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Veronika Tacke 1
I. Einleitung
Mit dem Netzwerkansatz ist in der Soziologie bis heute eher eine 'uni-
verselle' Methode zur formalen Analyse von Sozialstrukturen als eine
ausgearbeitete Sozialtheorie angesprochen (Trenzzini 1998). Gleichwohl
liegen dem Ansatz sozialtheoretische Annahmen zugrunde, die ihn als
eine “strukturelle Handlungstheorie” (Burt 1982) erkennbar machen, die
einem “antikategorialen Imperativ” der Handlungserklärung folgt (vgl.
Emibayer/Goodwin 1994, 1414). Der klassischen Fronstellung öko-
nomischer und normativer Handlungsmodelle, die beide als
subjektivistisch zurückgewiesen werden, weicht der Netzwerkansatz
aus, indem er das Schisma durch die Annahme der Kontextabhängigkeit
des Handelns substituiert. Angenommen wird, daß Handeln kontext-
abhängig in dem Sinne ist, daß Handelnde sich in ihrem Handeln stets
9 Vermutlich ist schon oft gesagt worden, daß der Netzwerkansatz auf eigentüm-
liche Weise formal bleibt. Muster sozialer Beziehungen werden unter Zuhilfe-
nahme mathematischer Modellierungen und Matrizenrechnungen in ihrer
Dichte, Komplexität, Transitivität usw. sichtbar gemacht. Schnell drängt sich
dann die Frage auf, inwiefern der Netzwerkanalytiker eigentlich etwas be-
obachtet, was so – zumal in seiner Gesamtheit – eigentlich niemand anders be-
obachtet bzw. beobachten kann. Die Netzwerktheorie präsentiert sich als über-
legener Beobachter, der die Gesellschaft von außen beobachtet, das Verhältnis
seiner Beobachtungen zu den Beobachtungen im Gegenstandsbereich aber nicht
aufklärt.
10 Man denke beispielsweise an die Wiederentdeckung regionaler Unternehmens-
netzwerke in Norditalien (Piore/Sabel 1985). Ihr Überraschungswert beruhte auf
der Beobachtungsfolie eines fordistischen Produktions- und Regulationsregimes
– und damit auf Annahmen der historischen Durchsetzung, Dominanz und
Effizienz von 'netzwerkfrei' operierenden vertikal integrierten Großunternehmen.
Netzwerk und Adresse 7
entsprechenden Ausarbeitung des Verhältnisses von Organisation und
Netzwerk reagiert worden, sondern mit einem Austausch organisations-
theoretischer gegen netzwerktheoretische Beobachtungskategorien.
Davon zeugt nicht zuletzt die steile Karriere des embeddedness-Konzepts
in der wirtschafts- und organisationssoziologischen Forschung. Genau
dieser theoretische Zugriff auf das Phänomen impliziert aber, den Unter-
schied von Organisation und Netzwerk und damit die empirische Be-
sonderheit und Kontingenz von Netzwerken zwangsläufig zum Ver-
schwinden zu bringen. Denn das in der Tradition der soziologischen
Netzwerktheorie stehende embeddedness-Konzept kann auch
Organisationen nur als Netzwerke beschreiben. Anstatt also zu ver-
stehen, was Organisationssysteme tun, wenn sie Netzwerke bilden, wird
der Zusammenhang von Organisation und Netzwerk vollständig in
Netzwerkbeziehungen aufgelöst. – Entsprechendes gilt für andere
empirische Netzwerkfälle.
Ersichtlich geht es um Theorieoptionen, die in Bezug auf Problem-
stellungen gewählt werden können und mit ihren jeweiligen Folgen ge-
wählt werden müssen. Denn um den Preis einer konsistent gebauten
Theorie kann das Netzwerkkonzept nicht gleichzeitig den Sinn der
Konstitution von Sozialität 11 und der Kontingenz des sozialen Sachver-
haltes annehmen, den es bezeichnet. Sofern Netzwerke, gleich welcher
Art und Erscheinung, als besondere, kontingente soziale Phänomene
erfaßt und beschrieben werden sollen, bedarf es dann einer Theorie, in
der das zu spezifizierende Problem des Netzwerkes nicht schon mit
einem ihrer Grundbegriffe zusammenfällt. Diese Möglichkeit bietet die
Systemtheorie mit ihren Grundbegriffen des sozialen Systems und der
Beobachtung. Sie betreibt die Spezifizierung von Problemen grundsätz-
lich nicht auf der Ebene sozialtheoretischer Grundbegriffe, sondern
macht sie zur Aufgabe von Gesellschaftstheorie. Das heißt dann, das
Problem des Netzwerkes im Kontext einer Theorie der modernen,
funktional differenzierten Gesellschaft zu klären.
