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erweiterten Grenzraum
Materialien gegen den Krieg, Repression und für andere Verhältnisse I Nr. 7
Frontex - Widersprüche im
erweiterten Grenzraum,
herausgegeben von der
Informationsstelle Militarisierung
im August 2009
INHALT Impressum:
GRUNDLAGEN: Diese Broschüre von der Informa-
tionsstelle Militarisierung (IMI) e.V.
Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen, München Tübingen erstellt und herausgegeben.
Einleitung 1
Christoph Marischka
Frontex: Das nachrichtendienstliche Vorfeld 3
Stefan Geißler
Operative Einsätze an den Außengrenzen 9
Timo Tohidipur Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.
Das Agenturwesen der EU 14 Hechinger Str. 203
72072 Tübingen
Fabian Wagner www.imi-online.de
Die Evaluierungen von Frontex und das Border Package 18
FRONTEX IM EINSATZ:
Conni Gunßer Auflage 2.000
Abschiebeagentur Frontex? 20 Drucktermin 30. Juli 2009
Bernd Kasparek
Von Grauzonen und Legalisierungen der anderen Art. Frontex im Mittelmeer 26
Hagen Kopp, kein mensch ist illegal hanau
Go East! - „Europäische Nachbarschaftspolitik“ und Frontex in der Ukraine 32
Christoph Marischka Die Herausgeber bedanken sich bei
RABITS: EU-Polizei für den chronischen Ausnahmezustand? 34 allen AutorInnen und Gruppen, die
mit ihren eigens hierfür verfassten
Christoph Marischka
Frontex im sicherheitsindustriellen Komplex 37
Beiträgen das Erscheinen dieser Bro-
schüre ermöglicht haben. Ausdrück-
lich danken möchten wir auch Bernd
WIDERSTÄNDIGE PERSPEKTIVEN: Kasparek und Conni Gunßer für ihre
Bernd Kasparek, Fabian Georgi Unterstützung in allen Phasen der Re-
Jenseits von Staat und Nation. Warum Frontex abzuschaffen ist 39 daktion sowie Thomas Mickan für die
Andrea Anton, Sandra Gürtler und Holger Wilcke Bearbeitung der Texte und bei allen
„frontex in a nutshell“ - das Hauptquartier packt aus 43 anderen, die sich an dieser Broschü-
Bremer Bündnis gegen FRONTEX re, Aktionen und Kampagnen gegen
Bremer Raumfahrtindustrie und Flüchtlingsabwehr für die EU 45 Frontex beteiligt haben.
Initiative gegen das Chipkartensystem
GASIM – das deutsche Pendant zu Frontex 47
Hagen Kopp, kein mensch ist illegal hanau
Frontexplode - Erste Ansätze einer transnationalen Kampagne 49
Lübecker Flüchtlingsforum
Aktionen gegen das FRONTEX-Ausbildungszentrum in Lübeck 51
Association Malienne des Expulsés (AME) u. a.
APPELL VON BAMAKO 52
Schutzgebühr: 2,- Euro
Die Reihe „Materialien gegen den Krieg, Repression und für andere Ver- Nr. 4, Aufgaben und Strukturen der Europäischen Agentur für die opera-
hältnisse“ ist als Teil der Öffentlichkeitsarbeit des Abgeordneten im Euro- tive Zusammenarbeit an den Außengrenzen (2008)
pa-Parlament Tobias Pflüger entstanden. Nr. 5, Professional soldiers and the right to conscientious objection in the
Bisher sind erschienen: Europaen Union (2008)*
Nr. 1, Militärstandorte in Deutschland im Kontext der EU-Militarisierung Nr. 6, Militärmacht EUropa: Eine Zwischenbilanz (2009)*
(2006)* Die mit * gekennzeichneten Hefte sind noch verfügbar und können gegen
Nr. 2, Was macht die Bundeswehr in Usbekistan? (2006) Portoersatz bestellt werden bei: Tobias Pflüger, c/o IMI, Hechinger Str. 203,
Nr. 3, Der EU-Verfassungsvertrag und die Atompolitik der Europäischen 72072 Tübingen, imi@imi-online.de
Union (2007)
Einleitung
Liebe Leserin, lieber Leser, Diese Forderungen führten uns zwangsläufig zu einer
in Ihren Händen halten Sie die neue Broschüre der In- Auseinandersetzung mit der restriktiven Migrationspolitik
formationsstelle Militarisierung (IMI) zur Europäischen der EU und ihrer Umsetzung durch die Mitgliedstaaten
Grenzschutzagentur Frontex. Nachdem 2008 eine erste – auch, weil sie konkrete Auswirkungen auf unsere Poli-
Broschüre1 bereits nach kurzer Zeit vergriffen war, soll nun tik hat. Die AsylbewerberInnenzahlen in Deutschland sind
mit dieser aktualisierten Broschüre dem weiter bestehenden nach 1993 immer weiter gesunken, gleichzeitig steigt die
Interesse an Frontex, aber auch der politischen und struktu- Bedrohung durch Abschiebung, seit die EU versucht, diese
rellen Entwicklung seit dem Rechnung getragen werden. über die Agentur Frontex zu zentralisieren und effektiver
Wir, die Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und zu gestalten. Konzentrierte sich die deutsch-europäische
MigrantInnen München, freuen uns ganz besonders über Flüchtlingsabwehr in den 1990er Jahren noch auf die Oder-
das große Interesse an dieser bislang eher unbekannten Neiße-Grenze, wo wir mit temporären Interventionen un-
europäischen Agentur, die eine zentrale Rolle in der Aus- sere Solidarität mit den betroffenen Flüchtlingen und Ak-
gestaltung der europäischen Grenz- und Migrationspolitik tivistInnen ausdrücken konnten, so findet der Krieg gegen
einnimmt. Denn auch wenn wir als antirassistische, flücht- Flüchtlinge mittlerweile an den Außengrenzen zur Ukrai-
lingspolitische Gruppe eher lokal agieren und unseren Ak- ne und der Türkei, vor Libyen und Marokko statt. Und
tionsschwerpunkt in der bayerischen Politik haben, halten dies auch nur, bis die Vorverlagerungsstrategien der EU
wir eine Beschäftigung mit der Migrationspolitik der Euro- die Grenze für Flüchtlinge noch weiter verschieben wird.
päischen Union für unumgänglich. Denn schon seit 2005 sind Flüchtlingslager an der Grenze
Die Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und Mi- zwischen Libyen und Tschad bekannt, und die EU finan-
grantInnen ist 1998 als Netzwerk von selbstorganisierten ziert Abschiebelager an der ukrainisch-russischen Grenze.
Flüchtlingen in Deutschland entstanden – auch als Reakti- Frontex ist in Mauretanien und Senegal aktiv und Transit-
on auf die Verschärfungen des Asyl- und AusländerInnen- länder wie die Ukraine, Marokko und die Türkei sollen zu
rechts in den 1990er Jahren. 1993 wurde das Grundrecht so genannten sicheren Drittstaaten aufgewertet werden, um
auf Asyl enorm beschnitten, sodass viele Flüchtlinge fort- auch diese verbleibenden Routen nach Europa für Flücht-
an von der Inanspruchnahme des Schutzes vor Verfolgung linge und MigrantInnen zu verschließen.
ausgeschlossen waren. Mit dem Asylbewerberleistungsge- So richten sich unsere Kampagnen mittlerweile auch im-
setz (ebenfalls 1993) verschlechterten sich überdies die Le- mer gegen die ständige Verschärfung der Flüchtlingsabwehr
bensbedingungen der in Deutschland lebenden Flüchtlinge auf EU-Ebene. Aus diesem Grund haben wir uns etwa 2008
massiv. Unsere Kämpfe der letzten zehn Jahre haben sich entschieden, mit nach Warschau zu mobilisieren, wo eine
gegen diese Gesetze, rassistische Sonderregelungen wie die erste Demonstration gegen Frontex vor dem Hauptquartier
Residenzpflicht und gegen die Abschiebung der hier leben- der Agentur stattfand. Ebenso haben wir unsere Beteiligung
den Flüchtlinge gerichtet, während wir für ein allgemeines am Hamburger AntiraCamp als lokale Intervention gegen
Bleiberecht eingetreten sind. Geleitet waren unsere Aktio- eine neue europäische Abschiebepolitik begriffen. Unsere
nen immer von den allgemeineren Forderungen nach welt- Mobilisierung zum noborder-camp in Lesvos dieses Jahr ist
weiter Bewegungsfreiheit und gleichen Lebensbedingungen ein direkter Versuch, den Widerstand gegen die Abschot-
für alle Menschen. tungspolitik der EU an die Außengrenze zu tragen.
Die Vorverlagerung der Grenze und die Verschärfung der beiden Aspekte zusammenzudenken und sie anhand der
Abschiebepolitik ist jedoch nur die eine Seite der hässlichen Europäischen Grenzschutzagentur Frontex zu skizzieren.
Medaille, für die Frontex exemplarisch steht: Es ist eines der Wir hoffen sehr, dass die hier gesammelten Informationen
schrecklichen Charakteristika des Zeitalters der National- einen Beitrag leisten können zu einer starken politischen
staaten, dass Menschen, die nicht einem der privilegierten Bewegung, die wieder kampagnenfähig ist und sich nicht
Staaten oder Staatenbunde dieser Welt angehören, verstärk- durch überholte Konzepte wie etwa Staatsbürgerschaft
ter Repression ausgesetzt waren und sind. In Deutschland spalten lässt, sondern sich grenzübergreifend und solida-
und der EU gibt es zugleich eine ähnliche Tendenz, die „ei- risch organisiert. Denn der Kampf um gleiche Rechte für
gene“ Bevölkerung unter Generalverdacht zu stellen, „prä- MigrantInnen und Flüchtlinge muss gemeinsam geführt
ventiv“ zu überwachen, zu gängeln und einzuschränken. werden und er schließt die Forderung nach Emanzipation
Auch für diese Tendenz der Militarisierung der EU-Innen- aller Menschen mit ein.
politik steht Frontex exemplarisch im Rahmen einer ver- In diesem Sinne wollen wir für ein Europa eintreten,
netzen Sicherheitsstrategie. Die Überführung der Verträge welches einschließt, statt auszugrenzen und in dem jegliche
von Schengen in EU-Recht hat aus EU-Europa eine große Versuche der Migrationskontrolle delegitimiert sind. Wir
Grenze gemacht. Personen können nahezu überall kontrol- kämpfen lokal für ein Ende der Diskriminierung und Aus-
liert werden, mehr und mehr Menschen werden in Daten- grenzung aufgrund von Herkunft und Staatsbürgerschaft
banken erfasst und mit der Einführung der Vorratsdaten- und fordern dies ebenso für Europa und die gesamte Welt.
speicherung sollen die digitalen Spuren des Privatlebens für Vielen Dank an die Informationsstelle Militarisierung,
die Staaten zugänglich gemacht werden. Das Stockholmer die die Publikation dieser Broschüre ermöglicht hat, sowie
Programm, der nächste Fünfjahresplan für die EU-Innen- an alle Autorinnen und Autoren, die ihre Zeit in dieses Pro-
politik, zeichnet sich als Fortsetzung dieser Politik ab, und jekt gesteckt haben.
konsequenterweise werden in ersten Positionspapieren aus- http://carava.net
geweitete Kompetenzen für Frontex gefordert.
Anmerkung
Beide Entwicklungen, Migrationsabwehr nach außen und
1 Was ist Frontex? Aufgaben und Strukturen der Europäischen Agentur
verschärfte Kontrolle im Inneren, halten wir für höchst Be- für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen. 2008. Online
sorgnis erregend. Die vorliegende Broschüre versucht, diese verfügbar: http://www.imi-online.de/2008.php3?id=1680
FRONTEX
Das nachrichtendienstliche Vorfeld
Christoph Marischka
Dokumentenberater und Verbindungsbeamte gewährleisten“.4 Seit 1998 führt der BGS (heute: Bundes-
Eine der frühesten und effektivsten Maßnahmen, um polizei) auch mithilfe so genannter Dokumentenberater
Flüchtlinge an der Einreise in EU-Staaten zu hindern und „Schulungs- und Beratungsmaßnahmen für Luftverkehrs-
ihnen somit die Möglichkeit zu nehmen, hier um Asyl zu unternehmen, Flughafenbetreiber[n] im Ausland und auch
bitten, bestand darin, die Einreise aus eben diesen Staaten, ausländische[n] Grenzbehörden durch.“5 So befanden sich
aus denen Asylberechtigte kommen (könnten), von der Er- im Laufe des Jahres 1999 Dokumentenberater des BGS
teilung von Visa und anderen Reisedokumenten abhängig in 52 Einsätzen auf insgesamt 33 „migrationsrelevanten“
zu machen. Wirksam wurde diese Visa-Politik vor allem, Drittlandsflughäfen, darunter Accra in Ghana, Istanbul in
da die Transportunternehmen, insbesondere die Fluglini- der Türkei, Nairobi in Kenia, Karatschi in Pakistan, Lagos
en, dazu verpflichtet wurden, zu überprüfen, ob ihre Pas- in Nigeria, Delhi in Indien und Tirana in Albanien.6 2001
sagiere über die notwendigen Dokumente für die Einrei- wurden auf diese Weise 1.558 Mitarbeiter von Behörden
se verfügen. Damit wurden sie auch haftbar gemacht für und Unternehmen geschult.7
den Fall, dass sie Passagiere ohne die entsprechenden Visa Seit 1997 baute der Bundesgrenzschutz darüber hinaus
transportieren: Sie müssen die Kosten für deren Rück- sein Netzwerk an Verbindungsbeamten aus, die seit dem
transport übernehmen und können im Wiederholungs- nicht mehr nur in westeuropäische EU-Mitgliedstaaten
falle die Berechtigung verlieren, europäische (Flug-)Häfen entsendet werden, sondern auch in Kandidatenländer für
anzusteuern. In Deutschland bleiben die Transportgesell- den EU-Beitritt und weiteren Drittstaaten wie die Ukraine
schaften auch bei Asylbewerbern drei Jahre in der Pflicht, und Russland. „Aufgabe der Beamten ist es, den Informati-
diese auf eigene Kosten rückzuführen, falls ihr Asylantrag onsaustausch zwischen dem BGS und den entsprechenden
abgelehnt wird.1 Damit wurde ein starker Anreiz geschaf- Organisationen der Gastländer sicherzustellen, die grenz-
fen, bereits am Check-In-Schalter in den Herkunfts- und polizeiliche Lage zu analysieren, operative Maßnahmen zu
Transitländern möglichst rigide Kontrollen vorzunehmen. unterstützen und den Gastländern als Ratgeber zur Ver-
Zahlreichen potenziellen Flüchtlingen und MigrantInnen fügung zu stehen.“8 In den Beitrittskandidaten und ihren
wird hier bereits die Ausreise, der Zugang zu einem Asyl- Nachbarstaaten waren die Verbindungsbeamten darüber
verfahren und zum europäischen Kontinent verwehrt - von hinaus damit beauftragt, finanziert von den EU-Program-
Angestellten privater Unternehmen, die unter Anleitung men PHARE, TACIS und CARDS, die jeweiligen Grenz-
europäischer Grenzschutzbeamter agieren.2 schutzbehörden auf den EU-Beitritt vorzubereiten, hierfür
Während die Sanktionen gegen Transportunternehmen auszubilden und aufzurüsten. In den Staaten des westlichen
bereits in den 1980er Jahren von vielen europäischen Staa- Balkans waren sie im Kontext der NATO-Besatzungsmis-
ten eingeführt und im Schengener Abkommen von 1985 sionen wesentlich daran beteiligt, gemeinsam mit dem
als obligatorische Gegenmaßnahme für den Wegfall der re- BKA einen neuen Grenzschutz aufzubauen.
gulären Kontrollen an den Binnengrenzen aufgenommen Auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
wurden, entfalteten sie jedoch erst Ende der 1990er Jahre (BAMF) hat Verbindungspersonal u.a. in die deutschen
ihre volle - und bisweilen tödliche - Wirkung. Mittlerweile Vertretungen im Iran, in der Türkei, im Kosovo, in Russ-
waren die EU-Staaten nämlich dazu übergegangen, Doku- land und in der DR Kongo entsandt. Auch deren „Tätigkeit
mentenberater ihrer Grenzpolizeien an die Flughäfen der dient der Gewinnung von zielgerichteten und zeitnahen In-
wichtigsten Herkunfts- und Transitstaaten zu entsenden. formationen über Ursachen und Wege von Migrationen,
Im Jahr 1996 wies der Rat der EU auf diesen „wertvol- die für die Eindämmung illegaler Migrationen nützlich sein
len Beitrag … zur Bekämpfung unerlaubter Einwande- können“.9 „Amtsträger mit vergleichbaren Aufgaben wer-
rung“ hin und versuchte hierfür gemeinsame Standards den aber auch vom BKA, von der Bundeszollverwaltung,
zu etablieren.3 Im selben Jahr richtete der deutsche Bun- vom Bundesnachrichtendienst, von der Bundeswehr und
desgrenzschutz (BGS) auf den sechs größten deutschen im Übrigen auch von EUROPOL eingesetzt.“10
Verkehrsflughäfen die Arbeitsgruppe zur Verhinderung Die Grundlage für den Einsatz von Verbindungsbeam-
der unerlaubten Einreise (AG VERDIE) ein, „um eine ten oder Dokumentenberatern sind überwiegend unveröf-
schnelle und vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen fentlichte bilaterale Abkommen oder gar noch informel-
Luftfahrtunternehmen und dem Bundesgrenzschutz zu lere Übereinkünfte. Ihr Mandat umfasst aber keineswegs
GRUNDLAGEN
operative Befugnisse. Trotzdem wird auch über die Doku- on, zu „Vorfällen und Ereignissen“, die zu neuen „Strömen
mentenberater mehrfach - teilweise sogar von ihnen selbst und Routen“ führen könnten, über „Mittel und Wege“, wie
- berichtet, dass diese persönlich an Flughäfen von Dritt- den Behörden im Gastland zu helfen sei, diese zu unterbre-
staaten Ausweispapiere kontrolliert, dabei auch mutmaß- chen und „um die Rückkehr und Rückführung von illega-
liche Fälschungen erkannt und zur späteren Verurteilung len Einwanderern in ihre Herkunftsländer zu erleichtern“,
von Schleppern beigetragen haben sollen.11 Informationen über Rechtsvorschriften und Rechtsprakti-
Doch auch durch die reine Weitergabe von Informationen, ken und „Methoden zur Fälschung oder Verfälschung von
die auf jede erdenkliche Weise und keineswegs gerichtsfest Identitäts- oder Reisedokumenten“. Weder die Definition
erlangt worden sein können, nehmen Verbindungsbeam- des Verbindungsbeamten („Vertreter eines Mitgliedstaats…
te und Dokumentenberater auf das Migrationsgeschehen bei denen die Befassung mit Einwanderungsfragen einen
Einfluss und können sie Strafverfahren induzieren. So etwa Teil der Aufgaben darstellt“), die Organisationen, mit de-
Anfang 2002, als Verbindungsbeamte und die Vertreter der nen diese kooperieren dürfen („zuständigen Behörden im
deutschen Botschaft in Kiew das Innenministerium darauf Gastland und gegebenenfalls … geeignete Organisationen
hinwiesen, dass die Zahl derer, die mithilfe der an sich lega- im Gastland“) noch die Quelle, Art oder die Bedingungen,
len „Reiseschutzpässe“ ein Visum zur Einreise nach Deutsch- unter denen die Informationen weitergegeben werden kön-
land erhalten wollten, sprunghaft zunehme und sich das nen, sind dabei wahrnehmbar eingeschränkt.
„Antragstellerprofil und die Antragstellerzusammensetzung Mit der Gründung der Europäischen Agentur für die
… schlagartig verändert“ habe. Daraufhin überprüfte das operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen, FRON-
BKA, das bereits zuvor auf ähnliche Entwicklungen hin- TEX, sollte diese Zugang zu allen diesen Informationen
gewiesen hatte, die Vertriebsstruktur dieser, überwiegend erhalten und daraus ein gemeinsames, integriertes Risiko-
von renommierten deutschen Versicherungsunternehmen analysemodell (CIRAM) entwickeln, sowie die erlangten
und dem ADAC bereitgestellten Reiseschutzpässe und stieß und angereicherten Informationen über das ICONet an die
auf „Zweifel an der Seriosität einzelner Vertriebspartner“, Behörden der Mitgliedsstaaten weiterleiten.13
„verdächtige Vieleinlader“ und „ein Netzwerk unter diesen Das CIRAM wird als „Herz“ der „nachrichtendienstlich
‚Einladerfirmen‘ […], das auf früheren gemeinsamen Tätig- gesteuerten“14 Tätigkeit von Frontex bezeichnet. Jeder ope-
keiten (z.B. als Versicherungsmakler) und auf der gemeinsa- rative Einsatz basiert auf einer Risikoanalyse. CIRAM wurde
men Herkunft aus den Spätaussiedlergebieten beruht“.12 In bereits 2002 von leitenden Beamten der nationalen Grenz-
der Folge wurden zunächst zusätzliche Dokumentenberater schutzbehörden entworfen und seitdem kontinuierlich
des BGS entsandt, um mit den Antragstellern ausführliche weiterentwickelt. Bis zur Gründung von Frontex war hier-
Gespräche zu führen und die Plausibilität ihres Reisezwecks für das Risk Analysis Centre (RAC) in Helsinki zuständig,
zu prüfen, bis dann im März 2003 das Innenministerium dessen Direktor Ilkka Laitinen am 25.5.2005 zum ersten
anordnete, gar keine Reiseschutzversicherungen mehr als Exekutivdirektor der neuen Agentur wurde. Während diese
Ersatz für die Verpflichtungserklärung anzuerkennen. Auf- im Verlauf des Jahres 2005 noch das Hauptquartier bezog
grund der öffentlichen Aufregung um den sog. Volmer-Er- und ihre innere Struktur festlegte, wurde bereits ein „Netz
lass wurden auch die Folgen dieser vorübergehend etwas nationaler Kontaktstellen“, also Behörden, die eine zentra-
außer Kontrolle geratenen Migrationsbewegungen disku- le Rolle beim Informationsfluss spielen sollen, aufgebaut.
tiert - anhand der polizeilichen Kriminalstatistik: Demnach Frontex-Mitarbeiter begleiteten eine „technische Mission“
liege „der Anteil von Ukrainern an der Gesamtheit der po- der EU-Kommission nach Marokko, um die Migrationen
lizeilich registrierten Tatverdächtigen bei allen Deliktgrup- über Ceuta und Melilla zu untersuchen, andere beteiligten
pen im marginalen Bereich von 0,1 bis 0,6 Prozent. In den sich an der Erstellung einer europäischen Bedrohungsana-
Jahren 2001 und 2002 habe er zudem meist gar nicht oder lyse zu organisiertem Verbrechen des Europäischen Polizei-
nur geringfügig zugenommen. So sei die Quote der ukraini- amts EUROPOL, mit dem bei einem Antrittsbesuch im
schen Tatverdächtigen an der Gewaltkriminalität oder auch November erste Vereinbarungen über die zukünftige Zu-
an Betrugsdelikten über alle fünf Jahre hinweg konstant bei sammenarbeit getroffen wurden.15 Der damalige Chef der
0,2 Prozent geblieben.“ Abteilung Risikoanalyse von Frontex, Graham Leese, war
ebenso wie der spätere Leiter der Planungsabteilung, Rusta-
Frontex als Schnittstelle mas Liubajevas, bereits im November 2004 mit Vertretern
Wohlgemerkt arbeiten fast alle EU-Staaten - wenn auch der EU-Kommission und nationaler Sicherheitsbehörden
nicht unbedingt im selben Umfang wie Deutschland - mit nach Libyen gereist, um sich über das dortige Migrations-
Verbindungsbeamten und Dokumentenberatern, wozu sie geschehen und mögliche Kooperationen mit den libyschen
im Vertrag von Prüm vom März 2006 auch explizit aufge- Behörden auszutauschen.16 Im Arbeitsprogramm für 2005
fordert wurden. Bereits 2004 hatte der Rat der EU-Innen- war darüber hinaus die Begründung einer Zusammenarbeit
minister in einer Verordnung (377/2004) die Art der Infor- mit dem CIREFI geplant, eines informellen, monatlich
mationen definiert, welche die Verbindungsbeamte erheben zusammentreffenden Netzwerks nationaler Grenzschutz-
und weiterleiten sollten: Informationen zu „Strömen“, behörden und derer Verbindungsbeamter. Die Agentur
„Routen“ und „Vorgehensweisen“ bei der illegalen Migrati- Frontex, die erst im Oktober 2005 ihr Hauptquartier in
Warschau beziehen konnte und erst im Dezember einen (IOM) „intensiviert“ und ein Verbindungsbüro für das
stellvertretenden Leiter erhielt, konnte bereits bis Ende des- UNHCR eingerichtet. Der Leiter dieses Büros wollte sich
selben Jahres eine allgemeine Risikoanalyse zu allen EU- auf die Frage eines Ausschusses des britischen Oberhauses
Außengrenzen und eine thematische zu Marokko/Spanien hin, ob sich das UNHCR an der Risikoanalyse von Frontex
vorlegen, eine weitere zu Libyen/Italien befand sich damals beteiligt, nicht öffentlich äußern19, die Agentur selbst aber
bereits in Vorbereitung. betont bei jeder Gelegenheit die gute Zusammenarbeit.
