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die idee < 25

ALLES AUF ANFANG

Beim Start der deutschen Demokratie 1848 in der Paulskirche ging es um eine
neue Form der Selbstbestimmung und Selbstorganisation. Das Medium der
Demokraten war die Flugschrift, ihre Technologie war die Druckerpresse. Es
war leicht geworden, publizistische und journalistische Schriften zu veröf-
fentlichen, es gab eine neue Medienkompetenz und es gab eine politische
Öffentlichkeit, in der die Kernsätze und Ideen zirkulieren konnten.

Dann kamen die Massenmedien, die fortschreitende Verselbständigung


der Parteiapparate und des Staatsapparats. Die einzelnen BürgerInnen ent-
fremdeten sich von der Ebene, wo Politik wirklich gemacht wurde. Aber jetzt,
zu Beginn des neuen Jahrtausends, haben wir plötzlich wieder eine neue Form
von politischer Kommunikation und Vernetzung, die allen offen steht und so-
fort benutzbar ist.

Versetzen wir uns also zurück in die Situation der demokratischen Pio-
niere.1 Statt Feder und Bleisatz haben wir Maus und Netz. Und Mobiltelefone
mit Netzverbindung, Kamera und Aufnahmefunktion. Was wird dadurch mög-
lich? Wie könnte ein Neustart aussehen? Was sind die Konturen einer digita-
len Demokratie?

GESCHLOSSENE GESELLSCHAFT

Die Politik und das Netz haben noch immer sehr wenig miteinander zu tun im
Internet-Entwicklungsland Deutschland.2 Wählen ist ja nur ein Bruchteil der
politischen Aktivitäten, die zusammen eine lebendige Demokratie ausmachen.
Aber die Politik wird noch mehr als früher von Insider-Zirkeln in geschlossenen

1
Das war der Aufruf der „Rebooting America“-Initiative: „When the Farmers met in Philadel-
phia in 1787, they bravely conjured a new form of self-government. But they couldn’t have
imagined a mass society with instantaneous, many-to-many communications or many of
the other innovations of modernity. So, replacing that quill pen with a mouse, imagine that
you have to power to redesign American democracy for the Internet Age. What would you
do?“ http://rebooting.personaldemocracy.com/ Diese Idee liegt auch „Reboot Britain“ zu
Grunde: http://www.rebootbritain.com/
2
Marcel Weiss zum „Internet-Entwicklungsland Deutschland“ auf dem wichtigen netzwertig-
Blog: http://netzwertig.com/2009/04/24/deutschland-degeneriert-in-ein-entwicklungs-
land-teil-1-von-3/ und http://netzwertig.com/2009/04/30/deutschland-degeneriert-in-ein-
entwicklungsland-teil-2-von-3/
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Räumen betrieben, unter Ausschluß der Öffentlichkeit: in Kabinettssitzungen, in


Fraktionssitzungen, in Redaktionskonferenzen, in Anhörungen der Lobbyisten.

Unsere Gesellschaft braucht einen offenen Raum, in dem sie mit sich selbst
spricht, nachdenkt, diskutiert. Bisher war das die Kombination aus Parlament,
Parteiversammlungen und Verbandstreffen, plus Presse/Rundfunk/Fernsehen
als Verstärker. Also Menschen vor Ort, die sich regelmäßig treffen, um in einem
größeren Kreis miteinander zu reden. Das hat bis zu den 1980er Jahren eini-
germaßen funktioniert, aber es funktioniert nicht mehr.

Das Parlament funktioniert nicht mehr. Öffentliche politische Rede als


Medium ist kraftlos. Weder die Regierung noch die Öffentlichkeit interessieren
sich noch für das, was im Bundestag geredet wird. Sogar innerhalb von Parteien
werden Standpunkte jetzt ausgetauscht über taktisch platzierte Interviews in
Frühstücksradios und Provinzzeitungen, die gar sind nicht mehr eigentlich für
die mäßig interessierte Öffentlichkeit bestimmt sind, sondern vor allem für
die weitere Zirkulation in der selbstbezüglichen Medienmaschine.

Und auch die alten Medien funktionieren nicht mehr richtig. Wir leben
wahrhaftig in aufregenden Zeiten, aber die Nachrichten und die Leitartikel
regen niemand auf. Sie befassen sich mit ritualisierter Selbstbespiegelung
des Apparats und mit läppischen „Skandalen“. Und die TV-Talkshows haben
noch nie jemand wirklich aufgeregt. Statt der dringend nötigen politischen
Grundsatzdiskussion tauscht man von PR-Experten gedrechselte Formeln aus,
die von der dümmsten anzunehmenden Öffentlichkeit ausgehen.

Wir alle spüren untergründig, dass der beschränkte Bestand an immer


gleichen Polit-Formeln und Polit-Ritualen, der sich in den letzten 40 Jahren
herausgebildet hat, unsere Wirklichkeit nicht mehr ausdrückt. Und zugleich
ahnen wir, dass der Status Quo nicht so bleiben wird.