Adressen
Das Anlaufen von Netzwerken ist in hohem Maße prekär, weil und
sofern das Ansinnen des Zugangs zu den an einer Adresse entdeckten
kontextübergreifenden Möglichkeiten nicht ohne weiteres sozial gedeckt
ist oder die Mobilisierung der avisierten Adressenkombination sogar als
illegitim gilt 22 . Die Sinnzumutung ist möglich, aber ihre Ablehnung ist es
auch und dies in besonderem Maße. Denn die eine “ansprechbare
Ressource” (Luhmann 1995c), die Mülltonnenfrage unter Nachbarn, hat
mit der anderen, dem gewünschten Interviewtermin, sachlich nichts zu
tun. In der antezipierbaren Ablehnung der Zumutung und der Be-
obachtung als 'illegitimes' Ansinnen der Verknüpfung von Möglich-
keiten, liegt das Risiko einer solchen Kommunikation 23 .
Sofern das Risiko aber nicht nur eingegangen, sondern auch be-
wältigt wird, der Sinnvorschlag also angenommen wird, können im
Rahmen der Adressenprofile weitere – mehr und andere – solcher
Möglichkeiten entdeckt und wechselseitig aneinander herangetragen
werden. So hatte der Ausländerverein den Sozialdezernenten einer Stadt
angesprochen und mit dem Hinweis für sich gewinnen können, daß es
nicht um seine aktive Teilnahme an der Vereinstätigkeit gehe, sondern
um die Nutzung seines Namens für die Außendarstellung des Vereins –
und damit auf seiner Seite an Erfordernisse angeknüpft, sich als Adresse
unter politischen und beruflichen Gesichtspunkten adressabel zu halten.
Auf diese Weise dann zum Vereinsmitglied geworden, kann er im
weiteren von Zeit zu Zeit angesprochen werden auf Möglichkeiten, die
22 Die Möglichkeiten und Grenzen sind ersichtlich nicht pauschal zu beschreiben:
Freundschaft oder Verwandtschaft scheint – gegenüber Kollegialität – ein
breiteres Spektrum der Mobilisierbarkeit von Adressengesichtspunkten sozial zu
decken, aber das Ansinnen, Freunde oder Familienmitglieder unter dem Ge-
sichtspunkt von Zahlungen zu adressieren, ist unter Legitimitätsgesichtspunkten
zumindest prekär.
23 “Jede Kommunikation setzt sich selbst der Rückfrage, der Bezweifelung, der An-
nahme oder Ablehnung aus und antezipiert das” (Luhmann 1997, 141).
Netzwerk und Adresse 17
sich für die Arbeit des Ausländervereins mit dieser Adresse in der Ver-
waltung verbinden lassen (z.B. Zugänge zu Geld oder Informationen),
und der Sozialdezernent verfügt seinerseits über eine Netzwerkadresse,
die es ihm erlaubt, Probleme (etwa Hilfen in “Fällen”, die mit den
Mitteln der formalen Organisation nicht mehr bearbeitbar erscheinen) in
den Verein auszulagern.
Die Mobilisierung der Möglichkeiten und Zugänge muß nicht ge-
lingen (und geht vermutlich tausendfach schief). Aber wenn sie gelingt,
sorgen die an einmal absorbierte Unsicherheit anschließenden Selbstver-
stärkungseffekte der Kommunikation (vgl. Japp 1992) dafür, daß sich die
Unwahrscheinlichkeit der Entstehung von Netzwerken in eine Wahr-
scheinlichkeit ihrer Erhaltung transformieren kann. Aus flüchtigen
werden stabile Netzwerkbeziehungen, dies aber nicht nur durch bloße
Wiederholung von Kontakten (Powell 1990). Vielmehr kann bei Netz-
werkbildungen gerade deshalb mit Aussichten auf Stabilität gerechnet
werden, weil sie über Adressen Möglichkeiten verknüpfen, die unter-
schiedlichen Systemen und Verweisungskontexten von Sinn entstammen
und in diesem Sinne sachlich nicht zusammengehören. Zum sozialen
Mechanismus der Stabilisierung von Netzwerkbeziehungen wird dann,
daß es über die Sinngrenzen hinweg an Modi der Verrechnung für ge-
währte Gefälligkeiten, Hilfen, Zugänge und Vermittlungen fehlt, so daß
die Frage des sozialen Ausgleichs für gewährte Leistungen als “Kredit”
auf unbestimmte Gegenleistung in die Zeitdimension verschoben
werden muß. Im unspezifizierten Verhältnis der Leistungen wird dabei
stets eine “übrig bleibende Verpflichtung” zur Gegenleistung miterzeugt
(Luhmann 1997, 635). Anders gesagt: Die Polykontexturalität des
Arrangements unterstützt die Etablierung einer generalisierten Rezi-
prozitätsregel, die das Netzwerk stabilisiert und durch ihre “hohe
Anspassungsfähigkeit an unterschiedliche Sachlagen” überdies “ihre
fraglose Geltung zusätzlich sichert” (ebd.).