Auch die Zusammenarbeit mit Drittstaaten sucht Fron-
Informationsgewinnung …
tex kontinuierlich auszubauen. 2008 sollten beispielsweise
Eine weitere Methode, um an Informationen zu gelan- Arbeitsvereinbarungen mit Albanien, Bosnien und Her-
gen, besteht darin, dass die Abteilung Risikoanalyse regel- zegowina, Montenegro, Serbien, den USA und Brasilien
mäßig Fragebogen an die nationalen Behörden verschickt, ausgehandelt werden. Unterzeichnet wurden solche Über-
diese auswertet und bei vierteljährlichen Treffen des sog. einkünfte im selben Jahr mit Kroatien, Georgien und Mol-
Frontex-Risikoanalysenetzwerkes (FRAN), bestehend dawien. Bereits zuvor ausgehandelte Abkommen mit Russ-
wiederum aus Mitarbeitern von Frontex und nationaler land, Moldawien und der Ukraine hätten nach Angaben der
Behörden, bespricht. Auch die „operativen Einsätze“ der Agentur nicht nur zu deren Beteiligung an Frontex-Opera-
Agentur dienen - manchmal, wie bei Hera I oder FIFA 06 tionen geführt, sondern auch „allesamt die Kapazitäten von
sogar vornehmlich - der Informationsgewinnung oder der Frontex bei der Risikoanalyse positiv beeinflusst“.20 2007
Evaluation von Möglichkeiten, diese in Echtzeit weiterzu- hatte es der für Grenzen und Visa zuständige Mitarbeiter
geben. Grundsätzlich wird bei allen Frontex-Einsätzen ein der EU-Kommission, Henrik Nielsen angeregt, dass der
Internationales Koordinationszentrum eingerichtet, von „nächste Schritt [im Rahmen des Abkommens mit Russ-
dem aus die Agentur täglich Fragebögen an alle beteilig- land] im Austausch von nachrichtendienstlichen Informa-
ten Behörden und Einheiten verschickt und versucht, diese tionen zum Zwecke der Risikoanalyse beispielsweise mit
auszuwerten. Manche Einsätze beinhalten v.a. intensive Be- russischen Grenzschützern bestehen könnte“.21
fragungen von MigrantInnen an den Flughäfen, See- und Zuletzt geht die Agentur auch zunehmend dazu über,
Landgrenzen über deren Routen, Kontaktpersonen und eigene Mitarbeiter oder ihr unterstellte Beamte als „Nach-
natürlich werden die dabei kontrollierten Dokumente, die richtendienstbeamte“ zu entsenden, die ihre Informationen
festgestellten Nationalitäten etc. registriert. Jeder Einsatz an ein „Frontex-Lagezentrum“ in der Abteilung für Risiko-
und die hierbei gesammelten Daten werden anschließend analyse weiterleiten. Dieser Plan wurde 2007 ausgearbeitet:
intensiv ausgewertet. Zunächst sollten „Nachrichtendienstliche Zellen … in zwei
Darüber hinaus bemüht sich Frontex kontinuierlich, sein strategischen Gebieten der Außengrenzen der Europäischen
Netzwerk zur Informationsgewinnung auszubauen. Zuerst Union im Jahr 2008 postiert“ werden.22 Tatsächlich wurden
wurden EUROPOL und CIREFI kontaktiert, also mehr 2008 offensichtlich bereits drei solcher „Zellen“ in Madrid,
oder weniger offizielle EU-Institutionen. „Enge Verbindun- Rom und Athen eingerichtet. Diese sollten für die „nach-
gen“17 unterhält die Agentur mittlerweile auch mit der Ar- richtendienstlichen Aspekte“ bei der Vorbereitung, Umset-
beitsgruppe Zusammenarbeit im Zollwesen (CCWP) und zung und Evaluation gemeinsamer Operationen zuständig
der Task Force der europäischen Polizeichefs (EPCTF), EU- sein und Beiträge zu den themenspezifischen Risikoanaly-
ROJUST, der dubiosen und an sich nur für Fälle innerhalb sen leisten.
von EU Institutionen zuständigen Betrugsbekämpfungsbe-
hörde OLAF und dem noch weitaus geheimnisumwitter- … Weitergabe …
ten SITCEN. Beim SITCEN handelt es sich um ein beim Bereits im Laufe des Jahres 2006 legte Frontex eine alle
Generalsekretariat des Rates angesiedeltes gemeinsames Außengrenzen betreffende allgemeine Risikoanalyse sowie
Lage- und Analysezentrum der Auslandsgeheimdienste der vier thematische Lagebilder vor. Darüber hinaus verfas-
Mitgliedstaaten, das (potenzielle) Krisengebiete beobachtet ste sie zwei als „nur für den Dienstgebrauch“ klassifizierte
und damit Entscheidungshilfen für die Europäische Sicher- „Bulletins“ für die Strafverfolgungsbehörden, welche diese
heits- und Verteidigungspolitik liefern soll. Bereits 2006 be- auf bestimmte Netzwerke und Vorgehensweisen hinweisen
gann die Agentur im Rahmen des „Mittelmeerdialogs über und so deren Verfolgung erleichtern oder induzieren sollen,
Transitmigration“ auch mit dem International Centre for oder, wie es die Agentur selbst ausdrückt: Durch „die Be-
Migration Policy Development (ICMPD) zu kooperieren. reitstellung von nachrichtendienstlichen Produkten [liefert
Dabei handelt es sich um eine intergouvernementale Or- Frontex] ein wichtiges Input für die zuständigen nationa-
ganisation, die versucht, das Migrationsgeschehen in Echt- len Grenzschutzbehörden in den Mitgliedstaaten, für de-
zeit abzubilden und möglichst „unpolitisch“ nach dubiosen ren proaktive, operative und repressive taktische Entschei-
Nützlichkeitserwägungen zu managen.18 Gemeinsam mit dungsfindung in Bezug auf die Grenzsicherheit.“23 Dabei
EUROPOL und dem ICMPD verfasst Frontex regelmäßig unterscheidet die Agentur, ebenso wie bei der Informations-
gemeinsame Analysen und Arbeitspapiere (teilweise unter gewinnung, nicht zwischen militärischen und polizeilichen
Beteiligung des UNHCR). 2007 wurde die Zusammen- Behörden. So beschrieb Major Mallia von den maltesischen
arbeit mit der International Organization for Migration Streitkräften die Zusammenarbeit z.B. folgendermaßen:
GRUNDLAGEN
„Wir sind eine militärische Organisation. Wir haben einen nen. Diese Informationen lies EUROPOL zunächst über
eigenen Nachrichtendienst innerhalb dieser militärischen Frontex im Rahmen eines Fragebogens an die Mitgliedstaa-
Organisation, aber der ist nicht ausschließlich mit Migra- ten weiterleiten, um ein Bewusstsein für dieses Problem zu
tion beschäftigt. Wir können nicht so viele Ressourcen - schaffen, anschließend fand eine gemeinsame Aktion mit
personell wie finanziell - und Zeit aufbringen, um dieses intensivierten Befragungen an 27 europäischen Flughäfen
spezielle Problem zu untersuchen. Frontex übernimmt dies statt: „Im Ergebnis wurde 241 Minderjährigen die Einreise
für uns als außen stehender Akteur - als Dienstleister, wenn verweigert (in vielen Fällen zusammen mit ihren erwach-
Sie es so ausdrücken wollen.“ senen Begleitpersonen), weitere 73 Minderjährige stellten
Doch auch an Drittstaaten werden ausführliche und of- Asylanträge und weitere 18 erhielten Zuflucht in sicheren
fensichtlich auch personenbezogene Daten weitergegeben. Unterkünften bis zu weiteren Untersuchungen, außerdem
So rühmte sich Frontex im Tätigkeitsbericht 2006 dafür, wurden 43 gefälschte Dokumente entdeckt. 10 Erwachsene
dass „Dank der bei den [von Frontex im Rahmen von Hera wurden wegen schwerer Einwanderungsdelikte, einschließ-
I durchgeführten] Befragungen gewonnenen Informatio- lich Menschenschmuggel, festgenommen und weitere 71
nen … mehrere Schmuggler vor allem im Senegal fest- wurden angezeigt.“
genommen [werden konnten]“.24 Diese Aussage ist nicht EUROPOL kann aus mehreren Gründen als geheim-
nur insofern brisant, dass in Teilen Senegals seit Jahren ein dienstliche Organisation eingeordnet werden. Sie unterliegt
niederschwelliger Bürgerkrieg herrscht und fundamentale keiner Kontrolle durch eine europäische Staatsanwaltschaft
Menschenrechte nicht anerkannt werden, sondern vor al- oder eine europäische Strafprozessordnung und ist überwie-
lem insofern, dass die in diesen Befragungen gewonnenen gend mit dem Sammeln von Informationen, dem Anlegen
Informationen insbesondere auch Mauretanien betroffen von Akten, Dateien und Dossiers beauftragt. Ihre Mitarbei-
haben. Auch mit den mauretanischen Sicherheitskräften ter genießen weit gehende Immunitätsrechte, u.a. auch, da
arbeitet Frontex bei der Abwehr von MigrantInnen eng diese für „kontrollierte Lieferungen“ von Drogen, Waffen
zusammen und die Regierung lässt sogar europäische Po- und auch im Bezug auf illegale Migration zuständig sind.27
lizeibeamte auf eigenem Territorium aktiv werden. Diese Deshalb haben die EUROPOL-Beamten an sich keine
Regierung bestand 2006 aus einem so genannten „Mili- operativen Befugnisse, d.h. sie dürfen niemanden festhal-
tärrat“ unter Führung des früheren „Sicherheitschefs“ Vall, ten, verhören, durchsuchen oder verhaften. Sie dürfen aber
der Ende 2006 durch einen Militärputsch an die Macht ihre Informationen an die nationalen Behörden weiterlei-
kam. Zwar gab es 2007 relativ faire Neuwahlen, das Militär ten oder mit diesen gemeinsame Ermittlungsgruppen bil-
bleibt aber bis heute wichtigster politischer Machtfaktor in den und damit - ähnlich wie Frontex - deren exekutives
Mauretanien und putschte 2008 erneut. Handeln beeinflussen. Im Bereich der illegalen Migration
koordiniert sich EUROPOL dabei eng mit EUROJUST
… und Anwendung und deckt regelmäßig vermeintliche Schleusernetzwerke
Auch für die eigenen operativen Einsätze stellt jedoch auf, was zu Massenverhaftungen führt. So berichtet eine
die nachrichtendienstliche Risikoanalyse das „Herz“ dar. gemeinsame Pressemitteilungen von Europol und Euroju-
Sie bestimmt, ob ein solcher Einsatz (bei Zustimmung des st vom Juni 2008 von der Operation „Baghdad“ in deren
betroffenen Mitgliedstaates) stattfindet und wie er ausge- Rahmen 1.300 Polizisten in Belgien, Frankreich, Deutsch-
staltet wird. Auch an den Operationen selbst sind entspre- land, Griechenland, Irland, Norwegen, den Niederlanden,
chende Behörden beteiligt. So war bspw. EUROPOL 2008 Schweden und Großbritannien 75 mutmaßliche Schleuser
an den Einsätzen „Silence“ und „Hammer“ beteiligt. Ob- festnahmen und zahlreiche Wohnungen durchsuchten, wo-
wohl die Operation Hammer an 115 europäischen Flughä- bei auch zahlreiche „illegale Migranten“ aus China, Bang-
fen hauptsächlich auf die Informationsgewinnung (Einreise ladesch, Afghanistan, der Türkei und dem Irak festgenom-
über kleine Flughäfen und mit sog. „Billig-Airlines“) und men wurden. EUROPOL hatte im Vorfeld 75 Berichte
der Erprobung des neuen, Frontex-eigenen Lage-Zentrums erstellt und die Zusammenarbeit und den Informations-
diente, wurden auch während dieser 695 Menschen die austausch zwischen den Behörden koordiniert. Im No-
Einreise verweigert und 71 mutmaßlich gefälschte Auswei- vember folgte nach einem ähnlichen Muster die Operation
se beschlagnahmt.25 „Trufas“ bei der 65 mutmaßliche Mitglieder einer ukrai-
Andere Operationen, wie die Einsätze „Hydra“ und „Age- nischen Schleuserbande und wiederum eine nicht genauer
laus“ 2007 basierten darüber hinaus auf Erkenntnissen von genannte Zahl Illegalisierter in Spanien, Portugal, Italien,
EUROPOL, auf deren Datenbank die Beteiligten während Ungarn, der Slowakei und Polen festgenommen wurden.
des Einsatzes wohl auch zugreifen konnten.26 Hydra richte- Im Juni 2009 wurden erneut 64 Personen unter demsel-
te sich gegen Reisende aus China, denen vorgeworfen wur- ben Vorwurf sowie Menschen ohne Papiere überwiegend
de, organisiert die Pässe anderer Personen zu verwenden. aus dem Irak festgenommen. Wieder hatten „Experten von
Im Vorfeld von Agelaus hatte EUROPOL festgestellt, dass Europol zahlreiche ‚intelligence reports‘ angefertigt, den
vermeintlich kriminelle Netzwerke aus Lateinamerika Min- Informationsaustausch ermöglicht und die Polizeieinsätze
derjährige in die EU begleiten, sie aber nach Ablauf des Vi- koordiniert. EUROPOL hat darüber hinaus im Laufe der
sums hier lassen, da diese nicht abgeschoben werden kön- Operation mehrere Treffen organisiert. Die Hauptverdäch-
tigen und neue kriminelle Verbindungen wurden von EU- mäßigen Anstieg von Reisenden aus der CAR und melden
ROPOL in enger Zusammenarbeit mit Experten aus den diesen Frontex. Alternativ ist auch denkbar, dass in einem
Mitgliedstaaten … aufgedeckt.“28 anderen europäischen Land, in dem vielleicht dieselbe
Leider fehlt noch eine systematische Analyse, in wie vie- Sprache wie in CAR gesprochen wird, zunehmend viele
len dieser Fälle es zu einer rechtskräftigen Verurteilung kam Menschen aus CAR ohne Papiere oder mit gefälschten Do-
und insbesondere, in wie vielen Fällen sich der Bezug zur kumenten aufgegriffen werden. Frontex erfährt davon und
international agierenden, organisierten Kriminalität hat gibt die Informationen an EUROPOL weiter. EUROPOL
nachweisen lassen. Dieser sehr vage Tatbestand, ein Bezug oder INTERPOL finden natürlich Informationen über
zum Terrorismus, dem Drogen- oder Waffenhandel, muss ein Fälschernetzwerk. Alternativ kann auch OLAF darauf
an sich vorliegen, damit EUROPOL und andere nationa- hinweisen, dass eine EU-Behörde, eine Botschaft oder ein
le und internationale Behörden überhaupt koordinierend Standesamt in einem der französischen Überseegebiete all-
tätig werden dürfen. Da ihre Mitarbeit aber ausdrücklich zu freimütig - evtl. sogar gegen Bezahlung - Pässe ausgibt.
erwünscht ist, sind sie implizit aufgefordert, diese Bezüge Vom SITCEN erfährt Frontex, dass in CAR ein Putsch,
zu finden, herzustellen oder zu konstruieren. Denn diese ein Bürgerkrieg oder eine Wirtschaftskrise droht. Deshalb
Institutionen verfügen sicherlich über die „profunde Fach- bereitet Frontex einige der Beamten der RABITs schon Mal
und Rechtskenntnis“, die nötig ist, „um zwischen legalen darauf vor, Reisende aus der CAR intensiv zu befragen und
Einladungen, Verpflichtungserklärungen und Scheineinla- gefälschte Papiere zu erkennen. So kann Frontex schnell
dungen als Mittel der Schleusungen zu unterscheiden.“29 reagieren, wenn die Fluglinie ihr Angebot ausweitet oder
gar neue Fluglinien Reisen aus der CAR nach Europa an-
Ein Szenario
bieten.
Da wir nur bedingt Einblick in die zahlreichen Risikoana-
lysen, Lageberichte und Dossiers haben, mit denen Frontex Die Folgen anderswo und hier
und die vernetzten Behörden operieren, soll hier zur Kon- Die Folgen, welche diese nachrichtendienstliche Zusam-
kretisierung auf ein fiktives Szenario verwiesen werden, das menarbeit hat, wurden bereits angedeutet: Viele potenzielle
Frontex als Grundlage einer Übung der RABITs heranzog: Flüchtlinge und MigrantInnen werden bereits am Check-
„Der Flughafen Porto wird von einer großen Zahl von In-Schalter von der Ausreise ausgeschlossen. An sich legale
Bewohnern der fiktiven Insel Zentralamerikanische Repu- Migrationswege werden kriminalisiert, wenn sie von einem
blik (CAR) erreicht, die qualitativ hochwertige gefälschte unerwünschten Milieu genutzt werden. Es ist unklar, wann
Ausweise von einem Fälscher-Netzwerk erhalten, das in die- und wie jemand zum „verdächtigen Vieleinlader“ wird
sem Land operiert. und was für Folgen das etwa für eine grenzüberschreitende
Anfang Oktober wurde eine neue Verbindung zwischen Hochzeit haben kann.
CAR und Porto eingerichtet, die Luftfahrtgesellschaft Cen- An den Flughäfen finden Kontrollen statt, die nach rassi-
tral American Wings bietet täglich zwei Flüge von CAR stischen Kriterien durchgeführt werden und auf Grundlage
nach Porto an. Sie verwendet für jeden dieser Flüge Boeing von Risikoanalysen können sich Verdachtsmomente erge-
747, was auf eine Kapazität von 450 Passagieren pro Flug ben, die zu einer Zurückweisung führen. Alle Menschen,
hinweist. Es ist bekannt, dass die schlechte wirtschaftliche die mit der Erteilung von Papieren zu tun haben oder die
Lage in CAR Menschen zu der Entscheidung geführt hat, Einreise von Menschen aus unerwünschten Milieus ermög-
das Land zu verlassen. Wegen der strengen Visa-Bestim- lichen, werden systematisch auf Verbindungen zu einer
mungen der EU benutzen Staatsangehörige der CAR gut vage definierten Organisierten Kriminalität untersucht,
gefälschte Ausweise europäischer und Visa-befreiter ame- wodurch sich die diskursive Verknüpfung der Themen
rikanischer Länder, die von kriminellen Netzwerken her- Migration, Organisierte Kriminalität, Terrorismus, Dro-
gestellt werden. Für Bürger der CAR ist Porto der einzige genhandel usw. weiter verdichtet und evtl. auch kriminal-
Zugang zum Schengenraum, da es keine anderen Flugver- statistische „Evidenz“ erfährt. Das kann zu Ermittlungen
bindungen gibt. Am 15. Oktober 2007 hat die Fluglinie und Strafverfolgungen im Bereich von antiterroristischen
Central American Wings angekündigt, wegen der enormen Sondergesetzen hier und auch in Drittstaaten führen, die
Nachfrage ab dem 5. November täglich zwei weitere In- keinerlei rechtsstaatlichen Prinzipien Genüge tun.
terkontinentalflüge anzubieten. Die portugiesischen Behör- Die Informationen, die in Lagebilder, Risikoanalysen,
den erwarten einen großen Zustrom von Bürgen der CAR, „bewusstseinsfördernde Maßnahmen“ (awareness-raising)
welche versuchen werden, mit gefälschten Dokumenten in und letztlich auch operative Einsätze einfließen, müssen
den Schengenraum zu kommen. Der portugiesische Grenz- keineswegs gerichtsfest und sie müssen - insbesondere, da
schutz ist nicht in der Lage, Personal mit den erforderlichen sie im Allgemeinen nicht personenbezogen sind - auch nicht
Fähigkeiten nach Porto zu entsenden.“ im engeren Sinne legal erworben oder weitergegeben wor-
Wir können uns das fiktive Zustandekommen eines sol- den sein. Sie können zu sehr diskretem Verwaltungshandeln
chen fiktiven Szenarios in etwa folgendermaßen vorstellen: führen, das enorme Auswirkungen hat. So hat beispielswei-
Entweder die portugiesischen Behörden oder Verbindungs- se das deutsche Bundesinnenministerium mit einem Schrei-
beamte aus einem anderen Land registrieren den zahlen- ben vom 6. März 2007 eine Allgemeinverfügung vom 3.
GRUNDLAGEN
Januar 2005 widerrufen. Dadurch wurden ab dem 1. April 4 Bundesministerium des Innern (BMI): Ausländerpolitik und Auslän-
2007 irakische Pässe der Serie “S” von deutschen Behörden derrecht in Deutschland, Berlin 2001.
5 Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Migrationsbericht 2006.
pauschal nicht mehr anerkannt. Ähnliche Verwaltungsan- 6 BMI: Bundesgrenzschutz - Jahresbericht 1999.
weisungen ergingen in Großbritannien, den Niederlanden, 7 BMI: Schengen - Erfahrungsbericht 2001.
Belgien, Luxemburg, der Slowakei, der Tschechischen Re- 8 Rüdiger Kass: Rede beim 6. Europäischen Polizeikongress, 18.2.2003
publik, der Schweiz und Schweden. Dadurch wurden nicht in der Stadthalle Bonn - Bad Godesberg.
9 Annette Sinn, Axel Kreienbrink, Hans Dietrich von Loeffelholz: Ille-
nur im Irak hunderttausende Menschen vorübergehend
gal aufhältige Drittstaatsangehörige in Deutschland - Staatliche Ansätze,
von einer legalen Einreise in den Schengenraum ausge- Profil und soziale Situation, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
schlossen, da sie sich in einer (Nach-)Kriegsgesellschaft, in (BAMF), 2005.
der ein Identitätsnachweis stets schwierig ist, alle gleichzei- 10 Martin Möllers, Robert Christian van Ooyen, Hans-Thomas Spohrer:
tig neue Papiere beschaffen mussten, was zu langen Warte- Die Polizei des Bundes in der rechtsstaatlichen pluralistischen Demokra-
tie, S. 230.
zeiten führte. Auch alle legal sich aufhaltenden Menschen 11 Vgl.: Dokumentenberater der Bundespolizei leistet wichtigen Beitrag
in den betreffenden europäischen Staaten mit diesen Pässen im Verfahren gegen Schleuser und Urkundenfälscher, in: Zeitschrift der
genügten plötzlich nicht mehr ihrer Passpflicht. Allein in Bundespolizei 1/2007; sowie: Brigitta Voigt: Grenzschützer im Einsatz,
Deutschland wurden ab dem 1. April 2004 5.262 irakische in: Das Parlament 4/2004.
12 Olaf Scholz: Informationen zu Visumrecht und zur Visumpraxis,
Staatsangehörige als “Personen ohne gültigen Pass” einge-
www.olafscholz.de, (Stand 9.3.2005).
stuft, wodurch sie nicht mehr grenzüberschreitend reisen 13 Sergio Carrera: The EU Border Management Strategy: FRONTEX
durften und in ausländer- (Erteilung eines Aufenthaltstitels) and the Challenges of Irregular Immigration in the Canary Islands,
und personenstandsrechtlichen Verfahren (Ehe, Geburts- Centre for European Policy Studies (CEPS), Working Document
beurkundung) von einer großzügigen Auslegung durch die 261/2007.
14 Frontex-Arbeitsbericht 2005.
Sachbearbeiter angewiesen waren. Diese Benachteiligungen 15 Frontex-Arbeitsbericht 2005, sowie: EUROPOL: Jahresbericht
können existenzielle Folgen haben. 2005.
Als Rechtfertigung für dieses Handeln gab die Bundes- 16 Europäische Kommission: Report on the technical mission to Libya
regierung in Reaktion auf eine Kleine Anfrage der Links- on illegal immigration, statewatch.org.
17 Frontex-Arbeitsbericht 2007.
fraktion an, dass es sich dabei international nicht um einen
18 Vgl. zum ICMDP: Vassilis Tsianos: Die Karte Europas und die Strö-
“Alleingang” handle. Als Begründung verweist sie u.a. dar- me der Migration - „Governance of Migration“ und die herausgefor-
auf, dass “in der irakischen Vertretung in Genf irakische derte Gemeinschaft: zwischen Kollaps und Überschuss, in: Grundrisse
Reisepässe der Serie ‘S’ für 550 bis 600 Euro ohne Vorlage Nr. 27.
der erforderlichen Unterlagen erworben werden” könnten; 19 House of Lords: FRONTEX - the EU external borders agency, 9th
Report of Session 2007–08, HL-Paper 60.
dass sich “ein iranisches Ehepaar und eine türkische PKK- 20 Frontex-Jahresbericht 2008.
Kämpferin mit echten irakischen ‘S’-Pässen ausgewiesen” 21 House of Lords: FRONTEX - the EU external borders agency, 9th
hätten; dass “durch Diebstahl im Irak ca. 12.000 Pässe der Report of Session 2007–08, HL-Paper 60.
Serie ‘S’ abhanden gekommen” wären, ferner sei “nicht aus- 22 Frontex-Jahresbericht 2007.
23 Frontex-Arbeitsbericht 2007.
zuschließen, dass ehemalige Bedienstete der Hussein-Regie-
24 Frontex-Jahresbericht 2006.
rung weiterhin unberechtigt Pässe ausstellen”. Dabei bezieht 25 Frontex-Jahresbericht 2008, über „Silence“ ist wenig bekannt, ver-
sich die Bundesregierung auf “vorliegende[n] gesicherte[n] mutlich diente aber auch dieser Einsatz v.a. der Informationsgewinnung.
Erkenntnisse”, “den deutschen Behörden vorliegende[n] Mit Beteiligung von zwölf Staaten und einem Budget von über 250.000
Berichte[n]”, “Mitteilungen” aus Botschaften und von Ver- Euro müssten die 24 zurückgewiesenen MigrantInnen aus den Bürger-
kriegsländern Somalia, Eritrea, Äthiopien und aus Kenia wohl sonst aus
bindungsbeamten. Dazu, ob es aufgrund der genannten Frontex-Perspektive als Misserfolg gewertet werden.
Missbrauchsfälle bereits zu irgendwelchen Verurteilungen 26 Jeandesboz Julien: Police Logics and Intelligence Lead Logics in a
gekommen sei, diese jemals als gerichtsfest anerkannt wur- Risk Society, www.liberalsecurity.org (Zugriff: 22.4.2009).
den, lagen der Bundesregierung hingegen nach eigenen An- 27 Stephen Rehmke: Cops on the Top - Die Hymne auf die europäi-
sierte Strafverfolgung ist ein Abgesang auf die Freiheitsrechte, in: Forum
gaben “keine Erkenntnisse” vor. Allerdings erklärt sie noch:
Recht 1/2004, sowie: Hartmut Aden: Handbuch zum Recht der inneren
“Im Zeitraum vom 1. Januar 2007 bis zum 5. April 2007 Sicherheit, BWV 2006, sowie zahlreiche Beiträge von Heiner Busch und
wurden nachweislich in 184 Fällen irakische Pässe der Serie Mark Holzberger insbesondere in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP.
‘S’ von Personen benutzt, die Beschuldigte in Ermittlungs- 28 „European-wide network of people smugglers dismantled“, Presse-
verfahren wegen Verstößen gegen das Aufenthaltsgesetz wa- mitteilung vom 9.6.2009, „ Network of people smugglers dismantled“,
Pressemitteilung vom 13.11.2008, „European-wide network of people
ren.”30 Ein Zusammenhang, der bei genauerer Betrachtung smugglers dismantled“, Pressemitteilung vom 23.6.2009, alle: www.eu-
gar keiner ist! rojust.europa.eu. Nicht nur die Titel, auch der Inhalt der einzelnen Pres-
semitteilungen ist teilw. identisch, insbesondere folgende Formulierung:
Anmerkungen “Subsequently, a number of illegal immigrants have been arrested”.
1 Karin Loos: Die soziale und rechtliche Situation von Flüchtlingen, 29 Projekt Sonderauswertung „Wostok“, zitiert nach: Olaf Scholz,
in: Flüchtlingsrat - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen a.a.O.
4/99. 30 Bundestags-Drucksache 16/5056.
2 Jens Vedsted-Hansen: Europe’s response to the arrival of asylum seek-
ers - refugee protection and immigration control, New Issues in Refugee
Research, Working Paper No. 6, UNHCR (1999).
3 Vedsted-Hansen 1999.
Die Durchführung operativer Einsätze an den europä- samer Aktionen und von Pilotprojekten der Mitgliedstaaten
ischen Außengrenzen ist mit Sicherheit das aufsehenerre- an den Außengrenzen. Planen Mitgliedstaaten eigenständig
gendste Handlungsfeld von Frontex. Umso interessanter ist gemeinsame Aktionen, müssen ihre Vorschläge entspre-
es, zu beobachten, dass die eigentliche Operation im Ablau- chend diesem Artikel mit Frontex abgesprochen werden.
fplan der Agentur gar nicht auftaucht. Stellt Ilkka Laitinen Die Agentur kann aber auch von sich aus tätig werden und
die Tätigkeiten von Frontex vor, benutzt er dazu gerne ein den Mitgliedstaaten Vorschläge unterbreiten. Bei durch-
pyramidenförmiges Diagramm, in dem gemeinsame Ope- zuführenden Gemeinschaftsaktionen oder Pilotprojekten
rationen die Spitze bilden, die auf Risikoanalyse, gemein- liegt es beim Exekutivdirektor von Frontex zu entscheiden,
samer Ausbildung und dem Austausch operationsrelevanter inwieweit die Agentur bereit ist dafür Unterstützung zu
Informationen basiert. Die Durchführung operativer Ein- leisten. Die Agentur kann, muss aber nicht, die Operati-
sätze selbst wird von Frontex in vier Phasen gegliedert: onen mittels organisatorischer, technischer, finanzieller und
1. Die Initiierung der Aktion, die entweder von personeller Mittel oder auch durch Einbeziehung der eige-
Frontex erfolgt (auf Basis der eigenen Risikoanalyse) oder nen Fachaußenstellen unterstützen. Bei allen durchgeführ-
auf Vorschlag eines Mitgliedstaates. ten Operationen ist Frontex für die abschließende Analyse
2. Die Vorbereitung der Operation, die in Zusam- und Bewertung zuständig „mit dem Ziel, die Qualität, Ko-
menarbeit aller zuständigen Frontex-Arbeitsgruppen er- härenz und Wirksamkeit künftiger Aktionen und Projekte
folgt. Nach Absprache und Ausarbeitung der Operation in zu verbessern“.
der Verwaltungsratssitzung wird der Aktionsplan an den Für alle Operationen gibt es einen offiziell organisierenden
stellvertretenden Exekutivdirektor übermittelt und bei des- Mitgliedstaat, den Einsatzmitgliedstaat. Die hier aus den
sen Einverständnis schließlich dem Exekutivdirektor zur übrigen teilnehmenden Mitgliedstaaten eingesetzten Exper-
Entscheidung vorgelegt. ten handeln offiziell auf Befehl des organisierenden Staates,
3. Die Vorbereitungen des operativen Plans und die der damit auch die juristische Verantwortung übernimmt.
Umsetzung beginnen mit der Ausarbeitung des Plans durch Beamte aus anderen Staaten dürfen die ihnen im Rahmen
die Arbeitsgruppen, die Absprache in der Verwaltungsrats- des Einsatzes möglicherweise übertragene exekutive Funk-
sitzung und die Genehmigung des Plans durch den Exe- tion nur in Anwesenheit eines einheimischen Exekutivbe-
kutivdirektor. Der Aktionsplan beinhaltet einen genauen amten durchführen.
Zeitplan und eine Auflistung von verfügbarem Personal Artikel 8 der Frontex-VO regelt die Unterstützung der
und Technik. Es wird darin die Vorgehensweise2 vorgege- Agentur für Mitgliedstaaten, die aufgrund „einer Situation,
ben, ein Kommunikationsplan erstellt und eine Risikokal- die eine verstärkte technische und operative Unterstützung
kulation durchgeführt. Für die Umsetzung der Aktion sind an den Außengrenzen erfordert“ um Unterstützung anfra-
der dafür abgestellte Projektmanager und die zuständige gen. Während sich Artikel 3 auf die Verbesserung der allge-
Arbeitsgruppe verantwortlich. meinen Lage an den Außengrenzen bezieht, regelt Artikel
4. Die Operation endet mit der Bewertung und Ana- 8 den Umgang mit Notfällen. Als ein mögliches Szenario
lyse der Ergebnisse. Grundlage bilden die Berichte des Ein- gilt hier die plötzliche Destabilisierung einer Region und
satzmitgliedstaates, beteiligter Staaten und der eingesetzten ein daraus resultierender Ansturm von Flüchtlingen auf
Beamten. Die Nachbereitung endet mit der Diskussion des die Grenzen eines Mitgliedstaats, der mit eigenem Personal
Abschlussberichts und dem Einfließen der Erkenntnisse in nicht zur Bewältigung der Situation in der Lage ist. Die
zukünftige Operationen. in der Frontex-VO dafür vorgesehenen Mittel zur Bewäl-
Die Auswertung schließt direkt an die Vorbereitung an tigung sind dieselben, wie bei „normalen“ Einsätzen; ge-
und man fragt sich: hat Frontex mit der eigentlichen Ope- nauso liegt die Beurteilung der Lage auch hier im Ermessen
ration wirklich nichts zu tun oder tut die Agentur nur so? der Agentur. Allerdings wird die VO hier durch die Verord-
Als Schwerpunkt für die gemeinsamen Einsätze von nung „über einen Mechanismus zur Bildung von Sofortein-
Mitgliedstaaten formuliert Frontex die „Bekämpfung von satzteams zu Grenzsicherungszwecken“,5 so genannter RA-
vorschriftswidriger Migration und Menschenhandel sowie BITs, ergänzt. Die RABITs, mobile Einheiten, bestehend
[die] Unterstützung von Maßnahmen gegen internationa- aus Grenzschützern, Dolmetschern, Sanitätern und ande-
len Terrorismus durch Grenzkontrolle.“3 Der Artikel 3 der ren Experten, zum Beispiel Experten für Reisedokumente,
Frontex-Verordnung (VO)4 überträgt Frontex die Befugnis werden auf Entscheidung des Generaldirektors der Agentur
zur Planung, Unterstützung und Durchführung gemein- tätig und ihre Einsätze aus dem Frontex-Budget finanziert.
