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Diogenes aus der Tonne

Sabine Büssing

D.O.G.

Diogenes
Diogenes ist ein Phänomen. Jeder kennt ihn, den gerissenen alten
griechischen Hundesohn. Entschuldigen Sie bitte den Ausdruck, wenn er
mir persönlich auch ausnahmsweise völlig passend erscheint in diesem
speziellen Zusammenhang. Das ähnlich schnöde Wort "Schweinepriester"
beispielsweise wäre bei Diogenes weit weniger angebracht, und zwar
deswegen, weil er gar kein Priesteramt innehatte. Der erste Teil des Wortes
ist nicht ganz so fehl am Platze. Höchstwahrscheinlich werden Sie mir
jetzt einen gehörigen bzw. ungehörigen Mangel an Respekt vorwerfen,
zumal doch Diogenes zu den angeblich größten Philosophen der Antike
gerechnet wird (und er außerdem zu den wenigen Denkern gehört, von
denen die allermeisten von uns Laien tatsächlich schon mal etwas gehört
haben).
Aber Diogenes war wirklich und wahrhaftig ein echtes Ferkel, und sogar
seine Mitdenker sowie seine Nachdenker nannten ihn einen Hund – was
uns zu der einzig möglichen Verbindung führt: Er war ein Schweinehund,
ein griechischer. Dies kann man nicht so mir nichts, dir nichts in den Raum
stellen; es bedarf ein wenig der Erläuterung.
Es fing im Grunde alles damit an, daß ein anderer griechischer
Philosoph, Antisthenes geheißen, etwas früher geboren als unser Held
(welcher nachweislich 323 vor Christus starb) und demnach eine Art
Halbzeitgenosse desselben, in Athen eine staatlich subventionierte
Hundeschule einrichtete. Sicher kennen Sie diese Art Benimmschulen für
junge Hunde, deren Herrchen und Frauchen es leid sind, Fifis Pipi aus dem
elterlichen Schlafzimmer aufzuwischen oder dauernd neue Pantoffeln
kaufen zu müssen. Später, wenn die Hunde stuben- und flurbereinigt sind
und nur noch das zerbeißen, was der Ausbilder ihnen zeigt (ungehorsame
Sklaven etwa), dürfen die Viecher zur Belohnung über hohe, künstlich
errichtete Zäune springen oder Männchen machen. Verzeihen Sie, wenn
man(n) an dieser Stelle ein Chauvinistenschwein bleiben muß, aber bisher
hat sich in der Hundesprache das Wort "Frauchen machen" noch nicht
durchsetzen können. Da kann man nichts machen.
Nun entsprach diese oben erwähnte Hundeschule des Antisthenes
natürlich nicht hundertprozentig den bis zu jener Zeit üblichen
Ausbildungsanstalten für höhere Welpen. Wäre das der Fall gewesen, hätte
er seine Lehrstätte kaum als gemein oder nützlich von der Steuer absetzen
können. Ausgehend vom griechischen Wort für "Hund" – "kyon" – wurde
die Schule bald im ganzen Land als Zynikerverein bekannt, als Anstalt für
zynische Hunde eben. Das Hündisch-Zynische trichterte man den
Auszubildenden rigoros ein. Im Unterschied, ja gar im ausgesprochenen
Gegensatz zu allen bisherigen Orten hündischer Gelehrsamkeit trainierte
man die Anwärter aufs Zyniker-Abitur dahingehend, daß sie sich auf ihr
ursprüngliches Hund-Sein besannen, sich auf ein freies Hundeleben
außerhalb der Schule vorbereiten konnten und nicht mit den Wölfen
heulten, was schließlich gegen ihre hündische Natur gegangen wäre.
Diese frappante Abweichung von allen bis dato bekannten Hunde-
Erziehungsmethoden hatte natürlich wie gar manches auf der Welt seine
Wurzel in einem Jugendtraum bzw. -trauma des Antisthenes. Wie so
furchtbar viele Philosophen seiner Zeit war auch dieser arme Kerl ein
Schüler des Sokrates gewesen, der ja bekanntlich alles und jeden um sich
herum mit seinem Geschwafel beglücken mußte. Oftmals, während
Sokrates und seine ihm aus der Hand fressenden und ihm ergeben die Füße
leckenden Getreuen im Rudel beisammensaßen, wenn Herrchen quasselte
und quasselte und seine Brut ihm an den Lippen hing (was nicht generell
sexuell mißzuverstehen ist trotz diverser altgriechischer Unsitten) –
oftmals also kam dann das große Donnerwetter in Gestalt von Xanthippe,
des Sokrates angetrautem Eheweib. [Nur ganz am Rande sei vermerkt, und
zwar für die Sprachforscher unter uns, daß "hippos" Pferd heißt, also
Xanthippe bei genauer Betrachtung "das Pferd aus Xanten". Bei noch
genauerer Betrachtung war sogar festzustellen, daß es sich in diesem
speziellen Fall um ein ausgesprochenes Kaltblut handelte, welches
allerdings bei bestimmten Anlässen, etwa beim Anblick des Gatten, zum
rasenden Heißblut avancieren konnte.]
