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Lager
Süüstü bei Yüksekova
Augenzeugen
Bericht
von
Ferdinand Hennerbichler
KURDISCHE GIFTGASOPFER IRAK 1988 - AUGENZEUGENBERICHT
Augenzeugen-Bericht
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KURDISCHE GIFTGASOPFER IRAK 1988 - AUGENZEUGENBERICHT
BABY IN ROT
Eine Frau kommt mit einem blauen Tuch, tränkt es mit Wasser
und legt es dem Kleinen auf den Kopf. Das Tuch hilft nicht viel.
Das Baby schreit lauthals weiter um sein Leben. Der Kurde
schaukelt es im Arm hin und her, versucht es zu beruhigen, ver-
geblich.
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zen wegreiben will. Das Kleine bringt die Augen kaum auf. Sein
Gesicht ist kugelrund, feuerrot, geschwollen, fast aufgedunsen.
Die Haut schuppt ab. Helle Flecken drängen nach. Pigmente zie-
hen sich von gelb über braun bis rot. Das Kinn ist voller Runzeln,
die wie kleine Narben aussehen. Die Nase ist geschwollen, rinnt
pausenlos, ist verstopft und chronisch entzündet. Das Baby be-
kommt kaum Luft, hat den Mund dauernd offen, brüllt, schnappt
nach Atem, röchelt entsetzlich, wirft seinen Brustkorb, windet sich
zur Seite, bäumt sich auf, ohne je die Augen aufzumachen, klam-
mert sich fest, lässt sich wieder erschöpft zurücksacken, wischt
sich blonde, in Schweiß gebadete Haarsträhne aus der Stirn,
schreit und schreit. Seine Hände sind krebsrot wie das Gesicht,
geschwollen und klitschnass von Tränen. Eine Windel, die sonst
dem Kleinen auf das Gesicht gelegt wird, damit es manchmal die
Welt um sich nicht mitbekommt und gelegentlich in Schlaf verfällt,
hat es abgestreift. Die Windel hängt wie eine Binde um den Hals
des Kleinen. Manchmal juckt die Haut. Dann kratzt sich das Baby
halb wund.
KURDE: Dieses Baby ist eines der jüngsten Giftgasopfer der ira-
kischen Armee. Am 26. August 1988 hat es das Kleine erwischt.
An diesem Tag kamen Flugzeuge. 18 Flugzeuge. Das war so zwi-
schen neun und zehn Uhr nachts. Da haben sie mit Chemiebom-
ben angegriffen. Zehn Chemiebomben haben sie auf unser Dorf
abgeworfen. Zehn. Wir sind in Panik davongelaufen. Mussten
alles zurücklassen. Nur ein paar kleine Kinder wie das da konn-
ten wir retten und hierher in die Türkei mitbringen. Alle anderen
sind zurückgeblieben und gestorben. Alle bis auf uns sind ums
Leben gekommen.
FRAGE: Ist das Kleine sein Kind oder gehört es Nachbarn von
ihm?
KURDE: Das Baby weint nur noch und kratzt sich die ganze Zeit.
Es hat fürchterliche Schmerzen. Es ist ein Mädchen. 18 Monate
alt.
FRAGE: Was sagt der Doktor? Hat die Kleine eine Chance,
durchzukommen?
IBRAHIM: Doktor?
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KURDE: ...Doktor??
IBRAHIM: ...doch...
FRAGE: Aber?!
IBRAHIM: Der hat nicht viel, kann nicht viel und verschreibt nicht
viel...
KURDE: Der Doktor redet nicht recht aus. Aber soweit wir ver-
standen haben, gibt es hier Probleme...
FRAGE: ...also, was immer die Türken sagen mögen, diesen Arzt
sehe ich mir an. Mit dem werde ich reden...
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FRAGE: Wenn das stimmt, was dieser Mann sagt, ist das ja ent-
setzlich. Völlig unmenschlich. Das bedeutet: die Kleine könnte
jederzeit sterben. Sie müsste elendig zugrunde gehen. Dieser
Mann dort auch. Diese Frau dort drüben ebenfalls. Und alle
hier?? Das darf nicht wahr sein! Du lieber Gott! Diesen Lager-
doktor sehe ich mir einmal an. Ich kann nicht glauben, dass ein
Arzt, der einen medizinischen Eid abgelegt hat, alle Kranken
gleich welcher Herkunft zu heilen und niemand vorsätzlich ster-
ben zu lassen, ruhigen Gewissens auch nur ein Giftgasopfer
ohne entsprechende Medikamente elendig - und in diesem Fall
auch noch qualvoll - umkommen lassen würde....
FRAGE: Das werden wir sehen. Ibrahim, kommen Sie bitte mit
übersetzen...!
FRAGE: Also gut. Ein einziger türkischer Arzt, der kein Wort
Kurdisch versteht, für 10.000 Kurden. Das ist bereits eine
Feinheit für sich.
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DOKTOR: (Will von uns sichtlich nicht gestört werden...) Ja. Das
sehen Sie doch...
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FRAGE: Sie behandeln da ein kleines Baby auf dem Arm dieser
Frau da. Dieses Kleine schaut so aus wie ein anderes Baby da
hinten: krebsrot im Gesicht, brüllt vor Schmerzen, hat tränende
Augen, eine rinnende Nase, sieht nichts, röchelt aus dem Ra-
chen, krümmt sich...Ich bin zwar Laie und kein Experte, aber die-
ses Kleine hier und das dort da drüben sind doch eindeutige
Giftgasopfer? Oder nicht? Was sagt Ihre Diagnose?