10 GRUNDLAGEN
Sollte Frontex nicht über ausreichende Mittel verfügen, er- rationen an der Grenze aufgehalten oder an der Einreise
folgt die Finanzierung über die EU. Die Verpflichtung al- gehindert, 58 Schleuser festgenommen und ca. 2.900 ge-
ler Mitgliedstaaten, Personal für die Einheiten abzustellen, fälschte oder ungültige Reisedokumente beschlagnahmt.
soll das Bewusstsein dafür schärfen, dass eine „solidarische“ Demgegenüber steht die geschätzte Zahl von etwa 45.000
Teilung der aus der Grenzsicherung entstehenden „Lasten“ Flüchtlingen, denen allein an den südlichen Seegrenzen die
unter den Staaten kein Entgegenkommen, sondern eine Überfahrt nach Europa gelang und eine Zahl Toter, die nur
Verpflichtung ist. geschätzt werden kann. Für 2006 und 2007 geht Pro Asyl
Die Mitarbeiter von Frontex werden nicht selber exeku- von 2.088 bzw. 1.861 gezählten(!) Toten aus. Die Dunkel-
tiv tätig, sondern führen vorrangig Analyse- und Koordi- ziffer liegt aber wohl weitaus höher.6
nierungstätigkeiten durch. Die Angehörigen der RABITS Operationen an den Landgrenzen
hingegen können mit exekutiven Befugnissen - bis hin zum
Gebrauch der Schusswaffe - ausgestattet werden, dürfen Die meisten „illegalen“ Grenzübertritte sind laut Risiko-
analyse an den Landgrenzen der EU zu verzeichnen, ins-
diese jedoch nur in Begleitung eines Exekutivbeamten des
besondere an den Grenzen der spanischen Exklaven Ceuta
Einsatzmitgliedstaates ausüben. Sie tragen die Uniform ih-
und Melilla, der Landgrenze zwischen der Ukraine und der
res Herkunftsstaates und zur Kennzeichnung eine Armbin-
Slowakei sowie den griechischen Grenzen zur Türkei und
de.
Albanien. Um die Überwachung an den Landgrenzen zu
Von Frontex unterstützte oder geleitete Operationen und
koordinieren und zu optimieren organisierte Frontex, zu-
Pilotprojekte haben bislang für Land-, Luft- und Seegren-
sätzlich zur Risikoanalyse, Konferenzen zum Erfahrungs-
zen stattgefunden. Ein realer Einsatz der RABITs steht bis-
austausch aller Mitgliedstaaten mit Land-Außengrenzen.
lang noch aus, allerdings wurde ihre Praktikabilität in drei
Zuständig für die Durchführung von Operationen an
Übungen untersucht, die de facto Einsätze darstellen.
den Landgrenzen sind die Fachaußenstelle für Landgrenzen
Obwohl Frontex nach Artikel 28 der Frontex-VO dazu
und die sechs für Landgrenzen abgestellten Frontex Joint
verpflichtet ist, in ihren Tätigkeitsberichten Rechenschaft
Support Teams7 in Zusammenarbeit mit den Focal Point
abzulegen über Operationen, an denen sich die Agentur
Offices8. Die Schwerpunkte liegen auf der Sicherung der
beteiligt hat, ist es schwierig, an genaue Informationen dar-
grünen Grenze9, Identifikation gefälschter Reisedokumen-
über zu gelangen. Detaillierte Ausführungen über operative
te10 und Aufdeckung von Menschenschmuggel11. Den Tä-
Maßnahmen sind in den Berichten meist geschwärzt, mit
tigkeitsberichten von Frontex sind lediglich grobe Angaben
dem Hinweis auf die Nutzung von nachrichtendienstlichen
zu den durchgeführten Aktionen, den teilnehmenden Mit-
Informationen oder darauf, dass die Veröffentlichung von
gliedstaaten und den vorgegebenen Zielen zu entnehmen.
Details einer Preisgabe taktischer Informationen an Schleu-
Schon über die Teilnahme von Drittstaaten oder anderer
serbanden und kriminelle Netzwerke gleichkommt. Das
internationaler Organisationen lässt sich in den Berichten
Europäische Parlament kann zwar von Frontex Berichte
nichts Genaues entnehmen. Zum Beispiel steht bei der von
anfordern, allerdings kann Frontex Berichte über wichtige
August bis September 2007 stattfindenden Aktion „Drive
Aspekte der Tätigkeiten sperren. 2006 zum Beispiel waren
In“ unter Teilnehmer: „Zusätzlich können Vertreter von
das die Berichte über alle operativen Themenkomplexe.
Drittländern, EU-Organen und internationalen Organisa-
Auf eine kleine Anfrage im Deutschen Bundestag nach ge-
tionen an den Sitzungen teilgenommen haben oder an den
naueren Informationen erhielt die Fraktion von Bündnis
Maßnahmen beteiligt gewesen sein.“12
90/Die Grünen die Antwort, dass Frontex gegenüber den
Im Jahr 2006 wurde eine, 2007 und 2008 wurden jeweils
Mitgliedstaaten, bzw. den nationalen Regierungen, nicht
zehn von Frontex koordinierte Gemeinschaftsoperationen
auskunftspflichtig sei. Laut Aussage des migrationspoli-
an den Landgrenzen durchgeführt. Die Gesamtausgaben
tischen Sprechers der Grünen, Winkler, gäbe es auf Anfra-
betrugen 910.000 Euro für 2006, etwa 3.000.000 Euro für
gen im Europäischen Parlament die umgekehrte Antwort:
2007 und etwa 4.200.000 Euro für 2008. Alle Operationen
Die Einsätze werden national verantwortet, also sind Aus-
erfolgten aufgrund einer Initiative von Frontex. Für 2009
künfte über die jeweiligen nationalen Regierungen einzu-
ist ein Budget von 4.250.000 Euro vorgesehen.
holen.
2006 wurde das auf 4,5 Mio. Euro angesetzte Budget Operationen an den Luftgrenzen
für gemeinsame Einsätze noch von den Verwaltungskos- Als Luftgrenzen der EU gelten internationale Flughäfen
ten übertroffen. Ab 2007 machte es mit etwa 20,5 Mio. mit Direktverbindungen zu mindestens einem Drittstaat.
Euro schon über die Hälfte des Gesamtbudgets aus; 2008 Als spezielle Brennpunkte hat Frontex die Flughäfen Pa-
schließlich waren es 40,6 Mio. Euro. Eine ähnliche Ent- ris „Charles de Gaulle“, London „Heathrow“, Amsterdam,
wicklung nahm die des dafür abgestellten Personals: von 49 Frankfurt, Mailand und Madrid identifiziert. Die größte
Angestellten im Jahr 2007 stieg die Zahl auf 87 Angestellte Gefahr „illegaler“ Migration sieht Frontex in Reisenden aus
2008. Süd- und Mittelamerika, Nigeria und China.
Laut der Evaluierung der Frontex-Tätigkeiten durch die Mit der Umsetzung gemeinsamer Aktionen wurde 2006
Europäische Kommission wurden in den Jahren 2006/2007 begonnen. Besondere Beachtung lag auf der Aktion „FIFA
etwa 53.000 Menschen durch Frontex-koordinierte Ope- 2006“, in deren Rahmen in Zusammenarbeit von zwölf
11
Mitgliedstaaten an größeren europäischen Flughäfen ge- Malta und Italien blockiert werden soll, als bislang größter
gen „illegale“ Einwanderung vorgegangen wurde, unter von Frontex organisierter Fehlschlag. Im September 2008
der Prämisse, dass das höhere Reiseaufkommen durch die erklärte Laitinen selbst die Arbeit der Agentur dort für ge-
Weltmeisterschaft auch verstärkte Kontrollen erfordere. scheitert. Während Mauretanien und der Senegal in HERA
Insgesamt führte Frontex 2006 vier Operationen an der eingebunden sind, was es Frontex ermöglicht, Flüchtlings-
Luftgrenze durch. Bei der 17-tägigen Operation Amazon boote bereits in deren Hoheitsgewässern abzufangen, hatte
II wurden insgesamt über 2.100 Menschen zurückgewie- sich Libyen, zumindest noch 2008, einer entsprechenden
sen und das nicht nur, weil sie mit inkorrekten Reisedo- Zusammenarbeit verweigert. Das scheint sich für 2009 al-
kumenten unterwegs waren. Alle Reisenden aus Südame- lerdings geändert zu haben (siehe hierzu den Beitrag von
rika hatten sich einem von Experten geführten Verhör zu Bernd Kasparek zu Operationen im Mittelmeer).
unterziehen; wer hier widersprüchliche Angaben machte, Das Ziel der EU und der Agentur ist eine dauerhafte
dem wurde, auch bei korrekten Dokumenten, die Einreise Überwachung aller südlichen Seegrenzen. Allerdings gibt
verweigert. Die 17-tägige Operation „Hydra“, von April bis es dafür bislang weder die notwendigen finanziellen, noch
Mai 2007, fand unter Beteiligung von 16 Mitgliedstaaten technischen Mittel. Die Agentur beschränkt die Gemein-
an insgesamt 22 europäischen Flughäfen statt und richte- schaftsoperationen daher auf die Zeiträume im Jahr, die für
te sich gegen „illegale“ chinesische MigrantInnen auf dem Überfahrten vom Wetter her am günstigsten sind. HERA
Luftweg. Das Ergebnis von 291 Festnahmen von „Illegalen“ bildet hier die einzige Ausnahme.
und 17 verdächtiger Personen bei Kosten von 112.796 Um das Vorgehen von Frontex einmal an diesem Beispiel
Euro, wird von der Agentur als positiv bewertet, zumal die zu demonstrieren: Die HERA-Operationen wurden nach
Zahl ankommender MigrantInnen nach der Hälfte der Ak- der gemäß Art. 8, Frontex-VO von Spanien gestellten An-
tion stark zurückging. Nach Meinung von Frontex geschah frage nach technischer und operativer Unterstützung durch-
das vermutlich, weil die Schleuserbanden ihre Aktivität auf geführt. HERA I, der 2006 umgesetzte erste Abschnitt der
nach der Operation verlegten. Im Jahr 2006 wurden drei, Operation, bestand in erster Linie aus der Identifikation
2007 sechs, 2008 bereits acht von Frontex koordinierte von MigrantInnen und ihres Herkunftsstaates durch Ex-
Operationen an den Luftgrenzen durchgeführt. Die Ge- perten von Frontex. Ab Juli 2006 besuchten nacheinander
samtausgaben betrugen 315.000 Euro für 2006, 1.100.000 drei Gruppen, zusammengesetzt aus Experten mehrerer
Euro für 2007 und etwa 2.550.000 Euro für 2008. Alle Mitgliedstaaten (unter anderem Deutschland, Frankreich,
Operationen erfolgten auf Initiative von Frontex. Für 2009 Großbritannien, Niederlande, Norwegen und Portugal),
ist ein Budget von 2.650.000 Euro vorgesehen. die Inseln, wobei 18.987 “illegale” MigrantInnen identi-
fiziert und 6.079 davon auch umgehend wieder zurück-
Operationen an der Seegrenze geschoben wurden, hauptsächlich nach Gambia, Guinea,
Die von Frontex durchgeführten oder koordinierten Ge- Mali, Marokko und Senegal.
meinschaftsoperationen an den Seegrenzen im Mittelmeer Die vom 11. August bis 15. Dezember andauernde zweite
und im Atlantik vor den Kanarischen Inseln sind die Aktio- Phase der Operation, HERA II, bestand in der Überwa-
nen der Agentur, die mit Abstand das größte Medienecho chung des Seewegs zu den Kanarischen Inseln. Es war die
hervorrufen. Allerdings ist es nicht die positive Presse, wie erste gemeinschaftliche Operation, bei der auch in den Ho-
sie sich die Agentur wohl wünschen würde, wenn sie selbst heitsgewässern von Senegal und Mauretanien operiert wur-
die Verhinderung „illegaler“ Migration über die Seegrenzen de, in enger Zusammenarbeit mit den lokalen Behörden.
mit als höchste Priorität der Agentur ansieht.13 Auf welcher rechtlichen Grundlage das erfolgte, blieb aller-
Die südliche EU-Seegrenze wurde von Frontex als eine dings ungeklärt. Von europäischer Seite wurden italienische,
der größten Schwachstellen der europäischen Außengren- portugiesische und spanische Schiffe, spanische Helikopter
zen ausgemacht. Besondere Bedeutung wird nach der Ri- und je ein italienisches und ein finnisches Flugzeug einge-
sikoanalyse der Überwachung der Routen von Afrikas setzt. Nach Angaben von Frontex wurden 3.887 “illegale”
Westküste auf die Kanaren und von der afrikanischen Mit- Einwanderer noch vor der afrikanischen Küste abgefangen
telmeerküste, hauptsächlich Libyen, nach Malta oder Ita- und zur Umkehr gezwungen. Während Frontex die Aktion
lien beigemessen. Laut der Analyse sind es zumeist Bürge- als Erfolg einstufte, kritisierten einige EU-Mitgliedstaaten
rInnen Marokkos, Ägyptens, Eritreas und aus den Ländern sie als zu langsam und ineffektiv. Die spanische Regierung
der Subsahara, die versuchen über den Seeweg in die EU verabredete als Konsequenz eigenständig die Stationierung
einzureisen. Um diese Routen zu unterbinden, werden un- und den Einsatz spanischer Flugzeuge in Mauretanien.
ter der Leitung von Frontex die Operationen HERA und Mit HERA III und IV sollten Konsequenzen aus der Kri-
NAUTILUS durchgeführt. tik gezogen und die Operation mit deutlich mehr Materi-
An diesen Beispielen lässt sich deutlich ablesen, wie zentral al ausgestattet werden. Das Ziel blieb mit der frühzeitigen
die Zusammenarbeit mit Drittstaaten für die Taktik der eu- Entdeckung von Flüchtlingen durch Aufklärung aus der
ropäischen Grenzschützer ist: Während HERA von Frontex Luft, kombiniert mit dem Aufspüren der Flüchtlingsboote
wie dem Einsatzmitgliedstaat Spanien als Erfolg beurteil zur See das gleiche, wie schon bei HERA II. Allerdings wur-
wird, gilt NAUTILUS, durch welche die Fluchtroute nach den zunächst Expertenbefragungen mit angekommenen
12 GRUNDLAGEN
Flüchtlingen durchgeführt, um ihre Migrationsrouten zu Staaten zu koordinieren, um zu einer kompletten Über-
erkunden und diese dann gezielt zu blockieren. Durch Ko- wachung der südlichen Seegrenzen mittels Satelliten, un-
operationsvereinbarungen mit Mauretanien und dem Se- bemannter Drohnen und anderer technischer Mitteln bei-
negal verschaffte Frontex sich das Recht, Flüchtlingsboote zutragen. Bis jetzt können nur die Abschnitte überwacht
auch in deren Hoheitsgewässern abfangen zu dürfen, was werden, in denen auch Operationen stattfinden.
stark zum “Erfolg” von HERA beiträgt. Auf den eingesetz- Die ersten beiden Phasen des Projektes werden zu Land
ten Booten befinden sich je ein Exekutivbeamter Maureta- wie zur See durchgeführt und laufen parallel: Die Mit-
niens und Senegals, die für die Rückführungen formal die gliedstaaten sollen ihre nationalen Überwachungssysteme
Verantwortung tragen. Auch wenn Frontex das bestreitet, ausweiten und modernisieren. Gleichzeitig soll durch For-
gibt es eine Vielzahl von Zeugenaussagen, die belegen, dass schung und Entwicklung die Leistungsfähigkeit der tech-
Flüchtlingsboote entgegen jeglichen Rechts auch auf of- nischen Überwachungsinstrumente gesteigert werden und
fener See geblockt und zur Rückkehr gezwungen werden. durch die Kombination nachrichtendienstlicher Erkennt-
Insgesamt wurden im Jahr 2006 fünf, 2007 sieben und nisse mit aus Überwachungsanlagen gewonnenen Informa-
2008 acht von Frontex koordinierte Gemeinschaftsopera- tionen ein Gesamtbild erstellt werden. Die dritte Phase, der
tionen an den Seegrenzen durchgeführt. Davon erfolgten systematische Abgleich aller Informationen aller beteiligten
2006 vier, 2007 nur noch eine auf Initiative von Mitglied- Staaten und Behörden, soll zunächst nur für den Mittel-
staaten; alle übrigen wurden auf Initiative von Frontex meerraum stattfinden. Die Ziele sind, weniger „illegale“
durchgeführt. Die Gesamtausgaben betrugen 9.229.300 MigrantInnen nach Europa gelangen zu lassen, die innere
Euro für 2006, 16.665.000 Euro für 2007 und etwa Sicherheit zu verbessern, die Verbesserung der Such- und
28.700.000 Euro für 2008. Für 2009 ist ein Budget von Rettungskapazitäten, nicht zuletzt aber auch eine Koste-
36.000.000 Euro vorgesehen. nersparnis gegenüber den teuren operativen Einsätzen zur
See.
Pilotprojekte
Pilotprojekte werden durchgeführt, um neue Methoden RABIT-Einsätze
und Elemente im Grenzschutz zu entwickeln, weiterzuent- „Da die Mitgliedsstaaten bisweilen beim Schutz ihrer
wickeln oder zu testen und so die tatsächliche Einsetzbar- Außengrenzen vor schwierigen Situationen stehen, ins-
keit zu prüfen und die besten Praktiken zur gemeinschaft- besondere im Fall des Zustroms einer großen Anzahl von
lichen Sicherung der Außengrenze zu ermitteln. Allerdings Drittstaatsangehörigen an einer bestimmten Stelle der Au-
können sie auch dazu dienen, die Zusammenarbeit mit Be- ßengrenzen, die versuchen, illegal in das Hoheitsgebiet der
hörden aus Drittstaaten zu verbessern. Aus diesem Grund Mitgliedsstaaten einzureisen, kann es erforderlich sein, Mit-
wurden zum Beispiel allein 2007 fünf Pilotprojekte mit Be- gliedsstaaten mit angemessenen und ausreichenden Mittel ,
hörden aus der Ukraine durchgeführt. insbesondere mit Personal, zu unterstützen.“14
Die wichtigsten Pilotprojekte sind die aus der Mach- Dieser Absatz stammt aus der Verordnung für die Grün-
barkeitsstudie MEDSEA hervorgegangenen Projekte dung der Rapid Border Intervention Teams (RABITs) und
zur Durchführbarkeit eines dauerhaft bestehenden See- enthält das Hauptargument für deren Einführung. Das
patrouillenetzes (EPN) und das aus der Machbarkeitsstudie Dilemma, über keine klare gesetzliche Grundlage für den
BORTEC entwickelte Programm EUROSUR für die Ent- Einsatz exekutiver Einheiten in fremden Herrschaftsberei-
wicklung und Einrichtung eines technischen Grenzüberwa- chen zu verfügen, sollte durch die RABIT-Verordnung ge-
chungssystems für die südlichen Seeaußengrenzen. löst werden. Allerdings wurde hier keine allgemeine Rege-
Das EPN, das am 24.05.2007 seine Arbeit aufnahm, ist lung festgelegt, sondern eine für besondere Notsituationen.
als permanenter multinationaler Patrouilleneinsatz zur Si- Gleichzeitig soll mit der Verordnung eine Verpflichtung
cherung der südlichen Seegrenze gedacht. Unter der Lei- für Mitgliedstaaten geschaffen werden, die Sicherung der
tung von Frontex sollen sich die Mittelmeer- und Atlanti- gemeinsamen Außengrenze bei Bedarf personell zu unter-
kanrainer von Griechenland bis Portugal durch bilaterale stützen.
Abkommen vernetzen und für permanente Patrouillen in Bis Ende 2008 hat es drei Einsätze der RABITs gegeben,
allen sensiblen Bereichen sorgen. Diese Bereiche werden und das, obwohl kein Staat sich bislang einem plötzlichen
von Frontex mittels der Risikoanalyse ermittelt. Die Kom- Ansturm von Flüchtlingen gegenübersah. Diese Regel, die
mission schlug dazu die Errichtung mehrerer Kommando- den Einsatz der RABITs einschränkt, scheint nicht ins Ge-
zentralen vor, die unter der Leitung von Frontex die opera- wicht zu fallen, wenn die Begründung für den Einsatz lau-
tive Koordination in drei Zonen des Mittelmeers und einer tet, das Instrument in der Praxis testen zu wollen.
vor den Kanarischen Inseln erleichtern sollen. Perspekti- Im September 2007 wurde die Praxistauglichkeit der RA-
visch soll auch die Einbindung von Drittstaaten in das EPN BITs anhand der Simulation des Zusammenbruchs eines
geprüft werden. fiktiven mittelamerikanischen Staates erprobt. Einer daraus
Im Rahmen von EUROSUR ist die Aufgabe von Frontex angeblich resultierenden plötzlich auftretenden Einreisewel-
grob gesagt, die Zusammenarbeit einer Vielzahl von Be- le von MigrantInnen mit gefälschten Visa wurden zusätz-
hörden aus verschiedenen Einrichtungen unterschiedlicher liche Grenzer und Visa-Experten aus den RABIT-Einheiten
13
entgegengestellt. Auch wenn es in einer dazu veröffentli- droht also die Gefahr eines Glaubwürdigkeitsverlustes, lie-
chten Presseerklärung zunächst hieß, die aus anderen Mit- ße man nicht ausreichend mit Dokumenten ausgerüstete
gliedstaaten eingesetzten Beamten hätten, gemeinsam mit Menschen einreisen, für deren „Abreise“ ohnehin krimi-
ihren portugiesischen Kollegen, die üblichen Kontrollen nelle Schleuserbanden verantwortlich seien. Menschen zu
durchgeführt, stellte sich im Nachhinein heraus, dass der retten bedeutet für die EU unter diesen Prämissen (quasi
Einsatz tatsächlich im Rahmen der RABIT-VO stattgefun- konsequenterweise) nicht, sie aus Seenot zu retten. Es be-
den hatte. Das erweiterte die Kompetenzen der eingesetz- deutet sie pauschal und ohne eine Kontrolle der Flucht-
ten Beamten, zum Beispiel um das Recht, Schusswaffen gründe möglichst schon am Ablegen zu hindern.
einzusetzen. Dieses (zugegeben stark verkürzt dargestellte) Konzept
Weitere RABIT-Einsätze fanden an der der slowenischen durchzusetzen ist letztlich der Grund, warum Frontex ge-
Grenze zu Kroatien und an der rumänischen Grenze zu schaffen wurde. Ob Frontex nun juristisch für die Opera-
Moldawien statt (siehe Beitrag von Christoph Marischka tionen verantwortlich ist oder deren praktische Durchfüh-
zu den RABITs). rung als Teil ihres Aufgabenspektrums begreift, spielt keine
Rolle. Ihre Beteiligung durch das Erstellen der initiierenden
Folgen und Bedeutung der Operationen
Risikoanalysen, die konzeptuelle Planung der Operationen
Die Organisation „Borderline Europe“ nennt die EU- und deren organisatorische Betreuung sprechen schließlich
Seegrenze das größte Massengrab Europas. Bis jetzt star- für sich.
ben sowohl im Mittelmeer als auch im Atlantik tausende
Menschen bei dem Versuch, aus Afrika über das Meer in Anmerkungen
die EU zu gelangen. Die Angaben schwanken enorm, je 1 „Frontex-Einsätze laufen wieder an”, Interview mit Illka Laitinen, diepres-
se.com vom 21.09.2007.
nach dem, ob man die offiziellen Zahlen der EU oder die 2 Nach Aussage des Leiters der Einsatzzentrale der italienischen Militärpo-
Zahlen unabhängiger Organisationen heranzieht. Amnesty lizei, Manozzi, geht die Planung bis zu einer detaillierten Ausarbeitung der
international und Pro Asyl schätzen die Zahl der Toten im Vorgehensweise in bestimmten Situationen des Einsatzes.
3 Frontex Arbeitsprogramm 2006.
Zeitraum von 1998 bis Ende 2007 auf etwa 10.000 alleine 4 Rat der Europäischen Union, 2004: (EG) 2007/2004, Brüssel.
im Mittelmeer. Nach Angaben der Organisation „Fortress 5 Europäisches Parlament und Rat der Europäischen Union, 2007: (EG)
Europe“ starben 2008 mehr als 1.500 Flüchtlinge an den 863/2007, Brüssel.
Seegrenzen. Bei dieser Zahl sind die Verschollenen noch 6 Burkhart, Günther, 2008: Stoppt das Sterben! Menschenrechte achten –
Flüchtlinge schützen, in: Pro Asyl (Hrsg.), 2008: Europäische Außengrenzen:
nicht mit eingerechnet und somit dürfte die tatsächliche Stoppt das Sterben!, Frankfurt/Main, S. 2-3.
Zahl der Toten noch einmal um einiges höher liegen. 7 FJSTs bestehen aus Grenzschutzexperten mehrerer Mitgliedstaaten, die für
Für Frontex und eine Reihe europäischer Regierungsver- die Unterstützung bei der Durchführung von Grenzschutzoperationen in je
einer Region abgestellt sind. Diese Einheiten sind es, die bei langfristig von
treter ist die Frage nach der Verantwortung hierfür schnell Frontex geplanten Operationen zum Einsatz kommen.
geklärt. O-Ton Schäuble: „Die [Ertrunkenen] sind alle Op- 8 Die so genannten Focal Points sind von Frontex als „hot spots“ bezeichnete
fer schlimmer, krimineller Schleuserbanden [...]. Die Men- Gebiete, in denen migrationsbezogene Phänomene von Frontex als qualita-
tiv und quantitativ außergewöhnlich eingeschätzt werden. In „Focal Point
schen ertrinken ja nicht, weil sie nicht in Europa landen Offices“ werden von Frontex Gastbeamte aus unterschiedlichen Ländern
können, sondern weil sie sich auf einen unsicheren Weg stationiert und die FPO mit See- und Flughäfen der weiteren Umgebung
machen.“15 In Anbetracht der Fakten ist das eine recht in- vernetzt.
teressante Schlussfolgerung. 9 Neben einer Stärkung der Focal Point Offices erfolgte zum Beispiel 2007
und 2008 die Operation KRAS. Geleitet von Frontex und in Zusammenar-
Die Überwachung der Seewege bringt Menschen nicht beit mit Belgien, BRD, Italien, Österreich, Rumänien, Slowenien wurden
davon ab, die gefährliche Überfahrt von Afrika nach Euro- stark frequentierte Grenzübergänge und Abschnitte der grünen Grenze iden-
pa zu wagen. Sie bringt die Menschen dazu, längere Über- tifiziert und mit Experten aus den genannten Ländern verstärkt. Die Opera-
tion erfolgte in Zusammenarbeit mit Beamten aus der Ukraine, Ziel waren
fahrtswege zu wählen, um so die Kontrollen zu umgehen. durch die Risikoanalyse identifizierte Flüchtlingsrouten auf dem Balkan.
Die ursprünglich recht kurze Überfahrt vom afrikanischen 10 Zum Beispiel wurden während der Operation GORDIUS 2007 und
Kontinent auf die Kanarischen Inseln ist für einige dadurch 2008 unter Beteiligung von Experten aus 16 Mitgliedstaaten an den Grenzen
von Polen, Rumänien, der Slowakei und Ungarn die Dokumente hauptsäch-
auf über tausend Kilometer angewachsen. Hinzu kommt,
lich moldawischer Reisender auf ihre Echtheit geprüft.
dass die MigrantInnen in der Regel über nicht hochseetüch- 11 Unter Einbeziehung der Focal Point Offices erfolgte zum Beispiel 2007
tige Boote verfügen und jede Verlängerung des Fluchtweges und 2008 die Operation ARIADNE: in Zusammenarbeit von elf Mitglied-
die Gefahr zu Kentern und damit die Gefahr für Leib und staaten wurden an den Grenzübergängen zwischen Polen und der Ukraine
und Polen und der BRD die Operation unter anderem mit dem Ziel gegen
Leben erhöht. Kurz gesagt: je länger die Überfahrt, desto Menschenschmuggel in LKWs vorzugehen, durchgeführt.
mehr Menschen sterben dabei. 12 Frontex, 2008: Frontex allgemeiner Tätigkeitsbericht, Warschau, S. 30.