Xanthippe, die im Laufe der Kulturgeschichte so oft Mißverstandene,
dieses bemitleidenswerte Opfer ihres faulen aber eloquenten Göttergatten,
genoß selbstverständlich inmitten der Schar der auf Sokrates fixierten
minderjährigen Idioten kein sonderlich hohes Ansehen, wie man sich
denken kann. Manchmal brach der Ärger aus ihr heraus, und sie nannte
ihren Mann in aller Öffentlichkeit (aber wo auch sonst – er trieb sich ja nur
in der Öffentlichkeit herum, verdammt nochmal) einen "dämlichen Hund".
Das Wort "Hund" faßte Sokrates weit weniger als Beleidigung auf als das
eindeutig abwertende Adjektiv davor. Denn Sokrates wußte (und
Xanthippe wußte, daß Sokrates wußte, und seine Jünger wußten, daß
Sokrates wußte, und nur ein einziger Philosoph wußte, daß er nichts
wußte, ich weiß im Moment nur nicht mehr den Namen), daß sich dieses
"dämlich" einzig und allein auf die Tatsache bezog, daß Sokrates trotz
seiner Funktion als Leithund schlichtweg zu blöd war, das tägliche Brot
nach Hause zu apportieren, welches auch damals schon recht wichtig für
den Erhalt einer durchschnittlichen Familie sein konnte.
Wie dem auch sei – der damals noch junge Hund (pardon, Spund)
Antisthenes nahm der Gattin seines Lehrmeisters besagten Ausspruch sehr,
sehr übel und ward darob zu einem Rüden, einem ganz Rüden. Von Stund
an nahm er es auf sich, die Sache sämtlicher armen, getretenen dämlichen
Hunde der Welt, oder wenigstens Griechenlands, zu seiner eigenen zu
machen. Sobald er a) geschlechtsreif und b) geschäftsfähig geworden war,
spukte ihm nur noch die Gründung seiner zynischen Hundeschule im
philosophischen Kopf herum. Nach dem Motto "Zurück zur Natur" wollte
er den Hund wieder Hund und Gott Zeus einen guten Mann sein lassen.
Sein absolutes Ideal war der tugendhafte, sich selbst genügende, freie,
bedürfnislose weise Hund (griechisch: autonomos). Selbstredend rangierte
Freiheit ein paar Kilometer vor Tugend, sogar noch ausgesprochen weit
vor Bedürfnislosigkeit. Was er im Grunde wirklich anstrebte, war die
Gründung freier Gruppen von Rüden, sogenannter AHHs (Autonome
HundeHaufen). Aber Freiheit muß man mühsam lernen, und deswegen
erwies sich die Hundeschule als so überaus und hundsgemein wichtig,
wenn auch schweineteuer.
So, und jetzt, wo schon niemand mehr ernstlich daran geglaubt hat,
kommen wir auf einmal wieder zu unserem eigentlichen Thema, dem
Diogenes. Ich habe nämlich ein Gedächtnis wie ein Hund und vergesse nie
einen Geruch, der sich mir einmal ins Gehirn gegraben hat. Diogenes von
Sinope, wie unser Kandidat vollständig hieß, war der berühmteste Hund
des Altertums; er schleppte als einziger Schüler des Antisthenes diesen
Spitznamen direkt mit sich herum (zusammen mit der Tonne, auf der wir
natürlich, wie die bösen Buben bei Wilhelm Busch, noch herumreiten
werden). Diogenes war so etwas wie der Parade-Vorzeigehund seines
philosophischen Meisters. Dazu muß man wissen, daß Antisthenes nicht
nur zugelaufene Hunde ausbildete in seiner dafür konzipierten Schule.
Nein, er züchtete auch selbst die reinrassigsten Exemplare, die man auf
Gassen, Plätzen und Promenaden nur finden konnte. Mit Diogenes, das
wußte der Meister, war ihm ein ganz großer Wurf gelungen. Die anderen
Welpen, besonders die weiblichen, spülte er ohne viel Federlesens das Klo
hinunter, denn sie waren nicht zur Freiheit geboren – zumindest nicht zu
der Art Freiheit, die er meinte.
Diogenes hingegen galt als ein ganz besonderes Exemplar, ein echter
Lumpenhund, wie ja auch seine Kleidung schon bewies. Das nun war der
Moment, auf den der alte Antisthenes, Gründer der staatlich gefürchteten
Hundeschule e.V., so lange gewartet hatte. Sofort ritzte er die berühmte
Warnung auf den Schwellenstein seines Schulgebäudes: cave canem, was
soviel bedeutet wie "Hütet euch vor dem Hund". (Als hochgebildeter
Grieche, seiner Zeit um Hundejahre voraus, sprach er schon damals
perfekt Latein.)
