprechen.“ 86
Im Falle des radikal-universalistischen Multikulturalismus und anderen Strömungen, die
eine individualistische Perspektive eröffnen (auch auf Basis des liberalen
Identitätsansatzes), scheint der Überbegriff des Multikulturalismus nicht mehr zu greifen,
da dieser dem Namen nach schon auf einer kulturalistischen Strukturierung der
Gesellschaft aufbaut. Es gilt daher, diese Ansätze begrifflich von der klassischen
Multikulturalismus-Debatte zu trennen.

2.2 Interkulturalität
Um eine begriffliche Abgrenzung anzustellen, kann man sich auf die Interkulturalität be-
rufen, wie sie in der interkulturellen Philosophie formuliert wird. Aus der Ablehnung ei-
ner kulturalistischen und kulturrelativistischen Politik und Anthropologie heraus ergibt
sich mit der Interkulturalität eine Perspektive, die reell existierende Pluralität der Gesell-
schaft zu erfassen, ohne auf das Bild von kulturellen Sphären und kultureller Homogenität
zurückgreifen zu müssen. Diese interkulturelle Politik ermöglicht es dann, die Konflikte,
die aus der Vielfalt kultureller Lebensformen erwachsen, durch eine ganzheitliche Inte-
gration zu lösen.

2.2.1 Scheitern des Multikulturalismus


Zwar werden von multikultureller Politik Konfliktbewältigungsstrategien formuliert, aber
eine Überschreitung der interkulturellen Grenzen wird nicht möglich, womit auch das
Konfliktpotential erhalten bleibt. Eine oft erhobene Kritik an der „Politik der Anerken-
nung“ (Charles Taylor) zielt auf die Gefahr einer nachträglichen und artifiziellen Ethnisie-
rung der Gesellschaft ab,87 da die multikulturelle Politik der Anerkennung Gruppen zu ei-
ner Homogenisierung zwinge, die zunächst zwar nicht der kulturellen Lebenswelt der von
einer solchen Politik identifizierten Mitglieder der „kulturellen Minorität“ entspricht,
dann aber durch die formulierten politischen Rahmenbedingungen aber zu einer „self-ful-
filling prophecy“ werden. Der Multikulturalismus befördert so eine Fragmentierung der
Gesellschaft in kulturelle Inseln, die den häufig im Zuge von intergrationspolitischen De-
86 http://www.migration-boell.de/web/integration/47_772.asp ; 27.05.2009.
87 Vgl. Welsch 1999: 196.

20
batten genannten „Parallelgesellschaften“ entsprechen und ist einem gesamtgesellschaftli-
chen Konsens und einer kulturellen Verständigung somit abträglich. Auch der Europarat,
bzw. die „European Task Force on Culture and Development (ETFCD)“ beschrieb 1997
diesen Konflikt in ihrem Report:
„Moreover, there is a contradiction at the heart of the concept of diversity and its
celebration should mean more than the tolerant, or even enthusiastic, acceptance
of multicultural variousness. It is true that communities have the right to express
their own particularities without discrimination and that much more remains to be
done if that right is to be freely expressed. But no community is an island; the ga-
thering consensus on individual rights – to democracy, freedom of expression and
equality of opportunity – necessarily takes precedence over cultural, social and po-
litical traditions if they conflict with them. Diversity is a quality which marks out
individuals, as they engage with the multiple, often conflicting values on offer in
today’s moral markets and with the kaleidoscope of information now available to
most people, rather than it does groups.“88
Eine reine multikulturalistische Politik der Anerkennung scheint also ungeeignet, um das
Prinzip der Diversität in der gesellschaftlichen Realität geltend zu machen, ohne den Rah-
men des Rechtsstaats zu unterlaufen.

2.2.2 Interkulturelle Philosophie und Politik


Diesem Konzept, das interkulturelle Konflikte nicht löst, sondern sogar perpetuiert, steht
ein philosophischer und dezidiert politischer89 Ansatz der Interkulturalität gegenüber. Der
ihm zugrunde liegende Kulturbegriff ist ein weiter und dynamischer, der von einer, allen
Kulturen gemeinsamen, inhärenten Heterogenität ausgeht und somit den klassischen Be-
griff der „Kulturkreise“ (Herder) aufgibt. Dieser weite Kulturbegriff schließt nach Paul al-
les ein, was „(1) von Menschen geschaffene Lebensformen und (2) deren Eigenschaften,
und dabei [...] Merkmale, die für größere Gruppen, Zeitspannen und Lebensräume kenn-
zeichnend sind.“90
Gregor Paul beschreibt die Interkulturelle Philosophie als eine Auseinandersetzung mit
verschiedenen Philosophien. Als solche „verlangt [sie] auch nach einem normativen Ur-
teil über diese Sachverhalte, und [...] schließt den Versuch ein, transkulturell gültige – de-
skriptiv wie normativ gültige – Konzepte der Kulturalität und des kulturellen Miteinan-
ders zu entwickeln.“91 Auf der Basis eines postmodernen Verständnisses entwickelt die In-
terkulturelle Philosophie ein Konzept „einer dynamischen Interaktion der Kulturen […]
und nimmt sich als Ziele die Gleichberechtigung, die Wahrung von Eigenarten sowie den
friedlichen Konsens zur Lösung von Konflikten vor. […] Kultur selbst“, so Georgeta Van-

88 ETFCD 1997: 266.


89 Vgl. Paul 2008: 25.
90 Paul 2008: 11.
91 Ebenda: 23.

21
cea, werde „nicht als statischer Zustand, sondern als dynamischer Prozess aufgefasst.“ 92
Ausgehend von der Annahme einer inneren Heterogenität der Kulturen können grundsätz-
lich keine tautologischen Argumente in Bezug auf Spezifika einzelner Kulturen möglich
sein, da oft auch gegensätzliche Merkmale in einer Kultur vereint sind.93 Diese Kulturen
sind aber nach Auffassung des interkulturellen Ansatzes nie autochton und können sich
auch dem Einfluss des „Fremden“ nicht verschließen, da es aufgrund ihrer eigentlichen
Heterogenität konstitutiv für die Kulturen selbst ist. Kulturen, so u.a. Gregor Paul, sind
rein menschliche Erzeugnisse und biologistische Argumentationen (wie sie dem Herder-
schen Kulturbegriff entspringen) gelte es daher zurück zu weisen.94
Die Interkulturelle Philosophie ist hierbei (auch) eine „Philosophie der Philosophie“ mit
einer dezidiert selbstkritischen Position, die auch integrativ bei der Einbeziehung be-
stimmter Kulturen und deren Philosophien wirken will.95 Ram Adhar Mall unterstützt die-
se Reflexivität mit der Erläuterung der „orthaften Ortlosigkeit“ der Philosophie, die be-
schreibt, dass der Universalitätsanspruch der Philosophie durch die lokalen Unterschiede
in der Art zu philosophieren zwar erst sichtbar wird, diese jedoch wiederum von der Uni-
versalität ihrer Aussagen transzendiert werden.
„Die orthafte Ortlosigkeit der interkulturellen Philosophie ist ferner gekennzeich-
net von einer reflexiv-kritischen und, soweit möglich, vorurteilsfreien Distanz so-
wohl der eigenen als auch der fremden Philosophie und Kultur gegenüber.“ 96
Interkulturalität und Interkulturelle Philosophie ist somit auch und vor allem eine Suche
nach einem „dritten Weg zwischen Universalismus und Kulturrelativismus.“ 97

2.3 Transkulturalität
Nachdem in der Philosophie und auch der Gesellschaftspolitik der Multikulturalismus
einen Durchbruch feiern konnte und sich insbesondere in der nordamerikanischen Gesell-
schaft als immer noch gültiges Konzept der sozialen und kulturellen Koexistenz manifes-
tiert,98 hat sich ein weiterer Kulturbegriff gebildet, der das Herder'sche Konzept zurück-
weist und über das Zusammenleben vieler Kulturen innerhalb einer geteilten Öffentlich-
keit hinaus auch deren Zusammenwachsen konzeptualisiert. So kam es zu einer Weiter-
entwicklung der Interkulturellen Philosophie, die zur Transkulturalität als neuen Ansatz
führte.