Die offizielle Position von Frontex und der EU ist, dass 13 Frontex-Verwaltungsrat, 2008: Management Bord decision of 29 January
2008 on the Program of Work 2008 Amendment No. 1, Warschau, S. 6.
Frontex-koordinierte Operationen und eine stärkere Über- 14 Europäisches Parlament und Rat der Europäischen Union, 2007: (EG)
wachung der Seegrenzen auch unter dem Aspekt geschehen, 863/2007, Brüssel, S. 30.
Menschenleben zu retten. „Illegale Einreise, illegaler Tran- 15 Deutschlandfunk: Interview der Woche: Wolfgang Schäuble, am
sit und Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen, die keinen 20.07.2008, unter: http://www.dradio.de/dlf/sendungen/idw_dlf/819159/
(20.08.2008)
internationalen Schutz benötigen, untergraben die Glaub- 16 Kommission der Europäischen Gemeinschaft, 2006: KOM (2006) 402
würdigkeit der gemeinsamen Einwanderungspolitik.“16 Es endg., Brüssel, S. 3.
14 GRUNDLAGEN
Abschiebeagentur Frontex?
Die Rolle von Frontex bei „Identifizierungen“, Rückübernahmeabkommen und
Sammelabschiebungen
Conni Gunßer, Flüchtlingsrat Hamburg
Frontex erklärt seinen Namen mit der Ableitung vom sisted by Frontex / Rückführungen mit Unterstützung von
französischen Wort „frontières extérieures“, und an diesen Frontex“ erwähnt. Im Arbeitsprogramm 2008 von Frontex2
Außengrenzen finden auch die am meisten öffentlich be- wird der Entwicklung der Zusammenarbeit mit zuständi-
kannten Aktivitäten der Agentur statt. Sehr schnell wurde gen Behörden von Drittstaaten sowie internationalen Or-
jedoch klar, dass es mit „interception“ (in etwa: Abfangen, ganisationen wie UNHCR und IOM ein hoher Stellenwert
Aufgreifen) von MigrantInnen an den EU-Außengrenzen zugeschrieben. Unterstützung der Mitgliedstaaten wird bei
nicht getan ist. Insbesondere auf See ist die Frage, „Wohin der Organisierung von 4-5 „joint return operations“ pro
mit den Aufgegriffenen?“ umstritten. Aber auch bei denen, Halbjahr, das heißt: 8-10 Sammelabschiebungen im Jahr
die an Landgrenzen oder Flughäfen festgenommen werden, 2008, zugesichert.
stellt sich diese Frage. Und die Abschiebung derjenigen, die Im COWI-Bericht vom Januar 2009, einer externen
es schaffen, in ein EU-Land einzureisen und vielleicht sogar Evaluierung der Frontex-Aktivitäten, werden für alle diese
länger hier zu bleiben, ist ebenfalls nicht so einfach. Bereiche Erfolge gemeldet, aber für die Ermöglichung von
„Probleme“, bisherige Lösungsansätze … Sammelabschiebungen verlangen einige Mitgliedstaaten
von Frontex mehr Einsatz bei der Beschaffung von Reisepa-
Die meisten Flüchtlinge und so genannte „illegale“ Mig-
pieren. Bezüglich Kooperation mit Drittstaaten werden vor
rantInnen kommen nicht mit einem Pass in der Tasche an.
allem Transitstaaten wie Libyen und Tunesien als Problem
Deshalb muss durch „Identifizierungen“, eher: Verhöre mit
Botschaftspersonal, dubiosen Delegationen aus Herkunfts- benannt. 3
ländern und/oder „ExpertInnen“ aus der EU versucht wer- An beiden Problemen wird mit Nachdruck gearbeitet: Von
den, ihre Nationalität heraus zu bekommen. Sie dann in Frontex organisierte „third country task forces“ reisen auf
dieses Land abzuschieben, ist oft ein Problem mangelnder Anforderung von Mitgliedstaaten, die Abschiebungen pla-
Aufnahmebereitschaft des angeblichen Herkunftslandes, nen, dort hin und führen Anhörungen zur Identifizierung
die erst durch Abkommen und/oder Geldzahlungen herge- durch. 4 Im Frontex-Arbeitsprogramm 2009 sind „Return
stellt werden muss. Beim Aufgriff direkt an der Grenze bzw. Operations“ mit 2,3 Mio. € veranschlagt, darunter fallen
wenn klar ist, aus welchem Land die MigrantInnen in die auch „zwei oder drei gemeinsame Sammelanhörungen zur
EU eingereist sind, wird meist versucht, sie in dieses Tran- Identifizierung und Beschaffung von Reisedokumenten”,
sitland zurückzuschieben. Dafür muss es aber ein entspre- was allein 1,7 Mio. € kosten darf. 5 Der Abschluss eines
chendes Rückübernahmeabkommen auch für Drittstaats- Vertrags mit Libyen, der Abschiebungen dorthin nicht nur
angehörige geben. In allen Fällen muss die Abschiebung aus Italien, sondern auch aus internationalen Gewässern er-
technisch durchgeführt werden, oft gegen den Widerstand laubt, sowie der erste Fall, in dem am 18.6.2009 ein deut-
der betroffenen MigrantInnen und bei Linienflügen evtl. scher Hubschrauber im Rahmen einer Frontex-Operation
auch anderer Passagiere. Nicht zuletzt um solchen Wi- daran beteiligt war, gingen durch die Presse. 6
derstand und Kritik in der Öffentlichkeit zu vermeiden, In einem EU-Papier vom 13.2.2008 wird die Verfügbar-
angeblich aber vor allem aus Kostengründen, werden seit keit von Flugzeugen als weiterer Engpass benannt und des-
2005 auf EU-Ebene gemeinsame Sammelabschiebungen halb vorgeschlagen, dass Frontex sich eigene Passagierma-
mit gecharterten Flugzeugen organisiert. schinen anschaffen oder leasen solle. 7 Laut COWI-Bericht
will Frontex 2009 hierfür konkrete Angebote vorlegen. 8
… und das Eingreifen von Frontex
All diese Bemühungen, in die EU eingereiste, aber hier un- Geht’s nur um die EU-Außengrenzen oder um viel
erwünschte Menschen wieder los zu werden, werden schon mehr?
seit Jahren von Regierungen und Behörden der EU-Staaten All diese Aktivitäten von Frontex haben eigentlich nur
einzeln und immer öfter auch gemeinsam unternommen. noch wenig mit dem Bereich der EU-Grenzen zu tun, son-
Seit einiger Zeit übernimmt Frontex dabei koordinieren- dern spielen sich überwiegend im Innern der EU oder in
de und zunehmend auch organisierende Aufgaben. Schon Drittstaaten ab. Frontex greift dabei auf etablierte natio-
im Bericht über die Aktivitäten von Frontex 2006-20071 nale, bi- und multinationale Praxen bestimmter EU-Staaten
werden neun von Frontex organisierte Fortbildungen zu zurück, entwickelt diese weiter und bietet seine „Produkte“
Sammelabschiebungen und zwölf „Return Operations as- dann wieder den Mitgliedstaaten der EU an, die diese in
21
der Praxis einsetzen. So kann Frontex weiter behaupten, zu ermöglichen“,9 blieben zunächst vergeblich. Sowohl
die Agentur trage gar keine Verantwortung für eventuell Ghana als auch Gambia weigerten sich, eine solche Rolle
menschenrechtswidrige Maßnahmen. Die Mitgliedsstaaten als „Müllabladeplatz“ für in Europa unerwünschte Afrika-
können ihrerseits die Verantwortung mit dem Verweis auf nerInnen zu spielen. Versuche Hamburgs, AfrikanerInnen
die zunehmend nicht nur koordinierende, sondern orga- mit einem so genannten „EU-Standardreisedokument“ ab-
nisierende Rolle von Frontex relativieren. An der Perfekti- zuschieben (z.B. nach Burkina Faso), wurden nach Protes-
onierung der Abschiebelogistik werden zunehmend nicht ten hier und in Afrika auch wieder aufgegeben.
nur Regierungen, sondern immer mehr auch NGOs betei-
Abschiebeanhörungen und Proteste in Deutschland
ligt, da die EU und Frontex erkannt haben, dass ohne deren
Einbeziehung – sowohl in Europa als auch in Transit- und Daraufhin fanden ab 1999 mehr als 25mal so genannte
Herkunftsstaaten – ihr Ziel einer kontrollierten, selektiven „Botschaftsanhörungen“ in der Hamburger Ausländerbe-
Migrationspolitik nicht durchsetzbar ist. Widersprüche zu hörde statt, vor allem mit VertreterInnen westafrikanischer
den Interessen von Regierungen in Herkunftsländern (z.B. Staaten, die reichlich Geld dafür erhielten. 10 Nicht im-
an Rücküberweisungen von MigrantInnen), Proteste von mer waren es BotschaftsmitarbeiterInnen, die die Verhöre
Menschenrechtsorganisationen und vor allem Widerstand durchführten, da einige der diplomatischen Vertretungen
von (potenziellen) MigrantInnen werden deshalb in den (z.B. die von Guinea und Burkina Faso) die Ausstellung
Strategien von Frontex zunehmend berücksichtigt. Di- von Reisepapieren verweigerten bzw. sehr strenge Anforde-
ese These soll im Folgenden am Beispiel der „Identifizie- rungen daran stellten. Die massenhaft aus ganz Deutschland
rungen“, der Kooperations- und Rückübernahmeverträge vorgeladenen AfrikanerInnen protestierten mit lautstarken
und der EU-Sammelabschiebungen verdeutlicht und in Be- Kundgebungen vor der Ausländerbehörde, organisierten
zug auf unsere Widerstandsstrategien hinterfragt werden. Demonstrationen und boykottierten zum Teil auch die
Mit Ausnahme von Vietnam beziehe ich mich dabei vor Anhörungen, so dass Hamburg ab Ende 2005 auf solche
allem auf Afrika, da mir zu Osteuropa, Asien und Lateina- Vorladungen verzichtete. Erst im September 2008 wurde
merika keine entsprechenden Beispiele bekannt sind. wieder eine Delegation (aus Sierra Leone) eingeladen. Da-
gegen fand eine Demonstration von über hundert Afrika-
1. „Identifizierungen“ und Ausstellung von nerInnen und einiger weiterer AktivistInnen statt. Etwa die
Reisepapieren Hälfte der Vorgeladenen boykottierte die Anhörungen trotz
In Deutschland gibt es vor allem in Hamburg schon seit angedrohter Sanktionen.
1995 Auseinandersetzungen um die Identifizierung insbe- Ansonsten fanden in den letzten Jahren Abschiebeanhö-
sondere afrikanischer Flüchtlinge, die angeblich bewusst rungen in anderen deutschen Städten und Flüchtlingslagern
ihre Herkunft verschleierten, damit sie nicht abgeschoben statt. Aber fast überall gab es Proteste dagegen und nur ein
werden können. Die Versuche von Hamburger Behörden, geringer Teil der Vorgeladenen erschien zu den Verhören.
über die Einrichtung einer bundesweiten Arbeitsgruppe Eine dubiose Delegation aus Guinea geriet auch in die Kri-
„eine Rückführung ohne den Nachweis oder die Glaubhaft- tik bürgerlicher Kreise, als sich herausstellte, dass ihr Leiter
machung der Staatsangehörigkeit des betreffenden Staates sich vorher als Schleuser betätigt hatte. Eingestellt wurde
in einen der Gesamtregion zuzurechnenden Vertragsstaat diese Praxis jedoch erst nach dem Tod des guineischen Präsi-
Der öffentliche Diskurs über die irreguläre Migration die Mehrzahl derjenigen, die sich illegalisiert in der EU auf-
nach Europa ist dominiert von kleinen Booten, in denen halten, zuerst legal eingereist sind, aber nach Ablauf des Vi-
Flüchtlinge und MigrantInnen das Meer überqueren, um sums nicht wieder ausgereist sind4 (die neue Figur des „visa-
die Küsten Europas zu erreichen. Dieser Diskurs, diese öf- overstayers“). Ebenso zeigt ein Blick in die aktuellen, von
fentliche Rede über und Inszenierung einer angeblich un- Frontex publizierten Statistiken, dass die Zurückweisungen
kontrollierbaren „Invasion“ Europas geht bis in die 1990er an den Seegrenzen gerade mal ein Drittel aller Zurückwei-
Jahre zurück, als dieses Bild1 das erste Mal vor allem in den sungen darstellen.5 Zwar soll davor gewarnt werden, aus
spanischen Medien aufgegriffen wurde. Bald wurde das mit diesen Zahlen zu schnelle Schlüsse zu ziehen, immerhin ist
Menschen völlig überladene Flüchtlingsboot auf hoher See die Praxis der Zurückweisung an den verschiedenen Typen
zu dem Bild, welches Migration nach Europa symbolisierte. von Grenze höchst verschieden. Dennoch lässt sich allge-
Damit wurde es ebenso zur zentralen argumentativen Figur mein festhalten, dass die Migration über das Meer nur eine
in der Auseinandersetzung um die europäische Flüchtlings- Form unter vielen Formen der Migration ausmacht.
und Migrationspolitik und wurde von allen Seiten benutzt, Frontex hat diese verschiedenen Formen der Migration
um die jeweiligen Forderungen und Vorstellungen zu legi- auch durchaus im Blick, wird doch genau zu diesem Zweck
timieren. die Risikoanalyseeinheit unterhalten. Dennoch zeichnete
So liegt es für die EU-Kommission auf der Hand, dass sich von Anfang an ab, dass die Seegrenzen eine besondere
es eine moralische Verpflichtung für die EU ist, irregulä- Stellung bei Frontex einnehmen. Die ersten größeren ge-
re Migration zu unterbinden, auch gerade um das Elend meinsamen Operationen nach der Gründung der Agentur
und Sterben auf hoher See zu beenden. Diese Argumen- 2004 fanden an den Seegrenzen statt, und es waren Opera-
tation passt sich nahtlos in den EU-Menschenrechtsinter- tionen, die schnell in Umfang wie auch Dauer anwuchsen.
ventionismus ein. Damit ist die Figur des Bootsflüchtlings Während an den Landgrenzen noch in kleinen Pilotprojek-
nicht nur Rechtfertigung für eine Aufrüstung der Grenze ten versucht wurde zu ergründen, was europäischer Grenz-
und eine Ausweitung der Aktivitäten eines europäisierten schutz in gemeinsamer Verantwortung denn überhaupt
Grenzschutzes. Gleichzeitig dreht die EU die alte Forde- bedeuten solle, wurde er auf hoher See schon praktiziert.
rung „Fluchtursachen bekämpfen, nicht Flüchtlinge“ um Diese Sonderstellung der Seegrenzen ist auch im Budget
und integriert Grenzschutz in die größere Folie einer Po- reflektiert, in dem die Ausgaben für Seeoperationen schon
litik des „Migration and Development“ (Migration und immer den größten Einzelposten dargestellt haben.
Entwicklung), die eine breit angelegte, sozialtechnologische Dies führte Christoph Marischka 2007 zu der Frage, wa-
Intervention in den Herkunfts- und Transitländern der Mi- rum Frontex das Meer so liebt.6 Die besondere Aufmerk-
gration legitimiert.2 samkeit, die Frontex den Seegrenzen zukommen lässt, er-
Aber auch auf der Seite der KritikerInnen des gegenwär- klärte er mit deren besonderem Charakter: Sie stellen keine
tigen Standes des Flüchtlingsschutzes in der EU spielt die klare Grenzlinie dar, mit klaren Grenzposten und Schlag-
Figur des erschöpften oder gar toten Bootsflüchtlings eine bäumen, sondern sind ein weiter, diffuser Raum, eine „ver-
zentrale Rolle, die bedient wird, um die Menschenfeind- schwommene Grenze der Rechtsstaatlichkeit“ - ein exzel-
lichkeit und Amoralität der EU anzuprangern und Verbes- lentes Experimentierfeld für eine Agentur, die eine neue
serungen einzufordern.3 Form des „border management“ erfinden, erproben und
Dabei ist allen beteiligten Akteuren klar, dass diese oft- ultimativ etablieren will.
mals bemühte Figur im eigentlichen Migrationsgeschehen Auch im Jahr 2009 stellt sich die Frage nach Frontex‘ Lie-
zwar keine Ausnahme, aber sicherlich nicht die Regel dar- be zum Meer immer noch, denn auch wenn Frontex daran
stellt. Denn selbstverständlich bedient sich Migration auch geht, die Operationen an Land- und Luftgrenzen wesentlich
immer der modernsten Formen der Mobilität, und selten auszudehnen, so sind die Seeoperationen immer noch die
spielt sie sich in einem total kriminalisierten Raum ab, son- umfangreichste operative Aktivität von Frontex. Konkret
dern bewegt sich in den Grauzonen der Staatlichkeit und danach gefragt, warum es diese besondere Aufmerksamkeit
funktioniert bestehende rechtliche Garantien um. So ist es gibt, antwortet ein Frontex-Mitarbeiter7 aus der Abteilung
sowohl Frontex als auch der EU-Kommission bewusst, dass Seeoperationen, dass die Seegrenzen nun mal am schwierig-
27
sten zu beherrschen seien, dass sie einen ganz besonderen Cayucos und Pateras (die kleinen Boote) unterbunden wer-
und größeren Aufwand an Ressourcen und Personal verur- den. 2009 wurde diese Form der Kooperation nach Aussa-
sachen würden als etwa ein einzelner Grenzposten zu Lande gen des Frontexmitarbeiters auf Patrouillen an Land ausge-
und dass sie daher das Feld seien, in denen die europäische weitet, was schon das Ablegen der Boote verunmöglichte.
Grenzschutzagentur am meisten ausrichten könne. Zwar gab es immer wieder Meldungen, wie es MigrantIn-
Die Frage nach Frontex und dem Meer stellt sich nun nen gelungen sein soll, die Patrouillen der Frontexoperation
auch deswegen im Jahr 2009 immer noch, weil sich in auszutricksen,9 dennoch meldete AFP am 1. Juni 2009, dass
diesem Jahr erweisen könnte, wie richtig beide Antworten seit zwei Monaten kein einziges MigrantInnenboot auf den
waren. Denn 2009 könnte als das Jahr in die Geschich- Kanarischen Inseln angekommen sei.10 Nun ist es müßig
te eingehen, in dem die Migration, die in kleinen Schiffen zu spekulieren, ob tatsächlich die gemeinsamen Patrouillen
über das Meer gen Europa ging, zum Erliegen kam, zumin- der ausschlaggebende Faktor für diesen Rückgang der An-
dest was den euro-afrikanischen Teil des Atlantiks und des künfte sind, oder ob es auch mit der weltweiten ökonomi-
westlichen und zentralen Mittelmeers betrifft. So hätte der schen Krise zu tun hat. Der stellvertretende Frontexdirektor
Frontex-Mitarbeiter in der Tat Recht gehabt, mit seiner Gil Arias ist jedenfalls der Meinung, dass die Aktivitäten
Behauptung, im Meer ließe sich am meisten bewirken. Er Frontex ausschlaggebend seien11 und sicherlich spielt auch
ließ sich jedoch weniger über die Mittel aus, die diese Ent- die Tatsache, dass eine Überfahrt aufgrund der mittlerweile
wicklung beförderten. Diese Frage verweist zurück auf die funktionierenden Rückübernahmeabkommen noch weni-
„verschwommene Grenze der Rechtsstaatlichkeit“. ger Chancen auf einen Aufenthalt in der EU bietet, eine
Rolle.12 Fakt ist jedenfalls, dass sich Frontex im Verbund
Es war einmal vor den Kanarischen Inseln...
mit anderen EU-Mitgliedstaaten mittlerweile aktiv darum
Die Geschichte der Frontex Operation Hera ist an ande- bemüht, dass „Erfolgsrezept“ Vorverlagerung der Grenz-
rer Stelle schon oft erzählt worden.8 Es reicht zusammenfas- kontrolle in Anrainerstaaten in den Mittelmeerraum zu ex-
send zu sagen, dass Spanien und Frontex mit der Operation portieren, wie hier gezeigt werden soll.13
Hera, der es um die Unterbindung der irregulären Migrati-
on von Senegal, Mauretanien und den Kapverde-Inseln auf Von Seglern und Frachtern
die Kanarischen Inseln geht, eine neue Praxis der Migra- Bis ins Jahr 2008 unterhielt Frontex eine weitere See-
tionskontrolle an der nach Westafrika vorverlagerten See- operation im Bereich Malta und Lampedusa. Unter dem
grenze erfunden haben. Über das Seahorse-Abkommen, das Namen Nautilus wurde gemeinsam mit Italien und Malta
wesentlich mehr Aspekte als nur Migration umfasst, wurde versucht, ähnliche Resultate wie vor der westafrikanischen
Spanien und damit auch von Spanien geführten Frontex Küste zu erreichen. Ziel der Operation war die Unterbin-
Operationen von den drei Ländern das Recht eingeräumt, dung der irregulären Migration, vor allem ausgehend von
in den jeweiligen Hoheitsgewässern gemeinsame Patrouil- Libyen. 2006 fing Frontex, parallel zur Operation Hera,
len durchzuführen. Somit konnte ein in See stechen der mit dem Einsatz von Verhörexperten an, um mehr über
die Migrationsrouten zu lernen und Abschiebungen vorzu-
bereiten. Gleichzeitig wurde mit Hilfe von Seepatrouillen
versucht, die Überfahrten zu unterbinden. Nach den ersten
Operationen des Jahres 2006 gab sich Frontex-Exekutivdi-
rektor Ilkka Laitinen auch noch sehr optimistisch: „Ich bin
sehr zufrieden mit dem erfolgreichen Verlauf der Operati-
on. Es war ein Pilotprojekt und ich bin sehr froh, dass […]
der Zeitplan eingehalten werden konnte. Aus der Sicht der
Koordination lief die Operation sehr glatt und sie war ein
gutes Beispiel für die Effektivität gemeinsamer Anstrengun-
gen.“14
Doch schon 2007 offenbarte sich die Fragilität der Kon-
struktion einer europäischen Grenzschutzagentur, die die
Souveränität der Mitgliedstaaten nicht einschränken soll
und daher auch über keine eigenen Einsatzressourcen ver-
fügt: Am 3. August 2007 erklärte der damalige EU-Innen-
kommissar Frattini die Operation offiziell für gescheitert.
Grund war die mangelnde Bereitschaft der Mitgliedstaaten
der EU, die zugesagten Objekte wie etwa Schiffe und Hub-
schrauber inklusive Personal auch tatsächlich an Frontex
auszuleihen. Weiter war die Operation auch nicht effektiv,
denn „[w]ie Frontex-Sprecher Michal Parzyszek einräumte,
hätten die Menschen-Schleuser während der ersten Nautilus-
Go East!
„Europäische Nachbarschaftspolitik“ und Frontex in der Ukraine
Hagen Kopp, kein mensch ist illegal/Hanau
Dass 2005 das Frontex-Hauptquartier in Warschau eröff- übernommen. Der genannte Knast ist Teil eines umfas-
net wurde, kann durchaus als Wink mit dem Grenzzaun- senden Asyl- und Migrationsprogrammes, das seit 2004
pfahl verstanden werden. Die „illegale Einwanderung“ aus im Rahmen der sog. „Europäischen Nachbarschaftspolitik“
und über den Osten wurde und wird in der EU als die zen- (ENP) installiert wird. „Das Ziel der ENP besteht darin,
trale Herausforderung der Migrationskontrolle angesehen. die Entstehung neuer Trennlinien zwischen der erweiterten
EU und unseren Nachbarn zu verhindern und stattdessen
Die Ostroute und IOM
Wohlstand, Stabilität und Sicherheit aller Beteiligten zu
Spätestens seit Beginn der 90er Jahre geriet die Ukraine stärken“, formuliert die Europäische Kommission euphe-
nicht nur als Auswanderungsland sondern auch als wesent- mistisch. Denn tatsächlich „wird für jeden EU-Anrainer-
liche Durchgangsstation der „östlichen Schlepperroute“ staat ein individueller Plan entworfen, der immer auch
in den Blick der so genannten Risikoanalysten. Das Land migrationsspezifische Regelungen impliziert. Eine konkrete
war kein EU-Kandidat und deswegen im Unterschied zu Beitrittsperspektive wird nicht offeriert, aber als Belohnung
seinen westlichen Nachbarstaaten Polen, Slowakei, Un- winken kooperativen Staaten Visa- und Handelserleichte-
garn und Rumänien auch nicht zur Einführung der sog. rungen sowie spezielle Förderprogramme, wofür die EU
Schengen-Standards verpflichtet. Vor diesem Hintergrund einerseits eine effiziente Grenzsicherung und andererseits
übernahm zunächst die IOM1 die Führungsrolle für die funktionierende Rückübernahmeabkommen einfordert.
Vorverlagerung des EU-Migrationsregimes in das wich- Für die Ukraine sieht das ENP-Programm von 2007 bis
tigste Transitmigrationsland des Ostens. Bereits 1998 trifft 2010 ein Gesamtfördervolumen von 494 Million Euro vor,
ein IOM-Expertenteam mit hochrangigen ukrainischen wovon 30 Millionen Euro im Rahmen der „Readmission-re-
Regierungsbeamten in Kiew zusammen, um ein „Migra- lated Assistance“ zur Etablierung von fünf weiteren Internie-
tions-Management-Programm“ in Angriff zu nehmen. Es rungslagern für MigrantInnen bereitgestellt werden.4 Und
richtete sich auf mehreren Ebenen gegen die Transitmigra- im so genannten GDISC Ukraine Projekt5 übernehmen
tion: Erfassung und Dokumentation der Flüchtlinge und verschiedene EU-Staaten funktional differenzierte „Paten-
MigrantInnen, Einrichtung eines ersten Abschiebelagers in schaften“: So soll Ungarn die Ukraine dabei unterstützen,
Pawschino,2 Ausbildungskurse für die ukrainischen Border- acht „Screening Centres“ zu etablieren, deren Funktion die
guards an der US-mexikanischen Grenze, und Ausrüstung Selektion zwischen „Schutzbedürftigen“ und „illegalen Mig-
eines Pilotprojektes in Kharkiv (an der russischen Grenze) rantInnen“ ist, wobei diese nicht erst an den europäischen
mit Funk- und Infrarottechnik. „Im Laufe ihrer Arbeit Außengrenzen erfolgen, sondern vielmehr an die Ostgren-
sahen sich die IOM-Spezialisten mit einem für sie über- zen zu Russland verlagert werden soll. Hier sollen einer-
raschenden Problem konfrontiert: Sie mussten feststellen, seits „initial interviews“ (Erstbefragungen) durchgeführt
dass über 70 % der TransitmigrantInnen legal in die Ukra- werden, anderseits Internierungsmöglichkeiten für bis zu
ine einreisen. Demzufolge wurde der Regierung Nachhilfe zehn Tage geschaffen werden. Weitere Bereiche des GDISC-
bei neuen Gesetzes- und Visaregelungen gegeben. Immigra- Projektes sind: Unterstützung bei der Durchführung von
tion in die Ukraine wurde somit unter Anleitung der IOM Asylverfahren durch polnische Behörden, Informationen
zuerst kriminalisiert, um sie danach mit allen – wiederum über die Herkunftsstaaten durch die Slowakei, Weitergabe
von der IOM zur Verfügung gestellten – Mitteln zu be- von „best-practice“-Erfahrungen bei der Rückführung aus
kämpfen.“3 Großbritannien, Ausbau des Visaregimes durch die Nie-
European Neighbourhood Policy (ENP) derlande sowie die langfristige Internierung „illegaler Mig-
Die IOM ist bis heute in der Ukraine aktiv, 2008 ins- ranten“ durch tschechische Verbindungsbeamte.
besondere bei der Einrichtung des Abschiebegefängnisses Frontex Five Borders
in Zhuravychi/ Volyn, einem nach EU-Standards und Diese europaweite „Arbeitsteilung“ wird schließlich
mit EU-Mitteln errichteten nagelneuen Knast. Doch die durch die ergänzenden Aktivitäten der EU-Grenzschutz-
Federführung in der Zurichtung zum „perfekten Puffer- agentur komplettiert. Als Startschuss ins Frontexzeitalter
staat” haben mittlerweile EU-Behörden und Institutionen dürfte für die Ukraine der 11. Juni 2007 ins Geschichts-
33
buch geschrieben werden. Noch unter deutscher EU-Prä- bungen tschetschenischer Flüchtlinge aus der Slowakei in
sidentschaft wurde an diesem Tag in Luxemburg ein erstes die Ukraine berichtet. Und Bordermonitoring-Initiativen
Abkommen zwischen Frontex und der Ukraine ausgehan- in Ungarn und in der Westukraine haben im Frühsommer
delt. Schäuble führte den Vorsitz bei den Verhandlungen, 2009 erneut recherchiert, dass somalischen wie auch afgha-
dabei waren Franco Frattini6 und von ukrainischer Seite nischen Flüchtlingen von ungarischen Grenzpolizisten re-
der Innen- sowie der Justizminister. „Um illegale Migra- gelmäßig der Zugang zum Asylverfahren verwehrt wird. Im
tion und organisiertes Verbrechen benötigt es unbedingt ungarischen Grenzland aufgegriffen werden die Betroffenen
einer gemeinsamen Reaktion“ wird Schäuble auf diesem den ukrainischen Grenzern übergeben, die sie bis zu sechs
Treffen zitiert, und die Verabredungen im Hinblick auf die Monate im elenden und völlig überfüllten Abschiebelager
„Stärkung der Grenzsicherheit durch Intensivierung der Chop internieren.8 Wie in der Mittelmeerregion von grie-
Grenzkontrollen sowie Informationsaustausch“ waren of- chischen und italienischen Borderguards praktiziert (und
fensichtlich die Grundlage für eine erste Frontexoperation, dort von Frontex zumindest gedeckt, wenn nicht unter-
die unmittelbar darauf unter dem Namen „Five Borders“ stützt!) wird das Verbot der Zurückweisung (Non-Refoule-
begann und erstmals ukrainische Grenzbeamte einbezog. ment) also auch an der östlichen Außengrenze systematisch
Das von Juli bis Dezember 2007 laufende Pilotprojekt7 un- gebrochen, die Genfer Flüchtlingskonvention ist auch an
terteilte sich in vier Unterprojekte, die als Ursus I bis IV diesem Hot-Spot quasi außer Kraft gesetzt. Die allseitigen
jeweils die Zusammenarbeit der Grenzschutzeinheiten an Bemühungen der EU, die Ukraine mit allen Mitteln zum
der slowakischen, der polnischen, der rumänischen sowie sicheren Drittstatt zu erklären, erscheinen insofern als Ver-
der ungarischen Grenze zur Ukraine verbessern sollten. Mit such, die anhaltende illegale Praxis der Rückschiebungen
insgesamt 350.000 Euro war das Budget der Einsätze noch zumindest für die Zukunft zu legalisieren.
relativ knapp gehalten, auch die „Ausbeute“ - mit ca. 100
Anmerkungen
aufgegriffenen „Illegalen“ im Grenzbereich und 250 Einrei-
1 IOM: International Organization for Migration, Vorreiter in Sachen
severweigerungen - erscheint eher symbolisch. Doch ging globalen Migrationsmanagement, siehe http://www.noborder.org/iom/
es Frontex offensichtlich weniger um Effizienz als um das index.php.
erstmalige Einbinden ukrainischer Grenzbehörden in die 2 Das Internierungslager in Pawschino in Transkarpatien wurde Ende
Kontrolle der östlichen EU-Außengrenze. Und die slowa- der 90er Jahre von der IOM eingerichtet und betrieben, ein militarisier-
tes Hungerlager, das zunehmend in die Kritik geriet und im Dezember
kisch-ukrainische Grenze steht auch im Fokus der Frontex- 2008 - auch aufgrund von internationaler Öffentlichkeit und Protestak-
Operationen mit dem Titel „Jupiter“ 2009, denn dort sei tionen – geschlossen wurde, siehe http://pawschino.antira.info/.