Das Prinzip der generalisierten Reziprozität ist in einem Zweig der
Netzwerkdiskussion zum definierenden Merkmal von Netzwerken ge-
worden (vgl. Mahnkopf 1994; Powell 1990). Diesem Vorschlag, der
Netzwerke mit einem ihrer wichtigsten Stabilisierungsmechanismen
verwechselt, wird hier nicht gefolgt. Dagegen sprechen auch empirische
Gründe. So sind, um ein Beispiel zu nennen, im Rahmen der Unter-
nehmensforschung als Franchising oder Zuliefernetzwerke bezeichnete
Netzwerkarrangements belegt, deren Stabilität nicht auf generalisierter
Reziprozität, sondern auf Preisanreizen und hierarchischen Vertrags-
elementen beruht (vgl. Teubner 1992). Jenseits der Frage der
Stabilisierungsmechanismen liegt Netzwerkkonstitution immer dort vor,
wo eine Adresse, die – als eine solche – bestimmte Möglichkeiten
repräsentiert, auf eine andere Adresse und ihre Möglichkeiten bezogen
wird und zwar im Hinblick auf die mit ihrer Kombination erzeugten
Potentiale. Die für Netzwerke konstitutive Reflexivität liegt, anders ge-
sagt, in der Verknüpfung von Möglichkeiten, die neue Möglichkeiten
konstituiert.
18 Veronika TackeTF FT
Selbsttragende Netzwerkstrukturen
24 Ich beziehe den Fall aus der Migrationsforschung, die in einer Reihe von
empirischen Beschreibungen die Herausbildung sogenannter “transnationaler
sozialer Räume” (Pries 1996) beobachtet und solche Strukturmuster der räum-
lichen Mobilität von Individuen zwischen bestimmten Herkunfts- und Ziel-
regionen in der Weltgesellschaft auf Netzwerke zurückgeführt hat. Mit Trans-
nationalität wird dabei allerdings bei Pries die Vorstellung eines Relevanzver-
lustes politischer Grenzen verbunden. Dieser These, die gegen Differenzierungs-
theorie in Stellung gebracht wird, folge ich nicht (siehe dazu im Rekurs auf ähn-
liche Annahmen in der kultursoziologischen Risikoforschung: Tacke 2000). Im
Rahmen der Systemtheorie ist bereits dargelegt worden, daß und in welcher
Weise solche Strukturen der räumlichen Mobilität von Individuen auf In-
klusionsbedingungen sozialer Systeme reagieren und dabei auf der Organisation
von Staatlichkeit und damit zusammenhängenden Verteilungen von Inklusions-
chancen beruhen (Bommes 1999).
Netzwerk und Adresse 19
Adressbücher und Kontakte sowie vor dem spezifischen Hintergrund
des Versiegens alternativer (und legal erreichbarer) Zugänge zu Arbeit
und Einkommen in den Golfstaaten. Auf der “Suche nach anderen Ein-
kommensmöglichkeiten” (ebd.) repräsentierten diese Adressen Möglich-
keiten, die über Verwandtschaft faktisch als Zugänge erschließbar waren.
Die besondere Relevanz von Anlaufadressen beruht im vorliegenden
Fall darauf, daß die Migranten sich – infolge der über die Organisation
von Staatlichkeit konstituierten und politisch moderierten Bedingungen
der Inklusion und Exklusion von Staatsbürgern – im Einreiseland im
Status der Illegalität befinden und damit nicht nur hinsichtlich des Zu-
gang zu Einkommen, sondern auch zu anderen relevanten Bedingungen
der Lebensführung (Wohnraum, Hilfen im Krankheitsfall usw.) in
hohem Maße von Vermittlungsadressen abhängig sind. So verschaffen
Netzwerkadressen den Neuankömmlingen Wohnraum, zu dem sie ohne
Kontakte keinen Zugang finden könnten und es verschafft zugleich den
Vermietern, die “sans-papiers” akzeptieren, Mieter, die sich “nicht über
dunkle, heruntergekommene Unterkünfte (beklagen)”, aber “in der
Regel deutlich höhere Mieten (zahlen) als Personen mit gültigen
Papieren” (ebd., 13).