IBRAHIM: (Streckt seinen Kopf aus der Menge und ruft dem tür-
kischen Amtsarzt noch einmal meine Frage zu...)
FRAGE: Das habe ich schon mitgekriegt. Aber fragen Sie ihn,
warum er gegen diesen Zustand nichts tut. Nein, fragen Sie ihn
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FRAGE: Herr Doktor! Hören Sie doch. Ich sehe, Sie bemühen
sich hier. Sie versuchen doch offensichtlich Ihr Bestes als Arzt.
Sie sind doch ein Mediziner. Sie erwecken auf mich den Eindruck
eines engagierten Menschen. Sie haben im Lauf unseres kurzen
Gespräches hier - von sich aus - fast schon zu oft betont, dass
Sie keine Medikamente zur Behandlung von Giftgasfällen zur
Verfügung hätten. Sie sagten das deutlich so, als täte Ihnen dies
alles leid, als wollten Sie sich für jemand entschuldigen... Wer ist
denn verantwortlich dafür, dass Sie hier keine Medikamente ge-
gen Giftgasopfer zur Verfügung gestellt bekommen??
DOKTOR: ..."Dehydration"...
FRAGE: Doktooor!!
DOKTOR: Sehen Sie denn nicht, ich bin hier schwer unter Druck!
Begreifen Sie das nicht?
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FRAGE: ...doch...!
DOKTOR: Ich kann Ihnen nur das eine sagen: das kommt von
oben. Das haben Leute entschieden, die ranghöher sind als ich.
Leute, die zu entscheiden haben. Ich habe mich deren Wei-
sungen zu beugen. Fragen Sie diese Leute!
DOKTOR: ...gehen Sie doch einmal nach Hakkari! Und jetzt ent-
schuldigen Sie mich bitte, ich habe zu tun!
FRAGE: Herr Doktor, wie heißen Sie? Wollen Sie mir Ihren
Namen sagen...?
DOKTOR: Ruft seinen Namen über ein Meer von Köpfen kurdi-
scher Giftgasopfer und verschwindet in seinem kleinen, weißen
Aspirin-Zelt...
Nicke, packe mein Mikrophon ein, schieße noch ein paar Fotos
vom ersten Doktor, der in meiner Gegenwart gestand, in der
Türkei gebe es irakische Giftgasopfer, die er aber laut Weisung
von oben nicht als Giftgasopfer behandeln dürfe, medizinisch
auch nicht könne, und dass er dies gegen seine ärztliche Über-
zeugung hinnehme.
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INTERVIEWS
mit dem kurdischen Arzt Dr. Josef Bejar
sowie Kurdenführern aus dem Irak
BEJAR: ...ja!
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FRAGE: ...und die irakische Armee hat mit der eigenen kurdi-
schen Bevölkerung auch ihre eigenen Soldaten in Kurdistan ver-
gast?
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BEJAR: ...und haben ihren Tastsinn verloren. Ihre Haut war wie
tot. Sie spürten plötzlich nichts mehr. Als würden sie an der Haut
zu sterben anfangen...
FRAGE: ...wie hat das Giftgas gerochen? Können Sie das noch
einmal formulieren?
BEJAR: ...wie ein fauliger Apfel, würde ich sagen. So, als würde
Sie jemand zwingen, einen verrotteten Apfel zu essen. So hat
einem davor geekelt. Ein morbider Moder, der sich im Körper
festgefressen hat. Zum Speiben!...
BEJAR: ...wenn wir die Haut berührt haben, ist sie auseinander-
gefahren. Die befallenen Stellen sind immer größer und größer
geworden. Schlagartig. Und, was ich noch konstatieren will, vor
allem Atemnot. Hhhhh. Hhhhhh. Hhh. Die Leute haben gekeucht
und gekotzt gleichzeitig. Als hätte ihre letzte Stunde geschlagen.
Manche haben auch Durchfall bekommen. Einige eine chroni-
sche Diarrhöe. Dann sind sie buchstäblich ausgeronnen und
haben Lebenssubstanz verloren. Wer keine Abwehrkräfte mehr
entwickeln konnte, ist alleine an Körperschwäche gestorben.
Was heißt gestorben, verreckt, grauenhaft verreckt.
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Und ich muss Ihnen sagen, soweit ich mit eigenen Augen gese-
hen habe und aus eigener Erfahrung bezeugen kann, wurden
viele kurdische Giftgasopfer unter Drohungen und Erpessungen
unbehandelt wieder weggeschickt. Ich weiß alleine von mehr als
500 Giftgasopfern aus der Gegend, aus der ich komme. 500.
Viele von ihnen schleppten sich in das öffentliche Krankenhaus
von Amadieh und baten um medizinische Hilfe. Völlig vergeblich.
Die irakischen Beamten dort sagten ihnen: "Ihr werdet hier nur
dann behandelt, wenn ihr eine Erklärung unterschreibt, dass
Euch "Peschmergas" vergast haben!" So wurde diesen unschul-
digen Gasopfern auch noch gedroht. Stellen Sie sich das einmal
vor. Unfassbar!
BEJAR: Insgesamt?
FRAGE: Ja, aber ich meine jetzt vor allem Giftgasopfer: das
heißt: wie viele irakische Kurden sind bisher - soweit bisher be-
kannt wurde - bei Angriffen der irakischen Armee mit chemischen
Waffen ums Leben gekommen? Tausende? Zehntausende? Wie
viele?