92 Vancea 2008: 18f.


93 Vgl. Paul 2008: 18.
94 Vgl. Ebenda: 18ff.
95 Vgl. Paul 2008: 16.; Vancea 2008: 19.
96 Mall 1993: 9.
97 Vancea 2008: 19.
98 Vgl. Hildebrandt 2005: 505ff.

22
2.3.1 Abschied vom Herder'schen Kulturbegriff in der Postmoderne
Die Inselkonzeption von Kulturen führt den Theoretikern der Transkulturalität zufolge
aufgrund ihrer hermetischen und exklusiven Verfasstheit zwangsläufig zu Konflikten, wie
von Herder selbst beschrieben:
„So jede zwo Nationen, deren Neigungen und Kreise der Glückseligkeit sich sto-
ßen man nennt's Vorurteil! Pöbelei! eingeschränkten Nationalism! Das Vorurteil ist
gut, zu seiner Zeit: denn es macht glücklich. Es drängt Völker zu ihrem Mittel-
punkte zusammen, macht sie fester auf ihrem Stamme, blühender in ihrer Art,
brünstiger und also auch glückseliger in ihren Neigungen und Zwecken.“ 99
Aus diesem inhärenten Problem des Konfliktpotentials kultureller Sphären erwächst, so
zeigt wiederholt die gesellschaftliche Realität, ein strukturelles Problem der scheiternden
interkulturellen Kommunikation. Wolfgang Welsch sieht daher die Ursache für diese ge-
scheiterte Kommunikation nicht in einer mangelhaften interkulturellen Politik, sondern
vielmehr in dem Herder'schen Kulturbegriff, der ihr zugrunde liegt: „The concept does
not get to the root of the problem. It remains cosmetic.“ 100 Sowohl Multi-, als auch Inter-
kulturalität haben, so Welsch, bei dem Versuch, eine gesellschaftliche Koexistenz von als
hermetisch aufgefassten Kulturen zu garantieren, versagt. Daher schlägt Welsch ein der
globalisierten Migration und Identitätsbildung angepasstes Konzept von Kultur vor. Die
postmoderne Identitätsbildung passe nicht in das Schema einer klaren, kulturell homoge-
nen Nationalidentität. Vielmehr deute der Modus der Sozialisation in der Postmoderne auf
eine heterogene, teilweise sogar widersprüchliche Aneignung von Identifikationsmerkma-
len hin. Vor allem Phänomene der kulturellen Hybridisierung, also der kreativen Aneig-
nung und Interpretation von ursprünglich externen kulturellen Einflüssen, haben laut
Welsch ein enormes Potential bei der Neuformulierung eines Kulturbegriffes, der sowohl
Gemeinschaftlichkeit, als auch Individualität zulasse: die Transkulturalität.
„Ein solcher Ansatz setzt ein geschärftes Bewusstsein für die Fallen des Exotismus
voraus. Statt vermeintliche Authenzität zu ideologisieren und kulturelle Differen-
zen zu essenzialisieren, kommt es darauf an, der Pluralität von heutigen Weltbezü-
gen und Identitäten (was auch hybride Identitätsbildungen einschließt) gerecht zu
werden.“101

2.3.2 Hybridkulturen und Transkulturalität als gesellschaftliche Realität


Die kulturelle Analyse der postmodernen Gesellschaft führt Wolfgang Welsch auf der Ma-
kro- und der Mikroebene durch.102 Auf der Makroebene befinden sich die zeitgenössi-
schen Kulturen, die vor allem durch innere Differenzierung und Komplexität, sowie durch

99 Herder 1774/1967: 46.


100 Welsch 1999: 195f.
101 Weiß 2003: 129.
102 Ebenda: 197.

23
eine grundsätzliche Permeabilität die Interaktion und Vernetzung von Kulturen unterein-
ander fördern. Die postindustrielle Migration kommt als zersetzender Faktor für die natio-
nalen Grenzen von Kulturkreisen hinzu und trägt somit zur oben genannten Differenzie-
rung bei.
Hybridisierung gilt in dieser postmodernen Phase als Normalzustand der Kulturen, tat-
sächlich indigene oder originäre Strukturen sind entweder in Auflösung begriffen, oder
sogar bereits in das Repertoire eines globalisierten Kulturtransfers übergegangen.
„Authenticity has become folklore, it is ownness simulated for others – to whom
the indigene himself belongs. To be sure, there is still a regional-culture rhetoric,
but it is largely simulatory and aesthetic; in substance everything is transculturally
determined. Today in a culture's internal relations – among its different ways of
life – there exists as much foreignness as in its external relations with other cultu-
res.“103
Das aus dieser Erkenntnis gewonnene Konzept der Transkulturalität beschreibt Phänome-
ne, „die quer durch Kulturen wirken und sowohl interne als auch externe Verflechtungen
umfassen.“104
„Der durch Migrationsprozesse und Globalisierung veränderte Zuschnitt heutiger
Kulturen betrifft die Makroebene der Gesellschaft – als innere Differenzen, Hybri-
disierung und externe Vernetzungen -, doch er dringt auch auf die Mikroebene der
Individuen vor. Folglich ist „in der Substanz das allermeiste transkulturell be-
stimmt. Daher gibt es nichts schlechthin Fremdes mehr. Und ebenso wenig gibt es
schlechthin Eigenes.“ In Anlehnung an Wittgensteins pragmatisches Kulturkon-
zept besteht unsere eigentliche Aufgabe heute nicht im Verstehen fremder Kultu-
ren, sondern in der Interaktion mit der Fremdheit. Sowohl Inter- wie auch Trans-
kulturalität zielen also auf ein inklusives, nicht separatistisches Verständnis von
Kulturen und vor allem darauf, „unseren inneren Kompass umzustellen“: die Auf-
merksamkeit nicht auf Polaritäten zwischen Eigenem und Fremden, sondern auf
mögliche Gemeinsamkeiten und Verflechtungen zu richten.“ 105
Welsch bezieht sich in seinen Ausführungen106 immer wieder explizit auf das Kulturver-
ständnis von Ludwig Wittgenstein, und erklärt, wichtig sei für das kulturelle Leben nicht
das Verstehen des Fremden allein, sondern die Interaktion. Er fordert daher eine Ableh-
nung bloßer Kultur-Hermeneutik, sondern statt dessen eine verstehende Interaktions-
Pragmatik. Besonders zentral für das Konzept der Transkulturalität ist die prinzipielle Of-
fenheit der Kultur, die sie immer neuen Verbindungen, Anschluss- und Erweiterungsop-
tionen gegenüber empfänglich macht.
Da die Transkulturalität aber immer auch in Relation zur Globalisierung und Partikulari-
sierung gesetzt werden muss, zweier eigentlich widersprüchlicher Tendenzen in der Post-
moderne, erläutert Welsch, dass sie nicht Uniformisierung und Herausbildung einer

103 Ebenda: 197f.


104 Welsch 1997: 69.
105 Ebenda.
106 Welsch 1999: 203ff.

24
Mono-Kultur meine, sondern vielmehr in Verbindung mit kultureller Vielfalt zu betrach-
ten sei. Aus vielen einzelnen transkulturellen Prozessen gehen in einem globalisierten
Prozess immer neue, vielfältige Kulturen hervor; es bilden sich immer neue Überlappun-
gen und Unterschiede in einzelnen Öffentlichkeiten. Nichtsdestotrotz zeigen einzelne, ter-
ritorial getrennte kulturelle Netzwerke gemeinsame Anknüpfungspunkte und fördern so
Koexistenz und nicht Konflikt zwischen Kulturen.
Wiewohl ein kultureller Globalisierungsprozess stattfindet, wächst auch das Bedürfnis der
Individuen nach Partikularität – normalerweise sind die natürlichen Rückzugsgebiete sol-
cher Bedürfnisse Nationalismus und Kulturchauvinismus. Mit dem transkulturellem An-
satz soll es hingegen gelingen, eine globale Identität mit Partikularismen aufzubauen.
Auf den oben angestellten Definitionen aufbauend sollen nun Inter- und Transkulturalität
in der Kulturpolitik in einzelnen Aspekten von konkreten policies identifiziert werden.