Der Umstand, daß die Anlaufadressen über ihr Inklusions-
/Exklusionsprofil selbst spezifisch eingeschränkte Möglichkeiten und
Zugänge repräsentieren, plausibilisiert eine – auch in anderen Fällen be-
obachtete – hohe arbeitsbezogene Spezialisierung solcher Netzwerke der
Arbeitsmigration. Rund 95% der Migranten aus Sibrbay arbeiten im
Malergewerbe in Paris. Diese Spezialisierung wird im vorliegenden Fall
als Voraussetzung und als Folge der Entwicklung einer sich selbst-
tragenden Netzwerkstruktur erkennbar, deren ökonomische Möglich-
keiten auf einem funktionalen Arrangement dreier Funktionen beruht,
die Adressentypen mit je spezifischen Inklusionsvoraussetzungen
repräsentieren:
- Kleinunternehmern ('Patronen'), die auf der Grundlage eines in-
zwischen gesicherten Rechtsstatus im Einwanderungsland (französische
Staatsbürgerschaft oder Arbeitserlaubnis) in der Lage sind, kleinere und
große Maleraufträge von privaten und staatlichen Auftraggebern zu be-
schaffen und legal abzuwickeln;
- Subkontraktoren ('Muqawwilin'), die an die Kleinunternehmer im Be-
reich der Schattenwirtschaft flexibel einsetzbare Malerkolonnen ver-
mitteln. Weil sie in ihrer Funktion viel im öffentlichen Raum unterwegs
sind, verfügen sie wenigstens über eine Aufenthaltsgenehmigung;
- den Anstreichern, Verputzern und Hilfsarbeitern, die als 'sans-papiers'
das Reservoir billiger und in hohem Maße flexibel einsetzbarer Arbeits-
kräfte bilden.
Leicht ersichtlich ist, daß die ökonomischen Steigerungspotentiale
und der faktische wirtschaftliche Erfolg des Arrangements auf dem
Adressenprofil der 'sans-papiers' beruht, die als solche für die unter
Konkurrenzbedingungen tätigen Kleinunternehmer im Vergleich zu
normativ geschützten und besteuerten Mitgliedschaftsverhältnissen in
20 Veronika TackeTF FT
Organisationen ('Normalarbeitsverhältnissen') attraktive Adressenprofile
aufweisen. Der wirtschaftliche Erfolg der “Schattenwirtschaft” schafft
zugleich die Voraussetzung dafür, daß die auf der untersten Stufe mit
unsicheren Erwartungen auf regelmäßiges Einkommen eintretenden
Migranten im Netzwerk ökonomisch 'Karriere' machen können, also
über den Aufstieg zum Subkontraktor oder Kleinunternehmer ihre öko-
nomischen Inklusionen verstetigen und steigern können 25 . Das Auf-
stiegsarrangement wird damit schließlich zum wichtigen Motor des
Nachzugs weiterer 'sans-papiers', die das Segment der flexiblen und
billigen Hilfsarbeiter wieder auffüllen und den aufsteigenden Migranten
damit ihren ökonomischen Erfolg erst sichern. Das Aufstiegsarrange-
ment bildet den Kern einer Netzwerkstruktur, die über eigene Be-
dingungen der Inklusion verfügt. Sie moderiert den Ein- und Austritt
strukturähnlicher Adressen.
Beim Zu- und Nachzug des Migrantennetzwerkes spielt der
Adressengesichtspunkt der Verwandtschaft eine zentrale Rolle. Darin ist,
wie auch Müller-Mahn hervorhebt, keine besondere, vorgängige soziale
Orientierung der Netzwerkteilnehmer zu sehen. Im Sinne von Adressen-
kombinatorik werden Verwandte vielmehr relevant im Hinblick auf die
Möglichkeit, den Zugang zu den ökonomischen Voraussetzungen der
Partizipation an den ökonomischen Möglichkeiten des Netzwerk in Paris
zu verschaffen: Engere Verwandte können für das Ansinnen in An-
spruch genommen werden, ohne Rückversicherung – auf der Basis von
Vertrauen – jene hohen Summen zu leihen, die die Arbeitsmigranten für
eine illegale Einreise nach Europa aufbringen müssen. Sie sind dabei als
Adressen mobilisierbar “in der Erwartung, daß die Gastarbeiter-
Rücküberweisungen für ein gemeinsames großes Haus oder ein
wirtschaftlich lukratives Projekt verwendet werden” (ebd., 9). Deutlich
sichtbar wird sodann aber auch an diesem Aspekt die Verselbständigung
der Netzwerkstruktur. Denn im Zuge der Etablierung des “sozialen
Migrationskorridors” (ebd., 22) zwischen dem Dorf im Nildelta und
'Sibrbay sur Seine' müssen die Reisekredite nicht mehr von Verwandten
im Heimatdorf gewährt werden, sondern fließen vielmehr von Netz-
werkadressen in Frankreich als Darlehen zurück an migrationswillige
Verwandte in Ägypten. Das Netzwerk organisiert und finanziert also den
Nachzug von Migranten im Hinblick auf seine eigenen, oben genannten
Erfolgsbedingungen. Daß auch dabei Verwandtschaft noch die
Gelenkstelle der Adressenkombinatorik bildet, dürfte unter den ge-
gebenen Bedingungen der “Transnationalität” mit den eingeschränkten
Möglichkeiten der Absicherung von Krediten durch Rechtsinstitute
sowie den spezifischen Unsicherheiten erfolgreicher Grenzübertritte zu-
25 “Von den 21 Migranten, die bereits vor 1991 nach Frankreich kamen, arbeiten 17
inzwischen als Patron. Die in den Jahren 1991 bis 1994 eingereisten 39 Männer
sind überwiegend als Muqawwil (18) beziehungsweise Patron (9) tätig, und nur
bei den nach 1995 gekommenen Migranten arbeiten noch 16 von 26 auf der
untersten Stufe der einfachen Anstreicher und Hilfsarbeiter” (Müller-Mahn 2000,
21).