DAVID HIRST (The Guardian): Was ist mit den Toten gesche-
hen?
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BEJAR: Schrecklich viele sind hier krank. Ich bin Arzt. Ich kann
Ihnen detaillierte Auskunft geben: Die Kinder leiden meist an
Gastroenteritis (Brechdurchfall), schlechter Ernährung bzw.
Unterernährung. Und zwar Babys genauso wie Kinder und
Jugendliche. Die meisten Frauen leiden an Brustinfektionen und
Fehlgeburten. Viele Mütter hatten Fehlgeburten.
FRAGE: Warum?
BEJAR: Erstens, weil es sehr kalt war, als wir flüchten mussten.
Zweitens, weil wir alle nichts zu essen hatten, dauernd auf der
Flucht waren, ein paar Tausender hoher Berge überqueren muss-
ten, zu Fuß, Autos haben wir erst an der türkischen Grenze zu
Gesicht bekommen...
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FRAGE: Nicht mehr? Wirklich nicht mehr? Die Türken sagen, sie
würden Euch auch Fleisch geben...
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FRAGE: Sie sind schon so verzweifelt, dass Sie lieber in den Tod
gehen als so weiterleben wollten?
BEJAR: Korrekt. Wir sind Null. Lasst uns sterben und wir sterben!
Unser Leben ist nicht wichtig. Wir hängen aber am Leben unse-
rer Kinder. Wären unsere Kinder nicht, wären wir schon lange tot.
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BEJAR: Ja, aber das klingt besser als es in Wirklichkeit ist. Ich
will Ihnen ehrlich sagen: ich bin Arzt und habe mein Medizin-
studium gemacht. Ich bin schwer krank und habe auch Diabetes,
den ich hier in diesem Lager gar nicht behandeln kann. Ich weiß
nicht, ob Sie verstehen, welche Schmerzen dies für mich bedeu-
tet. Und - sehen Sie mir ins Gesicht, sehen Sie meine braun ver-
gilbten Schläfen? Schauen Sie sich meine Hände an: Runzeln,
alles Giftgasfolgen! Glauben Sie im Ernst, ich wäre hierher ge-
kommen, hätte ich mein Schicksal frei wählen können? Ich hätte
es bei Gott nicht notwendig gehabt, diese Hölle mit meinem Volk
durchzuleben. Ich hätte ein flottes Leben als gutbezahlter Arzt in
der Gegend um Arbil führen können, wo ich herkomme. Ich hätte
nur den Mund halten, kuschen, bei der Diktatur gegen mein Volk
mitmachen, vor dem Elend wegschauen müssen, hätte mich nur
vor der Unterdrückung zu prostituieren brauchen, und mir wäre
es bestens gegangen. Aber das hätte ich niemals machen kön-
nen. Ich wäre moralisch draufgegangen. Daher sitze ich heute
hier in dieser Hölle zusammen mit meinem geschundenen Volk.
Sehen Sie sich um: hier sitzt ein Ingenieur. Dort ein Architekt.
Intellektuelle. Gebildete Menschen. Wir sind kein Fetzenvolk. Wir
sind ein stolzes Volk mit großer kultureller Tradition. Glauben Sie,
wir wären hierher gekommen, in den finstersten Hinterhof der
Türkei, hätten wir auch nur einen Funken von Freiheit gehabt,
über unser Schicksal selbst zu bestimmen?
FRAGE: Darf ich noch einmal auf Ihre politischen Ziele zurück-
kommen. Sie sagten, Sie kämpften für Autonomie?
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FRAGE: Dr. Bejar, Sie sind selbst ein Giftgasopfer? Schildern Sie
Ihre Erfahrungen...
BEJAR: Ich bin seit fünf Monaten ein Giftgasopfer und habe bis
heute überlebt. Ich habe selbst viele Opfer chemischer Angriffe in
einem Dorf nahe Arbil behandelt. Diese Menschen sind zu mir in
Behandlung gekommen. 32 starben in meinen Händen. Mehr als
40 weitere Gasopfer konnte ich retten.
BEJAR: Ja, ich habe mich an diesen Stellen selbst behandelt. Ich
habe Hydrocortisone genommen...
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BEJAR: ...seither geht es mir besser. Aber ich will betonen: ich
selbst bin kein direktes Giftgasopfer. Ich persönlich bin in keinen
Angriff mit chemischen Waffen geraten. Ich bin ein indirektes
Gasopfer. Ich habe Gasopfer behandelt und mich dabei zweiten
Grades angesteckt. An deren giftgasverseuchten Kleidern, an
ihrer Haut, dadurch, dass ich den Opfern Bäder gemacht und sie
gewaschen habe...
BEJAR: Ja, natürlich. Ich bin bereit, Giftgaszeugnis für mein Volk
vor der ganzen Welt abzulegen. Ich sage Ihnen noch einmal: Ich
habe in den vergangenen fünf Monaten persönlich in einer
Gegend, die Balisan heißt und in der Nähe von Arbil liegt, mit
blanker Hand mehr als 70 kurdische Giftgasopfer behandelt. In
dieser Balisan-Region hat die irakische Armee die kurdische
Bevölkerung mit chemischen Waffen angegriffen. Alle Opfer, die
sich in meine Ordination retten konnten, hatten Vergasungs-
Symptome zweiten Grades. Sie litten an Atemnot, hatten rote
entzündete Augen, Sehstörungen, chronisch rinnende Nasen,
Brechdurchfall, Substanzverlust, Haluzinationen, Larengitis und
ähnliche Symptome. 32 von ihnen starben unter meinen Händen.