3 Analyse ausgewählter europäischer Kulturpolitiken


Die oben angestellte Differenzierung der Konzepte der Interkulturalität und der
Transkulturalität soll im Folgenden dazu beitragen, zwei europäische Kulturpolitiken zu
kategorisieren. Mittels einer qualitativen Inhaltsanalyse, deren Aufbau in 3.1 beschrieben
wird, sollen die Inhalte von Grundlagendokumenten den beiden Kulturkonzepten
zugeordnet werden, die durch ein Analyseraster vier Kernbereiche aufgeschlüsselt werden
(3.2). Die Auswahl dieser Programme geschah auf Basis einer vorangegangenen Analyse
des Angebots von Europarat und Europäischer Union auf dem Feld der Kulturpolitik.
Exemplarisch für die Darstellung der Tätigkeit der EU auf diesem Politikfeld wurde das
Programm „KULTUR 2007 – 2013“ (3.3), das Kulturförderprogramm der Europäischen
Union, ausgewählt, da es die Förderrichtlinien der EU im Kultursektor einheitlich
beschreibt und dennoch klare (politische) Zielvorgaben für die zu fördernden
Kulturangebote formuliert. Für den Europarat soll das Programm „Intercultural Cities“
(3.4) analysiert werden, da es das kulturpolitischen Profil des Europarates – als einer
vernetzenden und beratenden Institution – widerspiegelt. Bei der Analyse der beiden
policies steht immer die Frage nach der gesellschaftspolitischen Dimension von
Kulturpolitik im Hintergrund, also eine eventuell zugrunde liegende Vision vom
Kulturraum Europa. Die Leitfrage lautet also: welches Konzept von Kultur leitet die
europäische Kulturpolitik und mit welchem Ziel für den Kulturraum Europa?

3.1 Vorgehensweise

25
Um einer „stillschweigenden Verkodung“ (Hopf)107, also einer nicht nachvollziehbaren
Auswertung der vorliegenden Grundlagendokumente auszuweichen, wird die
anzustellende Analyse mit Hilfe der von Jochen Gläser und Grit Laudel108 geleisteten
Typisierung – die vor allem auf der Vorarbeit von Philipp Mayring109 basiert - der
qualitativen Inhaltsanalyse angestellt werden. Im Unterschied zur grounded theory und
sequenzanalytischen Methoden wird in dieser Arbeit das Ordnungs- und
Interpretationsschema bereits vor der Analyse des Materials festgelegt110: inhaltlich sind
die Inter- und Transkulturalität der Maßstab bei der Beantwortung der Forschungsfrage.

Zunächst soll also ein Katalog von Kriterien erstellt werden, anhand dessen die Inhalte
der zu analysierenden Dokumente kategorisiert und jeweils einem der beiden
vorgestellten Kulturkonzepte zugeordnen werden. Zur Analyse werden herangezogen: der
„Beschluss Nr. 1855/2006/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12.
Dezember 2006 über das Programm „Kultur“ (2007 – 2013),“111 der Programmleitfaden
für „KULTUR (2007 – 2013),“112 „The intercultural city: what it is and how to make it
work.“ - das Basisdokument des Programms „Intercultural Cities“113, die von der
„Kammer der Gemeinden“ des „Kongresses der Gemeinden und Regionen (CLRA)“ am
05.03.2009 verabschiedete Resolution 280 über das Programm „Intercultural Cities“114
sowie das „Explanatory memorandum“ zu dieser Resolution von Jens Nilsson.115 Somit
steht eine solide Grundlage für die Untersuchung dieser europäischen Kulturpolitiken zur
Verfügung. Aus dieser Grundlage werden im nächsten Schritt die nach der
Dokumentensichtung mittels eines vorher erstellten Suchrasters als relevant erachteten
Informationen extrahiert und in das Suchraster eingetragen.116 Im Unterschied zur von
Gläser und Laudel vorgeschlagenen Methode, die sich vor allem auf die Untersuchung
von eigens erhobenen Daten (insbesondere Expertengespräche) stützt, soll aber das
Kategoriensystem unveränderlich bleiben, da eventuelle inhaltliche Differenzen zwischen
Kriterienkatalog und dem Untersuchungsmaterial nicht stringente theoretische
Grundlagen der policies aufdecken können. Der unten stehende Katalog von Kriterien zur
Kategorisierung der Kulturpolitiken hegt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit oder
Generalisierbarkeit; letztere könnte aber durch eine Ausweitung der Analyse auf weitere

107 Hopf 1982: 316; Gläser/Laudel ³2009: 45.


108 Gläser/Laudel ³2009.
109 Mayring 102008.
110 Gläser/Laudel: 47; 199.
111 Amtsblatt der EU 2006/L372.
112 Europäische Kommission 2009.
113 COE 2008a.
114 CLRA 2009.
115 Nilsson 2009.
116 Vgl. Gläser/Laudel ³2009: 200.

26
Kultur-policies und eine anschließende Justierung der Kriterien als Ziel für weitere
Untersuchungen formuliert werden.

3.2 Kriterienkatalog
Grundlage der qualitativen Analyse der Grundlagendokumente soll ein vierstufiges
Kategorienraster sein, das jeweils den Kulturbegriff, das politische Ziel, die inhärente
Vision der Gesellschaft und die Adressaten bzw. Objekte von Inter- und Transkulturalität
umfasst.
Wie im zweiten Kapitel bereits beschrieben, basiert die Interkulturalität auf einem
Kulturbegriff, der den klassischen (Herder'schen) erweitert. Kulturen werden nicht länger
als homogene, in sich geschlossene Einheiten, die sich zwangsläufig abstoßen, begriffen.
Vielmehr sind die Sphären zwar durch bestimmte Kriterien von einander abzugrenzen,
aber dennoch zum Austausch und Miteinander fähig. Dieses Miteinander ist auch das Ziel
interkultureller Politik: Es gilt, den offenen, gewaltfreien und dynamischen Umgang mit
dem „Anderen“117 und den Dialog der Kulturen in einer multikulturellen Gesellschaft zu
fördern. Adressaten interkultureller Politik sind dabei sowohl die kulturelle Mehr- als
auch die in der Gesellschaft vertretenen Minderheiten, die ein gleichberechtigtes
Mitspracherecht erhalten sollen. 118
Transkulturelle Kulturpolitik muss, um sich von diesem immer noch auf Kulturkreisen
basierenden Ansatz abzugrenzen, darüber hinaus Möglichkeiten bieten, mit den eigenen
dynamischen Identitäten und der permanenten Hybridisierung umgehen zu lernen, sich
mit ihnen auseinander zu setzen und ihnen Foren der Präsentation und Diskussion bieten.
Das Konzept der Transkulturalität bleibt nicht bei der Hermeneutik, der bloßen Präsentati -
on im Austausch von Kultur, stehen, sondern leistet einen Beitrag zur kreativen Interakti-
on und zur Individualisierung der kulturellen Identitäten in einer Gesellschaft. Sie unter-
breitet Angebote zur Stiftung gemeinsamer Orientierungen, zur individuellen Auseinan-
dersetzung mit diesen geschaffenen und präsentierten Werten, Stilen und Kulturgütern
und propagiert statt einem Mehrheits-Minderheiten-Dialog einen gesamtgesellschaftli-
chen Diskurs auf Basis der Vielfalt, ohne Hierarchisierungen vorzunehmen oder Homoge-
nisierung zu fördern. Wichtig für transkulturelle Kulturpolitik ist nicht der Status quo,
sondern das Finden immer neuer Ansatzpunkte für Adaptionen, Mutationen und Neuinter-
pretationen von Kultur. Die Unterstützung der Entwicklung solcher Hybridkulturen steht
im Vordergrund transkultureller politischer Visionen in einer Gesellschaft, die ebenso wie
die in ihr lebenden Menschen pluralistisch, für jegliche kulturelle Einflüsse offen und dy-

