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Die Rückkehr

Von Andreas Engel

Mit einem lauten Krachen, einer Explosion gleich, endete am 27.


Februar 1943 die Nacht für die Familie Hollaender. Zuerst hatte
Alfred Hollaender noch gedacht, er träume, dass mit einem
Rammbock die Pforte zu seiner Burg hoch droben auf dem Trifels von
feindlichen Horden gesprengt würde. Der Albtraum, der an diesem
Morgen um 5.15 Uhr begann, sollte ein ganzes Leben andauern.
Wenn er heutzutage an den Überfall denkt, fallen ihm die glänzend
polierten Schaftstiefel ein, mit denen er zu Boden gedrückt wurde,
während die Polizisten Frieda und Rosa aus ihren Betten zerrten. Von
allem anderen ist ihm kein Bild übrig geblieben.
Das Gebrüll des Kommandos weckte das ganze Mietshaus auf. Die
Leute schauten schlaftrunken und erschrocken aus den spaltbreit
geöffneten Türen und drückten sie schnell wieder zu, als jemand
durch das Treppenhaus brüllt, dass jeder, der noch länger seine
neugierige Nase herausstrecke, sie auf der Stelle eingeschlagen
bekomme, „ist das klar!!“
Ein Beamter packte die kleine Frieda grob am Arm und schleifte das
Kind aus der Tür. Sie weinte und schluchzte. Hollaender sah die
Verhaftung auf dem Boden liegend mit einem schwarzen Schaftstiefel
auf dem Hals. Einer aus dem Kommando, Hollaender, aus einem
Auge blinzelnd, glaubte ihn als früheren Nachbar zu erkennen, trat
nach dem Kind, das sich zur Mutter flüchtete. Auf der Straße wartete
mit laufendem Motor ein Lastwagen, auf dem sich schon viele
Menschen befanden. Frieda und Rosa wurden auf die Pritsche
gestoßen, zwei Frauen halfen Mutter und Kind hinauf zu ziehen. Sie
wurden zu einer Sammelstelle gefahren. Hollaender sah seine Familie
nie wieder.

Er deckte den Tisch immer auch für Ilse. Das tat er zu der Zeit, als er
noch in Ungewissheit über ihr Schicksal lebte, und er tat es auch viel

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später, als ihn der Brief von Ignatz Grün, einem Mann, der sein Ohr
an allen Schienen hatte, erreichte. Manchmal sprach er sogar mit ihr,
leise, flüsternd, so als dürfe niemand erfahren, dass er mit ihr redet.
Tage, Wochen, Monate und Jahre gingen dahin, zerrannen ihm durch
die Finger wie staubtrockener Sand. Er lebte in einem festen
Rhythmus, wie an einer Richtschnur. Schnell waren die Nächte
vorbei, er stand auf, deckte den Tisch, auch für Ilse. Ein kleines
Frühstück, die Zeitung. Dann tappte er ins Bad, rasierte sich, zog sich
an und bestäubte sich mit Kölnisch Wasser. Mit einem Seufzer räumte
er den Tisch ab, auch das Geschirr, das er für Ilse hingestellt hatte. Er
wanderte in seiner Wohnung auf und ab bis schließlich die Zeit
gekommen war, seine Besorgungen zu machen. Er ging zum Bäcker
und überlegte sich auf dem Weg dorthin schon, was er sich zum
Mittagessen kochen sollte. Einmal in der Woche kaufte er frische
Schnittblumen - für Ilse.
Am Nachmittag legte er sich auf sein dunkelrotes Chaiselongue und
schlief regelmäßig mit der Zeitung oder einem Buch auf dem Bauch
ein. Die Abende verbrachte er meist im Restaurant Rosen ganz in
seiner Nähe.
Er wohnte in der dritten Etage. Jeden Tag kam er zu

der Feststellung, dass eine Wohnung, die man nur

über einhundertzwanzig Stufen erreichen kann, nicht

das Richtige für einen alten Mann sei. Langsam ließ er

seinen Haustürschlüssel in die Tasche rutschen,

umfasste das Bund, um sicher zu sein, dass es auch

wirklich dort ruht. Er sah sich noch einmal um, spähte

durch die kleinen Scheiben, vergewisserte sich, dass

das Licht bestimmt gelöscht war und ging schließlich

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zur Treppe. Sind die Lichter wirklich aus, fragte er

sich?

Ausgeruht, freilich unruhig, machte er sich auf den Weg zum Essen ins
Restaurant.
Es regnete. Es war der übliche Herbstregen. Dauerhaft und ergiebig,
nasser als im Frühling. Hollaender spannte seinen Schirm auf und
fädelte sich in den Strom der eilenden Menschen ein. Weit hatte er es
nicht. Das Restaurant, das er seit einigen Jahren besuchte, erfreute ihn
mit gediegener Behaglichkeit. Hier saß er mit Menschen zusammen,
die einsam waren wie er, oder nicht, die vielleicht nur weg wollten
von zuhause, die Streit hatten daheim, oder die sich nach ihrem
Tagwerk entspannen wollten, bei einem Bier oder einem Schnaps.
In Hollaender jedoch arbeitete die Beunruhigung, die der Angst, wie
der Wind dem Regenschauer, vorausgeht. Es war eine Art mittelbarer
Angst. Jene Sorte Angst, die er längst besiegt oder unter Kontrolle
gebracht zu haben glaubte, die er aber nie los wurde. Er fürchtete sich,
dass die Angst wiederkehrt. Die Angst, die ihm den Schlaf raubte, die
Erinnerungen weckte, die ihn quälten, den Kummer wach hielten. Er
flüchtete vor der Langeweile und vor der Angst vor der Angst. Der
Verdruss über die Beschwerlichkeiten, die das Alter mit sich bringt,
der zäh werdende Strom des Lebens, und der bittere Fluch der
Einsamkeit begleiteten ihn wie ein treuer, ungeliebter Kamerad.
Ein paar Blocks entfernt von seiner aufgeräumten Wohnung im
dritten Stock fand er einen Platz seine Traurigkeit beim Zuschauen
des Lebens anderer Leute zu vergessen. Hollaender betrank sich nicht.
Nie! Zwei Gläser Wein; ein würziger Roter soll gut sein für die
Gesundheit und das Herz kräftigen. Er hatte einen Stammplatz. Es war
ihm gleichgültig, dass die anderen Gäste ihn quasi als Mobiliar
betrachteten. Wenn er einmal nicht um sechs Uhr abends an seinem
Platz saß, tuschelten sie: „Ach, der alte Hollaender ist nicht da. Seht,
sein Platz ist leer. Ist er tot?“
In der kalten Jahreszeit schützte ein dicker Filzvorhang die Gäste vor
den kalten Luftzügen. Hollaender schob den nach dem Rauch der

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Jahrhunderte stinkenden Vorhang beiseite. Berliner Winter, dachte er.
Er kannte die Berliner Winter seit langer Zeit. Heute fühlen sie sich
anders an als früher, dachte er. Die eisigen kontinentalen Ströme aus
dem Osten, aus der Tiefe des russischen Reiches, deren Ausläufer die
deutsche Hauptstadt anhauchten und in all ihrem Drang nach
goldener, weltumspannender Größe erstarren ließen, blieben nach
dem Kriege aus. Heute ist alles milder, glaubte Hollaender.
Er betrat das Lokal, hängte Hut, Mantel und Schirm an die Garderobe,
stets so, dass er seine Utensilien im Blick hatte. Manchmal wählte er
einen Platz an der Theke. Aber viel lieber wartete Hollaender, bis der
kleine, quadratische Tisch am Durchgang zum Speisesaal frei wurde,
an dem er immer Platz nahm. Während vorne in der Gaststätte die
Gäste eher vereinzelt saßen, tranken, und in flüchtigen Gruppen
Gespräche führten, versammelten sich im Saal die Menschen in
fröhlicher Geselligkeit. Im Saal ging es zuweilen hoch her. Je mehr
Zeit verstrich, desto lauter schwoll das Stimmengewirr. Das
Gezwitscher, das er wahrnahm, drehte sich um Politisches,
Sportliches, Gesellschaftliches, um alles eben. Jeder hatte eine
Meinung, die er mit lauter Stimme zu verkünden suchte. Die
saturierten Bürger schimpften über den Bezirksbürgermeister ebenso
wie über die Leistungen ihrer Fußballmannschaft, die mal wieder, wie
sie sagten, verloren habe. Ach ja, der Schiedsrichter, der war an allem
Schuld und die schlechten Leistungen der faulen Spieler. Im Kino
werden Tabus gebrochen, so was gab es früher nicht, die jungen Leute
grüßen nicht mehr auf der Straße, die Kinder toben zu laut im Hof und
ihre Frauen fallen ihnen auf den Wecker. „Ich habe mir einen neuen
Wagen angeschafft, der hat über 100 PS...“,
Wenn er den Unterhaltungen der Männer lauschte, fühlte er sich
geborgen. Es war wie früher, dachte er oft. Früher, vor dem Krieg, als
das goldene Zeitalter Berlin noch mit seinem Zauber erleuchtete, als
Berlin noch zu den Welthauptstädten zählte.
Er konnte jeden eintretenden Gast, beobachten und er hatte seinen
Hut, den Mantel und den Schirm im Blickfeld. Schaute er geradeaus,
sah er den Tresen und maß ihn aus, schätzte die Proportionen und

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wunderte sich ein ums andere Mal über die merkwürdigen Intarsien.
Sie stellten verschlungene, eher handwerklich missglückte
Holzverzierung dar, als kunstvolle Arabesken oder das Auge
betörenden Zierrat. Die Trinker erinnerten ihn an das Federvieh, das
auf der Stange sitzt und sich gütlich tut am Futter. Ja, wie im Winter,
dachte Hollaender. Wenn sich die hungrigen Vögel um die
aufgestellten Futterhäuser scharen und um die Körner balgen und
regelmäßig die Köpfe senken, um mit den Schnäbeln an Wasser und
Futter zu gelangen.
Die Trinker an der Theke saßen mit ihren dicken Hintern auf den
Hockern. Die Bäuche wölbten sich über die Gürtel. Sie blickten meist
stumm geradeaus, hoben wie nach festgelegten Takten ihr Glas,
nahmen einen Schluck, oft synchron, stellten es behutsam auf den Filz
zurück und richteten die Zigarettenpäckchen und die Zündhölzer im
Rechten Winkel aus. Glotzen, saufen, rauchen, dachte Hollaender. Er
sah alles sehr genau und war doch versunken; fern von dem Leben
dieser Menschen mit ihren Zigaretten und Sorgen. Sie bildeten den
Rahmen für das Leben, das er sich für seinen Ruhestand vorgestellt
hatte. ‚Ich bleibe auf ewig der Wanderjude, dessen Zuhause die
Menschen sind, und nur die Menschen, nicht das Land’ dachte
Hollaender.
„Guten Abend Herr Hollaender. Wie immer?“, hörte er eine Kellnerin
aus der Ferne sagen, die er noch nie gesehen hatte. Oder war sie ihm
noch nicht aufgefallen?
‚Ist sie etwa neu angestellt im Restaurant? Nein, kann nicht sein, oder
etwa doch? Früher wäre mir das nicht passiert. Früher, als ich noch
ein junger Mann war, ja, da ist mir jede aufgefallen, ich habe nichts
anbrennen lassen, war gierig auf jeden Hintern, habe mir alle gemerkt
die Formen und Umfänge und sie den jeweiligen Frauen zuzuordnen
gewusst’, dachte er vor sich hin und sah durch die Kellnerin hindurch,
weit in die Vergangenheit.
Er blickte auf und nickte freundlich. „Ja, wie immer. Ein Glas
Bordeaux“. Er hatte den Wirt dazu überredet, einige Flaschen
Bordeaux zu kaufen, der nur an ihn ausgeschenkt wird. Die anderen

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Leute mochten den schweren Wein nicht. Sie soffen lieber das
wässrige Berliner Bier, dessen Schaumkrone mit einem eigens dazu
erfundenen Schaber über den Glasrand gestrichen wird. Die
Leidenschaft für exquisite Tropfen hatte Hollaender ausgerechnet mit
aus Amerika gebracht. Amerika zählt nicht gerade zu den Ländern, in
denen die Gourmets zuhause sind. Aber in seinem Geschäft drüben,
früher, überm großen Teich, im letzten Leben, hielten ihm über einige
Jahre hinweg ein paar Feinschmecker aus der Nachbarschaft die
Treue. Er versorgte sie hauptsächlich mit Weinen aus Frankreich, aber
auch spanische und italienische Tropfen ließ er liefern. Danach galt
Hollaenders Geschäft schnell als gute Adresse für Genießer aus dem
Viertel.

Er besorgte sich eine Illustrierte und las einen Artikel, dessen Autor
die Auffassung vertrat, dass schon bald, er schätzte in fünfzig Jahren,
die Menschen im Weltraum, auf einer in großer Geschwindigkeit die
Erde umkreisenden Raumstation, Ferien machen könnten. Was sie
dort sollten, war Hollaender allerdings nicht ganz klar. Oder aber sie
werden zum Mond oder Mars fliegen.
Wenn er den Leuten nicht mehr zuschauen und zuhören mochte, las er
immer. Lesen war ihm wichtig. Aber aus purer Unterhaltung oder gar
Zeitvertreib hat er nicht gelesen. Das kam für ihn nicht in Frage. Er
sprach stets von Wissensansammlung. Wissen hatte für Hollaender
quantitativen Charakter, je mehr, desto besser, und das war nur durch
stetiges Lesen zu erreichen.

Nach der Volksschulzeit wusste Alfred Hollaender zunächst nicht


genau, welchen Weg er einschlagen solle. Schneider werden wie der
Vater, das wollte er nicht. Ratlos und in ein neues Leben geworfen,
stand er vor dem Schultor, sah den Menschen nach, die vorbei eilten
und die alle eine Arbeitsstelle hatten. Jetzt also soll er erwachsen sein?
Die Lehrer predigten den Schülern immer wieder. „Wartet nur ab,
wenn ihr das warme Klassenzimmer verlassen haben werdet, dann

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ist’s vorbei mit der Gemütlichkeit, dann folgt der Ernst des Lebens,
und glaubt ja nicht, dass die Meister euch die Flausen durchgehen
lassen werden“!
Einige Wochen lungerte der junge Alfred Hollaender in der Stadt
herum. Seine Mutter hatte sich nach dem Tod des Vaters als robuste
und resolute Person erwiesen. Ohne viel Federlesens, oder gar
Widerspruch von irgendwo, hatte sie die Rolle des
Familienoberhauptes nach der Art strenger Offiziere eingenommen,
die auch ohne Worte, nur mit stummen Gesten, zwingende Autorität
auszuüben vermochten. Die Mutter besah sich eine Weile das Treiben
ihres Alfreds milde. Dann beendete sie abrupt das Lotterleben des
Sohnes. Sie hatte von einer Bekannten aus der Nachbarschaft von
einem großen Verlag gehört, der Lehrlinge auszubilden bereit war.
Im September 1930 trat der fünfzehn Jahre alte Alfred Hollaender
seine Lehrstelle als Drucker bei Ullstein an. Es war schon recht kalt
an diesem frühen Morgen des ersten Arbeitstages. Den Kragen seines
Anzuges von abgetragenem Glanz, der einem Schneidersohn so gar
nicht würdig war, stellte er hoch, um sich vor dem pfeifenden Wind
zu schützen. Er lief durch die Straßen und überlegte sich vor seinem
ersten Arbeitstag in der Welt der Erwachsenen, was ihn nun erwarten
würde. Er war weder aufgeregt noch gespannt. Ihm war beigebracht
worden, dass er, gewissermaßen einem Naturgesetz folgend, nach der
Schulzeit in ein anderes Leben zu treten habe. Basta! Das war
vollkommen normal, Aufregung schien nicht angebracht, nein sie
störte gar. So ist das Leben.
Die alten Gesellen schonten ihre Lehrbuben nicht, sie wurden
angetrieben zu Genauigkeit und Schnelligkeit. Hollaender wuchs
heran, wurde vom Lehrbuben zum jungen Mann, der sich sehr
geschickt anstellte und sich das Lob seiner Meister verdiente. Auch
die Abschlussprüfung schaffe er ohne Mühe. Er arbeitete gerne, und
er gab der Mutter ohne Murren von seinem Lohn das Kostgeld. Er
arbeitete vor sich hin, so, als ob es nie wieder etwas anderes geben
würde. Die Tage vergingen. Nach seinem Dienst schlenderte er oft
durch die Kaufhäuser, betrachtete mit Freunde die mondänen Damen

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mit ihren schief sitzenden Hütchen, die auf hohen Absätzen
balancierend, in den Auslagen stöberten, und nach dem Bummel die
Kaffeehäuser über alles Wichtige schnatternd, bevölkerten. Dort
spreizten sie wie Adlige den kleinen Finger beim Anheben der
Kaffeetasse oder des Cognacglases. Die kräftigen Waden hatten es
ihm angetan. ‚Das Stöckeln in den hohen Schuhen haben sie trainiert’,
dachte er.
Gegenwart bedeutete für ihn, den Überblick zu bewahren. Er genoss
die Aussicht über die Welt, seine Welt. Er schwebte über Berlin,
seinem Berlin, dessen Luft er schon als Neugeborener eingesogen
hatte, die er liebte, durchtränkt von Maschinenöl und Motorfett, von
Dieselqualm und Pferdemist; all das vermischte sich zu einem
weltstädtischen Brei, und Hollaender war stolz ein Teil dieses
Brodelns, der Giftküche großstädtischer Weitläufigkeit zu sein. Sie
war sein Leben, nichts anderes interessierte ihn. Nirgends entdeckte er
einen blinden Fleck, einen Zweifel. Er suchte nicht, warum auch. Er
genoss das Leben mit seinen Freunden und nach dem Tagwerk labte
er sich an den Freuden, die das schöne Geschlecht ihm schenkte. Das
Amüsement war sein Treibstoff in diesen unbeschwerten Tagen, die
niemals aufhören sollten.
An einem dieser unbekümmerten Tage traf er den Redakteur Justus
Pinkau, der als stellvertretender Nachrichtenleiter beim Spandauer
Illustrirten Blatt arbeitete. Pinkau, ein junger, ehrgeiziger Mann, nicht
einmal zehn Jahre älter als Hollaender, erzählte ihm, dass in seiner
Redaktion bald die Stelle eines Hilfsredakteurs frei werden würde.
„Was ist die Aufgabe eines Hilfsredakteurs“?, wollte Hollaender wissen.
„Nun“, begann Pinkau mit einem Anflug des Prahlens eines jungen
Mannes, der stolz ist auf seinen Vorsprung und auf seine Position, „er
muss Botengänge erledigen, Kaffee für die Redakteure besorgen,
Griffel spitzen, Papierbogen aus dem Lager holen, aber auch kleinere
Texte verfassen. Die Arbeit wird zwar ziemlich schlecht bezahlt, aber
du musst deine Finger nicht mehr in Druckerschwärze tauchen“.
„Hört sich nicht schlecht an“ entgegnete Hollaender. Um die
Anstellung anzutreten, musste er nicht einmal das Verlagshaus

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wechseln, nur die Abteilung, denn das Spandauer Illustrirte Blatt
erschien im Ullstein Verlag, dort, wo er seit vier Jahren arbeitete.

Hollaender zeigte sich als flinker Schreiber. Zwar formulierte er am


Anfang sehr gestelzt und hölzern, aber er lernte schnell und es gelang
ihm, seinen Stil zum gewünschten Jargon zu glätten.
„Wir schreiben hier keine Literatur“, brummte ihn sein Redakteur an.
Er durfte immer mehr schreiben, was ihm zu großer Befriedigung
verhalf. Als kleiner Drucker oder Hilfsredakteur wollte er längst nicht
mehr angesprochen werden; er selbst bezeichnete sich als Journalist.

Ferdinand Spender war ein dicker, bequemer Mann Anfang Fünfzig


mit gelben Fingernägeln und Mundgeruch. Sein Haar klebte auf dem
glänzenden Schädel und er schwitzte, so dass ihm die runde
Hornbrille ständig von der Nase glitt und er sie mit einer schnellen
Handbewegung wieder zurecht rücken musste.
Er leitete das Ressort Unterhaltung und Freizeit und hatte sein Büro
im dritten Stock. Dort thronte er hinter einem riesigen Schreibtisch,
der mit Stapeln Zeitungen und Nachschlagewerken bepackt war.
Selbst ihm, dem Schläfrigen, wie er genannt wurde, blieb der
aufstrebende Fleiß des jungen Hollaender nicht verborgen. Er ließ den
jungen Mann zu sich kommen.
„Was interessiert sie denn so?“. wollte Spender wissen.
Auf diese Frage war Hollaender nicht gefasst. Was sollte er
antworten, überlegte er sich.
„Nun“, begann er bedacht und vorsichtig, um etwas Zeit zu schinden,
„ich war, nein, ich liebe Theater und Kino...“.
„Gut, sehr gut“, unterbrach ihn Spender, dem es offensichtlich doch
gleichgültig schien, für was sich der Neuling begeisterte.
„Sie kümmern sich um die Rubrik Kreuzworträtsel“, bestimmte er
knapp. „Das Kreuzworträtsel ist eine noch recht neue Form der
Zerstreuung, die eine gewisse Bildung der Leser erfordert, verstehen
sie? Das Rätsel erfragt ein ganz bestimmtes Wissen, dessen einziger

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Nutzen nur darin besteht, eben Kreuzworträtsel zu lösen“, dozierte
Spender, und Hollaender nickte eifrig.
„Daneben erledigen sie mir Botengänge, das Gehen fällt mir schwer,
meine Knie quälen mich, und meinen letzten Assistenten haben sie
versetzt, als wäre mein Ressort weniger wert, als die Wirtschaft oder
der Sport“, jammerte er. „Sie werden mich gut entlasten“, sagte er
zum Abschied, und seine Stimme klang breit und blechern wie eine
Trompete.
Der junge Hollaender machte sich eifrig ans Werk. Mit Stolz blickte
er zurück zu seiner Familie. Ihm, so berichtete er aufschneiderisch, sei
es gelungen, der miefigen Armut, dem wässrigen Kohl der elterlichen
Küche, den abgewetzten Tischen und Stühlen, den tausendmal
geflickten Kleidern zu entkommen. Sein Glück sei ein Wort mit fünf
Buchstaben, senkrecht, und seine Sehnsucht liege waagerecht mit
zehn Buchstaben in der Mitte, amüsierte er seine Freunde an den
Wochenenden, wenn sie in Clärchens Ballhaus die Puppen tanzen
ließen und die Abenteuer der Woche zum Besten gaben.
Wenn diese Aufschneiderei sein Mutter gehört hätte?

Lange Zeit danach, gleich nach seiner Rückkehr nach Berlin, bemühte
sich Hollaender um eine Anstellung. Zuerst schien es ihm
gleichgültig, was für eine Anstellung er antreten würde. Ihm wurde
eine Stelle als Verkäufer angeboten, da er im Gespräch mit dem
Sachbearbeiter auf dem Arbeitsamt von seinen Erfahrungen in
Amerika berichtet hatte. Er solle eine Handelsvertretung für
Schleifscheiben übernehmen.
‚Mit dem Wagen durch die Lande rauschen und Schleifscheiben
verkaufen, wo ich doch viel lieber in Berlin bin’, grübelte er
skeptisch. ‚Nein das ist nichts für mich’, entschied er. Eines Tages
stieß er bei der Zeitungslektüre auf eine Stellenausschreibung, die ihm
interessant erschien, zumindest so interessant, dass die Mühe lohne,
ein Bewerbungsschreiben aufzusetzen.
„Redakteur mit sehr guten Kenntnissen in der englischen Sprache gesucht.

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Ihre Aufgabe wird darin bestehen, englische Begleittexte und
Bedienungsanleitungen zu übersetzen und zu lektorieren.
Bewerbungen mit Lebenslauf, Referenzen und Arbeitsproben richten
sie bitte an den Fachverlag Bloch & Sohn in Berlin, Konstanzer
Straße. Schon eine Woche, nachdem er den Brief in den Postkasten
geworfen hatte, wurde er zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen.
Edgar Zacher, der Verlagsleiter, war ein freundlicher Mann. Sie
unterhielten sich lange. Aufmerksam hörte er sich Hollaenders
Lebenslauf an.
„Drucker, Redakteur, Lebensmittelhändler in Amerika, und nun,
wieder Redakteur, beeindruckend...ich gratuliere Ihnen, sie haben die
Stelle“.
„Mein Vater war ein armer Schneider mit zerstochenen,
gichtkrummen Fingern. Meine Mutter war grau und krank geworden
von den vielen Kindern, der nimmer endenden Arbeit und der
andauernden Sorge nicht genug Nahrung besorgen zu können. Auf der
Anrichte in der Küche stand das Buch unserer Familie, gehalten von
Einmachgläsern mit gekochtem Obst, die Bibel. Ich weiß, wo ich her
komme, sie werden ihre Entscheidung nicht bereuen“, bedankte er
sich mit mächtigem Überschwang, der der Situation nicht angemessen
war. Eine Art Befreiung, Bestätigung, ja tiefer Dankbarkeit überkam
Hollaender.
Beide Männer schüttelten sich kräftig die Hände.
Auf seinem Nachhauseweg mischte sich in seine Freude der bittere
Geschmack, den unangemessenes Verhalten hinterlässt, wenn man es
sich eingesteht. Er bekannte, dass er zu demütig war, zu dankbar. ‚Für
was dankbar?’, fragte er sich ärgerlich. Missmutig setzte er seinen
Weg fort.

Der Vorhang bewegte sich, ein kalter Windzug blies ins Lokal. Die
Trinker an der Theke drehten sich gewohnheitsmäßig, wenn die Tür
knarrend aufgedrückt wurde und ein Luftzug einen neuen Gast

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ankündigte. Sie drehten die Köpfe, unterbrachen ihre Unterhaltung
und das stumpfe Glotzen irgendwo hin, ins Regal, der Kellnerin auf
den Hintern, dem Wirt ins Gesicht, auf den Fußboden. Die Neugier
befahl ihnen, den Kopf zu drehen und zu schauen, wer da eingetreten
war. Danach kümmerten sie sich wieder um ihr Bierglas oder ihre
Zigaretten, hörten dem Nebenmann zu, der sich beklagte über alles
mögliche, manchmal schallend lachte, dann wieder auf irgendwelche
Behörden schimpfte und ebenso plötzlich wie sein Redeschwall
begann, verebbte er wieder, die Worte waren weg, der Brunnen
trocken. Die Gäste stierten mitten in den Gläserschrank, dessen
Holzmaserung sie kannten bis ins kleinste Detail, vom täglichen
Glotzen.
‚Der Schrank hinter der Theke ist abgenutzt alleine vom Glotzen,
dachte Hollaender’.

Er entdeckte den jungen Mann, dessen nasses Haar in Strähnen auf


der Stirn klebte, und der gerade eingetreten war. Der Junge machte
den Eindruck, als wolle er sich schütteln, wie es nasse Hunde tun.
Er sah zum ersten Mal den jungen Herrn. Junger Herr, so nannte ihn
Hollaender im Stillen, in seiner Gedankenwelt. Ein paar Augenblicke
verweilten seine Augen auf dem neuen Gast.
‚Vielleicht setzt er sich an meinen Tisch? Ein wenig Unterhaltung
kann nicht schaden.’

Schließlich war Hollaender wieder ganz bei sich selbst. Was


kümmerte ihn der neue Gast, was die Trinker, die schmatzenden
Esser, die Kellnerin, oder der Wirt. Hollaender umgab eine
abwesende, weltfremde Freundlichkeit. Eigentlich müsste er sich
zuhause fühlen, unter den Menschen, den Berlinern, von denen er
auch einer war. Das üppige Trinkgeld, das er stets auf dem Tisch
liegen ließ, war Ausdruck dieser fernen Freundlichkeit, die nichts mit
einer guten oder weniger guten Bedienung zu tun hatte. Manchmal
fühlte er sich, als hätte er die Stadt nie verlassen, als wäre er immer
hier geblieben. Dann malte er sich aus, wie es wohl gewesen, wie das

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Leben verlaufen wäre, wenn seine Frau Rosa, die kleine Tochter
Frieda und er, wie andere Leute auch, die Nachbarn und die Freunde,
überall auf der Welt, eine Familie hätten bleiben können.
‚Was wäre aus Ilse geworden, ach Ilse’, seufzte Hollaender. ‚Liebe
Ilse, was haben sie dir nur angetan. Du bist in Amerika geblieben für
immer, und ohne Grabstein, genau wie Rosa und die süße, kleine
Frieda, meine Frieda’.
Derart versunken saß er da an seinem Tisch, tagein, tagaus. Über ihm
verharrte der Tabakqualm wie eine Gewitterwolke, färbte unmerklich
die Wände, Decken und Gegenstände im Restaurant gelb; ein ins
Braune tendierendes Gelb. Hollaender stellte sich vor, wie es im
Restaurant Rosen nach hundert Jahren aussähe, wenn der Tabakqualm
von Millionen Zigaretten, Zigarren und Pfeifen in flachen Fladen von
den Wänden zu schälen wäre. Archäologen würden mit dem Spachtel
anrücken und Schicht um Schicht abkratzen. Sie würden ihre Funde in
neuartige Mikroskope, welche die Geschichte entschlüsseln könnten,
einspannen und die Begebenheiten lesen können, die sich im Raum
abspielten. Hollaender überlegte sich, dass spätere
Forschergenerationen auf diese Weise aus dem konservierten Qualm
eines Jahrhunderts weise Schlüsse ziehen könnten. Auch sein Leben
würden sie dereinst entschlüsseln und in ihre Bücher schreiben:
„Alfred Hollaender, der unbescholtene Hilfsredakteur, dem man Frau
und Kind genommen hat, der Mord und Totschlag, Flucht und
Vertreibung, Folter und Grauen erlebt hat, bis er schließlich selbst
zum Mörder wurde auf einem elenden Hof .“

Der junge Mann war den ganzen Tag mit seinem Notizblock in der
Stadt unterwegs. Er schrieb alles auf. Wie Regenwasser in einem
Krater sammelten sich seine Einrücke. Seiner Freundin daheim sagte
er, er wolle den Atem der Großstadt einsaugen, ihn mit Akribie
beschreiben und zu Texten falten. So sagte er es nicht. Er wollte es
sagen, zog es aber vor zu schweigen. Wenn er ehrlich ist, vor dem

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Spiegel und im Dunkel seiner großen Stadt, die ihm alles verzieh, da
war es ihm klar, er wollte sich entziehen, fliehen, nur fort.
Nichts schien ihm beim Sammeln und Recherchieren zu unbedeutend.
Sätze, einzelne Worte, Bilder, Reklametafeln für alles mögliche,
Fahnen und Banner mit fremden Sprachen, Ankündigungen, Gekritzel
auf grauem Beton und das Unbedeutendste, das es gibt, „bitte nicht
Einsteigen“, unterzog er einer strengen Prüfung, ob eine Spur an
verwertbarem Gehalt dort wohne. Die flotten Sprüche, Überschriften
aus den Feuilletons, all das Zeugs, das die Spalten der Magazine
füllte, gab er zusammen in einen Tiegel und formte neue
Sprachräume. Es entstanden hohe Gewölbe mit gotischen Spitzbögen,
die zum Lichte strebend über Grüften und Gräben thronten. Aber es
bröckelte an allen Ecken und Enden des Tempels aus der Feder des
jungen Mannes, er hatte den Mörtel vergessen. Nichts wollte sich
wirklich zusammenfügen.
„Substantive haften so schlecht“, tadelte ihn einst ein Professor an der
Universität. Die Kritik verrauchte schnell; „hättest mal lieber
zugehört, anstatt geträumt“, sagte sein Vater oft.
Am meisten Freude bereitete es dem jungen Mann, sich
Gesprächsfetzen vorbei eilender Leute zu merken oder das Allerlei
der Unterhaltungen auf dem Markt und in den Geschäften in seine
Kladde zu übernehmen. In den wenigen Pausen, die ihm sein
immerwährendes Fortstreben und der Zwang des Unterwegsseins
erlaubten, schrieb er alles auf. Häufig krakelte er sogar während des
Gehens, wenn er Angst hatte, irgendwas vergessen zu können.
Manchmal musste er richtig lachen, wenn er die Satzteile, die den
Leuten oft so unachtsam aus dem Mund purzelten, wieder
zusammensetzte. „Es ist ein Sprachpuzzle entstanden“, erzählte er.
Einmal zum Beispiel belauschte er zwei junge Studentinnen, die sich
über hundeköpfige Männer unterhielten bis die Fußgängerampel auf
Grün sprang und sich ihre Stimmen im Straßenlärm verloren samt den
Hundeköpfen, die sie zwischen den Zähnen mit zerrten. Das war mal
wieder ein beutereicher Tag, freute sich der junge Mann über seine
Tagesleistung.

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‚Ja, setz dich nur’, dachte Hollaender.
Der junge Mann blickte sich um im Lokal.
„Ist bei ihnen noch ein Platz frei?“, fragte er den alten Herrn, den er
beinahe angerempelt hätte.
„Setzen sie sich nur“, sagte Hollaender, „setzen sie sich“.
Wippend eilte die kecke Kellnerin herbei.
„Ein Kaffee, bitte“.
„Ein Kaffee?“
„Ja, ein Kaffee“.
„Sie trinken Kaffee? So spät am Abend?“, fragte Hollaender.
„Spät?“
„Ja, spät. Ich könnte das nicht. So spät am Abend, Kaffee? Kein
Auge bekäme ich zu. Nein. Wo ich doch sowieso so schlecht schlafe.“
Die beiden Männer tauschten kurz die Blicke. Der junge suchte sich
eine Zeitung herbei, trank, und Hollaender beobachtete ihn als er
trank, die Tasse ansetzte, und er sah einen kleinen braunen
Kaffeetropfen den Rand hinunter rinnen. Er winkte die Kellnerin
herbei:“ Ach bitte, bringen sie mir einen kleinen“, er hielt kurz inne,
„Cognac, ja, genau, ich möchte einen Cognac“.
„Gerne“.
Henry legte die Zeitung zur Seite machte sich ein paar Notizen.
„Sind sie Schriftsteller oder Journalist?, erkundigte sich Hollaender. Er freute
sich über ein Gespräch. Er suchte Ablenkung.
„Ja und nein“, antwortete Henry. „Ich fühle, dass ich schreiben muss,
aber Schriftsteller bin ich nicht. Ich wünschte, ich wäre es. Ich
schreibe für eine Programmzeitschrift, für eines dieser Stadtmagazine.
Man schickte mich los, eine Geschichte über die Menschen in der
Stadt zu schreiben. Ziemlich unscharfer Auftrag, dachte ich noch“.
„Sie kommen doch aus Köln“, sagte sein Redakteur. „Dann schreiben
sie mal auf, wie sich ein Kölner in Berlin fühlt. Und unterscheiden sie
mir die Menschen!“, gab er Henry mit auf den Weg.

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„Mir fällt immer nur meine eigene ein. Das reicht aber nicht“, sagte er
zu seinem Tischnachbarn mit seltsamer Einsicht einem Fremden
gegenüber.
„Wenn sie gestatten, werde ich ihnen Geschichten liefern, die keiner
außer mir kennt, und die ich noch niemandem erzählt habe“, bot
Hollaender an.
Er folgte einer inneren Stimme, die ihm zusprach, der Junge sei der
Richtige, wenn nicht ihm, wem sonst wolle er seine Geschichte
erzählen. Hatte er es Rosa und Frieda und Gertz und Ilse nicht
versprochen, alles zu erzählen? Wie lange er denn noch warten wolle
und worauf, fragte die Stimme.
Der ersten Geschichte sollten noch viele folgen. Aus Hollaenders
Mund hörten sich die Geschehnisse so an, als hätte er sie gelesen, als
wären sie nicht Teil seines Lebens, sondern schreckliche Zeugnisse
aus dem fernen Mittelalter.
So erzählte Hollaender dem Jungen neben ihm am Tisch die
Geschichte von Kleiner.

Sorgfalt war Hollaender wichtig. Er faltete sein Hemd und seine Hose,
aus der er das Taschentuch entfernt hatte, damit es keine Beulen
verursachen konnte. Die Jacke und den Mantel hängte er in die
Garderobe in seinem schmalen Flur. Die Straßenbahn quietschte unter
seinem Fenster und zog lange Lichtbögen. Die Haltestelle war nicht
weit. Lärmend gingen junge Leute unter seinem Fenster vorbei.
Hollaender schloss das Fenster. Mit offenen Augen, den Blick an die
Zimmerdecke geheftet, lag er im Bett. Die Menschen der Stadt
entfernten sich allmählich und nahmen ihre Geräusche mit. Er
dämmerte dahin. An den jungen Mann dachte er nicht. Sein Leben
verging Blatt um Blatt, wie der kleine Abreißkalender mit den
lehrreichen Lebensweisheiten auf der Rückseite, langsam, mitten in
Berlin. Er schlief schlecht, weil in seinem Herzen etwas kämpfte, das

16
Gute gegen das Böse, das Hohe gegen das Tiefe, das Weite gegen das
Nahe. Eine fremde Gier und eine unaussprechliche Sehnsucht schufen
seltsame Traumbilder. Hollaender erreichte nie die Gewissheit, was in
seinem Innern rang. Zuguterletzt betrachtete er es als eine Art Gnade,
oder Glück, dass es keinen Sieger gab bei diesem Kampf.

„Raus, raus, raus. Verdammtes Pack. Saubande, Dreckbande, ihr


Abschaum“. Hollaender sah seinen eigenen Atem und den Atem der
anderen, wie er in kleinen Wölkchen den Lippen entwich. Die
Eiseskälte zehrte und fraß, kroch durch bis auf die Knochen, sie fraß
weiter, bis nichts mehr übrig war. Aus leeren Augen starrten alle die
Wachmänner an, keine Sekunde lang, und sie senkten wieder die
Blicke. Dann stand die Gruppe vor der Baracke, stramm war
befohlen. Aber seltsam verbogen und verdreht, der eine nach vorn
gebeugt, der andere nach hinten, standen die Männer da in ihren
Lumpen im Dreck und sie sahen aus in ihrer Strammheit wie ein
zerzauster Lattenzaun nach dem Sturm. Alle schief, jeder mit einer
anderen Neigung. Mit voller Wucht krachte der Gewehrkolben eines
Aufsehers auf den Schädel einer schief stehenden Latte. Der Schädel
platzte auf. Es hörte sich an, als würde Holz gespalten. Mit weit auf
gerissenen Augen sackte der Häftling zusammen. „Schafft den Haufen
weg!“, brüllte der Wachmann. Das Gehirn sickerte aus der klaffenden
Schädelwunde, die im ersten Augenblick einer saftigen, reifen
Südfrucht glich, an deren Namen sich Hollaender nicht mehr erinnern
konnte. Das Gehirn, der grau-gelbe Eiweißklumpen, durchsetzt von
Blutströmen, pochte und zuckte und lag frei zugänglich für jedermann
vor der Baracke auf dem gestampften Lehmboden. Hollaender dachte,
dass er nun vielleicht die Gedanken des Kameraden sehen könne.
„Wer war es überhaupt, wen hat es diesmal erwischt“, fragte er sich.

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Der Kopf mit den aufgerissenen, sterbenden Augen sprang ihn an. Das
Blut rann als langsamer, dunkler Fluss aus dem Riss, den der Hieb des
Wachmannes verursacht hatte.
Und da, ganz plötzlich, sah Hollaender die Gedanken. Eine Windböe
trieb sie vor sich her wie ein Blatt Papier. Er sah sie fliehen, die
Gedanken. Sie wollten der Seele folgen auf ihrem langen Weg zu
Gott, der die Menschen verlassen hatte, der sie liegen ließ mit
schmatzenden Wunden in Blutströmen und übel geschundenen
Körpern, denen die Hoffnung ausgeprügelt worden war. Und alles
stank nach Scheiße. Hollaender erkannte Kleiner, zu dem das Gehirn
und die flüchtenden Gedanken gehörten. Karl Kleiner, der
Bildchenmaler und Schöpfer von holprigen Gedichten. Hollaender
erkannte ganz deutlich in den fremden Gedanken die Badende, von
der der verrückte Kleiner einst erzählt hatte. Ihre Brüste waren ganz
weiß, geschützt vor der Sonne vom Oberteil des Badeanzuges. Der
übrige Körper war kaffeebraun und dehnte und streckte sich
geschmeidig in der seichten Brandung. Sie, die braune Schönheit,
stemmte sich gegen den anlandigen Wind. Hollaender sah nur den
Körper. Wasser und Himmel zerflossen zu einem Fest von Blau. Das
Mädchen, so kam es Hollaender vor, war Teil des Wassers und des
Himmels zugleich. Er starrte auf die Leiche des Kameraden und sah
doch das süße Mädchen.
Das waren die Gedanken des Erschlagenen, dachte der Sträfling
Alfred Hollaender, und er sieht Kleiner, Karl Kleiner der
Bildchenmaler und Reimerzwinger. Wie ein Fresco trat das Gesicht
des Kameraden aus einer verschütteten Erinnerung heraus. Da dachte
Hollaender wieder, als er die größer werdende rote Lache beobachtete,
dass nun, genau in diesem Augenblick, die Gedanken um ihre
Freiheit rangen, um schließlich doch elend zu ersaufen. Hier, so
wusste es, gab es keine Freiheit, nicht einmal für die Gedanken.

Das Mädchen mit den weißen Brüsten indes steht in der Brandung seit
Anbeginn der Zeit unter dem Himmel in dem Ozean...vergeblich.

18
Das Blau der Dämmerung zog in das Schlafzimmer von Hollaender
ein. Es war früh an diesem Morgen, der die Woche teilte, eine der
3848 Wochen im Leben des Alfred Hollaender. Was bleibt einem
alten Mann denn schon, als dem Vorbeigehen der Tage, der Menschen
und der Ereignisse zuzuschauen und dabei zu denken, dass einen der
Tod womöglich vergessen hatte, sagte er zu sich. Der Schweiß, der
Nachlass des Traumes und der Nacht, klebte noch an seinem Körper.

Der junge Mann schob sich aus der U-Bahn aus dem Gewühl der
Menschen, die alle Wichtiges zu tun haben. Er war wieder den ganzen
Tag unterwegs. Meist zu Fuß. Nur wenn ihn die Kräfte oder die Lust
verlassen hatten, setzte er sich in den Bus, oder in die U-Bahn mit den
Gerüchen und Geräuschen aus der Unterwelt, dem Gedärm der
Großstadt. Zeugs schrieb er wieder in seine Kladde. Werbeschriften,
Gesprächsfetzen, Brocken vom Boulevard. Mit seinem Mantel blieb
er in der automatischen Tür der Bahn hängen, fluchte, riss sich los,
lachte kurz über sein Missgeschick, fluchte wieder und stieg die
Treppe hinauf. Er sah die Menschen, fühlte die muffige Wärme der
Station, die allmählich dem nasskalten Straßenwind wich und
erreichte den Ausgang. Mit einiger Mühe zündete er sich eine
Zigarette an. Immer wieder blies ihm der Wind das Zündholz aus. Er
sah zwei lumpige Bettler, in Kleiderreste gehüllt. Sie wollten Geld. Er
griff in die Tasche, kramte nach Kleingeld und gab es ihnen ohne
wirklich eine Wohltat erbringen zu wollen. Die Hunde der Bettler
bellten vergnügt, pissten und verloren sich mit dem verlausten
Gesindel irgendwo im trüben Tag. Der junge Mann betrat ein
Gasthaus mit dem schönen Namen „An einem Sommer im August“.
Nach zwei Glas Bier hatte der junge Mann genug. Er schlenderte die
Straße hinab. Der Regen hatte nachgelassen. Während seines
Aufenthaltes in dem Gasthaus mit dem schönen Namen hatte er

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abwechselnd geschrieben, geträumt und aus dem Fenster auf die
Straße geschaut.

„Guten Abend, junger Mann“. Hollaender hatte den jungen Kerl


sofort wieder erkannt, während der Junge noch vor sich hin träumte.
„Hallo“, erwiderte er.
„Darf ich sie zu einem Glas einladen?“, fragte der Alte . Er wirkte
sehr ausgeruht und gepflegt. Hatte sein graues, schütteres Haar nach
hinten gelegt, und sein Gesicht glänzte rasiert. Er roch nach Kölnisch
Wasser. Es war früher Abend und der junge Mann, aus dem die
Augen wie glasige Murmeln schauten nach einem lustigen
Trinkgelage, lächelte und nickte. Schweigend gingen sie ein paar
Schritte, als der Alte plötzlich sagte: „Heute würde ihnen gerne von
meinem Bekannten Gebirtig erzählen!“ Er sagte dies einfach so, der
Satz sprang aus ihm heraus. Die Worte klangen heiter, als wohnte ein
Versprechen in ihnen. Beide betraten das Lokal, in dem sie am Abend
zuvor bereits kurz zusammen gesessen hatten. Der Alte hielt
zuvorkommend seinem jungen Gast, in der galanten Gastgeberrolle
gefiel er sich, den Vorhang zur Seite. Die Mäntel fanden Platz an der
Garderobe. Die Männer setzten sich. Hollaender betrachtete seinen
Tischnachbarn, über sein dickes Brillengestell, das sich allmählich in
seine Schläfen schnürte. Verlegen griff sich der Junge in seine dichtes
Haar, streifte es nach hinten. Das mit Kleiner hatte bei ihm große
Beklemmung verursacht. Kleiner, Kleiner, Kleiner pochte es in
seinem Kopf. „Wissen sie, dass ich von Kleiner geträumt habe. Ich
weiß es genau. Kleiner hieß der Mann in meinem Traum“. Und er
erzählte dem Alten eine wirre Geschichte von der Reise, dem Traum,
dem Glauben und Unglauben, von Zwergen und Elefanten und all
dem Zeugs, das in den schlafenden Hirnen Verwirrung und Angst
hervorbringt.
Diesen Traum sollte er noch einmal haben, später, am Ende seines
Lebens.

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Er sei Agnostiker, eigentlich, aber nach seinem Ausflug in dieses
Inferno, diese Welt der Gefolterten und Toten, in die ihn der alte
Hollaender mitreisen ließ, sei er sich nicht mehr so sicher. Jetzt
tendiere er eher zu den Atheisten. Der Alte nickte.
Die Kellnerin, es war eine andere als am Vorabend, brachte zwei Glas
Bier. „Waren sie schon einmal in Amerika“, wollte Hollaender
wissen.
„Ja, vor drei Jahren besuchte ich meinen Cousin in New York. Er
arbeitete damals in einem Restaurant, war mit einem Touristenvisum
eingereist. Man zahlte ihm einen Hungerlohn für das Abkratzen der
Essensreste von Tellern und aus den Töpfen. Mein Cousin war ein
Tellerwäscher. Millionär ist er nicht geworden. Während er in der
stickigen Spülküche den Dreck von dem Geschirr schabte,
beobachtete ich das Wachsen von Wolkenkratzern. Bei schlechtem
Wetter oder Nebel sieht man die oberen Geschosse nicht mehr. Sie
verschwinden einfach ins Nichts. Noch nie zuvor hatte ich solche
Bauwerke gesehen. Und andauernd wird weiter gebaut, unglaublich“.

Allmählich kroch Müdigkeit in Hollaenders verbrauchten Körper.


Was sollte er über diesen Jungen denken. Er verlangte die Rechnung
und entschuldigte sich. Er hob sich vom Stuhl, warf dem Wirt und der
Kellnerin einen Gruß zu, kroch in seinen Mantel und machte sich auf,
das Lokal mit einem lässig hingeworfenen: „Bis bald, mein Freund“
zu verlassen. Er legte ihm noch zum Abschied flüchtig die Hand auf
die Schulter.
Es war Kleiners Zärtlichkeit, die die Jahrzehnte überdauert hatte.

‚Dieser junge Kerl’, dachte Hollaender auf dem Heimweg, ‚er ist
jung, aber seltsam schwach auf der Brust, auch scheint mir, dass er
wenig von Körperpflege hält. Er ist eine Art mit Leben gefüllter Tank,
aber er hat keine Ahnung vom woher und wohin’.
‚Ich bin ein leerer Tank’, brummte er vor sich hin. ‚Ich habe zwei
Frauen und ein Kind verloren, aber eine Rente, die mir das Warten in
Würde gestattet. Ja, ja, die Würde, die habe ich wieder’.

21
Seinen Kopf gesenkt auf den Gehweg trottete er weiter. Nacheinander
tauchten die Gesichter seiner Angehörigen und Ahnen auf und
zerplatzten gleich wieder wie Seifenblasen.
‚Nun ja, Gott hat es so gewollt’, beruhigte sich Hollaender. ‚Vater hat
immer gesagt, Junge, sei aufrichtig, immer frei raus, sag, was dich
bekümmert, aber schone die Leute, täusche sie nicht, irritiere sie nicht,
schwimm mit. Ja, das sagte der Vater’. Mein Gott, der Vater, und die
gute Mutter. Der Vater bekam schöne Orden. Er war tapfer im Krieg,
ein Held. Er kämpfte für sein Vaterland. Wo war das noch gleich. In
Flandern, fiel es Hollaender wieder ein. Ja, in Flandern. Das ist doch
in Belgien. Dort tummelte sich der Vater mit seinen Kameraden für
den Kaiser. Freute sich wie alle anderen, in den Krieg für das
Vaterland zu ziehen. Flandern!

Auf seinem Nachtisch brannte eine kleine Lampe. Sie erhellte das
Zimmer gemütlich mit gelbem Licht. Er wollte noch in seinem Buch
lesen. Er fühlte sich ruhig, vielleicht verwechselte er die Ruhe mit
Erschöpfung. Er wusste aber nicht, warum er erschöpft sein könnte.
„Doch“ , entfuhr es ihm in die Stille seiner Wohnung. Es war dieser
verrückte Junge. Er stopfte das Kopfkissen unter seinen Rücken, saß
fast aufrecht im Bett und hatte sein Buch auf dem Schoß. Berlin
Alexanderplatz, von Alfred Döblin, hatte er sich ausgeliehen. Bücher
kaufen erschien ihm unnütz. Und außerdem freute er sich auf die
freundliche Dame in der Bücherei, die bei der Ausgabe und
Rücknahme so sorgsam den Datumsstempel auf die Karteikärtchen im
Buchdeckel drückte und ihn dabei anlächelte.

„Eh, du Drecksau. Kennst du das Bündel, das dort liegt“, schrie


jemand. Und Hollaender wusste zunächst gar nicht, dass er gemeint
war. „Mein Friedchen“, presste er heraus. Er näherte sich der
lumpigen, verlausten Menschenmenge, die ein blutiges, verkrustetes
Bündel umstand. „Mein Kind“, vernahm er sich stöhnen. „Es ist mein

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Kind“. Er stieß die Herumstehenden beiseite, fiel kraftlos auf die Knie
und berührte den vor ihm liegenden Haufen. Sein Blick streifte die
Umstehenden, er sah die Baracken, die untergehende Sonne, die
unschuldig war, die lange fröhliche Strahlen warf und die Schuldigen
und die Unschuldigen gleichermaßen gnädig mit ihrem goldenen
Licht überstrahlte, da traf ihn der Pfeil wie Gewissheit: mein Kind,
dort liegt mein Kind.
„Ungewöhnlich für diesen Ort“, sagte einer der dürren Zeugen. „Was
meinst du?“, fragte sein Nachbar. „Gewöhnlich werden die Leute
zertreten, erschlagen, manchmal erschossen, aber so gut wie nie
erstochen. „Die da“, und er zeigte mit seinem Finger auf den
Leichnam, „ist geschlitzt worden. Man hat ihr ein Messer in den
Bauch gerammt, und die im Leib steckende Waffe kreisen lassen, so
dass wir nun diese Schweinerei hier haben“.

Der Junge schüttelte gleichförmig den Kopf und vergrub sein Gesicht
in den Händen, dann schaute er kurz auf, sah Hollaender in die Augen
und fragte: “War es ihre Tochter?“
„Weiß ich nicht“, antwortete der Alte.

Es war drei Uhr in der Früh, als Hollaender hoch schreckte und nicht
wusste, wo er war. Er benötigte eine Zeit lang, um sich darüber im
Klaren zu sein, dass er in Sicherheit war. Er hob sich aus seinem Bett,
ging ins Bad und pisste. Mein Gott, wie lange ist es her, dass ich
meinen Schwanz zu was anderem als zum Pissen benutzte, durchfuhr
es ihn.

Überall in Deutschland flammten im Frühjahr 1919 Kämpfe auf.


Freikorps-Truppen zogen johlend und Parolen grölend durch die
Städte. Den Krieg wollten alle so schnell wie möglich vergessen. Die
einfachen Leute, diejenigen, die Befehle entgegen nahmen und
gehorchten, näherten sich dem Frieden wie einem fremden Wesen.

23
„Was ist heute schon normal“, fragte Mutter Hollaender immer
wieder. „Heute ist normal, dass der Vater das Essen würgt und wie ein
Schaf ausschaut, nicht mehr arbeiten kann. Das ist normal“. „Das ist
bei Käthe Welter nicht anders. Ihrem Mann hat man beide Beine
abgeschossen. Schrappnells zerfetzten nicht nur das Blätterwerk,
damals im Kriegssommer 1916, sondern auch seine Beine. Der rollt
jetzt auf seinem Brett durch die Schönhauser und sammelt Mitleid ein.
Das ist heute normal“.

Hollaenders Vater kehrte schwer verwundet aus dem Feld zurück.


Eine Kugel durchbohrte seine Lunge. Eine andere zerschmetterte das
Knie und die Granaten nahmen ihm das Gehör. Immer wieder
schreckte er nachts auf, erinnerte sich der junge Hollaender, schrie,
wimmerte, heulte, um kurz danach wie ein kleines Kind, das
barmherzig vom Schlaf umschlungen wird, weiter zu schlafen, als
wenn nichts geschehen wäre. Die Traurigkeit jedoch, dieser elende
Kummer, von dem Vater Hollaender verzehrt wurde, der seit seiner
Heimkehr an ihm klebte, die ihm beim schmalen Frühstück die Kehle
zuschnürte, ihn zuweilen beim Mittagstisch Tränen in die Augen
leitete, verließ ihn nie mehr. Obwohl er nach seiner Rückkehr aus dem
Krieg erst achtundzwanzig Jahre alt war, sah er aus wie ein Greis. Die
stumpfe, graue Haut umspannte seinen mageren Körper, die Haare
waren ihm fast vollständig ausgefallen. Einige Büschel verteilten sich
auf seinem Schädel. An die Arbeit in seiner Werkstatt war nicht mehr
zu denken. Noch bevor der junge Hollaender sich an seinem Vater
durch aufsässigen Widerspruch, wie es Adoleszenten immer tun,
messen konnte, starb der Vater ohne je wieder gelacht zu haben im
Winter 1928.
Im Kondukt zogen neben der Witwe, die von ihren Ältesten Söhnen
Stefan und Albert gestützt werden musste, die anderen Kinder
Hermann, Grete und Alfred, von denen Alfred der zweitjüngste war.
Die ersten Schneeflocken des Winters wirbelten. Viele Nachbarn und
Freunde aus der Gemeinde schlossen sich an, duckten sich unter ihre
Hüte und hochgeschlagenen Kragen. Seine ewige Ruhe fand der

24
unglückliche Vater auf dem Friedhof Weißensee. Aber man weiß es
nicht, sagte Alfred Hollaender in späteren Jahren immer wieder zu
Rosa und Frieda, ob er wirklich Frieden finden konnte.