Ich werde mir diese Zahl mein Leben lang merken. Die anderen
konnte ich nicht mehr retten. Sie sind mir gestorben. Gott ist mein
Zeuge: ich konnte ihr Leben nicht mehr retten...
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FRAGE: Zwölf??
BEJAR: Wirklich, ich meine das todernst! Ich sage Ihnen die
Wahrheit. Was die Türken mit mir machen, ist nicht wichtig. Ich
habe schon zweimal versucht, mir das Leben zu nehmen, habe
es aber dann doch nicht getan. Sehen Sie sich dieses Elend hier
an. Wenn ich als letzter kurdischer Arzt auch noch gehe, wer
bleibt dann über, meinem kurdischen Volk in unmenschlicher Not
zu helfen? Aber ich sage Ihnen offen: wenn mich die Türken hän-
gen, wäre ich nur froh darüber...! Meinen Bruder haben sie
bereits im Irak gehängt...
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BEJAR: Wir wissen das und machen uns deshalb auch große
Sorgen. Wir können hier in der Gegend um Yüksekova höchstens
ein paar Wochen überleben. Dann muss etwas geschehen.
Zurück in den Irak können wir nicht mehr. Dort droht uns der
sichere Tod. Bleiben uns nur noch die Türkei und der Iran als letz-
te Hoffnungen. Aber unsere Hoffnungen hier in der Türkei schwin-
den immer mehr. Heute nacht hatte es mindestens minus einen
Grad unter dem Gefrierpunkt. Ich konnte vor Kälte nicht schlafen.
Tausende Flüchtlinge konnten vor Kälte nicht schlafen. Die
Menschen standen zu Dutzenden wie in Trauben zusammen,
haben einander gewärmt, Mut gemacht, und haben so die Nacht
überstanden...
BEJAR: Ja, und dabei habe ich meine Decke, die Sie hier sehen,
aus dem Irak mitgenommen. ich habe sie um zehn irakische
Dinar erstanden und bis hierher mitgeschleppt. Das ist die
Wirklichkeit!
FRAGE: Was passiert nun mit Euch? Ihr werdet hier den Kältetod
sterben, wenn sich an Euren Verhältnissen nichts drastisch än-
dert. Und das ist kaum zu erwarten...
BEJAR: Ja. Einige Familien haben ein bisschen von ihrem Hab
und Gut vom Irak herüberretten können. Aber nur wenige haben
das geschafft. Vielleicht 20 oder - soll sein - ein paar mehr.
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BEJAR: Wasser ist auch ein Problem. Aus dem Bach, der da
vorne am Lager die Straße entlang vorbeifließt, können wir nicht
trinken. Dieser Fluss ist zu schmutzig. Die Türken bringen daher
Trinkwasser in Tanks. Das ist relativ sauber.
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BEJAR: Wir können nicht hier bleiben. Das ist nicht unsere
Exilheimat. Wir können hier nicht überleben. Wir würden erfrieren
und verhungern.
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FRAGE: Hat die Türkei bisher - soweit Sie informiert sind - auch
nur einen einzigen "Peschmerga", einen aktiven Widerstands-
kämpfer, in den drohenden Tod in den Irak zurückgeschickt?
Kennen Sie auch nur einen derartigen Fall?
FRAGE: Apropos Tod ins Auge blicken. Sehe ich recht: Dort drü-
ben ist ein Hügel. Der schaut so aus, als wäre er eine Art
Totenhügel. Wird dort nicht gerade jemand begraben?
BEJAR: Ja, eine alte Frau. Sie ist vor ein paar Stunden gestor-
ben. Wir wollten sie in einem regelrechten Friedhof begraben.
Aber hier um dieses Lager herum gibt es keinen offiziellen
Friedhof. Der nächste würde in einem kurdischen Dorf etwa
sechs Kilometern dort nördlich von diesem Hügel am Fuß dieser
hohen Berge am Horizont liegen, wo Sie auf den Gipfeln bereits
Schnee sehen können. Dieser Schnee wird bald zu uns an die-
sen Fluss kommen und uns alle zudecken. Hoffentlich nicht zur
ewigen Ruhe. Wir haben die Türken gebeten, unsere Toten am
Dorffriedhof da drüben beerdigen zu dürfen. Die Türken haben
dies abgelehnt. Sie haben Angst, an jedem Begräbnis eines toten
Kurden könnten sich Unruhen entzünden. Seither begraben wir
unsere Toten unter uns. Dort vorne auf diesem Hügel. Zuerst, als
wir gekommen sind, waren dort nur drei Gräber. Heute sind es
schon Dutzende. Und das Sterben hört nicht auf. Das Sterben
wird immer mehr. Manchmal habe ich das Gefühl, als würden wir
alle nur noch darauf warten, zu sterben und dort oben auf diesem
Hügel begraben zu werden. Das einzige wirkliche Leben, das
derzeit in diesem Lager noch einiger Maßen aktiv vor sich geht,
ist das Geschäft des Todes. Darauf warten die Leute täglich.
Davor haben sie schreckliche Angst. Und viele sagen, es dürfe
nicht unser Schicksal sein, dass wir der Gaskammer der iraki-
schen Armee nur deshalb entkommen wären, damit wir uns hier
im Vorhof der Hölle für ein großes Massensterben im Todestakt
anstellen müssten. Unser Leben muss weitergehen als bis zu
diesem Totenhügel da drüben. Wenn unser Leben, das Leben
von Kurden, überhaupt noch einen Sinn haben soll...