Die Parteien funktionieren nicht mehr. Aber auf der Straße findet der po-
litische Diskurs auch nicht statt. Wenn Leute überhaupt noch über Politik spre-
chen, witzeln sie müde über Oberflächlichkeiten, über Dienstwagenaffären
und Kandidatendarsteller. Kaum jemand würde noch sagen „Ich bin ein poli-
tischer Mensch“. Die Wahlbeteiligung ist dementsprechend.

Man könnte sagen, das Desinteresse liege daran, dass alle Probleme im
Wesentlichen gelöst sind: Sicherheit, Freiheit, Auto, Urlaub. Aber das ist ja
die idee < 27

nicht mehr der Fall. Gerade jetzt vollzieht sich ein epochaler Umbruch, der
nicht nur die Wirtschaft, sondern die Gesellschaft insgesamt betrifft: also die
Art, wie wir leben, arbeiten, lernen. Wie wir konsumieren und kommunizieren.
Wie wir Erfolg und Misserfolg definieren.

Das gewachsene politische System der alten Bundesrepublik wird mehr


und mehr zu einer ausgehöhlten Fassade. Die alten Medien haben die Funk-
tion eingebüßt, das auszusprechen, was die Gesellschaft umtreibt. Das Leben
ist anderswo, die fällige Bestrafung wird sich kaum mehr vermeiden lassen.

Aber trotzdem reden und denken die Leute ja unaufhörlich. Jeden Tag muss
ja die Welt mit Worten neu hergestellt werden. Wo ist also der gegenwärtige
Raum für lebendige Öffentlichkeit? Für das angeregte Stimmengewirr, für das
kollektive Selbstgespräch?

Und zur Zeit ist die einzige Antwort darauf eben: Im Netz. In der Google-
Galaxie.

DAS NETZ ALS NEUER POLITISCHER RAUM

Aber was ist das: „Das Netz“?3 Das Netz besteht nicht aus Botschaften, es be-
steht aus Impulsen, Kettenreaktionen und Beziehungen. Es ist kein überdi-
mensionales Archiv von einzelnen „Webseiten“, es ist eher wie das große
Murmeln auf einer gigantischen Stehparty. Es ist ein neuartiger Sprachraum,
ein Raum für menschliche Äußerungen und menschliche Stimmen. Ein Bezie-
hungsmeer.

Weil das vor allem in schriftlicher Form geschieht, ist das Netz zugleich ein
offener, unendlicher, sich ständig wandelnder Text. Bilder, Video und Audio
sind darin eingebettet und werden so Teil davon. Entscheidend sind die Links:
Die das Lineare aufheben und das Ganze zu einem dichten, kleinteiligen
Gewebe von miteinander vernetzten Aussagen und Ideen zusammenfügen,
eine jede gerade so groß, dass sie in eine Aufmerksamkeitsspanne passt.
3
Wenn man in Deutschland von „das Netz“ spricht, meint man damit in der Regel das
„World Wide Web“. Das Web ist die multimediale, menschenlesbare Nutzeroberfläche, die
auf dem Hypertext-Protokoll aufbaut. ImWeb ist man also immer dann, wenn eine Adresse
mit http:// beginnt. (Das „www“ dagegen ist nicht unbedingt notwendig.) Das Internet ist
die umfassende Infrastruktur für den Versand und Austausch von digitalen Daten. Hier
gibts es auch noch andere Räume mit anderen Protokollen: etwa das eigentümliche eMail-
Universum oder die berüchtigten „Tauschbörsen“.
28 > die idee

Es stimmt, in diesem Raum tauschen sich erst wenige aus, in Deutschland


sogar weniger als anderswo. Aber hier, im Netz, ist gegenwärtig der einzige
noch unbesetzte und lebendige Raum, der sich überhaupt in unserer krisen-
gepeinigten Gesellschaft bietet, und er eröffnet völlig neue Möglichkeiten:
soziale, technische, geistige, kulturelle, ökonomische, demokratische.

Das Netz wird die Politik grundlegend verändern, da besteht kein Zweifel.
Bei Reboot_D geht es darum, wie das geschehen wird und wie wir das positiv
beeinflussen können.
die idee < 29
Reboot_D – Digitale Demokratie
Alles auf Anfang
http://www.creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/3.0/de/

ES IST IHNEN GESTATTET:

• das Werk zu vervielfältigen, zu verbreiten und öffentlich


zugänglich zu machen.
• Abwandlungen beziehungsweise Bearbeitungen des Inhaltes an
zu fertigen.

ZU DEN FOLGENDEN BEDINGUNGEN:

Namensnennung
Sie müssen den Namen des Rechteinhabers – Ulrike Reinhard – nennen.

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Dieses Werk darf nicht für kommerzielle Zwecke verwendet werden.

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