„Ich bitte sie, sich vorzustellen, in einem Aufzug nach unten zu


fahren“, sagte Alfred Hollaender eines Tages zu dem jungen Mann.
Beide hatten etwas getrunken an diesem Abend.
„Dieser, wie soll ich sagen, Ausnahmezustand, der im Lager das
Dasein fest im Griff hatte, führte bei uns dazu, ein Menschenleben,
oder zwei, oder auch viele nicht mehr so wichtig zu nehmen, wie man
dies in friedvollen Zeiten tut. Wir waren wie von einer Lederhaut
überzogen. Erst viele Jahre später gelangte mir der schmerzliche
Verlust meiner Familie richtig zu Bewusstsein. Ich begriff, was
geschehen war. Von diesem Zeitpunkt an hatte ich mit meinem
ganzen Herzen begriffen, dass sie nicht mehr sind, meine kleine
Tochter und meine gute Frau. Beide gingen sie verloren und
versanken schließlich im Morast eines großen Verbrechens“, seufzte
Hollaender. Sein Gegenüber blieb stumm. Er schaute aus seinen vom
Zigarettenrauch geröteten Augen abwechselnd auf seine Hände, auf
den erzählenden Mund seines alten Tischnachbarn, auf die Gäste, auf
ein Bild eines unbekannten Malers an der Wand und nestelte an
seinem Block und dem Bleistift herum, so, als würde er in jeder
Sekunde den rettenden Einfall ergreifen können.
„Ich war am selben Ort und habe doch nichts gesehen. Ich habe nur
gesehen, dass der Himmel rot war“, berichtete Hollaender. „Ich wusste
nichts. Ich weiß bis heute nichts“.

Die Sonne verschwendete an jenem Sommerabend ihre Farbe an


Himmel und Horizont. Hollaender sah die vergeudete Farbe, aber
nicht seine Familie, die unter dem mit vergeudeter Farbe bestrichenen

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Himmel unterging. Auf dem schimmernden Boden, der aus
spiegelglatten Basaltquadern zusammengefügt war, und aussah wie
Straßenpflaster, scheuerten sich die Fersen in soldatischer Disziplin
und schnarrender Gehorsamkeit. Er sah nicht, wie die Schergen sein
Kind ergriffen und es in den Haufen der Elenden schleuderten, auf
dass es unterging und ersticke und alleine seine Frau, die Mutter
seines Kindes, die in diesem Augenblick die Mutter aller Kinder war,
bemerkte es. Sie spürte das Unfassbare, sah Himmel und Hölle sich in
grauenvollem, perversen Inzest umschlingen, um dieses Entsetzen den
Menschen antun zu können. Sie strebte in den letzten Sekunden ihres
Lebens nach Vergebung für die eigene Schuld und hoffnungslose
Hilflosigkeit im Haufen der nach Leben Strebenden. Die Arme und
Beine der Menschen waren verknotet und gebrochen. Manche Köpfe
baumelten aus dem Haufen. Friedas Mutter erinnerte sich der kleinen
Schuhe, die ihre Tochter sich zum achten Geburtstag gewünscht hatte,
die mit den rosafarbenen Schleifchen. Sie suchte ihr Kind im
Menschenknäuel, wie unzählige andere Mütter auch. Wo war Alfred?
Warum hat er mich verlassen, Frieda und mich? Sie schrie aus
Leibeskräften ihre Schmerzen und die Todesangst heraus, die alle
Würde abschnürte. Sie waren begraben unter den anderen Menschen,
die sich verzweifelt der Rettung entgegen stemmten, die sie in der
Höhe, im oberen Teil des Raumes glaubten. Alle schrieen und
weinten. Oben vermuteten sie die Rettung, oben. Aber von oben kam
der Tod in den kahlen Raum über die nackten Menschen.

Hollaenders Frau, die als eine der letzten in die Halle der Offenbarung
gestoßen worden war, hat ihre Tochter nie mehr sehen können. Sie
befand sich am Eingang zur Hölle, als irgend etwas in die
vollgestopfte Kammer geworfen wurde. Sie erkannte ihre Tochter
nicht. Sie empfand Mitleid, wie sie es fremden Menschen entgegen
brachte. Sie dachte an ihre Frieda, an die Schuhe, die Kleidchen und
an die Kinderkritzeleien aus den Zeiten vor dem Unglück.
Sie konnte dem Kind keinen Trost spenden in den letzten
Augenblicken seines kurzen Lebens. Ihr kleines Mädchen, das früher,

26
und dieses „früher“ maß ein Menschenalter, seine bevorzugten
Kleidchen mit stolzer Sicherheit aus dem großen Sortiment des
Kaufhauses gefischt hatte, das seine Kleidergröße wusste wie viele
seiner Altersgenossen nicht, war erschlagen, erstickt, zertrümmert,
zertreten worden wie Ungeziefer. Diese unnützen Gedanken
durchschossen ihren Kopf, sie schämte sich. Die Luft, die sie benötigt
hätte, atmeten die anderen Todgeweihten. Sie bemerkte neben sich
noch einen Mann, der aus der Nase blutete und sich dann über sie
erbrach. Sie schloss die Augen. Mitten unter den Verzweifelten, die
Gott vergessen hatte, und die sich nichts um das Schicksal der Tochter
der Hollaenders scherten, erstarb die Zukunft eines Mädchens und
einer Generation unerkannt, unbeachtet, unberührt. Bis zum Ende
hoffte Rosa Hollaender auf die letzte Gnade, eng umschlungen,
gemeinsam mit dem Kind, den Tod zu erwarten. Sie sehnte sich
danach, das Kind noch einmal in den Arm zu nehmen, es zu berühren.
Ihrer Tochter wollte sie noch einmal Mutter sein wie in den aller
ersten Stunden, als die kleine Frieda noch nicht entbunden war, auf
dem geblähten Mutterbauch lag und schrie aus Leibeskräften dem
Leben entgegen. Ihre Gedanken rasten hitzig hinter den geschlossenen
Augenlidern. Rosa Hollaender dachte an die vielen Abende, als sie die
Kleine vor dem Schlafengehen, noch zudeckte, bevor sie selbst zu
Alfred ins Bett schlüpfte.
Das Gift verteilte sich schnell in dem großen Raum, in dem 1000
Menschen so dicht standen, dass sie keine Bewegung tun konnten und
die Geschlechtsteile, Nasen, Ohren und Haare fremder Menschen auf
ihrer Haut spüren mussten. Rosas Gedanken verschwammen. Von
Ferne betrachtete sie das Gesichtchen der Kleinen und war erfüllt mit
der Freude an eine glückliche Zukunft des sanft schlafenden Kindes.
Im Kessel der Toten blitzten die Tage auf, als sie ihre Frieda morgens
zur Schule weckte, ihr eine Stulle schmierte und die Kleider richtete.
Schön sollte sie aussehen, das gute liebe Kind. Frieda soll ein guter
Mensch werden. Die Kraft der Mutter schwand und mit ihr das Leben.
Sie wurde eins mit dem Haufen Leiber.

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Nachdem der junge Mann wieder auf der Straße stand, wollte er zuerst
nachhause gehen. Unschlüssig stand er noch einige Augenblicke auf
der Schwelle des Lokales. Er ging ein paar Schritte, erspähte die U-
Bahnstation, glitt am Geländer entlang hinab in die weiß gekachelte
Tiefe. Einige Menschen warteten schon auf dem Perron. Einen
kräftigen unterirdischen Sturm vor sich herschiebend, rauschte die
Bahn heran. In der Schlesischen Straße kehrte der junge Mann in einer
Bar ein, in der sich die Gäste merkwürdig benahmen. Wie in Trance,
psychedelisch berauscht, voller in lächelnde Gesichter gezeichnete
Freundlichkeit und mit positiver Energie geladen, bewegten sich die
Leute halb tanzend, halb schwebend. Ein heiseres Kichern zwang sich
ihm auf, als er die glücklichen Menschen wahrnahm. Am
Nachbartisch unterhielten sich zwei junge Frauen: “Lass uns um die
Häuser ziehen, schonungslos und ohne Hintersinn, willenlos und
immer mittendrin an den letzten Tagen in Berlin“, singt die eine der
anderen leise ins Ohr.

Den nächsten Tag begann der junge Mann mit Voltaire. Der Zweifel ist

keine angenehme Voraussetzung; die Gewissheit ist eine absurde. Ihm

gingen die Schilderungen von Hollaender nicht aus dem Sinn, der so seltsam

wechselnd zwischen Andeutungen und Erklärungen sprach, vom Tod seiner

Familie, vom Krieg, von Deutschland, von Amerika. Dabei war der Alte

stets freundlich, ja er lächelte. Er strich an diesem Tag wie eine Katze durch

die Straßen. Besuchte hier und dort in ein Café, trank, las, schrieb. Wollte

ins Kino gehen, verwarf die Idee wieder. Er ertappte sich dabei, wie er den

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Abend mit Hollaender herbei sehnte. Am frühen Abend, zeitiger als die

Tage zuvor, betrat er das Restaurant Rosen, in dem er Hollaender zum

ersten Mal traf. Er bestellte sich ein Bier und zündete sich eine Zigarette an.

Las wieder und wartete. Hollaender kam nicht. Er kam nicht am nächsten

Tag und auch an den folgenden Tagen blieb sein Platz verwaist. Andere

Leute setzten sich. Der Junge empfand es als ungehörig, dass sie den Platz

seines Freundes beanspruchten. Der Alte blieb verschwunden. Der Junge

fragte den Gastwirt nach Hollaender.

„Also“, sagte der Wirt, „ganz früher wohnte der in der Schönhauser, hat er

mal erzählt. Aber das liegt bestimmt schon fünfzig Jahre zurück. Mehr weiß

ich auch nicht“. Der Wirt wandte sich wieder den anderen Gästen zu,

scherzte und lachte.

Hollaender lag seit Tagen im Bett. Irgendetwas klang in seinem Ohr. ‚Nein’,

dachte er. Kein Klang. Ein Ereignis. Von Ferne schlichen sich Bach’sche

Kantaten herbei. Er liebte Bach und Grieg, in deren Klangwelten und

Sinfonien er umher wanderte wie in einem Wald, in dem Eichelhäher,

Baumpieper und Dohlen ihre Konzerte geben. In seinem Fieber hatte er von

einer alten Frau im Krankenhaus geträumt, sie war wohl achtzig Jahre alt.

Die Alte war seine Tochter. Frieda, die als achtjähriges Mädchen starb,

deren Mutter, ihr nicht helfen konnte. Niemand konnte ihr helfen. Der

Patientin ging es schlecht. Man hatte wenig Hoffnung. Die Ärzte umstanden

mit betroffenen Mienen ihr Krankenlager. Ihr Luftholen ähnelte mehr

schweren, tieftraurigen Abschiedsseufzern als Atemzügen. Sie würde bald

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sterben. Niemand wollte die alte Frau mehr sehen. Besuch kam fast nie.

Einmal kam ein Neffe, oder Cousin, wer weiß das schon genau, mit dem

kleinen Blumenstrauß des schlechten Gewissens und süßem Konfekt unterm

Arm. Der Neffe. Oder Cousin war erschrocken über den Zustand der

Patientin, der Tochter von Alfred und Rosa Hollaender.

Im Krankenhaus hatte man beschlossen, das Zimmer der Alten zu räumen.

Die Ärzte konnten nichts mehr für sie tun und wollten sie aus den Augen

haben. Wenn sie mit ihrer Kunst am Ende sind, verschließen sie gerne die

Augen. Am Ende des Flures gab es eine Abstellkammer. Oft wurde der

Wagen mit Verbandsmaterial dort geparkt. In den Schränken stapelten sich

Reservepackungen von Arzneimitteln und allerlei medizinisches Zeug. Der

Boden bestand aus ausgetretenem Linoleum, das in den Krankenzimmern

längst entfernt worden war. Die Alte verdrehte die Augen, als sie mit ihrem

Bett über den Flur gerollt wurde. Ungläubig blickte sie erst zur Decke, dann

zum Pfleger, der sie schob. Nach drei Tagen in der Kammer starb sie.

„Ist sie weg?“, fragte am nächsten Tag der Arzt.

„Ja, für immer“, entgegnete ihm eine Krankenschwester.

Zum ersten mal nach langer Zeit weinte Hollaender. Er lag in seinem Bett

und beweinte bitterlich den Tod seiner Tochter Frieda. Wäre sie doch

damals nur weggelaufen, von mir aus auf die Straße zu den Straßenkindern,

die ohne Eltern waren. In der Obhut von Jizchak Schwerzenz hätte sie leben

können. Der Lehrer gründete damals in Berlin die versteckte Gruppe.

Hollaender kannte Schwerzenz noch aus der Zeit vor dem Krieg. Der

Samariter umsorgte die Waisen und gab ihnen später ein Versteck und

Essen. Er sang für sie die alten Lieder. Das hätte sich Hollaender auch für

seine Frieda gewünscht. Nun lag er in seinem Bett als alter, kränklicher

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Mann, so alt wie seine Tochter, die als Alte Frau im Kämmerchen eines

Hospitals starb. „Gott ist grausam. Mir lässt er das Kind gleich zwei Mal

sterben“, schluchzte Hollaender, als er erwachte.

Endlich war er wieder genesen und bei Kräften. An diesem Freitag stand er

bereits früh auf, wusch sich rasch in dem kleinen Badezimmer, zog Anzug

und Krawatte an und verließ seine Wohnung. Nach den Tagen einsamer

Bettruhe schlenderte er durch sein Viertel, kaufte ein, las Kinoplakate, traf

Nachbarn, die ihn freundlich grüßten, besorgte sich eine Zeitung und setzte

sich schließlich in ein Eckcafé.

„Ich habe Sie vermisst“, sprach ihn plötzlich sein junger Freund an. „Ich

dachte, ihnen sei etwas zugestoßen“. Hollaender blickte überrascht auf. Auf

Ansprache war er nicht gefasst.

„Ich war krank, fühlte mich nicht wohl. Aber bitte, setzen Sie sich doch“,

entgegnete Hollaender freundlich.

„Wie ist es Ihnen ergangen in den letzten Tagen“, fragte er.

„Die Stadt hatte mich verschluckt. Die Leute konnten mich kaum erfreuen.

Ich musste immer wieder an ihre Frau und ihr Kind denken. Wie hießen sie

noch gleich? Und ich dachte dann an meine Freundin; ein Kind haben wir ja

nicht“, erwiderte der Junge schnell.

„Rosa, die Mutter. Frieda, meine Tochter“, antwortete Hollaender

bürokratisch. „Aber sie haben meine Frage noch nicht beantwortet“.

Der junge Mann zündete sich eine Zigarette an und bestellte eine Tasse

Kaffee und einen Cognac.

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„Gestern machte ich mich von meiner Pension aus auf den Weg zu einem

Spaziergang. Sie müssen wissen, ich wohne sehr preisgünstig. 40 Mark

kostet das Zimmer in dieser“, der junge Mann zögerte einen Moment,

„Absteige“, sagte er dann. Ein schmales Bett, ein Nachttisch mit Lampe, die

nicht funktioniert, ein windschiefer Schrank und ein Gardine, die so viele

schmutzige Gäste gesehen hat, dass man mit ihr das Zimmerchen

verdunkeln kann. Ach ja. An einer Wand langweilt sich ein Aquarell hinter

einem fleckigen Glasrahmen“. Er beschrieb das Bild. „Das Bild zeigt einen

Indianer oder Asiaten mit einer turbanähnlichen Kopfbedeckung, aus der an

den Seiten braune Zöpfe herauswachsen. Die Figur scheint eine Schale zu

bewegen, wie beim Auswaschen von Gold. Vielleicht wäscht der Mann auf

dem Bild auch Gold. Die Schale ist gefüllt mit gekritzelten Kügelchen, die

sich in der Mitte so verteilt haben, dass ein Gesicht, oder der Schein eines

Gesichtes zu erkennen ist. Jeden Abend schaut mich dieses Bild von den

Wand an“.

„Am Vormittag“, fuhr der Junge mit seinem Bericht fort,“ es war schon fast

Mittag, beobachtete ich am Bahnhof Friedrichstraße eine Frau, elegant, aber

betont jugendlich gekleidet, die mir aufgefallen war, weil sie weit weg von

den übrigen Fahrgästen an der Bahnsteigkante stand. Ihre Haare hatten

genau die gleiche Farbe wie ihr Mantel, dunkelblond, ins Braune fließend.

Der Mantel endete etwas oberhalb der Kniehöhe, so dass ich die breite

Laufmasche in ihrer Strumpfhose erkennen konnte, die eine Wade teilte.

Plötzlich übergibt sich die Frau. Die Haare flatterten ihr ins Gesicht. Wie

aus heiterem Himmel schoss ein kräftiger Strahl aus ihr heraus auf die

Gleise. Die Aktenmappe, die sie bei sich trug, hatte sie nicht weggelegt. Die

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Szene machte auf mich den Eindruck, als sei es das Natürlichste auf der

Welt, dass man mit einer Aktenmappe unterm Arm auf die Gleise kotzt“.

„Was dachten sie, als sie die Frau so genau betrachteten?, wollte Hollaender

wissen.

„Wissen sie, ich schaue mir alles immer genau an, auch Frauen. Und diese

Frau hatte mir gefallen. Fast wäre ich auf sie zugegangen, um sie

anzusprechen. Vielleicht hätte ich sie sogar zu einem Kaffee eingeladen.

Denn sie sah nett aus, schlank, ovales Gesicht und sehr gepflegt, bis auf die

Laufmasche, wenn man es streng betrachtet. Sonst dachte ich gar nichts. Sie

gefiel mir einfach. Da kam auch schon mein Zug“.

„Das haben sie also in den letzten Tagen erlebt“, stellte Hollaender erstaunt

fest. „Sind sie zum ersten mal in einer Stadt, ich meine in einer Großstadt?“,

forschte Hollaender .

„Nein. Ich liebe Städte, aber ich fürchte mich auch, ich bleibe fremd.

Manchmal passe ich meine Schritte denen anderer Menschen an. Ich

empfinde plötzlich eine Eile und Getriebenheit, die der Eile und

Geschäftigkeit der Menschen ähnelt, die ich beobachte. Jedoch weiß ich,

dass ich nichts Geschäftliches zu erledigen habe und auch nicht wichtig bin.

Ich spiele Geschäftigkeit und Wichtigkeit. Eigentlich bin nur ein leichtes

Herbstblatt, dass vom Wind geweht wird. Wohin, das weiß ich nicht“.

Hollaender und der junge Mann kannten sich nun schon einige Tage, als

Hollaender entschied, es sei nun an der Zeit einander vorzustellen. „Ich kann

ja nicht immer Kerl oder junger Mann oder so was sagen,“ sagte er.

„Ich bin Alfred Hollaender, und wie heißen sie?“

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„Lantz. Henry Lantz“.

Es war eine sehr ungleiche Beziehung, die zufällig, ja zunächst eher

beiläufig begonnen hatte. Hollaender trieb Henry vor sich her, so wie der

Tiefdruck unter schwarzen Gewitterwolken die Schwalben. Nun, da sich

die beiden Männer öfters trafen, veränderte ihr Verhältnis seine Farbe,

wechselte vom hellen Grau der leichtlebig, manchmal flach daher

kommenden Gesprächigkeit zu einer Art bunter, angenehmer und fast

inniger Vertrautheit. Wenn die Männer zusammen saßen, nahmen sie das

zuweilen ansteigende und wieder abschwellende Stimmengewirr nicht wahr.

Die Männer stiegen hinauf in eine eigene Sphäre. Ihre Treffen wurden zu

Verabredungen, zu einer festen Instanz in den Tagen ihrer Bekanntschaft.

Sie trafen sich tagsüber in einem der Lokale im Viertel oder am Abend im

Restaurant Rosen. Als Henry einmal an sich und den Alten dachte, fielen

ihm Fischerboote ein, die er einmal an der französischen Atlantikküste

beobachtet hatte. Die Boote tanzten auf den Wellen des unendlichen

Ozeans, die Strömung trieb sie zueinander. Die Fischer verbanden die

Boote, um so sicher in den nächsten Hafen zu gelangen. Aber was erwartete

sie in dem fremden Hafen und in der fremden Stadt hinter dem Hafen?

Henry legte eine Rast ein und setzte sich auf eine Bank am Paul-Lincke-

Ufer, die einen wunderbaren Blick über die Kanallandschaft ermöglichte. Er

sah die Ausflugsboote auf dem Landwehrkanal. Nur wenige Touristen

waren im Herbst an Bord. Dick vermummt nutzten Liebespaare die

Abgeschiedenheit, um Zärtlichkeiten auszutauschen und Liebesschwüre zu

flüstern, während in der Ferne die Stadt wie im Film träge vorbei zog. Der

Lärm drang wie durch einen Wattebausch zu ihnen. Sie waren eingehüllt in

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Zweisamkeit; unverbrüchlich und versöhnt mit der Welt. Allmählich warf

die Abenddämmerung ihr Tuch über die Stadt. Übrig blieb ein funkelndes,

flaches und sich bis zum Horizont ausdehnendes Lichtermeer. Die Schiffe

mit ihren gleichförmig brummenden Dieselmotoren entfernten sich. Henry

sah die kleinen, wirbeligen Wellen am Heck bald nicht mehr. Die Boote und

ihre Passagiere lösten sich auf in einem dunklen Grundrauschen. Irgendwo

gingen die Liebespaare von Bord, Hand in Hand oder eng umschlungen.

Henry machte sich auf den Heimweg. In Augenblicken wie vorhin am

Kanalufer dachte er an Helen. Seine Erinnerung an sie wurde allmählich

genauso schwach wie seine Sehnsucht. Ihre Gesichtszüge begannen sich von

ihm zu entfernen, ihr Bild verschwand aus seinem Gedächtnis wie ein

Schatten, den das Sonnenlicht vertreibt.

Er entschloss sich, mit dem Bus zu fahren. An der Haltestelle streiften ihn

die Scheinwerfer der Autos und übergossen ihn für Augenblicke mit grellem

Licht. Im Bus fiel sein Blick auf ein Paar undefinierbaren Alters. Henry

schätzte sie auf Mitte fünfzig.

„Dir fällt immer nur dasselbe ein“, hörte er die Frau sagen. „Du bist immer

nur am meckern“, murrte ihr Mann. Die ganze Fahrt hinweg stritten sich die

beiden.

Sie benehmen sich sehr dezent. Wenn sie nicht streiten, blicken sie bei in die

selbe Richtung aus dem Busfenster in die schwarze Stadt. Es geht um nichts

und um alles, dachte Henry. Es kam ihm so vor, als sei das Paar geübt im

Bombardement der Vorhaltungen. Routiniert meckerten sie sich an, um kurz

zu inne zu halten, die Argumente nachzuladen gewissermaßen, um dann den

gegenseitigen Beschuss fortzusetzen.

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Als Henry sich von Helen vor ein paar Wochen verabschiedete, stritten sie

auch. Aber dieses kultivierte Streiten, wie er es bei dem Ehepaar im Bus

beobachten konnte, wollte beim ihm und bei Helen nicht gelingen. Das

ältere Paar stritt in einem seit Jahren zu Stein gewordenem Ritual, entworfen

vom Gott des kultivierten Ehestreites, dachte Henry. Helen und er dagegen

stritten wild, heftig, unkontrolliert und verletzend. „Du denkst immer nur an

die Befriedigung deiner Bedürfnisse und verkleidest deinen Egoismus mit

Melancholie, so dass man ihn nicht erkennen soll, ha, Melancholie. Was du

Melancholie nennst, ist nichts anderes als Flucht und Untreue. Jetzt fährst du

wieder. Ich weiß nicht für wie lange. Ich weiß noch nicht einmal genau

wohin, du Schuft“, schmetterte sie ihm am Vorabend des Abschieds an den

Kopf. Sie lagen im Bett. Stürmisch drehte sie sich von ihm weg. Er wollte

sie küssen oder wenigstens in die Arme nehmen, aber sie wehrte sich

wütend. Aus ihren Augen sickerten Tränen der Wut und der Verzweifelung.

Sie begleitete ihn am anderen Morgen nicht zum Bahnhof. Im Zugabteil

dachte Henry, dass sie nicht aus Wut weinte. Sie ist hübsch, intelligent, von

vielen Männern umschwirrt, aber hysterisch.

„Herr Hollaender, sie haben mich einmal gefragt, ob schon einmal in

Amerika gewesen bin. Warum?“

„Ich lebte mehr als zwanzig Jahre in den Staaten“, entgegnete Hollaender.

„Ich wollte nur erfahren, ob sie Land und Leute kennen“.

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In Lynchburg, Virginia, traf Hollaender 1956 oder 1957 einen Mann, der

sich John Born nannte, der oft betrunken in den Bars herumlungerte und in

diesem Zustand der Besinnungslosigkeit den Umstehenden seine

Geschichten aufzwang, Geschichten, die niemanden interessierten und die

im Übrigen kein Mensch in Lynchburg verstehen konnte. Es waren einfache

Leute aus der Vorstadt. Sie ergründeten die Geschehnisse nicht, die tief in

seinem Innersten glühten. Sie hielten ihn für verrückt. Wenn John im

Zustand größter Aufregung und zudem besoffen seine Erlebnisse erzählte,

folgten ihm seine mageren, nur auf einfache Konversation eingeübten

Englischkenntnisse nicht in dem Maße, wie sich die Worte lösten, einem

Husten gleich. Es war ein babylonisches Sprachen- und Wortdurcheinander,

das er wie grüne Galle in der Umgebung verspritzte. Deutsch, Jiddisch und

Englisch wurde bei John zu einem Brei. Mehr als einmal musste der Wirt

mäßigend eingreifen und John und die Leute besänftigen. John regte sich

auf, die Leute regten sich auf, es herrschte gespannte Stimmung, und

heilloses Durcheinander, wenn John loslegte. Die Burschen in der schäbigen

Vorstadtbar litten an einem niedrigen Siedepunkt und hatten schon aus viel

weniger schlimmen Gründen die Fäuste sprechen lassen. Trotz der großen

Emphase, die John Born bei seinen Schilderungen an den Tag legte, konnte

ihn der Wirt meist beruhigen, „ok John, ist schon ok, hier nimm einen

Schluck und dann ist Ruhe“, sagte der Wirt. Die Burschen kühlten ihr

Mütchen schließlich auch wieder an Bier und Schnaps.

Eigentlich hieß Born Gebirtig, Mordechaj Gebirtig und stammte aus Iasi in

der Region Moldau. Er hatte sich der Einfachheit halber einen anderen

Namen zugelegt, weil die Amerikaner Mordechaj Gebirtig nur sehr schwer

37
aussprechen konnten. Wenn es einer doch versuchte, Mordechaj zu sagen,

verstand John „Murder“.

Die Ausgewanderten, die Verjagten und Heimatlosen erkannten sich stets

sehr schnell. Lange bevor die Sprache sie entlarvte, die auch nach

Jahrzehnten noch nicht der der Einheimischen entsprach, waren sie sich

gewiss, gaben sie sich dennoch nur zögerlich als Emigranten zu erkennen,

tasteten sich schüchtern näher, wie es Jünglinge tun, die dem Mädchen

ihres Herzens alles geben wollen, es aber um keinen Preis vor ihnen

ausbreiten möchten.

Kam es zu einem Zusammentreffen zweier Versprengter, ließen sie ihre

Worte tanzen in der fremden Emigrantensprache, erfanden unehrliche

Reigen, trauten selbst in den fernsten Ländern nicht demjenigen, der

womöglich dasselbe Schicksal erdulden musste, logen von geschäftlichen

Notwendigkeiten, die sie hier hin oder dort hin verschlagen hätten, aber

deckten vor dem fremden Kameraden ihr Innerstes mit der bleiernen

Schweigsamkeit eines gemeinsamen Schicksals zu. Sie waren eine Sorte

Geheimbündler, die von einem fernen Planeten kamen, mit Namen „Lager“.

Als Hollaender John toben sah und im Rausch schwadronieren hörte, ahnte

er sogleich, was geschehen war. Er erkannte Mordechaj oder John als

Bruder. Er sah die Schrecken der Unterwelt, des Weltenendes, das ganz

nahe gewesen war, und die vergangene Zeit lag vor ihm ausgebreitet, nackt.

Die Welt war zu klein für die Ausgewanderten, um ausreichend Distanz

zwischen sich und ihr früheres Leben zu bringen.

Und während John noch Unverständliches Gebrummel von sich gab und an

seinem Schnapsglas sog, fragte ihn Hollaender, den nun die Neugier auf

Erkundung geschickt hatte: „Wo warst du?“

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„Ich war auf der Arbeit. Ich bin ein verdammter Mechaniker. Ich flicke den

Bauern ihre Traktoren zusammen. Wo soll ich sonst gewesen sein, als in

dieser öligen Werkstatt?“

„Ich meine, wo du früher warst, im Krieg“.

Darauf war John nicht gefasst. Plötzlich war er nicht mehr John, sondern

wieder Mordechaj Gebirtig. Er fühlte wieder den selben Namen, den sein

Vater trug, seine Brüder und seine Mutter. Er schmeckte sein früheres

Leben. Sämtliche zerrissenen Netzverbindungen in seinem Hirn verknüpften

sich schlagartig.

„Monowitz“, spuckte er aus. „Ich war in Monowitz. Er ließ keinen Zweifel

zu. „Monowice, Oberschlesien“, fügte er seinem Geständnis hinzu. „Kam

aber dann nach Birkenau. War im Sonderkommando. Ich bin einer der

wenigen, die es überlebt haben, das Sonderkommando. Fast alle meiner

Kameraden mussten denjenigen folgen, deren Zeugs sie weg räumen

mussten und die sie später, danach, aus dem Bunker wieder heraus zogen.

1948 gelangte ich über Lissabon zuerst nach Palästina. Die Engländer

hassten uns. Du kennst doch die Geschichte von der „Exodus“? Ich wollte

mich nicht von den Briten verjagen lassen. Ich schiffte mich ein nach

Amerika. Soll es doch auch untergehen, das verdammte Schiff, hab’ ich

gesagt, bis man mir gesagt hat, ich soll’s Maul halten“.

Das Wort Sonderkommando klang wie ein gewaltiger Glockenschlag in

Hollaenders Kopf nach. Er wusste sofort, was Sonderkommando bedeutete.

Er fragte sich, ob John etwa seine Rosa und seine Frieda zuletzt vielleicht

noch gesehen haben könnte. ‚Vielleicht hat er meine Frau oder mein Kind

auf ihrem letzten Weg beruhigt. Vielleicht hat er gesehen, wie Rosa ihr

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Kind, die geliebte Frieda, an sich drückte, bevor sie schrecklich erstickten,

Rosa und Frieda und alle anderen. Womöglich war John einer von denen,

denen man satt zu essen gab, damit sie derart gemästet die Kräfte aufbringen

konnten, die Toten aus der Kammer zu ziehen’.

‚Nein, unmöglich’, verwarf er seinen Gedanken, das konnte bei allen

Zufällen nicht sein.

„Nach was roch es?“, fragte er John. John, dessen Schnapsrausch sich

plötzlich verzogen zu haben schien, hatte auf alle Fragen eine Antwort. Zu

oft malte er sich aus, was wäre, wenn er einen anderen träfe. Er musste nicht

überlegen. Ihm war, als stünde er vor seinem eigenen Gewissen, als müsse

er sich vor sich selbst rechtfertigen. Das Unglaubliche erklären, das war es,

vor dem er sich immer fürchtete. „Nach Mensch, einfach nach Mensch. Es

roch nach Haut, nach Haaren, nach Schweiß. Einfach nach Schweiß, wie es

in unserer Werkstatt manchmal riecht. In dem Augenblick, als mir klar

wurde, dass es nach Mensch riecht, nach Haaren, Haut und Schweiß, in der

Entkleidungskammer, waren die Leute auch schon unterwegs als zuckende,

wimmernde Prozession in den Tod. Die SS-Männer trieben sie an mit

heiserem Gebrüll, die Stimmen überschlugen sich, Kinder schrieen, Frauen

und Männer, manchmal fielen sie übereinander nach den Fußtritten mit den

glänzenden Stiefeln, den Stockhieben, den Faustschlägen und dem Gebell

der Köter. Manchmal dachte ich an die Köter, die so wenig dafür konnten,

wie das Gemäuer, in dem der Schrecken stattfand. Als ich zurück war in der

Kammer mit den Kleidern, die überall herum lagen, erdrückte mich fast der

Geruch der Menschen, die nun nicht mehr waren. In den Kleidern der Leute

steckte noch ein Rest von Leben, glaubte ich. Und so sorgsam wie es nur

ging, bündelte ich die Reste ihres Lebens und wir trugen sie auf Lastwagen,

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die vor dem Krematorium warteten. Der Geruch der Menschen klebt bis

heute noch und für alle Zeit auf meiner Haut. So oft ich auch die Kleider

wechsele und mir neue Sachen kaufe, immer hab’ ich diesen

Menschengeruch an mir und in mir. Er frisst mich auf, von innen, verstehst

du“.

Mordechaj blickte stumm in sein Glas. Er wagte nicht aufzusehen.

Hollaender tat es ihm gleich. Die Männer schwiegen lange. Die Sätze, die er

ohne zu stocken Hollaender entgegen warf, die von seiner Zunge rollten, die

wie Gefangene waren, die jahrelang eingekerkert waren, hingen über ihnen

wie Gewitterwolken.

„Und was treibt dich hierher?, fragte Mordechaj, um die Stille zu

überspannen, die sich wie eine Schlucht zwischen die Männer gedrängt

hatte. Hollaender erzählte seine Geschichte, die neue Geschichte, die

Geschichte seines zweiten Lebens.

“ Zuhause, in St.Louis, führen Ilse und ich ein ordentliches Leben. Ein Jahr

ist wie das andere und von geduldiger, regelmäßiger Pflichterfüllung

bestimmt. Ich bin jetzt unterwegs, weil wir unser Sortiment erweitern

wollen. Mir berichtete ein Freund, dass es hier bei euch in der Gegend

günstige Arbeitskleidung zu kaufen gibt. Nun, wie du siehst, unser Leben

steht auf stabilem Fundament“. Seine Zukunft und sein Lebensglück waren

ein umbauter Raum, umsichtig geplant und kalkuliert, wie es ein Kaufmann

macht. Amerika verwandelte den Auswanderer Hollaender in einen

Kaufmann.

Am Abend in seinem Hotel stieg in Hollaender die Einsicht wieder hoch,

das er Rosa und Frieda nie würde vergessen können. Kein Ozean, kein

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Kontinent konnte sie voneinander trennen. Mit eisernen Ketten banden sie

ihn an die Vergangenheit, von der er sich sehnlichst wünschte, sie möge sich

lösen und ihn in Frieden lassen. Er war besinnungslos vor Wut und er hasste

diesen John Born, oder Mordechaj Gebirtig, der irgendeinem Kaff in

Osteuropa entsprungen war, den es verschlagen hatte in die triste Vorstadt

von Lynchburg, Virginia, der als Landmaschinenmechaniker arbeitete und

der seine Frau und seine Tochter, bestimmt aber die Töchter und Frauen

anderer Männer aus dem Haufen von klebrigen Toten zog und sie denen

heranschleppte, welche die Leiber verbrannten.

Henry hatte die Geschichte von Mordechaj aufmerksam gehört. Fast kam er

sich so ein wenig vor, wie der unglückliche Mordechaj, der sich ertappt und

entdeckt gefühlt haben musste. Ihm war nicht wohl.

„Was ist mit ihm geschehen?“, wollte Henry wissen.

„Wir tranken noch eine Zeitlang zusammen, erzählten uns Geschichten über

die alte Heimat, seine in diesem Kaff, dessen Namen ich vergessen habe,

und ich über meine Heimat, Berlin, die John nie gesehen hatte. Schließlich

wollte ich gehen. Beim Abschied tauschten wir, vielleicht war es aus

Höflichkeit, Adressen aus. Ich nahm an, dass dies nur aus Höflichkeit

geschehen sein konnte, denn John mochte mich bestimmt so wenig wie ich

ihn. Eine förmliche Galanterie, die dem leichten Anheben des Hutes beim

Grüßen auf der Straße glich“, erzählte Hollaender.

Hollaender hatte John schnell wieder vergessen. Er gedachte ihm nie wieder

zu begegnen. Die Welt ist groß und weit. Alle Verbrechen und Verbrecher

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finden Platz. Ein kleiner Tümpel ist sie jedoch für diejenigen, die fliehen

mussten. Wie die Strömung auch wirkt, sie treiben immer aufeinander zu,

ob sie wollen oder nicht. Als würden sie sich finden ohne zu suchen, so

treffen sie im letzten Winkel der zivilisieren Welt aufeinander.

In diesen Tagen des Jahres 1956 oder 1957, es lässt sich nicht mehr exakt

datieren, rückte John mit einer Geschichte heraus, die Hollaender sehr

bedrückte. Trotz seiner Beredsamkeit hütete er diese Geschichte wie einen

Schatz. Scham und Schuldgefühl verboten ihm bis dahin, etwas davon zu

berichten. Zu Hollaender hegte er Vertrauen. Für ihn hob er das Ereignis aus

dem tiefen Brunnen, in das er es gekippt hatte.

An einem Tag im November 1944 vernahm Mordechaj Rufe. „Gebirtig,

Gebirtig...Gebirtig,“ drang eine heisere, erstickende Stimme zu ihm

hindurch. Die Stimme bahnte sich einen Weg durch den fabrikmäßigen

Lärm. Das metallene Kreischen der Ofentüren, die dauernd geöffnet und

wieder geschlossen wurden, das klacken der Räder auf dem Steinboden, das

Zischen des Feuers und laute Schüren der Öfen mit Kohle und Koks

vermischten sich. Die Männer schoben die quietschenden Bahren, die

bepackt waren mit Toten, in die Öfen. Die Arbeiter bewegten sich im

geduldigen Rhythmus von Eseln, die tagein, tagaus, das Joch im Nacken,

sich mühsam ins Geschirr stemmend, Wasser aus Tiefbrunnen fördern. Von

weitem konnte man die sich überschlagenden Stimmen der Wärter mit ihren

Kommandos hören; ihr Gebrüll durchschnitt jeden Lärm mit deutschem

Knall. Selbst wenn die Welt zusammenbräche, dachte Mordechaj, ihre

Stimmen könnte, ja müsste man hören. Der Raum war erfüllt von den

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verschiedenartigsten Lärmarten und Geräuschschnipseln, die sich

vermengten zu einem phonstarken Teppich, der die Apathie der Arbeiter

noch verstärkte. Metall traf klingend auf Metall, stumpf auf Holz,

Wagenräder quietschten, es zischte ohrenbetäubend, als kochendheißer

Dampf aus einem geborstenen Ventil entwich. Geräusche aus einer Fabrik.

Als Mordechaj jene flehende Stimme im Halbdunkel seines Arbeitsplatzes

ausmachte, entdeckte er, dass sie Marcel Stern gehörte. Er kannte Stern, es

war ein Nachbarsjunge. Als Stern am frühen Morgen beim Appell vergessen

hatte, seine Mütze auf den Kopf zu setzen, und sie stattdessen in Händen

hielt, zog dieses Vergehen schlimme Folgen nach sich. Er wurde von

Helfern aus der Reihe gezerrt und schwere Schläge und Tritte verwandelten

ihn in einen blutigen Klumpen. Zwei Häftlinge hoben ihn auf, und waren

ihn auf eine Karre. Später wurde er zur Backsteinhaus gefahren. Stern war

so sehr verletzt, dass er mit zerschlagenen Gliedern in einer Ecke lehnte,

nicht saß, nicht lag, er klemmte schief zwischen einer Metallkiste und einem

Fass, sich krampfhaft mit den Armen abstützend und wimmerte. Mit

schmerzverzerrten Gesicht hielt er sein Bein. Mordechaj schaute sich um,

auf dass kein Aufseher ihn bemerkte, und näherte sich mit wenigen

Schritten Stern. In diesem Augenblick marschierte ein Aufseher herbei.

„Was ist hier los“, schrie er. Stern wollte dem Wächter gerade berichten,

was passiert war. Er hatte seinen Satz noch nicht beendet, das stieß ihm der

Wärter den Gewehrkolben mit großer Wucht auf den Brustkorb, der in

lautem Krachen zerbrach. Der Kolben hatte ein flache Delle verursacht, an

deren tiefster Stelle ein gewehrkolbengroßes Loch klaffte. Stern verdrehte

die Augen, schluckte das hochquellende Blut, ließ es wieder zwischen

seinen Lippen hervorquellen und pumpte nach Atemluft. Er hatte alle

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Kontrolle verloren. Er zuckte und er lebte. Er kippte leicht zur Seite, da traf

ihn ein zweiter Schlag an den Kopf, aber er lebte immer noch. „Schaff das

weg“, befahl der Wärter Mordechaj. Er zerrte den leblosen Körper zur Seite

und erhielt einen Tritt. „Dort hinein“, schrie der Wärter und deutete auf

einen Ofen, der gerade geöffnet war. Er tat wie ihm befohlen. Er packte den

zerschmetterten Stern, der noch lebte, mit Hilfe eines Kameraden.

Zusammen legten sie ihn auf die eben leer gewordene Bahre und schoben

den noch lebendigen Marcel Stern in die Flammen. Mordechaj vernahm ein

leises Zischen, wie Stroh, wenn es verbrennt, als Sterns Haare von kleinen,

bläulichen Flammen gefressen wurden und sah, bevor die Ofentüre

geschlossen wurde, wie seine Haut in der Höllenhitze Blasen bildete.

Der Wärter war bereits gegangen, nachdem er seine Waffe wieder

geschultert hatte. Mordechaj würgte. Es dauerte nicht lange, bis er den Fraß

erbrach, den er am Mittag gegessen hatte. Ein Kamerad goss einen

Wassereimer über die saure Suppe aus Mordechajs Magen, wischte kurz mit

einem Schrubber darüber und beide gingen wieder an ihren Arbeitsplatz.

Unterdessen verwandelte sich der Marcel Sterns Körper zu Asche.

Spät in der Nacht war die Schicht für Mordechaj und seine Kameraden

zuende. Sie stapften müde die Treppen hinauf zu ihrer Unterkunft. Es gab zu

dieser Zeit vier Anlagen. Mordechaj und seine Gruppe arbeiteten in

Nummer. IV. Ihre Wohnräume befanden sich über den Öfen. So lag er nun

auf seinem Strohsack. Er döste. Mitten in dem schwarzen Schrecken des

allgegenwärtigen Todes verirrte sich Mordechaj Gebirtig auf eine Wiese

voller bunter Sommerblumen. Er dachte mit großer Wehmut daran, dass er

sich kaum noch an die Farben der Blumen und der Wiese und an den

saftigen Geruch der Wiese erinnern kann. In seinem Wachtraum lag er auf

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der Wiese, wie jetzt auf dem Strohsack, und blickte zu einem blauen

Himmel empor. Weiße Quellwolken zogen vorüber. Sein Himmel war

vernagelt mit braunen Brettern. Der Blick stieß an die braunen Bretter. Es

gab niemanden, dem er das hätte erzählen können. Sein Herz zog sich

zusammen. Er versuchte zu beten, aber er war ungeübt und das wenige, das

er wusste, hatte er beinahe vergessen. Niemand erhörte die Gebete, ob sie

nun von tiefgläubigen Menschen kamen oder von einem wie Mordechaj.

Sein Beten glich eher einem Fluchen. Wie oft flehte und fluchte er, wo,

wenn nicht hier und jetzt, müssen Wunder geschehen. Es geschah kein

Wunder. In der Schule lernte Mordechaj einmal, dass das Wesen der

Fortpflanzung das Leben kennzeichnet, dass die bunten Blüten alleine zum

Zwecke der Fortpflanzung so schön und wohlriechend von der Schöpfung

ausgebildet waren. Alles dient der Erhaltung der Art und somit dem Leben.

Unter ihm, nur ein Stockwerk tiefer, zwanzig Zentimeter Beton trennten ihn

von dem zu Staub gewordenen Marcel Stern.

Der Bahlui ist ein kleiner Fluss. Am Unterlauf des Flusses liegt inmitten

einer von sanften Hügeln umgebenen Landschaft die Stadt Jaßenmarkt

(Iasi). Die Häuser, Kirchen und Fabrikgebäude schmiegen in das Knie, das

der Bahlui bildet.

Stern und Gebirtig lebten dort ein unbeschwertes Kinderleben. Die beiden

Jungen kannten sich von der Schule. Die Straße war damals voller Kinder,

sie spielten ausgelassen und rauften, stritten und vertrugen sich. Die Wege

von Mordechaj und Marcel trennten sich früh, als der begabtere der beiden,

Marcel, die Oberschule besuchte, und Mordechaj ein Handwerk erlernte.

Nachdem deutsche und rumänische Truppen 1941 Transnistrien

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eingenommen hatten, kam es zu entsetzlichen Pogromen. Im Sommer

beobachtete Marcel Stern den Mord an vier jungen Männern aus seiner

Nachbarschaft. Er lag den ganzen Nachmittag über mit seinem

Schmetterlingsnetz auf Lauer nach seltenen Faltern. In der

sonnendurchfluteten Lichtung, umstanden von mächtigen Erlen, Buchen und

Eichen, vergaß er die Zeit und träumte in den Tag hinein. Als er plötzlich

laute Geräusche vernahm, versteckte er sich im Dickicht. Starr vor Angst

beobachtete er Soldaten in Uniformen, die den vier Gefangenen befahlen

eine Grube zu Graben. Die Soldaten lachten. Es kam Marcel so vor, dass sie

betrunken seien. Immer wieder stießen sie die armen Kerle an und befahlen

ihnen schneller zu arbeiten. Später rannte er wie von Sinnen nach Hause.

Dort berichtete Marcel zuerst seinen Freunden von seiner schrecklichen

Beobachtung. Niemand glaubte dem Jungen, so grauenhaft waren seine

Schilderungen; die Freunde nicht, und auch nicht die frommen Alten. Ihre

Phantasie reichte nicht aus, sich eine solche Tat vorstellen können, sie

schüttelten die Köpfe und tuschelten, dass Marcel, der Sohn von Abraham

Stern, verrückt geworden sei. Marcel war aber nicht verrückt geworden. Er

schrieb in einer kleinen Kladde, die er fortan immer am Leib trug, das auf,

was er mit eigenen Augen gesehen hatte. Auch in den folgenden Tagen ließ

er nicht nach, seinen Leuten von der Begebenheit im Wald zu erzählen.

Die Umtriebigkeit und die Aufregung, die der Junge mit seinem

Kindergeschwätz verbreitete, blieb auch den patrouillierenden Soldaten

nicht verborgen. Einige Tage nach dem Mord an den vier Männern drangen

sie polternd in das Haus der Familie Stern ein und nahmen den Jungen mit.

Das Flehen um Gnade für ihren Sohn quittierten die Männer mit Schüssen in

die Zimmerdecke. „Das nächste mal treffen die Kugeln euch“, brüllte der

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Anführer. Marcels Büchlein fanden sie nicht. Auf der Polizeiwache

schlugen sie ihm die Zähne aus und die Augen blau. Sie fragten ihn gar

nicht, ob und was er gesehen habe. Marcel befand, dass trotz der Bildung,

die sie in ihrer Jugend genossen hatten, bei den Offizieren eine äußerst

grobe Verwilderung eingetreten war.

Hollaender dachte damals, dass John sich wohl zu Tode gesoffen haben

würde. Was die Deutschen nicht geschafft haben, werden wohl seine

amerikanischen Kumpels erledigt haben. Sie werden ihm das Maul gestopft

haben, dachte Hollaender kalt. Er aber, Alfred Hollaender, blieb John Born

oder Mordechaj Gebirtig in Erinnerung. Er war für ihn wie ein Fenster mit

Blick zurück in das Vaterland, auf die Felder, Wiesen und geschwungenen

Hügel, die zusammen mit dem Flüsschen Bahlui das Paradies bildeten,

immer von neuem, immer klarer.

„Zu meiner großen Überraschung, ich hatte Gebirtig wirklich schon

vergessen, erreichte mich viele Monate später ein Päckchen mit einem

Begleitschreiben von ihm. So erfuhr ich etwas über sein weiteres Schicksal

und das Geheimnis von Marcel Stern“, sagte Hollaender zu Henry.

Einige Wochen, nachdem sich Hollaender und Gebirtig in der Bar

voneinander verabschiedet hatten, war es soweit. Es trat das ein, was

Hollaender sich ausgemalt hatte, was er gewissermaßen als

Zwangsläufigkeit oder Naturgesetz prophezeit hatte. Auf dem

Nachhauseweg bemerkte John, oder Gebirtig, trotz seines schnapsbedingt

stark eingeschränkten Wahrnehmungsvermögens, dass ihn drei Burschen

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verfolgten. Sein in der Lagerzeit gestählter Selbsterhaltungstrieb, der dem

eines verwundeten Wildes glich, schaltete sich unweigerlich ein. Er

beschleunigte seine Schritte, er torkelte nicht mehr. Er versuchte zu

entkommen, bog in eine mit alten Platanen bestandene Nebenstraße ein und

wollte sich hinter einem der Bäume verstecken. Die Schläger holten ihn ein,

zerrten ihn hinter seinem Versteck hervor und verpassten ihm ohne zu

zögern heftige Schläge. Gebirtig ging zu Boden. Er konnte noch verhindern

auf den Kopf zu fallen. Es gelang ihm aber nicht die schweren Tritte und

Schläge, die auf seinem ganzen Körper nieder gingen, abzuwehren. Nach

endlos scheinender Zeit, in Wirklichkeit dauerte der Angriff nur drei oder

vier Minuten, war alles vorbei. Die Burschen rannten weg. Gebirtig blieb

noch geraume Zeit auf dem Gehweg halb auf der Seite liegen. Seine Wange

spürte das kühle Straßenpflaster. Die Wunden brannten, als hätte jemand

Salz in sie eingerieben. Nach einer Weile, ihm kam es so vor, als hätte er

eine ganze Nacht auf der Straße gelegen, kam ein versprengter Zecher

herbei, der ihm wieder auf die Beine half und ihn in das Bezirkskrankenhaus

begleitete.

„Sollen wir nicht doch besser zur Polizei gehen“, fragte der Mann am

Eingang des Krankenhauses. Der aus vielen Wunden blutende Gebirtig

wollte nicht. Er wehrte ab, bedankte sich und schleppte sich ins Hospital.

Der Arzt in der Notaufnahme diagnostizierte mehrere Rippenbrüche,

Hämatome und ein geplatztes Trommelfell. Nach drei Tagen im

Krankenhaus schlich John oder Mordechaj heimlich davon. „Wer in der

Hölle war, dem machen Rippenbrüche, Hämatome und geplatzte

Trommelfelle nichts mehr aus“, schrieb er lakonisch in seinem Brief an

Hollaender.

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John hatte beschlossen, Lynchburg zu verlassen. Er kündigte sein

Zimmerchen, das er bei einem Lehrer gemietet hatte, der darüber sehr

traurig war. Der Lehrer hatte sich in Johns von Muskelsträngen

durchzogenen, ledernen und allen Angriffen trotzenden Körper verliebt.

Immer wieder näherte sich der Lehrer schüchtern und sehr höflich dem

Handwerker aus Osteuropa, der aber seine Avancen schroff zurück wies.

Gebirtig wollte nach Süden. Ein Ziel hatte er nicht. Der Süden sollte es sein,

der immer warme Süden Amerikas. Da er sehr bescheiden lebte, hatte er

Geld zurücklegen können. Es war ihm klar, dass sein Grabstein nicht in

Lynchburg stehen würde. Diese Stadt bedeutete ihm nichts, sie war eine

Station auf seiner Reise, die ihn irgendwo hin führen würde.

Um nicht schon alleine für die Fahrt durch den Kontinent seine gesamte

Barschaft an Geld zu verschwenden, schloss er sich einer Gruppe

Landstreicher an, die in jenen Jahren Güterzüge kaperten, und illegal und

immer in größter Furcht vor den brutalen Bahnpolizisten durchs Land

fuhren. Im Frühjahr 1960 erreichte John Born, oder Mordechaj Gebirtig den

südlichsten Punkt der Vereinigten Staaten von Amerika. Aber auch dort war

ihm kein Glück beschieden, schrieb er Hollaender. Er fand für kurze Zeit

eine Arbeit im Hafen, soff und prügelte sich durch die Spelunken, bis ihm

eines Tages jemand von Unruhen auf Kuba erzählte. Er hörte öfters die

Worte Revolution und Aufstand. Ohne auch nur einen Gedanken an Zweifel

zu verschwenden, entschloss er sich, auf die Insel zu überzusetzen. Er fühlte

sich stark, hatte noch einige Dollar in der Tasche, ein kleines Vermögen. In

Kuba wollte er ein neues Leben beginnen.

Über eine holprige Piste führte Gebirtigs Weg durch die ausgedehnte

Savanne weiter Richtung Westen. Er hatte Havanna nach einigen Tagen

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verlassen, nachdem ihm ein alter Barkeeper den Tipp mit Matanzas gab.

Dort, so erzählte er ihm, könne er viel billiger als in Havanna einen Wagen

kaufen. Er bestieg einen fensterlosen Überlandbus, der unter der Last der

reisenden und ihres Gepäcks auseinander zu brechen drohte.

Die rote Tonerde des Landes speichert das Regenwasser, so dass auch in der

heißesten Jahreszeit die Pflanzen saftig grün leuchten und nicht verdorren.

Gebirtig strahlte beim Anblick des Paradieses. Vereinzelt duckten sich

Bohios in Palmenhaine, eingebettet in Reis-und Tabakfelder. Er lehnte sich

zufrieden auf der hölzernen Sitzbank des Busses zurück, paffte genüsslich

eine Zigarre, die es überall zu kaufen gab, an jeder Straßenecke. Es kam ihm

vor, als besäße jeder Kubaner eine Tabakplantage. Campesinos kehrten von

der Feldarbeit zurück und winken den Reisenden. Später passierte der Bus

verrottete Ölfelder. Es stank nach Schwefel wie in der Hölle, die Luft klebte,

sie war schwer und lastete auf den Lungen. Alte Pumpen und

Verladerampen verrosten in dem scharfen Wind, der vom Meer herwehte,

zu skurrilen Skeletten. „Gleich sind wir da, meine Herrschaften“, brüllte der

Busfahrer nach hinten und hat Mühe, den Motorenlärm zu übertönen. Einige

Minuten später hielt der Bus.

„Aussteigen, Endstation, Matanzas“, der Fahrer würgte den Motor ab,

sprang mit einem Satz aus dem Bus und half beim Entladen des Gepäcks.

Noch steif vom langen Sitzen schaute sich Gebirtig um, und sah sich mitten

in einer karibischen Industrielandschaft, gesäumt mit Schuppen,

Bohrstellen, Fabrikhallen und kreuz und quer verlaufenden Bahngleisen.