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IBRAHIM: ...übersetzt...
MUSTAFA: Mich hat es aus dem Schlaf gerissen. Ich wollte aus
dem Bett springen und mich ins Freie retten, schaffte es aber
nicht mehr. Mich hatte eine Giftgas-Ladung voll erwischt. Ich
habe die giftigen Gase total eingeatmet, weil wir alle völlig
ahnungslos waren, was da mit uns passieren würde. Die Gase
waren in meiner Lunge. Ganz schwer. Schmerzlich. Ich wollte sie
herauspressen, konnte aber nicht. Ich war wie benommen. Da
bin ich in Panik geraten. Ich wollte weglaufen. Nur wegrennen.
Irgendwohin. Weg von dort. ich bin aber nur fünf Meter gekom-
men. Dann bin ich zusammengebrochen. Ich konnte mich nicht
mehr konzentrieren. Mir wurde schwummelig vor den Augen.
Alles war verschwommen. Ich habe nichts mehr klar gesehen.
Habe mir die Augen auszuwischen versucht. Griff mir an den
Kopf. Nichts hat mehr genützt. Ich bin nur noch hin und her getau-
melt. Hin und her. Wie halb hinüber. Bin gefallen, wieder aufge-
standen, neuerlich hingefallen, konnte mich abermals hochrap-
peln und habe mich so an die 20 Meter vom Haus wegge-
schleppt. Und dann war es aus mit mir. Ich wurde bewusstlos, bin
stocksteif umgefallen und liegengeblieben. Sieben Stunden lang
war ich bewusstlos.
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MUSTAFA: Nein. Wir waren fünf Leute. Drei davon sind gestorben.
Nur zwei haben diesen Giftgasangriff überlebt. Ich und noch einer.
MUSTAFA: Ich kann mich nur noch an das Schicksal der fünf
Menschen erinnern, von denen ich Ihnen erzählt habe, inklusive
meiner Person. Sonst weiß ich nichts mehr. Ich kann mich nicht
mehr erinnern. Das war Nervengas. Schauen Sie mich an, ich bin
fertig. Fahl, gelb, eingefallen, zittrig, eine Ruine da drinnen...
(Deutet auf Brustkorb und Lunge...)
FRAGE: Acht?
MUSTAFA: Ja, acht waren wir. Aber ich weiß nur noch, was mit
fünf passiert ist. Von den anderen weiß ich nichts mehr. Die
Erinnerung kommt erst langsam wieder. Ganz langsam. Und
schmerzlich. Es tut alles weh. Es tut alles so schrecklich weh...!
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KURDISCHE GIFTGASOPFER IRAK 1988 - AUGENZEUGENBERICHT
IBRAHIM: Ich weiß das aus eigener Erfahrung. Auch mein Dorf
haben die Iraker mit chemischen Waffen bombardiert. Das liegt
schon Monate zurück. Und sie haben nicht nur einmal bombar-
diert. Sie sind immer wieder gekommen. Immer wieder. Mit der
Zeit haben wir bereits Übung bekommen, wie man Gasangriffe
überlebt. Gasmasken haben wir keine gehabt. Auch keine Medi-
kamente. Schon gar keine Gegen-Spritzen. Daher haben wir das
getan, was alle wehrlosen Giftgasopfer tun: wir sind davonge-
rannt. Sind auf Hügel gerannt. Oder auf Berge. Giftgase sind
nämlich schwer. Sie setzen sich am Boden fest. Je höher man
vor ihnen davon klettert, umso geringer wird ihre Giftgaswirkung.
Das hat sich in ganz Kurdistan schnell herumgesprochen. Und
so haben viele überlebt. Oben auf Bergen. - Dem Herrgott näher
als dem drohenden Chemietod unten...
MUSTAFA: Das ist eine so dreckige und miese Lüge, dass sie nur
den Hirnen ohne jede Moral von Unmenschen, Diktatoren,
Barbaren, Gaunern und Verbrechern wie einem Saddam Hussein
und Konsorten entsprungen sein kann. Jeder anständige
Mensch, der noch einen Funken Humanität in sich hat, lügt nicht
so etwas daher, was man jederzeit widerlegen kann. Tausend-
fach. Zehntausendfach. Was sage ich: millionenfach. Schauen
Sie her! Schauen Sie mich an. Meine Hände, mein Gesicht, mei-
nen Körper. Ein Wrack. Ich bin ein Wrack für den Rest meines
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Lebens, wenn ich überhaupt noch ein Leben vor mir haben soll-
te. Ich bin Opfer. Ich bin Zeuge...! Ich bin..., ach, Gott!, ich bin
nichts mehr...!
IBRAHIM: Ich bin auch ein Giftgasopfer. Mich hat es, wie gesagt,
bereits vor Monaten erwischt. Ich habe diese Giftgasangriffe seit-
her überstanden. Mir geht es wieder besser. Ich war aber nur mit-
tel verletzt. Dieser Mann hier ist schwerverletzt.
FRAGE: Wenn ich mir dieses Foto so ansehe: Ich habe hier ein
Foto von einem jungen Mann vor mir, der entsetzlich mitgenom-
men aussieht. Ein Gesicht von Runzeln und Schmerzen zer-
furcht. Vorn übergebeugt. Gekrümmt. Kann nicht mehr stehen.
Hält sich kaum noch aufrecht. Fahl. Eingefallen. Apathisch. Fast
wie weggetreten. Wird gestützt. Der Mund halb offen. Die Augen
hohl. Ein Totenblick ins Leere. Ein Mann im Vorhof zum Jenseits.