117 Vgl. Vesper 2003: 324f.


118 Kröger, Sievers 2003: 316.

27
namisch wandelbar ist. Objekt transkultureller Politik müssen demzufolge nicht Gruppen,
Minder- und/oder Mehrheiten sein, sondern die Individuen mit ihren multiplen kulturellen
Identitäten, Lebens- und Ausdrucksformen.
Aus dieser Abgrenzung durch Kernbereiche ergibt sich folgendes Untersuchungsraster:

Interkulturalität Transkulturalität
Kulturbegriff abgrenzbare Kultursphären, Offene, hybride
-Systeme Kultursysteme
Ziel Dialog, Austausch, Erweiterung, Hybridisierung
Bewahrung von Differenz
Gesellschaftsanalyse multikulturelle Gesellschaft pluralistische, permeable,
dynamische Gesellschaft
Adressaten Mehrheiten/Minderheiten- Individuen
Diskurs

3.3 „KULTUR 2007 – 2013“


Das Programm „Kultur (2007 – 2013)“ der Europäischen Union, das von der
Exekutivagentur Bildung, Audiovisuelles und Kultur (EACEA) verwaltet wird, ist die
direkte Weiterführung und Verbesserung des Kulturförderprogramms der EU, dem
vormaligen Programm „Kultur 2000“. Die EACEA ist seit dem dem Jahr 2006 tätig und
untersteht der Aufsicht dreier übergeordneter Generaldirektionen der Europäischen
Kommission: Bildung und Kultur (GD EAC), Informationsgesellschaft und Medien (GD
INFSO) und EuropeAid - Entwicklung durch Zusammenarbeit (GD AIDCO).119
„Ihre Rolle besteht darin, europäische Finanzierungsmöglichkeiten und Netzwerke
in den Bereichen allgemeine und berufliche Bildung, Bürgerschaft, Jugend,
Audiovisuelles und Kultur zu verwalten.“120
Das Budget für „Kultur (2007 – 2013)“ beläuft sich für den gesamten Förderungszeitraum
auf 400 Millionen Euro bei ca. 300 geförderten kulturellen Angeboten pro Jahr. 121

Die von dem Programm geförderten Angebote erstrecken sich über drei große
Aktionsbereiche: (1) Unterstützung kultureller Projekte, (2) Förderung von auf
europäischer Ebene tätigen kulturellen Einrichtungen und (3) von Forschungsarbeiten
(insbesondere statistische Erhebungen und Auswertungen).122
Anschließend soll nun das Analyseraster an die Grundlagendokumente des Programms
angelegt werden. Die daraus gewonnenen Textauszüge werden im weiteren Verlauf hier
genannt und anhand der Kategorien für Interkulturalität und Transkulturalität ausgewertet

119 http://eacea.ec.europa.eu/about/about_eacea_de.php ; 02.06.2009.


120 Ebenda.
121 http://www.culture.org.mt/page.asp?id=49 ; 02.06.2009.
122 Ebenda; Amtsblatt der EU 2006/L 372: 7ff.

28
werden.

3.3.1 Kulturbegriff
Der „Beschluss [...] über das Programm „Kultur“ (2007 – 2013)“123 bietet insgesamt
wenig Aufschluss über den zugrunde liegenden Kulturbegriff. Relevant scheint die dritte
Erwägung, in der es heißt:
„Um die volle Zustimmung und Beteiligung der Bürger am europäischen
Aufbauwerk zu gewährleisten, sollten ihre gemeinsamen kulturellen Werte und
Wurzeln als Schlüsselelement ihrer Identität und ihrer Zugehörigkeit zu[r] [...]
Gesellschaft […] hervorgehoben werden.“124
Dies lässt auf einen hybriden Kulturbegriff schließen, da scheinbar diese geteilten Werte
eine europäische Gesellschaft begründen, die durch weitere (nationale, regionale, lokale,
etc.) Identitäten erweitert wird. Allerdings gilt diese Annahme nur begrenzt, wie mit der
Erwägung (30) offensichtlich wird:
„Diese Gemeinschaftsaktion ergänzt nationale oder regionale Maßnahmen, die im
Bereich der kulturellen Zusammenarbeit durchgeführt werden.“ 125
Hier ist, wie auch die Ziele des Programms in Punkt 3.3.2 verdeutlichen, von kultureller
Zusammenarbeit zwischen regionalen und nationalen Akteuren die Rede, was entgegen
der oben angestellten Überlegung auf ein interkulturelles Verständnis von Kultursphären
hinweist, die sich zwar auf europäischer Ebene begegnen, aber auf abgrenzbaren
Zugehörigkeiten aufbauen. Diesen Konflikt der nicht eindeutigen Benennung des
Kulturbegriffes löst auch Artikel 3, Abs. 1 nicht auf, wo vom Kulturraum, „den die
Europäer miteinander teilen und der auf einem gemeinsamen kulturellen Erbe gründet
[...],“126 die Rede ist. Denn hier wird ein interkulturelles Miteinander beschrieben, das
allerdings um eine hybride Identitätsgrundlage erweitert wird. Diese Grundlage bietet
Raum für weitere Hybridisierungen und Erweiterungen, wie nationale, regionale und
lokale Identitäten.
Im Programmleitfaden finden sich weitere Hinweise auf einen eventuell unscharfen
Kulturbegriff in der EU-Kulturpolitik: In der Einführung wird herausgestellt, dass das
Programm „gemeinsame kulturelle Werte fördern soll, um das gemeinsame kulturelle
Erbe der europäischen Völker zu bereichern.“127 Der Verweis auf die europäischen Völker
allerdings unterstützt den Eindruck, dass hier von einem mehrstufigen, aber dennoch
interkulturell geprägten System von Kulturen und deren Schnittmenge im europäischen
Bereich die Rede ist. Das geteilte Erbe ist somit Grundlage eines Austausches von

123 Amtsblatt der EU 2006/L 372.


124 Ebenda: 1.
125 Ebenda: 3.
126 Ebenda: 4.
127 Europäische Kommission 2009: 5.

29
Kulturen im Sinne von Sphären. Die Erläuterung der Auswahlkriterien des Programms
untermauert eine Kategorisierung des Kulturbegriffes als in der Interkulturalität
begründet. Besonders hervorgehoben wird hier ein Ansatz, „der über lokale, regionale
oder sogar nationale Interessen hinausreicht […].“128 und somit gezielt ein anderes
Identifikationsangebot anspricht, das aber dennoch auf traditionelle
Zugehörigkeitsbereiche zurückgreift und somit eher auf Kultursphären, denn auf
Hybridkulturen schließen lässt.