Die Stadt erschien ihm voller absurder Widersprüche. Gebirtig wunderte

sich über den bunten Zauber und die kolonialen Häuser, die aneinander

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gelehnt wie besoffene Seeleute aus dem heißen Sand ragten. Er hielt sich

nicht lange mit Staunen auf, immerhin hatte er ein Verabredung. Orlando

nannte sich der Mann. Er gab vor aus der Armee Batistas desertiert zu sein.

Nun sei er glühender Anhänger der Revolution. „Es lebe die Revolution,

Sozialismus oder Tod“, rief er plötzlich. Gebirtig verstand ihn nicht. Er

zeigte Gebirtig ein kleines, mit Wellblech gedecktes Geschäft, das von drei

Seiten offen war. Hinter der Theke lungerte eine junge Schwarze, deren

Haar steif im Wind stand. „Warten sie dort“, befahl Orlando. Stunde um

Stunde wartete Gebirtig und als er sich schon damit abgefunden hatte, der

Kerl hätte in einfach stehen lassen, vergessen, rollte hupend ein riesiger

amerikanischer Wagen heran. Orlando winkte ihn herbei:“ Das ist ihr Taxi.

Das haben sie gekauft“.

In den Wirren des Umsturzes, gelang es ihm ein Taxi zu kaufen. Er

kutschierte als Taxichauffeur durch das neu entstandene Havanna. Nun, da

er sich sicher und am Ziel fühlte, an einem Ziel, das er gleichwohl nie

angestrebt hatte, sah er die Zeit gekommen, eine Familie zu gründen. Er

heiratete eine Mulattin mit Haut wie Ebenholz und zeugte zwei Kinder. „Ich

habe es geschafft, mein lieber Kamerad“, berichtete Mordechaj Gebirtig

Alfred Hollaender. Der Stolz über seine Lebensleistung, sein Sieg über

Schicksal und Irrwitz sickerte förmlich aus den Zeilen, die er Hollaender

schrieb. Im Irrwitz wohnt nur insofern ein Sinn, als man sich nicht mit ihm

abfindet, dachte Hollaender bei der Lektüre. Mordechaj schien das

gelungen, was ihm verwehrt blieb.

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Henry hatte das Gefühl, als beobachtete ihn der Alte. Der aber schien ganz

der freundliche Herr, als der er sich bisher immer gezeigt hatte.

‚Hatte er mich nun beobachtet, oder nicht? Ist es überhaupt wichtig zu

wissen, ob er mich beobachtet?’

Er versuchte sich in sein Gegenüber hineinzuversetzen, dessen Gedanken

nach zu spüren. Aber den Alten umgab eine Festung, die nichts

durchschimmern ließ. Gutmütig schaute er drein und berichtete dabei von

den schlimmsten Begebenheiten, so dass Henry sich manchmal beklommen

umdrehte, es könnte ihnen ja jemand zugehört haben. Er hegte einen

Verdacht, den er jedoch nicht belegen konnte. Denn oft dachte er, der Alte

wolle ihn fertig machen, ihn zerstören, nicht ruhen, bis er endlich am Boden

lag, triumphieren über den Jungen, den er im Innersten eifersüchtig um seine

Unschuld und Jugend beneidete. Er benutzte die Geschichten wie

Stockhiebe. Henry fühlte sich schwach und anfällig. Seine Abwehr war

durchlöchert. Alle möglichen Viren hätten in ihn eindringen können, warum

nicht auch die Rachegelüste und die Eifersucht des Alten. Er hatte keine

Ahnung, von wo die plötzliche Schwäche angekrochen kam.

Henry schaute den Alten an, öffnete einen zweiten Knopf am Kragen, ihm

war, als läge ein Band Stacheldraht um seinem Hals.

Tatsächlich umspielte ein Lächeln Hollaenders Lippen. Sie saßen sich

gegenüber und Henry sah, dass sein Freund (er ließ sich nicht davon

abbringen, Hollaender als seinen Freund zu bezeichnen) abwesend in der

Vergangenheit umher wanderte.

Henry verschloss für die Dauer eines kurzen Atemzuges seine Augen.

Plötzlich löste sich der Alte in seine Bestandteile auf. Millionen und

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Abermillionen einzellige Hollaenders zerstoben wie nach einer Explosion

auseinander. Henrys Gedanken begannen zu rotieren; er wurde auf einmal

zu einem kleinen Jungen auf dem Jahrmarkt. Gedanken und Gefühle

purzelten munter durcheinander. Das Öffnen der Augen war wie der Sprung

vom Karussell. Er wähnte sich in Sicherheit mit festem Boden unter den

Füßen.

Ihm war, als widersprächen sich Hollaenders Augen und Mund. Während

der Mund stets ein feines Lächeln aufwies, absichtsfrei, undefinierbar, wie

gezeichnet, stumm, gefroren, und in seiner Festigkeit eher einer hübsch

geschwungenen, frischfarbigen Blüte ähnlich, verschwanden seine Augen

unter buschigen Augenbraun. Seine Augen waren zwei dunkle Tunnel, die

nichts freigaben, als ein kleines Feuer am Ende tiefer Höhlen, die in seinen

Kopf gegraben waren. Diese Feuer strahlten vor glühendem Eifer. Es war

ein Feuer, das ohne Holz, Kohle und Sauerstoff loderte. Es war das Feuer

der Öfen und das Feuer immerwährenden, ewigen Hasses.

Hollaender entschied, dass der richtige Zeitpunkt gekommen sei, ihm von

Marcel Stern zu erzählen. Er hatte sich diese Geschichte aufgespart.

Marcel Stern, der ein so fürchterliches Ende gefunden hatte, entpuppte sich

im Nachhinein als findiger Kerl; gerettet hat ihn das jedoch nicht. Er hatte

allen Ernstes geplant, seine Kladde aus Faustpfand zu nutzen. Hollaender

hatte sich vorgestellt, wie der schmächtige Marcel Stern mit seinem

Büchlein, das er fest umklammert in seinen Händen barg, vor den schwarz

gekleideten Rittern der Hölle steht und ihnen seine Freiheit und die Freiheit

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seines Volkes abpressen würde. Daran dachte er, als er anhob, Henry die

Geschichte zu erzählen.

Stern lag bereits auf der Bahre, obenauf, als einziger lebendig, da hob er

zum Schrecken von Gebirtig mit letzter Anstrengung den Kopf und flüsterte

mit tonloser, krächzender Stimme:“ Ich habe etwas Wichtiges

aufgeschrieben, du musste es an dich nehmen und hüten wie einen Schatz.

Mir hat es nicht geholfen, dir wird es vielleicht helfen. Es ist ein kleines

Buch, das ich in unserer Baracke vergraben habe, unter meinem Platz...“,

weiter kam er nicht mehr, denn sein Mund füllte sich mit Blut. Das

Verbrechen, dessen Zeuge er wurde, und das er notierte, wurde ihm zum

Verhängnis. Aber das Buch hatte noch keiner gefunden. Stern erfand einen

Vorwand, dass ihn die anderen von der mittleren Pritsche nach unten

umziehen ließen. So hatte er freien Zugriff auf den gestampften Boden. Seit

seiner Verhaftung beabsichtigte er, dieses Buch vor Zugriff und

Vernichtung zu bewahren. Es sollte sein Schlüssel in die Freiheit werden,

wenn er den Inhalt an richtiger Stelle vortrug und die Bestialität der

Besatzer anzeigte. Diese würden schließlich angeklagt, der ganze Spuk hätte

ein Ende.

Unter seinem neuen Lager grub er eine Mulde, in die das Büchlein genau

hinein passte. Die anderen beobachteten ihn, wie er schrieb und malte.

„Mir gefror das Blut in den Adern, als ich von dem Verbrechen las, das

Stern beobachtet hatte“, sagte Hollaender. „Nachdem die vier Gefangenen

ihr Grab geschaufelt hatten“, fuhr er fort, „verbanden ihnen die Soldaten die

Augen, fesselten ihre Arme auf dem Rücken und ließen sie vor dem Loch

knien. Mit einem Kanister in der Hand stieß ein weiterer Soldat zu der Stelle

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in der Lichtung dazu. Er übergoss die Gefangenen mit Benzin, die Männer

schüttelten sich. Der Anführer des Trupps schnippte seine Zigarette auf die

Gefangenen, die danach brannten wie Fackeln. Mit Fußtritten beförderten

die Männer die lichterloh Brennenden in das Loch, sie fielen übereinander

und wanden sich unter den Flammen. Eine Zeit lang betrachteten die

Soldaten die Gequälten, bis schließlich der Befehl erging, ihnen den

Gnadenschuss zu geben“.

Henry zitterte vor Erregung. Er konnte nicht begreifen, was Hollaender

berichtete. Niemals zuvor hatte er von derartigen Grausamkeiten erfahren.

Henry Lantz gefiel es schon lange nicht mehr in seiner Absteige. Die

pissenden Freier im Hof, die ihre Abscheu den Dirnen gegenüber nicht

selten dadurch zum Ausdruck brachten, dass sie, anstatt die Toiletten im

Haus, die es sehr wohl auch in dem schäbigen Puff gab, zu benutzen, in den

Hof urinierten. Das Plätschern gesellte sich zu dem brüllenden Lachen und

schallte hoch hinauf zu den Nutten und zeigte ihnen, was sie ihren Freiern

wert waren. Henry hörte oft das Gesindel im Hof. Sie grölten unflätige

Worte in das enge Hofgeviert. Das Hinterhofecho schickte den Auswurf und

die Demütigungen von Wand zu Wand. Henry hasste es. Die Niedertracht,

die das Spektakel allabendlich entfesselte, war ihm zuwider. Er hatte es

hassen gelernt, so wie er die nackte Glühbirne über seinem Bett, die

zuwenig Licht zum Lesen spendete, hasste. Sie bot als gelbliche Funzel und

elektrisches Fackelchen bestenfalls Orientierung im Dunkel. Diese

verdammte Birne, so dachte er oft, verhindert nur, dass man sich statt neben

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das Bett hinein legt. Er verabscheute auch das Etagenbad, diese dreckige,

notdürftig gekachelte Zelle kalter Gastfeindlichkeit. Ungestört duschen war

nicht möglich, denn immer wieder verrichtete irgend jemand seine Notdurft

im Klo nebenan. Überhaupt: die Klos. Sie waren entweder verstopft oder

verpestet, meistens waren sie beides.

Es traf sich also ganz gut, dass Henry eines Tages seinem alten Schulfreund

Arno von Reith begegnete. Arnos Wiege stand wie die von Henry in Köln.

Er war der Sohn einer wohlhabenden Familie. Sein Vater arbeitete als

angesehener Rechtsanwalt, der sich auf Ehescheidungen spezialisiert hatte.

Der junge von Reith konnte sich an einem von materiellen Schwierigkeiten

vollkommen gelösten Leben erfreuen. Wohlbehütet wurde er von frühester

Kindheit an das kleinadlige Großbürgertum gewöhnt. Er war groß, hatte

leicht gewelltes blondes Haar, das er immer mit einer ruckartigen

Kopfbewegung zurück warf, die Mädchen standen auf ihn. Sie mochten sein

lautes Lachen, seine Unbekümmertheit und das Geld, mit dem er um sich

warf. Selten, vielleicht einmal im Jahr, besuchten ihn seine Eltern, wollten

sehen, wie ihr stolzer Nachkomme lebte, was er alles schon erreicht habe.

Sie wollten erfahren, dass es dem angehenden Advokaten an nichts mangelt,

wie das Leben ihn verwöhnte in der großen Stadt mit Theater und Varieté

und ob er sein Herz vielleicht schon an eine hübsche junge Frau aus gutem

Hause verloren habe. Kurzum: Sie mochten am Erfolg ihres Sohnes, den sie,

und nur sie, möglich gemacht haben, teilhaben.

„Vater wartet auf dich in der Kanzlei“, pflegte Arnos Mutter immer zu

sagen, und hatte dabei ganz präzise Vorstellungen. Arno sollte seinem Vater

später in der Kanzlei nachfolgen, um ihn nachher ganz zu beerben.

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Lange im Voraus kündigten seine Eltern ihre Besuche an, so dass Arno

ausreichend Zeit hatte, die Spuren seines ganz und gar nicht standesgemäß

studentischen Lebens zu beseitigen. Denn er führte das Leben eine

Bohemiens, ohne ein Bohemien zu sein. Ihm war weder an bildender Kunst,

noch an Musik ernsthaft gelegen. Er pflegte viel lieber regen Kontakt zu

Nutten und deren Entourage. Nicht die Nächstenliebe trieb den Studenten

der Jurisprudenz in die Nähe der Menschen, die die Kälte des Asphalts

kennen. Es war die reine Gier nach Körperlichkeit und das Streben, über

diese Menschen triumphieren zu können. Für Arno von Reith bestand ein

Mensch oder genauer ausgedrückt, eine Frau, überwiegend aus

Geschlechtsmerkmalen. Je größer, desto besser. Er suhlte sich in dem

Gefühl die Mädchen zu greifen, wann immer er Lust dazu verspürte. Macht

über andere Menschenerlangen, das war es, was er wollte. Große Brüste sah

er als sein Eigentum, wenn er sie umfasste mit seinen weichen Händen,

dann gehörten sie ihm. Nicht selten verursachte er mit Absicht Schmerzen.

Die Geschlechtsteile waren ihm Schleusen, die ihn in die Welt gefühlloser

Wollust abließen, in der er ohne Reue wüten konnte. Die Nutten nutzten ihn,

und er nutzte die Nutten. So war es. Der blonde, schöne, talentierte Arno

von Reith war im Begriff, in ein Schattenwesen zu transzendieren. Es trieb

den jungen Studenten in seichte, dennoch gefährliche Gewässer. Die Nutten

hingegen waren erfreut, in seiner Wohnung, die groß und geschmackvoll

eingerichtet im feinen Charlottenburg lag, den Hauch bürgerlicher

Behaglichkeit atmen zu können.

Die Zeit rückte näher, dass er alles satt hatte Er zögerte keine Sekunde eine

Entscheidung zu treffen, als er feststellte, dass das Leben, das er sich

wünschte, in seinem selbst gezimmerten Irrenhaus nie würde einziehen

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können. Die Entscheidung lautete: Die ganze Mischpoke fliegt raus! Ihm

war klar geworden, dass er sich zu weit von den glänzenden Fassaden seines

bürgerlichen Lebens entfernt hatte. Er hatte eine Grenze verletzt; in seinen

Kreisen kam das gar nicht gut an.

Nun gut, dachte er bei sich, „ich hätte auch in die schlagende Verbindung

Germania eintreten, um mich halb oder ganz zu Tode zu saufen und mir von

Paukanten einen Schmiss schlagen lassen können“. In seiner Wohnung hatte

sich nach recht kurzer Zeit eine kunterbunte, moralfreie Gaunergesellschaft

versammelt, die er nicht mehr mochte, weil sie ihn langweilte. Er befand

sich mit den Gästen aus der Unterwelt moralisch auf einer Stufe, war ebenso

frei von Skrupeln, aber sein Geist bestach durch analytische Schärfe, was

man von dem ungeschlachten Gesindel nicht behaupten konnte. Die

Lüsternheit, mit er sich in all den Monaten besudelte, erdrückte ihn nicht,

förderte keine Scham hervor, aber sie erlosch. Die Langeweile war ein

schales, fauliges Gewässer, das die feurige Wollust ersäufte.

Er sorgte dafür, dass der Hinweis eines Anonymus die Polizei alarmierte,

die für den feinen Arno von Reith die Wohnung vom Abschaum reinigte.

Die meisten hatten etwas auf dem Kerbholz, manche wurden sogar mit

Haftbefehl gesucht. Er, Arno von Reith hatte sich noch nicht einmal die

Hände schmutzig gemacht.

„Wir haben uns aber schon lange nicht mehr gesehen. Ich glaube seit den

Tagen unserer Abiturprüfung nicht mehr“, begrüßte Arno beschwingt Henry

Lantz.

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„Ja“, sagte Henry. „Und ich wusste gar nicht, dass du in Berlin lebst“. Sie

umarmten herzlich sich und klopften sich gegenseitig auf den Rücken.

„Ich lade dich ein zu einem Kaffee, hast du Zeit?“, fragte Arno.

„Gerne“, lachte Henry, der sofort, als er den Schulfreund sah, an mögliche

Unterstützung dachte. Er erzählte seinem Freund von seinen Problemen. Er

reihte eine Übertreibung an die andere, um seiner Schilderung den nötigen

Nachdruck zu verleihen. Charmant lud Arno seinen Freund ein, bei ihm zu

wohnen. Arnos Großzügigkeit war nicht seiner bourgeoisen Herkunft

geschuldet. Er hatte schon früh gelernt, dass eine kleine Gabe hier und eine

Spende dort nützliche Bekanntschaften festigen und sie über die tiefen

Gräben, die die Zeit wie ein Fluss ins Gestein schleift, hinüber retten kann.

„Ich habe meine Wohnung renovieren lassen. Der alte Dreck ist fort

geschafft. Die Wände sind geweißt und für dich, lieber Henry, steht immer

ein Zimmerchen bereit“, sprach er mit wichtiger Stimme. Er verschwieg

geflissentlich, was er mit „Dreck“ meinte.

„Was treibst du hier in der Stadt“, fragte Arno den Freund aus Jugendtagen.

„Eigentlich habe ich mich in Biologie immatrikuliert“, begann Henry

zögernd.

„Was bedeutet eigentlich“, unterbrach ihn Arno mit ärgerlichem Unterton.

„Ich hasse das Wort ‚eigentlich’. Es bedeutet eigentlich gar nichts, außer,

wenn man ‚eigentlich’ sagt, man eigentlich etwas ganz anderes will, oder?

‚Eigentlich’ ist das Synonym für ‚ich weiß es nicht, ich kann es nicht, ich

habe keine Ahnung’. Was ist also los mit dir?“

„Ja, du hast Recht. Ich weiß es wirklich nicht. Eigentlich will ich

schreiben....“. Aus beiden Männern brach ein lautes Lachen hervor.

„Eigentlich, ha, ha, ha.“

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„Nun aber im Ernst“, fasste sich Henry. „Ich schreibe. Was es wird, weiß

ich noch nicht. Ich arbeite an einen Band mit Erzählungen, die das Leben in

der Stadt schildern. Ich habe eine kleine Erbschaft gemacht, davon lebe ich,

meine Eltern denken immer noch, dass ich studiere“.

„Das glauben meine Vorfahren auch“, entgegnete Arno verächtlich.

Inzwischen war die Dämmerung hereingebrochen. Die beiden jungen

Männer fanden ein Restaurant, um etwas zu essen. Sie redeten von früher,

von den Zeiten in der Schule, von den glanzvollen Taten ihrer Primanerzeit.

Die Erinnerungen strahlten aus der Vergangenheit herüber. „Die

Vergangenheit ist das andere Ufer“, hatte Hollaender einmal zu Henry

gesagt. Die Freunde lachten und scherzten den ganzen Abend bis in die

Nacht. Henrys Stimme überschlug sich, sie war schrill und heiser geworden,

als er von Helen erzählte und dass er nun die Trennung beschlossen hatte.

Sie tranken und schwatzen die ganze Nacht hindurch bis ins Morgengrauen.

Henry war so gelöst wie lange nicht mehr. Ihm war plötzlich so, als könnte

nichts sein Gemüt beschweren. Je mehr er trank, desto heller wurde seine

Stimmung. Er wollte Arno umarmen, und die Rothaarige am Nebentisch mit

dem ausladenden Hintern, die in einem tiefen Sessel eingesunken vor sich

hin dämmerte, die ganze Welt und auch Hollaender. Er nahm sich vor,

schon am Morgen sein altes Zimmer zu kündigen und am Nachmittag zu

Arno zu ziehen. Sein Herz hüpfte vor Freude. Henry träumte davon, endlich

wieder arbeiten zu können. Schreiben wollte er, unbeschwert, Hollaender

ausfragen, dokumentieren, wirbeln, eine Reportage schreiben, die ihm die

Zeitungen aus den Händen reißen würden, ja, stöhnte und schwärmte er,

dies alles kann ich jetzt schaffen. Noch ohne sein neues Zimmer gesehen zu

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haben, hatte er es bereits eingerichtet. Am Fenster sollte der Schreibtisch

stehen, nicht weit daneben, das Bücherregal, eine kleine Sitzgruppe für die

Gäste, genau, das erschien ihm angebracht.

Alfred Hollaender lag lange wach in seinem Bett. Mehrmalig nahm ein

schwerer Schlaf ihm die Besinnung und drückte seinen Greisenkörper auf

die Matratze. Dann erwachte er wieder. Unter seinem Fenster hatte jemand

gegen eine leere Büchse getreten. Die Stromabnehmer der Straßenbahn

quietschten auf der Oberleitung und warfen bizarre, kurzlebige

Lichtgemälde an die Zimmerdecke. Nun war er 3851 Wochen alt, dachte er.

Er hatte sich angewöhnt seine Lebenswochen zu zählen. Er folgte der

Vorstellung, dass das Leben in kleinen Zeiteinteilungen berechnet, länger

dauere. Irgendwann, wenn er älter geworden sein wird, wollte er dazu

übergehen, die Tage zu zählen, dann die Stunden, schließlich Minuten und

Sekunden.

Einen beschreibbaren Grund länger zu leben erkannte er nicht mehr, das

wusste er. Er machte sich nichts vor. Aber so einfach aufhören nach allen

Geschehnissen wollte er auch wieder nicht. Jeder Tag bedeutete einen neuen

Triumph über seine Peiniger und einen Sieg über die Gebrechlichkeiten des

Alters. „Zwei mal Genugtuung jeden Tag, na, wenn das nichts ist“. Er

kicherte verstohlen ins Dunkel. „Was bin ich doch ein verwegener Kerl“.

Langsam erhob er sich aus seinen Kissen, ertastete seine Brille auf dem

Nachttisch, schlüpfte in die Hausschuhe und stand auf. Vor dem Fenster sah

er die unruhig schlafende Stadt mit den sonderbaren Klängen, die nur bei

Dunkelheit wahrnehmbar sind. Gelblich schimmerten die Laternen und hier

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und da huschte eine dunkle Menschengestalt über die Straße. Vielleicht war

es der Bäcker, der zur Arbeit in die warme Backstube eilt. Vielleicht ein

junger Freier, der nach dem Schäferstündchen das Weite suchte. Oder ein

Betrunkener, ein Obdachloser. Sein Atem beschlug die Fensterscheibe. Stirn

und Nase presste er an die Fensterscheibe. Die Schweißperlen wanderten

von seinem Gesicht auf die Scheibe. Eine riesige, blau-schwarze Wolke

schob sich vor den fast vollen Mond. Auf dem Erdbegleiter entdeckte er

dunklen Stellen, die Täler und Berge markieren. Elf Kilometer hoch soll die

höchste Erhebung auf dem Trabanten sein. Auf der Rückseite des Mondes

herrscht eine Temperatur von Minus 153 Grad Celsius. Es war, als ob eine

große Macht die Wolke zog. Sie glitt gleichförmig, wie auf Schienen,

langsam vor den hellen Mond, dessen silbernes Strahlen mehr und mehr

verblasste und matt, wie hinter einer Milchglasscheibe schwächer wurde.

Hollaender warf seinen Kopf noch weiter ins Genick, um möglichst den

ganzen Himmel zu sehen mit den funkelnden Sternen, Lichtjahre weg von

dem Schmerz, der Wut , dem Hunger und der Trauer und Kälte auf der Erde.

Alfred Hollaender wollte erfrieren. Er dachte, jetzt einfach stehen bleiben, in

den Himmel schauen und warten, bis die Kälte von unten herauf den ganzen

Körper auffrisst. Versunken stand er da, die anderen trotteten an ihm

vorüber als er plötzlich einen kräftigen Tritt in seinen Hintern spürte. Der

Tritt war so heftig, dass seine Wirbelsäule bis hoch in den Nacken gestaucht

wurde und seine schmutzige Kappe ihm von seinem knöchernen, kahlen

Kopf ins Gesicht rutschte. Erschrocken schob er mit der linken Hand die

Mütze aus den Augen und mit der anderen hielt er sich sein schmerzendes

Hinterteil. Da traf ihn auch schon der zweite Schlag; noch viel heftiger.

Dieser erwischte ihn auf der Nase, die laut krachend zersplitterte. Der

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Schlag hatte ihm nicht nur die Nase demoliert, aus einer länglichen

Platzwunde, die der Lauf des Gewehres verursacht hatte, rann das Blut in

seinen Mund. Mit weit aufgerissenen Augen drehte er sich um und blickte in

die gleichgültigen Augen des Wärters, der einfach weiter ging neben den

torkelnden Gestalten, die eher tot als lebendig waren. Er bewachte die

Halbtoten, er arbeitete. Seine Arbeit war das Zerschlagen von Menschen.

Hollaender hatte seinen Kameraden verloren durch die Träumerei, das

Gedränge und die Verwirrung nach den Schlägen. Er taumelte. Nur nicht

stürzen, dachte er. Nun aber träumte er nicht mehr vom Erfrieren, vom

Mond, den funkelnden Sternen und einer imaginären Flucht in Gottes

gütigen Schoß. Das Feuer des Hasses brannte wieder und wütete in seinem

Körper wie in seinem Geist. Sein Hass war so glühend, so ewig.

Nüchtern betrachtet, die äußeren Gegebenheiten kalkuliert, hatte er sich

ausgeruht. Einige Augenblicke lang dehnte sich für ihn die Zeit und er

konnte aus dem unendlichen Meer der Ruhe schöpfen. Der Wärter hatte ihm

zwar das Gesicht zerschlagen, ihn jedoch am Leben gelassen. Er nutzte

geschickt die, man ist verführt zu sagen, sekundenlange Rekonvaleszenz,

um seine Gedanken zu ordnen. Nichts wäre verheerender, ja sogar tödlich,

gewesen, sich dem stumpfen Trott des Zuges zu überlassen. Im

gleichförmigen Trott erfieren zuerst die Füße. Der eisige Tod ergreift die

Beine, bis er schließlich das Herz zum Stillstand zwingt. In der Karawane

der Verlorenen sprach niemand. Unter den Füßen war nur das Knirschen des

verharschten Schnees zu hören. Die Menschen stöhnten unter der Last ihres

erbärmlichen Lebens. Jeder Schritt im Wind war ein Peitschenhieb. Sie

nahmen kaum mehr wahr, wie sich allmählich die Landschaft veränderte,

wie die endlosen, weiten Tiefebenen immer mehr parzelliert wurden durch

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Weiler und versprengten Siedlungen mit niedrigen Gehöften, Feldern,

Ställen und Heuschobern, kleinen Alleen und hölzernen Brücken über

Rinnsale und größere Bäche.

In den letzten Stunden wurden wieder mehr Leute erschossen, dachte

Hollaender. Sie fielen einfach um. Aus den Gewehrläufen zuckten kleine

Blitze, ihnen folgten die tödlichen Kugeln. Die dahinter Gehenden

strauchelten und konnten sich nur unter größten Qualen auf den Beinen

halten. Die Überlebenden, die noch nicht Erschossenen, versuchten sich mit

großen Kräften die Toten vom Leibe zu schaffen, schoben sie von sich und

vollendeten die Arbeit der Mörder, indem sie die Unglücklichen aus der

Marschkolonne in den Graben warfen. Ob sie nun wirklich schon gestorben

waren oder nicht, man war tot, wenn man als tot angesehen wurde.

Diejenigen, die in der Mitte der Todeskarawane gingen, waren von den

Waffen der Aufseher weniger bedroht. Wurde die Schwäche zu gewaltig, so

dass die Knie einknickten, halfen die Menschen links und rechts daneben

dem Ärmsten manchmal wieder auf die Beine. Diejenigen aber, die am

Rande gingen und vor Hunger und Müdigkeit aus der Reihe kippten, wurden

sofort erschossen, erschlagen. In der sternenklaren, vom Mond gespenstisch

erhellten Nacht, lagen die geschundenen Leiber in endloser Reihe und

gebahrt im Straßengraben. Sie waren zu schwarzen, mahnenden Skulpturen

geworden. Eine lange Kette merkwürdig verdrehter, schwarzer Körper

säumte den Wegesrand und markierte die Spur für die Befreier. Der Mond

beschien unerbittlich die Leidenden und die Pappeln am Wegesrand, die

lange Schatten auf den Schnee projizierten. Lange, lähmende

Geisterschatten auf dem Schnee unter schwarzem Himmel. Weder Mond,

noch die Sterne, noch die Kleinbauern in ihren Katen, noch die Pappeln oder

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Gott hatten Mitleid mit den Unglücklichen. Diese Leute hat man

weggeworfen, hätte Hollaender gedacht, wenn er noch hätte denken können.

In diesem Elendszug im Februar 1945 dachte keiner mehr. Das Knäuel

zerlumpter, dreckiger und Halbtoter torkelte einem unbekannten Ziel

entgegen. Das Leben der Menschen war geschrumpft zu hechelndem

Atmen, zu Stochern mit den erfrorenen Füßen im Schnee, zu hohläugigem

Starren auf den schlotternden Vordermann, zu dem Kratzen am Kopf und

am Hintern, dort, wo die Kacke angefroren war und in den wunden Stellen

schon Parasiten wohnten.

Hollaender und sein Kamerad Paul Gertz, der vor Jahrhunderten ebenso wie

Hollaender in Berlin wohnte, hatten sich ein System Kraftschonung

überlegt. Beide Männer ließen sich immer langsamer werdend bis ans Ende

des hinter den Horizont reichenden Zuges zurückfallen. Sie fassten sich an

den Händen, um sich nicht zu verlieren und die Körperwärme des einen auf

den anderen zu leiten. Es war ein kleiner Kreislauf von mickriger Wärme

aber ein großer von Menschlichkeit. Die Psychologie der Horrors, des

Undenkbaren hatte sie zu Liebenden gemacht. Ja, sie liebten sich, Alfred

und Paul. Sie wanderten langsam rückwärts, stießen an andere Gefangene

und manchmal murrte einer und stieß krächzend schreckliche Flüche aus.

Langsam und langsam fielen beide immer weiter zurück, durchbrachen die

Fünferreihen ein ums andere Mal, um schließlich ganz ans Ende zu geraten.

Das Ende der Marschkolonne wurde von drei Aufsehern bewacht. Paul und

Alfred mussten höllisch aufpassen, ihnen nicht in die Hände zu fallen.

Wenige Meter vor den Bewaffneten erhöhten sie ihre Geschwindigkeit

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wieder. Sie hatten einigermaßen Kräfte gesammelt und machten sich wieder

zurück auf den Weg die Spitze der Kolonne zu erreichen. Dieses langsame

Zurückfallen- lassen und wieder Nachvorngelangen unternahmen sie seit

einigen Tagen. Sie schonten also nicht nur ihre Kräfte, sondern sie

bekämpften auch den tödlichen Stumpfsinn des Marschierens. Immer

entlang der schnurgeraden Straßen, an Kreuzungen vorbei und

Schienenwege überquerend, von denen Hollaender glaubte, sie bereits zwei

Jahre zuvor schon einmal in einem Waggon befahren zu haben. Der

Einförmigkeit der Schritte, das immer gleiche Knirschen des harten

Schnees, dem Keuchen der Elenden um sie herum, dem Jammern der Frauen

im Zug, der bitteren Verzweifelung der Männer, der Selbstverständlichkeit

des Mordens am Straßenrand wollten die jungen Freunde mit ihrer

Prozession von vorn nach hinten und wieder nach vorn widerstehen. Vom

Winterwind schief gedrückte Strommasten, die von den Stromleitungen

gehalten schienen, die aussahen wie schwarze, dicke Fäden, die in weiten

Bögen geschwungene Kurven zeichneten und kleine, in die weiten

polnischen Ebenen geschobene, flache Gehöfte am Wegesrand erinnerten

Paul und Alfred an das normale Leben und an ihren Hass. Krumme Zäune

sollten die Häuser schützen. Aber sie verhinderten bloß, dass das Federvieh

davon flatterte. Die Zäune schützten vor nichts, nicht vor dem Krieg, nicht

vor der Vertreibung, Vergewaltigung, Brandschatzung und nicht vor Mord.

Manchmal glaubten Paul und Alfred hinter den matt gelb erleuchteten

Fenstern Menschen zusehen. Frauen in Schürzen, Männer mit schief

sitzenden Mützen auf dem Kopf und Kinder mit Spielzeug und dämlichen

Grinsen. „Ja, Menschen, Menschen wie du und ich“, sagte Alfred.

„Menschen, die in der warmen Stube am Ofen sitzen, sich mit Brot und

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Wurst die Bäuche füllen, um satt und zufrieden ins Federbett zu sinken. Da,

sieh nur, sie glotzen uns an“. Alfred Hollaender betrachtete seinen Freund

sehr genau. Paul war zäh und stark geblieben. Das sollte was heißen, in

einer Zeit, als ein Menschenleben nicht mehr wog als das einer Ratte. Paul

hatte das Zeug zum Überleben, in ihm loderte ein Wille, der bis über die

nächste Straßenbiegung hinaus reichte.

Die Dämmerung färbte die kein Ende nehmende Straße und tauchte sie in

purpurn schimmerndes Licht, so schön, dass man das Elend vergessen

konnte. Eine neuer Tag, dachte Hollaender. In all den Monaten in

Gefangenschaft und der Entbehrungen hütete er sich ein Fünkchen

Hoffnung und ein Fünkchen Hass in seinem Herzen, welches ihn befähigte,

dem neuen Tag mit einem schmalen Strich Tatkraft entgegen zu sehen. An

ungezählten Tagen stand er früh morgens beim Appell stramm und

blinzelte zwischen den Mützen der Sträflinge hindurch Richtung Osten und

beobachtete den herannahenden Tag. Aber was bedeutete in diesen Tagen

schon Hoffnung. Ist die Hoffnung nicht einfach nur ein Zustand hilflosen

Treibens in einem uferlosen Meer? Hollaender hoffte immer nur von einer

Stunde zu nächsten; von einer Sekunde zur nächsten. Er hoffte nicht

geschlagen zu werden, nicht getötet zu werden. Er hoffte, Nahrung zu

bekommen, an einem Ort, an dem es keine Nahrung gab.

Hollaender war versunken in seinen trüben Gedanken, als er neben sich

einen ganz allmählich kleiner werdenden Schatten wahr nahm. Wie immer

hatte er sich etwa in der Mitte des Zuges aufgehalten. Nur dem Zufall oder

vielleicht einer Eingebung war es gedankt, dass er ohne Grund seinen Blick

aus den Gedanken hob und nach links schaute, noch nicht einmal den Kopf

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drehend, nur die Augen rollte er ein wenig, und diesen Schatten sah. Es war

die graue Silhouette eines Mannes in der Nacht, der aus dem Zug der

Elenden heraus trieb, wie ein Brett im Strom von Treibholz, das von einer

kleinen Welle erfasst, sanft, unmerklich fast, wie selbstverständlich den

Kurs wechselt und von den anderen Hölzern Abstand gewinnt,

Zentimeterweise aber stetig. Hollaenders Herz begann heftig zuschlagen.

Seine Besinnungslosigkeit war verflogen, wie ein lautes Klatschen einen

Schwarm von Sperlingen aufscheucht. Er drängte sich nach außen und er

meinte seinen Freund Paul Gertz im Schnee zu erkennen. Angst um den

Freund und Freude an dessen Mut vermischten sich, sein Blut wallte.

Immer noch wankte er, rang mit sich: sollte er es dem Freunde gleich tun.

Er sah um sich mit gerecktem Halse, niemand hatte den Fliehenden

bemerkt. Nicht das in lumpen gehüllte Menschenpack, noch die Gauner,

Mörder und Verbrecher, die sie bewachten. Er fasste seinen letzten Mut,

als er im Lichte erwachender Gedanken kühl bemaß, dass dort, wohin der

Zug getrieben wird, nichts anderes wartete als der sichere Tod. Die Flucht,

dem Freunde nach, jedoch dem schwachen Silberstreif der Vorsehung

gleicht. Mit wenigen hastigen Schritten entfernte sich Alfred Hollaender

vom Zug. Er blickte nicht zurück. Die Angst wich mit den Schritten, die er

zwischen sich und dem kleiner werdenden, schwarzen Zug brachte. Schon

war er euphorisch, wollte den Freund anrufen, ihn anflehen zu warten, ließ

es aber sein. Er schwitzte. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn, rann

seine Achseln hinab. Bald sollte er Gertz eingeholt haben. Der Zug

entfernte sich, und Hollaender schien es, als würde er immer schneller. Die

Häftlinge verschmolzen in der Ferne mit der Nacht. Ein Traum. Nichts war

geschehen, außer, dass zwei Männer in Schmutz und Lumpen verpackt,

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vom Zug des Todes abgesprungen waren. Die Angst vor den Schüssen ihrer

Häscher wich und machte der kriechenden Kälte Platz. Sie erwarteten den

Tod. Sie wussten nicht, was die neue Freiheit und das Leben, das nun sich

anschickte von neuem zu beginnen, für sie bereit hielt. Sie waren verloren

trotz der gewonnenen Freiheit in einem endlosen Birkenwald in tiefem

Schnee und frostiger Kälte. Sie kämpften sich Meter und Meter voran, in

welcher Richtung, das wussten sie nicht. Vielleicht liefen sie seit Stunden

im Kreise und stießen bald wieder auf die Marschkolonne und ihre Jägern,

die sie dann einfach nur noch abzuknallen brauchten, das dachte

Hollaender. So stolperten sie weiter über Steinbrocken und Äste, fielen ein

ums andere mal in den Schnee, knickten ein in die Unebenheiten des

Waldbodens, der durchzogen war von kleineren Gräben und zugefrorenen

Rinnsalen. Ein Reh erschreckte sie fast zu Tode, als es ein Ästlein knackend

zerbrach. Das Echo hallte im kahlen Winterwald, bis sich das Tier wieder

im Wald verlor. Ein Vogel stieg, laut mit den Flügeln schlagend, von den

Baumwipfeln auf und zeichnete weite Bahnen in den dunklen Himmel.

Gertz und Hollaender hatten seit Stunden nichts miteinander gesprochen.

Sie waren zu erschöpft und was sollten sie auch sagen. Sie lauschten

gegenseitig ihren hechelnden Atemgeräuschen und hingen ihren Gedanken

nach, die Müdigkeit und Hunger umkreisten. Nach vielen Stunden

erreichten sie eine Lichtung. Die Wolkendecke riss auf und der fahle

Schimmer des Mondes überschüttete die hellen Birken. Es war, als hätte

Gott ein Einsehen mit seinen durchfrorenen, hungrigen Geschöpfen, die der

Mut der Verzweifelung und die unauslöschlichen Hoffnung in die

Ungewissheit der Freiheit geschleudert hatte. Dieser herkulische Mut

gebiert zuweilen das Eingeständnis von Sinnlosigkeit, so dass die beiden

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Flüchtenden auch von Zweifeln geplagt wurden, die an ihnen nagten wie

die Biber an Bäumen. Mit gesenkten Köpfen stolperten sie über

Baumwurzeln und stießen leises Jammern aus. Der Hunger peinigte sie

immer mehr. In den letzten Tagen waren alleine gefrorene Rübschalen,

Buchnüsse und bittere Wurzeln, die sie aus der Erde gegraben hatten, ihre

Nahrung gewesen. Nun wussten sie nicht, was schlimmer war: Hunger oder

der Frost.

In den Monaten der Gefangenschaft waren die Menschen zu Wölfen

geworden, die einzig dem Trieb gehorchten. Dem Trieb nicht zu sterben.

Dem Trieb, den Hass am Leben zu erhalten, um sich an all jenen zu rächen,

die das Inferno entzündet hatten. Dem Trieb, endlich wieder was in den

Magen zu bekommen.

Gertz und Hollaender erlaubten sich eine Pause und ließen sich einfach in

den Schnee fallen. „Jetzt einfach liegen bleiben und ruhig zu schlafen“,

stöhnte Hollaender, der vollkommenen Erschöpfung nahe. Sein Freund fand

schneller wieder zu Verstand und schrie:

“ Nein. Nein!! Wenn wir hier liegen bleiben, erleben wir den Tag nicht

mehr. Wir haben es bald geschafft, das spüre ich, ich weiß es“. Sie rafften

sich mühsam wieder auf ihre schwachen Beine, sie erstrahlten beim

Anblick des unschuldigen Scheins des Morgens. Der Nebel trat aus tausend

Quellen, waberte mal hoch bis fast in die Baumkronen, mal tief bei den

Gräsern, suchte seinen Weg zu einem Bachlauf in der Schlucht, die die

Männer eben überquert hatten, bis ihn die fröhliche Sonne ungnädig

vertrieb.

Auch die hohen Wolken verzogen sich allmählich und gaben den Blick frei

auf das glückliche Violett des jungen Tages, das sich am Himmel breit

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machte und dem Morgen den Weg ebnete. Hollaender und Gertz fühlten

sich in der Gegenwart angekommen. Die Gegenwart hatte jedoch nichts als

beißende Kälte und Hunger für sie. Auf den lauen Hauch der Hoffnung

folgte eisige Verzweifelung. Sie taumelten im Schnee, sie stützten sich

gegenseitig. Sie hatten keinen Wunsch außer dem, nicht doch noch eine

Kugel in den Leib zu bekommen. Der Schnee blieb weiß. Kein Blut färbte

ihn. Sie gingen und gingen und die glückliche Gewissheit wuchs trotz aller

hartnäckigen Zweifel, den Mördern doch auf so unerklärlich einfache

Weise entsprungen zu sein.

Es war etwa Sieben Uhr in der Früh, als die Fliehenden den Waldrand

erreichten und eine frische Spur im Schnee entdeckten. Sie ließ auf einen

Weg schließen, der unter der Schneedecke verborgen war und den nur die

Einheimischen kannten. Fußspuren, die gekreuzt wurden von denen eines

Tieres, vielleicht eines Hundes, versprachen den Männern eine Richtung.

Sie stapften hinterher. Die Sonne stand niedrig am Horizont und goss ihr

mehlwarmes Licht über die schneebedeckte Landschaft. Die diffuse

Helligkeit drang durch das dürre Geäst bis tief in den Wald. Hollaender und

Gertz folgten der Schneespur wie der Neigung eines leicht abschüssigen

Pfades und hingen ihren Gedanken nach, die durcheinander geworfenen

Mosaiksteinchen glichen und kein deutliches Bild ergaben, weder von dem,

was geschehen war, noch von dem, was sein wird. Sie zogen flüchtig und

leise vorüber wie die Schleierwolken, die das Blau des Himmels filterten.

„In Auschwitz sangen keine Vögel, und hier an dieser gottvergessenden

Stelle auch nicht“, fiel es aus Gertz heraus wie Erbrochenes. Hollaender

schaute sich erstaunt um, sah in das ausgemergelte Gesicht seine

Kameraden, erschrak, dachte daran, dass er genauso aussah wie der Freund

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und sagte schließlich lakonisch: „Im Winter gibt es keine Singvögel. Im

Übrigen habe ich Hunger“. Sie trotteten weiter, das Wetter verschlechterte

sich, Nebel zog auf, der sich in dicken Matten herab senkte. Die Sonne

klebte faul am Himmel, sie war nur zu erahnen. Das Ende des Waldes war

erreicht. Eine zeitlang wanderten die Freunde am Waldrand entlang, als sie

in der Ferne, schwach vom Tageslicht erleuchtet, ein flaches Gebäude aus

dem Nebel ragen sahen. Aus einem gemauerten Schornstein stieg in

dünnen, hellbraunen Fahnen Rauch empor, der sich mit dem Nebel mischte.

Ihre Freude war so groß, dass sie sich innig umarmten und im Schnee

tanzten, den Pfad schnell verließen und ungestüm quer über das Feld zu

dem Häuschen liefen. Gertz, der schneller war als Hollaender, brach in

einen zugefroren Bachlauf ein. Hollaender eilte herbei, half seinem

Kameraden aus der misslichen Lage, beide purzelten in den Schnee und

lachten wie Kinder. Aus etwa hundert Metern Entfernung bemerkten sie,

dass es sich bei dem Häuschen um einen Teil eines Gehöftes handelte.

Rechts neben dem Wohnhaus lehnte ein stabiler Schuppen, fest gemauert

und mit Dachziegeln gedeckt. Gegenüber befand sich ein drittes Gebäude

mit flach geneigtem Dach. Alle Häuser zusammen bildeten ein Geviert,

dessen Mitte ein Brunnen markierte. Sie bewegten sich vorsichtig auf eines

der Häuser zu. Die erste Euphorie wich der Unschlüssigkeit, die sich

unversehens einstellte, was sollten sie tun? Stinkend und verdreckt wie sie

waren, machten sie es ihren möglichen Gastgebern nicht gerade leicht. Wer

wollte schon zwei entflohene Sträflinge aufnehmen, die aussehen, als hätten

sie Wochen in der Gosse verbracht?! So schlichen sie zunächst geduckt zu

einem Fenster, kratzen Eis und Schnee beiseite und lugten ins Innere. Es

war eine Werkstatt, in der allerdings, das war offensichtlich, schon lange

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niemand mehr gearbeitet hatte. Staub und dichte Spinnennetze überzogen

Werkzeug und Einrichtung, Gerümpel lag herum. Sie machten kehrt und

schritten schnurstracks zum Wohnhaus.

„Was soll uns schon passieren“, sagte Gertz halblaut.

„Schlimmstenfalls jagen sie uns davon“, entgegnete Hollaender.

„So ist es“.

Sie waren gerade im Begriff an die Türe zu klopfen, als eine Frau öffnete.

Misstrauisch öffnete ein Frau, die auf den ersten Blick weder jung noch alt

aussah, vorsichtig die Tür. Sie beäugte die beiden Kerle von oben bis unten

mit abschätzendem Blick. Gertz setzte ein Lächeln auf, das eher einem

Grinsen glich. Hollaender ergriff die Initiative. Da er sich mit seinem

Kameraden immer noch auf polnischem Territorium wähnte, grüßte er die

Frau auf polisch, so freundlich er konnte. Diese Freundlichkeit hätte er sich

gar nicht mehr zugetraut, gestand er ein. Nicht ohne Stolz wand er sich kurz

zu Gertz mit der Absicht, Zuversicht auszustrahlen. Er zwinkerte ihm zu.

Während er seinen Monolog wieder aufnahm, wrang er mit zwei Händen

sein schmutziges Häftlingskappe so heftig, dass der spröde gewordene,

billige Stoff fast zerriss. Natürlich konnte Hollaender kein Polnisch, nur zur

freundlichen Anrede hatte es gereicht, so dass er Deutsch sprach, aber

immer wieder einen Brocken Polnisch einstreute. Was seinen verkrusteten

Lippen letztlich verließ, war nichts als unverständliches Gestammel. Der

Ton macht die Musik, überlegte er sich, das ist auch in Polen nicht anders,

und so unterlegte er seine Stimme mit fast zärtlichen Beiklang. Gertz

schüttelte verständnislos den Kopf. Die Frau schien nichts verstanden zu

haben, nicht einmal Hollaenders Friedensangebot, das untermalt war mit

schmeichelnder Stimme. Plötzlich hob die Frau zu einer wüsten Tirade an.

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Ihre Stimme überschlug sich, sie fuchtelte mit den Armen und bedeutete

den Eindringlingen zu verschwinden. Ihr Geschrei zerriss die

nachmittägliche Ruhe. Weit reichte der Schrei nicht, denn der Schnee

schluckte den Schall und schüttete ihn in seinen dicken Teppich. Nun riss

Gertz der Geduldsfaden, er hatte genug von dem Palaver. Er sprang nach

vorn, stieß dabei Hollaender beiseite, packte die Frau und drückte sie in die

Stube. Hollaender griff nicht ein. Eine Weile verharrte er, warf dann die

Türe hinter sich ins Schloss.

„Halt dein Maul“, brüllte Gertz in deutschem Befehlston, dabei drohte er ihr

mit der Faust. Sie las in seinem Gesicht, dass mit ihm nicht zu spaßen sei.

Nachdem sich die Frau allmählich beruhigte, ließ Gertz von ihr ab und wies

auf einen Hocker neben dem heißen Ofen, in dem ein knisterndes

Feuerchen loderte. Die Bäuerin gehorchte, ließ sich auf den Schemel

plumpsen und blickte still vor sich auf den Boden.

„Verstehen sie deutsch?;“ wollte er wissen. Die Frau schüttelte den Kopf.

“Ha, ein wenig sicher doch, nicht wahr“, freute sich Gertz.

„Wir“, er zeigte mit dem Finger auf sich und seinen Freund, „haben Hunger

und wollen uns nur ein wenig aufwärmen und ausruhen, verstehen sie“,

dabei rieb er mit der flachen Hand seinen Bauch: „Hunger, kalt, capito?“

Die Bauersfrau, die den Männern so merkwürdig ohne Alter vorkam erhob

sich, ging gar nicht plump wie eine Bauersfrau, sondern federnd, zum Tisch

und lupfte den Deckel eines Topfes, der auf einer grob gezimmerten

Anrichte stand. Der Raum füllte sich sogleich an mit dem Wohlgeruch von

gekochtem Weißkohl, Kartoffeln und Zwiebeln. Vollendet empfanden die

Männer den Essensdunst, als sie von einem Hauch Majoran und Kümmel in

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der Nase umschmeichelt wurden. Hollaender verdrehte verzückt die Augen

zur Zimmerdecke und leckte sich vor Vorfreude die Lippen.

„Da haben wir aber ins Schwarze getroffen mein lieber Paul“, rief er zu

seinem Freund hinüber. Er nahm der Frau den Deckel aus der Hand und

warf einen gierigen Blick in den Topf. Als wäre nichts geschehen, als hätte

sie an diesem Tag auf die beiden Flüchtlinge mit dem Essen gewartet, so

ging sie nun zu einem Wandschrank, entnahm zwei Teller und hölzerne

Löffel und arrangierte das Geschirr auf dem Tisch. Paul ermahnte seinen

Freund, sich nicht vom nagenden Hunger verleiten zu lassen. „Sonst ist das

deine Henkersmahlzeit, glaub mir. Wir sind das Essen seit langem nicht

mehr gewöhnt. Wenn du zu schnell und zu viel schlingst, zerreißt’s dir das

Gedärm, dann galoppiert die Trommelsucht, und nicht einmal ein Pfund

Glaubersalz wird dir dann helfen können“.

Die Frau plapperte Unverständliches. „Ja, hol uns was zu trinken“,

unterbrach Gertz sie ungerührt. Hollaender stopfte indes, ohne auf den

freundschaftlichen Rat zu hören, eine große Portion Eintopf in sich hinein

und hielt nur kurz inne, als ihm die Bäuerin ein Glas mit klarer Flüssigkeit

hinstellte. Noch mit vollem Mund blickte er zu ihr auf, roch kurz an dem

Glas, nickte Gertz zu, „Schnaps“, sagte er strahlend. Er trank das Glas in

zwei Zügen leer, verlangte noch eins und schüttete auch dies mit kräftigen

Schlucken in sich. Er leerte seinen Teller und leckte die Rest auf. Eine

bleischwere Müdigkeit überfiel die beiden Kameraden nach dem Mahl. Sie

ließen sich noch einmal die Gläser füllen, prosteten sich satt, beschwipst

und glücklich zu und kippten auch diese Portion in ihre Mägen auf den

sauren Kohl, der schon beträchtlich zu rumoren begonnen hatte.

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Wenn vor wenigen Stunden die bewaffneten Schergen ihr einziger Feind

gewesen waren, so gesellte sich jetzt der Schlaf hinzu. Der Schlaf lieferte

sie aus. Wie konnten sie wissen, was die Bauersfrau vorhatte. Vielleicht

rückte bald der Bauer an mit einem Trupp bewaffneter Verstärkung an.

Darüber hatten sie in keiner Minute des Schlemmens nachgedacht. Oder die

Bäuerin. Sie könnte sie im Schlaf erstechen, mit einem der langen Messer,

die in einem Holzklotz griffbereit steckten. Der Schlaf ließ sich nicht

überlisten, auch nicht durch Angst und Vorsicht. Eskortiert von heftigen

Darmwinden, die der Kohl in ihren Mägen entfacht hatte, schliefen sie ein.

Gertz als erster. Er fiel vorn über, und sein Kopf senkte sich in den leeren

Teller. Hollaender bedankte sich etwas umständlich bei der Bäuerin, sie

antwortete mit einem gequälten Lächeln, er stotterte eine Entschuldigung

hervor, dass der Kamerad im Teller schlief, schleppte sich auf die kleine

Bank neben dem Ofen und schloss ebenso schnell die Augen wie sein

Freund, der im Traum von den Häschern gefasst wurde. Hollaender träumte

nicht.

Henry Lantz hatte sich bei seinem Freund recht gut eingelebt. Wenngleich

ein bitterer Beigeschmack verblieb. Er kam aus der Rolle des Gastes, also

desjenigen, der sich zu bedanken hatte, nicht heraus. Die Großzügigkeit und

einnehmende Jovialität seines Freundes belasteten ihn. Er schrieb vor, was

zu geschehen hatte und was nicht. Er bestimmte die Freunde, die gerne

gesehen waren, und sortierte die aus, die er aus den Augen haben wollte.

Seine perfide Methode den Freund gewissermaßen als armen Verwandten

zu behandeln, durchschaute Henry nicht. Henry sah von allen Zügen, die

unter der Fuchtel Arnos abfuhren, stets nur die drei großen roten

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Schlussleuchten. Arno war unernst und leichtlebig geblieben auch nach

seinem Wandel zum fleißigen Studenten der Jurisprudenz. Er folgte nur

einer Richtung: seiner eigenen. Nun, tröstete sich Henry, die Richtung

alleine besitze keinen Wert. Erst in Verknüpfung mit einem Ziel gewinnt

sie Bedeutung. Arnos Vater, dieser kleinadlige Advokat, an dessen Dünkel

er mit unangenehmen Erinnerungen zurückdachte, wird seinem Filius die

Ziele beizeiten eingebläut haben.

In bitterer Stimmung saß Henry an seinem Schreibtisch. Draußen lebte ein

jubelheller Nachmittag, wie geschaffen zum Aufbruch. „Was Hollaender

jetzt wohl macht?“, überlegte er.

Hollaender band sich eine Krawatte um, zog den Knoten fest, zupfte ihn

zurecht, strich sich mit einem Kamm durch sein graues Haar und nickte sich

zufrieden im Spiegel zu.

„Herr Hollaender, sie unterbrachen sich, als sie mit ihrem Freund Gertz bei

der Bäuerin eingeschlafen sind“.

„Ja“, sagte Hollaender, „wir waren eingeschlafen. Ich war betrunken und

hundemüde“.

„Darf ich sie heute einladen?“, fragte Henry zuvorkommend.

„Ja, machen sie nur. Ich nehme die Einladung an“..

„Was denken sie über den Tod, junger Mann?“ Henry überlegte längere

Zeit an einer Antwort und fragte sich gleichzeitig, was Hollaender mit

dieser Frage beabsichtigte.