Sehen Sie diese großen Flecken? Mein ganzer Körper ist über-
säht davon. Große. Kleine. Dunkle. Auch mein Rücken ist über-
zogen davon. Hier, sehen Sie, ist die Haut bereits wie in
Schuppen abgefallen. Hier sehen Sie hellere Stellen. (Zieht auch
die Schuhe aus...)
Sehen Sie sich meine Zehen an. Gelb. Braun. Streifen. Von
Flecken voll. Auch hier blättert die Haut ab. - Das sind alles ein-
deutige Beweise für Folgen von Giftgasen. Zweifelsfreie Be-
weise. Wenn das keine Beweise sind, dann kann man vor der
Ungerechtigkeit dieser Welt nur noch verzweifeln...!
FRAGE: Das braucht es gar nicht. Wir haben schon genug gese-
hen. Ich bin überzeugt davon, dass dieser Mann Opfer chemi-
scher Waffen der irakischen Armee geworden ist. Ich habe gar
keine Zweifel. Soweit ich bisher als Laie Giftgasopfer in Spitälern
gesehen habe und mir von Experten Symptome dieser Krank-
heiten auch an Hand von Fotos erklären ließ, stimmt all dies mit
dem zusammen, was ich an diesem Mann erkennen kann. - Wie
an vielen Giftgasfällen hier in diesem Lager.
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FRAGE: Ja? Wie das? Ich habe geglaubt, er hat gesagt, er hätte
es nicht einmal mehr geschafft, selbst zu überleben?
FRAGE: ...blau?
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REPORTAGE:
Wir stehen hier an der Bahre einer alten Frau, die im Sterben
liegt. Ihre Haare sind schlohweiß, wie ihr Kopftuch, das sie um
den Hals nach hinten geschlungen hat. Ihr Gesicht ist von Falten
und Runzeln zerfurcht. Sie trägt noch ein letztes warmes
Lebenslicht auf ihrem Antlitz. In der Kälte einer beginnenden
Totenstarre. Ihre Augenlider sind geschlossen. Eine kurdische
Frau, die an der Bahre kniet, hat sie ihr vor wenigen Minuten
zugedrückt. Die Nase hängt halb über den geschlossenen, zahn-
losen Mund. Das Kinn ist nach vor geschoben. Über dem ganzen
Gesicht liegt eine unendliche Ruhe. Die Tote lächelt fast, als hätte
sie ihren ewigen Frieden gefunden. Eine versöhnliche Güte liegt
über ihren letzten Zügen. Der kleine, zierliche Körper dieser Frau
im Sterben ist starr. Sie liegt auf einer primitiven Holzbahre, die
umstehende Kurden aus einer Latte und Stangen selbst gebastelt
haben. Einen Sarg gibt es in diesem türkischen Lager nicht. Auch
keinen Totengräber. Ebensowenig einen Priester. Die Kurden
begraben ihre Toten selber ohne jede Hilfe. So, wie sie ihre Toten
seit Jahrtausenden immer schon begraben haben.
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KURDE: Sie hat einen Giftgasangriff auf ihr Dorf nicht übererlebt.
Sie konnte sich nicht mehr retten, weil sie alt und gebrechlich war.
Als die Giftgasbomben fielen, sind alle im Dorf in die Berge auf
und davon gelaufen. Nur die alte Frau nicht. Sie musste zurück-
bleiben und wurde voll von den chemischen Waffen getroffen.
KURDE: Eigentlich nicht. Wir haben alles versucht, was wir konn-
ten...
KURDIN: Wir hatten nichts. Wir waren schutzlos. Wir sind nur
davongerannt...!
FRAGE: Ich weiß. Das heißt: - und das ist die bittere Wahrheit -
Ihr alle, mehr als 10.000 Menschen alleine in diesem Lager, seid
im Irak schutzlos dem Giftgastod ausgeliefert gewesen und seid
auf der Flucht in Lagern in der Türkei noch immer ohne Medi-
kamente dem Giftgas-Tod ausgeliefert. In Massen. Ohne Hilfs-
mittel. Oh, Du lieber Gott! Wenn das so weitergeht wie bisher,
werden viele von Euch wie diese alte Frau hier sterben. Frauen,
Kinder, Greise, Jugendliche. Alle...
IBRAHIM: Wir haben wirklich keine Chance. Wir haben nur vage
gehört, ganz wenige Kurden hätten die Türken in Spitälern
behandelt. Sechs oder neun, sagen sie. Niemand von uns hat
davon aber etwas gesehen oder Genaueres gehört...
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FRAGE: ...und all die anderen sind auch in der Türkei zum
Giftgastod verurteilt. Zu einem langsamen, qualvollen Sterben!
FRAGE: Ibrahim, wenn ich Ihnen so ins Gesicht sehe, das ist
elendig traurig...
IBRAHIM: (Fasst sich...) Manchmal denke ich, das Leben hat kei-
nen Sinn mehr. Ich schäme mich. Ich schäme mich für mein Volk.
Schäme mich, wie man mein Volk behandelt. Erniedrigt. Aus... -
wie sagt man - ausradiert...
FRAGE: ...ausgerottet...
IBRAHIM: Jein. Auf der einen Seite haben die Türken viel für uns
getan. Ich will das betonen. Wir haben uns riesig gefreut, wie sie
uns aufgenommen haben, als wir dem Gastod im Irak entkom-
men sind. Jeder sagt das. Jeder. Aber dann kam die Enttäu-
schung. Und das ist die andere Seite unseres Schicksals hier. Die
Türken geben uns in diesem Lager viel weniger als bei Ihnen in
Wien etwa die Hunde bekommen. Und sie lassen uns den
Giftgastod ohne Medikamente sterben.