3.3.2 Ziel
Der Beschluss über „Kultur (2007 – 2013)“ nennt bereits in den Erwägungen (1), (2), (5),
(10) und (12) eindeutig die Zielvorstellungen, die durch das Programm realisiert werden
sollen. Von „kulturelle[r] Zusammenarbeit“, „kulturelle[m] Austausch“, „sprachliche[r]
Vielfalt“, „bessere[r] Kenntnis der anderen Kulturen“, von der „Förderung der kulturellen
und sprachlichen Zusammenarbeit und Vielfalt“ aber auch von der „Europabürgerschaft“
ist die Rede. Der interkulturelle Dialog findet explizite Erwähnung, ebenso aber auch der
gemeinsame europäische Kulturraum.129 Dies lässt einmal mehr darauf schließen, dass die
Interkulturalität als ein Mittel verstanden wird, ein eigentlich transkulturelles Ergebnis zu
befördern. Der interkulturelle Dialog wird hier als eine Station auf dem Weg zur
Bewältigung der Abgrenzung der „Kulturen Europas“, als eine Methode zur
Grundlagenarbeit für eine spätere Öffnung des Kulturbegriffes für eine transkulturelle,
europäische Ebene. Differenz soll teilweise überwunden werden, aber dennoch im
Einklang stehen mit dem geteilten Kulturraum, der nicht nur interkultureller Begegnung
dient, sondern auch dem Aufbau einer europäischen Sphäre. Diese Ziele werden in
Artikel 3 (1) bis (2) c) noch einmal gebündelt wiedergegeben und in Artikel 12 um ein
weiteres Element erweitert, dass die interkulturelle Dimension des Programms noch
einmal unterstreicht:
„Das Programm trägt zur Stärkung der Querschnittsziele der Gemeinschaft bei,
insbesondere durch […] das Streben, gegenseitiges Verständnis und Toleranz in
der Europäischen Union zu fördern.“130
Im Leitfaden zum Programm findet sich wiederum der Hinweis auf „gemeinsame
kulturelle Werte“ und von einer anvisierten Bereicherung des „gemeinsame[n]
kulturelle[n] Erbe[s]“.131 Laut der Auflistung der Auswahlkriterien des Förderprogramms
wird die „Zusammenarbeit zwischen Kulturakteuren“ und ein Ansatz „mit dem das Ziel

128 Ebenda: 44.


129 Amtsblatt der EU 2006/L 372: 1f.
130 Ebenda: 5.
131 Europäische Kommission 2009: 5.

30
verfolgt wird, auf europäischer Ebene Synergien zu entwickeln“132 gefördert. Auch an
diesen Stellen offenbart sich die interessante Kombination aus einem interkulturellen
Programm mit transkultureller Langzeitperspektive: der Dialog und Austausch über die
vorhandene Differenz soll vor allem dazu dienen, der europäischen Kultursphäre Geltung
und Inhalte zu verschaffen. Damit schafft es „Kultur (2007 – 2013“ im Bereich der
Zielsetzung, die europäischen Interessen mit denen der Mitgliedsstaaten und
Gesellschaften zu verbinden. Eine kritische Sicht könnte dem Programm aber auch ein
ambivalentes Kulturkonstrukt attestieren, das keinen Aufschluss darüber gibt, ob es sich
bei dem angestrebten Synergien um Identifikationsmerkmale eines europäischen
Bürgertums handeln soll, oder lediglich um einen Raum weiteren interkulturellen
Austauschs. Diesen kritischen Blickwinkel unterstützt auch folgende Passage , die den
„zusätzlichen europäischen Nutzen“ der geförderten Projekte in das Kriterium der „Art
und Weise, in der die Zusammenarbeit und Partnerschaft auf einem gegenseitigen
Erfahrungsaustausch basieren“ aufschlüsselt. Dieser Austausch soll dann „[...] zu einem
Endergebnis führen, das sich qualitativ von der Summe der einzelnen auf nationaler
Ebene durchgeführten Aktivitäten unterscheidet, sodass ein echtes multilaterales
Zusammenspiel entsteht, das die Erreichung gemeinsamer Ziele fördert“. 133 Als nachhaltig
wird hier ein Projekt eingestuft, dass „zur Entwicklung der Zusammenarbeit zwischen
den Kulturen in Europa“134 beiträgt. Dies verquickt eindeutig eine transkulturelle
Zielsetzung mit einer interkulturellen. Multilateralität auf der einen, kulturelle
Synergieeffekte auf der anderen Seite gehen hier scheinbar Hand in Hand. Somit lässt
sich auch für die Ziele der kulturellen policy festhalten, dass keine klare Trennung
zwischen Interkulturalität und Transkulturalität gezogen wird und beide Konzepte in den
Formulierungen Ausdruck finden, wobei der interkulturelle Aspekt des Austausches und
des Dialogs einen eindeutigen Schwerpunkt bilden. Das – scheinbar abstrakte – Ziel einer
europäischen Bürgerschaft ist offenbar nur bedingt Leitbild der Europäischen
Kulturpolitik.

3.3.3 Gesellschaftsanalyse
Das zuvor gewonnene, zwiespältige Bild von der theoretischen Fundierung des
Programms „Kultur“ setzt sich auch im Bezug auf die qualitative Analyse der zugrunde
liegenden Annahmen über die Gesellschaftsstruktur fort. Als interkulturell kann die von
Beschluss und Leitfaden festgestellte „kulturelle und sprachliche Vielfalt in Europa“135

132 Ebenda: 44; 52f.


133 Ebenda: 44.
134 Ebenda: 46.
135 Amtsblatt der EU 2006/L 372: 1.

31
sowie die „kulturelle Vielfalt der Mitgliedsstaaten“136 gelten, deren Erhaltung das
Programm fordert und fördert. Dem gegenüber nennen beide Dokumente aber auch eine
europäische, transkulturelle Dimension, geprägt von einem „Gefühl der Zugehörigkeit zu
ein und derselben Gemeinschaft“137 und dem „Reichtum und [der] Vielfalt der
europäischen Kultur.“138 Hier kann tatsächlich von einer pluralistischen, aber dennoch
offenen und wandelbaren Gesellschaft im transkulturellen Sinne die Rede sein. Die
europäische Dimension wäre somit offen für geteilte Identifikationsmerkmale aber auch
für eine innere Diversität, die nichts mit einem multikulturellen Nebeneinander und/oder
Miteinander zu tun hat, sondern eine Vielzahl von Elementen zulässt und als Raum der
Freiheit vereint. Dennoch muss diese Gesellschaft nun offensichtlich als dualistisches
System betrachtet werden: zum einen die multikulturelle Union von Mitgliedsstaaten und
Kulturen, deren Koexistenz im europäischen Dialograum ausgehandelt wird. Zum
anderen aber eine genuin europäische Form der Gesellschaft, die sich als grundsätzlich
diversifiziert und vielgestaltig versteht und die Hybridisierung ihrer Teilkulturen fördert.

3.3.4 Adressaten
Um die Adressaten, bzw. die angesprochenen Elemente der Gesellschaft zu ermitteln,
führt ein erster Einblick in die Grundlagendokumente von „Kultur (2007 – 2013)“ ,
genauer in die Erwägungen (1), (3), und (13) zu der Erkenntnis, dass auch hier
transkulturelle Begriffe Eingang gefunden haben: das Programm richtet sich
gleichermaßen an europäische Bürger,139 wie auch an - siehe Erwägung (12) des
Beschlusses – europaweit an Kulturakteure.140 Diese beiden genannten Profiteure der
Kulturpolitik der EU lassen sich nach dem genutzten Schema in die Transkulturalität
einordnen, da sie Individuen einer transkulturell verfassten Gesellschaft ansprechen: die
europäischen Bürger sind die Grundeinheiten der inneren Diversität Europas, die
Kulturschaffenden die Produzenten der hybriden kulturellen Identität Europas.
Zugleich finden sich aber auch Verweise auf einen für die Interkulturalität typischen
Mehrheiten/Minderheiten-Diskurs, d.h. auf den Versuch, einen innergesellschaftlichen
Anti-Diskriminierungs-Dialog zu fördern, der auf die interkulturelle Zielsetzung der
Verständigung baut und zum Ziel hat, die multikulturelle Gesellschaft zu befrieden. In
Erwägung 5 äußert sich dieser Ansatz.
„Es ist ferner erforderlich, die aktive Bürgerbeteiligung zu fördern und die
Bekämpfung jeglicher Form der Ausgrenzung, einschließlich Rassismus und

136 Ebenda.
137 Ebenda: 8.
138 Ebenda.
139 Amtsblatt der EU 2006/L 372: 1f.; 8.
140 Ebenda: 2; Europäische Kommission 2009: 7; 45; 65.