Netzwerk und Adresse 21
sammenhängen, die ersichtlich die Voraussetzung der Rückzahlung ge-
währter Kredite sind.
An diesem wie anderen aus der Migrationsforschung bekannten
Fällen wird nicht nur sichtbar, daß Netzwerke an den Inklusions-
bedingungen und -chancen von Organisationen und Funktionssystemen
Struktur und Stabilität gewinnen, sondern sie zeigen dabei auch, daß
Netzwerke zum Ausgangspunkt für Organisationsbildung sowie weitere
Netzwerkbildungen werden. Schlepperorganisationen, “Reise-
organisatoren” und “Etappenhelfer” lassen sich dafür bezahlen, daß sie
“über weitreichende Erfahrungen und gute Kontakte”, also wiederum:
über Adressen verfügen, um Migranten illegal über Staatsgrenzen zu
bringen (ebd., 8). Ersichtlich kristallisiert auch das damit angesprochene
'Netzwerkgeschäft' an der segmentären Binnendifferenzierung der
Politik in Staaten, die mit ihrer Inklusionform der Staatsangehörigkeit
“zum Filter für die Versuche von Migranten (wird), Inklusionschancen in
die Funktionssysteme und ihre Organisationen durch geographische
Mobilität zu realisieren” (Bommes 1999, 16) 26 .
Ein ebenfalls auf dem Zugang zu den Möglichkeiten von Adressen
beruhendes Netzwerkgeschäft ganz anderer Art sei abschließend am
vorliegenden Fall erwähnt. Es unterstreicht zugleich die Bedeutung der
Aufrechterhaltung von Kommunikationen im Sinne der Bestätigung der
Relevanz der Adressen im Netzwerk. In diesem Beispiel betrifft dies die
Adressen im “Migrationskorridor”, dessen beiden geographischen Pole,
wie gesehen, für den ökonomischen Erfolg und die dauerhafte Struktur
des Netzwerkes zentral sind. Das Netzwerkgeschäft betrifft einen der in
Paris lebenden Migranten, der “eine Art Telefonzentrale” betreibt, indem
er seinen Landsleuten Zugang zu preisgünstigen internationalen Tele-
fonverbindungen zwischen Paris und Sibrbay vermittelt (Müller-Mahn
2000, 15). Diese Möglichkeit basiert dabei auf der Adresse eines
Kontaktmannes in Nordafrika, der seinerseits “Zugang zu einer inter-
nationalen Vermittlungsstelle seines Landes hat und nebenbei und ohne
Bezahlung die Verbindung in beiden Richtungen nach Frankreich und
Ägypten schalten kann” (ebd.). Auf die ökonomischen Steigerungs-
effekte dieser Adressenkombinatorik verweist die Tatsache, daß der Be-
26 Ein Beispiel, das noch einmal in besonderer Weise die Abhängigkeit von
Adressen sichtbar macht, schildert Müller-Mahn: “Im Oktober 1995 ließ sich Ali
von dem Reiseorganisator in seinem Heimatdorf ein Flugticket und ein Visum für
Weißrußland besorgen (...). Bei einer Zwischenlandung in Kiew verließ er das
Flugzeug und wurde von einem ägyptischen Kontaktmann in Empfang ge-
nommen, der ihm ein Visum für Polen verschaffte. (...) In Warschau traf er wieder
einige Ägypter, deren Adresse ihm sein Helfer in Kiew mitgegeben hatte. Sie
hatten Kontakt zu einer Gruppe von Polen und Ukrainern, die sich um die
Weiterleitung von Transitreisenden nach Deutschland kümmerten. (...) Auf der
anderen Seite des Flusses in Deutschland wartete bereits ein Auto auf sie (....).