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IBRAHIM: Ja, wir dachten, wenn wir in die Türkei kämen, würde
bereits das Internationale Rote Kreuz auf uns warten, oder der
Rote Halbmond, und würde uns in Rettungsautos in große medi-
zinische Lager bringen. Und dass dann alle die großen Gift-
gasexperten aus aller Welt hierher kommen, uns retten und den
Irak verurteilen würden. Das alles gab es nicht. Wir haben nur
Soldaten und Volksmilizen in der Türkei gesehen. Sonst nichts...
KURDE: Niemand hat hier Waffen. Wir konnten gar keine Waffen
in die Türkei mitbringen. Auch die "Peschmerga" nicht. Die haben
ihre Waffen im Irak versteckt, bevor sie in die Türkei geflohen
sind. Wir wollten nach dem Gastod nur einem Massaker durch
die irakische Armee an der Grenze zur Türkei entgehen. Wir
haben kein Interesse, der Türkei Probleme zu machen. Wir sind
Flüchtlinge. Wir wollen leben, wollen keinen Krieg mehr. Wir sind
für die Türkei kein Sicherheitsrisiko. Genau umgekehrt: die Türkei
zieht in diesen Lagern einen regelrechten Spitzel-Polizeistaat
gegen uns auf. Selbst irakische Agenten dürfen in den Lagern
agieren und Zusammenstöße provozieren. Die Türken sind für
uns ein Sicherheits-Risiko, nicht wir für sie...
FRAGE: Wollen Sie damit sagen, dass Euch die Türken auch
schlagen?
IBRAHIM: Das war so: zuerst sind wir zu Fuß aus dem Irak über
die Grenze in die Türkei gekommen. Dann kamen wir in die
Hände des türkischen Militärs. Die brachten uns in ein Grenzdorf,
das man Artusch nennt. Dort mussten wir 15 Tage bleiben. Die
Lage war noch schlimmer als hier: ohne Zelte, eiskalt, kaum
etwas zu essen, keine Medikamente, die reine Verzweiflung. Wir
waren enttäuscht und haben uns beschwert. Das hat nichts
genützt.
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Nach zwei Wochen haben uns die Türken aber auf Viehlaster
hierher verfrachtet. Wie die Tiere. Manchmal auch an die 80
Leute auf einem Laster. Da haben die Türken auch zugeschla-
gen, um uns auf diese Viehtransporter zu bringen...
FRAGE: Gut, da kann man vielleicht sagen, in der Hektik und bei
Eurem Protest könnte dem einen oder anderen türkischen
Soldaten die Hand ausgerutscht sein. Das dürfte zwar nicht pas-
sieren, aber...
IBRAHIM: Nein, nein, diese Szenen meine ich jetzt gar nicht
sosehr. Hier in diesem Lager habe ich persönlich zwei oder drei-
mal gesehen, wie türkische Lageraufseher Kurden geschlagen
haben. Brutal.
IBRAHIM: Nein, das nicht. Die Türken hier sind keine Prü-
geltürken. Aber ein bisschen menschlicher sollten sie mit uns um-
gehen. Auch wenn sie Kurden nicht besonders leiden können.
Wir sind auch Menschen. Keine Untermenschen.
REPORTAGE:
Während wir hier auf diesem Hügel über dem Lager unter uns
über Gott und die Welt und Gerechtigkeit auf Erden gesprochen
haben, sind vier Kurden in "Peschmerga"-Uniformen mit ihrem
letzten Dienst fertig geworden. Sie haben die verstorbene, alte
Frau auf diesem Lagerhügel begraben, den die Kurden hier ihren
Hügel des Todes nennen. Die vier kurdischen Totengräber hatten
nur eine brauchbare Schaufel. Sie haben einander abgewech-
selt, den Leichnam der Verstorbenen zur letzten Ruhe zu betten.
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DAVID HIRST: Ich sehe keine Zukunft für diese Flüchtlinge hier.
Ich fürchte, sie werden alleine die Kälte in dieser Gegend nicht
überleben. Wenn nichts geschieht, droht ihnen der Massentod...
FRAGE: Das klingt deprimiert. Habt Ihr das Gefühl, Ihr seid am Ende?
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IBRAHIM: Die Leute sagen, sie sind bisher nur einmal davonge-
laufen: vor den Giftgasbomben. Sie geben zu, davor hätten sie
Angst. Aber nicht, weil sie feige oder keine aufrechten Kämpfer
wären, sondern weil ein wehrloses Volk keinen Giftgaskrieg über-
leben kann. Dazu brächte ein Volk Gegen-Mittel. Die haben wir
aber nicht. Deshalb, sagen die Leute, hätten sie auch nie den
Funken einer Chance gehabt, die Gaskammer unter freiem
Himmel im Irak zu überleben. Gar keine Chance. Aber sonst hät-
ten sie vor nichts Angst. Nicht vor Panzern, auch nicht vor
Artillerie, Kugeln, MGs, Flugzeugen, Kampfbombern, Hubschrau-
bern und ebensowenig vor Napalm-Brandbomben, mit denen die
Iraker bisher Kurdistan verwüstet haben...