„der Druck der illegalen Migration anhaltend hoch“. 3 Zitiert nach der Broschüre „Stop IOM. Globale Bewegung gegen Mi-
grationskontrolle“, S. 22, herausgegeben vom Antirassismus-Büro Bre-
Rückübernahmeabkommen und Refoulement men 2004.
Abschließend sei kurz das vielleicht wichtigste Vertrags- 4 Zitiert nach: Speer, Marc (2009): „Die Ukraine als migrantisch genutz-
tes Transitland“. Publikation in Vorbereitung.
werk kommentiert, das in den kommenden Jahren die
5 General Directors’ Immigration Services Conference. Die GDISC
Ukraine im wahrsten Sinne des Wortes zum Brennpunkt wurde 2004 als EU-Netzwerk für Anpassungsprogramme in Rotterdam
machen dürfte. Was in den ENP-Prozessen wie auch beim gegründet. „Capacity Building and Technical Support to Ukrainian au-
Luxemburger Frontex-Treffen bereits eingefädelt wurde, trat thorities to Effectively Respond to Irregular Transit- Migration (ERIT)
nämlich zum Januar 2008 in einem ersten Schritt in Kraft: – A comprehensive and complementary approach to migration manage-
ment support in Ukraine“ lautet der volle Titel, der zudem unter Feder-
das Rückübernahmeabkommen zwischen der EU und der führung der Wiener ICMPD umgesetzt wird. Offensichtlich woll(t)en
Ukraine. Zunächst geht es dabei um die „Rücknahme“ uk- nahezu alle wichtigen Migrationsmanagement-Agenturen in der Ukrai-
rainischer Staatsangehöriger, die in EU-Staaten aufgegriffen ne mitmischen.
und schneller abgeschoben werden sollen. In zweiter und 6 Frattini war damals noch EU-Kommissar für Justiz und Inneres und
war mit Schäuble zusammen Initiator der so genannten Future-Group,
entscheidender Linie soll es aber ab Januar 2010 auch um
bevor er dann 2008 unter Berlusconi als Außenminister wieder in die
Drittstaatsangehörige gehen, also Flüchtlinge und Migran- italienische - immer offener rassistische - Nationalpolitik einstieg.
tInnen, die durch die Ukraine in die EU weitergereist sind. 7 „Pilotprojekte werden durchgeführt, um neue Methoden und Elemen-
Nicht nur, dass die Ukraine mit zusätzlichen tausenden von te im Grenzschutz zu entwickeln ...“ - siehe Beitrag von Stefan Geissler
Rückschiebungen (infra-)strukturell völlig überfordert wäre, zu den Frontex-Operationen.
8 Chop ist eine ukrainische Grenzstadt zu Ungarn. Die unhaltbaren
vielmehr weisen die genannten Bemühungen im Rahmen Zustände im dortigen Abschiebeknast wurden bereits 2007 detaillierter
des ENP-Programmes und insbesondere das Rückübernah- beschrieben, siehe: http://pawschino.antira.info/.
meabkommen auf die strategische Absicht der EU hin, die
Ukraine so bald als möglich zum sicheren Drittstaat erklä-
ren zu wollen. Denn trotz neuer Abkommen sind die EU-
Grenzer eigentlich verpflichtet, zwischen „illegalen Migran-
tInnen“ und asylsuchenden Flüchtlingen zu unterscheiden.
Solange die Ukraine kein sicherer Drittstaat ist, dürfen theo-
retisch Letztere nicht zurückgeschickt werden. Doch bereits
2006 hatte das UNHCR von unrechtmäßigen Rückschie-
34 FRONTEX IM EINSATZ
Eine neue Staatsgewalt? ersten Mal eine Verordnung haben, die festlegt, dass auslän-
Frontex ist keine EU-Polizeieinheit, Frontex ist auch dische Beamte gewisse Befugnisse in einem anderen Land
keine europäische Küstenwache. Frontex koordiniert aber haben.“ Diese Befugnisse umfassen das Recht, Menschen
mittlerweile die Küstenwachen der südlichen EU-Staaten anzuhalten, zu kontrollieren, sie unter Umständen zu ver-
und ist eine Agentur, die sich mit der Frage beschäftigt, wie hören und Zwang auszuüben, Waffen zu tragen und diese
man dem Ziel, europäische Sicherheitskräfte mit polizeili- unter bestimmten Umständen einzusetzen, denn: „Waffen
chen Befugnissen zu schaffen, näher kommen kann. Ob- spielen leider eine Rolle beim Grenzschutz.“1 Zuvor hatten
wohl die europäische Integration in vielen Bereichen mit die Beamten diese Befugnisse offiziell nicht gehabt, d.h., die
großer Geschwindigkeit voranschreitet, scheint dieses Ziel Betroffenen hätten sich einer Kontrolle oder Identitätsfest-
aber noch in weiter Ferne zu liegen. Eigene Polizeikräfte der stellung durch Grenzpolizisten aus Drittstaaten verweigern
EU setzen voraus, dass die EU selbst zu einer Art Staat wird. können, bis Beamte des Einsatzlandes auf der Grundlage
Um sie zu kontrollieren, sind ein europäisches Ordnungs- des nationalen Rechts entsprechende Forderungen an sie
recht und eine Strafprozessordnung notwendig, die über richten - sofern sie über die Rechtslage informiert gewesen
den nationalen Rechtsordnungen stehen und um sie zu le- wären.
gitimieren, ein Staatsvolk, das sich stärker mit der EU, als Das Europäische Gemeinschaftsrecht setzt sich zusammen
mit deren Mitgliedstaaten identifiziert. Denn der Rechts- aus den Verträgen zu den Europäischen Gemeinschaften
staat setzt zumindest als theoretische Annahme voraus, dass und der EU (Primärrecht) sowie den von der EU ergange-
sich die Bürger der Staatsgewalt unterwerfen, sie als höchste nen Rechtsakten, wie eben Verordnungen (Sekundärrecht).
Gewalt anerkennen. Alles andere ist Tyrannei und Bürger- Die Verordnung über die Einrichtung der RABITs und
krieg. Eine Einführung solcher Polizeikräfte ohne die not- die erweiterten Befugnisse der Beamten bei gemeinsamen
wendige Kontrolle und Legitimation käme einer Okkupati- Operationen wurde per „Mitentscheidungsverfahren“ ver-
on gleich. Doch das ist nicht der Hauptgrund, warum viele abschiedet. Sie basiert auf einem Vorschlag der Kommissi-
Mitgliedstaaten Widerstand gegen diese leisten. Diese Staa- on, der vom Rat der Innen- und Justizminister überarbeitet
ten selbst würden damit immens an Bedeutung verlieren, und anschließend dem zuständigen Ausschuss des europä-
wenn sie die Kompetenz abgeben würden, zu entscheiden, ischen Parlaments vorgelegt wurde. Dieser verfasste darauf-
wer wann wie rechtmäßige Gewalt anwenden darf. Dass es hin einen Bericht mit Änderungsvorschlägen, der mit 42 zu
gerade eine „autonome Agentur europäischen Rechts“ wie 4 Stimmen angenommen wurde. Durch Zustimmung des
Frontex sein soll, die bestimmt, wer Waffen tragen darf und Rates zu einem Text, der diese Änderungen teilweise be-
wann diese eingesetzt werden dürfen, mag auch die ganz rücksichtigte und dessen Veröffentlichung im Amtsblatt der
praktischen Befürchtungen erhöhen, den Überblick zu ver- Europäischen Union wurde diese Verordnung rechtskräftig
lieren, wer da im eigenen Land mit welchen Befugnissen Teil des Gemeinschaftsrechtes mit „Durchgriffswirkung“.
welche Staatsgewalt ausübt. Mit diesem alltäglichen Akt europäischer Verwaltung wur-
Die Verordnung des Rates (Nr. 863/2007), mit der die de sozusagen eine neue Staatsgewalt geboren.
„Schnellen Eingreifkräfte für den Grenzschutz“ (Rapid Nationale Renitenz
Border Intervention Teams, RABITs) rechtlich begründet
Bereits der Vorschlag der Kommission2 machte in seiner
wurden, kann als Schritt hin zu einer solchen Okkupati-
Begründung für das Gesetzesvorhaben keinen Hehl aus der
on begriffen werden. Wie der oberste Justiziar von Frontex,
Absicht, „dass einheitlich geregelt
Sakari Vuorensola, gegenüber dem britischen Oberhaus an-
werden muss, welche Aufgaben Grenzschutzbeamte eines
gab, würde diese Verordnung „direkt wirken“ und nationa-
Mitgliedstaats bei einer
les Gesetz „binden und ersetzen“. „Diese Verordnung legt
gemeinsamen Aktion im Hoheitsgebiet eines anderen
fest, dass Mitglieder der RABITs sowie Gastbeamte in den
Mitgliedstaats wahrnehmen dürfen“. Eingebettet wurde
normalen gemeinsamen Operationen auf der Basis dieses
diese Absicht aber in eine Rhetorik des Ausnahmezustands:
Teils des Gemeinschaftsrechts exekutive Befugnisse haben,
Bei „außergewöhnlichen Problemen im Zusammenhang
alle exekutiven Befugnisse, die nötig sind, um den so ge-
mit der Kontrolle ihrer Außengrenzen“, einem „Massen-
nannten Schengen-Grenzkodex zu erfüllen … Das ist eine
zustrom illegaler Einwanderer“, sollten die Mitgliedstaaten
wichtige Entwicklung im Gemeinschaftsrecht, dass wir zum
35
„zeitlich befristet“ auf „Krisenreaktionsteams“ bzw. „Sofort- ordnung die Souveränität der Mitgliedstaaten ein, indem
einsatzteams“ zurückgreifen können. Die Subsidiarität sei sie deren Verfügungsgewalt über die eigenen Beamten be-
gewährleistet, da nur eine EU-Verordnung, nicht jedoch schneidet. Zwar müssen die Mitgliedstaaten diese einmalig
einzelstaatliche Gesetze „ein ausreichendes Harmonisie- für den Pool, aus dem die jeweiligen „Krisenreaktionsteams“
rungsniveau“ sicherstellen könnten. Diese Rhetorik wurde zusammengestellt werden, zusagen, eine Abberufung in ei-
in den weiteren Schritten der Gesetzgebung angereichert, es nen Einsatz erfolgt dann jedoch durch Frontex und die Mit-
bedurfte jedoch der Intervention des Parlaments, damit sie gliedstaaten dürfen sich deren Entsendung nur verweigern
auch Eingang in den Gesetztext fand, indem das Parlament wenn sie sich - wiederum - „in einer außerordentlichen Si-
vorschlug, in diesem festzuhalten, dass „[d]ie Entsendung tuation [befinden], die die Erledigung nationaler Aufgaben
von Soforteinsatzteams für Grenzsicherungszwecke, die für erheblich beeinträchtigt.“ „Compulsory Solidarity“ - „Ver-
einen begrenzten Zeitraum Unterstützung leisten sollen, pflichtende Solidarität“ nennt Frontex das.
[…] in Ausnahme- und Notsituationen erfolgen [sollte]“.3
Die „Übungen“ der RABITs
Dieser Vorschlag wurde übernommen. Der Vorschlag, den
Mitgliedstaaten einzuräumen, die Befugnisse der Gastbe- Obwohl das Ziel der bisherigen RABIT-Einsätze vermut-
amten einzuschränken, wurde insofern abgewandelt, als lich vorrangig darin bestand, die Fragen des Tragens von
diese in der gültigen Fassung nur Einschränkungen fest- Waffen und der potenziellen Anwendung von Waffenge-
legen dürfen, die ebenso für ihre eigenen Grenzbeamten walt zu klären und die Möglichkeiten hierzu gegenüber
gelten. den Mitgliedstaaten zu demonstrieren und durchzusetzen,
Die Mitgliedstaaten - abgesehen von Deutschland, das bei steht die Waffengewalt keineswegs im Zentrum des geplan-
der polizeilichen Zusammenarbeit und Integration führend ten Grenzmanagements - auch nicht in „Notsituationen“.
und fordernd ist - geben sich von den praktischen Auswir- Denn die unmittelbare Gewalt wird überwiegend in die
kungen der RABIT-Verordnung wenig begeistert und zei- Herkunfts- und Transitstaaten verlagert. Auch in „Notsi-
gen sich ein wenig renitent. Spürbar ist schon die skeptische tuationen“ soll die Aufgabe der europäischen Grenzschüt-
Distanzierung in einem Bericht des britischen Oberhauses, zer vorrangig darin bestehen, ankommende MigrantInnen
wonach die neuen Befugnisse nur „nach Ansicht“ des Fron- zu befragen (auch zu ihren Migrationswegen, um die Ge-
tex-Justiziars Vuorensola nun unmittelbar „auf der Grund- walt dorthin verlagern zu können) und ihre Dokumente zu
lage des Gemeinschaftsrechts ausgeübt“ werden könnten. prüfen. Doch auch dabei ist das Tragen von Waffen nach
Die Briten, die der Einführung einer EU-Polizei ohnehin Ansicht von Grenzschützern wichtig, da es der Einschüch-
skeptisch gegenüberstehen, stellen in ihrem Bericht hinge- terung und Abschreckung der Befragten und Kontrollierten
gen unumwunden fest, dass die Haftbarkeit eines Beamten, dient und den Kontrollierenden Autorität verleiht. Wir ha-
der in Frontex- oder RABIT-Einsätzen ben es aber auch bei den RABITs nicht mit einer martialisch
von diesen Befugnissen Gebrauch macht, unklar sei. Dies ausgerüsteten Gendarmerieeinheit zu tun, sondern über-
bestätigte auch ein maltesischer Grenzschützer gegenüber wiegend mit Beamten, die für Verhöre an den Land- und
dem Oberhaus, der zugleich seinem Unbehagen Ausdruck Luftgrenzen, im Umgang mit technischen Geräten und bei
verlieh, mit bewaffnetem Personal aus anderen Staaten der Erkennung gefälschter Dokumente besonders ausgebil-
zusammenzuarbeiten, bei dem er unsicher sei, wie dieses det sind.5 Dabei tragen sie die Uniformen der jeweiligen
an der Waffe ausgebildet sei und welche Regeln es beim nationalen Polizeien, denen sie angehören, eine Armbinde
Schusswaffengebrauch befolge.4 mit EU-Logo verweist aber darauf, dass sie zugleich auf der
Bei einem ersten Übungseinsatz in Portugal im Novem- Grundlage des Gemeinschaftsrechts territorial erweiterte
ber 2007 zeigten sich auch die dortigen Behörden leicht Befugnisse haben. Für Einsätze an den Seegrenzen, wo es
widerspenstig. Der Einsatz der neuen Befugnisse sollte un- tatsächlich häufiger um das auch physische „Zurückdrän-
ter möglichst realistischen Bedingungen erfolgen, weshalb gen“ und „Umleiten“ geht, sind wenige Beamte aus dem
die 16 teilnehmenden Grenzschützer aus 16 verschiedenen Pool der RABITs ausgebildet.
Mitgliedsstaaten aufgefordert waren, ihre Dienstwaffe mit- So waren bei der ersten „Übung“ der RABITs in Por-
zubringen und zu tragen. Die portugiesischen Behörden tugal acht der eingesetzten internationalen Beamten mit
machten jedoch geltend, dass diese eine portugiesische „front line interviews“, also Erstbefragungen der ankom-
Waffenlizenz benötigen würden, um in dem Land eine menden Passagiere, beschäftigt, fünf mit der Untersuchung
Waffe führen zu dürfen. Frontex hingegen vertrat die Posi- verdächtiger Ausweispapiere und die restlichen mit einge-
tion, dass sie allein aufgrund der RABIT-Verordnung hierzu henden Befragungen derjenigen, deren Recht, in die EU
befugt seien. Nach „einigen Diskussionen“ ließen sich die einzureisen, bezweifelt wurde. Diese Untersuchungen und
portugiesischen Behörden zwar überzeugen, dass die Ver- Befragungen von Reisenden aus Lateinamerika fanden kon-
ordnung des Rates über dem nationalen Gesetz steht und kret mit realen Passagieren statt, wobei von den erweiterten
deshalb keine Lizenzen notwendig seien, sie stellten den Befugnissen Gebrauch gemacht wurde, obwohl die „Aus-
eingesetzten Beamten dann aber dennoch solche aus, um nahme- und Notsituation“ nur aus einem fiktiven Szenario
auch dem nationalen Recht oberflächlich Genüge zu tun. in einer fiktiven „Zentralamerikanischen Republik (CAR)“
Auch in einer anderen Hinsicht schränkt die RABIT-Ver- und einem fiktiven Netzwerk von Dokumentenfälschern
36 FRONTEX IM EINSATZ
basierte (Dieses Szenario wird ausführlich im Beitrag „Das zu sehen und mit Hilfe eines Satellitennavigationsgeräts,
nachrichtendienstliche Vorfeld beschrieben“).6 Ob und wie das mit der Kamera gekoppelt ist, auf den Meter genau
viele Menschen wegen der auf der Grundlage eines fikti- zu orten. Böhm drückt die Sprechtaste seines Funkgeräts:
ven Szenarios erweiterten Befugnisse festgenommen oder ‚Zugriff!‘… Neidvoll bestaunen die griechischen Polizisten
zurückgeführt wurde, ist nicht bekannt. auch die Herzschlag-Detektoren, die finnische Grenzpoli-
Auch die zweite Übung der RABITs während der slowe- zisten während der Frontex-Übung am Grenzübergang bei
nischen Ratspräsidentschaft im April 2008 an der slowe- Kipi vorstellen. Hier rollen vor allem türkische Lastzüge
nischen Außengrenze basierte auf einem fiktiven Szenario, nach Griechenland, die dann vom westgriechischen Hafen
nach dem sich die Zahl derer, die sowohl an den Grenzüber- Igoumenitsa per Fähre nach Italien übersetzen. Dies ist eine
gängen als auch an der grünen Grenze über Slowenien in beliebte Route für die Schleuser, die Flüchtlinge in Lastwa-
den Schengenraum einreisen wollen, plötzlich erhöht hätte. gen versteckt nach Europa bringen. Mit einem Herzschlag-
Entsprechend setzten sich die 30 Mitglieder des RABITs Detektor können sie aufgespürt werden.“ Seit der RABIT-
aus Experten für das Erkennen gefälschter Dokumente und Übung, die der bulgarische Auslandsrundfunk übrigens als
für intensive Durchsuchungen an den Landgrenzen und „Militärübung“ bezeichnet hat, prüfen nun die griechischen
Experten für Überwachungstechnologie (Nachtsichtgeräte Behörden ebenfalls die Anschaffung solcher Technologien.
und thermodynamische Kameras) an der grünen Grenze Eine Tatsache, die der FR-Autor offensichtlich begrüßt,
zusammen. Ziel der Übung sei es wiederum gewesen, „zu wenn er im Zusammenhang mit den xenophoben Krawal-
testen, wie die Mitglieder der Schnellen Eingreifkräfte für len in griechischen Städten und „Straßenzüge[n, die] fest
den Grenzschutz ihre Befugnisse in der Praxis anwenden“. in der Hand illegaler Zuwanderer“ seien, schreibt: „Dass
Zugleich betonte der slowenische Grenzschutz, dass die die Griechen mit der Anschaffung solcher Geräte bisher
Zahl der illegalen Übertritte an der betroffenen Außen- zögerten, ist auch deshalb unverständlich, weil gerade an
grenze seit Jahren rückläufig sei, real also keinerlei Ausnah- ihrer Grenze zur Türkei viele Armutsflüchtlinge aus dem
me- und Notsituation vorlag. In diesem Fall wurde sowohl Nahen Osten, Afghanistan, Pakistan, China und Afrika
von der slowenischen Ratspräsidentschaft als auch von öf- auftauchen.“
fentlichen Medien berichtet, dass die ausländischen Beam- Damit hat Frontex mit dieser jüngsten Übung gleich
ten Straftaten aufgedeckt und so zu Zurückweisungen und mehrere Ziele erreicht: Neue Grenztechnologien wurden
Verhaftungen beigetragen hätten. Dabei wurde der Aufga- erprobt und Drittstaaten in der Praxis vorgeführt, RABIT-
benbereich des Grenzschutzes und von Frontex über den Übungen auf der Grundlage fiktiver Szenarien wurden
Personenverkehr hinaus weit überdehnt: Es wurden nicht mit den alltäglich stattfindenden gemeinsamen operativen
nur vermeintlich gefälschte Dokumente beschlagnahmt Einsätzen integriert. Die ehemalig linksliberale Zeitung
und „illegale Einwanderer“ festgenommen, sondern auch Frankfurter Rundschau ergeht sich in Lobeshymnen und
gestohlene Autos und geschmuggelte Zigaretten aus dem diagnostiziert: „[D]er Alltag an vielen EU-Außengrenzen
Verkehr gezogen und die Schmuggler verhaftet.7 [gleicht] längst einem chronischen Ausnahmezustand.“9 Es
Die dritte RABIT-Übung mit ganzen 49 internationalen ist dieser chronische Ausnahmezustand - ob simuliert oder
Polizeikräften an der rumänischen Grenze nach Moldawien durch die eigene Politik real produziert - der als Vehikel der
im Oktober 2008 sollte insofern noch „realistischer“ sein, Okkupation dient: Polizeikräfte, deren Haftbarkeit nicht
als die teilnehmenden Staaten erst zehn Tage vor Beginn geklärt ist.
der Übung informiert wurden. Auch wurde erstmals und
Anmerkungen
kurzfristig auf die „Toolbox“ CRATE zurückgegriffen, aus
1 House of Lords: FRONTEX - the EU external borders agency, 9th Re-
der ein polnischer Hubschrauber und ein österreichisches port of Session 2007–08, HL-Paper 60, die ersten Zitate stammen von
Fahrzeug mit Überwachungstechnologie für die Grenzsi- Sakari Vuorensola, Justiziar bei Frontex, das letzte von Andrew Mallia,
cherung abgerufen wurden.8 Auch bei der vierten Übung Major der maltesischen Streitkräfte.
der RABITs an den Außengrenzen zur Türkei, die bereits 2 KOM(2006) 401 endgültig.
3 Amendments by Parliament to the Commission proposal for a Regula-
deutliche Züge eines gemeinsamen operativen Einsatzes tion of the European Parliament and of the Council establishing a mech-
trug, spielten technologische Mittel eine wichtige Rolle. anism for the creation of Rapid Border Intervention Teams and amend-
Der Journalist Gerd Höhler, der offensichtlich einen mit ing Council Regulation (EC) No 2007/2004 as regards that mechanism
modernsten Geräten ausgestatteten österreichischen Grenz- and regulating the powers and tasks of guest officers.
4 House of Lords, a.a.O.
beamten bei der Übung begleiten durfte, berichtete in der
5 „Rapid Border Intervention Teams first time in action“, Pressemittei-
Frankfurter Rundschau (FR) vom 26.5.2009 unter dem lung von Frontex vom 6.11.2007, www.frontex.eu.int.
Titel „verräterischer Herzschlag“: „Eine Wärmebildkamera 6 Ebd.
auf dem Dach des Transporters filmt die Grenze. Auf den 7 „RABIT exercise –Joint exercise of the Slovenian and other European
beiden Bildschirmen taucht plötzlich eine weiße Silhouet- police forces at the external Schengen border“, Pressemitteilung der slo-
wenischen Ratspräsidentschaft vom 10.4.2008, www.eu2008.si.
te auf. Ein Mensch läuft über ein Feld, ein zweiter folgt, 8 Frontex-Jahresbericht 2008.
ein dritter…Schließlich sind es zwölf. ‚Die kommen aus 9 Gerd Höhler: Verräterischer Herzschlag, in: Frankfurter Rundschau
dem Wald am Flussufer‘, sagt Böhm. Sie sind etwa sechs vom 26.5.2009.