32
Fremdenfeindlichkeit, zu verstärken. So vielen Menschen wie möglich einen
besseren Zugang zur Kultur zu geben, kann ein Mittel zur Bekämpfung sozialer
Ausgrenzung sein.“141
Ebenso heißt es in Erwägung (15), man verfolge die „Förderung der nachhaltigen
Entwicklung und Bekämpfung jeglicher Diskriminierung“. Im selben Tenor ist auch der
für diese Analyse relevante Artikel 12 d) gehalten. Hier leistet das Programm „Kultur
(2007 – 2013)“ einen „Beitrag zur Beseitigung jeglicher Diskriminierung aus Gründen
des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der
Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung.“ 142
Während also bei der Benennung der Profiteure die individuellen Kulturakteure und die
Bürger Europas als transkulturell verfasste Individuen im Vordergrund stehen, wird
dennoch deutlich, dass auch ein Weg gefunden werden soll, zwischen Mehr- und
Minderheiten in der multikulturellen Gesellschaft zu vermitteln und Diskriminierung
abzubauen. Ausgrenzung von Minoritäten müsste von transkultureller Politik nicht mehr
thematisiert werden, da ohnehin keine Gruppen, sondern das Individuum und seine
Hybridkultur im Mittelpunkt stehen. Gleichberechtigung ist daher weniger – wie in der
Interkulturalität – ein Ziel, als vielmehr eine Grundvoraussetzung für transkulturelle
Politik. Es finden sich demzufolge in beiden Dokumenten wieder Elemente beider
Kulturkonzepte, wenn auch weniger ausdrücklich und in vergleichsweise geringer Zahl.

3.3.5 Theoretische Klassifizierung


Wie aus der Analyse ersichtlich, lässt sich keine abschließende eindeutige Zuordnung des
Programms „Kultur (2007 – 2013)“ vornehmen, da in den Quellen, die die Basis für die
Umsetzung der policy darstellen, keine einheitliche Positionierung stattfindet. Vielmehr
zeigt sich, wie schwerwiegend die Verpflichtung zur Subsidiarität die Zielsetzung
Europäischer Kulturpolitik für die Europäische Union beeinflusst. So wird ein Mittelweg
gewählt zwischen transkultureller, europäischer Bürgerschaft und interkultureller
Vermittlungsarbeit innerhalb einer als multikulturell beschriebenen Gemeinschaft, deren
langfristiges Ziel aber das Zusammenwachsen ist und bleibt. Die Europäische Union
schafft es damit, den partikularen Ansprüchen der Nationalstaaten und aber auch den
transkulturell und hybrid agierenden Kulturschaffenden gerecht zu werden. Diese
Gratwanderung lässt zwar eine unmissverständliche Positionierung der EU zugunsten
einer „Einheit in der Vielfalt“ im transkulturellen Sinne vermissen, trifft dieses Motto
aber scheinbar dennoch in jeglicher Auslegung. Europäische Kulturpolitik im Falle der
EU ist also selbst ein hybrides System, das Synergien für eine genuin europäische Sphäre

141 Ebenda: 1.
142 Amtsblatt der EU 2006/L 372: 1f.; 5.

33
befördert und dabei traditionelle kulturelle Identitäten und Konzeptionen bewahrt und in
die eigene policy-Dimension integriert.

3.4 „Intercultural Cities“


Das Programm „Intercultural Cities – Joint action of the Council of Europe and the
European Commission“ stellt ein Kooperationsnetzwerk zwischen 24 verschiedenen
Städten Europas dar, die sich im Bereich der interkulturellen Ausgestaltung ihrer
kommunalen (Kultur-)Politik in Austausch begeben und sich einer vom Europarat
formulierten interkulturellen polity anschließen. Hierzu unterstützt die Europäische
Kommission das Vorhaben durch das Netzwerk EUROCITIES, ein bereits bestehendes
Kommunalnetzwerk, welches sich über den gesamten europäischen Raum des COE
erstreckt. 1986 wurde EUROCITIES gegründet und vernetzt mehr als 130 Großstädte in
30 Ländern mit einander.143
„Intercultural Cities“ wurde während einer ersten Konferenz in Liverpool144 ins Leben
gerufen. Das Programm besteht aus zwei Säulen: „Strand one: governance and policies“
und „Strand two: awareness and exchange.“145 Im Rahmen der ersten Säule schaffen
nationale und internationale Experten zusammen mit den kommunalen Verantwortlichen
Referenzrahmen für den (kultur-)politischen Umgang mit Vielfalt. Diese erste Phase ist
für ca. 24 Monate geplant, von Anfang 2008 bis Ende 2009 und wird anschließend
evaluiert, angepasst und daraufhin, bei bestehendem Interesse und ausreichenden
Ressourcen, ausgeweitet.146
Die zweite Säule beinhaltet ein kommunales Austauschprogramm im Rahmen von
EUROCITIES, an dem 24 Kommunen teilnehmen. Jede Stadt, die sich am Programm
beteiligt, entsendet zwei Botschafter zu Terminen, die im Zusammenhang mit
„Intercultural Cities“ stehen. Komplettiert wird dieses Angebot durch eine Reihe von
Kongressen, während der im Beisein von Lokalpolitikern, Interessengruppen und Bürgern
eine Präsentation und Auswertung der Strategien des interkulturellen Dialogs stattfinden
sollen. –. Eine Abschlusskonferenz und eine Veröffentlichung der Ergebnisse der
Zusammenarbeit sollen die Nachhaltigkeit des Programms sichern.

3.4.1 Kulturbegriff
Anders als bei „Kultur (2007 – 2013) wird in den Publikationen zu „Intercultural cities“
mit einem – zunächst offenbar - eindeutigen theoretischen Instrumentarium Kulturpolitik

143 http://www.eurocities.eu/content/about/menu.php?page=about# ; 04.06.2009.


144 Vom 1. bis zum 3. Mai 2008.
145 http://www.coe.int/t/dg4/cultureheritage/Policies/Cities/intro_en.asp#TopOfPage ; 01.06.2009.
146 Ebenda.

34
gemacht. „Interculturalism“, so Jens Nilsson in seinem Memorandum zur Resolution 280,
„means accepting cultures as living entities which evolve and transform themselves
through encounters with other cultures.“147 Diese klare Definition des Interkulturalismus
im Rahmen des Programms liegt exakt im Bereich dessen, was auch in dem vorliegenden
Suchraster als interkulturell bezeichnet wird. Das Programm impliziert klar eine
Einbeziehung von Menschen aller Gruppen, um die kulturelle Mischung der Gesellschaft
zu bewahren und als Ressource nutzen zu können.148 Gemeint sind mit dieser Mischung
Menschen unterschiedlichen kulturellen Hintergrundes.149 Die Unterscheidung von
Kultursphären setzt sich auch fort, wo der Nationalstaat als Einwanderungsgesellschaft
von Vielfalt „betroffen“ ist:
„We might cite national minorities who share a cultural identity with a nation state
but are not of it […].“150
Im supranationalen Kontext allerdings fördert das Programm „our diverse European
urban society, in which the movement of people is matched by the interplay and trading
of goods and services, ideas and customs […] as people […] make new identities within
and across ethnic lines.“151 Diese Entstehung neuer Identitäten wäre an dieser Stelle einer
transkulturellen Zielsetzung gleichzusetzen. Interessanterweise bedient sich auch der
Kulturbegriff von „Intercultural cities“ recht offen eines ambivalenten Ansatzes, der zwar
von distinkten Kulturen ausgeht, gleichzeitig aber deren Weiterentwicklung zu
transkulturellen Entitäten beschreibt. So sprechen die Quellen von „strong and dynamic
identities“152, von „multicultural identities“153 und davon, dass es nötig sei, „[to] stimulate
the development of multiple cultural identities, taking into consideration the need to
develop a pluralistic understanding of one's own identity […].“ 154

Dieser Anspruch an ein pluralistisches Identitätsverständnis ist in dieser Form nur in der
Transkulturalität zu finden. Der europäische Kulturraum bleibt also konzeptuell zwischen
Kultursphären und Hybridkulturen zerrissen, selbst in einem dezidiert interkulturellen
Programm.