Leider erwies sich Diogenes, einmal auf die Menschheit losgelassen, als
ein recht undankbarer Hund von einem Philosophen. Statt den Ruhm des
Meisters in die weite Welt hinauszutragen, gab er sich hemmungslos der
ihm lebenslang gepredigten Autonomie hin und tat einfach, was er wollte.
Nicht nur, daß er aus dem heimatlichen Zwinger des Antisthenes seine alte
faßförmige Hundehütte mitnahm, die dann später irrtümlich von seinen
Fans als seine ureigene Registertonne angesehen und angebetet wurde. O
nein. Er setzte sich nachdrücklich für die Einrichtung von Frauenhäusern
mit Kindern ein – nicht etwa, weil er die Frauen so mochte, sondern um sie
und ihre Brut den männlichen Hunden gesammelt und kontrolliert vom
Hals zu halten.
Auch sonst war Diogenes ein vollendeter Schweinehund (siehe oben). Er
hatte offensichtlich irgend etwas gründlich mißverstanden, als im
Unterricht von der "kynischen Bedürfnislosigkeit" die Rede gewesen war.
Er übertrieb die Sache mit der Bedürfnislosigkeit im wahrsten Sinne des
Wortes schamlos. So bedurfte er weder eines Rasierers, was wohl noch
halbwegs anging, noch einer ordentlichen, nun ja, Bedürfnisanstalt
(befriedigte er doch jedes, buchstäblich jedes Bedürfnis mitten auf dem
Marktplatz, unter ekstatischem Jaulen und Japsen – Beifallsbekundungen
seiner eigenen, gänzlich unbekleideten Person). Seife benötigte er weder
vorher noch nachher, und wasserscheu war er von Natur aus. Immer wenn
die Hunde aus der Nachbarschaft sich die beleidigten Nasen zuhielten,
hatte er für sie nur ein kynisch-zynisches Lächeln oder ein sardonisches
Grinsen übrig. Die Situation in seiner Wohntonne erschien einfach un-faß-
lich. Keinen anderen Hund konnte man mehr hinter seiner Tonne
hervorlocken; die Viecher nahmen immense Umwege in Kauf, um ihn ja
nicht riechen zu müssen.
Wir alle kennen die Geschichte von Alexander dem Großen und wie er
dem alten, verlotterten Straßenköter mal ins Gehege bzw. in sein durch
Urinspuren gekennzeichnetes Revier kam. (Ein altes Sprichwort besagt,
daß man niemals dorthin sch... sollte, wo man ißt, aber Diogenes war so
bedürfnislos und unbedarft, daß er nicht einmal Sprichwörter brauchte.)
Alexander der Große, welcher damals noch recht klein war, fragte den
Philosophen nach dem kürzesten Weg nach Alexandrien, welches er unter
vielen anderen Kleinigkeiten erobert hatte, aber inzwischen nicht mehr
wiederfinden konnte. Der Philosoph muß den guten Alexander, der immer
frisch gewaschen und rasiert daherkam, wohl ziemlich angeekelt haben.
Alex waren eine Menge Gerüchte den Diogenes betreffend zu Ohren, seine
Gerüche ihm aber noch nie persönlich zur Nase gekommen. Alexander
mußte daraufhin mit einem bisher unbekannten Feinde ringen: der
Übelkeit. Höflich, wie er war, kleidete er seine Empfindungen in eine Art
Gleichnis und schnitt das Thema der Irrfahrten des Odysseus an. Als er an
der Stelle anlangte, wo Circe die Gefährten des Seefahrers in Schweine
verwandelt... Nun ja, kurz und gut, Diogenes half dem Alexander mit
einem gezielten Haken seiner ungewaschenen linken Faust ziemlich
unsanft aus der Sonne heraus, die jener nicht so recht zu vertragen schien.
Und wenn die Muse der Geschichtsschreibung etwas anderes besagt, lügt
sie. Tut sie das nicht immer?
Der Tod des Diogenes ist bis heute ein Rätsel geblieben. Zeitgenossen
des Philosophen behaupteten nach seinem Verschwinden, die Hundefänger
hätten ihn geholt – eine dreiste Lüge, die offensichtlich dem Neid und der
Mißgunst der geistig Unterlegenen, die sich täglich waschen mußten,
zuzuschreiben ist. Eine andere Theorie besagt, Diogenes sei einmal über
seinen schmutzigen Schatten gesprungen und habe das Bedürfnis nach der
Frau eines bürgerlichen Athener Nichtphilosophen verspürt. Als dieser ihn
erwischt habe, sei sich Diogenes wieder seiner Bedürfnislosigkeit bewußt
geworden und habe auf jedwede Rechtfertigung (inklusive Gegenwehr)
verzichtet.
Ich persönlich glaube: Der Sperrmüll hat seine Tonne in stockfinsterer
Nacht abgeholt. Mit voller Absicht.

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