Kilometer entfernt, aber auf den beiden Bildschirmen klar
37
Frontex im sicherheitsindustriellen
Komplex
Christoph Marischka
Die Verordnung des Rates Nr. 2007/2004, mit der Fron- in das BORTEC-Projekt einfließen zu lassen.1
tex geschaffen wurde, definiert sechs Aufgabenbereiche der Das MEDI-Projekt geht auf eine Mitteilung der Kom-
Agentur. Einer hiervon besteht in der „Verfolgung der Ent- mission vom März 2003 mit dem Titel „Auf dem Weg zu
wicklungen der für die Kontrolle und Überwachung der einer Verteidigungsgüterpolitik der Europäischen Union“
Außengrenzen relevanten Forschung“. (KOM(2003) 113) zurück. Hier beklagte die Kommis-
Der Europäische Rat vom Dezember 2005 formulierte sion, dass die europäischen Ausgaben für Rüstung und
an Frontex den Auftrag, „die technische Machbarkeit der Forschung in sicherheitsrelevanten Bereichen weit hinter
Einrichtung eines Überwachungssystems, das die gesamte denen der USA zurückblieben und es sowohl aus sicher-
südliche EU-Seegrenze und das Mittelmeer abdeckt“, zu heitspolitischen als auch aus industriepolitischen Gründen
prüfen. Dem kam Frontex im Jahr 2006 im Rahmen eines notwendig sei, einen gemeinsamen europäischen Rüstungs-
„Pilotprojektes“ nach, indem die Agentur eine Studie mit markt zu schaffen, die entsprechende Forschung stärker zu
dem Titel „BORTEC“ verfasste. Zu diesem Zweck wurden fördern und den „Technologietransfer zwischen dem zivilen
Sachverständige an die südlichen Außengrenzen entsandt, und dem militärischen Sektor“ zu verbessern, um „Synergi-
um sich über die dort vorhandenen Überwachungstechno- en“ besser zu nutzen.
logien (z.B. Radar, Wärmebild, Überwachungsbojen, unbe- Die BORTEC-Studie ist zwar öffentlich nicht einsehbar,
mannte Luft- und Unterwasserfahrzeuge), ihre jeweiligen lag aber offensichtlich den Rüstungsunternehmen Thales
Vor- und Nachteile sowie die Möglichkeiten ihrer möglichst und Finmeccanica vor, die sich im ersten Halbjahr 2007
zeitnahen Vernetzung zu einem integrierten Lagebild zu mit einem entsprechenden Projekt beim EU-Forschungs-
informieren. Im Dezember 2006 formulierte die Agentur rahmenprogramm 7 (FRP7) beworben haben. Dieses Pro-
darauf aufbauend erste Schlussfolgerungen und Empfeh- jekt soll mit den Ergebnissen der BORTEC-Studie „völlig
lungen und kündigte für 2007 eine Weiterentwicklung der übereinstimmen“ und sieht vor, die nationalen Überwa-
BORTEC-Studie an. Die Ergebnisse der BORTEC-Studie chungstechnologien in drei Phasen zu erfassen, aufzurü-
sollten neben Frontex und der Kommission auch der Euro- sten und kompatibel zu machen und die dort gesammelten
päischen Rüstungsagentur (EDA) und dem Europäischen Daten zuletzt zu einem „permanenten und umfassenden
Biometrie-Forum zur Verfügung gestellt werden. Dem von Lagebild“ zusammenzufassen.2 Das ist auch das Ziel von
Frontex zusammengestellten Team von Sachverständigen EUROSUR, laut Kommission einem “System der Systeme”
gehörte auch ein Vertreter des Joint Research Center (JRC) zur Echtzeitüberwachung der europäischen Außengrenzen.
an. Das JRC wurde im Rahmen des EURATOM-Vertrages Die Kommission konkretisierte ihre Vorstellungen von EU-
gegründet und war ursprünglich mit der Forschung zu Nu- ROSUR am 13.2.2008 im Rahmen des Border Packages,
klearfragen, Reaktorsicherheit und der „Entsorgung“ von das aus zahlreichen Berichten bestand, die neben einer
Atommüll beschäftigt, hat seinen Arbeitsbereich aber be- Evaluation der Arbeit von Frontex v.a. Vorschläge für ein
ständig ausgedehnt und dient heute insbesondere der Indu- technologiebasiertes Grenzmanagement mittels biometri-
strieförderung und Politikberatung im Bereich der Sicher- scher Erfassung und unbemannter Land-, Luft- und Unter-
heitsforschung. Institutionell handelt es sich beim JRC um wassersysteme umfasste. Demnach soll EUROSUR in drei
eine Generaldirektion, die dem Kommissar für Wissenschaft Phasen aufgebaut werden, die denen des SEASAME-Pro-
und Forschung zugeordnet ist. Finanziert wird es überwie- gramms entsprechen. Das Kommissionspapier spricht sich
gend durch EU-Forschungsprogramme und Drittmittel auch explizit dafür aus, das Forschungsrahmenprogramm 7
von der Industrie und anderen europäischen Institutionen. der Kommission intensiv zu nutzen, “um die Leistungsfä-
Im Jahre 2006 war das JRC neben der Beteiligung an der higkeit und den Einsatz von Überwachungsinstrumenten
BORTEC-Studie auch mit einem Projekt MEDI, beschäf- zu verbessern, damit das erfasste Gebiet ausgeweitet werden
tigt, dessen Ziel es war, die rüstungsindustrielle Basis in den kann, mehr verdächtige Aktivitäten aufgedeckt, potenziell
Mitgliedstaaten zu untersuchen, die entsprechenden Un- verdächtige Zielobjekte leichter identifiziert werden kön-
ternehmen und ihre Kompetenzen in einer Datenbank zu nen und der Zugriff auf Daten hochauflösender Beobach-
erfassen und Vorschläge für eine verbesserte Zusammenar- tungssatelliten erleichtert wird.”3
beit und besseren Exportmöglichkeiten zwischen den euro- Doch auch die anderen Vorschläge der Kommission ge-
päischen Rüstungsunternehmen zu unterbreiten. In seinem hen auf Vorarbeit von Frontex zurück oder greifen diese
Arbeitsprogramm 2007 kündigte das JRC u.a. an, die im zumindest auf. So plant die Kommission ein EU-weites
Rahmen des MEDI-Projektes gesammelten Informationen biometriegestütztes Entry-/Exit-System, das mittelfristig
38 FRONTEX IM EINSATZ
auf die biometrische Erfassung aller EU-Bürger und aller in und zivilen Behörden dadurch zu verbessern, dass sie inter-
die EU einreisenden Menschen abzielt. Grundlagen hierfür national Bilddaten, beispielsweise von Satelliten und Droh-
hat Frontex wiederum gemeinsam mit dem JRC, das zu- nen, besser austauschen können. Mit 12,9 Mio. Euro wird
vor entsprechende existierende Systeme im Rahmen einer das Projekt TALOS unterstützt, das unbemannte Flugkör-
weiteren Studie (BORSEC) evaluiert hat, in der BIOPASS- per und Fahrzeuge entwickelt, welche die Grenze überwa-
Studie vorgelegt. chen sollen. Die Fördersumme bezieht sich dabei v.a. auf
Weitere Vorschläge und Vorarbeiten zu einem techno- unbemannte Fahrzeuge, die “zugleich als Kontrollposten
logiebasierten Grenzschutz wurden durch die Industrie und first reaction patrols dienen sollen. Sie informieren den
in Zusammenarbeit mit privaten und öffentlichen For- Control and Command Centre sowie den Eindringling
schungsinstituten, finanziert vom Europäischen Rahmen- über seine/ihre Lage und unternehmen nahezu autonom
forschungsprogramm, entwickelt. Zu nennen ist hier u.a. unter der Aufsicht von Grenzschutzbeamten angemessene
das SOBCAH Programm, das Instrumente für den Schutz Maßnahmen, um die illegale Handlung zu unterbinden.”5
von Häfen von der Containersicherheit über die automa- Wie genau die unbemannten Fahrzeuge “nahezu auto-
tisierte Erkennung “verdächtigen Verhaltens” von Wasser- nom” den Grenzübertritt von Personen mit “angemessenen
fahrzeugen, den Schutz vor Angriffen unter Wasser bis hin Maßnahmen” verhindern sollen, bleibt in der Beschreibung
zur biometrischen Kontrolle anlandender Passagiere in ei- des Projekts leider unklar. Deutlich wird jedoch spätestens
nem System integrieren und dieses versuchsweise im Hafen hier klar, dass den Fantasien von Sicherheitspolitikern und
von Genua zur Anwendung bringen soll. Ebenso wie das Rüstungsvertretern kaum noch Grenzen gesetzt sind. Die
BSUAV-Projekt, das den Einsatz unbemannter Flugkörper Kommission jedoch scheint die Entwicklung solcher “au-
zur Grenzüberwachung evaluieren soll, wird dieses Pro- tistischer Parallelwelten” der Sicherheitspolitik fördern zu
jekt wesentlich von klassischen Rüstungsunternehmen wie wollen. So gründete sie zur konzeptionellen Entwicklung
Rheinmetall, Thales und Indra getragen. der Sicherheitsforschung das Europäische Forum für Si-
Dies ist insofern nicht weiter verwunderlich, als dass die cherheitsforschung und Innovation (ESRIF). In der Pres-
Aufnahme des Bereichs “Sicherheit und Weltraum” in die semitteilung der Kommission zu dessen Gründung heißt
EU-Forschungspolitik wesentlich auf die Lobbyarbeit euro- es: “Das ESRIF ist eine informelle, beratende Plattform, an
päischer Rüstungsunternehmen zurückgeht4 und neben der der die Interessengruppen aus dem öffentlichen und dem
Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit europäischer Sicher- privaten Sektor auf freiwilliger Basis teilnehmen. Diese In-
heitsindustrie explizit auch mit sicherheitspolitischen In- teressengruppen sind die Industrie, Forschungseinrichtun-
teressen begründet wird. Die Rüstungsindustrie ist ebenso gen, öffentliche und private Endnutzer, Organisationen der
wie die Europäische Rüstungsagentur und Frontex auch im Zivilgesellschaft, EU-Institutionen (insbesondere das Euro-
Gutachterkreis vertreten, der letztlich darüber entscheidet, päische Parlament) und europäische Organisationen. Ein
welche Projekte gefördert werden. Diese Projekte befassen öffentlich-privater Dialog im Bereich der Sicherheitsfor-
sich v.a. mit Überwachungstechnologien mit deren Ver- schung ist von zentraler Bedeutung für eine höhere Sicher-
netzung zu integrierten Lagebildern und technischen und heit der Infrastrukturen, den Kampf gegen das organisierte
organisatorischen Strukturen, welche die Zusammenarbeit Verbrechen und den Terrorismus, für die Wiederherstellung
von “first responders” und “Behörden und Organisationen der Sicherheit in Krisenzeiten sowie für eine Verbesserung
mit Sicherheitsaufgaben” (BOS) optimieren sollen. der Grenzüberwachung und -kontrolle. Bis Ende 2009 soll
So fließen etwa 4,5 Mio. Euro in das Projekt SECTRO- das ESRIF eine gemeinsame Agenda für Sicherheitsfor-
NIC, mit dem Schifffahrtsrouten überwacht werden, indem schung aufstellen.”6 Das ESRIF wurde von der Kommission
Daten von Satelliten, Drohnen und Aufklärungsflugzeugen mit Räumlichkeiten ausgestattet und personell unterstützt.
sowie Sensoren auf See wie an der Küste zusammengeführt Es ist in elf Arbeitsgruppen strukturiert. Die Arbeitsgruppe
werden. Mehr als 3,5 Mio. Euro erhält das Projekt AMASS, “Grenzsicherheit” wird von einem Mitarbeiter von Frontex
das mit Bojen auf See ebenfalls die Gewässer überwachen geleitet, dessen Stellvertreter gehört dem Rüstungsunter-
soll. Am dahinter stehenden Konsortium unter der Lei- nehmen Finmeccanica an.
tung der Carl Zeiss Optronics GmbH sind neben dem
Anmerkungen
Fraunhofer Institut für Informations- und Datenverarbei-
1 JRC Work Programme 2007, Abschnitt 3.1. („Innere Sicherheit“),
tung und der deutschen Firma IQ Wireless die Streitkräfte Programmpunkt 31001 („Border Security“) http://projects-2007.jrc.
Maltas und die Universität Las Palmas auf Grand Canaria ec.europa.eu/.
beteiligt. Neben der Bekämpfung des Schmuggels soll es 2 Green Paper “THALES’s Contribution to the Consultation Process”
auch bei diesem Projekt ganz offiziell um illegale Migration (20.6.2007), www.statewatch.org.
3 Kommission der EG: KOM(2008) 68 endgültig.
gehen. Ein drittes Projekt zur Überwachung der See und 4 Ausführlich dargestellt bei Ben Hayes: Arming Big Brother, Transna-
der Vernetzung der hiermit beauftragten Behörden unter tional Institute/ Statewatch 2006, www.statewatch.org.
der Leitung von Thales wird mit knapp 700.000 Euro un- 5 Christoph Marischka: Der Alptraum Sicherheit, in: AUSDRUCK
terstützt. Auch das mit 2,5 Mio. Euro geförderte Projekt (August 2008).
6 „Mehr Sicherheit für die EU-Bürger: Kommission fördert den Dia-
COPE zielt unter Beteiligung von BAE Systems darauf ab,
log zwischen öffentlichem und privatem Bereich”, Pressemitteilung der
die Zusammenarbeit zwischen militärischen, polizeilichen Kommission (IP/07/1296) vom 11.9.2007.
39
„Hart an der Grenze“, diesen Titel gab der Fernsehsen- onen kooperieren, sind nicht gesetzeskonform“, so die zen-
der Phoenix einer Talkshow im Juni 2009, in der Frontex trale Botschaft etwa von Pro Asyl.3 Konkret wird Frontex
im Mittelpunkt der Kontroverse stand.1 Die Kritik an der die Verletzung des so genannten Non-Refoulement-Gebots
Agentur blieb erschreckend lahm. Die eingeladenen NGO- in der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) vorgeworfen,
Vertreter waren sichtlich bemüht, ihre Kritik in juristische also des Verbots, Asylsuchende direkt in ein Land zurück-
Begriffe zu verpacken. Sie sprachen von „Grauzonen“, be- zuschieben, in dem sie nicht vor Verfolgung geschützt sind.
richteten von einzelnen, besonders brutalen Vorfällen und Flüchtende müssen die Möglichkeit haben, die EU-Grenze
beharrten auf der Einhaltung der Genfer Flüchtlingskon- zu überqueren, um einen Asylantrag zu stellen. Ein solcher
vention. Innenstaatssekretär Peter Altmaier (CDU) und der Antrag muss in einem regulären Verfahren geprüft werden,
Frontex-Vertreter Klaus Rösler wehrten sich: Die Agentur Ablehnungen müssen individuell und schriftlich erfol-
halte sich an die Gesetze. Und wenn die Grenzpolizei doch gen, juristischer Widerspruch dagegen muss möglich sein.
mal welche übertrete, dann seien dies Ausnahmen und Dieses völkerrechtliche Gebot wird an der EU-Außengren-
rechtsstaatlich zu ahnden. Pro Asyl Geschäftsführer Günter ze systematisch missachtet und Frontex ist daran beteiligt.
Burkhardt und Elias Bierdel, ehemals Chef von Cap Ana- An den östlichen Landgrenzen der EU ist es anscheinend
mur, war anzusehen, für wie zynisch und verlogen sie diese gängige Praxis der Grenzwachen, Menschen sofort über die
Zusicherungen hielten. Dennoch verharrte die Diskussion Grenze zurückzuschieben – trotz ihres explizit geäußerten
auf der juristischen Ebene, unterbrochen nur vom humani- Verlangens, einen Asylantrag zu stellen.4 Auch die Frontex-
tären Beklagen der vielen Ertrunkenen an Europas Grenzen. Operationen im Mittelmeer und vor Westafrika untergra-
Auch Staatssekretär Altmaier fand diese Situation „nicht ben die Genfer Flüchtlingskonvention (siehe Beitrag „Von
akzeptabel“, zerdrückte ein paar Krokodilstränen und pries Grauzonen und Legalisierungen anderer Art“ in dieser Bro-
Frontex als Lebensretter. schüre). So sind insbesondere die menschenverachtenden
Seit Anfang 2008 haben NGOs und antirassistische Einsatzmethoden der griechischen Küstenwache vielfach
Gruppen Frontex immer wieder heftig kritisiert.2 Als Re- dokumentiert.5 Anstatt diese illegale Praxis zu beenden, zie-
aktion feilte die Agentur an der eigenen Außendarstellung. len Frontex und die EU-Regierungen darauf, sie nachho-
Der Auftritt von Altmaier und Rösler bei Phoenix war Teil lend zu legalisieren und weiter auszubauen.
einer PR-Offensive und es gelang ihnen meistens, die Kri- Frontex ist am gezielten Bruch völkerrechtlich verbind-
tik von Burkhardt und Bierdel abzutun. Wie kam es dazu? licher Menschenrechte beteiligt. Eine offensive Kritik dieses
Warum ist eine so zynische Institution wie Frontex derart Umstandes könnte der EU tatsächlich „wehtun“, stellt sie
schwer zu fassen? Dieser Artikel wird die bislang an Frontex sich doch gern als Wahrerin der Menschenrechte dar, um so
geäußerte Kritik zusammenfassen und die Grenzen juris- ihren internationalen Machtanspruch zu begründen. Doch
tisch-humanitärer Argumente diskutieren. Der zweite Teil
diese Kritikstrategie hat es nicht leicht: Im komplizierten
versucht, eine grundlegende Kritik an der EU-Grenzagen-
Herrschaftsnetzwerk EU lassen sich direkt Verantwortliche
tur zu entwickeln.
für die Rechtsbrüche nur schwer finden. In der Phoenix-
Menschenrechtswidrig, intransparent, verselbstständigt Talkshow verwies Klaus Rösler, bei Frontex verantwortlich
Die liberale Kritik an Frontex, wie sie etwa von verschie- für die „operativen Einsätze“, auf die nur koordinierende
denen NGOs und den Grünen vorgebracht wird, kon- Rolle der Agentur. Die Verantwortung schob er an die Mit-
zentriert sich auf drei Argumente: Erstens verletze Frontex gliedstaaten weiter, die leider unterschiedliche Rechtsinter-
Menschenrechte und internationale Konventionen, zwei- pretationen hätten. Für Frontex habe der Respekt der Men-
tens sei die Agentur parlamentarisch kaum kontrolliert und schenrechte höchste Priorität und sowieso sei die Agentur
arbeite intransparent und drittens untergrabe sie deshalb eine neutrale, dienstleistungsorientierte Institution ohne
als verselbstständigte Exekutive die Demokratie. Der erste politisches Mandat und ohne politische oder juristische
Kritikpunkt ist am weitesten verbreitet und dreht sich um Verantwortung.6
die Frage, ob Frontex die Europäische Menschenrechtskon- Die Schwierigkeit, klare Verantwortliche für die belegten
vention (EMRK) und die Genfer Flüchtlingskonvention und vermuteten Rechtsbrüche bei Frontex-Operationen
(GFK) achtet. „Die Praktiken von Frontex, aber auch von zu benennen, führt zum zweiten Kritikpunkt: Frontex sei
Grenzwachen der Mitgliedstaaten, die in Frontex-Operati- nicht ausreichend demokratisch legitimiert. Tatsächlich
40 WIDERSTÄNDIGE PERSPEKTIVEN
weist die im Oktober 2004 vom Rat der EU beschlossene Abgase ausstößt, aber immer noch - vielleicht sogar besser
Frontex-Verordnung der Agentur nur unterstützende Auf- - für Krieg und fürs Morden zu gebrauchen. Abschotten,
gaben im Hintergrund zu. Eine solche technische Behör- abschieben, überwachen, das ist Frontex‘ Existenzberech-
de brauche keine aufwändige parlamentarische Kontrolle, tigung. Werden diese politischen Zwecke nicht grundle-
so das Argument der EU-Regierungen. Juristisch ist diese gend und unmissverständlich in Frage gestellt, schneidet
Verteidigungslinie schwer anzugreifen, Glauben schenken das Messer der Kritik am faulen Kern der Frontex-Frucht
muss man den Zusicherungen deshalb nicht. Es wäre ab- vorbei.
surd anzunehmen, dass sich die EU-Grenzagentur in die Zudem: Die Agentur ist in rechtsstaatlichen Verfahren
Planung der von ihr koordinierten Operationen nicht mit ordnungsgemäß beschlossen worden. Ihre brutalen Aufga-
konkreten politischen und operativen Vorstellungen ein- ben sind völkerrechtlich legitim. Souveräne Nationalstaaten
bringt, zumal diese maßgeblich aus ihrem Budget finanziert dürfen entscheiden, wer auf ihr Territorium einreisen, wer
werden. Belegen lässt sich dies nur schwer, denn rechen- dort bleiben darf – und wer nicht. Sie dürfen ihre Grenzen
schaftspflichtig ist die Agentur allein ihrem Verwaltungsrat, kontrollieren, auch gewaltsam. Sie dürfen „unerwünschte
also Regierungsvertretern der EU- und Schengen-Staaten. Ausländer“ abweisen und abschieben.7 Kriegsschiffe gegen
Weder das Europäische Parlament noch nationale Parla- Flüchtlingsboote, Massenabschiebungen im Schutz der
mente verfügen über konkrete Einblicke in ihr Wirken. Nacht, diese Aspekte von Frontex sind den meisten Leu-
Dies führt zum dritten zentralen Kritikpunkt: Als Folge ten ein Gräuel. Doch wie es keine Atomkraftwerke ohne
von Intransparenz und mangelnder parlamentarischer Kon- Atommüll, keinen Kapitalismus ohne Krisen geben kann,
trolle entwickele sich Frontex zu einem verselbstständigten so kann es souveräne Nationalstaaten nicht ohne perma-
Exekutivorgan und unterminiere damit Gewaltenteilung nente gewaltsame Ausgrenzung von Menschen anderer
und demokratische Prinzipien. So demonstriert Timo To- Staatsbürgerschaften geben.
hidipur (siehe seinen Beitrag in dieser Broschüre), dass Eine „rechtspositivistische“ Kritik, also eine, die sich vor
„Agenturen“ wie Frontex eine Konsequenz der exekutiven allem an den Buchstaben von staatlich-nationalen Geset-
Ausrichtung der EU sind. Obwohl ihre zunehmende Rol- zen orientiert, kann diese Fundamente des tödlichen EU-
le europarechtlich nicht wirklich legitimiert ist, werden sie Grenzregimes nicht sehen. Sie verweilt notwendig an der
kaum in Frage gestellt, denn sie sind es, die viele EU-Poli- Oberfläche. Menschenrechtsverletzungen durch die EU-
tiken in die Praxis umsetzen. Die „demokratietheoretische“ Grenzagentur müssen aufgedeckt und ihre mangelnde par-
Kritik an Frontex als verselbstständigter Exekutive ist wich- lamentarische Kontrolle muss immer wieder skandalisiert
tig. Wirksam kann sie jedoch nur sein, wenn der selbst nach werden, um die schlimmsten Auswirkungen der Frontex-
liberalen Maßstäben nur begrenzt demokratische „Konsti- Einsätze abzuwenden. Doch darf sich Kritik nicht allein auf
tutionsprozess“ der EU insgesamt in Frage gestellt wird. die Folgen des EU-Grenzregimes richten. Akzeptiert sie den
national-staatlichen Rahmen von Grenz- und Migrations-
Umweltfreundlicher Panzer
politik unhinterfragt, läuft sie Gefahr, das Muster, welches
Festzuhalten bleibt: Die liberale Kritik ist korrekt. die gewaltsame Ausgrenzung auf Basis von Staatsbürger-
Frontex ist am systematischen Bruch der Genfer Konventi- schaft notwendig hervorbringt, zu stärken und zu legiti-
on beteiligt. Trotz ihrer hochpolitischen Einsätze und ihres mieren. Die Einbindung zivilgesellschaftlicher Kritik und
Einflusses hinter den Kulissen, ist die Agentur parlamenta- die Aktivierung von NGOs ist eine bewusste Regierungs-
risch kaum kontrolliert und arbeitet extrem intransparent. praxis, beschrieben etwa 2001 im Weißbuch „Europäisches
Und es besteht die Gefahr, dass Frontex sich zum Element Regieren“ der EU-Kommission. Vor allem NGOs bereitet-
einer verselbstständigten Exekutive entwickelt, allen Prin- en durch das Anprangern mangelnden Flüchtlingsschutzes
zipien liberaler Demokratie Hohn spottend. Das Ziel dieser in den Anrainerstaaten der EU den Weg für Asylsysteme
liberalen Kritik scheint es zu sein, Frontex an die parlamen- in diesen Ländern. Aus der Perspektive des Flüchtlings-
tarisch-völkerrechtliche Kandare zu legen. Ohne Zweifel, schutzes ist dies durchaus zu begrüßen. Gleichzeitig wird
dies wäre ein Fortschritt. Am eigentlichen Problem würde so die Vorverlagerung der EU-Außengrenze beschleunigt.8
es nichts ändern. Spontanes Unbehagen gegenüber Frontex Die Kritik an einer Agentur wie Frontex, sollte diese Ambi-
entsteht ja nicht wegen juristischen Feinheiten: Die Agen- valenz nicht vergessen.
tur provoziert intuitive Ablehnung, weil sie die militärische
Abschirmung der Grenzen perfektioniert und so noch mehr Konsequente Ethik und radikale Kontextualisierung
Menschen in den Tod treibt; weil sie sich anschickt, ins Ge- Es ist daher notwendig, eine Kritik an Frontex zu entwi-
schäft mit gewaltsamen Abschiebungen einzusteigen, die ckeln, die sich direkt gegen ihre politischen Zwecke und
sie noch effizienter machen möchte; und weil sie mitbaut deren strukturellen Ursachen richtet. Eine solche grundle-
am neuen Überwachungsstaat, biometrisch, digital, satel- gende Kritik hat zwei Ausgangspunkte. Erstens die norma-
litengestützt. Selbst wenn Frontex die GFK achten würde, tive Einsicht, dass es nicht sein darf, dass jedes Jahr zehn-
transparent und parlamentarisch kontrolliert wäre - solan- tausende Flüchtlinge und ArbeiterInnen an den Grenzen
ge die Agentur noch immer ihre Aufgaben erfüllt, wäre sie der Industriestaaten umkommen. Es darf nicht sein, dass
wie ein umweltfreundlicher Panzer: Schön, dass er weniger Frontex-Offiziere Menschen wegen ihrer zufälligen Staats-
41
angehörigkeit gewaltsam am Grenzübertritt hindern, dass Frontex als Mauerstein des EU-Staatsprojektes
Polizisten sie in Lagern und Abschiebeknästen gefangen Die ethisch begründete Ablehnung aller Migrations-
halten, dass RichterInnen sie in bürokratischen Verfahren kontrollen und die Interpretation ihres rasanten Ausbaus
demütigen und sie unterstützt durch Warschauer Frontex- als Elements eines Interessen-geleiteten Herrschaftspro-
Bürokraten gewaltsam abschieben lassen. Diese ethischen jektes richten sich nicht nur gegen Frontex. Es gibt jedoch
Einsichten können sich schon aus der vermeintlich wenig deutliche Hinweise, dass Frontex eine besonders perfide
radikalen Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte erge- Rolle spielt. Die Grenzagentur beteuert, Menschenleben
ben: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und zu retten, indem sie gefährliche Überfahrten auf kleinen
Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen be- Booten im Vorfeld zu verhindern suche. Doch die Frontex-
gabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit be- Operationen haben einen anderen Effekt. Indem einfache
gegnen“, so beginnt Artikel 1. Doch nimmt man dies als und kurze Routen durch Frontex Stück für Stück blockiert
normative Richtschnur ernst, gelangt man zu politischen wurden, bleiben den Leuten heute nur lange und tödlich
Positionen, die zu häufig als utopisch oder extremistisch gefährliche Wege nach Europa. So führen die Frontex-Pa-
diffamiert werden: Die Ablehnung aller Migrationskontrol- trouillen vor Westafrika dazu, dass immer mehr Menschen
len, die Ablehnung von Lagern, Abschiebeknästen und Ab- auf dem Weg zu den Kanaren auf den offenen Atlantik
schiebungen. Die fundamentale Zurückweisung einer Re- hinaus fahren und sich in noch tödlichere Gefahr begeben.
alität, in der Menschen unterschiedliche Rechte zustehen, Durch die Frontex-koordinierte Abschottung der Grenzen
allein wegen ihres zufälligen Geburtsortes bzw. ihres Passes. hat sich in den Anrainerstaaten der EU eine aus mehreren
Es führt zum Eintreten für ein universelles Recht auf globa- Millionen bestehende rechtlose und prekarisierte Bevölke-
le Bewegungsfreiheit und gleiche Rechte für alle Menschen rung gebildet, die entschleunigt und quasi eingefroren, jah-
- überall. Die auch bereits ziemlich alte Parole No Border! relang auf die Chance zu einer Einreise in die EU wartet.11
No Nation! Stop Deportation! drückt dies aus. Rückwärts ge- Frontex treibt qua Auftrag, aber auch qua Selbstverständnis
lesen sagt sie, dass die „Kulturpraxis“ gewaltsamer Abschie- eine Politik voran, welche die Existenz dieser Menschen als
bungen - die viele Menschen intuitiv schrecklich finden Menschen negiert. Millionen ArbeiterInnen und Flücht-
- nur überwunden werden kann, wenn es keine Grenzen linge gelten Frontex als technisches Problem, das einer tech-
mehr gibt, wenn die Aufteilung der Welt in Nationen und nischen Lösung bedarf. Wie diese Lösungen aussehen und
ihre Staaten ein Ende hat.9 welche grausamen Effekte sie haben, ist in dieser Broschüre
Doch auch hier darf eine grundlegende Kritik an Frontex dargestellt. Sie versucht Argumente für eine grundlegende
noch nicht stehen bleiben. Sie muss über konsequente Mo- Kritik an Frontex zu liefern. Eine Kritik, die Frontex als den
ral hinausgehen und Kritik betreiben, wie schon Karl Marx heutigen Ausdruck der gegenwärtigen kapitalistisch-natio-
oder die „Frankfurter Schule“ sie verstanden: Als radikale nalen Weltordnung begreift und eine entschiedene Partei-
Kontextualisierung, in der die historischen, politischen und nahme für die Migration als soziales Projekt und konkreten
ökonomischen Strukturen und Prozesse untersucht werden, Gegenentwurf beinhaltet. Erst eine solche Perspektive kann
unten denen Staatsapparate wie Frontex überhaupt entste- gegen die Verhältnisse vorgehen, die Elend, Massensterben,
hen konnten.10 Auf diese Weise muss Kritik die alte cui Flucht und seine militärische Regulation durch Frontex
bono-Frage beantworten: Wem nutzt es? Sie muss zeigen, hervorbringen. Durch die Einnahme einer Perspektive der
mit welchen politischen und ökonomischen Interessen, mit Migration überwindet sie den eigenen „methodologischen
welchen Macht- und Herrschaftsverhältnissen der massive Nationalismus“ und es eröffnen sich Freiräume für gleich-
Ausbau von Frontex verbunden ist. Eine solche, hier nur berechtigte politische Zusammenarbeit jenseits von Staat
angedeutete Analyse macht klar, dass die EU-Grenzagentur und Nation. Erst eine derart geschärfte Kritik ermöglicht
wichtiger Teil eines „Staatsprojektes“ ist, welches die EU als es, Handlungsperspektiven für eine Politik zu entwickeln,
regionale Hegemonialmacht und globale Großmacht etab- die Migrations- und Bevölkerungskontrolle als grundsätz-
lieren will. Dazu gehört auch, staatliche Souveränität über lich illegitim betrachtet und überwinden will. „Frontex ab-
die Mobilität von ArbeiterInnen und ihren Familien (mit schaffen!“, diese Forderung muss Teil einer solchen Politik
oder ohne EU-Pass) zu intensivieren. Die freie Mobilität sein.
der „Nutzlosen“ soll vermindert und die Bewegungen der
„Nützlichen“ flexibel „gemanagt“ werden, um den Prozess Anmerkungen
der Kapitalverwertung stabil und profitabel zu erhalten. 1 „Hart an der Grenze – Die EU-Flüchtlingspolitik“ (18.6.2009), Gaby
Dietzen diskutiert mit Peter Altmaier (Parlamentarischer Staatssekre-
Frontex ist einerseits Ausdruck grundlegender „Vergesell- tär im Bundesinnenministerium), Klaus Rösler (Europäische Grenz-
schaftungsformen“ (also national-souveräner Staaten, kapi- schutzagentur Frontex), Günter Burkhardt (Pro Asyl) und Elias Bierdel
talistischer Weltökonomie, des Rassismus) und anderseits (ehem. Cap Anamur Chef ). Online: http://www.phoenix.de/251309.