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ben soll, das glaube ich nicht! - Ich möchte folgendes betonen:
jene Flüchtlinge, die hierher gekommen sind, haben nicht am
Krieg (im Irak) teilgenommen. Sie sind auch nicht in diesen Krieg
verwickelt worden. Haben nicht Krieg gesehen. Nur wenige die-
ser Flüchtlinge haben an diesem Krieg teilgenommen. Das heißt:
wenn es wirklich Ereignisse um den Einsatz chemischer Waffen
im Irak gegeben haben sollte, dann soll man dafür Beweise nicht
in der Türkei suchen, sondern im Irak!
FRAGE: Erstens habe ich hier mitgebracht konkret eine ganz ein-
deutige Aussage eines türkischen Lager-Amtsarztes. Zweitens
habe ich auch bei mir eine völlig idente Diagnose eines kurdi-
schen Arztes in diesem Lager Süüstü. Drittens konnte ich mich
selbst überzeugen, dass die Symptome, die beide Ärzte an einer
Reihe von Kranken neben mir diagnostiziert haben, auch mit frei-
em Auge klar erkennbar stimmen, so schlimm sind diese Fälle.
Und viertens: das, was ich jetzt in diesem Lager gesehen habe,
wurde mir von anerkannten Fachärzten auf diesem Gebiet
bereits mehrfach nach Halabdscha erklärt und vordemonstriert.
Unter anderem in Krankenhäusern in Wien. Ich bin zwar kein Arzt
und weit davon entfernt, mir anzumaßen, ein Giftgasexperte zu
sein, was ich überhaupt nicht bin. Aber ich habe keinen Zweifel,
dass die Aussagen, Indizien und Symptome, die mir hier in der
Türkei bereits von mehreren Ärzten unabhängig voneinander ge-
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zeigt worden sind, völlig korrekt stimmen. Soviel kann ich auch
als Zeitzeuge bestätigen. Nicht nur mit freiem Auge. Sondern weil
ich auch schon andere Giftgasfälle gesehen habe. Sicher: das ist
nicht entsetzlich viel, aber wegwischen können Sie all diese Fak-
ten so einfach nicht...
FRAGE: Ich schildere Ihnen einen Fall: ich habe im Lager Süüstü
ein 18 Monate altes Baby gesehen. Es hat dauernd, tagelang, nur
geschrien. Herzerschütternd. Das Kleine war krebsrot im Ge-
sicht. Hat gekeucht. Sich pausenlos gekratzt. Die Nase ist geron-
nen. Alle paar Minuten hat es gebrochen. Ausgeronnen ist es an
Dauerdurchfall. Eingefallen. Die Hände rot und halb braun ver-
brannt. Die Haut im Abfallen. Weiße Flecken. Ein schreckliches
Bündel Elend...
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FRAGE: Eine Reihe von Beweisen liegt bereits auf dem Tisch,
Herr Gouverneur! Noch einmal: würden Sie eine internationale
Untersuchungskommission zulassen und damit eine Konfronta-
tion mit dem Irak riskieren? Ja oder nein!?
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das haben wir nicht getan. Und der allerwichtigste Aspekt ist der:
die Gebiete, in denen Sie sich als Journalist frei bewegen durften,
sind derzeit normalerweise für Zivilpersonen gesperrt. Aus Si-
cherheitsgründen. Wir haben extra für diesen Fall diese Gebiete
für alle Welt aufgemacht, damit sich jeder ein eigenes Bild ma-
chen kann, was dort wirklich vor sich geht. Darüber hinaus möch-
te ich betonen: es gibt mehr Kurden, die in den Iran als in die
Türkei geflohen sind. Diese Gruppen waren auch im Krieg im Irak
involviert. Und der Iran ist als Kriegspartner des Irak der Feind
dieser Menschen. Und daher sollte auch der Iran vor aller Welt
aufstehen und der Öffentlichkeit diese Menschen mit Giftgasver-
letzungen als Beweise herzeigen. Der Iran soll demonstrieren,
wenn schon, wie unmenschlich diese Leute behandelt worden
wären. Nicht die Türkei. Die Türkei ist seit zehn Jahren in diesem
Konflikt neutral. Und alles ist hier offen. Die Türkei ist ein demo-
kratisches Land. Die Orte, die Sie besucht haben, sind auch von
Abgeordneten aller Parteien im Parlament in Ankara inspiziert
worden. Ohne jede Restriktionen. Und meine letzten Worte an
Sie sind die: bis zum heutigen Tag haben wir keinerlei offizielle
Beweise für Giftgasopfer auf türkischem Territorium. Aber: sollten
eines Tages echte Beweise aufkommen, wird die Türkei alles in
Ihrer Macht Stehende tun.
FRAGE: Das hat selbst die BBC und das türkische Radio gemeldet!
Der Gouverneur bricht das Interview ab und stellt sich Fragen eines
Korrespondenten der britischen Nachrichten-Agentur REUTERS.
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Weiterführende Literatur:
Hennerbichler, Ferdinand: Die Kurden. - Moson 2004.
700 Seiten, 348 Fotos, 117 Graphiken. - 49,90 Euro.
Internet: http://www.fhe.cc, E-Mail: fhe@fhe.cc
Der Autor:
Dr. Ferdinand Hennerbichler
Geb. 1946 in Linz, Oberösterreich. 1965 Matura am
Kollegium Petrinum in Linz-Urfahr. Studierte 1965-71
Geschichte, Germanistik und (vergleichende)
Sprachwissenschaften an der Universität Wien.
1972 Dr. Phil. mit einer Arbeit über Begriffs-
geschichte (Gegenreformation) bei Heinrich Lutz (†).
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