3.4.2 Ziel
Die Zielsetzung der „Joint action of the Council of Europe and the European

147 Nilsson 2009: 4.


148 COE 2008a: 1.
149 Ebenda.
150 COE 2008a: 2.
151 COE 2008a: 7.
152 Chamber of Local Authorities: Resolution 280.
153 Chamber of Local Authorities: Resolution 280.
154 Chamber of Local Authorities: Resolution 280.

35
Commission“ lautet, Vielfalt als Quelle für Innovation und Wachstum zu nutzen. 155 „[...]
[I]nterculturalism [….] does not consider cultural assimilation as „the prise to pay“ for
social integration.“156 Die Bewahrung von Differenz in Form von kultureller Identität157
steht in einem gewissen Spannungsverhältnis zu der außerdem geäußerten Forderung:
„The intercultural city shapes its […] policies […] in ways which enable people
from different cultural backgrounds to mix, exchange and interact for mutual
benefit.“158
„The intercultural city“, heißt es im „introductory document“, „does not avoid cultural
conflict but accepts it and develops ways of dealing with it.“159 Das Ziel ist „close
interaction and trust between cultural groups“160 und das Überbrücken eines
diagnostizierten oder möglichen „lack of mutual knowledge and empathy between
cultures“.161 Somit werden bisher sowohl inter- als auch transkulturelle Zielsetzungen
propagiert, wenn auch mit einem Schwerpunkt auf der Dialogkultur der Interkulturalität.
Ein starkes Plädoyer für die Transkulturalität findet sich dagegen in folgender Aussage:
„Therefore intercultural urban policy is encouraged by the Council of Europe
because it is predicated upon the notion of different cultures mixing and
exchanging, disputing and debating, co-operating and learning, adapting and
improving and ultimately growing together.“162 „Cities need to develop policies
which prioritise funding for projects where different cultures intersect,
'contaminate' each other and hybridise […].“ 163
Hybridisierung erscheint als Ziel, das vom COE offen gefordert und im Rahmen des
Programms verwirklicht werden soll. Aber auch an dieser Stelle offenbart sich, dass
interkulturelle Politik als Wegbereiter einer gelebten Transkulturalität fungieren soll. Dies
äußert sich in der Forderung nach Konfliktmanagement und der Errichtung öffentlicher
Foren des Austausches und des Zusammenwachsens. Das Hauptanliegen besteht somit
darin, „enabling and supporting the exchange of ideas and cultural interaction as a spur to
innovation, growth and the bonding of cultures, peoples and authorities for the benefit of
all.“164

3.4.3 Gesellschaftsanalyse
In der Gesellschaft, die eine „intercultural city“ idealerweise hervorbringt, bzw. fördert,

155 COE 2008a: 1: „The intercultural city does not simply 'cope' with diversity but uses it as a
source of dynamism, innovation, creativity and growth.“
156 Nilsson 2009: 4.
157 Vgl. Chamber of Local Authorities: Resolution 280.
158 COE 2008a: 1; Vgl. Nilsson 2009: 4.
159 Ebenda.
160 COE 2008a: 1.
161 COE 2008a: 10.
162 COE 2008a: 10f; Vgl. Nilsson 2009: 3; 14; Hervorhebungen durch den Verfasser.
163 COE 2008a: 11.
164 COE 2008a: 12.

36
ist eine, in der „diversity as a norm“ 165 gilt. Dafür verlangt das Programm nach
„[s]tructures and mechanisms for public consultation, debate and decision-making
represent the community's cultural mix and are able to deal with issues of cultural
difference.“166 Damit stellt sich die Gesellschaftsanalyse als eine grundsätzlich
multikulturelle heraus: affirmative action und eine interkulturelle Herangehensweise mit
dieser multikulturellen Verfasstheit der Gesellschaft. Interkulturelle Politik im Sinne von
„Intercultural cities“ handelt durch „ensuring social cohesion, dignity and equal
opportunities for all members of society, regardless of ethnic and cultural background.“167
So fällt auch der Begriff der „ethno-cultural diversity“168 und es wird die
gesellschaftspolitische Aufgabe formuliert, „[to] uphold cultural pluralism within a
common framework of values,“169 was als interkulturelle Politik in einer multikulturellen
Gesellschaft bezeichnet werden kann.
Aber es ist auch in dieser Rubrik bemerkenswert, wie inter- und transkulturelle
Formulierungen nebeneinander verwendet werden, etwa bei der Erläuterung von
kultureller Vielfalt als weichem Standortfaktor und als gesellschaftspolitische Realität:
„Of growing importance [...] is the sense of openness of a place. Places which are
uniformly monocultural or seem unwelcoming of difference will lose out to those
places with a cosmopolitan 'buzz'.“170 „[...] [O]ver the coming decades, Europe
will be a place that is at ease with its cultural diversity – or at war with itself.
Intercultural policies are therefore essential for the diverse communities of
tommorow.“171
So hinterlässt auch die Kategorie „Gesellschaftsanalyse“ ein geteiltes Bild von der
theoretischen Basis der Kulturpolitik des Europarates, da sie sie sich sowohl inter- als
auch transkulturellem Vokabular bedient.

3.4.4 Adressaten
Wer aber wird nun in den Mittelpunkt der erklärtermaßen interkulturellen Politik von
„Intercultural cities“ gerückt? Hier ist ausschließlich der Mehrheits-Minderheiten-Diskurs
wiederzufinden, der interkulturelle Kulturpolitik kennzeichnet: so spricht das Programm
Mehr- und Minderheiten und Menschen unterschiedlichen kulturellen Hintergrundes an.172
Es identifiziert „new minorities across Europe“, spricht von „'traditional minorities' who
may have lived alongside national majority populations,“173 die aber nicht die „culture and

165 COE 2008a: 1.


166 COE 2008a: 1.
167 Nilsson 2009: 3.
168 COE 2008a: 2.
169 Nilsson 2009: 4.
170 COE 2008a: 8.
171 Nilsson 2009: 5.
172 Vgl. COE 2008a: 1; Chamber of Local Authorities: Resolution 280.
173 COE 2008a: 2.

37
tradition of the host community or the members of the majority“ teilen. Weiterhin sind
gemeint „[…] those who have a different language, religion and culture or have only
recently joined the community.“174 Die Autoren des Programms unterscheiden „distinct
approaches to minorities and diversity“ und stellen fest: „Intercultural policy“ bedeute,
dass
„migrants and/or minorities can be accepted as permanent and whilst their rights
to have their differences from the cultural norm of the host community are
recognised in law and institutions, there is a valorization of policies, institutions
and activities which create common ground, mutual understanding and empathy
and shared aspirations […].“175
Interkulturelle Kulturpolitik sei nicht zuletzt die Integration von Minderheiten und
Migranten.176 Einziges transkulturelles Element in diesem Teil des analysierten Materials
findet sich in der Propagierung der „cross-fertilisation across all boundaries, between
'majority' and 'minorities', 'dominant' and 'sub' cultures,“177 die aber ebenfalls den bereits
genannten Minderheiten-Diskurs weiterführt und somit die grundsätzliche These, dass im
Bezug auf die Adressaten der policy des Europarates ein einheitliches, von der
Interkulturalität geprägtes, Bild vorherrscht.

3.4.5 Theoretische Klassifizierung


Insgesamt kann aber auch dieses letzte Ergebnis der qualitativen Analyse der
Grundlagendokumente von „Intercultural cities“ nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch
das Programm des Europarates einen Mittelweg zu finden versucht, zwischen der
Schaffung einer urbanen, kosmopolitischen und europäischen Hybridkultur und der
Wahrung von kulturellen Sphären, die durch einen Minderheiten-Diskurs akzentuiert
werden und von kulturellen Gruppen ausgehend die Vision von einer befriedeten
multikulturellen Gesellschaft postulieren. Ähnlich wie schon die Kulturpolitik der EU
kann sich auch der Europarat der kulturellen Definitionsgewalt der Nationalstaaten und
den kollektivistischen Ansätzen kulturell definierter Minoritäten nicht entziehen und
verharrt in der Mitte zwischen interkulturellem Dialog der kulturellen
(Interessen-)Gruppen und transkultureller Hybridisierung der Gesellschaft von
gleichberechtigten Individuen.