Teil eines politischen Projektes, mit dem konkrete Akteure htm.
2 Siehe die Einträge unter: http://frontex.antira.info.
im Interesse von ökonomisch und national privilegierten 3 Pro Asyl: Frontex, Bootsflüchtlinge und die Menschenrechte.
Klassenfraktionen der Industrieländer transkontinentale 12.5.2009. Online: http://www.proasyl.de/de/themen/eu-politik/detail/
Bevölkerungspolitik betreiben, um die für sie vorteilhafte news/frontex_bootsfluechtlinge_und_die_menschenrechte.
Weltordnung zu schützen. 4 Vgl. etwa Düvell, Franck: Evidence from Central and Eastern Europe
42 WIDERSTÄNDIGE PERSPEKTIVEN
and CIS countries. In: Asylum Protection vs. Border Control: An unat- Demirović in: Nichtregierungsorganisationen in der Transformation des
tainable Balance?, EPC Workshop Brussels, 3.6.2009. Online: http:// Staates. Westfälisches Dampfboot, 2001, zu empfehlen.
www.compas.ox.ac.uk/fileadmin/files/pdfs/Franck_Duvell/Asylum%20 9 Mittlerweile gibt es Dutzende Bücher und Aufsätze, die – aus unter-
Protection%20vs%20Border%20Control_Duvell.pdf. schiedlichen Perspektiven – für offene Grenzen und Bewegungsfreiheit
5 Pro Asyl (2007): „The truth may be bitter, but it must be told.“ Über argumentieren. Vgl.: Hayter, Teresa (2004): Open Borders: The Case
die Situation von Flüchtlingen in der Ägäis und die Praktiken der grie- Against Immigration Controls (Pluto Press). Moses, Jonathan W. (2006):
chischen Küstenwache. Siehe http://www.proasyl.de. Vgl. auch: Human International Migration: Globalization‘s Last Frontier (Zed Books). Pé-
Rights Watch, 7.5.2009: Italy/Libya: Forced Return of Migrants Violates coud, Antoine/ de Guchteneire, Paul (Hg.) (2007): Migration Without
Rights. Borders. Essays on the Free Movement of People. (UNESCO). Casey,
6 Vgl. auch: „frontex in a nutshell - das Hauptquartier packt aus“ und John P. (2009): Open Borders: Absurd Chimera or Inevitable Future
„Von Grauzonen und Legalisierungen der andere Art. Frontex im Mit- Policy? In: International Migration, Journal compilation 2009.
telmeer“ in dieser Broschüre. 10 Vgl. Georgi, Fabian/ Wagner, Fabian (2009): Macht Wissen Kontrol-
7 „[T]o ask whether states have the right to behave in this way is like le. Bedingungen kritischer Migrationsforschung. In: Kulturrisse, 1/09.
asking whether capitalists have a right to make a profit“. Brown, Chris http://igkultur.at/igkultur/kulturrisse/1240414253/1242744283.
(1992): Marxism and the transnational migration of people: Ethical 11 Panagiotidis, Efthimia / Tsianos, Vassilis (2007): Denaturalizing
issues. In: Barry/ Goodin (Hg.): Free Movement. Ethical issues in the „Camps“ : Überwachen und Entschleunigen in der Schengener Ägäis-
transnational migration of people and of money. (Pennsylvania State Zone, in: Transit Migration Forschungsgruppe (Hg.): Turbulente Rän-
University Press), S. 127–144. der. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas, Biele-
8 Vgl. „Von Grauzonen und Legalisierungen anderer Art“ in dieser Bro- feld: transcript Verlag, 2007.
schüre. Weiterführend sind die Beiträge von Joachim Hirsch und Alex
Als wir im Herbst 2008 als selbstorganisiertes Seminar schen scheint es sich dabei vor allem um marktwirschaft-
zum Thema der EU-Grenz- und Migrationspolitik eine liche zu handeln: Die Frontex-Agentur stellt sich als eine
Reise an die östlichen EU-Außengrenzen machen, sind wir Art Dienstleistungsunternehmen im Bereich des Border
zuerst überrascht, wie offen uns sowohl die EU als auch Managements dar, EU Kommission und Mitgliedstaaten
ukrainischen Behörden, Polizeien, NGOs und diversen seien ihre „HauptkundInnen“.
Think Tanks empfangen. Als interessierte research group ei- Keinesfalls sei mensch hinter einzelnen MigrantInnen
ner europäischen Universität öffnen uns die AkteurInnen her, sondern Frontex bekämpfe die kriminellen Netzwerke,
des EU-Grenzregimes ihre Türen, um ihre Institutionen die hinter der irregulären Migration stünden und diese or-
und ihre Arbeit zu präsentieren, in den meisten Fällen dür- ganisierten. Während uns der Handel mit gefälschten Visa
fen wir auch unsere Kameras mitbringen. sowohl als organisiertes Verbrechen als auch als „riesiges Ge-
Unsere erste Station ist Warschau, das Hauptquartier von schäft“ vorgestellt wird, entsteht der Eindruck, bei den EU-
Frontex. Ihre gläserne Residenz in Warschaus Innenstadt Außengrenzen habe mensch es zuallererst mit einem Absatz-
teilt sich die Europäische Agentur mit der Consultingfirma markt zu tun. Frontex und die SchlepperInnen-Netzwerke
Ernst & Young, der internationalen Anwaltskanzlei Baker erscheinen darin als AnbieterInnen von Serviceleistungen,
& McKenzie und der deutschen Firma HOCHTIEF. die in der Branche „Grenze“ KundInnengruppen mit kon-
Das Sicherheitsregime, das im Bürogebäude herrscht, trären Bedürfnissen bedienen: auf der einen Seite bedient
in dem die Frontex-Zentrale ihren Sitz hat, ist erwartbar Frontex die Interessen der EU-Mitgliedstaaten, während
und dennoch beeindruckend. Nach Vorlage unserer Päs- auf der anderen Seite kriminalisierte SchlepperInnen ein
se bekommen wir elektronische BesucherInnen-Ausweise, „well organised business“ - ein „gut organisiertes Geschäft“
die unseren temporären Zugang zu den Büroetagen regeln. - der undokumentierten Mobilität führen.
Damit passieren wir die Drehkreuze, fahren in gläsernen Alle ihre Aktivitäten – von der Erstellung von Risikoana-
„high-speed Panorama-Aufzügen“ durch das verkabelte Ge- lysen und Lageberichten auf der Grundlage geheimdienst-
bäude-Innenleben bis in die elfte Etage. Die Glasfront des licher und polizeilicher Daten bis zur Organisation von
Hochhauses gibt den Blick über Warschau frei, ein Gestus Abschiebeflügen – stellt Frontex unter das eine Ziel: die
von visuellem Zugriff haftet dieser Architektur an, selbst ständige Optimierung des „Produktes“ Grenzmanagement
unsere Füße überblicken die unter uns sich erstreckende nach den Kriterien der Effizienz, Machbarkeit, Aktualität
Stadt. und Situationsbezogenheit. Die politischen Inhalte und
Der Einflussbereich der Agentur reicht weit über die Stadt Effekte der Arbeit, die Frontex leistet, scheinen weder für
Warschau und sogar die Grenzen der EU hinaus. Frontex ist deren Zielsetzung, noch die Evaluierung relevant zu sein.
eine wichtige Akteurin im europäischen Sicherheitsregime Der Erfolg einer durch Frontex koordinierten Aktion oder
und tritt als Managerin der Grenz- und Migrationskontrol- von der Agentur initiierten Studie bemesse sich daran, ob
le innerhalb der EU, in Anrainer- und Drittstaaten auf. In dem Interesse der „KundInnen“ entsprochen worden sei
der neuen institutionellen Form der Agentur überträgt sie oder dem sogar vorausgegriffen werden konnte.
die Rhetorik und Strategien kapitalistischer Verwertungs-
Die Agentur als Kaffeekränzchen der EU Exekutiv-Elite
prozesse auf den Bereich der Grenzkontrolle. Frontex ist
nicht die einzige neue Agentur der EU, sie ist aber eine 2004 wurde die Agentur auf Grundlage einer Verord-
Vorreiterin in der Übertragung einer Logik und Rhetorik nung des Europäischen Rates mit dem Ziel geschaffen, die
des Managements auf staatliche Aufgaben. operative Zusammenarbeit der EU-Mitgliedstaaten an den
Außengrenzen zu koordinieren, um die europäische Grenz-
„It‘s about demand and supply“1 sicherung zu optimieren. Europäische MinisterInnen, Poli-
Im Konferenzraum angekommen, legt uns ein Mitar- zeien und Geheimdienste organisierten sich damals in der
beiter von Frontex in seinem Powerpoint-unterstützten Form einer Agentur, mit dem Ziel ihre Zusammenarbeit zu
Vortrag Frontex in a nutshell die Funktionsweisen des EU- vereinfachen und zentrale Aufgaben gebündelt an eine Ex-
Grenzregimes dar, neben den polizeilichen und militäri- pertInnen-Gruppe outzusourcen. Im Verwaltungsrat von
44 WIDERSTÄNDIGE PERSPEKTIVEN
Frontex sitzen zwei VertreterInnen der EU-Kommission Den Dialog mit NGOs wolle Frontex gezielt ausbauen.
und jeweils einE VertreterIn der Mitgliedstaaten, dabei han- Ein konstruktiver Dialog solle es sein, für Kritik sei die
delt es sich meistens um die obersten PolizeibeamtInnen. Agentur offen. Auf die Nachfrage, wie denn mit den kon-
Das europäische Parlament verabschiedet den Haushalt von kreten Vorwürfen an das menschenrechtswidrigen Vorgehen
Frontex und kann in einem Jahresbericht die Aktivitäten der Behörden bei Frontex-geleiteten Operationen umge-
des vergangenen Jahres nachlesen – von dieser formellen gangen werde, reagiert unser Frontex-Referent mit Unver-
Einrichtung abgesehen, ist Frontex in ihrer institutionellen ständnis: „I don‘t think, we ever received any complaints
Form der Agentur einer parlamentarischen Kontrolle wei- about human rights` violations.“ - „Ich glaube nicht, dass
testgehend entzogen. uns jemals Beschwerden über Menschenrechtsverletzungen
Die EU-Exekutiv-Elite, die sich in Frontex versammelt erreicht haben“.
hat, wird nicht müde zu betonen, dass sie keine politische
Fazit
Institution an sich sei, dass Frontex keine politische Akteu-
rin sei, noch selbst über Einsatzkräfte und Material verfüge: Durch die beschriebene Rhetorik entzieht sich Frontex
„We are not in control really,“ erklärt uns der Frontex-Re- gezielt einer politischen Verantwortung für ihre Aktivitäten
ferent, „we are a ball even that is played around someti- innerhalb des Grenz- und Migrationsregimes. Exekutive
mes“ - „Wir üben nicht wirklich die Kontrolle aus, wir sind Handlungen sollen nicht einer Kontrolle unterliegen oder
manchmal sogar eher ein Spielball anderer“. Mit Politik gar in demokratischen Verfahren entwickelt werden, son-
– und darunter scheint mensch bei der Grenzschutzagentur dern beruhen auf einer kapitalistischen Verwertungslogik
Debatten im Europäischen Parlament zu verstehen – hat und einem vorausgesetzten Konsens darüber, dass an den
Frontex erklärterweise nichts zu tun. Die Agentur agiere Grenzen ein militärisches und technologisches Großaufge-
nur innerhalb ihres von der Politik zugewiesenen Mandats, bot zu ihrem Schutz aufgefahren werden müsse.
der Koordination der operationellen Zusammenarbeit an Wie unser Referent bei Frontex nochmals abschließend
den Außengrenzen, und verfüge dabei weder über eigenes erklärt, sei die Agentur leider nicht die richtige Adressatin
Material noch Personal. Die ExpertInnen-Gruppe Frontex für Beschwerden über Menschenrechtsverletzungen an den
versteht sich als Serviceleisterin, als Wissensmanagerin, als EU-Außengrenzen. Diese Beschwerden hätten sich aus-
Schnittstelle zwischen Politik, Polizeien und Militär, Ge- schließlich an die EU-Mitgliedstaaten zu richten, bzw. an
heimdiensten, Industrie und Forschung. In der logischen die ausführenden Polizeien, Militärs, GrenzschutzbeamtIn-
Konsequenz trage die Agentur auch keine politische Ver- nen und Behörden. Eine gemeinsame europäische Grenz-
antwortung für ihre Aktivitäten im EU-Grenz- und Mi- polizei, wenn es sie denn eines Tages geben wird, würde
grationsregime: „We are not bound to international law seiner Ansicht nach als „vollwertig“ institutionalisierte EU-
because we are not a member state.“ - „Wir sind nicht an Behörde eine neue Adressatin für solche Beschwerden dar-
internationales Recht gebunden, weil wir kein Mitglied- stellen. Erwartbar erscheint uns vor diesem Hintergrund,
staat sind“. dass es in Zukunft eher eine weitere Fragmentierung und
Auslagerung von Organisations- und Ausführungskompe-
„Please visit our website“2 tenzen in Agenturen, Zentren, ExpertInnen-Kreise geben
Frontex ziehen eine klare rhetorische Trennlinie zwischen wird. Diese institutionelle Zergliederung schafft exekutive
dem Bereich des Politischen und dem Bereich des Grenz- Räume, in denen Kompetenzen zunehmend von ExpertIn-
Managements. Neben dieser diskursiven Verschiebung nen-Eliten eingenommen werden.
von politischer Verantwortung auf die Parlamente und Die Europäische Grenzschutzagentur ist ein Beispiel da-
Behörden der Mitgliedstaaten, gelingt es der Agentur auch für, wie im institutionellen Experimentierfeld der EU im
durch ihre Performance der Transparenz, politische Kon- Bereich der Migrationspolitik ein rechtlicher und behörd-
frontationen zu verhindern. Bei Frontex zeigt mensch sich licher Graubereich entsteht, in den es schwierig ist, zu in-
um größtmögliche Offenheit bemüht: Forschungsgruppen tervenieren.
werden empfangen und auf der Website von Frontex sind In diesem Beitrag haben wir uns lediglich mit der Selbst-
neben den Jahresberichten der Agentur und der Dokumen- darstellung von Frontex auseinandergesetzt. Letztendlich
tationen abgeschlossener Missionen auch diverse Power- verstehen wir Frontex jedoch als Teil eines Systems, in dem
point-Präsentationen allgemein zugänglich. Was relevante nicht Frontex, sondern das System selbst zu hinterfragen
Informationen über Details der Zusammenarbeit mit For- ist.
schungseinrichtungen, Unternehmen und Geheimdiensten
Anmerkungen
oder aktuelle von Frontex koordinierte Operationen von
1 Bedeutet etwa: „Es geht um Angebot und Nachfrage“.
Polizeien und Militär an den Außengrenzen und im Inne- 2 Bedeutet etwa: „Bitte besuchen Sie unsere Homepage“.
ren der EU angeht, hat mensch den ExpertInnen Vertrauen
zu schenken. Einer unabhängigen Überprüfung der Aktivi-
täten der Agentur greift die hauseigene Monitoring-Abtei-
lung bereits vor, die 100-prozentig positive Arbeitsbilanzen
erstellt.
45
In der EU hat sich ein neuer Sicherheitsbegriff heraus- sondern auch einer der größten Raumfahrtsstandorte der
gebildet. Vorreiter hierfür waren die USA, die nach den gesamten EU. Mehr als ein Drittel der in der Bundesrepub-
terroristischen Anschlägen auf das World Trade Center die lik in der Raumfahrtindustrie Beschäftigten arbeiten in der
Grenze von militärischer und ziviler Verteidigung aufho- Hansestadt.
ben. Demnach besteht die Bedrohung nicht mehr so sehr
Allround-Überwachung durch Satellitenmanagement
in regulären Armeen, sondern in asymmetrischen Konstel-
lationen wie dem Terror, der Kriminalität und der irregu- Das zweite Standbein der EU-Raumfahrtpolitik heißt
lären Migration sowie Naturkatastrophen. Ziel ist es, von GMES, Global Monitoring for Environment and Security.
diesen Bedrohungen nicht betroffen zu werden und den GMES soll alle möglichen europäischen Satelliten mitein-
westlichen Lebensstil zu verteidigen. Dies kommt auch ander vernetzen (bzw. eigens für GMES entwickelte ins All
in dem Diskussionspapier hochrangiger NATO-Generäle bringen), zudem sollen auch umfassend Radarstationen an
„Towards a Grand Strategy for an Uncertain World“ zum Land oder auf Schiffen oder optische Beobachtungssysteme
Ausdruck, das als inoffizieller Entwurf einer neuen NATO- auf Flugzeugen eingebunden werden (um jederzeit ein um-
Strategie gilt: fassendes Lagebild erstellen zu können).
„Die wichtigste Herausforderung der kommenden Jahre Zahlreichen Werbebotschaften zufolge soll das GMES-
wird sein, auf das vorbereitet zu sein was sich nicht vorher- Projekt vor allem Erdbeobachtungsdaten für die Umwelt-
sagen lässt […] Den westlichen Alliierten steht eine lange, forschung liefern. Für diese Zwecke sind aber die Ansprüche
andauernde und präventiv zu führende Verteidigung ihrer des Projektes gerade an die neu ins All zu schießenden Satel-
Gesellschaften und ihrer Lebensart („way of life“) bevor. liten sowie an die Datenverwaltung viel zu überdimensio-
Deshalb müssen sie Risiken auf Distanz halten, während niert. Denn geplant ist ein möglichst lückenloser weltweiter
sie ihre Heimatländer beschützen.“1 Scan, in Echtzeit und unter Zuhilfenahme modernster Ver-
Auch die Bremer Rüstungsindustrie hat sich längst schlüsselungstechnologie. Umweltbeobachtung benötigt all
auf diese Veränderungen eingestellt. So macht etwa Atlas dies nicht. Vielmehr machen diese Kriterien nur dann Sinn,
Elektronik auf seiner Homepage Werbung für Überwa- wenn man weiß, dass es bei GMES um eine permanente
chungssysteme, die vor allem auf Terrorbekämpfung und Überwachungstätigkeit geht.
die Abwehr illegaler Migration ausgerichtet sind. Für die Die durch GMES vernetzten Überwachungssysteme
EU-Küstengebiete, die als besonders bedroht angesehen sollen zur militärischen Aufklärung genutzt werden. Als
werden, bieten sowohl Atlas Elektronik als auch EADS so eines der Hauptanwendungsgebiete für GMES ist jedoch
genannte „Integrierte Küstenschutzsysteme“, d.h. Kombi- die permanente Überwachung der EU-Grenzen zu nen-
nationen von Wärmebild-, Video, Radar- und Satellitenü- nen. Für die Aufgabe aggressiver Flüchtlingsabwehr, gerade
berwachung an. in den Meeren vor der EU, eignen sich die vorgenannten
Ein Feld, an dem sich der Wandel des Sicherheitsbegriffs Kriterien globaler Permanentüberwachung ausgezeichnet.
modellhaft verfolgen lässt und das in den letzten Jahren Volker Liebig, Direktor der Abteilung für Erdbeobachtung
stark militarisiert wurde, ist die Raumfahrt. So soll die EU der Europäischen Weltraumagentur ESA, hat diese Aufgabe
nach EU-Kommissar Verheugen zur „Weltraummacht“ mit den Worten umrissen, es gehe „um weltraumgestütz-
werden. EU-weit gibt es zwei hierauf ausgerichtete Groß- te Überwachung illegaler Migration“. Dementsprechend
projekte – beide führen nach Bremen. soll die europäische Grenzschutzagentur FRONTEX pro-
So haben sich die beiden Bremer Firmen EADS Astrium minenter Nutzer der GMES-Überwachungsdaten werden.
und OHB den Zuschlag für das Projekt Galileo bereits ge- Sie ist ein so genannter „Target User“, also ein Endnutzer,
sichert. Galileo ist ein Konkurrenzprojekt zu GPS und soll nach dessen Bedürfnissen sich das Projekt ausrichtet. Die
Mountainbiker genauso sicher ans Ziel führen wie Soldaten technischen Vorgaben die Erdbeobachtung des GMES Pro-
oder Fernraketen. Die Vergabe nach Bremen ist kein Zufall. gramms werden von FRONTEX mitbestimmt. Beteiligt
EADS Astrium ist Europas größter Produzent für große Sa- ist FROTEX an zwei der zahlreichen GMES-Teilprojekte,
tellitensysteme, OHB kann dasselbe in Bezug auf kleinere beide haben unter anderem den Bereich der Grenzüberwa-
Satellitensysteme für sich beanspruchen. Bremen ist somit chung zum Ziel:
- LIMES (Land and Sea Integrated Monitoring for Envi-
nicht nur einer der größten Rüstungsstandorte in der BRD,
46 WIDERSTÄNDIGE PERSPEKTIVEN
ronment and Security) Anwendungen von LIMES sollen regionalen Presse erwähnt, da sie trotz der Wirtschaftskri-
im Bereich humanitärer Hilfe und Wiederaufbau, Überwa- se gute Gewinne machen – jede kritische Betrachtung der
chung von Infrastruktur und der EU-Außengrenzen (Land Produktion unterbleibt.
und See), Überwachung und Schutz des Schiffsverkehrs OHB und EADS Astrium sind federführend bei DeMa-
(sensitive Fracht) Schutz gegen zukünftige Bedrohungen rine-Sicherheit, einem Unterprojekt von MARISS, das aus
der Sicherheit (z. B. durch Terrorismus, Drogen-, Waffen- bundesdeutscher Sicht eines von drei zentralen GMES-
und Menschenhandel, Verbreitung von Massenvernich- Projekten ist. Dabei soll es einerseits darum gehen, ein
tungswaffen) eingesetzt werden Netzwerk von Firmen auf den Weg zu bringen, das Lö-
- MARISS (Maritime Security Services): Zu den Diensten sungskompetenzen zu Fragen der Überwachung der Meere
gehören die Beobachtung illegalen Handels, Fischerei und entwickelt, und das heißt auch: zur Abwehr von Flüchtlin-
Immigration (Boat People) in den Gewässern der Europä- gen. Andererseits sollen auch gleich Nutzer gefunden wer-
ischen Union. den, denen man die so entwickelten Lösungen verkaufen
Eine wichtige Aufgabe von FRONTEX ist es, die For- kann. Beteiligt an diesem Projekt sind neben EADS Astri-
schung für „Sicherheitstechnologien“ zur Grenzüberwa- um und OHB das Deutsche Luft- und Raumfahrtzentrum
chung Europas weiter voranzutreiben und so tauchen auch sowie das Fraunhofer Institut Information und Datenver-
Agenturangehörige bei den Treffen der GMES-Initiative arbeitung. Koordiniert wird die DeMarine-Sicherheit von
auf. Sie lauschen dort Vorträgen, wie weit die Programme GAUSS, Gesellschaft für angewandten Umweltschutz und
für Erdbeobachtung schon fortgeschritten sind, um kleins- Sicherheit im Seeverkehr, einer öffentlichen Gesellschaft,
te Boote zu lokalisieren. Neben der Seeüberwachung ist die vom Land Bremen sowie den beiden Hochschulen Bre-
es aber auch Aufgabe von FRONTEX, Risikoanalysen zu men und Bremerhaven getragen wird.
erstellen, Flüchtlingsrouten und Bewegungspotentiale so- Bremer Raumfahrtfirmen entwickeln – gefördert vom
wie Infrastruktur von MigrantInnen zu identifizieren. So Land, koordiniert von einer öffentlichen Gesellschaft
wurde z.B. an der westafrikanischen Küste Satellitenbilder – somit Technologien, die direkt für die Erfordernisse der
dazu genutzt, Produktionsstätten für Flüchtlingsboote und Grenzsicherung entworfen werden, und sind damit auch
Küstenstreifen, von denen Boote ablegen auszumachen. Lieferanten von Überwachungstechnik für die Grenz-
Auch für dieses Erfordernis soll der globale Monitor ge- schutzagentur FRONTEX.
nutzt werden. Die Bremer Raumfahrtindustrie beteiligt sich so an dem
FRONTEX soll zukünftig auch direkt in die Datenaus- Krieg gegen Flüchtlinge, wie er im Mittelmeer und vor den
wertung des GMES-Projektes eingebunden sein und die Kanarischen Inseln geführt wird und der schon jetzt zehn-
Informationen und Lagebilder der Satelliten und anderer tausende Tote gefordert hat. Die aggressive Politik der EU,
sicherheitstechnischer Systeme erhalten, um ein „Inte- an den Außengrenzen koordiniert von FRONTEX und
griertes Netz der Melde- und Überwachungssysteme zum zukünftig unter Zuhilfenahme von Satellitentechnologie
Zweck der Grenzkontrolle und der inneren Sicherheit im made in Bremen, wird das Massengrab in den Meeren im-
Maritimen Bereich aufzubauen“, so die Vorstellung in den mer größer werden lassen. Denn Menschen, die vor Krieg
Papieren der EU Kommission.2 flüchten, vor Hunger, vor der Versteppung ihrer Region,
vor Armut usw., werden sich von dieser Flucht nicht abhal-
Bremen macht FRONT(EX) gegen Flüchtlinge
ten lassen. Sie werden jedoch versuchen, der Überwachung
Ins GMES-Programm fließen bis 2013 ca. 6 Mrd. Euro. zu entgehen, indem sie immer gefährlichere Routen in im-
Davon möchte auch Bremen profitieren. Der Senat hat die mer kleineren Booten zurückzulegen versuchen.
Beteiligung an GMES zu einem der Schwerpunkte seiner Mit der GMES-Satellitenüberwachung erzielen EADS
Raumfahrtförderung erklärt und gemeinsam mit den ge- und OHB nicht die größten Gewinne verglichen mit ih-
nannten Firmen schon frühzeitig eine Hochglanzbroschü- ren sonstigen Rüstungsaufträgen. Dennoch wird hieran
re aufgelegt, um sich in Brüssel als der Luft- und Raum- beispielhaft deutlich, wie sehr auch die vermeintlich zivile
fahrtstandort in der BRD zu empfehlen. Zentral soll das Nutzung der Satellitentechnik von Europäischen Sicher-
geplante CEON (Center for the Promotion of Communi- heitsinteressen und Militärpolitiken bestimmt ist und wie
cation Earth Observation and Navigation) die GMES-Ak- sich die EU mithilfe der Raumfahrttechnik vor den Folgen
tivitäten in Bremen koordinieren. und vor den Opfern ihrer eigenen Ausbeutungspolitik ab-
Auf kommerzieller Seite sind an GMES zuvorderst die schotten will.
Rüstungsfirmen OHB und EADS Astrium beteiligt. GMES
greift heute schon auf die von EADS Astrium gebauten Ter- Anmerkungen
raSAR-X Satelliten zurück; zudem sollen auch fünf neue 1 General a.D. Klaus Naumann u.a.: Towards a Grand Strategy for an
Uncertain World: Renewing Transatlantic Partnership, http://www.csis.
EADS-Satelliten für GMES ins All geschossen werden.
org/media/csis/events/080110_grand_strategy.pdf. Deutsche Überset-
OHB ist der Shootingstar der Raumfahrt- und Rüstungsin- zung auf www.gipfelsoli.org.
dustrie in Bremen und machte sich in letzter Zeit durch die 2 Kommission der EG (KOM(2008) 68 endgültig): Mitteilung der
Produktion des Satellitensystems SAR-Lupe für die Bun- Kommission zur Prüfung der Schaffung eines Europäischen Grenzkon-
deswehr einen Namen. Beide Firmen werden gerne in der trollsystems (EUROSUR).