„Ich habe keine Ahnung davon“, antwortete er schließlich. Dabei schwang

Beklommenheit in seiner Stimme. „Der Tod ist so weit weg, ich fühle

nichts, keine Berührung. Ich denke darüber nach. Rational betrachtet wird

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der Tod das Ende sein. Staub zu Staub. Zwischen dem ersten Schrei und der

unendlichen Stille am Ende hebt und senkt sich der Vorhang des

Welttheaters, Applaus im Publikum, auf der Bühne Zufriedenheit. Alles,

was vorher geschieht und danach, in der großen Stille, ist Geschichte für die

Überlebenden, die sich gerade zwischen erstem Schrei und großer Stille

befinden, auf der Bühne wie im Publikum. Wissen sie Herr Hollaender, wie

ich mir seit frühester Kindheit die Unendlichkeit vorgestellt habe?“

Hollaender schüttelte den Kopf. Er hatte dem jungen derlei Geistesgut

eigentlich gar nicht zugetraut. „Nun denn, Junge, erzählen sie mal,“ forderte

er ihn auf.

„Mein Vater nahm mich früher manchmal an Sonntagen mit ins Museum,

die Kunst des 16. Jahrhunderts hatte es ihm angetan. Und als ich also die

Werke von Brueghel, Riemenschneider und Cranach sah, fragte ich den

Vater, wie alt diese Kunst sei. Denn sie machte auf mich so einen frischen,

jungen und unverbrauchten Eindruck. Da antwortete mir der Vater: „Fast

500 Jahre, mein Sohn, eine halbe Ewigkeit“. Als ich wenig später in der

Schule lernte, dass die Ewigkeit unteilbar ist, hatte ich für mich die

Definition von Unendlichkeit und Ewigkeit gefunden.“

„Mit ihrer Einschätzung sind sie recht weit vorgedrungen, wenngleich sie

ausgesprochen theoretisch klingt. Es ist ganz so wie sie sagten, sie waren

niemals in der Nähe des Todes,“ beschied ihm der Alte.

„Zwei Glas Wein bitte“, rief Henry der Kellnerin zu, die sich ihrem Tisch

näherte. Sie lächelte: „Von Herrn Hollaenders Bordeaux?“ Henry stellte

sich die Kellnerin nackt vor, lächelte zurück und nickte.

79
„Was es über den Tod zu sagen gibt, ist ganz einfach“, begann Hollaender.

„Wenn ein Mensch gestorben ist, entfernt sich sein Licht mit

Lichtgeschwindigkeit von der Erde in den Weltraum zu einer

unerreichbaren Galaxie. Dort überlebt das Licht, unermesslich schwach.

Das größte Problem mit dem Tod haben die Hinterbliebenen. Wenn das

Licht vergeht, marschiert die Trauer ein. Aber nicht alles Licht vergeht, ein

Rest verbleibt auf einem fernen Planeten. Trotzdem ist die Trauer gewaltig,

weil die Menschen das ferne Licht nicht erkennen. Die Trauer würgt die

Menschen, sie werden schwarzfarbig. Zuerst verlieren sie den Wunsch zu

reden, bis sie schließlich die Worte vergessen haben. Glücklicherweise

schreitet die Zeit immerfort, unaufhaltsam. Auf ihrem Weg trocknen die

Tränen der Hinterbliebenen, die salzige Kruste bröckelt, und Kränze

werden regelmäßig auf dem Grab abgelegt. Schon bald, nach wenigen

Wochen oder Monaten kehrt das erste Lächeln wieder zurück. Die Lippen

wachsen vom schmalen Strich zu roter Schwellung, die Augen sehen

wieder klar, nachdem der Schleier vergangen ist und blicken in das normale

Leben. Das Leben, das niemals aufhört, verdünnt die schwarze Milch der

Trauer. Die Erinnerungen an den Verstorbenen wechseln aus der

monochromen Kälte des Todes und seinem dicken Umhang, der Trauer, in

die bunte Welt der aufklarender Wahrnehmung. Es gibt wieder

Blumenwiesen unter blauem Himmel und gelben Sonnenschein“.

Henry hatte dem Alten zugehört ohne ihn zu unterbrechen. Der Alte leierte

seine Küchenphilosophie herunter ohne Punkt und Komma, als hätte er sie

auswendig gelernt oder schon hundertmal erzählt, dachte Henry abfällig.

Aber sogleich, als würde er wach gerüttelt, schämte er sich seiner

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Engherzigkeit, als ihm die Familie des Alten einfiel und er die Gründe zu

verstehen glaubte, die den Alten leiteten, solch einen offensichtlichen

Unfug zu erzählen. Henry ließ ab. Er dachte nicht mehr daran, Hollaender

zu widersprechen. Der Alte zwang den jungen Henry auf seinen Weg, und

der fühlte sich eingekerkert, noch nicht einmal zu Unrecht.

Als Gertz und Hollaender erwachten, dämmerte es bereits. Der erste Tag in

Freiheit verabschiedete sich. Hollaender sah sich im Zimmer um, das Feuer

im Ofen war fast erloschen, nur ein kleiner Gluthaufen war übrig. Von

draußen schlich die Kälte ins Haus. Während Hollaender Reisig in den

Ofen schob, fragte er Gertz: „Wo ist die Frau?“

„Ich weiß es nicht. Ich bin selbst eben erst aufgewacht. Wie spät mag es

wohl sein?“

„Vier oder fünf Uhr vielleicht.“

Sie reckten ihre steifen Glieder, starke Kopfschmerzen hämmerten hinter

den Schläfen.

„Was das wohl für ein Gesöff war“, fragte Gertz gequält.

Sie riefen in die Wohnung, gingen von Zimmer zu Zimmer. Es blieb still.

Das Zuhause der Bauern war sehr aufgeräumt und sauber. Das Ehebett

ordentlich gemacht, Laken und Kissen straff gezogen, einladend. Gertz und

Hollaender nickten sich angetan zu. Die Stube war ungeheizt. Ein Tisch,

vier Stühle mit Kissen, ein zertretener Teppich, ein Regal mit Püppchen,

der Familienbibel, einem Nachschlagewerk und einem Bilderalbum, dem

Kreuz an der Wand, das war alles. Die Leute lebten in der Küche, die über

eine niedrige Stufe ohne Diele in den gepflasterten Hof führte. Trotz der

Bescheidenheit der kleinen Kate, die sich den Männern bot, verströmte die

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Wohnung eine gemütliche Behaglichkeit, wie sie nur Frauen einzurichten in

der Lage sind. Hier ein gehäkeltes Deckchen, dort eine schlanke Vase, die

im Winter den Sommer versprach. Die Männer suchten weiter und

stöberten in jede Kammer und Nische. In einer Pappschachtel entdeckte

Hollaender ein paar vertrocknete Zigaretten. „Da schau mal Paul“, rief er

aufgeregt : Zigaretten, stell dir vor Zi-ga-re-tt-en“.

„Zeig her! Tatsächlich“.

Sie ließen sich nieder, dachten einige Minuten lang nicht mehr an die

drohende Gefahr, vergaßen sie, stattdessen rauchten sie. Solange sie

rauchten und genussvoll Kringel in die Luft bliesen, fühlten sie sich sicher.

Wie früher, dachte Hollaeneder.

Die Frau indes blieb verschwunden. Ratlos standen die Männer da.

‚Sollte die Frau wirklich...war das schon das Ende? Ist die polnische

Katholikin ausgezogen, uns zu verraten?’ Ihre Gedanken rasten wild.

„Was ist, wenn...?“, beide begannen den Satz gleichzeitig, ...“die

verdammte Bäuerin die Polizei alarmiert, sich eine Belohnung verdienen

möchte, indem sie zwei halbverhungerte, verlauste Flüchtlinge ausliefert?

Vielleicht sitzt sie jetzt in diesem Augenblick auf dem Schoß des

Polizeioffiziers und weint sich aus und beschreibt mit vielen Worten das

Ungemach, das ihr die flüchtigen Verbrecher bereiteten“.

Hollaender ging zum Fenster und kratze die Eisblumen vom Glas. So

entdeckte er vor Gertz die Wagenspuren, die sich tief in den Schnee

gegraben hatten und vom Hof in die weiße Weite führten.

„Sieh nur“, rief er seinem Kamerad zu, „sie hat sich tatsächlich aus dem

Staub gemacht, das verfluchte, durchtriebene Weib“.

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„Wir müssen jetzt klaren Kopf behalten“, befahl Gertz. „Wir benötigen

neue Kleidung, Schuhe, Mantel, all das“. Hollaender fühlte sich plötzlich

vollkommen niedergeschlagen. Wo sollen wir hin? Es ist aus, aus’, wankte

er in Verzweifelung. Ohne Gertz hätte er womöglich sein Schicksal in

Gestalt eines polnischen Polizeibeamten klag- und widerstandslos erwartet.

Er wollte aufgeben. Gertz trieb ihn an, sich auf keinen Fall aufzugeben.

„Überleg doch“, schrie er , „wir haben es längst nicht geschafft. Das war

doch klar. Nur ein Kindskopf wie du kann annehmen, dass unsere Flucht

mit dem Verlassen des Zuges ein Ende haben würde. Unser Kampf ist noch

lange nicht zuende. Erst wenn wir wieder am Herd der Mutter in Berlin

stehen, sind wir in Sicherheit“.

Hollaender fügte sich. In einer Truhe, die sich in der Schlafkammer befand,

fanden sie zusammen geknüllte Sträflingskleider: zwei gestreifte Jacken

und zwei lapprige Hosen.

„Kennst du das?“, fragte Gertz. „Wir sind offenbar nicht die ersten, die

diesem Weibsbild einen Besuch abstatten“, stellte er ungerührt fest. Als sie

den Schrank öffneten, kam ihnen der strenge Geruch von Mottenpulver

entgegen. Die Ausdünstung akkurater Ehrsamkeit erinnerte sie an ihr

früheres Leben, das sich so weit von ihnen abgewendet hatte, dass es nicht

mehr zu ihnen gehörte. Ihr altes Leben verpuffte in diesem Geruch von

Mottenpulver. Dieses Leben schien für immer ausgelöscht. Sie waren zu

elenden Flüchtlingen geworden, die in jedem Menschen einen Todfeind

erblickten.

Im Schrank wurden sie fündig. Ordentlich über Bügel straff gezogen

warteten Jacken und Hosen, eine Auswahl Krawatten mit

Vorkriegsmustern, geplättete Kragen und gesteifte Hemden auf ihre neuen

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Besitzer. In einem Seitenfach standen Schuhe, die in ihrer rustikalen

Derbheit den übrigen fast elegant erscheinenden Kleidungsstücken auf

merkwürdige Weise widersprachen. Die Kleider waren offenbar lange nicht

getragen worden, denn die menschlichen Gerüche, die Kleidungsstücken

normalerweise anhaften, hatten sich verflüchtigt. Zurück im Schrank

blieben Klamotten, die nach nichts, außer nach Mottenkugeln rochen.

Nachdem sich die Männer den gröbsten Schmutz vom Leib geschrubbt

hatten, sprangen sie in die neuen Kleider und verwandelten sich sogleich in

zivilisierte Menschen. Fast sahen sie so aus wie früher, wenn sie nicht gar

so kläglich abgemagert daher kämen, die Haut über den Wangen gespannt

und mit stumpfem Blick aus tiefdunkel geränderten Augen. Wie kleine

Jungen posierten sie vor dem Spiegel; sie konnten kaum fassen, was sie dort

sahen. Nachdem sie fertig waren, stiegen sie die steile Treppe wieder hinab

in die Küche. Sie waren noch nicht unten angelangt, fuhr ihnen ein

gewaltiger Schreck in die Glieder. Die Bäuerin war zurückgekehrt. Damit

hätten sie nie gerechnet. Und sie kam alleine. Die Frau betrachtete sich die

neu eingekleideten Männer genau, während Paul und Alfred wie ertappte

Diebe beschämt zu Boden schauten. Sie klopfte sich den Schnee, den sie

von draußen mitgeschleppt hatte, vom Mantel und gab sich gelassen, so als

sei es das Normalste auf der Welt, dass fremde Männer in ein Haus

eindringen, sich die Bäuche mit fettem Eintopf voll schlugen und die

Kleider des verschollenen Hausherrn auftrugen. Sie sagte nichts, lächelte

stumm in sich hinein, wie eine Mutter, die sich insgeheim über die Scherze

ihrer kleinen Jungen amüsiert, obwohl sie eigentlich schimpfen müsste. Sie

hatten einen schweren Korb mit ins Haus gebracht, der gefüllt war mit

Besorgungen aus dem Dorf. Sie bedeutete den beiden, ihr gefälligst zu

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helfen. Der Wagen war noch nicht abgespannt. Die Gäule warteten mit

gesenkten Köpfen und schnaubenden Nüstern, die weißen Dampf hervor

stießen, auf ihre Kutscherin. Als die Bäuerin eben damit beschäftigt war,

umständlich den dicken Mantel abzustreifen, sprang Gertz sie ohne

Vorwarnung mit einem katzenartigen Satz an und riss sie zu Boden. Er

verkrallte sich in ihren Haaren und wie trunken von Gier und Hass riss er

ihr die Kleider vom Leib, seine Hände zitterten und Speichel sammelte sich

in seinen Mundwinkeln und auf den Lippen, die dadurch weiß wurden.

Hollaender erschrak im Angesicht dieses Ausbruches, den er sich nicht

erklären konnte.

‚Der Kamerad hat Schaum vorm Maul’, dachte er. Die Frau lag unter Gertz,

mit seinen Knien hatte er sie fixiert; sie schrie, er schrie, die Stimmen

überschlugen sich, es herrschte ein schauderhaftes Geschrei. Sie quietschte

wie ein Ferkel, das vom Schlachter abgeholt wird. Gertz sah ihren Körper,

den er ruppig aus den Kleidern schälte, wie er himmlische Anmut und

Liebreiz strahlte. Wild wühlte er sich in ihren Körper, Hollaender griff nicht

ein, er stand nur teilnahmslos herum und wusste nicht so recht, was er in

diesem jetzt tun sollte. Da tat er lieber nichts. Gertz drang in die Bäuerin

ein, sie schrie und strampelte wild mit den Beinen und trat mit den Füßen,

die noch in den Stiefeln steckten, ins Leere. Danach ließ Gertz von der

Bäuerin ab, rollte von ihr und blieb neben der geschändeten Frau auf dem

Rücken liegen und starrte an die Zimmerdecke aus ungehobelten Bohlen,

als gäbe es dort etwas zu entdecken. Sie wand sich rasch und in voller

Geistesgegenwart von ihm ab. Ihre hochgezogenen, beiseite gezerrten und

zerrissenen Kleider hingen von ihr herunter, sie wand sich wie ein Wild im

Todeskampf. Sie kam schneller als es Gertz lieb sein konnte auf die Beine.

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Vor seinen Augen zuckte plötzlich ein sonnenheller Blitz , dann folgte ein

dumpfer, gewaltiger Hieb, der ihm alle Kraft raubte. Ein pochender

Schmerz begrub seine Gedanken, Blut floss aus einer klaffenden Wunde am

Kopf. Zuerst tropfte es auf den gestohlenen Anzug, dann quoll es in dicken

Strömen, bis sein Körper leer gepumpt war und bleich auf dem Boden lag.

Er zuckte heftig, verdrehte die Augen nach dem Freund, sah ihn nicht, war

geblendet nach dem Schlag. Danach erstarb sein Wille. Er hatte alles

überlebt, nicht aber die Bauersfrau, die ihm mit der Axt den Schädel

zertrümmerte. Als er sich beim Anblick der Frau, der ersten richtigen Frau

seit Jahren, seiner Manneskraft und seinem brutalen Trieb überlassen hatte,

war es um ihn geschehen. Er hatte überlebt, weil er klug gedacht und

gehandelt hatte, bist auf das eine Mal in der Kate.

Die Frau nutzte den einen Augenblick, in dem sich Hollaender schamhaft

von dem Paar abgewendet hatte, um die Axt zu ergreifen, um sich an dem

Vergewaltiger in wilder Wut zu rächen. Hollaender konnte seinem

Kamerad nicht mehr helfen. Das Leben von Paul Gertz endete mit 31

Jahren, halb verhungert, nach seinem letzten Samenerguss auf dem

staubigen Fußboden eines Bauernhauses. Mit demselben Mordwerkzeug,

durch das sein Freund vom Leben zum Tod gebracht wurde, beendete

Hollaender, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, das Leben der Bäuerin.

Wieselflink hatte er ihr die Axt entwunden und ihr mit einem Hieb den

Schädel gespalten. Er wunderte sich darüber, wie das Werkzeug den Kopf

so leicht spleißte, wie Holz, das gespaltet wird. In zwei Hälften klappte das

Gesicht auseinander.

‚Sollte sie einen Ehemann gehabt haben, er würde sie jetzt nicht wieder

erkennen’.

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Nass geschwitzt und unter großer Anstrengung schleppte er die beiden

Leichname zum Hinterausgang. Dort draußen, unter einem Misthaufen,

versteckte er die Körper. Nach kluger Überlegung bedeckte er die Leichen

mit stinkendem Mist in der Hoffnung, dass der Verwesungsgestank nicht in

die Nasen seiner Verfolger dringen möge und ihm ausreichend Vorsprung

verschaffte. Erschöpft kehrte er zurück in die Stube und ließ sich auf einen

Schemel neben dem Spülstein sinken. Die Arbeit hatte seine Kräfte

überstiegen.

‚Was um Gottes Willen ist geschehen? Was soll ich jetzt tun?’, hämmerte

es in seinem Kopf. Er wünschte sich in diesem Moment die

Entschlossenheit und das strategische Vermögen seines Freundes, das

Richtige zu tun. Leer, mit grauem Gesicht, verzweifelt und blutverschmiert

saß er eine ganze Weile mit gesenktem Kopf auf dem Dreibein. Irgendwann

beschloss er, einfach sitzen zu bleiben, regungslos, bis jemand käme und

das tue, zu was er nicht fähig war: seiner erbärmlichen Existenz ein

gnädiges Ende zu bereiten. Als er so da saß in tiefster Bedrückung und

voller Selbstmitleid, pochte es laut an die Türe. Ein Mann mit einem

dichten Schnurrbart und einer lächerlich wirkenden Uniformmütze, die

nicht richtig auf seinen Kopf passte, zu groß war für seinen Schädel,

schaute neugierig durch das Fenster. Es war Pjotr, der einfältige

Dorfpolizist, vielleicht war er auch gar kein richtiger Polizist. Auf seiner

täglichen Runde hielt er stets Einkehr bei der Bäuerin, um nach dem

Rechten zu sehen. Er besuchte die fidele Bäuerin gerne, sie gefiel ihm, er

wusste, dass sie alleine wohnte mit der ganzen Arbeit auf dem Hof, seit der

Bauer nicht mehr da war. Mit einem Gläschen pflegte sie ihn zu

empfangen, um ihn alsbald, nach einer Plauderei, zu verabschieden.

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Als er keine Regung aus dem Hause vernahm, klopfte er an die Scheibe.

Nichts. Der Mann verschwand kurz, um wenig später mit einem lauten

Krachen mitten in der Stube zu stehen. Mit einem festen Tritt hatte er die

Türe geöffnet. Sofort sah er die frische Blutlache auf dem Boden und

Hollaender zusammengesunken auf dem Schemel neben dem Spülstein.

Hollaenders Herz sprang so heftig in seinem Brustkorb auf und nieder, dass

er fürchtete, der Gendarm, als eine würdige Amtsperson glaubte er den

Mann erkannt zu haben, könne seine Furcht erkennen und ihn einer

schlimmen Tat verdächtigen. Der Mützenmann machte gar nicht den

Versuch deutsch zu reden. Das, was er zu sagen hatte, wäre in jeder Sprache

zu verstehen gewesen.

Hollaender und Gertz waren, wie sie vor dem Kleiderschrank richtig

erkannt hatten, nicht die ersten Besucher der Bäuerin. Gerade einmal drei

Wochen vor ihnen gelangten zwei Entflohene in die Gegend und erbaten

von der Bäuerin Hilfe. Sie gab ihnen Obdach und zu Essen, bis sie gestärkt

wieder in die Wälder verschwanden.

Nun stand der Polizist mitten in der Stube, das Feuer im Ofen war fast

erloschen. Hollaender saß auf dem dreibeinigen Schemel, ängstlich wie ein

kleiner Junge, auf den bald eine ordentliche Tracht Prügel niedergehen

wird. Der Polizist brüllte mit Leibeskräften durch den Raum: „Was ist hier

los?“. Er befürchtete, der Bäuerin könne etwas zugestoßen sein, und dieser

Kerl hätte etwas damit zu tun.

‚Was hat der Fremde hier zu suchen?’

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Wie durch Watte drangen die Worte zu Hollaender auf dem Schemel.

Zögernd erhob er sich. Jetzt, so überlegte er, würde sich das Schicksal

erfüllen, der Kreis sich schließen. Aber es kam anders. Plötzlich kehrte sein

Wille und die unbändige Kraft Leben zu wollen zurück, und verliehen ihm

unbändige Kräfte. Kräfte, er wusste nicht woher, die auslöschen wollten. So

wenig wie die bedauernswerte Frau, Witwe eines ständig betrunkenen

Bauern, der sie schlug, gegen Hollaenders todbringende Wut bestehen

konnte, so wenig rechnete der Gendarm mit dem pfeilschnellen Angriff des

zu allem entschlossenen Flüchtlings Alfred Hollaender, 32 Jahre alt, aus

Berlin stammend, verwitwet und von Einsamkeit umschlossen. Um keinen

Preis mochte er jetzt mehr aufgeben, nicht jetzt, nicht nach dem

Verbrechen, das er begangen hatte, nicht nach all den Tantalusqualen, die er

erduldete mit breitem Kreuz, auf dem noch die Peitschenhiebe brannten.

Hollaender ergriff eine hinter ihm auf dem Tisch stehende Flasche, die mit

irgendetwas gefüllt war und schleuderte sie ohne zu zielen auf den

Gendarmen. Die halbvolle Flasche traf den armen Mann mitten auf die

Stirn. Er torkelte, und fiel so langsam um, wie eine gefällte Fichte. Ein

rundes Loch sprang auf und trat Blut hervor, das dem getroffenen in einem

breiten Strom übers Gesicht rann.. In einem tranceähnlichen Zustand hatte

ihn der Flüchtling Hollaender, der zum Mörder geworden war,

niedergestreckt. Er stand auf, betrachtete sein Opfer ungläubig, wollte nicht

glauben, dass er es war, der den Gendarmen erledigt hatte. Er geriet in

Panik. Was tun, wenn der Mann gar nicht tot war? Seine Gedanken

überschlugen sich. Eine endgültige Entscheidung musste getroffen werden,

entschied er. Er ging zum Schrank, öffnete eine Schublade nach der anderen

bis er ein Messer gefunden hatte. Er nahm die Waffe, mit der die Bäuerin

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am Vortag das Essen bereitet hatte und stieß es dem Ohnmächtigen in die

Brust. Drei, vier, fünf mal rammte er das Messer dem Unglücklichen tief

ins Herz. Es war ein fürchterliches Gemetzel, das in der Bauernkate im

Winter 1945 stattfand. Das Blut spritzte in alle Richtungen und der

Gendarm stöhnte und seufzte bei seinen letzten Atemzügen. Hollaender ließ

sich zu Boden fallen. Er konnte nicht mehr denken, alles strebte von ihm

weg, zuerst die Freiheit, schließlich die Hoffnung und, ‚verdammt’, fluchte

er in sich hinein, ‚das Leben’. Das hatte er nicht beabsichtigt. „Nein, nein,

nein“, schrie er.

„Wir wollten doch nur etwas zu essen und schlafen, eine kurze Zeit

innehalten auf der Flucht“, winselte er. Niemand hörte sein Klagen. Er

tanzte mit drei Toten. Er war ein Doppelmörder geworden, im Krieg.

Nach einiger Zeit nahm sein Verstand die Arbeit wieder auf. Zuerst, dem

Fluchtreflex folgend, wollte er in den Wald verschwinden. Abhauen,

irgendwo hin, in einen Fuchsbau, in eine Höhle, klein sollte es sein, ganz

klein, so klein und niedrig er sich fühlte, einfach nur verkriechen. Als er

aber den Pferdewagen der Bäuerin sah, sprang er kurzentschlossen auf den

Kutschbock. Noch nie hatte er ein Fuhrwerk gesteuert. Jetzt ließ er die

Zügel knallen, löste die Bremse und raste vom Hof. Viel zu schnell fuhr der

klapprige Wagen und die Pferde, obwohl noch müde von der Fahrt mit ihrer

Herrin aus dem Dorf zum Hof, stürmten voraus, gehorchten ihm nicht. Er

stemmte sich ins Geschirr. Sie galoppierten so schnell, als wollten sie vor

dem Wagen mit Hollaender auf dem Bock fliehen. An der Einbiegung der

langen, holprigen Zufahrt zur Landstraße kippte der Wagen und Hollaender

flog in hohem Bogen in eine Schneewehe. Benommen blieb er liegen. Die

Tiere zerrten in zügelloser Flucht den auf die Seite gefallenen Karren hinter

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sich her, dabei brach eine Achse, ein Rad löste sich und rollte davon.

Hollaender steckte im tiefen Schnee und hatte Mühe das Weiß des Schnees

von der Helligkeit des Tages zu unterscheiden. Wieder überkam ihn das

Gefühl, einfach das Unabänderliche geschehen zu lassen. Aber er kam

wieder zur Besinnung, kroch er aus dem Schnee, wunderte sich, dass er

noch lebte und lief wieder zurück zum Hof.

Er mochte den Gendarm nicht einfach liegen lassen und entschloss sich, ihn

zu den beiden anderen zu schaffen. Unablässig murmelte er wirres Zeug vor

sich hin. „Niemand kann mir etwas nachweisen, weder den Tod an der

Bäuerin noch des Tod des Gendarmen. Ich bin das Opfer! Jawohl!! Warum

tut Gott uns das an, warum tut er mir das an? Weißt du, Rosa, ich konnte ja

gar nicht anders, als die Frau und den Gendarmen zu töten. Ich hab’ es für

dich getan, für dich und Frieda, ja, genau so war es. Ich werde leben, damit

ihr lebt. Ach, die Krähen und das andre Federvieh...ich muss die Schweine

füttern. Ob der Winter je vergeht, der Schnee schmilzt, die Bäume,

Sträucher und Wiesen wieder blühen? Es wird ewig Nacht bleiben, und

Winter, kalt und still für immer. Kein Feuer wird mich noch einmal wärmen

können.“

Er wartete die Nacht ab. Schauder beschlich ihn. Er schritt zum Ofen und

entfachte das Feuer. Es knisterte und im Raum verbreitete sich schnell

wohlige Wärme. Sobald er die Augen schloss, sah er Paul, die Bäuerin und

Gendarmen umher tanzen und sich ihren Verletzungen zeigen. Dabei

lachten sie und verhöhnten den Überlebenden.

Warten, das war seine einzige Möglichkeit. Er fand ein Glas und auch eine

Flasche Selbstgebrannten. Es war die Flasche, aus der er mit seinem

Kamerad auf ihre Flucht angestoßen hatte. Er prostete sich selber zu. Mit

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einem Zug leerte er das Glas und dann noch eins. Seine Taten ließen ihn

nicht ruhen, er wanderte unablässig umher. Im Hof, unter einer Remise,

liefen einige Hühner umher, zum Eierlegen war es ihnen zu kalt. Sie

scharrten gackernd im Dreck. Hollaender zählte sie. Es waren sieben.

Krähen senkten sich sanft auf die Erde, in der Hoffung ein Körnchen

Nahrung zu finden, flatterten auf, landeten wieder, schlugen kraftvoll mit

den Flügeln, bis sie hungrig auf den blattlosen Pappeln an dem kleinen

Bachlauf rasteten. Er trank den Rest aus der Flasche. Ihm wurde übel, alles

begann sich zu drehen. Durchsichtig wie Geister liefen die Ermordeten im

Zimmer umher. Der Schnaps erlöste den Mörder Hollaender nicht. Die

Toten lachten über ihre Verletzungen, die beiden hatten sich miteinander

angefreundet. Hollaender sah, wie Gertz der Bäuerin seine Wunde zeigte.

Sie besprachen sich. Mit medizinischem Sachverstand diskutierten sie

mögliche Behandlungsmethoden. Hollaender sah zu wie sich die

blutüberströmten Geister innig liebkosten und ihre Verletzungen aneinander

rieben bis das Blut sich zu einem breiten Strom röter Brühe vermischte. Der

Schwanz des toten Gertz, der vor kurzer Zeit kläglich versagte, drang jetzt

mit kräftigen Stößen in die tote Bäuerin ein.

Die Wirklichkeit marschierte mit lauten Tritten in seinen Traum und

vertrieb ihn. Verstört erwachte Hollaender. „Wie spät es wohl war?“. Er

hatte keine Uhr. Die Sonne stand noch über einem anderen Kontinent, weit

entfernt war ihre Helligkeit und ihr Trost. Bis sie ihr dämmriges Gold dem

unglücklichen Mörder schenkte, vergingen noch einige Stunden. Noch

bevor ein Sonnenstrahl das erste Licht des Tages ins Zimmer warf, machte

sich Hollaender auf den Weg. Eigentlich wollte er nach der missglückten

Flucht mit dem Wagen den Tag abwarten, aber er trat in die bittere

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Morgenkälte und verschloss die Türe, als ob das irgend jemanden

interessierte. Jetzt fand er sich wieder dort, woher er gekommen war:

nirgends und ohne Ziel. ‚Den Leidensgenossen in der Marschkolonne der

Todgeweihten war es vielleicht besser ergangen’, barmte er mit seinem

Schicksal. Er fühlte sich von Gott schmählich verlassen. Ihn begleiteten nur

Eiseskälte, dürre Bäume, die ihr Geäst drohend reckten, armselige Gräser,

die aus der Schneedecke neugierig nach dem Frühling suchten, auf seinem

Weg ins Ungewisse. Hollaender stapfte im knietiefen Schnee voran. Er

wusste nicht wie lange er gegangen war, als die Sonne endlich aufging. Sie

milderte den Frost ein wenig und gab ihre friedlichen Strahlen frei, die den

Himmel röteten, wie an jedem Tag von Anbeginn der Zeit, immer wieder

von Neuem. Als weiche Kugel stieg das Gestirn aus dem nebligen Dunst

und malte ihr neues Gemälde aus vielfältig gebrochenem Licht an den

Himmel. Die Sonne wies ihm die Richtung.

‚Wenn ich jetzt meinen Schatten sehen kann, bin ich auf dem richtigen

Weg. Westen.

Die Saatkrähen und ein paar Raubvögel, riefen in die Stille. Sie kreisten

hoch über ihm, er sah ihnen nach, träumte sich auf ihre Flügel, ‚ach, wie

tröstlich’.

Mit ihnen erwachte das karge, winterliche Leben. Immer wieder

umschwirrten die Vogellaute den vorwärts Strauchelnden. ‚Ich verstehe ihre

Sprache nicht’, dachte er vor sich hin und sah ihnen sehnsuchtsvoll nach.

Von Ferne knallte plötzlich ein Schuss. Gepolstert durch den dicken Schnee

hörte er sich an wie ein Peitschenknall in Moll. Hollaender hatte keine

Furcht. Unverdrossen zog er weiter, geführt von den milden, rotgoldenen

Strahlen, sein Ziel vor Augen, das ihm der Stern wies.

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In diesen Tagen, als er einsam durch die ausgestorbene westpolnische

Landschaft wanderte, dachte er oft an Paul, seinen Freund. Alles hatte er

ausgehalten, sämtliche Folter und Hunger und Verzweifelung. Trotzdem

fand er noch ein Versteck für seine Würde, die ihm kein Mensch rauben

konnte. Aber dem Anblick einer Frau konnte er nicht widerstehen. Und nun

war er tot, lag unter dem stinkenden Misthaufen samt der Frau und dem

Gendarmen.

Tagelang war Hollaender unterwegs. Als Schlafplatz suchte er sich

verlassene Schuppen. Manchmal fand er Zuflucht in einem leeren Hof,

dessen Besitzer geflohen waren oder ermordet. Dort wagte er auch Feuer zu

machen. Er ernährte sich von vertrockneten Beeren und den spärlichen

Essensresten, die er in den Vorratskammern der verlassenen Häuser

aufstöberte.

Als er noch mit seinem Freund zusammen unterwegs gewesen war, erzählte

dieser ihm oft von seiner Schwester Ilse, die, das sagte Paul, Berlin nie

verlassen hatte. Eines Nachts, als sie ohne Hoffnung aneinander gelehnt

irgendwo saßen und den Tag frierend erwarteten, bat ihn Paul:“ Mein lieber

Freund, ich vertraue dir. Sollte ich, was man in unserer Lage kalkulieren

muss, nicht überleben, geh’ zu Ilse und kümmere dich um sie.

Grüße sie von mir“.

Das sagte er im Ton einer merkwürdigen Feierlichkeit, der etwas

Prophetisches inne wohnte. „Erzähle ihr unsere Geschichte; erzähle allen

Leuten, denen du begegnest, unsere Geschichte“. Paul sprach gerne von

seiner Schwester Ilse, von ihrem Leben, ihren Freuden, ihrem Liebreiz und

Schönheit, ganz so, als wollte er Hollaender auf eine künftige, überaus

wichtige Aufgabe vorbereiten.

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„Ja, Paul, ich werde deine Schwester finden und mich um sie kümmern. Ich

will das für sie sein, was sie von mir wünscht“, antwortete Hollaender.

„Du bist mehr als ein Freund für mich“, sagte Paul.

„Wenn ich es überlebe und in die Freiheit komme, wem soll ich Grüße

ausrichten“, fragte Paul nach längere Stille, in der nur das trockene Knarren

des Frostes zu vernehmen war.

„Du kannst niemandem Grüße von mir überbringen. Frau und Kind sind

durch den Kamin. Brüder und Schwestern auch, oder verschollen, wer weiß

das schon. Sie wandeln zusammen mit Vater und Mutter auf den Wolken,

sehen zu uns herab und weinen, wenn sie unser Schicksal sehen“.

Daran dachte Hollaender in den Tagen, als er alleine auf der Flucht war. Ilse

Gertz war zu seiner Freundin geworden, ein leuchtendes Ziel. Für sie sollte

sich die Qual lohnen. Die unbekannte Ilse bedeutete ihm alles. Sie war zu

seiner Begleiterin geworden am Tag wie in der Nacht und keine Macht der

Erde konnte sie ihm entreißen. Nie im Leben hatte er sie gesehen, meinte

aber, sie so gut zu kennen wie eine alte Freundin, mit der man eine fröhliche

Vergangenheit teilt. Er malte sich aus, wie es wohl sein würde, wenn er sie

endlich gefunden haben wird, er wünschte sich ihr strahlendes Lächeln, das

aus funkelnden Augen frohlockt und nur ihm gilt.

Mit dem Adagio eines kaltblütiges Pferd näherte sich der Frühling. Es war

März geworden. Äcker, Wiesen, Astwerk und Büsche befreiten sich

langsam von der gläsernen Kälte. Überall tropfte das Wasser und ließ

allmählich Rinnsale entstehen, die Bäche und Flüsse mit dem flüssig

werdenden Winter anschwellen ließen. Eilig flossen die Gewässer über glatt

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polierte Kieselsteine. Der harte Frostboden verwandelte sich allmählich in

Morast, so dass das Fortkommen zur Mühsal wurde. Bis über die Knöchel

sank Hollaender in den Schlamm. Das Tauwetter ließ sein Herz vor Freude

hüpfen. „Ja, ja Ilse. So nah war ich dir noch nie“, sagte er beschwingt zu

einem Wildschwein, das sich neugierig umschaute, und sich dann ins

Unterholz verdrückte.

Die Gegend, so meinte er, hatte sich verändert. Sie schien bewohnter und

belebter. Immer häufiger stieß er auf Gebäude. Die Häuser, Ställe und

Schober verdichteten sich zu Weilern und weiter zu Dörfern. So kam es,

dass er an ein Haustürchen pochte, um etwas zu essen zu erbetteln. Mit

gleichgültigem Blick kippte die Hausfrau ihm gerade das vor die Füße, was

sie in den Händen trug. Da sie war auf dem Weg zum Schweinestall war,

kam Hollaender in den Genuss von hartem Brot und Kartoffelschalen. Das,

was die Tiere bekommen sollten, warf man ihm gnädig zu. Als die Tür

wieder ins Schloss gefallen war, überwand er seinen Stolz und raffte die

Schalen und das Brot rasch zusammen.

Einmal schenkte ihm ein Bauer einen Selbstgebrannten in einem großen,

trüben Glas. Er lachte derb, schlug dem Flüchtling auf die Schulter und

wünschte ihm Glück.

„Glück?!“, Hollaender erschrak. Hatte er „Glück“ gesagt? „Glück“ auf

deutsch. Er hielt seine Hände tief in die Manteltaschen vergraben und die

Schultern hochgezogen, dankte dem Mann und entfernte sich langsam

rückwärts gehend in der kniefälligen Ergebenheit, die ihm damals half, das

Lager zu überleben, und die er sehr gut beherrschte. „Eine Frage noch“,

beeilte er sich zu sagen, „wo sind wir hier eigentlich?“

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„Du bist in Tauchritz“, rief ihm der Mann laut zu, der offenbar nicht

verstehen konnte, dass jemand nicht weiß, wo er sich befindet.

‚Ausgesprochen nett, der Mann’, dachte Hollaender so vor sich hin. Selten,

ganz selten auf seiner Wanderschaft empfing man ihn mit etwas, was im

Entferntesten an Gastfreundschaft erinnerte. Meist verjagte man ihn, den

verlassenen Rumtreiber, und beschimpfte ihn als Verbrecher. Nun, wenn er

sich genau anschaute, hatten die Leute Recht, so, wie er aussah. Die Kleider,

die er aus dem Schrank der Bäuerin gestohlen hatte, waren zu fleckigen

Lumpen geworden und er stank. Er kam daher wie ein Landstreicher, der

sich mit den Schweinen gesuhlt hatte.

Als er so in sich versunken, keine Gefahr mehr vermutend, seines Weges

ging, erreichten ihn plötzlich laute Stimmen, dazwischen ein kehliges

Lachen, dann wieder ein kurz ausgestoßener Befehl, schließlich

Motorengeräusch. Er machte sich in die Büsche, die den Wegesrand

säumten. Die Dornen zerkratzten sein Gesicht und die Hände. Vor Angst

wagte er nicht zu atmen. Der Konvoi hielt unmittelbar neben der Hecke, in

der er sich verbarg. Die schweren Dieselmotoren brummten im Leerlauf,

aber nichts geschah. Bis plötzlich ein Milizionär von der Pritsche sprang,

das Sturmgewehr im Anschlag, und direkt auf sein Versteck zusteuerte.

Wie die Soldaten ihn aufspüren konnten, blieb Hollaender ein Rätsel.

Vielleicht hatten sie ihn bereits vorher erspäht, er wusste es nicht. Der

Soldat legte an. „Das ist mein Ende“, dachte Hollaender. Er schlang seine

Arme um den Kopf und gab sich verloren. In seiner Todesangst stimmte er

ein Gejammer an, das von seiner Vogelfreiheit handelte. „ Soldat, hören sie,

bitte, nicht schießen. Schläge, Tritte, Hunger, alles habe ich zur Genüge

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erlitten, nun soll ich meinen letzten Seufzer machen? Ich habe so viele

Strafen auf mich genommen, dass ich einen Handel damit beginnen könnte,

bitte Soldat...“. Hollaender schwatzte um sein Leben, aber der Soldat

verstand kein einziges Wort. Hilfe suchend drehte er sich zum Lastwagen

um, als sich vom Beifahrersitz des zweiten Fahrzeuges ein junger Offizier

erhob und langsamen Schrittes näher trat. Hollaender sah den Mann zuerst

nicht, da er auf die Knie gefallen war und sich halb in seinen Mantel

verkrochen hatte.

„Steh’ auf“, befahl der Offizier erst auf russisch, dann wechselte er ins

Deutsche. „Steh’ auf“, wiederholte er mit fester, lauter Stimme. Hollaender

hob den Kopf und stemmte sich auf die Beine. Er musste einen solch

elenden Eindruck auf den Offizier gemacht haben, denn in dessen Ausdruck

mischte sich so etwas wie Mitleid. Hollaender scheute sich, dem Offizier in

die Augen zu schauen, lieber starrte er auf seine Stiefelspitzen. Mit

ausgestreckter Hand hob der junge Offizier das Kinn des Flüchtlings, der

jetzt erst in das Antlitz des Gegenübers sah.

Der Jüngling befehligte einen kleineren Trupp mit drei Dutzend Soldaten.

Es waren wilde Gesellen mit großen Händen und kleinen Gehirnen. Die

Männer patrouillierten in der Gegend und hielten Ausschau nach

versprengten Landsern, flüchtigen Mördern. Wenn sie keinem habhaft

wurden und sie genug Schnaps intus hatten, konnten sie leicht zu

rauflustigen Schlägern werden. In diesem Falle war es den Leuten in den

Dörfern anempfohlen, ihre Frauen und Mädchen zu verstecken, auf dass die

Horde sie nicht entehre. Das ist die einfache Moral im Krieg. Von alledem

wusste Hollaender nichts. Er wusste nicht einmal, dass hier in der Gegend

die Schlachten geschlagen waren. Er kannte auch nicht den neuen

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Grenzverlauf, den die Sieger gezogen hatten und mit ihren Panzern

bewachten. Hollaender hatte nur Todesangst, er fürchtete von der

marodierenden Soldateska umgebracht zu werden. Kräftiger Regen setzte

ein. Überall plätscherte das Wasser in die Pfützen, die sich als kleine Maare

auf dem Weg verteilten.

Das Gesicht des Offiziers passte zu seiner Stimme, stellte Hollaender fest.

Er war ein junger Mann von nicht einmal dreißig Jahren, groß und schlank,

ein richtiger Herr mit fein gezeichneten Gesichtszügen. Die Burschen, die er

befehligte, stellten einen nahezu surrealen Gegensatz dar. Sie entsprachen

eher dem groben, halbfertigen Entwurf eines Bildhauers, der Menschen aus

Stein oder Holz formen wollte.

Der Offizier hatte nichts Derbes oder Zerstörerisches an sich. Seine

schmalen Hände steckten in ledernen Handschuhen. Wieder griff er nach

dem Kinn des Flüchtlings und hob es an, so dass er sein Gesicht sehen

konnte. Hollaender glaubte einen Schimmer vornehm geschnitzter Ironie in

dem Mann zu erkennen. Ein Lächeln zuckte in den Mundwinkeln.

Die Soldaten umkreisten den vor Angst und Kälte schlotternden Flüchtling,

sie erwarteten den Befehl zur Exekution.

„Woher kommst du?“, fragte der Offizier und schob dabei seine breite

Schirmmütze in den Nacken. Hollaender antwortete nicht. Er war müde und

völlig entkräftet. Er hatte aufgegeben, sein Leben war gelebt, sah den Tod

vor Augen, ‚es war beschissen’, dachte er in diesem Augenblick. Ilse und

ihr Bruder kamen ihm in den Sinn, auch Frieda und Rosa. Niemals wieder

wird er sie auf seinen Knien reiten lassen können, niemals wieder in den

Schlaf singen, niemals wieder trösten können, wenn der kindliche Kummer

überkommt.

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Er hatte die Frage des Offiziers nicht verstanden, denn er sprach kein

Russisch. Es bestätigte sich, was er vermutet hatte: sowjetische Soldaten,

mit denen war nicht zu spaßen. In seinem Kopf tobten Kämpfe. Opfer und

Täter war er geworden. Hätten ihn Deutsche Polizisten erwischt, wäre er

womöglich schon tot. Aber jetzt die Russen. Waren sie Retter, Befreier?

Hollaender hatte keine Ahnung. Er war ein einmal ein Deutscher, dem man

die Staatsangehörigkeit aberkannt hatte, aber an seiner Sprache und seiner

Heimat konnte das nicht rühren. Jetzt richteten die Russen ihre Waffen auf

ihn.. Die wilden Soldaten sahen nicht aus, als ob sie ihn retten wollten.

Hollaender war sich sicher: Das sind Feinde. In trotziger Verzweifelung hob

er an zu schreien: “Ihr verdammten Arschlöcher, seht her, wenn eure Augen

nicht zugeschwollen sind, glaubt ihr, mir kann noch irgend ein Mensch auf

dieser verfluchten Erde Schlimmeres antun, als das, was ich erlebt habe?!“

Das wollte er sagen, nur gut, dass er es unterließ. Anstelle dessen streifte er

wortlos den linken Ärmel seiner Jacke hoch und zeigte eine Nummer, die

mit blauer Tinte eingeritzt war: 267689. Der Offizier schob die Soldaten zur

Seite kam einen Schritt näher, ergriff den Arm und betrachtete die

Tätowierung, die in krakeligen, ungelenken Strichen in die Haut geritzt war.

„Was ist das?“, wollte er wissen. „Bist du ein Dieb, ein Sträfling?“

„Jawohl“, antwortete Hollaender mit dem Ton, mit dem er Uniformierten

immer geantwortet hatte. Das „Jawohl“ hatte einen Nachklang, der besagte,

„ich tue alles, was du willst, aber, bitte, lass mich am Leben“.

„Was bist du jetzt? Dieb oder Sträfling, oder beides? Was sagt mir die

Nummer auf deinem Arm?, forschte der Offizier weiter. Hollaender

wunderte sich, dass der Mann so gut deutsch sprechen konnte, fast ohne

Akzent, alleine das gutturale „R“, das in der Kehle rollte, verriet ihn.

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‚Vielleicht war der Mann ein Agent? Aber dann müsste er die Bedeutung

der Nummer kennen’.

Der Offizier beriet sich kurz mit einem seiner Leute, wandte sich wieder um

zu Hollaender und befahl: „Zeig mir deinen Schwanz“!

Hollaender wich zögernd zurück und kratzte sich verlegen am Kopf.

‚Warum will er meinen Schwanz sehen’, fragte er sich. ‚Was wird hier

gespielt?’

„Mach schon, lass die Hose fallen ich will mich davon überzeugen, ob dein

Schwanz noch vollständig ist“.

Es gab kein Entrinnen. Er erkannte, dass er dem Befehl nicht ausweichen

konnte.

Nun, „mir ist schon weit schlimmeres widerfahren“, sprach er sich Mut zu.

„Wenn’s sonst nix ist, na gut, lasse ich die Hose fallen“, antwortete er dem

Soldat. Er fingerte an seiner Hose herum, öffnete die Knöpfe und kramte

nach seinem Penis. Die umstehenden Soldaten hielten sich die Bäuche vor

Lachen und zeigten mit Fingern auf Hollaender, der mit herunter gelassener

Hose auf der Straße stand.

„So sieht das also aus“, grinste der Offizier. Er schnappte sich einen der

Umstehenden verlausten Milizionäre an der Jacke, zog ihn zu sich, und

bedeutete ihm mit einer schroffen Handbewegung, auch die Hose runter zu

lassen. Mit einer weit ausladenden Geste wies er die anderen an, auch sie

sollten ihre Hosen fallen lassen. Am Ende öffnete der junge Offizier seinen

Hosenstall und ergriff sein beträchtliches Gemächt. Da hingen sie nun an

der frischen Luft, die Schwänze der stolzen Soldaten der glorreichen

Sowjetunion. Hollaender wusste nicht, was tun, aufschauen, mitlachen? Das

101
Gelächter der verlausten Männer drang schallend und boshaft zu ihm, in

seinen Ohren rauschte ein aufgewühlter Ozean.

„Siehst du“, sagte gravitätisch der Offizier, „wir sind alle Juden. Die Juden

sind auf der ganzen Welt zerstreut, jeder kann sagen er sei ein Jude, so auch

du. Ich glaube, dass du ein flüchtiger Verbrecher bist. Ich weiß zwar nicht,

was du angestellt hast, ob du gestohlen hast oder gar gemordet. In dieser

Zeit morden viele Leute. Vielleicht bist du ja sogar ein Jude und ein

Verbrecher, so etwas soll es auch geben, verstehst du. Ich gebe dir nun noch

eine letzte Gelegenheit mir zu beweisen, dass du der bist, der vorgibst zu

sein. Bete wie es dich deine Väter gelehrt haben!“

Während sich die umstehenden Soldaten die Hosen wieder hochgezogen,

begann Hollaender, der seit dem Tod seiner Vaters nicht mehr gebetet hatte,

das Schma Israel zu sprechen.

„Höre Israel. Du sollst den Ewigen, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen,

von ganzer Seele und ganzem Vermögen. Die Worte, die ich dir jetzt

befehle....“

So stand Alfred Hollaender nun mit herunter gelassener Hose und bebender

Stimme vor den Kerlen, der Schwanz hing ihm heraus, und betete. Seine

Augen füllten sich mit dem Wasser der Wut und des Unglücks. Er betete

und betete. Er betete um sein Leben und versank in den heiligen Versen wie

in einem tiefen Teich.

„Gut mein Freund“, erbarmte sich der Offizier, „zieh die Hose wieder

hoch!“

Hollaender blickte sich schamhaft um und sah in die weit aufgerissenen

Mäuler der Milizionäre, sah ihre brüchigen Zähne und die schmutzigen

Gesichter, die ihn verhöhnten. Die Gesichter verschmolzen vor seinen

102
Augen zu einer einzigen großen Grimasse, zu einer Fratze, deren Lachen

sich in ein schiefes Galgengrinsen verwandelte. Er meinte in die Visage des

Teufels zu sehen. Aber ihm gegenüber wartete nicht der Teufel, sondern

nur der junge, gepflegte und milde drein schauende Offizier. Er spürte wie

die Schamesröte in seinem Gesicht empor kam. Niemals zuvor war er so

gedemütigt worden. Er war sich sicher, dass für ihn das Gesetz der

Menschlichkeit keine Geltung habe. Er bewegte sich außerhalb des

Einflussbereiches dieses Gesetzes, er war vogelfrei, jeder konnte mit ihm

machen, was er wollte, ihn erniedrigen, ihn schlagen, ihn töten. Das Lager

war kein ferner Alptraum, nein es existierte fortwährend als Realität und

wurde immer wieder von neuem erfunden.

Der Offizier mahnte seine Männer zur Eile und befahl ihnen, in die

Fahrzeuge zu steigen. Während dessen wandte er sich zu Hollaender und

sagte: “ Der Sohn weint um seine Mutter, der Jude um seinen Bruder und

der Christ zerbricht unter der Last seiner Schuld. Denke an die Worte des

toten Christus, die er vom Weltengebäude herab sprach, dass es keinen Gott

gäbe, denn ein Gott hätte das alles nicht geschehen lassen. Gott hätte seine

Armeen mit Blitzen und Feuerschwertern zur Erde geschickt, um ihnen

Einhalt zu gebieten und zu befehlen, die schwarzen Heere in die Hölle zu

jagen“.

Nach einer kleinen Pause sagte er: “ Geh deiner Wege, du bist frei“.

Die Fahrzeugkolonne setzte sich schwerfällig in Bewegung, die Motoren

heulten auf. Aus den Auspuffrohren quoll schwarzer Dieselqualm. Kleiner

und kleiner wurden die dicht hintereinander rollenden Militärwagen, die aus

der Ferne aussahen wie eine satte Schlange, die sich behäbig davon

103
schlängelt. Hollaender sah ihnen nach bis sie schließlich hinter einer lang

gestreckten Kurve verschwunden waren. Ihn überkam ein hysterische

Lachen, das eher einem Husten und Krächzen glich, das in ein Schluchzen

überging. So lachte und weinte er zugleich. Sein lautes Klagen wurde vom

Lachen verschluckt, das Lachen von seinen Tränen erstickt. Er schrie das

verdammte Elend seines Lebens heraus. Erschöpft sank er auf einen

Baustamm, bettete sein Gesicht in die knochigen, harten Hände und betete

das Schma Israel leise vor sich hin summend zuende.

„Was ist los Herr Hollaender, ist ihnen nicht gut?“, trieben die fremd und

zugleich besorgt klingenden Worte von Henry Lantz an ihn heran. Er

benötigte einige Augenblicke bis er wieder in der Gegenwart angekommen

war, und bei Sinnen, so sehr hatte er sich für Augenblicke vertieft und

ergötzt an der Vergangenheit und an seinem Leid. Natürlich erzählte

Hollaender dem jungen Henry, seinem Halbfreund, Halbfeind nicht die

ganze Wahrheit. Hierfür war er viel zu eitel. Zu keiner Zeit würde er

jemandem davon Zeugnis ablegen, dass er mit heraushängendem Schwanz

das Schma Israel vor lachenden sowjetischen Soldaten hatte beten müssen.

Ausgeschlossen war auch, dass er, außer vor sich selbst, eingestehen würde,

zwei Menschen getötet zu haben. Henry plapperte noch viele andere milde

Worte, die dazu geeignet waren, jedem zu Herzen gehen, außer Hollaender.

Er verachtete mehr und mehr die Anteilnahme und das Verstehen wollen

des jungen Mannes.

„Entschuldigen sie“, sagte er so dahin, „ich glaube ich verabschiede mich

jetzt. Der Tag war anstrengend. Ein alter Mann braucht seine Ruhe. Er

104
lächelte beinah, aber es gelang ihm nicht und in seiner Stimme lag kein

Ton.

„Sie übernehmen heute die Rechnung“, stieß er schroff hervor. „Ich habe

ihnen heute eine Menge Stoff geliefert, den sie wohl aufschreiben werden,

um daraus eine Reportage oder was weiß ich zu fabrizieren. Das Leben von

uns Alten ist wie ein Steinbruch, nicht wahr junger Mann. Sie übernehmen

ab sofort alle Rechnungen. Das ist der Preis für meine Geschichten. Sie sind

doch nicht zu teuer, oder?“

Wenn Hollaender zum Friedhof ging, dann nicht, um ein bestimmtes Grab

zu besuchen. Wen sollte er dort auch suchen. Seine Trauer hatte dort keinen

Ankerplatz. Frieda und Rosa sind zu weißer Asche geworden, ohne

Grabstelle und Stein und friedvoller Stätte angenehmen Gedenkens. Das

Grab des Vaters wurde in den Wirren des Krieges Teil des riesigen Berliner

Schutthaufens. Das Grab der Mutter? Wo ist es? Er wusste es nicht.

Im Frühling beobachtete er die fröhlich zwitschernden und Vögel, die

zwischen frischem Blattgrün flatterten und balzten. Im Sommer flirrte die

Hitze über den Grabplatten und feiner Staub legte sich auf die gemeißelten

Namen all derer, die sich in Ewigkeit an Gottes Gnade erwärmen. Der

Herbst erfreute ihn am meisten. Diese sonderbare Jahreszeit verstärkte die

Wirkung des Alltages, Kälte und Nässe vertrieben die Farben von den

Dingen und die spielenden Kinder von der Straße ins Haus, dachte er immer

wieder. Dann setzte er sich auf eine Bank und sah den im Wind

zappelnden Blättern zu, die nach kurzem Widerstand zu Boden sanken.

Eine wohlige Melancholie bemächtigte sich seiner und das milde, diffuse

Licht, das die Wolken gleichmäßig abstrahlten, stimmte Hollaender

105
friedlich. Die Kälte des Winters versteinerte seine Gesichtszüge und ließ

ihn bald aussehen wie eine der vielen Heiligenfiguren auf dem Friedhof.