Von dort ging es mit dem Zug weiter nach Paris. Bei seiner Ankunft in Paris rief
Ali sofort seinen Schwager an, der (...) als Maler und Verputzer gut verdiente.
Am zweiten Tag seines Aufenthaltes ging Ali mit seinem Schwager zum ersten
Mal zur Arbeit” (ebd., 10f.).
22 Veronika TackeTF FT
treiber dieses Netzwerkgeschäftes ein Haus mit acht Wohnungen in
Sibrbay bauen konnte. – “Zur Tarnung arbeitet er gelegentlich als An-
streicher” (ebd.).
Ich hatte zunächst die Vorstellung von Netzwerken als bloßen Adressen-
zusammenhängen auf Distanz gebracht und demgegenüber durch be-
griffliche Spezifikationen und Einschränkungen gezeigt, wie sich die
Konstitution und zunächst bilaterale Stabilisierung von Netzwerk-
beziehungen sowie darüber hinaus dann auch die Etablierung von multi-
lateralen, dauerhaft selbsttragenden Netzwerkstrukturen vollzieht und
beschreiben läßt. Sichtbar geworden ist dabei, daß die Attraktivität von
Netzwerken in der Kommunikation darin liegt, daß sie Heterogenes – in
unterschiedlichen Systemkontexten generierte Möglichkeiten – auf-
einander beziehen können. In allen Fällen konstituieren Netzwerke ihre
spezifische Potentiale über die reflexive Verknüpfung der Möglichkeiten,
die Adressen repräsentieren und über systemspezifisch moderierte
Inklusions- und Exklusionsmodi gewinnen. Wie am Fall der 'sans-
papiers' gesehen, können Adressen für Netzwerke gerade auch unter
dem Gesichtspunkt ihrer spezifisch eingeschränkten Möglichkeiten der
Realisierung von Inklusionschancen relevant und attraktiv werden.
Weil Netzwerke über die Kombinierbarkeit polykontextural
konstituierter Adressen jeweils hochspezifische und partikulare
Möglichkeiten konstituieren, führt ihre Beschreibung jenseits des all-
gemeinen Konstitutionsmechanismus auf empirische Fragen. Auf seiner
Basis lassen sich eine Vielzahl empirischer Netzwerkformen beobachten
und unterscheiden. Zu denken ist – neben schon genannten Beispielen –
an regionale Industriedistrikte (Grabher 1993; Piore/Sabel 1985),
nationale Subskriptionsnetzwerke (C. Tacke 1995), globale Netzwerke
unter Wissenschaftlern (Stichweh 1999), an Illegalitätsbedingungen sich
nährende Korruptionsnetzwerke (Karstedt 1999), korporatistische
Regulierungs- und Policy-Netzwerke (Kenis/Schneider 1996; Ladeur
1993; Mayntz 1993), Forschungs- und Entwicklungskooperationen
zwischen Wissenschaft, Industrie und Staat (Schulz-Schaeffer et al. 1997)
sowie verschiedenste Formen von Unternehmensnetzwerken: Hersteller-
Anwender-Netzwerke der Innovation (Kowol/Krohn 1995), Hersteller-
Zulieferer-Netzwerke der Produktion (Altmann/Sauer 1989; Hessinger
et al. 2000), strategische Allianzen zwischen Konkurrenten (Hage/Alter
1997; Powell 1990) usw.. Netzwerke werden beobachtbar anhand der sie
je konstituierenden, partikularen Möglichkeiten und Strukturbildungen
sowie entlang des Typs der verknüpften Möglichkeiten, die an
personalen oder organisatorischen Adressen hängen.
Ich habe das Verhältnis von System und Netzwerk bisher in der Weise
behandelt, daß an ausgewählten Beispielen der Verknüpfung von
Netzwerk und Adresse 23
Adressenmöglichkeiten sichtbar gemacht wurde, daß und wie Netz-
werke ihre spezifischen Möglichkeiten auf der Grundlage von In-
klusionen in und Zugängen zu Organisations- und Funktionssystem-
kontexten generieren und im Rekurs auf entsprechende Inklusionsprofile
von Adressen stabilisieren. Ich werde die Perspektive nun im ab-
schließenden Teil noch einmal drehen und das Verhältnis von System
und Netzwerk vom Systemkontext her betrachten. Ich richte den Blick
dabei auf Organisationen und komme damit nunmehr auch auf die ein-
gangs getroffene Unterscheidung von 'Netzwerken im Organisations-
kontext' (Personen als Adressen der Netzwerkbildung) und
'Organisationsnetzwerken' (Organisationen als Adressen der Netzwerk-
bildung) zurück. Im Rekurs darauf soll zum einen eine strukturspezi-
fische Offenheit von Systemen für Netzwerkbildungen sichtbar gemacht
werden, zum anderen gezeigt werden, welche Möglichkeiten sich für
Organisationen mit Netzwerkbildungen verbinden.