47
Mit dem GASIM wurde 2006 eine ständige, behörden- rekt benachbarten „Gemeinsamen Terrorismusabwehrzen-
übergreifende „Informations-, Koordinations- und Koope- trum“ (GTAZ) koordinieren sich sogar 40 Behörden, dar-
rationsplattform“ diverser Bundesbehörden geschaffen. unter sämtliche deutschen Geheimdienste einschließlich
Das GASIM tauscht Informationen zwischen Behörden des MAD.
auf nationaler und auch auf internationaler Ebene aus. Ca. Die Missachtung des gesetzlich vorgeschriebenen Tren-
40 Angestellte des Bundesnachrichtendienstes, des Bunde- nungsgebots von Geheimdiensten und Polizeien ist nichts
skriminalamtes, der Bundespolizei, des Auswärtiges Amtes, Neues. Immer weitere „hybride Organisationen“ wurden
des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, des Zolls und werden4 unter dem Vorwand der Terrorismusbekämp-
und des Bundesamtes für Verfassungsschutz teilen dort ihre fung ins Leben gerufen. Trennungsgebot bedeutet, dass
Daten. 1 Geheimdienste und Polizeien nicht regelmäßig zusammen-
Hervorgegangen ist es aus dem seit November 2004 be- arbeiten dürfen. Während sich die Polizei auf die Aufklä-
stehenden „Gemeinsames Analyse- und Strategiezentrum rung von Straftaten, hinsichtlich derer ein so genannter
Schleusungskriminalität“ (GASS), das bereits im Mai 2006 „Anfangsverdacht“ besteht und die Bekämpfung aktuel-
in „Gemeinsames Analyse- und Strategiezentrum illegale ler Gefahren beschränken soll, darf der Verfassungsschutz
Migration“ (GASIM) umbenannt wurde. Im GASS wa- [bzw. andere Dienste] auch das so genannte Vorfeld weit
ren nur das Bundeskriminalamt (BKA) und der damalige entfernter Bedrohungsszenarien aufklären. Während der
Bundesgrenzschutz fest vertreten, der Bundesnachrichten- Verfassungsschutz sich auf Aufklärungsmaßnahmen nach-
dienst und das Bundesamt für Verfassungsschutz aber nur richtendienstlicher Art zu beschränken hat, stehen der Poli-
lose verbunden. Letztere bilden im GASIM einen festen zei weitere Befugnisse gegenüber der Bürgerin/dem Bürger
Bestandteil.2 Das Bundesinnenministerium erläuterte den zu. Sie darf durchsuchen und vernehmen, beschlagnahmen
umfassenden Zweck des GASIM folgendermaßen: und verhaften.5 Juristisch hat das Trennungsgebot keine ge-
„Die illegale Migration mit ihren Auswirkungen auf die naue Definition. Sein historischer Ursprung ist der so ge-
Kriminalitätslage, den Arbeitsmarkt und die Sozialsysteme in nannte „Polizeibrief“ der drei westlichen Alliierten an den
Deutschland ist eine der gegenwärtig größten Herausforderun- Präsidenten des Parlamentarischen Rates vom 14. April
gen für unsere Gesellschaft. Sie muss umfassend und wirkungs- 1949. Er verbietet dem Parlamentarischen Rat, vermutlich
voll verhindert werden. Nur durch eine aufeinander abge- unter dem Eindruck der unbeschränkten Befugnisse der
stimmte Vorgehensweise aller betroffenen Behörden und Stellen nationalsozialistischen „Geheimen Staatspolizei“ (GESTA-
ist dieses Ziel erreichbar. Das Gemeinsame Analyse- und Stra- PO), die Einrichtung von Geheimdiensten mit polizeili-
tegiezentrum illegale Migration wird hierzu einen wichtigen chen Befugnissen. Im GASIM werden aber ganze Aktensta-
Beitrag leisten.“3 pel der Bundespolizei und des Bundesnachrichtendienstes
ausgetauscht.6
Trennungsgebot missachtet
Allgemein lässt sich eine klare Trennung zwischen infor-
Die Funktionen von GASIM und von FRONTEX besit- mationell und operativ schwerlich ziehen: Generell gilt,
zen Ähnlichkeiten: Als „Agentur“ ist das GASIM Außen- dass Geheimdienste zumindest offiziell keine exekutive Be-
stelle verschiedener Dienste und ist damit nur den Dienst- fugnis besitzen, sondern diese durch Polizeistellen (Polizei,
stellen der jeweiligen Ämtern Rechenschaft schuldig. Die Bundespolizei, BKA) ausgeübt werden. Wenn ein Geheim-
Öffentlichkeit wird deshalb in keiner Weise über dessen dienst eine Information an die Bundespolizei weitergibt,
Arbeit und (Miss-)Erfolge informiert. Eine parlamentari- kann das zum Beispiel bei Personenkontrollen, bei der
sche Kontrolle ist ebenfalls kaum gegeben. Allenfalls die Visumvergabe, an der Arbeitsstelle oder bei Bewerbungen
Existenz und die Struktur des GASIM wurden bekannt ge- überraschende Folgen haben. Grenzübertritte können un-
macht. Als „nationale Vernetzungsmaschine“ hat das GA- tersagt werden, Bewerbungen können abgelehnt werden,
SIM aber Zugang zu nationalen sowie einigen europäischen ohne dass die Ursache bekannt gemacht wird, geschweige
Datenbanken. Denn mit Ausnahme des „Militärischen Ab- denn, dass der Vorbehalt widerlegt werden kann. Ein ein-
wehrdienstes“ (MAD) sind alle wesentlichen polizeilichen facher Dateneintrag hat also unter Umständen praktische
und geheimdienstlichen Behörden in ihr vertreten. Im di- Folgen.
48 WIDERSTÄNDIGE PERSPEKTIVEN
Einschätzung Anmerkungen
Das GASIM ist das nationale Pendant zu FRONTEX. 1 Pressemitteilung des Bundesministeriums des Inneren vom
Bislang ist das GASIM mit wenig Personal (formal ohne 17.07.2006. Gemeinsames Analyse- und Strategiezentrum illegale Mi-
gration (GASIM): Herausforderungen der illegalen Migration wirksam
eigenes Budget) ausgestattet, vorrangig auf die Erstellung begegnen. http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/
von Lagebildern ausgerichtet sowie durch die Mitarbeit von DE/2006/07/gemeinsames_analyse_%20und_strategiezentrum_%20il-
Geheimdiensten weit gehend der parlamentarischen Kon- legale_migration_gasim.html.
trolle entzogen. 2 Jan Wörlein: Das Trennungsgebot zur Zusammenarbeit. Institutiona-
lisierte Kooperation von Polizei und Diensten, in: ak - analyse & kritik
Migration unterliegt weiterhin dem Stigma des Subver-
- zeitung für linke debatte und praxis, Nr. 532, 17.10.2008.
siven und damit Gefährlichen. Wenn MigrantInnen in 3 Siehe Fußnote 1.
die Nähe von Terrorismus gerückt werden, sind die Prio- 4 Mitte 2009 soll eine weitere gemeinsame Einrichtung in Betrieb ge-
ritäten für die law-and-order-PolitikerInnen klar: Alle hen. Eine Bundesabhörzentrale, mit Sitz im Bundesverwaltungsamt
(rechts-)staatlichen Mittel müssen gebündelt und ange- in Köln, deren Mitglieder aus Bundeskriminalamt, Bundespolizei und
Bundesamt für Verfassungsschutz dort im Kompetenzzentrum-Telekom-
wendet werden. Im Zweifelsfall auch Mittel, die darüber munikationsüberwachung (CC-TKÜ) „Konzeptions-, Planungs- und
hinausgehen können, wie es im Fall des GASIM geschieht. Forschungsaktivitäten zur TKÜ bündeln“ und wo im Servicezentrum-
Illegale Migration war und ist und wird es immer geben. TKÜ (SC-TKÜ) ein „reiner IT-Dienstleister“ arbeiten soll. Siehe Bun-
Und ihre Bekämpfung durch den Staat ist ebenfalls ein destags-Drucksache 16/10137.
5 Christoph Gusy: Trennungsgebot; Tatsächliches oder vermeintliches
Kontinuum, so lange der Begriff „Illegale Migration“ exi-
Hindernis für effektive Maßnahmen zur Bekämpfung des internationa-
stiert. len Terrorismus?, in: Möllers/ v. Ooyen (Hg.), Jahrbuch Öffentliche Si-
www.chipkartenini.squat.net cherheit 2008/2009, sowie online unter: http://www.jura.uni-bielefeld.
de.
6 Fernsehsendung „Report Mainz“ (ARD) vom 29.9.2008: „Experten:
Gemeinsames Analyse- und Strategiezentrum der Bundesregierung ver-
fassungswidrig“, siehe auch: „Report Mainz“ (ARD): Rechtswidrige Da-
tenübermittlung im GASIM, Pressemitteilung vom 28.5.2009.
Sitz des GASIM in den Berliner Treptowers, Quelle: wikipedia CC, Georg Slickers
49
Die Kundgebung blieb erwartungsgemäß klein, doch der zunehmend von Frontex koordinierten und finanzierten
symbolische Protest vor der Frontex-Zentrale in Warschau „Charter der Schande“ denunziert wurden.5 Zum Zweiten
gewann enorm an Ausdrucksstärke, als Amadou M`Bow mit einer Protestaktion vor der Akademie der Bundespoli-
das Megaphon in die Hand nahm (siehe Foto auf S. 42). Als zei in Lübeck, in der regelmäßig Frontex-Schulungen statt-
Vertreter der mauretanischen Menschenrechtsorganisation finden.
AMDH1 forderte er den sofortigen Stopp der Operation Das 5. Europäische Sozialforum im Oktober 2008 im
Hera und konfrontierte die Frontex-Verantwortlichen auch schwedischen Malmö bot danach eine erste Gelegenheit,
in einem späteren direkten Gespräch mit den tödlichen die Aktionskette zu bilanzieren und weitere Schritte gegen
Folgen ihrer Abschreckungsaktion vor der westafrika- Frontex auf europäischer Ebene zu verabreden. Im Plenum
nischen Küste.2 AktivistInnen aus Polen und Deutschland, der migrationspolitischen Vernetzung in Malmö kam erst-
aber auch aus den Niederlanden, Italien und Griechenland mals der Vorschlag für ein Noborder-Camp auf der griechi-
beteiligten sich am 6. Juni 2008 an diesem ersten Protest schen Insel Lesbos zur Sprache. Frontex war dort im Som-
direkt vor dem Sitz der europäischen Grenzschutzagentur. mer 2008 bekanntlich mit einem eigenen Schiff im Einsatz,
Eingebettet war die Mobilisierung in eine transnationale ein Aktionscamp an diesem Brennpunkt des EU-Grenzre-
Aktionskette, die sich zeitversetzt an zehn Stationen zum gimes biete insofern die Möglichkeit, erstmals zu versu-
einen gegen das EU-Grenz- und Abschieberegime richtete, chen, eine Frontex-Operation direkt zu stören. Mittlerwei-
zum anderen aber auch die Ausbeutung migrantischer Ar- le (Stand: Juli 2009) ist die Mobilisierung nach Lesbos in
beit thematisierte. Der Aufruf stellte beide Zielrichtungen vollem Gange, mindestens 400 bis 500 TeilnehmerInnen
in einen übergreifenden Zusammenhang: „Auf der ganzen aus verschiedenen Ländern Europas werden erwartet, und
Welt gründet die kapitalistische Ausbeutung auf einem glo- ein Aktionstag am Hafen von Mytilini ist ausdrücklich der
balen Gefälle, das durch Filter und Zonen, mittels Hierar- griechischen Küstenwache und Frontex gewidmet.
chien und Ungleichheiten, sowie durch äußere und innere
Transnational Manifesto
Grenzen bewusst hergestellt wird. Illegalisierung und Ab-
schiebung einerseits, selektiver Einschluss und Anwerbung „Das europäische Grenzregime ist also ein zentrales In-
von migrantischen Arbeitskräften andererseits, es sind zwei strument in der Produktion von Differenzen und Hierar-
Seiten derselben Medaille: es geht um Migrationsmanage- chien. Die Militarisierung der Grenzen, die Überwachung
ment für eine globales Apartheid-Regime, dessen höchst der mediterranen Region und Osteuropas, die Rückfüh-
prekäre Ausbeutungsbedingungen auf der Produktion im- rungsabkommen, das übergreifende Kontrollsystem, das
mer neuer Hierarchien und abgestufter Rechte sowie rassis- Europa mit Frontex aufbaut - all diese Fakten müssen als
tischen Diskriminierungen basieren.“3 Instrumente selektiver Inklusion und Rekrutierung mi-
grantischer Männer und Frauen verstanden werden, deren
Transnationale Aktionskette Bewegungen die Grenzen tagtäglich in Frage stellen. Denn
Nicht zufällig wurde Frontex in mehreren Stationen der all diese Grenzen können migrantische Kämpfe nicht ver-
Aktionskette zum Thema gemacht, bereits im März 2008 hindern. Was vielmehr heute auf dem Spiel steht, ist die
in Mali. Die Selbsthilfeorganisation AME4 organisierte in transnationale Verknüpfung dieser Kämpfe.“ Diese Zeilen
Bamako eine Konferenz mit 200 von Ab- und Rückschie- stammen aus einem Manifest, das im Anschluss an das Tref-
bungen Betroffenen, dabei geriet die Externalisierung der fen in Malmö von den beteiligten Gruppen veröffentlicht
EU-Migrationskontrolle bis in die subsaharischen Länder wurde.6 Das Noborder-Camp auf Lesbos ist nun zunächst
und die besondere Rolle von Frontex immer wieder ins der Ort, an dem die formulierten inhaltlichen und prakti-
Zentrum der Kritik. schen Ansprüche weiterentwickelt werden können. Denn
Das antirassistische Aktionscamp im August 2008 in hier werden nicht nur unterschiedliche AktivistInnen aus
Hamburg, ebenfalls eine Station in der Kette, rückte Fron- den Schengenländern zusammenkommen. Eingeladen
tex gleich in doppelter Weise ins Blickfeld: zum Ersten über sind zum einen VertreterInnen einer Bordermonitoring-
eine „Flutenaktion“ am und im Flughafen, mit der die Initiative aus der Westukraine, die (oben zum Teil bereits
50 WIDERSTÄNDIGE PERSPEKTIVEN
erwähnten) AktivistInnen der europäisch-afrikanischen des so genannten Stockholmer Programms an, nach Tam-
Vernetzung aus Marokko, Mauretanien und Mali sowie pere (1999) und Hague (2004) der nächste 5-Jahresplan
nicht zuletzt Gruppen aus der Türkei, die im letzten Jahr für Justiz und Inneres. Dass die weitere Aufwertung und
auf der gegenüberliegenden Seite der Ägäis in Dikili ein technologische Hochrüstung von Frontex (Stichwort E-
kleines Noborder-Camp organisiert hatten. Diese trans- Borders!) zentraler Bestandteil der neuen Planungen sind,
nationale Zusammensetzung auf Lesbos bietet jedenfalls kann kaum verwundern.7 Stockholm könnte insofern aber
eine optimale Voraussetzung, die angelaufene Kampagne auch eine geeignete Bühne für einen konzertierten Kampa-
gegen Frontex zu verbreitern und zu verstärken. Einerseits gnenschritt sein.
stellt sich die Frage, wie auf jeweils dezentraler Ebene diese
Anmerkungen
Grenzschutzagentur als Mörder und Jäger der Boatpeople
1 AMDH: Association Mauritanienne des Droits de l‘Homme/Mens-
zu delegitimieren bzw. denunzieren wäre: bei allen mög- chenrechtsvereinigung Mauretaniens.
lichen öffentlichen Auftritten ihrer Repräsentanten aber 2 Siehe Artikel von Bernd Kasparek zu Frontex-Operationen im Mit-
auch während ihrer Schulungen oder bei den immer häu- telmeer.
figeren Land-, See- und Flughafen-Operationen. Das No- 3 Aufruf, Berichte und Fotos zur transnationalen Aktionskette unter
www.noborder.org.
border-Camp auf Lesbos wird hierfür ja auch erste wichtige 4 AME: Association Malienne des Expulsés / Vereinigung der Abgescho-
praktische Erfahrungen bringen. benen in Mali.
Zum anderen bietet sich Ende des Jahres 2009 eine wei- 5 Siehe Artikel von Conni Gunßer zur Rolle von Frontex bei Abschie-
tere Gelegenheit für einen gebündelten Protest. Zum 1. bungen.
Juli hat Schweden die EU-Präsidentschaft übernommen, 6 Siehe http://www.noborder.org/archive_item.php?id=447.
7 Siehe erste Aufrufe gegen das Stockholmer Programm unter http://
im November oder Dezember steht die Verabschiedung stockholm.noblogs.org/.
Bei FRONTEX handelt es sich um ein Gebilde, das Im Jahr 2007 fanden die ersten dieser Kurse in der
schwierig zu thematisieren und anzugreifen ist. Erste Ver- Lübecker Akademie statt. Damals gab es dazu noch Öf-
suche, ein Bewusstsein zumindest über die Existenz dieser fentlichkeitsarbeit der Veranstalter in der lokalen Presse.
Agentur zu schaffen, scheinen aber erfolgversprechend und In Anwesenheit des damaligen Lübecker Stadtpräsidenten
letztlich muss natürlich über öffentlichen Druck eine Dis- Sünnenwold erläuterte der Direktor von FRONTEX, Ilkka
kussion hergestellt werden. Laitinen. die Ziele der Kurse: „Das Grundprinzip unserer
Dazu ist es wichtig, verschiedene Wege zu beschreiten. Fortbildungsaktivitäten ist verbunden mit der Erarbeitung
Was die politische Aktion angeht, sind wir der Meinung, gemeinsamer Ausbildungsstandards, um eine Vergleichbar-
dass es wichtig ist, die Politik von FRONTEX an allen nur keit der nationalen Fortbildungssysteme sowie die Kompa-
möglichen Orten öffentlich zu machen und anzugreifen. tibilität der Humanressourcen und der technischen Mittel
Das ist schwierig bei dieser Agentur, deren Operationen zu zu erreichen.“ Die gemeinsame Ausbildung fördert aus sei-
einem großen Teil auf hoher See oder in dünn besiedelten ner zynischen Sicht die „Effektivität des Managements“ an
Gebieten stattfinden, wo sie dem Auge der Öffentlichkeit den Außengrenzen Europas.
entzogen sind und wo praktische Solidarität so gut wie un- Der Stadtpräsident ließ es sich nicht nehmen bei dieser
möglich ist. Veranstaltung begrüßende Worte im Namen der Hanse-
Deshalb ist die Bundespolizeiakademie in Lübeck – ne- stadt Lübeck zu sprechen, und sein großes Interesse an die-
ben Flughäfen, Flüchtlingslagern, Bahnhöfen, Inseln an der ser Art von Flüchtlingsabwehr bewog ihn später auch, den
Grenze Europas etc. ein Ansatzpunkt, wo die europäische Hauptsitz von FRONTEX in Warschau zu besuchen.
Flüchtlings- und Migrationspolitik skandalisiert werden Schon damals versuchte das Lübecker Flüchtlingsforum
kann. Der Kampf gegen die europäische Flüchtlingsab- durch kleinere Kundgebungen und Informationsveranstal-
wehr, die nur deswegen in der derzeitigen Form stattfinden tungen auf diesen Skandal hinzuweisen.
kann, weil sie eben nicht sichtbar ist, kann und muss auch Für die Organisation der Protestaktionen im August 2008
eine lokale Ebene haben. fanden sich diverse Lübecker Initiativen zusammen. Es war
Im Rahmen des Antirassistischen Camps in Hamburg für uns wichtig, sowohl an der außerhalb von Lübeck gele-
im August 2008 war auch die Vereinheitlichung der euro- genen Akademie als auch in der Stadt selbst aktiv zu wer-
päischen Grenz- und Flüchtlingspolitik und insbesondere den und sichtbar zu sein. So fand der Aktionstag in zwei
die Rolle der Agentur FRONTEX ein großes Thema. Von Abschnitten statt:
Anfang an war Konsens, dass das Camp nicht nur dem Aus- Zuerst bauten wir uns vor dem Tor der Akademie auf,
tausch von Ideen und dem Herstellen von Öffentlichkeit, führten eine Kundgebung durch und versuchten, die Mauer
sondern auch dem praktischen Protest und Widerstand zu “durchlöchern”, indem wir entsprechend gestaltete Pla-
dienen sollte. So entstand auch der Gedanke, an der Bun- kate auf die dicken Mauern der ehemaligen Kaserne kleb-
despolizeiakademie in Lübeck gegen die Aktivitäten von ten. Musikalischer Protest kam von der Gruppe Lebenslau-
FRONTEX zu protestieren. te, die schon im Vorfeld ein Konzertprogramm einstudiert
Diese Akademie ist eine wichtige Ausbildungsstätte der hatte und es vor Ort zum Besten gab.
Bundespolizei. Ein Teil der Ausbildung jedeR Bundespo- In der Stadt demonstrierten dann etwas 500 Menschen
lizistIn findet dort statt und auch weitere Seminare und lautstark und kraftvoll gegen FRONTEX und die Abschot-
Kurse werden hier veranstaltet. So hält auch Frontex Fort- tung gegen Flüchtlinge. Das Echo der Lübecker Presse war
bildungsveranstaltungen, so genannte “mid-level courses”, für dortige Verhältnisse recht positiv.
in der Akademie ab. Diese Kurse bestehen aus vier Blöcken Seit Ende 2006 ist das Flüchtlingsthema in Lübeck durch
von jeweils einer Woche, die in Deutschland, Litauen, Un- den in Italien stattfindenden Cap-Anamur-Prozess wieder
garn und Slowenien stattfinden, und werden von Polizeibe- aktueller geworden. Der damalige Kapitän der Cap Ana-
amtInnen der mittleren Führungsebene (daher der Name) mur, Stefan Schmidt, der im Juni 2004 37 Flüchtlinge im
besucht. Inhalt dieser Kurse ist die Vorbereitung der Be- Mittelmeer rettete und deshalb nun in Italien wegen ban-
amtInnen der europäischen Grenzpolizeien auf die Durch- denmäßiger Beihilfe zur illegalen Einreise in besonders
führung gemeinsamer Grenzschutzaktionen sowie die Ver- schwerem Fall vor Gericht steht, ist Lübecker. Wir beschäf-
besserung der Zusammenarbeit der nationalen Behörden. tigen uns weiterhin mit diesem Thema und versuchen, kon-
Es soll Wissen über polizeitaktische Grundlagen, Abläufe, krete Hilfe zu geben und Öffentlichkeit herzustellen.
Verfahren und Einsatzstrukturen in den jeweiligen Staaten
vermittelt werden.
52 WIDERSTÄNDIGE PERSPEKTIVEN
Am 15. und 16. März 2008 wurde von der malische heraus, sie schämen sich nicht mehr und sie haben beschlos-
Organisation von Abgeschobenen (Association Malienne sen, für ihre Rechte zu kämpfen. Wir müssen diese Mo-
des Expulsés, AME) und ihren UnterstützerInnen eine Ta- bilisierung ausweiten und nicht mehr nur Abschiebungen
gung organisiert, an der ca. 200 Menschen teilnahmen. Im verurteilen, sondern gleichzeitig unsere Rechte einfordern.
Folgenden wird der Appell der TagungsteilnehmerInnen
Wir fordern vom Staat Mali:
leicht gekürzt dokumentiert:
• die bilateralen Rückübernahmeabkommen mit dem
APPELL französischen und spanischen Staat nicht zu unterzeich-
Auf internationaler Ebene verschlechtert sich die Rechtsla- nen, die zu einer Beschränkung der Einwanderung auf
ge von MigrantInnen. Die Einwanderungsgesetze verschär- ausgewählte Immigranten und zur Ausweitung der Ab-
fen sich immer weiter infolge der verstärkten Repression, schiebungen von malischen Arbeitern ohne Papiere führen
der Zusammenarbeit in der Abwehr der Flüchtlingsströme würden - seine Konsulate aufzufordern, keine Laissez-pas-
und der Auslagerung der europäischen Grenzkontrollen. ser mehr auszustellen, die die Abschiebung von Maliern
Die Einsetzung des Programms von Den Haag 2004 (Aus- erleichtern
lagerung der Grenzkontrollen) hat auch zu einer verstärkten • die Legalisierung aller Arbeiter ohne Papiere zu fordern
Repression gegen MigrantInnen in Europa geführt. Dieses • Familienzusammenführung zu verlangen
Programm macht die Transitländer zur Grenzpolizei Euro- • vom französischen Staat die Rückgabe des Besitzes der
pas - es wird regelrecht Krieg gegen MigrantInnen geführt. Abgeschobenen zu fordern, und dass sie von ihren Rechten
Die Soldaten sind dabei die afrikanischen Staaten und Gebrauch machen können, die sie durch ihre Beitragszah-
die europäische Grenzschutzagentur FRONTEX, der be- lungen erworben haben
waffnete Arm Europas. Die ersten Opfer dieses Kriegs sind • die Richtlinie der Europäischen Union zur Rückfüh-
die „Reisenden ohne Visum“, die beim Versuch, die euro- rung zu verurteilen, die eine regelrechte Demütigung der
päische Grenze zu erreichen, Schreckliches erleiden, und afrikanischen Völker ist
durch die Behörden der afrikanischen Transitländer zutiefst • die Zusammenarbeit mit der Granzschutzagentur
gedemütigt werden, wenn sie nach Mali zurückgeschoben FRONTEX abzulehnen, die gegründet wurde, um die
werden. Die EU-Richtlinie zur Rückkehr, über die im Mai Kontrolle der europäischen Grenzen auszulagern
abgestimmt wird, sieht die Möglichkeit vor, Personen ohne • zu fordern, dass das Zentrum für Information und Ver-
gültigen Aufenthalt 18 Monate zu inhaftieren und bei einer waltung der Auswanderung nicht eröffnet wird und die
Abschiebung von Sans Papiers eine Einreisesperre für Euro- vorgesehenen Gelder in die Unterstützung der abgescho-
pa von 5 Jahren zu verhängen. benen und zurückgeschobenen Personen fließen
Die EU und besonders Frankreich nutzen die Abhängig- • allen Abgeschobenen und Zurückgeschobenen Unter-
keit der afrikanischen Länder von finanziellen Investitionen stützung zu leisten, die ja nur versucht haben, nach Europa
aus, um ihre Einwanderungspolitik durchzusetzen. Aber zu gehen, um ihren Familien, und damit ihrem Land, zu
diese Gelder entsprechen nicht einmal dem Bedarf unserer helfen, sich zu entwickeln
Länder, wie die Tatsache zeigt, dass der finanzielle Beitrag • ein paritätisch besetztes Komitee zu gründen, bestehend
der im Ausland lebenden Malier zur Entwicklung in Mali aus Regierungsvertretern und Abgeschobenen, um die erlit-
höher ist als die so genannte Entwicklungshilfe. Diese Zah- tenen Schäden abzuschätzen
lungen, die Entwicklungsprojekten zugute kommen sollen, Wir wünschen uns, dass wir nach diesen Tagen, die uns
werden in Wirklichkeit zur Kontrolle der Flüchtlingsströ- stärker verbunden haben, gemeinsam weiterkämpfen wer-
me verwendet: 10 Millionen Euro aus dem Europäischen den. Wir fordern alle Abgeschobenen auf, sich uns anzu-
Entwicklungsfond fließen in das geplante Zentrum für schließen und sich massiv zu mobilisieren
Information und Verwaltung der Auswanderung aus Mali,
das dafür zuständig ist, Migration zu bekämpfen und Mi- Bamako, 16. März 2008
grationsströme zu kontrollieren. (...) unterstützt von den anwesenden Organisationen
Sans Papiers, Abgeschobene und Zurückgeschobene ha-
ben angefangen, sich in verschiedenen Gruppen in Europa
und Mali zu organisieren. Sie treten aus dem Verborgenen
Die Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. arbeitet seit 1996 in einem breiten Spek-
trum friedenspolitischer Themen mit einem starken Fokus auf Deutschland und seine
Rolle in der Welt.
Als gemeinnütziger Verein ist es unser Ziel mit unseren Analysen und Informationen einen
Beitrag zur Völkerverständigung zu leisten. Wir verstehen uns dabei als ein Mittler zwi-
schen der Friedensbewegung und der wissenschaftlichen Bearbeitung von Konflikten und
Konfliktkonstellationen durch die Wissenschaft.
Die Informationsstelle gibt die Internet-Zeitschrift IMI-List heraus, die wichtige Ereignis-
se zeitnah kommentiert und auf aktuelle Texte und Informationen verweist. Die IMI-List
ist derzeit von über 1000 Personen abonniert und erscheint ein bis zwei Mal im Monat.
Der AUSDRUCK ist das Infomagazin von IMI und erscheint alle zwei Monate in einem
Umfang von ca. 28-32 Seiten. In Ihm werden umfangreiche Analysen in einem anspre-
chenden Layout präsentiert. Alle IMI-Texte (wie diese Broschüre) sind gratis im Internet
verfügbar.
Über unsere Publikationstätigkeit hinaus führt die Informationssstelle auch regelmäßig
eigene Veranstaltungen durch. So widmet sich der jährliche Kongress im November meist
einem Thema aus unseren Schwerpunkten und bringt hier fachkundiges Publikum und
kompetente Vortragende zusammen. Die Kongresse geben Gelegenheit, sich aktiv in eine
laufende, aktuelle Diskussion einzubringen und Informationen zu sammeln. Über unseren
„großen Kongress“ hinaus stehen Referentinnen und Referenten aus den Reihen von IMI
für kleine und große Veranstaltungen zur Verfügung.
Die Informationsstelle Militarisierung e.V. finanziert sich über Beiträge der Mitglieder und
Spenden und wird durch einen Förderkreis unterstützt. Wenn Sie wissen wollen, wie Sie
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