So saß der alte Mann an vielen Tagen auf einer Bank auf dem Friedhof und

schaute dem zu, was der Tod zurückgelassen hatte. Oft verweilte er nur eine

Stunde oder ein wenig mehr, aber diese Zeit reichte ihm, um seine

Gedanken von Mensch zu Mensch, von Grab zu Grab schweifen zu lassen.

Er trug stets ein kleines, faltbares, und überaus praktisches Kissen bei sich,

das er sich unterschob. Während er auf der Bank saß beobachtete er die

alten Leute, die freundlich grüßend an ihm vorbei gingen. Sie kamen ihm

vor wie bunte Schatten. Er sagte es laut vor sich hin: “Bunte Schatten“, und

freute sich über das Wortbild, das ihm eingefallen war und so treffend

schien. Eine ältere Dame kam des Wegs und erbat sich den freien Platz

neben Hollaender.

„Aber gerne, bitte schön“, sagte Hollaender sofort, stand ehrerbietig auf und

hob seinen Hut. Die Dame war auf einen mittäglichen Plausch aus, das

erkannte Hollaender sofort.

„Haben sie schon mal bunte Schatten gesehen?“, fragte er die Dame.

„Was meinen sie damit?“, fragte sie retour.

Hollaender lachte. „Nein, entschuldigen sie, dieser Gedanke ist mir nur

eben durch den Kopf geschossen. Wenn ich so alleine auf der Bank sitze,

kommen mir manchmal die lustigsten Gedanken“, sagte er zu der Dame, die

sich ihm mit freundlichem Gesicht zugewendet hatte.

„Wissen sie, was mir vorgestern hier auf der Bank aufgefallen ist?“

„Nein, erzählen sie!“, bat Hollaender.

„Wissen sie, ich finde, dass die Leute hier auf dem Friedhof

umherschleichen wie Gespenster, die ihren Körpern entkommen sind“.

106
„Ja, doch, wenn sie meinen, das kann man schon so sehen“, stammelte

Hollaender.

Ihm war aufgefallen, dass sie die meisten ihrer Sätze mit, ‚wissen sie’

verzierte. Er hörte immer nur ‚wissen sie, wissen sie...

„Wissen sie, Altsein ist nicht sonderlich schön. Jeden Tag schmerzt eine

andere Stelle im Körper. Erst gestern, wissen sie, ist es mir so schlecht

ergangen, dass ich das Haus nicht verlassen konnte. Ich habe den Leib voll

Rheuma. Wissen sie! Dieses verfluchte Rheuma fließt mir mit ziehenden

Schmerzen durch den ganzen Körper“.

Die Dame trug einen wunderschönen, rot schimmernden Fuchspelz, den sie

als Kragen ihres braunen Wintermantels um ihren Hals geschlungen trug.

Sie hatte eine spitze Nase und ihre Augen waren von Runzeln und Falten

eng umfurcht. Die leuchtend rote Lippenstiftfarbe gab ihrem Mund den

Anschein einer frischen Orchideenblüte. Das Rot des Lippenstiftes fand

sich auch auf ihren langen, bräunlichen Zähnen, die schief aus dem Kiefer

ragten. Sie wirkten wie schlecht angestrichen. Hollaender hatte bei älteren

Damen schon öfters beobachtet, dass ich die Farbe des Lippenstiftes auf die

vorderen Zahnreihen übertrug.

„Glauben sie, dass die Gespenster mit dem Leben abgeschlossen haben? Ich

weiß, was sie glauben, jahaha. Sie bilden sich ein, die alte Schachtel habe

nicht mehr alle Tassen im Schrank. Jahahah, genau das Denken sie, nicht

wahr?“.

„Aber nein, wo denken sie hin,“ beruhigte Hollaender belustigt der Dame

neben ihm.

„Wann beginnt man damit, ich meine, wann beginnt man damit, mit dem

Leben abzuschließen, also eine Art Bilanz aufzustellen. Ich stelle mir vor,

107
wissen sie, dass man das Gute gegen das Böse aufrechnet, und, vielleicht,

das Getane mit dem nicht Getanen.“

„Ja, so könnte das sein“, bestätigte Hollaender wissend.

„Ich erlaube mir die Beantwortung der Frage nach dem Zeitpunkt der

Bilanzstellung zu präzisieren, gnädige Frau“, sagte Hollaender.

„Aber ich bitte sie, natürlich. Ich bin richtig gespannt auf ihre Antwort. Sie

sind sicherlich ein Mann, der in seinem Leben schon viel nachgedacht hat“,

schmeichelte die Dame vom Friedhof.

Er ignorierte ihre Freundlichkeit und sagte: „Man beginnt sehr spät damit.

Spätestens, wenn die Besuche auf dem Friedhof die Regelmäßigkeit der

Verrichtung der Notdurft erlangen, dann ist es soweit. Dann zieht man

Bilanz. Wenn alte Leute die Toten auf dem Friedhof besuchen, sich an die

Grabsteine klammern, dann ist es soweit. Sie gelangen an den Punkt, an

dem sie sich den Toten näher wähnen als den Lebenden, nicht wahr,

gnädige Frau?“.

Er glaubte die Dame verwirrt zu haben, denn sie schaute ratlos über ihre auf

den Knien ruhende Handtasche hinaus auf die Gräberfelder. Ihr Kopf

wackelte leicht. Dann sagte sie plötzlich, sehr zu Hollaenders Verblüffung,

“nichts auf der Erde geht verloren, wissen sie. Der Körper des Verstorbenen

zersetzt sich mit Hilfe von Bakterien in seine atomaren Bestandteile, die

sich in anderer Form zu einer anderen Zeit von neuem zusammensetzten.

Ich wünsche ihnen noch einen schönen Tag und vielen Dank für die nette

Unterhaltung“, bedankte sich die Dame und verließ Hollaender.

108
Henry hatte den letzten Nachtbus verpasst. Nun saß er verdrossen an der

Haltestelle. Wie er so in die Nacht hinaus schaute, dachte er an seinen

Schulfreund Arno, den fleißig gewordenen Studenten. Seit er bei ihm

wohnte, hatte sich sein Leben ordentlich verändert. Arno war in den Schoß

der bürgerlichen Behaglichkeit zurück gekehrt, die seine Eltern für ihn

arrangiert hatten. Er war für ein Semester in London. Sein Vater hielt einen

Studienaufenthalt im Ausland für in höchstem Maße notwendig. Er Selbst,

so betonte Dr. von Reith in Gesellschaft gerne, habe mehrere Jahre in

England und den Vereinigten Staaten verbracht, um das dortige

Rechtssystem zu studieren. Dr. von Reith hielt sich für fortschrittlich, wenn

er behauptete, dass ein Advokat keinen Schmiss brauche, aber etwas von

angelsächsischem Recht verstehen müsse. Den Einwand seiner Frau, dass

das eine das andere ja nicht zwingend ausschließe, ignorierte er

geflissentlich.

Henry hatte also die ganze Wohnung für sich alleine, nutzte jedoch nur sein

Zimmer, denn er hatte kein Interesse am Genuss der großen Wohnung.

Hollaender hatte ihn auf einen Gedanken gebracht, der ihm seit ihrem

letzten, zugegeben etwas merkwürdigen Zusammentreffen, nicht mehr

verlassen wollte. „Natürlich“, sprach er laut vor sich hin, „warum bin ich

nicht selbst darauf gekommen?! Was soll ich Reportagen schreiben,

Geschichten mit fünftausend vielleicht sechstausend Anschlägen, die es

bestenfalls auf den Schreibtisch der Sekretärin des zuständigen Redakteurs

schaffen. Dieser Redakteur beantwortet schließlich die Frage, was mit dem

Manuskript geschehen solle, mit einem abwesenden Nicken, das als

Aufforderung zu verstehen ist, das Manuskript in den Papierkorb werfen,

weil kein Rückporto beigelegt war. Ich schreibe ein Buch!“, sagte er zu

109
sich. Ein Mann mittleren Alters, der wie Henry auf den Bus wartete, blickte

mürrisch zu Henry und schüttelte verständnislos den Kopf. In Gedanken

versunken saß Henry an der Haltestelle. Als er sich gerade erheben wollte,

um sich ein wenig die Beine zu vertreten, sprach ihn eine Frau an, die ihn

um Feuer für ihre Zigarette bat. Sie war attraktiv, nicht mehr sehr jung, und

verströmte den angenehmen Duft von Frauen, deren Reife sich im

Wohlgeruch ausgewählter Duftwasser ausdrückte. Im schaukelnden Schein

der Laterne über der Straße erhellte sich ihr Gesicht nur kurz, um wieder ins

Dunkel abzutauchen. Schemenhaft fügte sich ihr Gesicht Abschnitt um

Abschnitt zu einem Ganzen zusammen. Sie war auffallend kräftig

geschminkt. Im Halbdunkel erschienen ihre Lippen schwarz. Er entzündete

das Streichholz und reichte die zittrige Flamme zu ihr herüber. Sie schützte

die Flamme vor dem Wind mit ihren beiden Händen. Henry wunderte sich

kurz über die kräftigen Finger. Sie sog den Rauch in die Lungen und blies

ihm die Wölkchen aufreizend ins Gesicht. Er wandte sich ab und wollte

schon zurück auf seinen Platz gehen, als die Frau ihn fragte, ob sie nicht

zusammen noch einen Kaffee oder Cognac trinken sollen. Er verharrte

unentschlossen eine Weile ohne etwas zu antworten, und noch bevor er

zustimmen oder ablehnen konnte, hatte sie sich bei ihm untergehakt. Sofort

plapperte sie drauflos. Der Mann an der Haltestelle sah den beiden nach wie

sie, leicht schwankend, den Kottbusser Damm hinunter in Richtung

Skalitzer Straße trotteten. Henry fand Gefallen an dem Ausflug ins

Ungewisse. Die Straße war menschenleer, die Fenster dunkel und

unbehaust, Taxis rasten vorüber und von Weitem näherte sich der

Nachtbus, mit er eigentlich nachhause fahren wollte.

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„Ich heiße Dora“, stellte sie sich Henry vor. Sie versprühte ein Hohes Maß

an Eleganz, wenngleich durchwebt mit einem dünnen Faden Vulgarität.

„Sie sind eine elegante Frau“, unterbrach Henry ihren ungebremsten

Redefluss. Gleichzeitig dachte er, dass Eleganz erst durch Harmonie

vollendet wird. Aber Dora fehlte es an Harmonie, etwas passte nicht

zusammen. „Die Frau, die Dora heißt, imitiert Eleganz, ja so ist es“, dachte

Henry. „Sie schaut sich Eleganz in Frauenmagazinen ab, wie sie bei

Frisören ausliegen“. Er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass

Dora eine Spur zu theatralisch und gestelzt daher kam, so aufgeregt wie sie

erzählte und jede Pointe mit einer weitgreifenden Geste unterstrich. Alles

war von großer Wichtigkeit, das wollte schließlich betont sein. Zur Aura

einer salonfähigen Dame gehört auch eine Stimme, die trotz angedeuteter

vornehmer Zurückhaltung eine Unterhaltung führen kann. Das konnte sie.

Sie entblätterte sich förmlich vor Henry. Sie blies ihm ihr Leben ins

Gesicht, wie man den Staub von einem alten Folianten bläst. Die

Staubkörnchen ihres Lebens verteilten sich über ihn. Henry verstand nichts

von dem, was sie ihm in Halbsätzen und Andeutungen, vermischt mit

Lachen, erzählte. Für ihn war es nichts als Belangloses Zeug, wie es

angetrunkenen Schauspielern entweicht. Er amüsierte sich. Sie jauchzte

überhitzt und übermütig vom Abend, wackelte mit ihrem straffen Hinterteil,

das ein viel zu kurzer, violetter Rock gerade eben zu bedecken vermochte.

Ihre Füße steckten in schreiend gelben, schmalen Schuhen mit sehr hohen

Absätzen. Er fühlte sich etwas zerstreut und die wachsende Müdigkeit

verstärkte diese Fahrigkeit. Die Details ihrer Kleidung weckten mehr

Interesse als ihre Schilderungen von...irgendetwas.

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Dort, wo der Kottbusser Damm in schrägem Winkel auf die Skalitzer

Straße trifft, hielt das ungleiche Paar kurz. Es schien, als verhandelten sie

etwas. Dann bogen sie in eine Toreinfahrt ein, die schummrig beleuchtet

war durch eine nackte Glühbirne, die vom Nachtwind leicht bewegt wurde

und hin und her pendelte. Über der Eingangstür, vor der sie warteten, las

Henry: Club Paradies; in kleinen Buchstaben darunter stand: Nur für

Mitglieder. Dora klingelte erneut und nach wenigen Augenblicken öffnete

sich ein kleines Fensterchen, aus dem ein bleiches Gesicht mit zusammen

gekniffenen Augen blinzelte.

„Hallo Dora!“, rief das Gesicht. „Wen hast du uns denn da mitgebracht.

Kommt rein Kinder, in die jute Stube“. Henry stand etwas verloren in einer

Art Diele herum. Seine Müdigkeit war verflogen und einer Neugier

gewichen. Langsam gewöhnten sich seine Augen an das Dunkel. Es gelang

ihm nicht die Ausmaße des Raumes zu schätzen. Das Dutzend Tische im

Club tauchte allmählich aus der rauchgeschwängerten Dämmerung auf, die

dort herrschte, wie Schiffe aus Nebelbänken. Die übrigen Gäste, die er nur

als Schemen wahrnahm, waren intensiv miteinander beschäftigt. Beine

schwangen über Beinen, Hände liebkosten sich auf den Tischdeckchen,

Gekichere, mal ein schriller, wollüstiger Schrei, Köpfe berührten sich

zärtlich, selige Blicke für eine Nacht des Glücks. Die Kerzen warfen einen

beruhigenden Schein auf die Gesichter der Menschen und vor Henrys

Augen öffnete sich die Gewissheit, dass es Männer waren, die Männer

liebkosten, und Frauen, die Frauen liebkosten. Es war früher Morgen, vor

der Dämmerung, und Berlin bereitete sich gerade auf einen neuen,

ereignisreichen Tag vor. Zu dieser Stunde befand sich die Stadt bei der

Morgentoilette, dachte Henry, als er mit Dora auf die Getränke wartete.

112
Dora nippte kurz an ihrem Martini und fiel Henry durch ihre unvermutete

Schweigsamkeit auf. Sie erinnerte ihn an eine Vase, deren Inhalt plötzlich

ausgegossen war, hübsch und leer. Er beobachtete sie. An ihr schienen die

glibberigen Geschichten von Nachtmenschen mit den besonderen Passionen

zu kleben, Nichtigkeiten vergangener Partys, schlüpfrige Witzen, fröhliche

Erzählungen eines Causeurs. Und nun war nur Schweigen mit einem

tieftraurigen Blick. Aus der Musikbox an der Stirnseite des Clubs

erschallten Schlager mit süßlichen Refrains, sie ermüdeten mehr, als sie

Henry beschwingten. Die mit dicken Stoffen bespannten Wände dämpften

die Unterhaltungen zu Gemurmel, die Schlager sickerten in die Ohren und

hinterließen ein wohliges Nichts. Dicker Zigarrenqualm waberte in zähen

Wolken, getragen durch den zittrigen Schein der Kerzen, durch den

niedrigen Raum. Henry erblickte einen Kellner, der seinen Kopf in eine

Hand gebettet hielt und vor sich hin döste.

Dora stieß einen tiefen Seufzer aus, so als lasteten schwere Gewichte auf

ihr. Sie sehnte sich nach Henrys Arm und Schulter. Gefühllos stellte er fest,

dass sie leise weinte. Er küsste sie ohne Leidenschaft auf den Mund. Fast

war es so, als sträubte sich etwas in ihm gegen diese Zärtlichkeit, und er

wusste nicht warum. Trotzdem legte er seine Hand auf ihr Knie, es war kalt.

Sie nagte an seinem Ohr, es kitzelte, und er fühlte eine Träne an seinem

Hals. Langsam erwachte bei Henry, automatisch, männliches Leben. Er

fand den Mut ihre Brüste zu berühren, über den flachen, seltsam

muskulösen Bauch, zu streicheln, bis seine Hand tiefer rutschte. Doras

Rock gab leicht die Stelle frei, die die Männer in Verzückung versetzt.

Immer weiter tastete er sich vor, bis er schließlich die Schambehaarung

erreichte. Er keuchte sanft. Doch auf einmal traf es ihn wie ein Blitz, taghell

113
wurde es um ihn. Etwas, das er nie vermutet hätte, ließ ihn erstarren. Er

hatte ein Stück Fleisch in der Hand. Er wich entsetzt zurück, hatte er doch

einen lebendigen Männerschwanz berührt. Seinen Lippen entsprang ein

Schrei. Die anderen Gäste blickten erschrocken auf, kümmerten sich aber

nach der Schrecksekunde wieder um sich selbst.

„Du bist ja gar keine Frau“, stotterte er.

„Sie ist keine Frau!“, wiederholte er, als spräche er mit einem dritten Gast

am Tisch.

Mit dem ersten Bus, den er erreichen konnte, und dessen Ziel ihm

gleichgültig war, entfernte er sich. Lösgelöst von seiner Umgebung saß er

im Bus mit den ersten Berufstätigen an diesem Donnerstag. Das Dröhnen

des Motors und das Husten der Fahrgäste erreichte ihn nicht. Er schaute

stumm aus dem beschlagenen Busfenster hinaus auf die Straße. Verloren.

Etwas war in ihm zerbrochen, er spürte es ganz deutlich.

‚Die Frau, die keine ist, Arno, der Lump, Helen, ja, was ist mit Helen,

Hollaender, der Exkulpator, und ich, was ist mit mir? Wer bin ich, und was

tue ich? Was geschieht mit mir?’ Hilflos saß er auf seinem Platz und

beobachtete wie die Leute ihr Tagwerk begannen. Er sah sich davon treiben

und wie ein Ertrinkender wild mit den Armen rudern. Nichts hatte mehr

etwas mit ihm zu tun. Niemand warf ihm einen Rettungsring zu, an dem er

sich hätte festklammern können. Und als er nachhause kam war es bereits

hell; die Morgensonne begrüßte freundlich und frisch die Stadt und

durchstach die bläuliche Decke des Morgennebels. Das letzte, was Henry an

diesem Morgen vor dem Einschlafen sah, war der in der Ferne glühende

Funkturm im Osten der Stadt. Er träumte von Dora, die in seinem Traum

114
Stefan hieß, und als Transsexuelle in ein gefürchtetes Männergefängnis

eingeliefert worden war, weil sie gestohlen und gelogen hatte und

Menschen verführt. Dort quälten sie Stefan mit glühenden Eisen, zerstachen

ihm die Fußsohlen und peitschten ihn blutig.

Alfred Hollaender lag mit im Nacken verschränkten Armen auf seinem

Sofa, starrte zur Decke und dachte nach. Er haderte mit seiner getroffenen

Entscheidung, Henry seine Geschichten zu erzählen. Er erinnerte sich an

das Versprechen, das er vor Paul abgelegt hatte.

‚Wohin führt das, wenn ich weiter mein Leben von hinten aufrolle vor

diesem jungen Mann?’, fragte er sich. ‚Wie konnte es geschehen? Ich werde

es zuende bringen, es ist meine Geschichte, mein Leben, das ich diesem

Tunichtgut offenbare, was auch immer mich dazu verleitet hat. ‚Ich habe

keine Zukunft, das wird es sein. Der Weg der vor mir liegt, ist deutlich

kürzer, als die Strecke, die ich hinter mich gebracht habe’.

Er erhob sich vom Sofa, kochte sich eine Tasse Tee, blätterte ohne wirklich

am Geschehen in der Welt interessiert zu sein, in der Zeitung. Dann verließ

er seine Wohnung und stöhnte wieder über die einhundertzwanzig Stufen

bis auf die Straße hinaus. Am Abend betrat er, nachdem er seine

Erledigungen verricht hatte und auch beim Arzt vorgesprochen hatte, das

Restaurant Rosen. Wie gewöhnlich grüßte er mit einem Lächeln und einer

Verbeugung den Wirt und die täglichen Gäste, bestellte seinen

Lieblingswein und das Tagesmenü.

Er war einige Tage nicht hier gewesen und glaubte nun, den jungen Henry

zu treffen, um ihre gemeinsame Angelegenheit zum Ende zu führen.

Hollaenders Beschreibungen, die sich in langen Monologen ergossen,

115
warfen rätselhafte Schatten und machten die Vergangenheit lebendiger, als

ihm lieb war. Die Vergangenheit war eine langsam wirkende Krankheit, die

Hollaenders und Henrys Seele vergiftete. Je tiefer Hollaender in den

Abgründen seines Lebens wühlte und grauenvolles zutage förderte, um es

Henry zu servieren, desto gewaltiger bahnte sich sein Hass den Weg zurück

in sein Leben, das er eigentlich für befriedet glaubte. Vorwelt in den Sarg,

Deckel und Erde drauf, und erledigt war die Sache, so lebte er. Und so

erzählte er weiter und saß auf dem Floß auf dem Strom der Vergangenheit,

und hoffte, irgendwann und irgendwo in einem friedlichen Hafen

anzulegen.

An dem Nebentisch entdeckte er eine junge Frau, die Rosa, seiner Rosa, auf

frappierende Weise glich. Er drehte mit Daumen und Zeigefinger am Stiel

seines Glases, so dass sich kleine, sich kräuselnde Wellen bildeten.

Versonnen schaute er auf die Wellen, aus denen sich das Antlitz Rosas

formte. Ein ovales, fein und zart geschnittenes Gesicht mit vollen Lippen,

die er heftig begehrt hatte. Leicht nach vorn gebeugt stellte er das Glas

wieder vor sich, die Hände trugen seinen Kopf, er blickte unbeweglich ins

Glas, der Wein hatte sich beruhigt und schimmerte glatt. Vor seinen Augen

erstand die alte Welt, Stein für Stein, und zerfiel wieder zu Staub und aus

den Strukturen des Staubes erhoben sich Frau und Kind.

Hollaender hatte Henry in seiner Versonnenheit nicht bemerkt. Der hatte

ihn aber schon eine Zeitlang im Auge, getraute sich jedoch nicht an den

Tisch zu treten, aus Angst, den Alten womöglich zu verärgern. Dann

näherte er sich Hollaenders Platz mit einer Mischung aus Demut und

Zurückhaltung. Er fragte sogar, ob er störe.

116
„Es ist fast wie am ersten Abend“, sagte Hollaender zur Begrüßung.

„Setzen sie sich“.

In den vergangenen Wochen saßen die beiden oft zusammen. Heute jedoch

schien alles anders. Henrys frühere Unbefangenheit war verflogen,

verscheucht von Hollaenders grimmiger Kälte, die jetzt hervortrat und den

jungen Mann erschaudern ließ.

„Sehen sie die junge Frau dort drüben?“, fragte Hollaender und wies mit

einem Kopfnicken in ihre Richtung.

„Diese Frau gleicht meiner ersten Frau Frieda in so schamloser Art, dass ich

wütend bin“, fuhr er fort.

„Sagen sie nichts, junger Mann. Ich möchte nicht mehr von Rosa reden, und

auch nicht mehr von Frieda, nie mehr. Aber ich will unsere Angelegenheit

zum Schluss bringen. Wie käme ich dazu, nur die Hälfte meines Lebens zu

erzählen. Ich werde nun ...“

„Einen Augenblick bitte“, unterbrach Henry.

„Was meinen sie mit Angelegenheit?“ Und kleinlaut fügte er hinzu, dass er

zu keinem Zeitpunkt um privaten Geschichtsunterricht gebeten hatte. Er

habe auch niemals verlangt, dass ihm ein fremdes Herz ausgeschüttet

werde.

Hollaender wischte den Einwand barsch zur Seite und sprach ungerührt

weiter.

„Wo waren wir stehen geblieben?“, fragte er mit junger,

unternehmungslustiger Stimme. Er wartete die Antwort auf seine Frage

nicht ab, sondern begann mit einer kurzen Zusammenfassung dessen,

wovon er glaubte bereits berichtet zu haben. Er konnte sich nur unscharf

erinnern, was er erzählt hatte.

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„Von Tauritz an der Grenze fuhr ich zunächst mit einem Fuhrwerk und

später mit einem klapprigen Lastwagen, sie können sich gar nicht

vorstellen, mit welchen Fahrzeugen die Leute damals überall unterwegs

waren, bis nach Bautzen. Dort übernachtete ich in einer Scheune, bis mich

der Bauer unter wüsten Beschimpfungen davon jagte. Nach Senftenberg

marschierte ich zu Fuß. Über Lübben erreichte ich endlich Schönefeld und

roch die Heimat schon, obzwar sie nach verbrannter Erde stank und nichts

Heimatliches hatte. Seltsamerweise blieb die Freude oder gar Glücksgefühl

aus. Heimat, was bedeutet schon Heimat? Wie viel Heimat passt in einen

Menschen?, dachte ich mir, als ich Berlin immer näher kam. Beklemmung

erfasst mich, anstelle Freude.

Die Vorfreude dauert von alle Freuden am kürzesten, nicht wahr junger

Mann?

Ich fühlte mich abgestoßen und anzogen gleichermaßen, zwei Kräfte rissen

an mir. Die Heimat glänzt im Schimmer der Einzigartigkeit, ist aber auch

eine matte Vorahnung sich bald einstellenden Überdrusses. So marschierte

ich mit Kopfschmerzen und wunden Füßen in meine Heimatstadt ein, nach

mehr als drei Jahren.

Früher, vor dem Krieg, wenn ich nach einer Reise wieder nach Hause kam,

überkam mich stets ein wohliger, heimeliger Schauer, den ich im Bauch

und auf dem Rücken spürte. Nun aber war nichts, außer Trümmer, Schutt,

verzweifelte Menschen, Kinder so alt wie ihre Eltern.....“

Beim Erzählen ließ Hollaender seinen Zuhörer nicht aus den Augen. In

Henrys Gesicht erkannte er Ratlosigkeit. Das erfüllte ihn mit teuflischer

Freude. Wilder Zorn, der von dem lammfrommen Jüngling stets von

118
Neuem entfacht wurde, rauchte zwischen seinen Sätzen. Die Kraft und

Entschlossenheit, die der Alte plötzlich an den Tag legte, entzog er dem

Jungen. Henry ahnte das Verderben, das in Hollaender lauerte, und

versuchte zu entfliehen oder wenigstens einen Schutzwall zwischen sich

und dem Alten zu errichten. Hollaender sprengte den Wall ein ums andere

Mal in Stücke. Henry verlor sich in einem Labyrinth an Zweifel, Unglauben

und Schuld: Ja, der Alte hatte ihn schuldig gesprochen. Aus Verlegenheit

wurde Angst, aus Zweifel Schuld, alles lastete auf seinen Schultern dabei er

hatte gar nichts getan, außer jung und unbeteiligt zu sein.

Paul Gertz konnte seine Schwester Ilse kurz vor seiner Verhaftung nach

Kladow in Sicherheit bringen. Aber nach 1941 wurde die Lage immer

unübersichtlicher und gefährlicher. Die Meldungen von den Fronten

widersprachen sich. Die Freunde, bei denen sie untergekommen war,

entschlossen sich schon wenig später aus Angst vor den Russen nach dem

Westen zu ziehen. Dort, im Ruhrgebiet, hätten sie Verwandte, einen Vetter,

hieß es. Ilse mussten sie zurück lassen. Auf Vermittlung des Pfarrers kam

sie bei einer Kossattenfamilie unter, die eine billige Magd gut gebrauchen

konnte. Man gab ihr in den ersten Tagen ein Lager im Stall, bis sie

schließlich in eine Kammer im Haus umziehen konnte. Sie hatte den

Kohlgarten zu pflegen, Schweine und Hühner zu füttern und der Bäuerin

zur Hand zu gehen. Am Abend las sie den beiden Kindern Märchen vor, bis

sie neben ihr eingeschlafen waren. Das Hofgelände durfte sie nicht

verlassen. Die Gefahr war zu groß, dass man sie entdeckt und denunziert

hätte. So lebte sie in einer Art beschützender Leibeigenschaft. Sie hatte zu

essen, eine Kammer mit gemütlicher Schlafstelle und im Winter glühten die

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beiden Öfen im Haus, so dass es warm war wie im Mutterschoß. Tagein,

tagaus mühte sie sich ab und erreichte eine Sonderform des Glückes. Sie

dankte täglich dem Schöpfer für ihre Rettung und ihr Überleben, nach dem

Gebet freilich schluchzte sie vor Verzweifelung das Kopfkissen nass. In

dieser Zeit schlugen in Ilses Brust drei Herzen: das Bauernherz, das

Flüchtlingsherz und das Künstlerherz.

Ilse war zur Bäuerin geworden, ihre beiden anderen Herzen hatten eins nach

dem anderen aufgehört zu schlagen. Manchmal betrachtete sie sich ihre

Hände und staunte, wie sie sich verändert hatten. Früher arbeitete sie als

Sekretärin beim Arbeiterfürsorgeamt einer jüdischen Organisation, schrieb

in ihrer Freizeit Gedichte, besuchte Konzerte mit ihren Freundinnen. Sie

spielte sogar mit großer Hingabe und Begabung Klavier. Sie lebte das

beneidenswerte Leben eines Berliner Mädchens. Sie war glücklich, ohne

Neigung zu Überschwänglichkeit. Sie liebte ihre eigene Bescheidenheit und

Zurückhaltung, was ihren Bruder Paul zuweilen zum Reißen derber Scherze

verleitete: “ Du bekommst nie einen Kavalier ab, so dass ich mich bis zu

unserm Ende um dich kümmern muss“. Der Krieg hatte Pauls scherzhaften

Worten eine traurige Wirklichkeit beschert.

Sie hatte sich mit ihrem Leben abgefunden, ihre Bescheidenheit half ihr

dabei und sie haderte nicht mit ihrem Schicksal. Die Unendlichkeit des

Krieges, also auch die nicht endende Existenz als Bauernmagd stand für sie

fest. Ilse war so fest davon überzeugt, dass ihr niemals in den Sinn

gekommen wäre, ihr Dasein könnte von einem glücklichern abgelöst

werden. Und jetzt? Die waren Hände schwielig geworden, die Füße spröde

und rau, sie steckten in schlechtem Schuhwerk. Ihr Gesicht blieb auch in

den Sommern grau und glanzlos, als hätte die Sonne das jüdische Mädchen

120
im Stall vergessen. Die gute Bäuerin sprach mit ihr. Oft nahm sie ihre Magd

an die Hand und wollte sie aufheitern, wenn sie annahm, dass das Mädchen

eines Trostes bedürfe. Ilse jedoch, in aller Bescheidenheit, glaubte fest

daran, dass ihre Wehmut als Undank verstanden würde. Sie setzte ein

bitteres Lächeln auf. Gutmütig, aber ohne Verständnis schüttelte die

Bäuerin den Kopf, stand auf, zuckte mit den Schultern und scheuchte mit

ihren kurzen, tüchtigen Armen die Hühner in den Stall.

Alfred Hollaender hatte sich einen Besitz bewahrt: ein ledernes Mäppchen,

in dem die Adresse von Ilse steckte. Paul hatte sie ihm im Hause der

polnischen Bauersfrau gegeben. Er machte sich auf nach Kladow, das er

von früher noch kannte. Halb Berlin tummelte sich im Sommer an den

Strandbädern und in den Ausflugslokalen. Kleine Segelboote kreuzten die

Routen der Fähren, die zwischen Kladow und Wannsee pendelten. Unter

der angegebenen Adresse fand er das Haus, in dem Paul seine Schwester

versteckt hatte. Es befand sich in der Ortsmitte. Hollaender klopfte sich den

Schmutz von Jacke und Hose, strich sich durchs Haar und pochte an die

Tür. Es öffnete ihm ein Mann mit freundlichem Gesicht, vielleicht 40 Jahre

alt. Seine Hände zitterten und sein Gesicht wurde durch heftiges Zucken

entstellt.

„Ich suche eine junge Frau mit Namen Ilse Gertz. Sie ist im Krieg hier

eingezogen“, sagte Hollaender.

„Davon weiß ich nichts“, erwiderte der Mann, dessen Kopf von den

Zuckungen ständig herum gerissen wurde, „denn meine Frau und ich leben

erst seit wenigen Monaten hier. Das Haus hat man uns zugewiesen, wir

wurden ausgebombt“.

121
Aus dem Hausflur hörte Hollaender eine Frauenstimme plärren: “Was ist da

vorne los, Helmut?“ Der Mann drehte sich um: “Nichts, gar nichts, mach’

weiter!“

„Von den Nachbarn haben wir jedoch mal gehört, dass die Leute, die vorher

hier gelebt hatten, in den Westen gezogen sind. Von einer jungen Frau war

nicht die Rede. Versuchen sie es mal dort drüben in dem Gasthaus, die

wissen Bescheid“, sein Kopf wackelte noch einmal, er versuchte zum

Abschied zu lächeln, dann schloss er die Tür hinter sich.

Hollaender dankte, zog seinen Hut und wechselte schräg über die Straße.

An der im äußersten Südwesten der Hauptstadt gelegenen Ortschaft Kladow

marschierte der Krieg vorbei. Zwei Bomben fielen, erzählte die Wirtin. „Im

bitterkalten Januar 1944 starben in einem Haus zwei Ehepaare“, Edwin und

Magda Schwarz und Pauline und Oskar Fischer wurden von ihren eigenen

vier Wänden erschlagen. Stellen sie sich das mal vor. Von den eigenen

Wänden!“, wiederholte sie.

„Direkt hinter unserem Garten liegt der Friedhof, dort haben wir sie

beigesetzt“.

Die Wirtin schien in Trauer zu sein, denn sie trug einen schwarzen Rock,

eine schwarze Bluse und darüber eine mit verschieden großen Quadraten

gemusterte, blau-graue Schürze. Nachdem sie am Anfang so munter drauf

los geplaudert hatte, wie es Wirtsleute eben so tun, verfiel sie jetzt in ein

Schweigen, das Hollaender nicht verstand. „Ist ihnen nicht gut, erkundigte

er sich höflich?“

„Es ist alles in Ordnung, danke der Nachfrage. Aber immer, wenn ich an

unser Toten denke...“. An dieser Stelle brach sie ab.

122
„Magda und Pauline waren meine Schwestern. Wir mussten ihre

zerschmetterten Körper aus den Trümmern bergen. Ich bin ...“. Wieder hielt

sie inne. Sie eilte in die Küche und kam bald danach wieder heraus.

„Bei uns ist nicht viel los. Da bin ich froh, wenn mal einer kommt, mit dem

ich mich unterhalten kann, aber immer wieder, gleich was ich erzähle,

komme ich auf das schlimme Unglück vom Januar 1944 zu sprechen. Der

Krieg forderte für mich zwei Tote, verstehen sie. Um alle anderen kann ich

nicht trauern, zwei Tote, das reicht, das ist genug Kummer. Das reicht für

ein Leben“. Dann lief sie wieder in die Küche und förderte aus ihrer

Schürzentasche zwei zerknitterte Fotografien, die sie Hollaender zeigte.

Während er die Personen auf den Bildern begutachtete, redete die Wirtin

weiter.

„Für wenige Tage waren die Russen bei uns“, fuhr sie fort, „dann nisteten

sich die Engländer ein. Die hatten es auf den Flugplatz Gatow

abgesehen...aber das wollten sie ja alles gar nicht wissen, nicht wahr. Nach

welcher Person hatten sie mich noch mal gefragt?“

„Ich erkundigte mich nach einem jungen Mädchen, Ilse Gertz, die

irgendwann im Jahre 1941 hier gekommen ist“, sagte Hollaender.

„Ja, richtig, die Ilse kenne ich“. Sie zapfte ihm ein Bier. Hollaender lehnte

verlegen ab. „Ich hab’ leider kein Geld“.

„Ach, stellen sie sich nicht so an, trinken sie, das geht auf’s Haus“. Sie

schwatzte weiter und so erfuhr Hollaender, ohne noch weitere Fragen zu

stellen, dass Ilse im Dorf nur als unsichtbare Neubürgerin bekannt war.

Anfänglich redeten die Leute noch über sie, bis schließlich das Interesse an

ihrer Existenz nachließ.

123
„Das junge Mädchen lebte nach seiner Ankunft in dem Haus dort drüben“,

die Wirtin wies mit dem Finger aus dem Fenster, „dann ging sie zur

Bauernfamilie Fechtner, aber wie das zustande gekommen ist, das dürfen

sie mich nicht fragen. Auf jeden Fall, das kann ich schwören, sind die

Fechtners brave und fleißige Leute, die ihren Hof anständig bewirtschaften.

Aber sagen sie, was wollen sie denn von den Leuten? Möchten sie noch ein

Glas?“, fragte die Wirtin..

„Oh, nein, ich bin den Alkohol nicht mehr gewöhnt“, sagte Hollaender.

„Ja, ich sehe schon, sie waren in der Gefangenschaft. Man hat sie früh

entlassen, nicht wahr.“ Hollaender überging diese Bemerkung.

„Das ist schnell erzählt“, begann er seine Absicht zu erklären.

„Die Ilse ist die jüngere Schwester eines Freundes und ich habe ihm,

sozusagen auf dem Totenbett, versprochen, mich um seine Schwester zu

kümmern“.

„Das ist ein feiner Zug, in diesen schlimmen Zeiten, wo jeder nur an sich

denkt“, lobte die Wirtin. Hollaender nickte.

„Ach, bitteschön, gnädige Frau, ich habe ganz vergessen zu fragen, wo ich

die Familie Fechtner finden kann“.

„Ach ja, natürlich“. Sie erklärte ihm sehr wortreich den Weg. Hollaender

bedankte sich und verließ den Gasthof.

Die Frau schob die Gardine zurück und sah ihren Gast um die Ecke biegen.

Hollaender entfernte sich mit großen Schritten und ging auf der langen,

geraden Dorfstraße, die bis nach Potsdam führte. ’Irgendwann sollte ein

Abzweig kommen’, zeichnete er die beschriebene Strecke gedanklich nach.

Knorrige Linden wuchsen in ungleichen Abständen am Straßenrand und

124
trennten die Straße von den umliegenden Feldern. Hollaender hatte seinen

schäbigen Hut ins Genick geschoben, die zu langen Hosenbeine

umgeschlagen, das Jackett flatterte um seinen dünnen Leib wie um seinen

Besenstiel; er sah aus wie eine Vogelscheuche. Viele Vogelscheuchen

schlichen zu jener Zeit durch die Städte und Dörfer. Hätte man alle nach

ihrem Schicksal befragt, jedes Mal hätte man Zerberus getroffen. Am Ende

der eintönigen Straße bog er in den beschriebenen Feldweg ein und nach

einigen hundert Metern erreichte er das Bauernhaus, das sich in eine Mulde

duckte und mit niedrigen, zerzausten Buchenhecken umwachsen war. Das

mit roten Ziegeln gedeckte Dach grüßte ihn von weitem. Es war mit

rostigen Blechen und Ölpappe ausgebessert und sah aus der Nähe aus wie

ein Flickenteppich. Der Hofhund kündigte ihn mit seinem Bellen an.

Hollaender freute sich über einen frischen Strauß Feldblumen, der in einer

Vase auf dem niedrigen Fensterbrett steckte. Daneben lag eine kalte Pfeife

mit zerbissenem Mundstück. Eine Katze streifte zutraulich um seine Beine.

Der Hund hatte das Bellen eingestellt, irgendwo hinter den Hecken lachten

Kinder.

Er fragte sich auf dem Weg zu dieser Kate, zu Ilse, immer wieder, wie er

ihr begegnen solle. Variantenreich hatte er sich Begrüßungsformeln laut

aufgesagt, wie Gedichte rezitiert. Manche hatte er als angemessen

empfunden, andere als zu vertraulich oder zu gewöhnlich wieder verworfen,

so zum Beispiel : “Hallo Ilse, wie geht’s?“. Er spielte verschiedene

Prononcierungen und Stimmlagen durch, bis er unzufrieden aufgab. Da

seine Trockenübungen nichts erbrachten, entschloss er sich, sich der

Intuition hinzugeben in der Hoffnung, dass ihm schon das Passende

einfallen werde. Die Aufgabe, vor der er stand, war nicht einfach. Er musste

125
ihr den Tod des geliebten Bruders berichten und sich zugleich als dessen

Vertreter und künftiger Beschützer präsentieren. Daher war es notwenig,

von Anfang an die richtigen Worte zu finden. Wie sollte er einer Frau, die

er noch nie in seinem Leben gesehen hatte, deren Bild sich ausschließlich

aus den vagen Beschreibungen seines Fluchtkameraden zusammensetzte,

begegnen? Besteht nicht die Gefahr mit dem ersten falschen Wort oder

einer falschen Geste alles zu zerstören? Zu welchem Zeitpunkt sollte er ihr

vom Schicksal ihres Bruders berichten? Sollte er sich der durchaus

verwerflichen Hoffnung hingeben, dass sie ihm, in Tränen aufgelöst, in die

Arme sinken würde, um schluchzend Trost an seiner Brust zu finden? Sollte

er gar Pauls Tod verschweigen? Wie sollte er alsdann erklären, sie

gefunden zu haben? Warum sollte er sie dann überhaupt gesucht haben?

Während er unschlüssig herumstand und die Fragen in seinem Gehirn

hämmerten, hatte sich die Katze mit erhobenem Schwanz davon gemacht.

Er kramte hervor, was von Pauls Beschreibungen seiner Schwester noch

übrig geblieben war. Es entstand die ungenaue Skizze eines Mädchens mit

dunkelblonden Haaren (oder waren sie braun?), schlankem bis zierlichem

Körperbau, etwa so groß. Er hielt seine Hand in Schulterhöhe, um sich die

Größe zu verdeutlichen. ‚Nein’, entschied er, so gab es kein Fortkommen.

‚Ich sollte einfach an die Türe klopfen und abwarten, was dann passiert’,

sagte er zornig zu sich. Er klopfte. Das Herz schlug wild in seiner Brust.

Die Tür öffnete sich und Hollaender sah in das Geicht einer Frau, deren

Alter er nicht einschätzen konnte. Für einen Atemzug erschrak er, weil er

sich bereits Ilse gegenüber wähnte, und setzte seinen Schritt zurück. Die

Frau trug ein im Nacken geknotetes Kopftuch, ein farbloses Kleid und eine

Schürze, sie war barfuss.

126
„Guten Tag, entschuldigen sie, ich bin auf der Suche nach einer jungen

Frau mit Namen Ilse Gertz. Die Wirtin im Dorf sagte mir, dass sich sie hier

finden könne“.

„Sie steht vor ihnen“, erwiderte sie knapp.

„Ich bin Ilse Gertz, wir kaufen nichts, und wir geben auch nichts, denn wir

haben nichts“, fuhr sie nüchtern fort.

„Nein, nein. Ich will nichts verkaufen. Sieht so jemand aus, der etwas zu

verkaufen hat?“, sagte Hollaender und zeigte mit dem Daumen auf sich.

„Sie sehen aus, als wollten sie betteln“, gab Ilse zurück.

„Nein, auch das nicht. Es ist so...“, begann er stotternd, „ich habe

Nachrichten von ihrem Bruder Paul...“, Hollaender wusste nicht mehr

weiter. Alles, was er sich zuvor zurecht formuliert hatte, kehrte sich von

ihm ab. Er fühlte sich so nackt wie vor dem sowjetischen Offizier. Dann

merkte er, dass er vergessen hatte, seinen verbeulten, staubigen Hut vom

Kopf zu nehmen. Schnell schnappte er ihn sich.

„Nun sagen sie schon, was sie wollen“. Ilse wurde ungeduldig.

„Also“, startete er einen neuen Versuch intelligenter Kontaktaufnahme, „ihr

Bruder, der Paul, und ich, wir sind, äh, wir waren Kameraden auf der

Flucht. Wir entkamen während der Evakuierung des Lagers mit den letzten

Insassen. Man sagte, wir sollten in einem anderen Lager zur Arbeit

eingesetzt werden. Das glaubten wir aber nicht, das glaubte kein Mensch.

Wir schlugen uns bei Eis und Schnee durch bis zu einem Bauernhaus,

dieses verfluchte Bauernhaus, ich weiß nicht genau, wo es sich befand, in

Polen, bestimmt in Polen, dann hat uns die Bäuerin verraten, aber

womöglich bildeten wir uns das alles nur ein, weil wir ja vollkommen

ausgehungert und durcheinander und halb erfroren waren, es kann sein,

127
dass die Bäuerin es überhaupt nicht böse mit uns gemeint hatte, vielleicht

wollte sie nur Hilfe holen, wir verstanden zu wenig von der Sprache,

Missverständnisse, plötzlich kam der Polizist, wir gerieten in fürchterliche

Panik...“.

Hollaender eilte wie von einer Hundemeute gehetzt durch die Erinnerungen

an die Flucht.

„Paul ist tot“, stellte Ilse fest, ohne eine Regung zu verraten.

„Und sie waren sein Freund, sagen sie?“

„Ja, er war alles, was ich damals hatte, verstehen sie, wir waren Bruder,

Freund und Geheimbündler in einer Person. Wir gehörten zur geheimen

Brudergemeinschaft der Überlebenden. Gott mag weise sein, aber er ist

ohne Gnade, in diesem Glauben haben wir uns verschworen“.

„Kommen sie herein. Der Bauer und die Bäuerin sind im Dorf, ich

beaufsichtige die Kinder, den Ernst und den Hans. Es sind liebe Kinder, ich

habe nicht viel Arbeit mit ihnen. Die Wohnung war einfach, aber sauber

und praktisch eingerichtet. In der Mitte stand ein runder Ofen, dessen Rohr

quer durch das Zimmer in den Kamin führte. In einer Ecke befand sich eine

mächtige Truhe, daneben eine lange Bank, auf der Kissen ordentlich

drapiert lagen. Um den Tisch vor dem Fenster waren sechs Stühle gerückt,

darauf eine Schale mit Früchten aus dem Garten. Kreuz und quer durch den

Raum spannte sich die Wäscheleine, an der wenige feuchte Lappen zum

trocknen hingen.

Hollaender vermutete, dass die Sauberkeit und freundliche Ordnung aller

Dinge, die er wahrnahm, dem opferbereiten Fleiß von Ilse zu verdanken

war. Selbst die Fliegen, die unerbittlichen Begleiter aller Bauern,

unterwarfen sich der Ordnung und störten ihn nicht.

128
‚In dieser blitzblanken Stube werden die summenden Viecher nichts zum

Futtern finden’, dachte er.

Ilse machte sich an der Anrichte zu schaffen. Sie hatte Hollaender den

Rücken zu gekehrt.

„Sie haben bestimmt Hunger“, sagte sie ohne sich umzudrehen. Ich kann

ihnen frische Milch, sie ist noch lauwarm, Brot, Kartoffelsuppe und Speck

anbieten“.

„Machen sie sich doch bitte keine Mühe. Ich gehe später wieder zurück ins

Dorf, dort kann ich im Wirtshaus essen“, log er.

„So wie sie aussehen“, sagte sie mitleidig, „haben sie großen Kohldampf

und keinen Pfennig in der Tasche“.

Hollaender schämte sich. Er aß mit der Gier eines Mannes, der sehr lange

Zeit kein Obdach, geschweige denn Komfort genossen hatte. Ilse setzte sich

zu ihm an den Tisch und schaute ihm zu. Nachdem er alle Teller und

Schalen geleert hatte, brachte sie ihm wortlos noch einen Nachschlag. Er

verzehrte das Essen wie ein hungriger Wolf, der in seiner Wildheit alles

frisst, was ihm hinhält. Er spürte wie die Nahrung in ihn eindrang, wie die

Milch, das Brot, die Suppe und der Speck ihn anfüllte, ja zu verstopfen

drohte.

„Einmal in der Woche machen sich die Fechtners auf den Weg ins Dorf“,

unterbrach Ilse sein Schmatzen. „Wenn sie zurück sind, werde ich sie ihnen

vorstellen“.

„Ja, ist gut“, sagte er ohne aufzuschauen.

Hollaender wunderte sich, dass Ilse die Nachricht vom Tode ihres Bruders

augenscheinlich gefühllos aufgenommen hatte. Er maß dem jedoch keine

allzu große Bedeutung bei. Bauer Fechtner war ein wortkarger, strenger

129
Mann. Die buschigen Augenbrauen unter seiner flachen Stirn verschatteten

seine tief liegenden Augen. Hin und wieder blitzten sie auf. Wenn er sich

ärgerte, wütend war oder sich freute funkelten sie wie Diamanten.

Ansonsten verrieten die Augen keine Regung. Seine Hände ruhten gefaltet

auf der Tischplatte, wie Werkzeuge, die an Feiertagen akkurat auf der

Werkbank ausgerichtet auf ihren Arbeiter warteten. Seine Frau redete,

erfolgte ihr schweigend. Ilse hatte die Bauern und Hollaender miteinander

bekannt gemacht und erzählte nun seine Geschichte. Jedoch verheimlichte

sie seine Lagerhaft. Hollaender ließ sie gewähren, nickte ab und zu und

verfolgte die Schilderung, als sei es nicht die seiner Vergangenheit. Ilse

befürchtete, dass die Bauern den Eindruck schöpfen könnten, Hollaender

sei ein Verbrecher, und aus diesem Grund ins Lager gesteckt worden. Sie

improvisierte und wirkte so sicher und wortgewandt, als erzähle sie ihre

eigene Geschichte. Hollaender intervenierte auch nicht, als sie ihm ein

heldenhaftes Soldatenleben andichtete. Es gefiel ihm sogar, manchmal

schmunzelte er unmerklich. Frau Fechtner, deren Gemüt so unschuldig und

rosa wie ihre Gesichtsfarbe war, die beim Hühnerschlachten nicht zusehen

konnte und die fürsorglich ihre Familie umsorgte und liebte, ging zur Tür

und schaute nach den Kindern, die auf den Kastanienbaum geklettert waren.

Als sie zurück am Tisch war, sah Hollaender, dass ihre Augen in Tränen

schwammen. Mit dem Schürzenzipfel wischte sie sie weg.

„Ach Mutter“, sagte der Bauer mit brummiger Stimme, „du kannst doch

nicht um jeden Soldaten weinen“.

An die beiden jungen Leute gewandt teilte er mit, und er hörte sich so an,

als hätte er lange mit der Entscheidung gerungen, nun aber um so fester in

der Überzeugung war:“ Wenn ihr wollt, könnt ihr bei uns wohnen. Es gibt

130
viel zu tun auf einem Hof. Der Schuppen muss in Ordnung gebracht

werden, es regnet hinein. Der junge Soldat kann mit mir aufs Feld hinaus

fahren und mir helfen, dass ich mich nicht immer alleine plagen muss wie

ein Ackergaul. Ilse hat ja ihre Arbeit, nicht wahr Mutter“.

Es war Sonntag. In den kräftigen Strahlen der Sonne, die das Fenster

durchdrangen, tanzten die Staubkörner. Dicht gebündelt erhellten ihre

goldenen Arme das Zimmer und streichelten Inges Rücken. In dürrer

Nacktheit räkelte sie sich vor Hollaender, ihr Nachthemd war ihr über die

Schulter gerutscht; der Morgen hatte sie noch nicht geweckt. Vom Dorf her

wehte gedämpft das sonntägliche Glockengeläut und der hoher Klang

erinnerte an das Lachen von Kindern beim Spielen. Die Glocken riefen die

Gläubigen zum Gottesdienst. Hollaender erzählte den Bauersleuten, dass er

zu jenen Menschen gehöre, die den Glauben nie gelernt hätten. „Wissen

sie“, sagte er ungeniert, „mein Glaube war der Führer und Deutschland“.

Ilse lebte die Jahre bei Fechtners als eifrige Christin, empfing die heiligen

Sakramente und nahm mit ihrer neuen Familie am gemeindlichen,

evangelischen Leben teil. Sie war den Bauern wie eine Tochter geworden.

Während die Familie im Sonntagsstaat zusammen mit Ilse zur Kirche ging,

lag er auf seinem Bett und blickte hinaus in den verführerisch schönen

Morgen. Zum ersten Mal, seit das Schicksal ihm als finstere,

unbarmherzige Macht begegnete, streifte ihn der Saum des Glücks. Er

lächelte vor sich hin und war voller Zuversicht. Das Leben hatte ihn wieder

aufgenommen.

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Die Monate verstrichen. Sommer und Herbst gingen über das Land und

Hollaender arbeitete hart, oft bis zur Erschöpfung. Er stellte sich nicht

immer geschickt an, so dass der Bauer zuweilen murrte und schimpfte und

dabei die Augenbrauen hochzog, als deutliches Zeichen seiner

Verstimmung, aber er lobte auch den Fleiß und die Beharrlichkeit seines

Knechtes. Der unbeugsame Wille, den er im Lager entwickelte, half ihm

auch jetzt. Er feilte unablässig an seinen Fertigkeiten und wurde bald zu

einem wertvollen Arbeiter.

Die Abende verbrachte die Familie beim gemeinsamen Essen, man sprach

über die Arbeit des Tages, und wenn die Kinder im Bett waren, tranken der

Bauer und Hollaender zusammen Bier und rauchten.

Die Bäuerin hatte von Anfang an darauf bestanden, dass in der Kammer der

jungen Leute ein Vorhang das Zimmer teilen müsste. Der Einfall stammte

eigentlich von Hollaender, der sich damit die Zufriedenheit aller im Hause

erschleichen wollte. Die Aussicht im Stall zu schlafen war ihm nämlich ein

Graus. Ein eigenes Zimmer für ihn stand nicht zur Verfügung, so dass er

eine Schlafstelle in Ilses Zimmer erwog, sehr zum Verdruss der Bäuerin.

Nach ihrem Willen sollte dieses Antependium zumindest den Schein von

Wohlanständigkeit bewahren. Sie war eine fromme Protestantin, der

Schmucklosigkeit als Zier galt. In ihr wohnte kindliches Misstrauen und der

Glaube an die vom Teufel gesandte Sünde, die mit unerbitterlicher Strenge

unterbunden werden musste. Aber Ilse gelang es mit geschickten Worten

die Gedanken der Bäuerin an die Sünde zu zerstreuen, denn sie beschrieb

Hollaender als brüderlichen Freund ihres Bruders Paul. Der Vorhang

132
baumelte alsdann an der Decke, so wurde der Moral im Hause Fechtner

Tribut gezollt. Dieser dünne Schleier sollte aber kein Hindernis darstellen.

Er verband mehr als er trennte, ganz so, wie aufreizend gekleidete Damen

mehr Reize fördern als das nackte Fleisch. So schürte der Vorhang

Hollaenders Verlangen eher, als er es unterband. In seinen Lenden wühlte

die Unruhe. Ilse öffnete ihr Herz nicht, also wusste Hollaender nicht, wie

sie empfand. Sie hatte ihre Zweifel an seiner Aufrichtigkeit noch nicht

begraben. Wie eine Schwester lächelte sie ihn an. Freilich, hinter ihrem

Lachen herrschte Dunkelheit. Was sie auch tat, es durchdrang Hollaenders

Seele und düngte seinen Wunsch nach einer Frau an seiner Seite; Ilse sollte

es sein. Ihr mädchenhafter Charme, der immer öfters hinter der Schale

rustikaler Barschheit durch schimmerte hatte ihn bis in den hintersten

Winkel getroffen. Sie leuchtete ihn hinein, wie eine Lampe, so dass

allmählich aus der Knospe seiner Zuversicht wahres Glück in ihm anwuchs.