Netzwerke im Organisationskontext
27 Diese Annahme erschließt sich darüber, daß die moderne Gesellschaft in der
Folge und als Voraussetzung ihrer Differenzierungsform keine gesamt-
gesellschaftlichen Formen für Inklusion/Exklusion mehr kennt und Inklusions-
fragen faktisch an die ausdifferenzierten Systeme delegiert hat.
24 Veronika TackeTF FT
erscheinen.
Auf der Grundlage dieser aus der Differenzierungsform der Gesell-
schaft resultierenden Neutralisierung prinzipieller zugunsten system-
spezifischer Lösungen für Inklusionsfragen werden Organisationen aber
zum Einfallstor für persönliche Beziehungsnetzwerke, die parasitär an
ihnen kristallisieren 28 . Dies zeigt etwa eine Studie zur Rekrutierung von
Auszubildenden in einem Großunternehmen der Automobilindustrie in
Deutschland (Bommes 1996): Für immerhin 60% der in einem Jahrgang
rekrutierten Auszubildenden galt, daß auch Vater oder Mutter im Unter-
nehmen beschäftigt waren, wobei es – erst das ist interessant – unter den
Bewerbern um einen Ausbildungsplatz ursprünglich nur 30% gewesen
waren (ebd., 41) 29 . In der Studie wird erkennbar, daß dieses Ergebnis
über personenbezogene, Mitgliedschaft voraussetzende Adressen-
kombinatorik hergestellt wurde. Über Netzwerke wurden Zugänge zu
organisations- und funktionsspezifischen Leistungen und Karrieren
einerseits, entsprechende Ausschlüsse andererseits produziert 30 .
Interessant ist hier, daß es sich um Inklusionsverhältnisse in
Organisationen handelt, die treffend als “schweigend” (ebd.) bezeichnet
werden. Schweigend sind sie dabei nicht nur, weil sie faktisch nicht Teil
offizieller Darstellungen eines 'modernen', leistungsbezogenen
organisatorischen 'Human Ressource Management' werden 31 .
Schweigend sind sie vor allem deshalb, weil solche Inklusionsverhält-
nisse, um die man in der Organisation weiß, für die Organisation gar
nicht anders darstellbar sind, denn als Ergebnis ihrer eigenen Ent-
scheidungen. Zentral ist dafür nicht, ob die über Netzwerkbeziehungen
privilegierten Auszubildenden tatsächlich offizielle Bewerbungs-
verfahren durchlaufen, also leistungsbezogene Tests, Aufsätze und Ge-
spräche bestanden haben (das ist wahrscheinlich), sondern daß die
Organisation das Ergebnis der Rekrutierung ihrer (!) Mitglieder nur als
Entscheidung behandeln und entsprechend sich selbst zurechnen kann –
und nicht dem Netzwerk, das dieses Ergebnis gleichsam “anonym
produziert” hat (Luhmann 2000, 243) 32 .
28 Auf die 'parasitäre' Struktur des Verhältnisses von Netzwerken und
Organisationen (für die Vermittlung von Zugängen zu Leistungen von
Funktionssystemen) hat Luhmann im Zusammenhang regionaler Verhältnisse in
Süditalien hingewiesen, in denen die Funktionsfähigkeit organisatorischer Infra-
strukturen herabgesetzt und dadurch die Autonomie von Funktionssystemen
eingeschränkt oder blockiert ist, weil sich die Kommunikation in “flexible Netz-
werke persönlicher Beziehungen” verlagert und Fragen der Geltung und Durch-
setzbarkeit geregelter Abläufe Netzwerken unterwirft (vgl. Luhmann 1995c).
29 Es geht dabei jeweils um mehrere Hundert Bewerbungen pro Jahr und ent-
sprechend hohe Rekrutierungszahlen, z.B. 450 Bewerbungen/137
Rekrutierungen.
30 In der Beobachtungshinsicht der Studie sind dies Migrantenkinder, deren Eltern
nicht Teil der Traditionsbildung des Unternehmens sind.
31 Nur im Nachhinein werden sie annonciert – man lese nur Firmengeschichten.
32 Entsprechend gilt auf der Seite der nicht berücksichtigten Jugendlichen, daß sie
sich die Nichtberücksichtigung als Defizit eigener Leistungen zurechnen (lassen)
müssen.