4 Fazit
Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass in der Europäischen Kulturpolitik zwei Maxi-
men nebeneinander existieren: die der kulturellen Vielfalt und der Wahrung kultureller
174 Chamber of Local Authorities: Resolution 280.
175 COE 2008a: 3f.
176 Vgl. Nilsson 2009: 3.
177 COE 2008a: 11.

38
Sphären einerseits und die der Stiftung einer gesamteuropäischen Identität durch Hybrid-
kultur andererseits. Beide hier analysierten Programme von Europarat und Europäischer
Union weisen ähnliche inhaltliche Ambivalenzen auf, was die Formulierung ihrer Ziele
und Grundlagen betrifft. Sowohl im Rahmenprogramm der europäischen Kulturförderung
„Kultur (2007 – 2013)“ als auch in den Veröffentlichungen zu „Intercultural cities“ finden
sich Elemente von Interkulturalität und Transkulturalität. Erstere gilt aber in beiden Kul-
turpolitiken als Weg hin zum langfristig angestrebten Ziel einer transkulturellen Dimensi-
on europäischer Bürgerschaft.
Denn mit Interkulturalität meinen beide Maßnahmen die Gestaltung der multikulturellen
Realität innerhalb der Nationalstaaten und den Kommunen, integrative Angebote krea-
tiven Ausdrucks von Minderheiten und den Beginn einer Dialogkultur, welche kulturellen
Differenzen Raum und gewaltfreie Mittel der Artikulation verleiht. Aushandlungsprozesse
rücken somit in den Fokus der Debatte um die Multikulturalität der heutigen Gesellschaft
und verdrängen relativistische und hermetische Ansätze.
Somit lässt sich auch der Stellenwert der Transkulturalität in der Debatte um die Ausge-
staltung von Kulturpolitik in und für Europa bestimmen: sie ist gleichermaßen Ziel wie
auch Teil des Weges. Schon im Rahmen der Kulturpolitik wird transkulturelle Hybridisie-
rung, die für die Verantwortlichen beider Kulturpolitiken aus den oben beschriebenen
Aushandlungsprozessen entstehen kann, explizit gefordert und gefördert.
Aber dennoch besteht auch weiterhin eine Selbstverpflichtung der europäischen Institutio-
nen zur Wahrung kultureller Vielfalt in nationaler, regionaler und lokaler Dimension. Die-
se Gratwanderung wird so lange Europäische Kulturpolitik bestimmen, wie die National-
staaten maßgeblich an der Gestaltung europäischer Politik beteiligt und ihre Grundeinheit
sind. Den beiden Institutionen ist gemein, dass sie kulturpolitisch eher soft power ausüben
und daher ihr Potential als Multiplikatoren von vorbildlichen Kulturpolitiken voll aus-
schöpfen müssen. Dazu kommt eine starke Einschränkung ihrer politischen Tätigkeit, be-
dingt durch äußerst geringe budgetäre Ressourcen. Während die EU-Kulturförderung ca.
57 Millionen Euro im Jahr zur Verfügung stellt, beträgt das Jahresbudget des Europarates
200 Millionen Euro. Dies limitiert den Rahmen dessen, was Europarat und EU zu tun im-
stande wären, denn eine Parallelstruktur, wie sie etwa auch in Menschenrechtsfragen ent-
standen ist178, sichert zwar beiden Institutionen ein Image als kulturell aktive Körperschaf-
ten – insbesondere der inhaltlich an den Europarat orientierten EU, die sich die Fachkom-
petenz des COE in diesem Sektor zu Nutze machen kann -, verhindert aber eine tatsäch-

178 Gemeint ist hier die Einrichtung einer Europäischen Grundrechtsagentur in Wien im März
2007 und das auf der Europäischen Menschenrechtskonvention basierende
Menschenrechtsregime des Europarats mit dem Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte in Straßburg.

39
lich europäische Dimension der Kulturpolitik, die effektiv nach Innen und Außen wirkt.
Eine Konkurrenzsituation zwischen EU und COE schadet den Aktivitäten der Institutio-
nen mehr, als dass sie ihren Zielen Geltung verschafft.
Es fällt gerade im Falle der EU und ihrer kulturpolitischen Dimension auf, dass die „Kul-
turverträglichkeitsklausel“ zwar die Kultur in den Mittelpunkt europäischen Wirkens
rückt (wobei ein noch zu klärendes Spannungsfeld zwischen Kultur- und Integrationspoli-
tik aufgebaut wird), gleichzeitig aber eine aktive gestaltende Tätigkeit der EU durch fi-
nanzielle Mängel und die Beschränkung auf Fördermaßnahmen begrenzt wird. Somit
rückt die Verwirklichung eines europäischen Kulturraumes zunächst außer Sicht, was mit
Blick auf die zu leistende Integrationsarbeit in der EU der 27 problematisch erscheint.
Eine aktive, gestaltende und genuin europäische Kulturpolitik könnte einer Identitätskrise
der EU entgegentreten – auch und insbesondere in Zeiten, da die Wahlbeteiligung bei Eu-
ropawahlen unter 50 Prozent liegt. Kulturpolitik, die eine transkulturelle, europäische Per-
spektive hat, arbeitet auch zugunsten einer europäischen politischen Kultur, die dringend
nötig ist, um dieses Friedensprojekt zu beleben.
Bezüglich des Europarates ist anzumerken, dass die Bekanntheit und Anerkennung der
geleisteten Netzwerkarbeit und der besonderen Stellung bei der Formulierung kulturpoli-
tischer Maximen im Europa der 47 nicht gerecht wird. Auch hier ist eine finanzielle Kom-
ponente des Problems auszumachen, aber auch die mangelnde mediale Präsenz trägt mit
dazu bei, dass der Europarat bei den 800 Milllionen Europäern, die er einschließt, nur
marginal – und nicht unbedingt im Bereich der Kulturpolitik – wahrgenommen wird. Da-
bei, das ist eine aus der obigen Analyse zu ziehende Erkenntnis, übertrifft der Europarat
mit seiner Kulturpolitik und der Präzision, mit der ihre Ziele formuliert sind, den Wir-
kungsgrad der EU-Förderung. Die im Artikel 154 des Amsterdamer Vertrags verlangte
Zusammenarbeit zwischen EU und Europarat ist demzufolge eine sinnvolle Perspektive,
wenn es darum geht, die begrenzten Ressourcen der europäischen Kulturpolitik zielge-
richtet und wirkungsvoll einzusetzen. Dabei spielt nicht zuletzt die kulturelle Zielsetzung
eine wichtige Rolle, die sich mehr als bisher an der transkulturellen Dimension einer eu-
ropäischen Identität orientieren sollte. Um die zugrunde liegenden Identifikationsebenen
nicht außer Acht zu lassen, sollte der Weg zu dieser Transkulturalität in Europa ein inter-
kultureller sein. Transkulturalität ist somit sowohl als Element als auch als Ziel interkultu-
reller (Kultur-)Politik in Europa zu begreifen, wie die analysierten Programme bestätigen.

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44
6 Anhang
6.1 Erklärung
Hiermit erkläre ich, Sven Golob, an Eides statt, dass die vorliegende wissenschaftliche
Arbeit „In Vielfalt geeint? Inter- und Transkulturalität in der europäischen Kulturpolitik“
selbständig und unter Zuhilfenahme ausschließlich der im Literaturverzeichnis genannten
Quellen angefertigt wurde. Diese Arbeit wurde in dieser oder ähnlicher Form noch nicht
für andere Prüfungszwecke eingereicht oder veröffentlicht.

Eichstätt, den 17.06.2009 ______________________________________


Unterschrift

6.2 Elektronische Quellen (CD-ROM)

45

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