Ilse war ein zerbrechliches und zugleich erhärtetes Wesen von betörender

Anmut.

Bei der Arbeit auf dem Hof suchte er immer ihre Nähe. Er freute sich, ihr

die gefüllten Milchkannen zu tragen, ihr mit allerlei kleinen

Handreichungen seine Gunst zu beweisen. Sie freute sich, bis sie bald auf

ihn wartete. Nicht lange danach hob sich zum ersten Mal der Vorhang

zwischen ihren Betten. Ilse war es, welche die Grenze überschritten hatte,

die in kühler Nacht seine Wärme suchte. Seine Überraschung war so groß

wie die Freude. Er umschlang sie mit seinen harten Armen und sie küssten

sich mit flammender Leidenschaft. Ihre Leiber verschmolzen zu inniger

Sehnsucht, bis sie sich erfüllte.

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Hollaender trat aus der Türe, die knarrend wieder ins Schloss fiel. Ilse blieb

im Bett. Sie vergrub sich in seiner verbliebenen Wärme. Es war Sonntag.

Die Kühe waren gemolken, die Schweine und Hühner gefüttert, der Stall

gesäubert und die Bauersleute waren mit ihren Kindern in der Kirche. Ilse

hatte sich schon am Vorabend mit einer Unpässlichkeit vom Gottesdienst

entschuldigt. Frau Fechtner murrte vernehmlich.

Die Klärapfel lagen im feuchten Gras. Der sanfte Herbstnebel hüllte die

Gebäude ein. Oktober 1946. Mehr als ein Jahr arbeitete Hollaender nun

schon auf dem Hof, hatte ein nettes Mädchen an seiner und den Freund

vergessen, dem er nicht nur sein Leben verdankte, sondern auch das

Mädchen. Er hatte sich durch Fleiß und Eifer unentbehrlich gemacht. Er

könnte zufrieden sein. Diese Zufriedenheit war einzig der Dankbarkeit

geschuldet. Er blieb fremd auf dem Hof, so dass der Wunsch nach Wandel

stärker wurde. Ihm war, als seine Zeit auf dem Fechtner – Hof in Kladow

abgelaufen. Mit einem Apfel zielte er auf eine Weide, traf sie und er

entschloss sich, mit Ilse den Hof, Kladow, Berlin und Deutschland zu

verlassen.

Lange Zeit hatte Alfred Hollaender monologisiert. Ein paar Schlucke aus

dem Weinglas lockerten seine Zunge. Er verhedderte sich im Geäst seiner

Erinnerungen. Der Junge war ihm gleichgültig geworden. Henry war ein

äußerst stiller Zuhörer geworden. Er wagte nicht den Alten zu unterbrechen,

der da vor sich hin erzählte. Hollaenders Berichte sprudelten nicht wie aus

einer klaren Waldquelle, sie quollen wie Lava aus einem Vulkan, der jeden

Augenblick explodieren konnte. Hassgefühle und Rachegelüste h

bewahrten die Hitze. Hollaender legte eine Pause ein. Die Männer

134
schwiegen. Henry kratzte mit ein paar Geldmünzen auf dem Tisch und sah

seinen Fingern zu, wie sie daraus Figuren legten.

„Was tun sie da?“, entfuhr es Hollaender. Henrys Blick heftete sich an den

Krawattenknoten, in die Augen sah er dem Alten nicht.

„Ich denke nach. Ihre Geschichte....“.

„Was, sie nennen das Geschichten“, knurrte er.

„Nein, das ist ein Missverständnis. Ich meine, das, was sie mir erzählen

wuchert auf merkwürdige Weise in mir. Es scheint fast so zu sein, als hätten

sie mich mit einer Krankheit infiziert. Mit einer düsteren Verstimmung, die

mich an tief hängende Gewitter erinnern. Ihr Leben lastet auf mir wie eine

Grabplatte“.

„So, so. Mein Leben ist also eine Grabplatte“, höhnte Hollaender. „Mit

ihrem Vergleich liegen sie ja vielleicht gar nicht so falsch“.

Den Anflug von Milde schob Hollaender beiseite und er fragte, ob Henry

noch Interesse am Fortgang seines Lebens habe. Immerhin sei er, Henry, es

gewesen, der, wenn auch nicht dezidiert ausgesprochen, dennoch

unmissverständlich, die Lebensgeschichte des Alten hören wollte, zu

welchem Zwecke auch immer.

„Sie erzählen mir von Menschen, Orten und grauenvollen Geschehnissen

aus der Vergangenheit und schließlich, ich mag es kaum glauben, von

großer Liebe. Wie können sie mir die Impertinenz unterstellen, sie

ausbeuten zu wollen, wie sie es immer unterstellen?“

Hollaender blieb die Antwort schuldig.

Henry fand sich gefangen im Netz des ehemaligen Häftlings, das er fein

gesponnen ausgelegt hatte. Er war blass, seine Augen dunkel gerändert. Er

rauchte viel.

135
Henry kam erschöpft nachhause. Er wollte nur noch schlafen, aber es

gelang ihm nicht. Arno behandelte ihn schon längere Zeit nicht mehr als

alten Kumpel, mit dem durch die Straßen zieht. Er gab sich ausgesprochen

wenig Mühe, seinen Verdruss an Henrys Anwesenheit zu verbergen. Er

fühlte sich belästigt. Manchmal dachte er darüber nach, wie er seinen

Untermieter möglichst geräuschlos wieder loswerden könnte. Unterdessen

zog sich Henry in sein Schneckenhaus zurück.

„Niemand weiß wirklich, mit was er sich beschäftigt, ob er sich überhaupt

mit etwas beschäftigt und nur seinem läppischen Müßiggang nachhängt“,

belauschte Henry seinen Freund einmal im Treppenhaus, als dieser gerade

eine Freundin verabschiedete.

Er verließ die Wohnung meist spät am Vormittag. Er streifte durch die Stadt

und versuchte den Faden seiner Kladdentexte wieder aufzunehmen. Er

stöberte

, wie es seine Art war, in den Feuilletons, Stadtmagazinen,

Obdachlosenzeitungen oder Filmtexten nach Inspiration. Er füllte Seite und

Seite, beschrieb alle Zettel, derer er habhaft werden konnte, wenn er seinen

Block vergessen hatte, und er vergaß ihn oft. Am Abend, wenn er

hundemüde und oft genug betrunken in seinem Zimmer strandete, schüttelte

er seine Zettel aus den Taschen ohne sich der Mühe des Ordnens zu

verpflichten. So dass er täglich von neuem mit seiner Suche begann. Er

wurde auf gewisse Weise jeden Tag wieder geboren, seine Kraft bröckelte

jedoch. Ein Neugeborenes steht am Beginn seines Lebens; der alltäglich

neugeborene Henry schleppte sich dem Ende zu.

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„Heute werde ich ihnen erzählen, wie es uns ergangen ist, nach dem

Entschluss, die Fechtners zu verlassen.....“, empfing Hollaender den

vollständig durchnässten Henry. Er sah aus, als wäre er in den Teltowkanal

gefallen. Den Alten störte das nicht.

„Ich bestelle ihnen einen Grog“, sagte er trocken.

Alfred und Ilse verließen die Familie Die Kinder weinten, verstanden sie

doch nicht, warum ihre liebe Freundin sie verlassen wollte. Sie war ihnen

ans Herz gewachsen. Auch die Bäuerin tat sich schwer. Sie fragte laut und

mit Vorwurf:“ Ist dies nun der Dank für alles? Musst du wirklich gehen?

Wir hatten es doch so schön“, flehte sie, bis sie plötzlich verstummte und

Ilse mit ihren dicken Armen fast erdrückte. Der Bauer zog an seiner Pfeife,

der Tabakqualm kräuselte sich in seine Haare. Er blieb stumm. Was sollte

er auch sagen, seine Frau hatte alles gesagt. Er entfernte sich ein paar Meter

von den andern und winkte Hollaender zu sich Gruppe. Mit einem festen

Händedruck verabschiedete er seinen Arbeiter und steckte ihm ein Bündel

Geldscheine in die Tasche. Ilse klopfte er ungelenk auf die Schulter und

täschelte ihr Gesicht, wie man es bei kleinen Kindern zu tun pflegt.

„Viel Glück und vergesst uns nicht“, rief er und verschwand mit den

Kindern, die sich mit verheulten Gesichtern noch einmal umdrehten, ins

Haus. Seine Frau winkte den beiden jungen Leuten nach, länger als sie sie

sehen konnte.

Von den Engländern, die den Russen in Kladow als alliierte Siegermächte

nachfolgten, erhielten Alfred Hollaender und Ilse Gertz ihre

Registrierungskarten mit vielstelligen Nummern.

137
„Wieder eine Nummer“, brummte Hollaender. Als er aber seinen Namen

auf der Karte gelesen hatte, erfüllte ich tiefe Genugtuung. Er hatte, ganz

offiziell, wieder seinen Namen zurück, in einem amtlichen Dokument mit

Stempel und unleserlicher Signatur, das ihm von Beamten mit wichtig drein

schauenden Mienen ausgehändigt worden war. Er fühlte sich wieder als

Mensch. Das ganze Elend hatte ein Ende genommen. Die Schufterei auf

dem Hof hatte Hollaender nicht im geringsten als Strafe empfunden, aber

frei hatte er sich nicht gefühlt. Wenn Ilse nicht gewesen wäre, dachte er,

keine Woche hätte er durchhalten wollen. Ilse gab ihm als erster Mensch

wieder das Gefühl, ein Geschöpf Gottes zu sein, und die Bauernfamilie

hatte ihn in die menschliche Gesellschaft aufgenommen.

Sie machten sich zunächst auf den Weg zurück in die Stadt, in Richtung

Osten. Sie kamen an zerstörten Gebäuden vorbei, die aufgegeben worden

waren, an Ruinen von Fabriken aber auch an langsam entstehenden

Neubauten. Von den Gerüsten herab winkten die Handwerker. In der Stadt,

so hofften sie, werde sich das Rote Kreuz und jüdische Hilfsorganisationen

um sie kümmern. Einige Tage verbrachten sie bei Privatpersonen, denen sie

von den Behörden zugeteilt wurden. Sie erhielten Unterkunft und

Verpflegung. An einem schwülen Sommertag, es war so heiß, dass selbst

die Vögle auf ihre Konzerte verzichteten, trafen die beiden Franz Spelcher,

ein früherer Nachbar der Familie Hollaender in der Schönhauser Allee.

Spelcher hatte sich in den dunklen Jahren als Hausmeister verhasst

gemacht. Nicht wenige wünschten ihm die Pest an den Hals. Spelcher,

Veteran aus dem Ersten Weltkrieg wie der alte Hollaender, war schon vor

dem Krieg ein alter Mann, so alt, dass er am Ende nicht einmal für den

138
Volkssturm taugte. Er erkannte Alfred Hollaender sofort. Mit jammervoller

Stimme berichtete er von seinen beiden Söhnen, von denen noch keiner aus

dem Feld zurückgekehrt sei, von seiner Frau, die nach den britischen

Bombenflügen verbrannte und dass er wohl der letzte Überlebende seiner

Familie sei. „Bitte, Alfred, ich kenn dich noch als Kind, hilf mir!“, flehte er.

Voller Verachtung und mit den Insignien des gerechten Opfers ausgestattet

sagte Hollaender:“ Deine Söhne werden schon wieder kommen, wenn sie

Glück haben. Wenn sie auch nur einen Bruchteil meines Glückes haben,

werden sie wieder kommen“.

Mit dem Ärmel seines Hemdes verwischte der alte Spelcher Staub, Schweiß

und Tränen über sei Gesicht, schüttelte verzweifelt den Kopf über sein

Unglück und packte Hollaenders Hand. Er drückte die Hand an seine Stirn,

Hollaender zog sie angeekelt zurück.

„Tut mir leid, ich kann ihnen nicht helfen. Selbst wenn ich wollte, was

sollte ich für sie tun“.

„Du bist jung und stark und ein guter Junge, du hast das Leben noch vor dir.

Ich habe alles verloren, was mir etwas bedeutete und hause jetzt in einem

Kellerverlies mit Ratten und anderem Ungeziefer zusammen, die mir nachts

an den Ohren knabbern. Keiner von den anderen Leuten spricht mit mir.

Alle schweigen den ganzen Tag und schwitzen im Keller, im Winter

erfrieren sie. Der Winter kommt bald und auch ich werde erfrieren. Gib mir

etwas Geld, was zu essen“, stammelte der Mann.

„Ich habe auch alles verloren. Alles, meine Familie, meine Frau, mein

Kind. Wen kümmert das, sagen sie, wen kümmert das?“, rief Hollaender

voller Zorn.

139
Ilse versuchte Hollaender zu besänftigen. Sie sah, wie die Wut seine Adern

anschwellen ließ. Sie zog ihn zur Seite und sagte:“ Hör mal, frag ihn, ob er

etwas weiß von deinen Geschwistern oder anderen aus deiner Familie, dann

wissen wir mehr und sehen weiter“.

Hollaender griff den Alten am Kragen, zog ihn zu sich und schob ihm einen

Geldschein hin.

„Die Frau Kalinke, die kennst du doch noch. Das ist die, die immer als erste

die Fähnchen aus dem Fenster gehängt hat. Sie hat mir erzählt, dass,

nachdem deine Mutter und die anderen abgeholt worden wurden, ein

Bruder von dir, ich weiß nicht mehr genau wer es gewesen war, ihr wart ja

so viele Kinder, sich versteckte hatte und später nach Belgien abgehauen

ist. Wie er das geschafft hat...., keine Ahnung?“

„Nach Belgien?“, forschte Hollaender ungläubig.

„Ja, ich bin mir sicher, das hat die Kalinke so gesagt.

„Um Himmels Willen, was will er denn in Belgien?“

Ilse strich im zärtlich über die struppigen Haare.

„Na gut, dann eben Belgien“, sagte Hollaender.

„Lassen sie sich’s gut gehen, Spelcher“, schob er voller Häme nach.

„Halt, halt, so geht’s nicht. Die Information ist aber mehr wert als dieses

kleine Scheinchen“, beschwerte sich der Alte.

„Hau ab, sonst schlag ich dir die Fresse ein“.

Er hob den Arm zum Gruß und sah, wie sich der Alte laut fluchend davon

machte.

Ganz in der Nähe, dort, wo früher die Kaiser-Wilhelm Gedächtnis Kirche

die Berliner an ihre Kaisertreue mahnte, und wo jetzt aus einem riesigen

140
Trümmerberg etwas hervorschaute, das an einen ausgehöhlten, faulen Zahn

erinnerte, hatten die amerikanischen Behörden einige Bretterbuden

errichtet, in denen wichtige Listen ausgelegt waren. Auf diesen Listen

standen in langen Kolonnen Namen von Personen, mal mit genaueren

Mitteilungen über Geburtstag, letzte Adresse oder Zielort, oder nur Namen.

Hinter manchen Namen waren sogar Fotos geklebt. Hollaender und Ilse

blätterten in den Karteien herum, Alfred suchte unter dem Buchstaben „H“

nach seinen Angehörigen, als eine gut genährte Frau, die ihre braunen

Haare zu einem Dutt in die Höhe toupiert hatte, ihn ansprach und fragte, ob

sie helfen könne. Hollaender berichtete, wonach er forschte. Die Frau, die

ein wienerisch gefärbten Deutsch sprach, schickte Alfred Hollaender und

Ilse Gertz zu einem Offizier im Nebenzimmer.

„Herein“, sagte eine Stimme. Das junge Paar trat ein und Hollaender, einem

angstvollen Reflex folgend, nahm sogleich Haltung an, als er vor einem

Mann in Uniform vorstellig wurde. Er nahm seinen zerknitterten Hut vom

Kopf, hielt den Blick gesenkt und wartete, bis der Offizier sie ansprach. Ilse

ging hinter seinem Rücken in Deckung. Die einsamen Jahre auf dem Hof

hatten sie menschenscheu werden lassen und Uniformierte flößten ihr große

Angst ein. Als sich Hollaender allmählich aus der Starre löste, wagte er den

Blick zu heben und er sah in ein offenes, liebenswürdiges Gesicht, aus dem

dunkle Augen hervor stachen.

„Alfred“, sagte das Gesicht, „mein Gott Alfred Hollaender, was machst du

denn hier? Wie geht es dir? Du siehst gut aus. Ist das deine Frau? Stell sie

mir vor!“.

Er lief um seine Schreibtisch herum und nahm Hollaender in den Arm.

141
„Ja kennst du mich denn nicht mehr? Ich bin’s, Hermann, Hermann

Sonnenfeld“.

Der Offizier lockerte seine Umarmung, so dass sich die Männer direkt in

die Augen schauen konnten. Der Amerikaner lachte schallend und es klang

in Hollaenders Ohren, als würde er ihn auslachen. Beschämt schaute er an

sich herab und wischte Straßenschmutz von seiner Hose, an der jedoch gar

kein Straßenschmutz haftete, zumindest nicht an dieser Stelle. Verdutzt

stand er für eine kleine Ewigkeit vor dem Offizier, dessen zudringliches

Gehabe ihm langsam auf die Nerven ging. Es war nie Hollaenders Sache,

Gefühlsregungen, gleich welcher Art, für seine Umgebung zugänglich zu

machen. Und für das laute Getöse des Offiziers brachte er ebenfalls wenig

Verständnis auf. ‚Die Leute sollen sich zusammen reißen’, das war sein

Credo, der Vater hatte das immer gepredigt, aber nicht vorgelebt. Für ihn

war es immer von tragender Bedeutung, niemandem in sein Herz Einblick

zu gewähren.

„Selbst wenn ich ihnen alle meine Sünden beichte, so öffnet dies nicht den

kleinsten Spalt zu meinem Herzen“, sagte er zu Henry.

Hollaender erkannte Hermann Sonnefeld. Etwas förmlich und distanziert

stellte er Ilse vor.

„Das ist Ilse Gertz, die Schwester meines Freundes Paul und meine

Verlobte. Kaum hatten die Worte seinen Mund verlassen, trat Ilse aus

seinem Schatten und betrachtete ihn mit großen Augen. Ihr Gesicht fror zu

einer bangen Frage, aber sie brachte kein Ton heraus. Er nahm sie in den

Arm und manifestierte mit einem Kuss auf die Wange seinen

Besitzanspruch.

142
Hermann Sonnenfeld war der älteste Sohn des Augenarztes Dr. Chaim

Sonnenfeld. Mit Hermann drückte er die Schulbank, bis dieser auf das

Gymnasium wechselte. Die Familie war schon 1937 nach Amerika

ausgewandert. In New York eröffnete Dr.Sonnenfeld eine Praxis, die vor

allem von Emigranten aufgesucht wurde. Er erwirtschaftete ein

erkleckliches Vermögen, das seiner Familie Zugang in höhere

gesellschaftliche Kreise verschaffte. Seine ganze Liebe gehörte der

Literatur und eines Tages saß auf seinem Behandlungsstuhl Wieland

Herzfelde. Die Männer freundeten sich an und Dr.Sonnenfeld besuchte so

oft er es einrichten konnte Herzfelde in den Räumen des Malik-Verlages.

Sohn Hermann, im selben Jahr wie Hollaender in Berlin geboren,

absolvierte eine erstklassige juristische Ausbildung. Als Freiwilliger

gelangte er gegen Ende des Krieges in seine Heimatstadt Berlin. Er sollte

ein Registrierungssystem für die Vertriebenen und Heimatlosen aufbauen.

Im Jargon der alliierten Behörden nannte man diese Unglücklichen

„displaced persons“.

„Das sind Menschen wie sie, mein lieber Herr Lantz“, scherzte Hollaender

Seine Aufgabe sah Leutnant Sonnefeld nicht primär darin, fuhr er fort,

Verbrecher des untergegangenen Regimes aus dem Flüchtlingsstrom

herauszufiltern und einzukerkern, er unterstellte sich ganz und gar den

Bedürfnissen der früheren Verfolgten. Die benötigten zu allererst Papiere,

Geld und Unterkunft, als ersten Schritt in eine geordnete Freiheit. Als

glänzender Jurist von klarem Verstand erfüllte er seine Mission. Seine

Vorgesetzten ließen ihn gewähren, sie kannten seinen Fleiß, lobten seine

Kühnheit und benötigten seine Sprachkenntnisse.

143
Sonnenfeld ließ Kaffee bringen und dazu stellte er trockenen Kuchen. Sie

nahmen um den Tisch Platz, der mit Listen ausgelegt war, an denen

Sonnenfeld gerade arbeitete. Sie tauschten Erinnerungen und Lebenswege

aus, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Ilse hörte zu. Nur

einmal hob sie die Stimme, als Sonnenfeld sich auch an ihren Vater

erinnerte. Ihre Väter trafen sich im Gemeindehaus, manchmal war der

kleine Hermann dabei.

Sie saßen mehr als eine Stunde zusammen, als sie sich verabschiedeten.

Nachdem, was Sonnenfeld von Hollaender erfahren hatte, wollte er nach

draußen in die Stadt stürmen, um Verbrecher zu fangen. Aber weit und breit

konnte er keinen erkennen. Die Verbrecher hatten sich zurück in Bürger

verwandelt. Er setzte sich wieder an seinen Schreibtisch rauchte eine

Zigarette, stand wieder auf und sein Blick streifte die erkalteten Ruinen der

Stadt, über die die Sonne ihr purpurnes Abendlicht gegossen hatte.

Sonnenfeld hatte Alfred Hollaender und Ilse Gertz mit allen notwenigen

Papieren, etwas Geld und zwei Bahnfahrkarten nach Antwerpen

ausgestattet. Er überreichte ihnen auch die Adresse und eine

Telefonnummer seines Cousins in New York, „zur Sicherheit“, wie er

sagte. In beruhigendem Ton hatte er versprochen, dass sie sich auf den

Vetter verlassen könnten. „An ihn könnt ihr euch immer wenden. Ich werde

ihm gleich heute einen Brief schreiben und ihm mitteilen, dass er euch am

Schiff abholen möge, sobald ihr ihm eure Ankunft avisiert haben werdet.

Das ist eine Option“, fügte er mit gespielter Strenge hinzu. „Ihr könnt

selbstverständlich in Europa euer Glück versuchen“. Dann ging er zurück

144
zu seinem Schreibtisch, und entnahm der Schublade ein Couvert, in das er

zwei kleiner Zettel steckte.

„Das sind zwei Berechtigungsscheine, die für eine Passage von

Bremerhafen nach New York gedacht sind. Sie sind von unbegrenzter

Gültigkeit“, bemerkte er, und übergab Hollaender das Couvert. „Pass gut

auf!“.

Hollaender und Ilse erfuhren von Sonnefeld auch, dass Alfreds ältester

Bruder Stefan dort wohnte. Eine Hilfsorganisation, mit der Sonnenfeld

kooperierte, sollte das Paar in den ersten Tagen nach ihrer Ankunft in

Belgien beherbergen. Wohlgemut machten sich die beiden auf den Weg

zum Bahnhof Zoo, von dem aus die ersten Züge wieder fuhren. Zwei Tage

dauerte die Reise, die sie über Köln an die belgische Grenze führte.

Sonnenfelds Freundlichkeit nistete noch in ihren Gedanken und so

erschraken sie um so heftiger, als ihnen die belgischen Zollbeamten sehr

deutlich machten, dass sie als Deutsche im Königreich nicht erwünscht

seien. Sie durften einreisen, ihre Papiere waren korrekt, die Beamten

mussten ihnen sogar die Aufenthaltserlaubnis erteilen. Die Feindseligkeit

der Belgier traf Ilse stärker als Hollaender. Sie war, fast ihrer Angst enteilt,

gerade wieder dabei das Mädchen von früher zu werden, das in Berlin

Kaffeehäuser, Theater und Kinos besuchte, und nun tauchten die alten

Alpträume in Gestalt von zwei schrecklichen Zollbeamten wieder auf.

Hollaender bemerkte in ihren Augen den gleichen seelenlosen Ausdruck,

der ihm damals bereits aufgefallen war, als sie ihm zum ersten Mal die

Haustüre des Fechtner-Hofes in Kladow öffnete.

145
Sie waren dem Zug in Antwerpen entstiegen, rastlose Menschen schubsten

sie zum Ausgang, er küsste sie. Er wollte sie zu seiner Frau machen. Rosa

war tot, Frieda war tot, aber Ilse lebte. Er schwärmte von einer glücklichen

Zukunft, die sie sich redlich verdient hätten und ergriff ihre Hand in dem

Bemühen, die ungezwungene Fröhlichkeit schlendernder Liebespaare

nachzuahmen, die an Sonntagen die Parks bevölkerten. Aber sie waren

nicht unbeschwert und ihre Zukunft leuchtete nicht glücklich, sie waren

zutiefst verletzt, keine ihrer Wunden war verheilt. Hollaenders Frohsinn

verflog rasch.

Sie spazierten ohne Eile am Scheldeufer entlang und beobachteten die zäh

vorbeifließenden Fluten des grauen Flusses. Schwer beladen schoben sich

Kutter und Frachtschiffe durch die kräuselnden Wellen in Richtung

Nordsee. Auf einer Wiese, die mit schiefen Pappeln umstanden war,

spielten ein paar kleine Jungen.

Die Adresse von Stefan, die ihnen Sonnenfeld ermittelt hatte, lag in einer

kleinen Seitengasse, die von der Magistrale wegführte, in Hoboken, im

Süden der Hafenstadt. Vor ihnen erhob sich ein mächtiges, etwas herunter

gekommenes Gebäude, fünf Stockwerke hoch. Hollaender versuchte das

Haus einer Stilrichtung zuzuordnen. Jugendstil, dachte er, das könnte sein.

An den Gittern der Balkone schlängelten sich mäandernd eiserne

Schlingpflanzen empor. In Sandstein gemeißelte Jungfrauen in wallenden

Gewändern bewachten das Eingangsportal. In jeder Ecke blinzelte eine

steinerne Blüte, „was für eine Verschwendung, welch unnütze Zier“, sagte

Hollaender zu Ilse.

146
Sie betraten das Gebäude. Zu ihrer Linken öffnete sich eine quadratische

Klappe, die in ein mit Informationsschriften beklebtes Fenster eingearbeitet

war. Eine auffällig geschminkte, hässliche Empfangsdame mit einer

Zigarettenspitze im Mundwinkel hielt die beiden auf.

„Zu wem wollen sie“, schnarrte sie.

„Wir suchen Stefan Hollaender. Unserer Kenntnis nach wohnt er hier in

diesem Haus“.

„Hier wohnt niemand, hier liegen sie alle“, antwortete sie.

„Sind sie Verwandte“, wollte die Frau wissen und blätterte bereits in einem

dicken Journal.

„Ja, Stefan Hollaender ist mein Bruder und die Dame hier ist meine Frau.

Ich würde ihn gerne sehen“.

„Können sie sich ausweisen?“

Hollaender legte die Papiere vor.

„Gut“, bescheinigte die Empfangsdame und trug ihre Namen in die

Besucherliste ein.

„Die Ausweise bekommen sie wieder, wenn sie das Haus verlassen“.

„Warten sie“, befahl sie.

Sie telefonierte. Hollaender und Ilse sahen sich um. Hollaender beschlich

die Ahnung, dass in diesem Haus der Tod wohnte. Das Leben befand sich

in diesem Haus auf dem Rückzug. Durch matte Fensterscheiben drang

fahler Lichtschein. Ein warmer Luftzug wehte durch die Gänge, es roch

nach Essen. Hollaender konnte sich keine Speise vorstellen, die so roch.

„Riechst du das“, fragte er Ilse.

„Ja, es riecht komisch“.

147
„Fisch vielleicht, Aal. Was isst man in diesem Land eigentlich, Ilse, weißt

du das?“

„Ach, wie lange gab’s keinen Fisch mehr, stöhnte sie mit schwacher

Sehnsucht. Aber weißt du, Alfred, Fisch mochte ich noch nie besonders

gerne“.

„Ich auch nicht“, bestätigte er.

In ihre Plauderei über Fisch mischten sich die im langen Flur hallenden

Schritte einer Schwester, die sich ihnen näherte. Die großen, glatt polierten

Steinplatten reflektierten das grünliche Neonlicht, das von langen Röhren

von der Decke sickerte. Es verlieh dem Flur eine gespenstische,

menschenfeindliche Ausstrahlung.

„Hier möchte ich nicht leben“, flüsterte Hollaender Ilse ins Ohr. Sie

kicherte. Beide hatten keine Ahnung, wo sie sich befanden.

Die Schwester nahm sie in Empfang und begrüßte sie freundlich mit der

Aufforderung, ihr zu folgen. Wie ein Feldwebel marschierte sie voran. Die

beiden konnten kaum mithalten. Auch die Bewegungen ihrer Arme hatten

etwas Militärisches. Vor der letzten Tür des schier endlosen Ganges blieb

die Feldwebel-Schwester in strammer Haltung stehen. Sie öffnete mit

ernstem Blick die breite Tür, an der ein Schild mit der Aufschrift: Stefan

Hollaender angeheftet war. Hollaender und Ilse folgten der Handbewegung

der Schwester und betraten das Zimmer. Die Vorhänge waren zugezogen.

Es herrschte Dauerdämmerung. Das schwache, mehrfach gesiebte Licht,

das den Weg durch den Vorhang schaffte, beleuchtete alle Gegenstände des

Zimmer gleich. Das Bettgestell, der Nachtschrank, der Kleiderschrank, die

Wände und das Waschbecken, alles hatte die gleiche Tonung: gelb-grün. In

148
diesem Augenblick wusste Hollaender, wo sie sich befanden. ‚Der Tod ist

nicht schwarz, er ist gelb-grün’.

Ihr Blick fiel auf einen ausgedörrten Mann, dessen Alter man leicht auf

fünfundfünfzig oder sechzig Jahre schätzen konnte, dabei war er vierzig

Jahre. Die Wangen waren tief eingefallen und bildeten fleckige Krater, über

die sich papierne Haut spannte. Die Wangenknochen stachen spitz hervor

wie Zelte. Die Augen ruhten tief in den Höhlen. Damit der Mund nicht

aufklappte, bevor die Starre eingetreten war, hatten die Schwestern es mit

einem Verband fixiert. Auf der Bettdecke, die schon ein halbes

Menschenleben nicht mehr weiß war, aber sauber und gestärkt wirkte,

schauten aus dem Totenhemd die Hände von Stefan Hollaender hervor.

Fremde Hände hatte sie gefaltet, damit er betend und voller Demut vor

seinen Herrn treten konnte. Ein grauer Bart umwilderter den Totenschädel.

Der Zustand des ausgedorrten Leichnams, der nach den Bekundungen der

Feldwebel-Krankenschwester Hollaenders Bruder sein soll, ließ ihn vor

Entsetzen taumeln. Er konnte und wollte seinen Bruder nicht erkennen. Ilse

legte fassungslos ihre Hände vor den Mund. Hollaender stürmte in wilder

Verzweifelung aus dem Zimmer.

„Was ist hier los? Wer ist der Mann? Sie können doch nicht wirklich

annehmen, dass ich diesen Leichnam als meinen Bruder identifiziere“,

schrie er die Schwester an, die teilnahmslos aus dem Fenster im Flur

schaute, das auf den Innenhof wies. Der Lärm lockte weitere Bedienstete

an, die neugierig in den Flur blickten, sich gleich darauf jedoch wieder

zurück zogen. Sie waren derlei Theater offenbar gewöhnt.

„Herr Hollaender ist heute Morgen verstorben, wir konnten nichts mehr für

ihn tun, mein herzliches Beileid“, sagte sie.

149
„Welches Beileid? Von wem Beileid? Wer sind sie überhaupt?“, brüllte er

zurück. Ilse eilte herbei und versuchte Hollaender zu beruhigen.

Schwindelgefühl setzte bei ihm ein, die fürchterliche Gewissheit, die

Aufregung und sein aufgestauter Kummer sammelten sich. Die grünen

Neonleuchten begannen sich wie Propeller an der Decke zu drehen. Jedes

einzelne Organ in ihm rotierte in rasender Fahrt. Ihm wurde übel. Er ließ

sich auf einen Stuhl neben der Türe fallen, Ilse hielt seine Hand. Er sprang

wieder auf und tanzte im Korridor wie im Wahn.

Leise hörte er die Schwester sagen, dass man nicht genau wisse,, was

geschehen war.

„Wir konnten keinen äußeren Verletzungen feststellen. Er wurde uns

gestern von der Rettung gebracht, die ihn bewusstlos im Rinnstein gefunden

hatte. Vielleicht war es ein Unfall, oder Überfall, wer weiß das schon?“

„Was erzählen sie mir?!“, schrie Hollaender, „Der Mann dort ist

verhungert. Sie haben ihn getötet, der belgische Staat, der König, die

Polizei, was weiß ich, sie alle haben ihn auf dem Gewissen“. Ilse fing

Hollaender auf, der plötzlich zusammensank. Die Schwester rückte den

Stuhl herbei und besorgte ein Glas Wasser. So hatte Ilse den Alfred noch

nicht erlebt. Er war wie ein aufgewühltes Meer, über das ein Orkan

hergezogen war, schwarzblaue Wolken umkreisten seine Stirn, die Augen

blickten nach innen.

Nach einigen Minuten der Aufregung fand Hollaender wieder zu sich und

bedauerte, dass er die offenbar die Kontrolle verloren hatte. Im

wesentlichen unbeeindruckt, aber vorsichtig, abgehärtet von vielen

Ereignissen dieser Art, erklärte die Schwester, dass Stefan in den

vergangenen Monaten zu einer Art Stammpatient geworden war.

150
„Er hatte keinen Wohnsitz, zumindest hat er uns keine Adresse angegeben.

Ich glaube, erlebte auf der Straße und bettelte. Er wurde uns oft in

volltrunkenem Zustand gebracht, mit blutender Nase von einem Sturz. Wir

ließen ihn übernachten und gaben ihm zu essen. Einmal musste er eine

Woche bleiben, als er sich das Bein gebrochen hatte. Und gestern brachte

ihn die Rettung wieder, er war bewusstlos. Ich vermute, dass seine Kraft

zuende war. Seine Augen, ich erinnere mich ganz genau, starrten leer und

fest...“.

Hollaender und Ilse schwiegen. Er hielt ihren Arm fest.

Dann sagte die Schwester:“ Ich nehme an, dass sie sich nicht um seine

Beisetzung kümmern können“. Sie erwartete keine Antwort.

„Ich bin autorisiert, ihn auf unserem Friedhof begraben zu lassen. Neben

unserem Krankenhaus befindet sich ein Gräberfeld, das wir für Verstorbene

ohne Angehörige reserviert halten. Dort findet er seine letzte Ruhe. Unsere

Gärtner haben Erfahrung, die werden das schon erledigen“, versicherte sich

in trostvollem Ton.

Hollaender war der Frau aufmerksam gefolgt. Sein wahnvoller Rausch, den

der Tod des Bruders bewirkt hatte, schlug um in berechnende Nüchternheit.

„Hatte mein Bruder irgendwelche Papiere oder persönliche Gegenstände

bei sich?“, wollte er wissen. Ilse streichelte weiter seinen Arm. Die

Schwester entnahm der Krankenakte einen Pass: Stefan Hollaender,

geboren am 14. Dezember 1910 in Berlin.

Tausend Kilometer trennten Hollaender von der Heimat, und es war nicht

genug. Das wusste er.

151
„Haben sie die genauen Umstände des Todes ihres Bruders nie erfahren?“,

erlaubte sich Henry zu fragen.

„Er ist verreckt. Im Rinnstein wie ein gottverdammter Penner, der er

geworden war, zu dem man ihn hat werden lassen, wie ein Köter, den

niemand mehr haben wollte. Genau so, wie es uns allen zugedacht war,

mein Lieber“, antwortete Hollaender.

„Aber der Krieg war doch, als sie nach Belgien kamen, längste zuende!?;

wand Henry ein.

„Der Krieg ist nie vorbei. Für uns wird er kein Ende haben, solange wir

leben, das ist gewiss. Gott mag weise sein, gnädig ist er nicht“.

Die Antwort erschütterte Henry. Nicht alleine die Antwort machte im

Angst, es war die Emphase und die unterschwellige Drohung, die in ihr

klang. Er wollte sich gerade eine Zigarette anzünden, als Hollaender ihn

hart am Unterarm packte und sagte:“ Schauen sie mich mal an!“ Henry

gehorchte und ließ Zündholz und Zigarette auf den Tisch sinken.

„Was sehen sie, was sagt ihnen dieses Gesicht?“

Er sah das Gesicht eines alten Mannes, länglich mit braunen Augen, die von

buschigen Augenbrauen behütet wurden. Tiefe Furchen, links und rechts

des Mundes, gruben sich von der Nase bis fast zum Kinn. Die Ohren stand

auffallend vom Kopf ab. Die Nase dominierte seine Physiognomie. Je

länger er Hollaender betrachtete, desto mehr kam es ihm wie eine Maske

vor, hinter der sich ein Geheimnis verbarg.

Im Frühjahr des Jahres 1951 kamen Hollaender und Ilse mit der Eisenbahn

in Bremerhaven an. In der selben Stunde begaben sie sich zum Hafen. Die

Sonne schien, die Nordsee begnügte sich damit, in grünweißen flachen

152
Wellen an die Kaimauer zu schwappen. Das Gepäck der beiden passte in

zwei Koffer. Hollaender umarmte Ilse und küsste sie auf den Mund. Sie

erwiderte seine Zuneigung mit Akkuratesse, indem sie seine Hand zu ihrem

Mund führte und ihr eine Zärtlichkeit anvertraute. Mehr als seine

Begleiterin empfand Hollaender ein großes Gefühl, das er ihr mit blumigen

Worten beschrieb. Dieses Gefühl nannte er Freiheit und umarmte dabei den

Ozean.

„Weiß du Ilse, was Freiheit bedeutet? Freiheit bedeutet dorthin zu gehen,

wohin es einen zieht, eine Arbeit zu tun, die einem Freude macht und das

Einkommen sichert, an Stränden zu liegen, den Vögeln beim Spiel

zuzusehen, sich dem Rauschen der Bäume hinzugeben, die Füße in einen

eiskalten Bach zu halten, das, und noch viel mehr ist Freiheit“. Als er das

sagte, tastete er behutsam nach dem Couvert mit den Schiffstickets und dem

Bündel Dollarnoten; er liebkoste beides als sein Startkapital in die Freiheit.

„Du bist ja ein wahrer Poet“, entfuhr es ihr.

„Meinst du?, fragte er geschmeichelt.

Möwen zogen sich über ihnen zusammen, Hollaender freute sich auf seine

Freiheit und Ilse tat es ihm gleich.

Am Pier strömte nach und nach aus vielen Richtungen eine große

Menschenmenge zusammen. Aus Vorfreude aufgeregt schnatternde

Reisende, Zurückbleibende, die wehmutig dreinschauten, neugierige

Flaneure, Taschendiebe, Fliegende Händler, die mit lautem Geschrei ihre

Waren verscherbeln wollten: unnützes Zeug, Schals, Schuhe, Messe, ja

sogar Seile, Seifen, Parfüm, Werkzeuge und Hüte. Hollaender staunte über

die Hüte. Manch ein Reisender ergatterte einen Stetson, ganz so als wären

153
die Passagiere nach Amerika Pioniere, die ihren Kopf vor gleißender Sonne

bei der Entdeckung und Urbarmachung der neuen Heimat schützen

müssten. Das beste Geschäft machten die seriösen Verkäufer mit ihren

mobilen Ständen, die Proviant feil boten. Fahrende Bäckergesellen und

Fleischer kamen nur mit Mühe dazu Nachschub herbeizutragen. Sie

schrieen aus vollem Halse nach ihren Frauen und Lehrlingen.

„Alfred, da schau. Diese schöne Bluse!“, rief Ilse. Mit wenigen,

raumgreifenden Schritten, die Hollaender seiner Ilse nicht zugetraut hätte,

stand sie am Stand eines Händlers, dessen Tisch sich unter der Auslegeware

bog. ‚Sie freut sich wie ein kleines Mädchen, so unbefangen und hübsch,

schaut sie aus’, lächelte Hollaender. Sie hielt sich die Bluse vor den Bauch

und juchzte“: Die möcht’ ich haben! Steht sie mir? Sag Alfred!“

„Hübsch, sehr anziehend, und sie betont die Figur. Sie passt ausgezeichnet

zu dir. Wir kaufen sie“. Ilse fiel Alfred dankbar um den Hals, als hätte er ihr

ein mit Brillianten gespicktes Collier verehrt. Aus der Menge schälte sich

behände und nahezu unbemerkt ein Fotograf heraus, richtete seine Camera

auf eine junge Familie mit drei Kindern, die wie die Orgelpfeifen

ausgerichtet waren und sich verloren umschaute, drückte den Auslöser,

verschwand wieder, um plötzlich vor Hollaender und Ilse zu stehen.

„Darf ich ein Foto machen?“, fragte er höflich.

„Oh ja, gerne!“ rief Ilse. Sie lächelten in die Linse.

„Jetzt haben wir unser erstes Foto“, sagte Hollaender.

Matrosen ließen an langen Seilen die Passagier-Laufgänge am Bug,

Mittelschiff und eines am Heck herab. Das Aufsichtspersonal der Linie

trennte die Reisenden von Publikum und Händlern mit lauten Rufen. Eine

154
Kette wurde gespannt, und je nach Klasse verteilten sich die Passagier vor

den Gangways. Das Durcheinander bekam Struktur; drei Blöcke mit zum

Einstieg bereiten Menschen, dahinter im rechten Winkel die Absperrkette,

dahinter die Zuschauer.

‚Zeit zum Abschied nehmen’ dachte Hollaender. Wie ein weites Feld

öffnete sich die Erinnerung an sein altes Leben. Er winkte den Gräbern, die

leer blieben, und er winkte seiner Familie, die keine letzte Ruhestätte fand.

Er winkte der Asche, die die Böden der Lager bestaubt hatte und die

freundliche Winde bis hierher gewehten, wo Weser und Nordsee ineinander

fließen und die Freiheit rief.

Hollaender und Ilse waren Teil des Gedränges, das sich die steilen Gänge

hinauf auf Deck der „Bremen“ schubste. Nicht wenige Passagiere

strauchelten oder bleiben mit Kleidern oder Gepäck im Seilgeflecht des

Geländers hängen. Oben an Deck waren wiederum Beamte postiert, die

Reisepapiere mit strengen Blicken kontrollierten. Ein Blick auf den Pass,

ein Blick ins Gesicht, Kopfnicken, fertig. Eintausenddreihundertzwölf Mal.

Als Hollaender und Ilse endlich nach ewiger Zeit an Deck anlangten, füllten

sich ihre Herzen mit Genugtuung und Freude auf ein neues Leben im dem

freiesten Land auf Erden. Der schier endlose Strom von Menschen versiegte

langsam. Einige Nachzügler stolperten herbei. Die „Bremen“ schien unter

ihrer Last zu ächzen. Von hoch oben blickte der Kapitän auf seine Ladung.

Er schien dem Offizier, der neben ihm auf dem Posten stand, etwas

Lustiges gesagt zu haben, denn beide Männer lachten plötzlich. Man konnte

das Lachen nicht hören. Hollaender beobachtete eine Familie mit zwei

kleinen Mädchen, die die letzten Schritte hinauf auf Deck mit letzter Kraft

geschafft hatten. Die Kinder weinten. Die Haare der Mutter tanzten im

155
Wind und standen zu Berge. Der Vater, bleich vor Anstrengung seine

Familie und die Habseligkeiten beisammen zu halten, zerriss sich an einer

heraus stehenden Schraube den Mantel und fluchte wild. Völlig erschöpft

sank er auf einen Koffer und hielt seine Hände vors Gesicht. Eine alte

Dame suchte ihren Mann, bis ein Stewart sie beruhigte:“ Unsere „Bremen“

verliert niemanden“. Hollaender und Ilse bahnten sich einen Weg durch die

überall müde lagernden Menschen bis zur Bugspitze. Sie wollten jetzt, noch

in Bremerhafen, Amerika ganz nahe sein. Die blecherne Stimme, die aus

unzähligen kleinen Lautsprechern auf dem gesamten Schiff verteilt wurde,

forderte die Passagiere auf, die Kabinen zu beziehen. Der Befehlston

missfiel Hollaender. „Ich will nie wieder das Wort ‚schnell’ hören“,

flüsterte er Ilse ins Ohr. Sie sah ihn an, während der Wind auffrischte und

mit ihren Haaren spielte. Sie hatte die Zöpfe gelöst und schüttelte den Kopf,

damit der Wind in ihre Haare fahre. Sie lächelte undurchdringlich,

unwiderstehlich. Hollaender verschlug es den Atem, er wollte sie an den

Schultern fassen, sie entwand sich ihm.

„Komm, wir gehen in die Kabine“.

Es war noch ein weiter Weg, und mehrmals verliefen sie sich auf dem

labyrinthischen Schiff, in seinem Gedärm aus Korridoren, Decks,

Zwischendecks und Treppen, bis sie endlich ihre Kabine fanden. Sie maß

etwa drei Meter in der Breite und fünf Meter in der Tiefe. „Es riecht

modrig“, befand Ilse, von deren Leben auf dem Bauernhof ein äußerst

aufmerksamer Geruchssinn geblieben war. Platt und klamm lagen kratzige

Decken auf den vier schmalen Betten, die in zwei Etagenbetten jeweils

links und rechts neben der Kabinentür verschraubt waren.

156
„Hier ist aber kein Platz für lustige Zweisamkeit“, beschwerte sich

Hollaender.

Ilse störte das nicht, sie verschwieg es jedoch.

Die Kissen waren so klein, wie die in einem Puppenwagen.

„Wir müssen aufpassen, dass der Kopf nicht herunter rollt“, sagte

Hollaender, der sehr wohl wusste, dass Sonnenfeld ihnen eine

vergleichsweise komfortable Passage gebucht hatte. Die meisten übrigen

Passagiere mussten in Unterkünften so groß wie Hallen zu Hunderten dicht

an dich gedrängt wie Heringe, die zweiwöchige Fahrt verbringen.

Beim Betreten der Kabine fiel der Blick sogleich auf zwei nebeneinander

gelehnte Regalgestelle, in die jeweils ein winziges Waschbecken eingefasst

war. Die Regale reichten vom Boden bis zur Decke und schienen die

genietete Zellenkonstruktion mit zu tragen. In ihnen waren Bretter und

schmale Schränke eingelassen, die die persönlichen Gegenstände und

Kleider der Reisenden aufnehmen sollten.

Hollaender schritt die Kabine ab wie ein Gutsbesitzer seine Latifundien. So,

wie er nun in der Kabine stand, mit tief in die Taschen gestopften Hände,

dem hoch ragenden Kinn und dem Blick in die Ferne, hätte man annehmen

können, ihm, dem Redakteur, Häftling, Flüchtling, Mörder und ehemaligen

Knecht gehöre das Schiff, und es dauere nur noch wenige Augenblicke, bis

sich im gelobten Land der Vereinigten Staaten von Amerika Ströme von

Milch und Honig um ihn schlossen und das Glück ihn forttragen würde bis

zum Ende seiner Tage. Aber im Augenblick herrschte er mit seiner Ilse

nicht einmal über die erbärmliche Wabe tief unten im Bauch der „Bremen“,

die so groß war wie eine Stadt. Jeden Augenblick mussten Hollaender und

157
Ilse mit zwei weiteren Passagieren rechnen, die sich anstellten, ihr kleines

Reich zu halbieren.

„Stell dir vor, Ilse, dieses Schiff ist so groß, dass mehr Menschen Platz

finden, als Kladow Einwohner hat“, sagte er plötzlich einfach so dahin.

Ilse lachte:“ Du bist albern. Ganz Kladow auf unserm Schiff, womöglich

noch mit den Fechtners“:

„Zu was Menschen alles imstande sind“, träumte er weiter, „sie bauen

Schiff so groß wie Städte. Bald fliegen sie auf den Mond“.

„Du spinnst, Alfred“.

„Ja, vielleicht“:

Behutsam umfasste er ihre Taille, die sich weich geschwungen nach innen

wölbte, und begehrte ihre warme Weiblichkeit. Sie wehrte ihn große Kraft

ab.

„Hör auf, Alfred, jeden Augenblick können Mitreisende kommen, lass

das!“

Mit lautem Knall flog plötzlich die Kabinentüre auf, Hollaender hielt Ilse

noch im Arm. Die Uniformierten ersparten sich die Begrüßung oder andere

Errungenschaften zivilisierter Wohlerzogenheit.

„Eure Papiere“, befahl der ältere der beiden Männer. In der Gewissheit

einwandfreie Ausweise vorzeigen zu können, kramten Hollaender und Ilse

das Wichtigste hervor, was sie besaßen.

„Nach unserem Reiseziel brauchen sie sich nicht zu erkundigen, nicht

wahr“, stieß Hollaender töricht hervor. Seine sinnlose Aufsässigkeit erboste

die Beamten. Ilse sprang vor ihn:“ Entschuldigen sie bitte, mein Verlobter

hat etwas zuviel getrunken, das Reisefieber und die Aufregung, verstehen

sie was ich meine“.

158
„In Ordnung“, brummte der ältere. Sie gaben die Papiere zurück. Sie

erkannten keinen Grund zur Aufregung. Was Hollaender sagte, interessierte

sie so wenig wie die Möwen, das Wetter oder die aufkommende

Dämmerung sie beeindruckten. Grußlos wie sie gekommen waren,

verließen sie auch wieder die Kabine. Es waren Männer, die in Uniformen

steckten und ihre Pflicht taten.

„Warum bringst du uns in Gefahr? Was soll das?“, insistierte Ilse.

Hollaender sah wieder aus wie ein Knecht, nicht wie ein Gutbesitzer.

Trotzig entgegneter er:“ Ich mache nun das, was du den Typen eben gesagt

hast. Ich suche eine Bar, in der man mir etwas gibt gegen Reisefieber und

die Aufregung“.

Er ließ sich durch die unendlichen Korridore treiben, die die „Bremen“

durchzogen wie Kanäle. Die nächste Treppe nahm er nach oben. Siege um

Stiege erklomm er die Treppe, bis er endlich auf einem der unteren Decks

angekommen war. Die Matrosen waren gerade dabei die Leinen zu lösen

und die Maschinen des riesigen Liners stampften in kräftigen

Kolbenstößen. Der Boden vibrierte unter seinen Sohlen. Der

langanhaltende, tiefe Ton der Schiffshupe gab das Signal zum Ablegen.

Dicht gedrängt lehnten die Menschen an der Reling und winkten in die

Tiefe. Hollaender schaute interessiert zu. Eine brennende Wehmut befiel

ihn wie ein Virus und zersetzte seine noch vor wenigen Stunden gefeierte

Zuversicht. Er beobachtete Leute und forschte vergeblich nach Glück

versprechenden Eindrücken. Er taumelte und war kurz in Gefahr ins Wasser

zu springen. Hastig rauchte er eine Zigarette. Die Bugwelle zeichnete

große, wellige Dreiecke in das ruhige Hafenwasser.

159
Auf seinem Erkundungsgang nach einer Bar erreichte ihn der Klang eines

Klaviers. Er folgte der Musik und nach wenigen Metern öffnete sich vor

ihm eine ausgedehnte Lounge. Wie Inseln ruhten schwere mit rotbraunen

Stoffen bezogene Sessel in dem behaglichen Raum, gruppiert um niedrige

Tische. Überall erleuchteten Kerzen in reich verzierten Kandelabern den

nahenden Abend. Klavierspieler sind doch Sonderlinge, dachte Hollaender.

Entweder sie sitzen am Bühnenrand und werden übertönt von den anderen

Instrumenten, oder sie sitzen an Hotelbars und vereinsamen. Irgendwie, so

summte er vor sich hin, verwehre man den Klavierspielern den Respekt.

Uninspiriert spielte der Schiffspianist eine Melodie, die Hollaender an eine

schwedische Weise erinnerte. Aber bei genauerem Hinhören erkannte er

Edvard Grieg, den er verehrte. Die kühle Distanz, mit der Grieg die rauen

Weiten der nordischen Landschaften beschrieb, fesselte Hollaender. In

Griegs Musik wogen die Birkenwälder an einsamen Seen, in die die

Mitsommersonne in feierliches Licht eintauchte. Hollaender störte sich

etwas an dem mäßigen Talent des müden Musikers, der unpräzise den

Rhythmus anschlug und nach seiner Auffassung einfach zu übereilt spielte,

ganz so, als wolle er seine Fingerübungen flott zuende bringen. Dabei fiel

ihm sein unglücklicher Vater ein, er wusste nicht wieso, der es mit der ihm

eigenen Version von Präzision ebenfalls nie so genau nahm. Den Takt gab

eindeutig die Mutter vor. Mit den Tugenden, auf die er in seiner

preußischen Militärzeit gedrillt worden war, und mit denen auch die Lager

später betrieben wurden, mühte sich der Vater ab, aus den Kindern

anständige Menschen zu formen. Aber selten standen seine Worte im

Einklang mit seinen Taten, ja, meist lagen sie in Konkurrenz. Der alte

160
Hollaender war ein kränklicher Kauz, der sich in seiner winzigen

Schneiderwerkstatt verkroch.

Ein Rezeptionist steuerte auf Hollaender zu, der in Gedanken noch ganz bei

Grieg und seinem Vater weilte. Der Mann in weißer Jacke mit goldenen

Knöpfen bedeutete Hollaender schroff, dass Passagiere der unteren Decks

hier oben keinen Zutritt hätten. Und so, wie er aussehe, könne er sich nicht

vorstellen, das er Passagier der Ersten Klasse sei. Hollaender hob an zu

einer Empörung, musste jedoch schnell einsehen, dass Widerstand

zwecklos ist. Der Rezeptionist wies mit dem Finger zum Ausgang,

Hollaender murrte einen Fluch und gehorchte. So wurde also der stolze

Besitzer der „Bremen“ und Eroberer des Glücks in Amerika von einem

Subalternen verscheucht. Seine Wut hatte freilich auch etwas Gutes: Die

brennende Wehmut auf der Reling war vergangen.

Durch die Türe wurde er gewahr, wie der Rezeptionist eine überaus

ansehnliche junge Dame in galanter Abendgarderobe umschwirrte. Sie war

ein Traum von adliger Geschmeidigkeit und distinguierter Allüre. Ihr

offenes Gesicht und der bacchantisch geschwungene Mund versprachen

eine für Hollaender unerreichbare Wonne. Ihre Lippen formten Worte, die

sie an den Bediensteten richtete, die Hollaender nicht verstehen konnte.

‚Diese Frau ist zu ewigem Lächeln verdammt’, dachte Hollaender in einer

Mischung aus Häme und Begierde.