Netzwerk und Adresse 25
Beziehungsnetzwerke dieser Art nutzen die strukturelle Offenheit
systemischer Inklusionsmodi als Einflugschneise für parasitär
konstituierte Möglichkeiten. Sie sind als “nichtentschiedene Ent-
scheidungsprämissen” (Luhmann 2000, 145) an Entscheidungen der
Organisation und damit auch am 'structural drift' des Systems beteiligt.
Damit ist aber nicht schon gesagt, daß sie Leistungsstandards der
Organisation unterlaufen oder herabsetzen (Luhmann 1995c). Generell
gilt wiederum, daß Organisationen dies nur selbst können. Leicht er-
kennbar ist aber, daß Organisationen von solchen parasitären Formen
der Netzwerkbildung im Rahmen ihrer eigenen Problemstellungen
profitieren können. Sie sind auf Unsicherheitsabsorption angewiesen, zu
der nicht nur eigene, sondern auch fremde, nicht nur primäre, sondern
auch sekundäre Strukturbildungen einen Beitrag leisten können. Über
die verwandtschaftlichen Beziehungsnetzwerke der Rekrutierung
werden in diesem Sinne für die Organisation weitere Kommunikationen
darüber abgeschnitten, welche der unter systemeigenen Gesichtspunkten
in Frage kommenden Adressen im Hinblick auf die Vergabe eines Aus-
bildungsplatzes angesteuert werden. Überdies können verwandtschaft-
liche Traditionsbildungen innerhalb der Organisation registriert und be-
obachtet werden unter dem Gesichtspunkt eines durch Entscheidung
nicht herstellbaren, durch persönliche Bindungen und Verpflichtungen
aber erzeugten Beitrages zur Compliance der Organisationsmitglieder.
Und unter einem solchen organisationseigenen Gesichtspunkt der Be-
obachtung kann dann – im Prinzip – auch Verwandtschaft zu einem
offiziell anerkannten, ergänzenden Rekrutierungskriterium der
Organisation werden, womit zugleich entsprechende Beziehungsnetz-
werke substituiert würden. Wiederum aber geht es um empirische
Fragen. Organisationen können solche “Traditionsbildungen” (Bommes)
und “sozialmoralischen Milieus” (Moser) ebensogut als riskante Selbst-
bindung beobachten, über die die systemkonstitutive sachliche Mobilität
von Mitgliedschaften faktisch eingeschränkt wird. Ob das Parasitentum
solcher sekundären Strukturbildungen zum Wohl oder Wehe ausfällt,
mit Erfolgen oder Mißerfolgen verbunden wird, ist von Kontexten der
Beobachtung abhängig und fällt entsprechend in mitgliedermobil
konstitutierten Organisationssystemen grundsätzlich anders aus als in
der Beobachtungsweise von Netzwerken, die den Adressen, über die sie
sich konstitutieren, einen Primat einräumen.
Organisationsnetzwerke
34 Siehe zur politischen Formel des “Netzwerk-Staates”: Teubner 2000 sowie zum
“Netzwerkparadigma der Industrieentwicklung”: Hessinger et al. 2000.
35 Vgl. zur Unterscheidung serieller und reziproker Interdependenz: Thompson
1967.
28 Veronika TackeTF FT
Organisationen, als Wissenschaftsorganisationen etc. orientieren und in
die sie zum anderen als multireferentielle Systeme (Wehrsig/Tacke 1992)
stets polykontextural inkludiert sind. Vielmehr wird erkennbar, daß die
Beobachtung von Funktionssystemen unter Bedingungen hoher Un-
sicherheit über Netzwerkadressen umdirigiert wird. Organisationen
nutzen Netzwerke, um Problemlösungen und Problemstellungen zu
generieren, die sie sodann in die Beobachtungshorizonte “ihrer”
Funktionssysteme einrücken können (vgl. Brosziewski 1997; Ladeur
1993). Mit Bezug auf die Kontingenzräume, die die funktionsspezifischen
Codes durch Einschränkungen jeweils eröffnen, könnten Netzwerke vor
diesem Hintergrund als ein Spezifikationsmechanismus für funktions-
systemspezifische Problemstellungen verstanden werden, der neben
Professionen und Organisationen tritt und der, wie zuvor gesehen, auch
dort häufig auf Möglichkeiten von Organisationen beruht, wo die Netz-
werkadressen keine organisatorischen, sondern personale Adressen sind.
Schluß
Literatur
36 Dies besagt es, wenn in der Systemtheorie von einem Primat der
Differenzierungsform gesprochen wird.
30 Veronika TackeTF FT
Fuchs, Peter (1992): Die Erreichbarkeit der Gesellschaft. Frankfurt a.M.:
Suhrkamp.
Fuchs, Peter (1997): Adressabilität als Grundbegriff der soziologischen System-
theorie. Soziale Systeme. Zeitschrift für soziologische Theorie 3, 57-79.
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