Der weitere Reiseverlauf glich der Ruhe auf dem Atlantik. ‚Nur gut, dass

wir nicht segeln brauchen’, dachte Hollaender, als er auf seinen

ausgedehnten Spaziergängen an der Reling gelehnt, Richtung Amerika

161
spähte, aber nichts sah als die das Schiff begleitenden Möwen und den

grauen Atlantik, der die ganze Erde zu bedecken schien. Er hatte sich mit

den Klassengesetzen an Bord nicht anfreunden können, er grämte sich noch

immer. Allerdings hat er in seiner Vergangenheit weitaus Schlimmeres

erdulden müssen, als den Rauswurf aus einer Schiffsbar. Es gab Zeiten, die

lagen noch nicht lange zurück, da hätte er sich eine derartig,

verhältnismäßig schwache Demütigung gewünscht, ja bedankt hätte er sich

dafür.

In der Kabine hatte es sich ein älteres Ehepaar gemütlich gemacht. Beseelt

von liebenswürdiger Hilfsbereitschaft und Bescheidenheit hatten sie sich

eingerichtet, prüften die Matratzen, wie Urlaubsreisende in einem Hotel,

befanden sie als erträglich, wenn auch nicht als luxuriös. Das Ehepaar

entschuldigte sich bei Hollaender und Ilse für die Störung des jungen

Glückes, wie sie es empfanden. Ilse half dem Paar zuvorkommend beim

Auspacken, man einigte sich schnell und unkompliziert über die

Handhabung der Waschgelegenheiten. Ilse freundete sich mit den neuen

Leuten in ihrer Kabine an. Sie empfand überhaupt keine Störung, im

Gegenteil, ihre Neugier war größer als die Einschränkung, die zu erwarten

war. Hollaender beobachtete etwas abseits das geschäftige Treiben und

stellte fest, dass sich Ilse überraschend schnell wieder zu dem

magdähnlichen Wesen zurück verwandelte, dessen Bestimmung es schien,

zu helfen und auf jeden Fall nützlich zu sein. Die Hilfsbereitschaft ersetzt in

vielen Fällen das Nachdenken. Er empfand Zorn, wusste diesen Zorn aber

weder zu lenken noch verfolgte er ein Ziel. Er zog sich unter Vorspielung

fadenscheiniger Gründe zurück und streunte auf dem Schiff umher,

162
während Ilse und die neuen Kabinengäste sich angeregt unterhielten. Ilse

erfuhr, dass der ältere Herr früher in Dresden als Gymnasiallehrer

unterrichtet hatte, bis er aus dem Dienst entfernt worden war. Es gefiel

nicht, dass er es seinen Primanern freigestellt hatte, den deutschen Gruß zu

verwenden. Ihm reichte ein gesittetes ‚guten Morgen Herr Oberstudienrat’.

Das war das einzige Verbrechen, dessen er sich schuldig gemacht hatte,

betonte er. In seinen Worten schwangen weder Stolz noch Würde. Er

verstand nicht, was um ihn herum vorging. Die Veränderungen waren nicht

Teil seiner Wahrnehmung. Man warf ihm vor, etwas ganz Ungeheuerliches

zugelassen zu haben. In seiner Klasse herrschte ein Geist, den er als Lehrer

nicht bestimmte, sondern den die große, nationale Bewegung vorgegeben

hatte.

„Ich bin ganz und gar unpolitisch, ja unpatriotisch, bis zum heutigen Tag“,

sagte er entschuldigend zu Ilse.

Seine Frau stimmte ihm zu.

„Meine Profession war es, den Schülern das Universum der Antike mit

ihren Sprachen und Gedankenwelt beizubringen. Wir haben Cicero

diskutiert“.

Der Lehrer trieb in seinen Erinnerungen ab und erzählte, wie Cicero das

Grab des Archimedes entdeckte, und der wiederum das Quadrat der Parabel

errechnete, die Hebelgesetze formulierte und bei seinen hydrostatischen

Experimenten die Wirkung der verbundenen Gefäße entdeckte.....

„Ich lese keine Zeitung“, fuhr er fort. „Nichtwahr, wir haben nie Zeitungen

gelesen“, wandte er sich zu seiner Frau.

„Zeitungen haben eine äußerst kurze Halbwertzeit. Sie sind von

widerwärtiger Vergänglichkeit. In die Zeitung von heute wickelt man

163
morgen den stinkenden Fisch von gestern ein. Nun ja, so entging mir in

jener Zeit, als man mit deutschem Gruß zu salutieren hatte, die Einsicht

mich zu sortieren. Sie müssen wissen, ich war ein preußischer Beamter. Mir

lag natürlich nichts an Subversion. Deutsche Beamte reagieren gewöhnlich

allergisch auf Subversion. Ich scheine womöglich eine Sonderform des

preußischen Beamtentums gewesen zu sein, denn ich erkannte nicht einmal,

dass Subversion eine Gefahr darstellte, geschweige denn, dass ich mich

eines sträflichen, antideutschen Verhaltens schuldig gemacht hätte. Latein.

Griechisch und Philosophie, verstehen sie junge Frau, das war meine

Dreifaltigkeit“.

Ilse hörte dem traurigen Lehrer aus Dresden aufmerksam zu und fand,

während der Lehrer weiter redete über die Bücher Gustav Schwabs und

über das katholische Weltbild, die Bürgerrechte im alten Rom und die

Verse des Sophokles, wie fern ihr die Menschen waren. Die Jahre ihrer

Verbannung, ihrer Schutzhaft auf dem Bauernhof, waren dahin, vergangen,

aber doch nicht vergeudet. Hollaenders Verheißungen, Glück und

Wohlstand in Amerika zu finden, klangen hohl. Sie reichten ihr nicht, aber

sie konnte nicht genau sagen, warum. Die Ungewissheit dräute am Ende des

Weges. Sie litt daran. Der Lehrer rezitierte aus der Thebanischen Trilogie,

seine Frau hantierte mit der Wäsche.

Ilse erkannte, dass sie auf sonderbare Weise Hollaender liebte. Der Lehrer

redete weiter. Ilse liebte Hollaender wie der Zierfisch im Aquarium die

Hand liebt, die die Scheiben von den Algen reinigt, wie der Tank den

Tankwart liebt, der Aschenbecher, den die Kippe plagt und das erlegte Reh

die Hand des Metzgers, der ansetzt, es zu zerteilen.

164
‚Wo führt mich Alfred hin?’, sann sie in finsterer Ahnung. Sie hasste sich

für ihre Gedanken, die so schwer an Besorgnissen erkrankt waren.

Das Ehepaar aus Dresden und Ilse saßen auf den Betten in der fensterlosen

Kabine, die Beleuchtung flackerte, Ilse blickte zur Decke, eine winzige

Träne löste sich, sie bremste sie mit dem Zeigefinger.

„Ist ihnen nicht gut?“, fragte besorgt die Frau des Philologen, erhob sich

und brachte Ilse ein Glas Wasser.

Hollaenders irrlichternder Zorn verrauchte rasch. An seine Stelle traten

schwermütige Gedanken an Frieda und Rosa. Er schaute auf das Meer

hinunter, das die „Bremen“ unermüdlich durchpflügte, da fasste er einen

Entschluss. Er sah sich in New York einen prächtigen Strauß roter Rosen

kaufen. Dieser Strauß sollte ein eindrucksvoller Heiratsantrag sein. Tief in

seinem Innern suchte er das Glück zu erneuern, das ihm einst mit Frieda

und Rosa geschenkt worden war. Ilse sollte aufblühen, schwor er sich. Alles

Glück und Wohlstand wollte er ihr zu Füßen legen. Noch im Hafen wollte

er auf die Knie fallen und sie um ihre Hand bitten.

„In jener Zeit schwankte ich sehr zwischen hochfahrendem Glück und tiefer

Niedergeschlagenheit. Es war ein andauerndes Auf und Ab, meine Seele

fand nicht zur Ruhe“, bekannte Hollaender.

Henry verzog das Gesicht, als wollte er Hollaenders Zweifel nicht glauben.

Schroff fuhr er seinen jungen Zuhörer an und sprach von Frechheit und

Undank.

„Was sehen sie mich so an? Aus ihnen ruft mal wieder die Skepsis!“

165
Der arme Junge konnte tatsächlich nichts machen. Jedes Wort und jede

Regung provozierte den Alten. Dessen Augen waren zu schwarzen Steinen

geworden, in denen Henry Verbitterung und Abscheu funkeln sah. Sein

wachsender Eindruck, dass Hollaender ihn für irgendetwas schuldig

gesprochen habe, versteinerte sich zur Gewissheit.

Sonnenfelds Cousin, der Hollaender und Ilse in New York am Pier abholte,

hieß Ignaz Grün. Er war ein kleiner, unfreundlich drei blickender Mann,

dessen Körperfülle den Anzug prall ausfüllte und dessen Hemdskragen ihn

fast erdrosselte. Er machte aus seinem Widerwillen keinen Hehl und gab

den beiden Reisenden schon früh zu verstehen, dass er seinem Vetter

Sonnenfeld nur einen Gefallen schuldete und seine Anwesenheit hier im

Hafen mit dem lächerlichen Täfelchen in der Hand, auf dem die Namen von

Hollaender und Ilse gekritzelt waren, nicht mit Nächstenliebe verwechselt

werden dürften.

Die anstrengenden Einreiseformalitäten und die Schikanen der

amerikanischen Beamten hatten vor allem Ilse bedrückt. Das unwürdige

Warten in langen Schlangen, das Durcheinander und die Aufregung der

Menschen, die drängelnden Passagiere, von denen jeder als erstes vom

Schiff wollte, hatten an ihren Kräften gezehrt. Die lauten Rufe und

schneidenden Kommandos, die über die Köpfe zischten, dirigierten die

Leute wie Schafe in Absperrungen, die von Polizisten bewacht wurden. Das

erste, was Ilse in der Neuen Welt tat, war weinen. Der dicke Grün sah die

heulende Ilse und den bleichen, ungewaschenen Kerl in einem abgewetzten

Anzug neben ihr, der sich zerrieb zwischen der Sorge um Ilses

Wohlergehen, Glücksgefühl über die Ankunft und der Angst vor der

166
Unzugänglichkeit des Molochs New York. Hollaender kam es vor, als

wären die Wolkenkratzer nur errichtet worden, um Neuankömmlinge zu

erschrecken.

‚Und dann noch dieser miese Empfang’, dachte er. Am liebsten hätte er

dem Dicken eins aufs Maul gegeben. Aus verheulten Augen sah Ilse, wie

die Wut in Hollaender empor kroch.

„Lass das! Denk nicht mal dran!“, befahl sie und fand wieder zu

Contenance.

Grün führte sie durch verschlungene Gassen, die sich auftaten wie lotrechte

Schluchten, Überführungen, durch kurze Tunnel, die nach Pisse stanken,

hinein in das schwirrende Down Town Manhattan. Hollaender hatte noch

lebendige Erinnerung an den Verkehr in Berlin vor dem Krieg. Aber das,

was sich ihm jetzt darbot, übertraf alle seine Erwartungen. Er fühlte sich

winzig, wie ein nicht benötigtes Ersatzschräubchen in einer gigantischem

Maschine, die sich in stürmischem Tempo um sich selber drehte.

Personenwagen, so groß wie die Fischerboote auf dem Wannsee, schoben

sich in nicht endender Reihe an ihnen vorbei, hupten, bremsten quietschend,

hielten kurz an, spukten Menschen aus, um gleich darauf wieder

anzufahren. In großen Schüben eilten die Menschen an ihnen vorbei,

umspülten sie mit Atem, Zigarettenrauch und fremder Sprache. Hollaender

und Ilse trieben wie kleine Boote aus Papier auf einem tosenden Strom, der

sie hin und her warf. Aber Grün hatte das Steuer in der Hand und lotste sie

durch das Gewühl. Ilse klammerte sich an Hollaenders Hand. Sie durften

Grün in dem Gewimmel nicht verlieren, sie mussten mit ihm Schritt halten.

‚Ohne diesen Grün wären wir jetzt hoffnungslos verloren’, dachte er. Und

im Stillen dankte er seiner Ilse, dass sie ihn vor einer Riesendummheit

167
bewahrt hatte. Grün marschierte mit schnellen kurzen Schritten weiter

voran. Zuweilen drehte er sich um, um sich zu vergewissern, dass die

beiden Deutschen noch hinter ihm waren. Er grinste.

„Ich weiß nicht mehr, wie viele Häuserblocks wir in Richtung Norden

hinter uns ließen. Irgendwann kreuzten wir den Broadway und erreichten

die 42. Straße. Ein schlimmes Viertel, kann ich ihnen sagen“, gestand

Hollaender Henry in seltener Milde.

„Ich wusste damals noch nicht einmal, in welcher Richtung wir uns

bewegten. Diese Stadt ist ein Dschungel aus Steinen, Stahl und Dreck, so

erlebten wir das“.

„Nehmen sie noch einen Bordeaux?, fragte die freundliche Kellnerin, als sie

sah, dass Hollaender sein leeres Glas mit Daumen und Zeigefinger drehte.

„Nein vielen Dank. Ich bevorzuge jetzt ein ordinäres Bier, wie mein

Gegenüber hier“, gab er zurück und deutete mit dem Kinn auf Henry. „Sie

trinken doch auch noch eins, nicht wahr?“ Henry nickte.

Am frühen Nachmittag erreichten Hollaender und Ilse, immer noch

angeführt von Grün, ein kleines, recht ordentlich wirkendes Hotel. Der

Eingang lag geschützt unter einem Baldachin aus blauem Zeltstoff, der auf

dünnen Stützen ruhte, und der bald bis zur Mitte des Bürgersteiges

hervorstand.

„Für sie ist hier ein Zimmer reserviert“, schnarrte Grün.

„In ein oder zwei Tagen wird ein verrückter, älterer Typ vorbei kommen,

Mayer oder so ähnlich heißt er. Mein Cousin verfügt über viel Einfluss und

kennt viele Leute, wissen sie. Sein Arm reicht bis tief in dieses Land“. Er

168
legte eine Pause ein, zündete sich eine Zigarette an und sagte etwas, was

Hollaender nicht gleich verstand.

„Ob wir uns jetzt mögen oder nicht, wir müssen doch allezeit zusammen

stehen, was meinen sie?“

„Oh ja“, bestätigte Hollaender, „das müssen wir“.

Grün beendete seinen Auftrag mit einem breiten Lachen. Er verabschiedete

sich, stieg die Treppe hinab, Hollaender hörte seine Schritte durch die

dünne Holztür. Sie schauten ihm vom Fenster aus nach, als sich der

Menschenfluss ihn einverleibte und er davon schwamm.

„Das Hotel ist doch o.k.?“, fragte Herb Mayer noch bevor er sich den

beiden Deutschen vorstellte. Mit der flachen Hand drückte er auf die

Matratze des noch von der Nacht zerwühlten Bettes, um ihre Qualität zu

prüfen. Er murmelte etwas, das sich anhörte wie „zufrieden, in Ordnung“.

„Gutes Bett, gutes Hotel“, sagte er mit einer Stimme, die das ganze noch

mit morgendlicher Schwüle angefüllte Zimmer durchdrang. Schließlich

stellte er sich den von morgendlicher Somnolenz zu einem Erstaunen

wechselnden Einwanderern vor.

Er schüttelte zuerst Ilse die Hand. „Mayer, Herb Mayer“, verkündete er, als

müsse halb New York stolz sein auf solch einen Kerl wie ihn. Herb Mayers

Deutsch war kräftig gefärbt mit gutturalem Jiddisch, jener Weltsprache, die

nach dem Krieg nur noch von ein paar Tausend Menschen beherrscht

wurde. Herb Mayer rollte das „R“, blähte das „J“ und stauchte das „E“,

jonglierte mit den Buchstaben, kaute jedes Wort und ließ es auf der Zunge

tanzen, schluckte es halb, drückte es wieder hoch zum Gaumengewölbe,

169
bevor er es ausspie mit feuchter Prononcierung. Hollaender mochte diesen

Typ sofort, Ilse auch, sie stand daneben und lächelte.

Die beiden Männer saßen sich in einer Bar in der Nähe der U-Bahnstation

Eberswalder Straße gegenüber. Ein quadratischer Tisch trennte sie.

Hollaender bat den Wirt, die Musik leiser zu stellen. Ein alter Mensch

könne den, er bat um Entschuldigung für den Ausdruck, Krach, nicht gut

vertragen. Der Wirt kam der Bitte etwas unwillig nach.

„Das tut wohl“, freute sich der Alte, als er sich wieder zu Henry setzte.

„Stille ist selten geworden, finden sich nicht auch?“ „Ist irgendwo in einem

Zimmer ein Loch in der Wand, wird sogleich ein Lautsprecher hingestellt.

Lautsprecher, da sagt doch schon alles. Laut und sprechen, welch ein

Unsinn. Lassen sie uns ein paar Minuten einfach schweigen und dem

Treiben draußen auf der Straße zuschauen“.

Henry stimmte zu, warum, wusste er nicht, wohl aus Angst Hollaender zu

widersprechen. Er drehte sich eine Zigarette und suchte Streichhölzer.

„Bitte unterlassen sie in Zukunft das Rauchen in meiner Gegenwart“,

unterbrach Hollaender die Stille am Tisch. „Ich mag keinen Lärm und

keinen Qualm, nicht mehr. Ist es ihnen möglich, das zu akzeptieren? Viele

Tage werde ich nicht mehr benötigen, dann ist unsere Geschichte zu Ende“.

„Unsere Geschichte...?“

„Ja, inzwischen koitierten meine Geschichte und das, was sie als Geschichte

von mir hören wollten“, entgegnete Hollaender, nahm einen Schluck

Kaffee, und fügte hinzu:

„ Ich wundere mich ein wenig, dass sie das nicht bemerkt haben. Nolens

volens sind wir eine Art symbiotische Beziehung eingegangen. Aber im

170
Unterschied zur biologischen Definition, nach der die in Symbiose

existierenden Lebewesen voneinander profitieren zum Nutzen beider

Organismen, sind wir beiden zusammen gekommen, um uns zu schaden“.

„Sie meinen also, ich will ihnen schaden“, fragte Henry ungläubig.

„Nun, vielleicht nicht bewusst. Aber es ist ihnen gelungen, alte Wunden

aufzureißen. Mein Leben hat sich damit sehr verändert. Dagegen kann ich

mich jetzt nicht mehr wehren. Die Wunden klaffen, so ist das. Ich

ermögliche ihnen einen Blick in die Hölle, damit schade ich ihnen. Jeder

Blick in den Abgrund, dort, wo das Grauen wütet, hinterlässt Spuren.

Gleichzeitig werden sie Schuld empfinden, die ihnen aber nie zugesprochen

habe. Soweit die graue Theorie, junger Mann“.

Herb Mayer heiß eigentlich Herbert Mayerbeer. Er entstammte einer

alteingesessenen Kaufmannsfamilie in Plotzk in Weißrussland in der Nähe

von Witebsk. Die Eltern waren wohlhabend und nicht ohne Einfluss, denn

der Vater war ein geschickter Kaufmann. Die drei Kinder lernten an

modernen Schule das humanistische Weltbild. Aber dann fesselte eine

schwere Krankheit den Vater für lange Zeit ans Bett. Er konnte den

Geschäften nicht mehr nachgehen und seine Kunden, deren Treue er früher

in hohen Tönen lobte, suchten sich einen anderen Lieferanten. Am Anfang

besuchten sie ihn noch am Krankenbett, aber schon bald wandten sie sich

von ihm ab. Die Mutter versuchte den Handel weiterzuführen, aber sie hatte

kein Glück. Ihr gelang es nicht, das Netz an Freundschaften, deren einziger

Sinn daraus bestand, gegenseitigen Nutzen zu mehren, zu erhalten. Sie

beglückte die falschen Leute mit Nachgiebigkeit, zollte den Beamten nicht

171
genügend Respekt und schalt ihre ungeduldige Kundschaft. Dazu spuckte in

jener Zeit die zaristische Obrigkeit den Juden kräftig in die Suppe. Zar

Alexander und sein Sohn Nikolaus, der dem Vater nach dessen

hinterlistiger Ermordung auf dem Thron folgte, verboten den Juden die

Ansiedlung außerhalb bestimmter, streng reglementierter Gebiete in den

Städten. Per Ukas wurde ein Ansiedlungsrayon katastriert, der den Handel

schließlich zum Erliegen zwang. Die einst wohlhabende Familie Mayerbeer

mit den Kindern auf der guten Schule verlor nach und nach ihren Geltung,

dann ihr Vermögen und versank allmählich in Armut. Die früher

unterwürfig grüßenden Nachbarn lachten vor Schadenfreude. Ein Unglück

blieb, das andere verging. Vater Mayerbeer gesundete, gelangte wieder zu

alter Tatkraft, aber er Stand vor den Trümmern seines Handels. Eines Tages

sagte er zu seiner Frau und seinem ältesten Sohn Herbert:“ Meine Lieben,

mir ist kein Geld zur Bestechung der Beamten des Zaren geblieben, keine

für die Schulausbildung, keines für Kleidung und nur noch wenig für

Nahrung. Ich will mich dem Zug der Auswanderer nach Amerika

anschließen und ihr werdet mir in einigen Monaten folgen, sobald ich das

Geld für eure Reise zusammen habe. Bis dahin bist du, mein lieber Sohn,

das Oberhaupt der Familie. Pass mir gut auf deine Mutter und die

Schwestern auf.“

Am 3. April 1901 verließ der alte Mayerbeer seine Familie in Plotzk und

schiffte sich auf ein rußendes, fauchendes Dampfschiff nach Amerika ein.

Die Mutter und die Schwestern weinten ihm nach, auch Herbert war zum

Weinen zu Mute, aber sein Stolz, nun das Oberhaupt der Familie zu sein,

war größer.

172
Auf der Überfahrt sah der Vater viele Menschen sterben. Und er sah viele

Geburten in den stickigen Decks tief unten im Schiffsrumpf. Dorthin

gelangte kein Tageslicht und keine Frischluft. Die Kleider faulten den

Menschen vom Leib, es roch nach Exkrementen und Erbrochenem. Die

Luft änderte ihren Aggregatzustand zu einer stickigen, klebrigen Masse,

die fast zu ertasten war in den elenden Quartieren: Man hörte nur das

Stöhnen und das Gejammer. Kaum waren die Leute drei, vier Tage an Bord,

war ihnen alle Hoffnung vergangen. Die apathischen Mütter wussten nichts

mehr mit ihren Kindern anzufangen, die ihnen um die Beine krochen, und

denen die Bäuche aufgasten vor Hunger. Die Männer lungerten, von

sinnvoller Tätigkeit ausgeschlossen, herum, und nicht selten entlud sich ihre

Verzweifelung in wilden Schlägereien um ein Stück trockenes Brot, Seife

oder ein paar Krümel Tabak.

Endlich am Ziel mussten die Auswanderer für eine Ewigkeit in Quarantäne.

Akribisch prüften beamtete Ärzte die Gesundheit der Menschenladung.

Vater Mayerbeer bestand die Prüfung in einem dieser Viertel in New York,

die vor Menschen überquollen, die ihrer versinkenden Heimat entflohen

waren.

Die Mutter, die Schwestern und Herbert erlebten in den Monaten vor ihrer

Abreise den Feuersturm, den marodierende Banden entfachten, die Dörfer

und Städte verheerten und sich alles raubten, was ihnen von Wert schien.

Die Juden, die sie nicht töteten, wurden verjagt. Sie schändeten Frauen und

Mädchen und unterschieden dabei nicht sehr genau. Auch die Schwestern

und die Mutter von Herbert kamen ihnen in die Fänge. Sie besudelten sie

und hinterließen für alle Zeit ein Stigma auf den Frauen. Für Mutter

173
Mayerbeer, eine verblühte Schönheit von 43 Jahren, hatte sich der Anführer

der Horde etwas ausgedacht, was sogar die Vorstellungskraft seiner rauen

Kumpane übertraf. Er warf sie auf den Boden, riss ihr den weiten Rock

hoch und versuchte ihr den Schaft seines Gewehres in den Leib zu bohren.

Als sein Vorhaben zunächst nicht gelang, drehte er die Waffe um, und

steckte der sich unter reißenden Qualen windenden Frau die Mündung in

den Leib. Danach zog er die Waffe mit einem heftigen Ruck wieder heraus,

drehte sie und schob ihr unter Aufbringung von großer Kraft den hölzernen

Griff in die Scheide. Blut schoss aus ihrem Schoß und rötete das

Unterkleid, den Fußboden und rann den Oberschenkeln entlang bis zu den

Knöcheln. Vor ihrer Ohnmacht, die ihr die Vergewaltigungen nicht

ersparte, rollte sie ihre Augäpfel, so dass nur noch weiß zu sehen war. Die

Umstehenden, die eine derartige Marter noch nicht gesehen hatten, fanden

allmählich Gefallen an dem perversen Treiben ihres Anführers und sie

lachten, zunächst nur ihr untertäniges Lachen, das sich alsbald steigerte in

einen Rausch. Sie rissen die Schwestern auseinander und einer nach dem

anderen machte sich über die Mädchen her. Diejenigen, die gerade nicht an

der Reihe waren, würgten sie und hielten ihnen die Arme fest an den Boden

gedrückt. Die Burschen stießen ihre Schwänze ruckartig in die Mädchen,

die das Geschrei eingestellt hatten und nur noch wimmerten wie

Katzenjunge vor dem Ertränken. Die Schmerzen, die ihnen die Horde

zufügte, ließen alle Gedanken absterben, brachten sie um den Verstand. Vor

Qualen und Scham wünschten sie sich den raschen Tod herbei. Aber der

Tod ereilte sie nicht. Nach einer Weile, die ein ganzes Zeitalter dauerte,

ließen die Folterer von ihren Opfern ab. Polternd und grölend wie sie in das

Haus der Familie Mayerbeer eingerungen waren, zogen sie wieder ab. In

174
mörderischer Gründlichkeit verwüsteten sie die Wohnung, zerstörten das

Mobilar und zerschlugen Geschirr. Es war ihnen gleichgültig, ob die Frau

und die Mädchen gestorben waren; sie ließen sie in ihrem Blut und in den

Trümmern liegen.

Die Pogrome breiteten sich in flammenden Schüben aus, die immer wieder

angefacht von der zaristischen Obrigkeit, ihren Beamten und

Speichelleckern, den Mob anstachelte. Wenn die Schänder eine Ansiedlung

verlassen hatten, lag beklemmende Ruhe über den Häusern, Schuppen und

Ställen, Äckern und Wiesen. Der Wind fuhr mit einem Rauschen in die

Pappeln. Aus den Siedlungen wurde das Leben hinaus gepeitscht auf die

Straße, wo es im Morast versank. Die Hühner liefen ziellos hin und her und

schauten so aufgeregt, als hätten sie begriffen, was passiert war. Irgendwo

brüllte eine Kuh, deren Milch in den Eutern versauerte. Während dessen

prahlten die Täter bei Schnaps und Bier in den Wirtshäusern oder

streichelten zuhause am Küchentisch ihren Kindern übers Haar.

Das Geld des Vaters kam. Mit letzter Kraft, und mit dem Geld des Vaters

machte sich die Familie auf den Weg nach St.Petersburg. Kurz darauf

bestiegen sie ein Schiff, das sie nach Amerika brachte.

„Ich höre meine Mutter heute noch über die Zaristen und ihre Soldateska

fluchen, die alle feige Speichellecker, Schänder, Mörder und Gauner waren.

Und die ungewaschenen Bauernsöhne standen uns auch nicht bei. Sie hatten

nur Stroh im Kopf“, erzählte Herb Mayer Hollaender. „Die Seelen der

Mutter und der Schwestern waren schwer versehrt. Ich merkte das erst viel

später, aber da gab es keine Rettung mehr. Die Hurensöhne haben alles

durcheinandergebracht“.

175
Henrys Vater war bei einer Versicherungsgesellschaft durch fleißiges

Dienen zu einigem Ansehen, zu erklecklichem Einkommen und auf eine

Position gekommen, die es ihm abverlangte, mit Autorität eine Truppe von

Agenten zu führen. Er trug immer einen dunkelgrauen Anzug aus weich

fließendem Material, der seine Autorität und seinen Rang unterstrich. Mit

der Zeit hat er sich ein schmuckes Reihenhaus mit Satteldach erarbeitet.

Vor dem Haus parkte der schnittige Dienstwagen. In Henrys Vater glühte

nicht eben ein großer Geist. Praktisch veranlagt, galt seine Aufmerksamkeit

dem Wohle seiner Familie. Nur sein Sohn bereitete ihm Sorgen. Er konnte

ihm schon nicht mehr folgen, als dieser vierzehn, fünfzehn Jahre alt

geworden war. Der Junge träumte, las merkwürdige Romane eines

Menschen der sich „Don Juan“ nannte und schrieb selbst Gedichte. Sie

handelten wie üblich in diesem Menschenalter von der alles bestimmenden,

alles überragenden und alleine selig machenden ersten Liebe. In der Schule

galt Henry als begabt, wenngleich seine Lehrer nicht recht wussten, in

welche Richtung seine Eignung tendiere. In diese Zeit fiel auch ein

Ereignis, das Henry bis zum heutigen Tag nicht vergessen konnte. Der

Vater warf einen ganzen Stapel Blätter in den Müll. Der Vater glaubte,

seinen Sohn vor sich selbst schützen zu müssen und ihn anzuspornen, etwas

Vernünftiges aus seinem Leben machen. Alles, was sich nicht sofort in

Mark und Pfennig umrechnen ließ, galt dem Vater als unnützes Zeug.

Henrys Mutter hingegen versuchte mit ihren Mitteln den Sohn zu schützen

und zu verstehen. Aber alles, was sie zustande brachte, war ein zähflüssiger,

honigsüßer, lavaartiger Strom Mutterliebe, mit dem sie ihn bedeckte.

176
Der jungen Magda Lantz, geborene Stummbaum, prophezeite man eine

glänzende Zukunft, denn das Mädchen bewegte sich in der Malerei ebenso

exzellent, wie in der Musik. Ihr Herz gehörte Ludwig van Beethoven und

Felix Mendelssohn-Bartholdy, den sie besonders verehrte, ja liebte. Die

zum Kränkeln neigende Magda brachte jedoch nicht die Kraft auf, ihre

hervorstechenden Neigungen zum Beruf auszubilden. Sie verschwendete

Beethoven und Mendelssohn-Bartholdy als Lehrerin an einem Gymnasium,

dem Rat ihrer Mutter folgend.

Nach der Niederkunft mit Heiner, auf diesen Namen wurde Henry getauft,

ließ sie ihre Lehrtätigkeit ruhen und nahm sie auch Jahre später nicht mehr

auf.

Heiner hatte als Gymnasiast den Spitznamen „Henry“, mit dem ihn die

Mitschüler riefen, zu seinem Künstlernamen geadelt. Heiner klang ihm zu

spießig. Das wiederum ärgerte seinen Vater. Henry entwickelte sich

prächtig, benötigte aber viel Zuwendung, die ihm die Mutter mit großer

Hingabe schenkte. Sie verglich bei Familienfesten gerne die Liebe zu ihrem

Sohn mit ihrer Verehrung von Beethoven und Mendelssohn-Bartholdy,

was regelmäßig mit einigem Befremden beantwortet wurde und dem Sohn

Schamröte ins Gesicht schrieb.

Im Laufe der Jahre, eins glich dem anderen, trübte sich das Gemüt von

Henrys Mutter. Sie war der festen Überzeugung, dass die Jahre nicht

einfach nur vergingen, sondern, kaum dass sie vergangen waren,

zusammenfielen. Wenn sie also auf ihr Leben zurückblickte, sah sie nichts

als ein Trümmerfeld. Und später, ihre Melancholie war fortgeschritten, lag

nicht nur ein Trümmerfeld hinter ihr, sondern auch die Aussicht in die

Zukunft verhieß nichts als Trümmer, so weit sie blickte. Der Trübsinn der

177
Mutter schritt unaufhaltsam voran und die Gedichte des Sohnes wanderten

von der Liebe zum Tod. Die Depression verschlechterte ihren Zustand so

sehr, dass sie Trümmerlandschaften nicht mehr in Gänze wahr nahm,

sondern nur einzelne Brocken, die ihr vor die Füße rollten. Sie dämmerte

schattenstill vor sich hin. Ein ums andere Mal marschierte die schmerzhafte

Migräne wie ein Heer todbringender Soldaten herbei. Am Ende bewegte sie

auf dem Höllenpfad zwischen Melancholie und Migräne, wie zwischen

Tisch und Bett.

„Schön, dass sich mein Sohn auch mal wieder zeigt“, begrüßte Manfred

Lantz seinen Sohn gallig.

„Wie geht es der Mutter“, erkundigte sich der Sohn.

„Interessiert dich das wirklich, wie es deiner armen Mutter geht, oder

belastet dich dein Gewissen? Willst du höflich sein, gut erzogener Sohn

spielen?, die Fragen prasselten auf ihn nieder wie Hagel.

„Vater, bitte entschuldige, ich möchte keinen Streit. Ich möchte wissen, wie

es der Mutter und dir geht. Gerade zu ihr zieht es mich, wo es sie doch so

schwer getroffen hat...“

„Woran du eine große Schuld trägst, mein Sohn. Du hast deiner Mutter sehr

viel Kummer gemacht. Sie wollte, dass du hier bleibst, du gingst fort.

Gerade, als es ihr schlecht ging, hast du das Gegenteil dessen getan, was

sie, oder auch wir, wollten. Dein Egoismus hat sie krank gemacht. Mich

übrigens auch“.

„Das ist nicht wahr, und das weißt du ganz genau. Ich habe keine Lust, mit

dir immer und immer wieder dasselbe Thema zu diskutieren. Du hast sie

krank gemacht mit deinem Reihenhaus, deinen Versicherungen, deinem

178
Rasenmähen, den Grillabenden mit den unglaublich langweiligen

Menschen und mit deinem Desinteresse an den Dingen, die ihr wichtig

waren!“, rief Henry voller Wut.

Vorsichtig schlich er sich in das Zimmer, in dem seine Mutter mit vor

Migräneschmerzen hämmerndem Kopf lag. Sie schlief. Henry mochte sie

nicht aufwecken. Er betrachtete ihr bewegungsloses Gesicht, die grauen

Haare, die es umgaben, die schlaff am Körper anliegenden Arme und ihren

Brustkorb, der sich hob und senkte. Er strich ihr zärtlich über die Wange

und küsste sie auf die Stirn.

Der Vater hatte den Sohn im Türrahmen lehnend beobachtet. Als sich

Henry an seinem Vater vorbei drücken wollte, nahm er ihn in den Arm, und

sein ganzes Leben floss dahin. Die Frau todkrank, der Sohn im Streit aus

dem Haus.

„Es ist noch früh am Abend, lass uns noch etwas essen gehen. Hier in der

Nähe hat ein neues....“.

„Danke“, unterbrach ihn Henry, „mir ist nicht danach, verzeih, ich möchte

alleine sein“.

Der alte Lantz machte es seinem Sohn nicht leicht. Er zählte zu den

Menschen, gegen die sich leicht aufbegehren lässt. Er bestand aus

Gehorsam und treuer Pflichterfüllung. Auch bei strenger Betrachtung, gab

keinen wirklichen Grund, der dazu taugte, ihn zu kritisieren. Er war ein

aufrechter, fleißiger Mann, der zu seiner Verantwortung stand, der

versuchte die Familie zusammen zu halten und ein nützliches Mitglied der

Gesellschaft zu sein. Das reichte ihm als Lebensinhalt.

Henry strebte fort. Am nächsten Morgen warf er einen Blick in die

Lokalzeitung, die er hasste, weil sie seine Gedichte nicht abgedruckt hatten.

179
Jetzt brauchte er sie nicht mehr. Jetzt war er in Berlin, suchte dort die

Anerkennung, die er sich beimaß. Der Abschied vom Vater war herzlich, so

als ahnten beide, dass sie sich nicht so bald wiedersehen würden. Noch

einmal besuchte er die Mutter in ihrer Gruft, sie lag wach, und antwortete

ihm mit einem Lächeln.

Auf der Reise zurück nach Berlin umkreisten seine Gedanken Hollaender.

Der Schnellzug fraß sich durch die deutschen Landschaften. Wälder, klein

Ortschaften, weite Felder, menschenleere Bahnhöfe, Bahnhöfe mit

Reisenden, Viehherden und Autobahnen begleiteten den Zug.

Zwei Tage hatte Henry am Schreibtisch verbracht. Nur einmal sah er Arno,

der gerade mit einer hübschen jungen Dame nach Hause kam. Am Abend

des dritten Tages machte er sich auf den Weg, den alten Hollaender zu

treffen. Unterwegs schüttelte er über sich selbst den Kopf: ‚Warum tue ich

mir das alles an, warum?’

Wie immer saß Hollaender alleine an seinem Tisch im Restaurant Rosen.

Ein benutzter Teller mit Essensresten stand vor ihm, das Besteck ordentlich

ausgerichtet, die Serviette darüber. Er hatte gut gespeist und war offenbar

guter Laune, zumindest konnte Henry keine anderen Schlüsse ziehen.

„Ich grüße sie, Henry. Nehmen sie Platz. Ich habe gut gegessen. Wie geht

es ihnen? Haben sie Hunger? Wo waren sie, ich habe sie schon vermisst?“

„Mir geht’s gut, danke, dass sie fragen. Ich besuchte in Köln meine Eltern.

War nicht sehr angenehm. Meine Mutter ist sehr krank und mit Vater

verstehe ich leidlich. Wir leben auf zwei weit entfernten Planeten“. Er

erstattete Hollaender ausführlich Bericht. Es klang wie das Protokoll eines

Abgesanges auf seine Kindheit, Jugend und Familie. Hollaender lauschte

180
andächtig und nickte ab und zu. Henry klagte über das Unverständnis

seines Vaters, das Leid der Mutter, das Reihenhaus mit Satteldach, die

Langeweile der vorstädtischen Provinz mit den Rasenflächen, aus denen

Rhododendron sprießt und blasse Hortensien, die immer aussehen als seien

sie verblüht, das Auge beleidigen. Er klagte über die Geranien, die von den

Balkonen herab ihr rotes Gift kotzen...!

„Hören sie auf“, befahl Hollaender. „Was erzählen sie mir von einem

grotesken Theater. Ich will ihre boshaften Arien nicht hören. Sie bis oben

voll mit Undank. Wie können sie so über ihre Eltern reden?! Eines will ich

ihnen sagen, es betrifft ihre Mutter. Sie ist die einzige, die begriffen hat,

dass die Welt ein Grab ist. Nur eines hat sie in ihrem Leben nicht erfahren

dürfen, wie es scheint, dass der Künstler der Grabwächter ist. Wenn sie

diese Konsequenz gefolgert hätte, würde sie sich frohgemut aus dem

Krankenlager erheben, ihrem Vater und ihnen in den Hintern treten, sich an

das Klavier setzen und Mendelssohn-Bartholdy spielen“.

Alfred Hollaender und Ilse saßen mit Herb Mayer im Auto und waren

unterwegs nach St.Louis. In drei Tagen wollte Herb die 1000 Meilen lange

Strecke geschafft haben. Aber er hatte die Rechnung ohne seinen alten Ford

gemacht. Der Wagen bereitete ihnen immer wieder Probleme. Mal war es

die Benzinleitung die leckte, dann drohte das Kühlwasser zu kochen und

zwei Mal mussten sie unter Einsatz großer Kräfte Reifen wechseln. Aber

nach den vielen Pannen entschloss sich der betagte Ford zu funktionieren

und es ging flott voran. „Und außerdem“, betonte Herb beruhigend, „läuft

uns das Geschäft nicht weg“. Dann lachte er laut.

181
Etwa 50 Meilen vor Indianapolis, in einem staubigen Nest mit Namen

Madison, stoppte Herb den Wagen vor einem unscheinbaren Gebäude, das

von einem nach allen Seiten offenen Turm gekrönt war. Unter dem spitzen

Dach langweilte sich ein Glöckchen. Manchmal schlug es wie von

Geisterhand, dann verstummt es für Tage – niemand wusste genau, wann

das Glöckchen schlägt und für wen, wer es antreibt und warum es innehält.

„Haben wir wieder eine Panne?“, erkundigte sich Hollaender besorgt.

„Nein, nein“, antwortete Herb. „Den Priester in dieser kleinen Kirche kenne

ich, es ist zwar nur ein Christ, aber was soll’s, vor Gott gelten alle

Hochzeiten“. Er lachte wieder. „Ich erinnere mich, dass du mir erzählt hast,

Ilse heiraten zu wollen. Jetzt ist die Gelegenheit?“

Hollaender fühlte sich ertappt. Sein Gesichte rötete sich. Tatsächlich hatte

er Herb in New York von seinen Absichten erzählt. Es stimmte auch, dass

er sich auf dem Schiff geschworen hatte, Ilse mit einem Rosenstrauß, ganz

offiziell und feierlich, einen Heiratsantrag zu machen. Jetzt stahl ihm Herb

die Schau und Ilse saß auf dem Rücksitz, lächelte verlegen und tat so, als

ginge sie das alles nichts an. Hollaender fasste sich ein Herz, ergriff Ilses

Hand, küsste sie lange und fragte sie schließlich:“ Willst du meine Frau

werden. Willst du Frau Hollaender werden?“ Er hatte seine Frage mit etwas

zu viel Pathos verschnörkelt. Er klang gezwungen, das zu tun, was er

ohnehin vorhatte, aber nicht zu dem von ihm geplanten Zeitpunkt. Die erste

Gelegenheit hatte er am Pier verstreichen lassen. Er fand keine Rosen, und

vertagte sein Vorhaben. Auch im Hotelzimmer wäre Zeit für den

Heiratsantrag gewesen, aber da fehlte ihm die Entschlossenheit. Jetzt hatte

ihn Herb vor die Entscheidung gestellt. Ein Zurück gab es nicht mehr.

182
Ilse, die seit ihrer Flucht nach Kladow nie mehr etwas zu bestimmen hatte,

nicht gefragt worden war, ob sie lieber dies wolle oder jenes, die sich in ihr

Schicksal fügte und gehorchte, fand sich unvorbereitet vor der Alternative,

Hollaender zu heiraten, oder eben nicht, mit Folgen, die sie nicht

einzuschätzen vermochte. Eine wirkliche Wahl hatte sie nicht. Sie saß

Wagen, schaute abwesend aus dem Fenster und der Film ihres kurzen

Lebens lief ab. Endlos dauerte das Schweigen. Das Abendlicht zauberte

eine Milde in ihr Gesicht, die das Tageslicht nicht zuließ und die das

Mondlicht verschleierte. Nichts bewegte sich in ihrem Gesicht, nicht das

kleinste Zucken, kein Muskel, kein Härchen, kein Blinzeln oder

Wimpernschlag regte sich.

„Im Talmud steht, dass der Mensch erst dann vollkommen ist, wenn er

einen Ehepartner hat“, sagte Herb über die Rückenlehne im Wagen gebeugt.

Er verbreitete die unbeschwerte Fröhlichkeit desjenigen, der sich über

seinen guten Einfall freut.

„Gefastet habt ihr auch, oder? Solltet ihr Bedenken haben, so kann ich sie

entkräften. Hört zu! Da die Eheschließung überall stattfinden kann, muss

sie folglich auch von einem Priester in einer Kirche vollzogen werden

können. Zwei Zeugen stehen zur Verfügung, George der Priester, und seine

Haushälterin. Die macht mit, ich bin sicher. Na ja, und als Chuppa nehmen

wir einfach...“, er überlegte kurz, „ja, natürlich“, rief er, „das Dächlein oben

auf der Kirche. Ringe hast du auch, Alfred, also, ihr beiden, worauf wartet

ihr noch?“

Ilse willigte ein. Ein Rest schwachen Missgefühls, das Hollaender nach

Herbs Vorstoß in sein Privatleben auslöste, und sein Groll über das eigene

Unvermögen wichen trotziger Entschlossenheit. Er nahm Ilse in den Arm,

183
flüsterte ihr etwas ins Ohr, sie kicherte wie ein kleines Mädchen, dann

küsste er sie innig und anhaltend, bis Herb sie unterbrach:“ Halt, halt, dafür

ist später noch Zeit genug“.

Wenig feierlich, nur eine Formalität, war ihre Hochzeit. Der gelangweilte

Priester George spulte sein Programm ab, wie er es täglich bei vielen

Paaren machte. Nur eines war nicht wie immer: dass seine Haushälterin als

Zeugin her halten musste. Sie erledigte die Pflicht, zu der sie ihr Priester

aufgefordert hatte mit einigem Argwohn. Sie entledigte sich ihrer Schürze,

legte sie über eine der Kirchenbänke und wohnte mit gleichgültiger Miene

der Zeremonie bei. Danach verließ sie ohne Gruß die Kirche.

Herb hatte ihnen auf der langen Reise durch wundervolle Landschaften in

ihrem Traumland, an denen sie sich nicht satt sehen konnten, viel von

seinem Geschäft in St.Louis erzählt.

Trotzdem mischte sich Wehmut in ihr Glück. Sie sahen grandiose

Landschaften sandgelber Berge, die sich in Schichten zu grotesken

Gebilden aus einer Fabelwelt auftürmten und weite Ebenen, die am

Horizont mit dem Himmel zusammenflossen. In die Eindrücke hinein, als

nähme sie die Geschenke Gottes nicht wahr, sagte Ilse: „Was war das für

eine Vermählung, ohne Familie und Verwandte“.

„Ich bin eure Familie, ab sofort und so lange ich lebe“, antwortete mit lauter

Stimme der fröhliche Herb zu seinen Fahrgästen im Fond. „Ich bin Vater,

Mutter und Geschwister, Tanten, Onkel und Cousins“.

Je länger die Reise dauerte, um so mehr übertrug sich seine Stimmung auf

das Brautpaar. Bald waren sie eine kleine lustige Reisegesellschaft auf dem

Weg durch die Weiten des amerikanischen Westen.

184
Nach dem Tod seines Vaters hatte Herb das Geschäft übernommen. Aus

weitem Umkreis kamen die Kunden herbei. Zu der Zeit, als der alte

Mayerbeer den Laden eröffnete, waren viele der jetzt die Straße säumenden

Häuser noch nicht errichtet. Einige niedrige Steinhäuser, ein paar

windschiefe Schuppen und ein Markt, das war alles, was er vorfand.

Ein paar Büsche wurden vom ewig wehenden Südwind zerzaust,

Sperlingsfamilien stritten um Krumen und Körner, die Sonne schien, sie

schien ewig, und in Weltraumnähe standen die weißen Wolken so stabil, als

hätte sie jemand angeklebt.

„Mein Vater führte den ersten Supermarkt in dieser Gegend, als sich noch

kein Mensch hier vorstellen konnte, dass alle Waren des täglichen Bedarfs

in einem einzigen Geschäft zu erhalten waren“, berichtete Herb. Dabei

verbarg er nicht den Stolz, den er bei der Erinnerung an seinen Vater hegte.

Obst und Gemüse, Konserven, Getränke, Haushaltsgeräte, Kurzwaren,

Gewürze und Tabak wurden feil geboten. Etwas abgetrennt, in einem

Nebenraum, hatte Herb später das Geschäft um eine Apotheke erweitert.

Vitaminpräparate, Seifen, Parfüm, schönheitsfördernde Mittelchen für die

Damen und geheimnisvolle Pillen, die die Leute immer dann nachfragten,

wenn sie vom Trübsal geplagt wurden, wenn sie Brummschädel oder

Rücken quälte, die Fingernägel eingewachsen waren, das

Nachtschattengewächs des Gemahls nicht mehr wollte wie es sollte, die

Regel der Gattin ausblieb oder die Kinder ausdauernd schrieen. Herb Mayer

war mit seinen Geschäften sehr zufrieden. Es gelang ihm ein erkleckliches

Auskommen zu sichern und sogar Rücklagen zu bilden. Die gewisse

Begabung aus einem Dollar zwei, aus zwei vier zu machen hatte ihm Vater

Mayerbeer vererbt. Wenngleich sein Wesen nicht von der feingliedrigen

185
Noblesse durchzogen war wie das seines Vaters, dessen Erscheinung von

vornehmer, ja fürstlicher Herkunft erzählte. Herb war ein einfacher und

guter Mann. Es war ihm aber nicht gelungen, eine Frau zu finden, die ihm

Kinder hätte schenken wollen.

„Ich habe viele gesehen, die zu mir gepasst hätten, die sogar ganz

ansehnlich waren, aber letztlich entschwanden sie alle wieder. Die Frauen

kamen und gingen. Ich wurde älter, so alt, bis mir schließlich gar keine

mehr folgen wollte, bis auf die, die für ein paar Dollar zu allem bereit

gewesen wären. Danach aber stand mir nicht der Sinn“.

Mayers Mutter und die beiden Schwestern hatten Vater und Bruder schon

vor vielen Jahren verlassen.

„Es gab immer Streit“, erzählte Mayer. „Unsere Familie, auf die wir einmal

so stolz gewesen waren, zerbrach in zwei Hälften. Was sollten wir tun. Die

Frauen zeterten, wollten und konnten nicht ablassen, der Vater wohl auch

nicht. Du darfst eines nicht vergessen, seine Frau und seine Kinder wurden

auf das Grauenhafteste gepeinigt, man hat dem Vater damit auch die Ehre

genommen, man hat ihn zerbrochen...“. Herb Mayer hielt kurz inne, als

suchte er nach den richtigen Worten.

„Unsere Mutter erklärte die Männer, verstehst du, alle Männer, nach den

Schändungen zu Feinden und nahm Vater und mich von diesem Fluch nicht

aus. Die Schwestern, der Mutter in der gemeinsamen Erinnerung an die

Verbrechen zutiefst zugetan, wie mit einer neu gewachsenen Nabelschnur

mit ihr verbunden, schalten uns als Lumpen und als genauso

verachtenswert, wie die Schufte, die ihnen das Schlimmste angetan hatten.

Zornig und verbittert rief sie dem Vater zu, die beiden Töchter an der

186
Hand:“ Du hast in Amerika gehockt, schön gemütlich, hast dich aus dem

Staub gemacht, und dann dieser Laden....und dein Sohn hat uns auch nicht

geholfen!“

„Ja, sie war sehr ungerecht, die Mutter“, seufzte Herb Mayer.

„Wir haben nie wieder etwas von ihnen gehört, das hat dem Vater das Herz

gebrochen“.

Hollaender und Ilse bezogen eine kleine Wohnung über dem Geschäft. Das

Appartement bestand aus zwei Kammern, die durch die Küche zu erreichen

waren. Die Küche, zentral gelegen, trennte Wohn- und Schlafraum.

Hollaender zog rasch die hässlichen Vorhänge zu Seite, die den Blick zur

Straße versperrten. Die Zimmer lagen hell in der Nachmittagssonne. Der

erste, etwas triste Endruck verschwand. Im Schlafzimmer dominierte das

große Bett, Ilse kicherte. Links und rechts standen Nachttische, auf denen je

ein Lämpchen in der Nacht funzeliges Leselicht spendete. Der Schrank

hatte keine Türen. Hollaender untersuchte das Möbelstück, konnte freilich

nicht erkennen, ob jemals eine Türe den Schrank verschlossen hatte. Ilse

freute sich über die Küche.

„Schau Alfred, hier, ein Kühlschrank, ein elektrischer. Zuhause, ich meine

bei Fechtners, hatten wir nur einen hölzernen Eisschrank“.

Zwischen dem klobigen Kühlschrank und dem Gasherd war eine breite

Ablage an die Wand geschraubt. In der Mitte, unter eine nackten Glühbirne,

wartete Geselligkeit versprechend der Tisch mit vier Stühlen. Alles sah

abgenutzt aus. Ordentlich zwar und sauber, aber die Wohnung hätte

bestimmt einiges zu erzählen gehabt.

„Wer wohl hier wohnte?“, fragte Ilse ohne eine Antwort zu erwarten.

187
„Mit etwas Farbe werden wir unser Reich verschönern“, sagte Alfred.

Kaum hatten sie ihre wenigen Habseligkeiten verstaut, rief auch schon Herb

mit lauter Stimme ins Treppenhaus, dass Kundschaft bedient werden

müsste. Hollaender und Ilse schauten sich erstaunt an. „Was meint er

damit? Sollen wir jetzt schon, also an unserem ersten Tag hinunter ins

Geschäft?, sorgte sich Ilse.

„Lass nur, Liebes, ich gehe, ich mach’ das schon. Warum sollen wir

aufschieben, was nicht aufschiebbar ist. Die Wohnung UND das Geschäft

werden unser Zuhause sein und unsere Aufgabe“, sagte Hollaender zu

seiner Frau und begab sich zu Tür.

Sein Englisch hörte sich noch sehr bemüht an, auch fehlten ihm viele

Vokabeln. Auf der langen Überfahrt lernte er ein paar Redewendungen und

Worte, die er sich sorgsam notierte und immer wieder las. Seine erste

Kundin in St.Louis, in Mayer’s Super Market, war eine alte farbige Frau,

die zwei Flaschen Coca Cola und Kornettbeef in der Dose kaufte. Herb

Mayer hielt sich im Hintergrund, sprang nur dann ein, wenn Hollaender gar

nicht mehr weiter wusste.

Hollaender und Ilse machten große Fortschritte, teilten sich die Arbeit klug

auf, sehr zur Freude des Inhabers. Nach und nach übertrug ihnen Herb

Mayer mehr Aufgaben. Mit Freude beobachtete er das Ehepaar und war

sogar stolz und zufrieden, dass nun nicht mehr alle Verantwortung auf

seinen Schultern lastete. Jeden Morgen in der Früh brach Hollaender mit

dem Lieferwagen auf, um im Großmarkt am anderen Ende der Stadt frische

Ware zu besorgen. Derweil stand Ilse im Geschäft. Herb Mayer ließ sie

188
immer öfter alleine und irgendwann trat er sogar seine erste Urlaubsreise

an. Vier Tage war er verschwunden.

Die Jahre vergingen im Flug, Zeit zum Nachdenken blieb kaum. Das

Ehepaar Hollaender verschwendete sich an die Arbeit. Ihre Unterhaltungen,

Sorgen, ihre Freude und ihr Glück umkreisten heliozentrisch das Geschäft.

Herb Mayer begnügte sich inzwischen damit, erst am späten Vormittag aus

seiner Wohnung, die ein Stockwerk über der der Hollaenders lag, herunter

zu kommen, um im Laden an dem runden Stehtisch in einer Ecke seinen

Kaffee zu schlürfen. Hier versammelten sich zu dieser Zeit die Alten aus

der Nachbarschaft, um dem Treiben im Laden beizuwohnen, dabei zu

schwatzen und Geschichten von früher auszutauschen. Zuweilen lästerte

Herb Mayer über das deutsch eingefärbte Englisch von Herb zu lästern, alle

am Tisch lachten. Hollaender lachte zurück und rief über die Ladentheke,

dass das Englisch vieler am Tisch nur älter klang, nicht aber besser.

Eines Tages, in einer ruhigen Nachmittagsstunde, stapfte Hollaender die

Treppen hoch hinauf zu Herb. ‚Seltsam’, dachte er, als er vor der

Wohnungstüre wartete, bis sein Klopfen beantwortet wurde, ‚mir scheint,

der gute alte Herb wird alt.’ Es dauerte einige Zeit, bis die Türe geöffnet

wurde. Herb wirkte verschlafen oder verwirtt. Seine Haare standen wirr

vom Kopf.

„Verzeih’ die Störung. Ich wollte mit dir etwas besprechen“.

„Ja, klar, komm rein.“

„Die Ilse und ich haben überlegt, dass es an der Zeit sei, einen Verkäufer

einzustellen. Die Arbeit wird ja gottseidank nicht weniger. Nur, weißt

du...“,

„Ja ich weiß“, unterbrach ihn freundlich der alte Kaufmann.

189
„Ich weiß, ihr arbeitet mit unerbittlichem Fleiß, deutschem Fleiß könnte

man bald sagen. Wenn du dir das gut überlegt hast, habe ich natürlich nichts

gegen einen Verkäufer einzuwenden“.

Hollaender legte seine Berechnungen vor, denen Herb Mayer leicht

entnehmen konnte, dass mit einem tüchtigen Verkäufer mehr zu verdienen

war. Er schaute flüchtig auf die Aufzeichnungen und nickte.

Kirk, ein junger Kerl, 26 Jahre alt, trat die Stelle in Mayer’s Super Market

an. Er wohnte nur ein paar Blocks weiter, seine Mutter war eine treue

Kundin, die schon bei Herb’s Vater einkaufte.

Kirk entlastete vor allem Ilse, die neben der Arbeit im Geschäft, für die

Männer kochte und den Haushalt führte. Sie zog sich zurück, saß manchmal

alleine am Tisch oben in der Wohnung, hörte Schlager aus dem Radio und

ihre Gedanken schweiften weit ab vom täglichen Einerlei. Sie entließ sie

aus dem Fenster, sie strömten die Straße hinab, die in gerader Linie aus der

Stadt führte und sie stießen tief in das weite amerikanische Land. ‚Ihr

Land?’, dachte Ilse. Sie träumte von San Franzisko, dorthin flogen ihre

Gedanken. Von San Franzisko hatte sie in einem Magazin gelesen. Von den

Twin Peaks, die sie auf einer Fotografie bestaunte, von den cable cars, dem

Pazifik, der Golden Gate Bridge aber auch von Alcatraz. Ilse trat zwei

Schritte vom Fenster, ging in der Wohnung rastlos umher. Jetzt, mit sich,

dem Radio, dem Tisch und der schönen Wohnung alleine, schämte sich,

auch bei größter Anstrengung kein Glück fühlen zu können. Sie überlegte,

ob ihr Kinder fehlten, eine richtige Familie. Dann wieder empfand sie

Dankbarkeit.

‚Hatte Alfred sie nicht vom Hof geholt, sie nach Amerika geführt, und zu

einer angesehenen Frau gemacht?’

190
‚Golden Gate’, murmelte sie vor sich hin.

Dankbar war sie den Freunden, einige stammten aus ihrer alten Heimat,

Emigranten wie sie, obschon seit langem Amerikaner, aber dennoch mit

dem Herzen manchmal noch in Deutschland. Oder vielleicht wieder?

Ilse kochte Herb Mayer das Mittagessen, wie jeden Tag, immer zur

gleichen Zeit.

„Herb“, hallte es durch das Treppenhaus. Kurz darauf schlurfte Herb herein.

Er fühlte sich so müde in letzter Zeit. Nach dem Essen ruhte er. Am

Nachmittag half er Hollaender im Geschäft, sprach mit den Leuten,

wanderte durch die Korridore, die die Regale mit den Waren bildeten,

rückte Preisschilder zurecht, bis später die alten Freunde kamen, so verlief

das Leben.

Abends, sie verschlossen das Geschäft um acht, saßen sie manchmal

zusammen, manchmal stellte sich Besuch ein. Ilse hatte aus der schäbigen

Wohnung ein gemütliches Nest gebaut. Bunte Tapeten und neue Möbel

legten Zeugnis ab von ihrem bescheidenen Wohlstand. Sogar ein TV-Gerät

hatten sie sich angeschafft und ein Telefon. Wenn Ilse vor dem Gerät saß

und Strümpfe stopfte oder Rätsel löste und darüber in gesunde Müdigkeit

verfiel, stand Hollaender oft lange am Fenster. Er sah dem Verkehr zu, der

sich vom Jefferson Boulevard in die 22. Straße, ihre Straße, einschob und

kurz vor dem Backsteinhaus mit Mayer’s Super Market an einer Ampel

stoppte. Im Winter tanzten die Schneeflocken im Lichtkegel der über der

Straße pendelten Lampen und die Autoreifen frästen schwarze Spuren in

den Neuschnee. Im Sommer verwandelte sich ihr Viertel in ein Metropolis

191
schwitzender Menschen, an Autos und Mauern gelehnt, so als erwarteten

sie etwas.

An einem Morgen im Sommer des Jahres 1962, die Nacht hatte kaum

Abkühlung gebracht, wunderten sich Hollaender und Ilse über die

ungewöhnliche Ruhe im Haus. Er hatte seine Großmarkteinkäufe in den

Regalen, Vitrinen und Kühlschränken sicher verstaut, als er zu Ilse sagte:“

Was meinst du, sollen wir nicht nach Herb schauen, da stimmt was nicht.

Um diese Zeit ist er doch üblicherweise längst unten zum Kaffee gewesen?“

„Du hast Recht, das sollten wir tun“, entgegnete sie ihm. Beide beschlich

ein mulmiges Gefühl, als sie hoch zu ihrem alten Freund stiegen. Ihr

Klopfen blieb unbeantwortet. Die Tür war unverschlossen, sie traten ein in

eine kühle Dunkelheit.

Der alte Herb Mayer, Herbert Mayerbeer aus Plotzk in Weißrussland, der

freundliche Kaufmann, der Jude, lag in seinem Bett und Gott hatte ihm die

Hände gefaltet. Er war in der Nacht gestorben, hatte die Welt verlassen,

Hollaender und Ilse verlassen, sein Geschäft verlassen, das sein Vater als

Heimstatt für die Familie gegründet hatte. Er saß an der Seite seines Vaters

und schaute zu mit liebevollen Blick auf Hollaender und Ilse, die zu seinen

Kindern geworden waren.

Ein ungeheures Gefühl der Traurigkeit und Leere übermannte Hollaender.

Er begann zu schluchzen wie ein junges Mädchen nach dem ersten

Liebeskummer, er weinte, streichelte dem Freund übers Haar und fiel auf

die Knie. Er Hollaender, der tränenlos geworden war, weinte in Amerika.

Er weinte um Frieda, Rosa, Paul, um alles, was man ihm genommen hatte.

Er vergoss die Tränen, die ihm früher nicht aus den Augen kommen

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wollten. Er weinte um ein ganzes Volk, ein Ozean voll Tränen. Herbs

friedlicher Tod belebte auf grausame Weise die Vergangenheit. Ihm wurde

klar, dass der Fluch seines Lebens nie vergehen würde. Er war nicht zu

vertreiben mit Arbeit, nicht mit Mühsal und auch nicht mit Liebe. Von dem

Fluch waren immer die langen Schatten verborgenen Hasses erhalten

geblieben. Der Hass hatte nie aufgehört in ihm zu kochen. Sein Hass war

wie Magma, die ewig glühende Schmelze, die tief in der Erde in ihren

Kammern auf die Eruption wartet.

Die Kundschaft in Mayer’s Super Market hatte sich verändert, genauso wie

sich die Nachbarschaft veränderte. Immer mehr Schwarze besiedelten das

Viertel. Sie grüßten nicht beim Betreten des Ladens, beachteten Hollaender

nicht, behandelten ihn wie ein Regal, das eben so herumsteht, mit irgend

etwas gefüllt, wovon man sich bedienen kann. Oft schimpften sie,

Hollaender verstand nicht. Den runden Stehtisch hatte Hollaender gegen

einen modernen Getränkekühlschrank ausgetauscht. Obst und Gemüse

wurde kaum noch verlangt. Zigaretten, Schnaps und Bier verlangten die

Leute. Zwei Häuser neben Mayer’s Super Market befand sich bis vor

einigen Monaten noch ein Hutgeschäft. Der Besitzer war Jakob Armreich.

Ihn lernten Hollaender und Ilse schon kurz nach ihrer Ankunft im

Kulturverein kennen; sie wurden Freunde. Armreich stänkerte immer über

die Neger, die sich im Viertel ausbreiten würden, kein Geld in der Tasche

hätten und immer nur bevor den Geschäften lungerten ohne zu arbeiten.

„Von morgens bis abends hängen die Leute herum und vertreiben uns noch

die letzten Kunden“, beschwerte er sich. „Niemand tut etwas dagegen“. Es

dauerte nicht lange, da schloss er seinen Laden für immer.

193
Niemand im Viertel vermochte genau zu festzustellen, wann alles anfing.

Wann die Veränderung einsetzte, heranschlich auf Turnschuhen, immer mit

den Hüften schwingend im Takt wilder Musik.

„Hollaender beschwichtigte die Freunde im Kulturverein:“ In Berlin sind

auch immer Leute weggezogen und neue kamen hinzu“. Einmal sagte ihm

Armreich mit einem sarkastischen Grienen im Gesicht: „1933 zogen

verdammt viele neue Leute nach Deutschland, sonst wärst du ja heute nicht

hier“. Hollaender wurde sehr wütend und noch Tage später sprachen die

Männer nicht miteinander.

„Den Armreich traf es schneller, denn Hüte verkaufen sich eben nicht wie

Lebensmittel. Wer trägt den heutzutage noch einen Hut. Die Leute wollen

andere Sachen und ein guter Kaufmann muss sich anpassen. Wenn keiner

mehr Hüte kauft, dann muss ich was anderes verkaufen. So einfach ist das“,

sagte Hollaender zu seiner Frau, als sie in lauer Nacht am Fenster lagen und

dem Treiben auf der Straße zuschauten. Immer noch hegte er Groll gegen

Armreich.

Die Sirenen, die sie früher nur aus der Ferne, vom Fluss her vernommen

hatten, rückten näher und endeten bald täglich in der 22. Straße, ihrer

Straße. Es brannten Autos, Männer wurden gejagt und verprügelt und sogar

Schüsse fielen. Sie knallten wie Donnerschläge. Lange war es her, dass

Hollaender und Ilse durch Schüsse in der Nacht jäh aufgeweckt wurden.

Eines Abends, Hollaender zählte gerade die Tageseinnahmen, und heftete

die Zettel mit den Geldbeträgen zusammen, die er wieder einmal hat

stunden müssen, als die Türklingel des Geschäftes läutete. Kirk war heute

früher nachhause gegangen. Sonst schloss er meistens das Geschäft und

schob das neue Gitter vor das Schaufenster und die Eingangstür. Hollaender

194
hatte diese Vorsichtsmaßnahme aber versäumt. Er hatte kaum aufgeblickt,

da fühlte er die kalte Mündung einer Pistole an seinem Kopf. Durch den

Haupteingang war ein Gangster hinter den Regalen geduckt, bis zu

Hollaender an seinem Stehpult vorgedrungen. Zwei Komplizen kamen

durch den Hintereingang. Niemand hatte sich die Mühe angetan, das

Gesicht zu vermummen. Weiße Zähne bleckten ihn an. Mit schnellem,

hartem Griff entriss einer der Ganoven Hollaender das Geld und stopfte es

in seine Tasche, während der zweite sich seelenruhig eine Flasche Bier

öffnete und sie in einem Zug leerte. Er stieß einen lauten Rülpser aus, die

Kumpane lachten. Danach pisste er in die Auslage, in der noch ein paar

Äpfel lagen, die Hollaender mit in die Wohnung nach oben mitnehmen

wollte. Angst und Zorn mischten sich, als er tatenlos zusehen musste, wie

sein Geschäft von den Verbrechern verdreckt wurde. Beim Verlassen

brüllten die Kerle, dass sie Weiße verabscheuten und weiße Juden noch viel

mehr.

Der Polizeioffizier, der einige Zeit später mit einem Kollegen am Tatort

eintraf, schürzte seine Lippen, als er den Schilderungen Hollaenders

aufmerksam, stets den Kopf hin und her wiegend, lauschte, schob die

Dienstkappe zurück und sagte zu Hollaender:“

Wissen sie, lieber Mister Hollaender, die Zeiten haben sich geändert. Was

sollen wir tun. Was um alles in der Welt sollen ein paar Polizisten tun,

wenn es überall brennt? Die Armee müsste hier aufkreuzen und das

Gesindel verjagen, dorthin, woher sie kommen. Gestern haben sie uns mit

Steinen beworfen, heute schießen sie. So ist das. Ich gebe ihnen einen

kostenlosen Rat, machen sie’s wie ihre Nachbarn“, er deutete mit seinem

Arm auf die gegenüberliegende Straßenseite. „Sehen sie genau hin, was die

195
machen. Die packen ihre sieben Sachen und verschwinden. Die Stadt ist

groß. Es gibt hier auch Platz für euch Juden. Hauen sie ab“, riet er in

schroffem Ton Hollaender. Er hatte Ilse schützend in den Arm genommen,

‚was nutzt das’, dachte er finster. Die Polizisten schrieben noch etwas in

ihren Block, stellten Hollaender ein paar Fragen, dann verließen sie das

Geschäft. „Bis bald“, glaubte Hollaender von einem der Beamten im

Rausgehen noch gehört zu haben. Während er sich die Unordnung im

Geschäft missmutig betrachtete, ruhte sein Arm noch auf Ilse, die seltsam

unbeteiligt aussah. Blitzartig kam ihm der Gedanke, sich selbst zu

bewaffnen.

„Wer beschützt uns?“, sagte er zu Ilse.

„Wir müssen uns selbst schützen. Die Gangster haben Waffen, nun, dann

müssen wir uns auch welche beschaffen“.

Ilse hatte sich aus seiner Umarmung gelöst und begann mit den

Aufräumarbeiten. Da ergriff sie einen der bepissten Äpfel und schleuderte

ihn in seine Richtung. Mit von Ekel und Wut verzerrtem Gesicht schrie

sie:“ Ja, tu es, knall sie ab. Während. Alfred Hollaender war bereit den

Kampf aufzunehmen.

„Wogegen willst du kämpfen? Gegen die Schwarzen Rassisten, oder gegen

die weißen Rassisten? Vielleicht gegen die ganze Welt? Nein Alfred, mein

Kampf ist vorbei. Ich kämpfe seit Jahren...“. Sie sank auf den Boden,

schlug sich die Hände vors Gesicht und schluchzte. Hollaender verweilte

unentschlossen hinter dem Pult. Liebe, Mitleid, Sorge alles stieg auf einmal

in ihm hoch. Er kratzte sich an der nackten Brust, die behaart aus dem

Hemd schaute, und schritt langsam auf sie zu. Sie spürte seinen Atem näher

kommen, er ergriff ihre Hände. Aus verheulten Augen, die Schminke

196
verwischt, blickte ihm das nackte Entsetzen entgegen. Er beugte sich und

küsste sie. Er trug Kampfbereitschaft in seinem Herzen, während Ilse in der

absoluten Gewissheit der Ausweglosigkeit verloren schien. Sie erkannte vor

ihm, dass sie ihre Zukunft hinter sich hatten. Die Zukunft des Geschäftes

und die gemeinsame Zukunft des Ehepaares Hollaender. In ihm wühlte die

Bereitschaft zum Aufbegehren. Ilse jedoch Ilse hatte vorher Signale

ausgesandt, die er geflissentlich übersah. Erst Herbs Tod und die

Übergriffe, die jetzt kulminiert waren, ließen ihn aufwachen. In einem

freien Land wurden sie bedroht.

Ob Ilse ihn geliebt hatte? Ob sie ihn jemals geliebt hatte? Das Schicksal

führte sie zusammen. Sie fühlte sich Hollaender zugehörig, sich in Sprache,

Abkunft und Heimat mit ihm verbunden. Er hatte sie aus ihrem Dasein als

Magd befreit und sie überführt in ein Dasein als treusorgende Ehefrau. In

den Nächten, wenn das Getöse auf der Straße nachließ, die Schlaflosigkeit

jedoch blieb, bittere Wachträume heran schlichen, wuchs in ihr die

Entscheidung heran, alles hinter sich zu lassen. Oft, und darüber erschrak

sie, sehnte sie sich in die Obhut der Familie Fechtner zurück. Sie dachte an

den kleinen Hof, die Dorfwirtschaft, in die sie der Bauer gelegentlich

losschickte, einen Krug Bier zu holen, an die Tiere, den märkischen Wind,

der in die zittrigen Blätter der Pappeln stieß und an die große, Geborgenheit

spendende Brust der Bäuerin.

An einem Morgen im Frühsommer des Jahres 1970 wartete Ilse Hollaender,

geborene Gertz, mit einem Koffer an der Bushaltestelle. Sie umklammerte

das one way Ticket, das ihr die Reise nach San Franzisko sicherte. Was sie

dort wollte, und warum sie sich gerade für diese Stadt entschieden hatte,

197
blieb im Dunkeln. Sie hatte für ihren Mann kein Wort des Abschieds

gefunden; vielleicht aus Scham, oder der Befürchtung, er würde sie zurück

gehalten haben. Jetzt saß sie an einer Busstation draußen am Stadtrand. Ein

warmer Wind wirbelte Staub und Papierfetzen durcheinander, der Schmutz

vermählte sich mit Blättern und kleinen Ästen, sie band ihr Haar zu einem

Zopf zusammen. Wann der nächste Bus kommen würde, wusste sie nicht,

es schien sie nicht zu interessieren. Sie hockte einfach versunken mit

übergeschlagenen Beinen auf ihrem Koffer, sah den Vermählten zu,

blinzelte in den grellen Himmel, schloss die Augen, sie fühlte nichts. Wer

sie so sitzen sah, spürte ihre anrührende Verletzlichkeit. Mit den von der

Arbeit schwielig gewordenen Fingern strich sie Haarsträhnen aus dem

Gesicht, die ihr den Wind immer wieder auf die Augen legte. Autos fuhren

an ihr vorüber, manch ein Fahrer winkte ihr zu. Lastwagen, beladen mit

Bretten, Kisten oder Stahlträgern ratterten mit lautem Motorgeräusch

vorbei, der Sturm, den sie vor sich herschoben, warf Ilse fast von ihrem

Koffer. In der Nähe hörte sie Kinderstimmen, die sich um Spielzeug

stritten. Schließlich stand sie, verspannt vom verkrampften Sitzen, ging ein

paar Schritte, bis sie aus der Ferne den Greyhoundbus herannahen sah. Eine

Staubwolke vor sich herschiebend hielt der Bus neben ihr. Freundlich

nickend entwertete der Fahrer den Fahrschein. Aus dem kleinen

Kofferradio, das ihn mit Unterhaltung begleitete, tönte ein Schlager. Eine

helle Frauenstimme besang die Liebe zu ihrem Freund. Dieses Liedchen

löste einen Stein aus dem Trümmerhaufen, den sie in ihrem Herzen

schleppte. Die Überreste erzählten von einem Leben, als sie fröhlich und

begabt eine glückliche Zukunft erwartete.

198
Auf einer Bank schräg gegenüber von Ilses Sitzplatz döste ein Mann vor

sich hin, den Hut tief übers Gesicht geschoben.

Henry hatte es längst aufgegeben, Hollaender mit Zwischenfragen und

Anmerkungen inspirieren zu wollen, ihm dieses oder jenes Detail zu

entlocken, das er hernach verwenden könne. Brannte in ihm je ein

journalistisches oder literarisches Interesse am Leben des Alfred

Hollaender, so hatte es Hollaender gelöscht. Er ließ die Worte und Sätze,

Ausschmückungen, Verwünschungen, Zitate, Flüche und Bekenntnisse wie

Regen über sich ergehen. Hollaender grub in seiner Vergangenheit wie nach

einem Schatz. Er duldete kaum eine Regung und schon gar keinen

Widerspruch. Oft legte er seine Stirn in Falten und ließ seinen Blick über

Henrys Miene wandern. Er sezierte ihn und freute sich über seine Funde. Er

ahnte nicht, wie grob er Henry verletzte, dass seine monistische Haltung

und unnachgiebige Strenge den asthenischen Jungen zerstörten. ‚Er ist

unwürdig’, beschied Hollaender, ‚kein Mensch ist frei von Schuld.

Niemandem wollte er mehr seine unverdiente Gunst gewähren. Was als

Vertrautheit im Restaurant Rosen begonnen hatte, spaltete sich auf in

Befehl und Gehorsam. Die Männer beschritten einen Weg, auf dem es kein

Zurück gab.

Ilse schaute lange auf ihren Nachbarn, der eine seltsame Anziehungskraft

auf sie ausübte. Lässig zurückgelehnt lag er im Sitz, die blonden Locken

quollen unter seinem Hut hervor. Gleichmäßig hob und senkte der Atem

seinen Brustkorb. Seine weichen Gesichtszüge, die sich unter dem Hut

abzeichneten, die feingliedrigen Hände und die dünne, aristokratische Nase

199
gefielen ihr. Ein Lächeln überzog sie. Sie lächelte mit dem ganzen Körper.

Er glich Hermaphroditos, sie der Nymphe Salmakis, die, ihn mit Amor

verwechselnd, ihm so sehr verfiel, dass sie Gott um Verschmelzung mit

dem vermeintlichen Geliebten anflehte. Sie bemühte sich immer Alfred

Hollaender zu lieben, der vorgab, sie befreit zu haben, gerettet vor dem

Misthaufen in Kladow und der Mühsal auf dem Bauernhof, wie er immer

betonte. Sie horchte vergeblich nach dem inneren Ruf. Hingabe und

Sehnsucht stellten sich nicht ein.

In dem Greyhoundbus ließ sie zu, dass ihr laute Sätze aus dem Mund

entwichen. Der Mann mit dem Hut erwachte und hörte Ilse, wie sie ihm mit

aufreizender Höflichkeit einen Schluck aus ihrer Limonadenflasche anbot.

Mit einer freundlichen Geste lehnt er ab. Er bevorzuge sein eigenes

Getränk, sagte er, und lachte.

Die Weite des Kontinentes flog an ihnen vorbei. Der Bus leerte sich, füllte

sich wieder mit Reisenden, die schwitzend ihr Gepäck verstauten, die

Fahrer wechselten, Ilse und ihr Nachbar waren immer noch an Bord. Ihr

Ziel war die Endstation. Sie parlierten unbeschwert, machten sich über die

Fahrgäste lustig, um schließlich wieder von der Landschaft zu schwärmen.

Endlosen Steppen folgten Bergformationen. Flache Motels und Tankstellen

kündigten Ortschaften an, die der Bus in wenigen Augenblicken

durchfahren hatte.

Ilse war keine junge Frau mehr, eine verschleierte Eleganz war ihr jedoch

geblieben. Sie war schlank, ihr luftiges Sommerkleid deutete

begehrenswerte Formen an. In Begleitung ihres neuen Bekannten benahm

sie sich wie ein junges Mädchen. Sie lachte unbeschwert, als wäre sie ohne

200
Vergangenheit, als hätte sie eben die High School abgeschlossen, und

jauchzte über die Reise zu einer Freundin.

Mit stoischer Ruhe lenkte der Fahrer den Bus, er schwitzte stark. Wenn sich

er sich einer Stadt näherte, kündigte er diese mit blumigen Worten wie ein

Reiseführer an. Hin und wieder warf er einen Blick in den Spiegel. Er hatte

schon viele Buslieben entstehen sehen. Aber oft taten sich die Menschen

nur aus Langeweile zusammen, sprachen miteinander, bald wie enge

Freunde, verabschiedeten sich, und sahen sich nie wieder. Auf diese Weise

wurden viele Geheimnisse ausgetauscht, Intimitäten, die man sonst für sich

behalten hätte.

„So ein Bus ist eine eigene Welt. Durch die Fenster sieht man eine ganz

andere, vergängliche. Hier drinnen bleiben die Menschen und die Zeit steht

still“, sagte Ilse.

Der Mitreisende schwieg, sah sie lange mit leerem Blick an. Unterdessen

ertastete er sich Ilses Hand und hauchte einen Kuss darauf. Sie ließ es

geschehen. Sie war sehr weit von St.Louis entfernt.

„Weißt du schon, wo du wohnen wirst?“, fragte er.

„Nein“, antwortete Ilse. Ich hab’ mal was über San Franzisko in einer

Illustrierten gelesen. Das könnte mir gefallen. Es ist dort warm und die

Leute werden als freundlich beschrieben. Ich kenne aber niemanden“.

Sie hatte ihm im Verlauf der Reise viel von Hollaender erzählt, von ihrem

Geschäft in St.Louis, von den Überfällen. Sie sparte dabei auch nicht ihre

überstürzte, gleichwohl wohl überlegte Abreise aus.

„Du kannst bei uns wohnen. Ich lebe zusammen mit meiner Halbschwester

in einem Haus, von dem aus man die Bay sehr gut sehen kann. Eine

201
wundervolle Aussicht. Oft sitze ich stundenlang auf einem Felsvorsprung

ganz in der Nähe unseres Hauses...“

„O.k.“, unterbrach ihn Ilse, „ich schaue es mir an. Von dort aus kann ich

losziehen, um mir eine Arbeitsstelle in der Stadt zu suchen“.

Frank Elroy, der Bekannte aus dem Bus, war ein Veteran. Schon sein Vater

war Veteran. Zwei Kriege auf dem fernen Kontinent legten tiefe Gräben in

die Familie. In seinen Träumen wurde Frank Nacht für Nacht von Bord

eines der Landungsboote in der Normandie geworfen, taumelte im Hagel

der feindlichen Granaten in der Brandung. Jede Nacht. Keine Nacht

verging, dass er nicht schweißnass von der Schreien der zerfetzten

Kameraden geweckt, aus dem Schlaf hochschreckt. Jede Nacht besuchte ihn

der Soldat, dem eine Granate ein großes Loch in den Leib gerissen hatte,

aus dem die Gedärme flossen. Mit vor ungläubigem Entsetzen

aufgerissenen Augen versuchte der Soldat seine Därme zurück in den

Körper zu stopfen und flehte, vor Franks Bett kniend, ihm zu helfen. Er riss

seinen Mund auf, ein stummer Schrei beendete die Nacht, jede verdammte

Nacht des Frank Elroy.

Frank hatte keine Arbeit, eine kleine Soldatenrente sicherte sein

Auskommen. Linderung suchte er im Alkohol. Seine Schwester, grau vom

Kummer über den Bruder, legte stets ihre Hoffnung in die Frauen, die

Frank mit nachhause brachte. So sollte auch Ilse Frank zuerst vom Schnaps,

dann vom Krieg heilen. Franks Seele war jedoch so zerschossen, wie der

Körper des Kameraden, der ihn nachts besuchte.

Die Schwester hatte einen Mund wie ein Fischmaul und immer, wenn sie

mit weicher Stimme sprach, bewegten sich ihre schwülstigen Lippen auf

202
und zu, als schnappte sie nach Luft. Sie erzählte mit dem Fischmund, wie

Frank stundenlang auf einem Felsen sitze, aufs Wasser stiere und Flasche

um Flasche leere. Dann komme er nachhause, stinke aus allen Poren und

kotze, jeden Tag. Manchmal verreise er für einige Tage. Er nenne das

Urlaub.

Einmal, nachdem Frank Ilse im Rausch die Nase blutig geschlagen hatte,

packte sie ihren Koffer. Er bemerkte es nicht. Wieder war ein Stück ihrer

Hoffnung zerbröckelt. Die Vergangenheit lag hinter ihr, und keine Zukunft

vor ihr. Die Schwester schaute ihr nach, bis sich Ilse im Flimmern der Hitze

verlor.

Henry verbrachte den Tag in einem Museum. Weniger das Interesse an der

klassischen Moderne leitete ihn, als der einsetzende Regen, vor dem er

Schutz suchte. Viele Menschen, meist Touristen, wie er annahm, taten es

ihm gleich und wanderten ziellos mit auf dem Rücken verschränkten

Armen und dem Blick des Connaisseurs an den Gemälden vorbei. Die

Mauern durchdringenden Stimmen der Museumsführerinnen belästigten

Henry noch im hintersten Winkel der Ausstellung. Es gelang ihm nicht,

ihnen zu entfliehen. Egal wohin er sich bewegte, der schneidende Klang der

allwissenden Stimmen war schon da. Trotzdem gelang es ihm mit einem

letzten Rest an Konzentration zu erkennen, dass es diesem Maler, wie kaum

einem anderen gelungen war, mit wenigen, kühn aufgetragenen

Pinselstrichen eine geradezu erdrückende Dichte und Intensität

herzustellen. Gedankenverloren verweilte Henry vor dem Portrait der

Sylvette David, als die blecherne Stimme, die zu einer dicken Frau gehörte,

eine Horde Kunstfreunde vor sich hertreibend, den Raum vollständig

203
ausfüllte und Henry wieder hinaus in den Regen trieben. ‚Lieber Regen als

diese Stimme’, dachte er. Sylvette erinnerte ihn an Helen.

Ein dicker Tropfen löschte seine Zigarette. Er wartete, nur halb vor dem

Regen geschützt, in einem Unterstand, als die Zukunft und etwas Zeitloses

in ihm aufeinander zurasten. ‚Sylvette David, also Helen, hängt wohl

behütet unter Glas, im Trockenen. Der Maler zerlegte ihr Bildnis in

geometrische Formen, versah sie mit unterschiedlichen Schraffuren, so dass

die hübsche Sylvette, also Helen, zerfällt, und die Bruchstücke ihres

Antlitzes sich zu einem neuen Mädchen zusammensetzen’.

Hollaender hatte beschlossen, Ilse zu suchen. Er trug Kirk auf, ihn im

Geschäft für einige Tage zu vertreten.

Er fuhr mit dem Wagen in der Gegend um her, und wo er auch fragte, ein

Foto zeigte, begegnete ihm Kopfschütteln. Er recherchierte in

Krankenhäusern und fragte, das Foto in der Hand, nach seiner Frau. Kein

Ergebnis. Er erstattete Vermisstenanzeige auf der Polizeistation. Von dem

brusthohen Tresen beugte sich der Beamte herab, und beschied ihm

nachhause zu gehen. Wenn man etwas in Erfahrung bringe, werde man ihn

schon davon in Kenntnis setzen. Sein Weg mit dem Lieferauto führte ihn in

abgelegene Gegenden der Stadt, die er zuvor noch nicht gesehen hatte.

Gelegentlich bremste er abrupt, wenn erglaubte, Ilse erkannt zu haben. Er

vermutete sie hinter jeder Laterne, wartend an roten Ampeln, im Restaurant

mit einem fremden Mann sitzend. Eifersucht mischte sich plötzlich in seine

Sorge um ihr Wohlergehen und verdünnte sie. Er kehrte nachhause zurück.

Die Stille, das Abwesenheit des Topfgeklappers, die Frage, ob er etwas

essen möchte, bedeckte ihn. Er saß verzweifelt am Tisch. Am Morgen

204
zwang er sich zur Arbeit. Nach Ilse hatte ihn nun auch Kirk verlassen, der

eine neue Stelle gefunden hatte. „Hier gibt’s nichts mehr zu holen, Al“, rief

er seinem Chef zum Abschied zu. Die Sorge um Ilse ließ nicht nach. Er

schaute aus dem Fenster, sah die Schwarzen mit hämischem Grinsen an

seinem Geschäft vorbei ziehen. Wen er seine Augen schloss, tauchten

schwarze Gestalten vor ihm auf, traf ihn wie ein Blitz glühende

Feindseligkeit. Öffnete er sie wieder, standen sie vor seiner Ladentheke.

Nachts träumte er von ihnen, am Tage überfielen sie das Geschäft. Die alten

Kunden blieben aus, es gab sie nicht mehr. Hollaenders Gesichtszüge

begannen vor Angst und die unvergänglicher Sorge um Ilse zu verwittern.

Ilse hatte sich im Flimmern pazifischer Hitze aufgelöst. In seine Einsamkeit

traten Frieda und Rosa ihm zur Seite...’Habe ich mein Schicksal

herausgefordert? Das Glück strapaziert? Werde ich den nächsten Überfall

überleben? Wie kann ich verhindern, dass einen nächsten gibt?’ Viele

Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Er schritt zum Schaufenster, das

er vor einiger Zeit zusammen mit seinem Freund Sam durch Gitter gesichert

hatte. Es war gefertigt aus fingerdicken Eisenstäben, die durch Scharniere

scherenartig beweglich, aber nur mit einiger Mühe und quietschend

auseinander zu ziehen waren. Eine kleine Stelle im Fenster war nicht mit

Zetteln für Sonderangebote und Werbung beklebt. Dieses Fleckchen gab

den Blick frei auf die Straße. Hollaender sah, was er immer sah. Jeder

Laternenmast war umwickelt mit finsteren Gestalten, jedes Auto umlagert.

Im Viertel sammelte sich der Abfall. Die Stadtverwaltung hatte nach der

sich häufenden Zahl von Übergriffen auf ihre Müllmänner den Abtransport

eingestellt. Kein Mensch fegte die Straße. Autos zerfielen zu rostigen

Wracks und anstelle der Fenster klafften nun gähnende Löcher, die das

205
zerstörte Innere der Wagen freigaben. Die Fensterhöhlen der verlassenen

Häuser stöhnten ihre traurigen Geschichten, die die Mauern vorher

gefangen hielten, hinaus auf die Straße. Die Löcher riefen Hollaender zu,

dass er, der Jude, der Deutsche, der Weiße, nicht in diese Gegend gehöre.

Er solle endlich verschwinden. „Verpiss dich“, malten sie mit Kreide auf

den Gehweg.

Hollaender schüttelte nachdenklich den Kopf. Er war gerade im Begriff

zurück zu seinem Pult zu gehen, Lieferscheine und Rechnungen mussten

sortiert werden, als ein lautes Scheppern, gefolgt von einem Klirren den

Vormittag zerschnitt. Ein Ziegelstein landete mit dumpfem Knall auf dem

Fußboden. Erschrocken drehte er sich um und sah, wie die Schaufenster in

sich zusammenfiel und sich auflöste in Millionen Scherben. Er hielt sich die

Ohren zu und verkroch sich unter einen Tisch, weil er mit einem zweiten

und dritten Stein rechnete. Zitternd wartete er unter dem Tisch. Als er

annahm, der Angriff sei nun vorbei, kam er aus seinem Versteck hervor und

taxierte das Ausmaß der Zerstörung. Voller Rage rannte er zur Türe hinaus

auf die Straße, vielleicht war noch ein Täter zu erwischen. Gleichsam nackt

stand er mitten in seinem Geschäft. Einige Werbeplakate bogen sich schief

ohne den Halt der Scheibe. Draußen lachten einige Leute, andere gingen

rasch vorüber. Mit so etwas wollten sie nichts zu tun haben. Eine alte Frau

steckte ihren schrumpeligen Kopf neugierig herein, bis Hollaender sie

verscheuchte.

„Wenn du nichts kaufen willst, verschwinde. Hier gibt’s nichts zu glotzen!“

‚Wo bleibt denn die Polizei’, dachte er.

Die helle Sonne brach in sein Geschäft und mischte sich mit dem

grünlichen Neonlicht.

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‚So hell war es noch nie’, dachte er voller Sarkasmus.

‚Sollte ich jemals neue Scheiben anbringen lassen, werde ich sie nicht mehr

bekleben.

Nichts als das Gitter trennte ihn von dem Leben auf der Straße und von dem

umher streichenden Lumpengesindel, das immer nur grinste und die weißen

Zähne bleckte. Der Schweiß glänzte bronzen auf ihren muskelbepackten

Körpern.

Die Polizei rückte nicht an. Die Glasscherben waren schnell zusammen

gekehrt, gelegentlich unterbrach er seine Arbeit, warf einen Blick auf die

Straße, stadteinwärts, stadtauswärts, nichts, keine Spur.

Hollaender war nicht fähig, die Stimmungslage zu beschreiben, in der er

sich befand. Auch Sam und die anderen wenigen Freunde, die im Viertel

geblieben waren, fanden keine Lösung.

„Sollte sich das alles wiederholen?“, fragte Hollaender in die Runde.

„Das hatten wir alles schon einmal“, bestätigte Sam, „aber nicht hier in

Amerika. Man stelle sich das einmal vor: Eine verfluchte Kette der

Ereignisse. Der weiße Mob schlägt auf den schwarzen Mob und der

schwarze Mob prügelt auf uns ein.

Die Schaufensterscheibe wurde durch eine dicke Holzplatte ersetzt, um

Plünderungen zu verhindern. Mayers Super Market wäre nicht das erste

gewesen. „Wegen Krankheit und Überfall geschlossen“ hatte er trotzig auf

die Platte geschrieben. Die verderblichen Lebensmittel, die er nicht selbst

verbrauchen konnte, schenkte er an die Freunde. Ihm blieb viel Zeit

nachzudenken. Sein Entschluss stand fest: Er wollte weg. Er telefonierte

mit einigen Maklern, die, als sie hörten in welchem Stadtbezirk das Haus

207
sich befand, schnell das Interesse verloren. Andere wären durchaus bereit

gewesen zu kaufen, jedoch zu einem unakzeptablen Preis. Nach einer

Woche, sein Geschäft war immer noch geschlossen, zog er seinen besten

Anzug an und begab sich zu seiner Bank. In einer bequemen Sitzgruppe,

die ihm die Empfangsdame zugewiesen hatte, wartete Hollaender. Über ihm

prangte in goldenen Buchstaben: Southern National Bank. Die

Holzvertäfelungen und der Teppichboden dämpften alle Geräusche. Unten

auf der Straße fuhren die Wagen, man konnte sie nicht hören. Kein Laut

drang von draußen herein.

„Kaffee?“

„Ja gerne, dauert es noch lange?“

„Nein, nein. Nur ein paar Minuten“, sagte die Dame beiläufig, und stakste

auf hohen Schuhen mit schwungvollem Hintern in ihr Büro.

Nach einer halben Ewigkeit, Hollaender hatte alle Zeitungen

durchgeblättert, vernahm er eine Stimme:“ Die Herren lassen bitten“.

Er legte gleich los. In blumigen Worten berichtete er von einem

florierenden Supermarkt mit dem schönen Namen „Mayers Super Market“.

Er schwärmte nachgerade von seinem Erfolgsmodell, den hohen Renditen,

der großartigen Lage an einer so wichtigen Straße wie der bedeutendsten

aller Nebenstraße des Jefferson Boulevards, der 22. Straße. Leichtfüßig

tänzelte er um den Konferenztisch und skizzierte gestikulierend die

Zukunftsperspektiven des Marktes, den er von dem bekannten Kaufmann

Herb Mayer ererbt hatte, und den er später zu großer Blüte geführt hatte.

Auf Diagrammen, die er in nächtlicher Anstrengung aufgezeichnet hatte,

ragten alle Graphen steil in die Höhe. Im Dunst seiner eigenen Worte

glaubte er bald den ganzen Unsinn, den er den Bankbeamten unterschieben

208
wollte. Geduldig, in dezenter Höflichkeit lauschten ihm die Herren in ihren

dunkelblauen Anzügen und Dienstkrawatten. Aber je länger Hollaenders

Referat über das in St.Louis einzigartige Geschäft dauerte, desto mehr wich

die Höflichkeit der Ungeduld. Als Hollaender gerade wieder zu seinen

schönen Diagrammen mit den steilen Graphen gehen wollte, unterbrach ihn

einer der Zuhörer. Es war der jüngere der Herren und offenbar oblag ihm

das Heft des Handelns.

„Lieber Mister Hollaender, ersparen sie sich und uns das jüdische

Geschwätz. Wir wissen ganz genau, warum sie verkaufen wollen. Wir

wissen auch, wie es in ihrem verdammten Viertel inzwischen aussieht, oder

glauben sie, wie werden in unserer Bank von Nachrichten abgeschirmt? Wir

verschanzen uns nicht hinter dem Geld von unseren Kunden. Und wissen

sie, was uns am meisten ärgert....?“

Hollaender vernahm nur „jüdisches Geschwätz, jüdisches Geschwätz,

jüdisches Geschwätz....“ jüdisches Geschwätz tropfte in sein Gehirn.

„Nein“, antwortete er kleinlaut, wie ein junger Volksschüler, der etwas

ausgefressen hat.

„Ich weiß es wirklich nicht.“

„Wenn uns nicht das Vertrauen entgegen gebracht wird, das wir verdienen

durch den ehrlichen Handel und die Verwaltung der Besitztümer unserer

Kunden. Und wir lieben es nicht, wenn man uns zu verarschen versucht“,

sagte der Beamte mit Bestimmtheit und sein Jackett hob sich vor Stolz.

Auf der Heimfahrt kam ihm Ilse wieder in den Sinn. Er seufzte schwer.

‚Was sie wohl jetzt, in diesem Augenblick tut? Lebt sie noch? Wie gerne

hätte ich ihr mitgeteilt, dass ihr heimlich gehegter Wunsch nach Rückkehr

nach Deutschland, oder sollte ich besser sagen Abkehr vom Unglück hier in

209
Amerika, wohl bald in Erfüllung geht? Ich weiß es nicht.’ Die Fahrt im

dichten Verkehr der Großstadt zog sich hin. Er saß in seinem leeren

Lieferwagen, die Autos vor ihm hielten, er betrachtete die Menschen rechts

und links auf den Trottoirs, die Geschäfte, Hochhäuser, und bemerkte

dabei, dass er sich verabschiedete.

An den Verlust, der ihm das Geschäft mit der Southern National Bank

eingebrockt hatte, mochte Hollaender nicht mehr denken. Angewidert

schob er die Schmach beiseite. Er prahlte nicht vor seinen Freunden mit

dem Verkauf, wie er es sonst gerne tat, sondern teilte ihnen nüchtern mit,

dass er nach Deutschland, nach Berlin zurückkehren werde. Er ertappte sich

dabei, dass er Verkauf des Geschäftes und die geplante Rückkehr nach

Berlin als Niederlage, als Kapitulation verstanden werden könnte. Er gönnte

sich ein Glas Wein, setzte sich an den Tisch, es war immer noch der erste

Tisch, und zündete sich eine Zigarette an.

‚Hätte ich etwas verhindern können? Ilses Flucht, wenn auch nicht das

Geschäft, so doch wenigstens ihre Flucht. Jüdisches Geschwätz, dass ich

nicht lache. Was ist an mir jüdisch, mein Geschwätz etwa? Oder gar, dass

ich den besten Preis für Mayers Super Market herausschlagen wollte? Ist

das ein Verbrechen? Habe ich mich des Verbrechens schuldig gemacht,

dass ich jüdisches Geschwätz verbreitete und mit jüdischem Geschwätz

mein Geschäft verkaufen wollte? Was habe ich den Schwarzen dort unten

getan?’

Die Southern National Bank überwies das Geld pünktlich.

„Nun wird es ernst“, sagte er am Abend zu Sam.

210
Wenige Tage blieben ihm noch vor der Abreise. Er plante ein

Abschiedsessen mit den Freunden. Wehmut stellte sich ein, als er daran

dachte, dass er nie wieder an diesen Ort zurückkehren würde. Mit der Zeit

würden sich die schönen Stunden mit den schrecklichen zu einer einzigen,

großen, amerikanischen Erinnerung verbünden. In den Tiefen des Atlantiks

würde er den Groll ersaufen, davon war Hollaender fest überzeugt. Seine

Freunde aber, das war gewiss, wollte er in seinem Herzen behalten.

Früher, als die Ilse noch da war, hatte er ihr gerne die Hausarbeit und das

Kochen überlassen. Sie war eine vorzügliche Köchin, sie konnte in kurzer

Zeit ein Festessen bereiten. Einen ganzen Tag verwendete er darauf

einzukaufen, den Tisch zu decken und die Wohnung für seine Gäste mit

Blumengebinden zu schmücken, so wie es Ilse immer getan hatte. Es gelang

ihm unter Aufwendung großer Mühe, ein bezauberndes Mahl auszurichten,

den Tisch festlich zu decken und am Ende, zur eigenen Belohnung, ein

großes Glas Weißwein zu trinken bevor die Gäste kamen.

Die Brüder Ronald und Donald Frischmut waren die ersten, die sich

einstellten. Es folgte Samuel Kreutzfeld, genant Sam, an dessen

Gesellschaft und Freundschaft Hollaender besonders viel gelegen war. Sam

erreichte vor einem halben Menschenleben zusammen mit Herb nach

Amerika. Oft saßen sie zusammen an diesem Tisch, Herb, Ilse, Sam und

Hollaender. Ilse liebte den Tisch wegen seiner feinen Maserung, es war bei

Strafe verboten, sie mit einer Tischdecke zu verbergen. Herb vererbte

Hollaender nach seinem Tode nicht nur Haus und Grund, sondern auch die

herzliche Freundschaft zu Sam. Er war ein sehr frommer und belesener

Mann, der zu jedem Thema eine passende Stelle im Talmud zitieren konnte.

211
Karl und Hedda Pollak kamen zusammen mit ihrer Tochter Edith, die

obschon über dreißig Jahre alt, immer noch bei ihren Eltern lebte.

Hollaender und Ilse hatten die Familie, die aus einer Provinzstadt an der

deutsch-französischen Grenze stammten, gleich nach ihrer Ankunft in

St.Louis getroffen. In dem damals noch jungen Kulturverein wurden sie

gute Freunde. Karoline und Herschel Bleiberg hatten sich entschuldigt, sie

wollten später eintreffen, eine Verpflichtung hindere sie am pünktlichen

Kommen.

Hollaender strahlte vor Glück, zum Abschied alle seine Freunde

versammelt in seiner Wohnung bewirten zu können. Die Frauen, als sie

bemerkten, dass die Gastgeberrolle bei allem Eifer nicht zu seinen Stärken

gehörte, sprangen hilfreich zur Seite. Man plauderte und trank, die Zeit

verging im Flug. Wieder und wieder ließen sie die alten Zeiten hoch leben,

die Zeiten, als alles noch seinen friedlichen Gang nahm.

Vieles von der Einrichtung hatte Hollaender bereits verkauft oder

verschenkt, so dass die Gesellschaft in einer fast geräumten Wohnung saß,

aber niemand störte sich daran. Alle waren betroffen von den Ereignissen,

die Hollaender am heftigsten trafen.

„Die Geschäfte locken doch als leichte Beute die Gangster an. Es ist leicht,

ja eine Verführung ein stets offenes Haus zu betreten, eine Waffe zu

zücken, wenn es gut läuft setzt es nur Schläge für den Kaufmann, wenn es

schlechter läuft fallen Schüsse oder Messer kommen zum Einsatz. Was

sollte uns in dieser Situation deine bald leer geräumte Wohnung kümmern“,

antwortete Herschel Bleiberg, als sich Hollaender bei den Freunden

entschuldigte.

212
Die Überfälle, die Demütigungen und der vollständige Rückzug der

gediegenen Bürgerlichkeit, lasteten auf allen. Hollaender war der erste, der

seine Konsequenzen zog. Aber, dass er nach Deutschland, ausgerechnet

nach Deutschland wollte, konnte niemand am Tisch verstehen.

Es ging hoch her an diesem letzten Abend. Man diskutierte, wie es so weit

hat kommen können, dass die Anarchie in ihrem Viertel obsiegte. Karl

meinte, dass es an der ignoranten Stadtverwaltung liege, die lieber breite

Straßen in vornehmen Stadtteilen baue. Armreich dagegen machte die

Regierung in Washington verantwortlich, die den Rassismus nicht

bekämpfe. „Die lassen die Neger im Dreck verkommen“, ereiferte er sich.

Die meisten seiner Freunde waren einst freiwillig nach Amerika

ausgewandert, lange bevor über Europa die Finsternis hereingebrochen war.

Hollaender erlebte als Einziger die Schrecken, und dennoch fand er in der

Nachsicht mit dem Volk der Täter sein Heil. Er war alleine. In ihm lebte die

Heimat noch, er zehrte von den schönen Tagen, die anderen hatten ihre

Erinnerung längst aufgezehrt. Sie waren Teil des neuen Landes geworden.

Sie verschmolzen mit der Stadt, der Straße und dem Viertel, das sie mit

aufgebaut hatten. Sie fühlten sich als Pioniere und schufen mit ihren starken

Händen und Fleiß ihr neues Schtetl. Hier naschten sie von der gewonnenen

Freiheit.

„Ich glaube an den Allmächtigen und an den amerikanischen Staat, der uns

beschützen wird“, warf Sam ein.

„Das ist doch Unsinn, Samuel. Mir ist schon lange keine Streifenwagen

mehr begegnet“, widersprach Karl. „Ich kann Alfred verstehen. Er trägt die

Verfolgungsangst wie eine Krankheit in sich. In Deutschland haben ihn die

Polizeibeamten gejagt, obwohl er unschuldig war, nur weil er Jude ist. Hier

213
darf man zwar Jude sein, hier darf jeder alles sein, aber es gibt keinen

Schutz vor denen, die uns hassen, weil wir Juden sind“.

„Ich sehe die Angriffe nicht als tiefen Hass, sondern als Ausdruck von

gröblicher Unvernunft und Verzweifelung. Gebt den Schwarzen Arbeit,

Brot und Schulen, so dass sie lernen können, was Glaube bedeutet, so

werden sie erwachsen und zu zufriedenen Bürgern“, sagte Samuel.

„Was ist mit der Armenküche. Habt ihr vergessen, wie wir den alten

Schuppen neben dem Park umgebaut haben? Habt ihr vergessen, wie er

brannte...?“

„Nein, Alfred, das haben wir nicht. Die Schuldigen wurden nie gefunden...“

„Weil sie nie gesucht wurden!“, sagte Karl lakonisch.

Samuel beharrte darauf, dass es die Kapuzenmänner gewesen seien.

So uneins die Freunde bei der Befassung mit politischen Fragen blieben, so

einig waren sie in ihrer Freundschaft.

Das kleine Fest neigte sich dem Ende zu. Es war spät geworden. Einer nach

dem anderen verabschiedete sich. Mit jedem, der ihn verließ, brach ein

Stück aus seinem Leben.

Sam blieb noch eine Weile. Nach dem Tod seiner Frau wartete nichts als

ein kaltes Bett auf ihn. Hollaender bewegte die Lampe, die in geringem

Abstand über dem Tisch hing. Ihr Lichtschein traf die leeren Gläser, die die

Gäste zurück gelassen hatten, und die vollen Aschenbecher. Er öffnete das

Fenster als hoffte er, die frische Morgenluft würde seine traurigen

Gedanken vertreiben. Von draußen drang das Brummen des erwachenden

Verkehrs hinauf in die Wohnung. Einige Gesprächsfetzen schafften es bis

zu den Männern an den Tisch. ‚Die Ruhe, dieser trügerische Frieden’,

dachte Hollaender, ‚will mich von meinem Vorhaben abbringen’. Er

214
taumelte im Gefängnis der absoluten Gewissheit seines Verlorenseins, das

vergitterte Fenster vor Augen. Es gab kein Zurück, seine Niederlage war

besiegelt. Zum zweiten Mal in seinem Leben wurde er zu einem

Vertriebenen.

„Warum gibt es Menschen“, fragte er Samuel, „die nirgends willkommen

scheinen, die überall auf der zu Flüchtlingen werden, und denen der Hass

an den Fersen klebt?“

„Einst beklagte sich das Volk Israel“, begann Samuel bedächtig, „dass kein

Regen fällt. Sie beteten und schworen alle Eide bis endlich der Regen

tröpfelte. Er wurde stärker und stärker, bis er schließlich mit solcher

Heftigkeit fiel, dass die Tropfen so groß waren wie die Öffnung eines

Fasses. Da jammerte das Volk Israel erneut und betete und schwor, dass der

Regen aufhören solle. Herr der Welt, das Volk Israel, das du aus Ägypten

geführt hast, kann weder im Übermaß des Guten noch im Übermaß der

Bestrafung bestehen. Zürnst du über sie, können sie nicht bestehen;

schüttest du Gutes über sie, können sie auch nicht bestehen“.

Hollaender starrte auf das Weinglas vor sich auf dem Tisch wie auf einen

Eiszapfen im Sommer, nahm einen Schluck und sagte:

„Du meinst also, dass das Verstehen nichts nützt, wenn es nichts zu

verstehen gibt, und du hältst mich für undankbar, ist es nicht so?“

Dann erzählte er Samuel die Geschichte von Mordechaj Gebirtig, der

Marcel Stein bei lebendigem Leib hat verbrennen müssen und er fügte die

Geschichte ihrer Flucht an. Er beschrieb die lebendigen Toten auf ihren

Beinen wie Stöcken, ohne Schuhe, ohne Kleidung, die leichengrau mit

erstorbenen Augen in schwarzen Höhlen umher torkelten wie Besoffene,

die jedoch weder gesoffen noch gefressen hatten, bis sie schließlich von

215
einem Knüppel oder Gewehrkolben mit einem Schlag ins Jenseits befördert

wurden. Und er erzählte von der jungen Mutter, die wie eine Löwin um ihr

Kind kämpfte, was man ihr entreißen wollte, um es auf einen Berg mit

brennenden Leichen zu werfen.

„Man hat ihr einfach die Augen ausgestochen, alle haben es sehen können“,

schloss er.

„Und da ist auch noch Ilse“ fuhr er fort. „Wir haben uns Schritt für Schritt

durch einen langen Gang getastet, bis hier her, in diese Wohnung, aber am

Ende habe ich sie verloren. Jetzt erst erkenne ich ihre Schwierigkeiten.

Eigentlich hätten wir nie zueinander finden dürfen. Aber in stürmischen

Zeiten treffen Menschen aufeinander, die bei Windstille an ein anderes Ufer

gerudert wären. Ohne Ilse lebe ich in Finsternis. Und aus der Dunkelheit

dringt keine Antwort zu uns. Die Antwort ist mit Licht geschrieben und

dieses Licht leuchtet mir aus meiner alten Heimat. Die Heimat ist

unschuldig, nur die Menschen damals waren Gott misslungen“.

Der Morgen dämmerte bereits in purpurnem Schein. Schnaps und Wein

hatte die Zungen der beiden Männer träge werden lassen, ihr Geist dagegen

blieb wach.

„Gott mag weise sein, aber offenbar ohne Gnade“, entgegnete Samuel

nachdenklich.

Fett und feist stand Ignatz Grün vor Hollaender und blies ihm den Rauch

seiner Zigarette ins Gesicht. Er hatte den selben, festen Händedruck wie bei

ihrem ersten Zusammentreffen vor vielen Jahren am Pier. Sein aplombes

Auftreten passte zu jeder Faser seines straff sitzenden Anzuges. Über seinen

216
rosigen Wangen funkelte ein grünes Augenpaar, das in jeder Sekunde

Wachsamkeit aussendete. Sein kleiner Hut saß schief auf dem rundlichen

Kopf.

„Ihre Frau Gemahlin reist nicht mit“?, erkundigte er sich mit unverhohlener

Süffisanz. Inseln seines vergangenen Lebens mit ihr tauchten in

Hollaenders Erinnerung auf. Er atmete tief durch bevor er den Kopf

schüttelte:“ Nein, sie bleibt hier“. Die alte Abneigung gegen den dicken

Grün schmeckte bitter. Grün lächelte. Er wusste, was Hollaender dachte, tat

aber nichts, um dieser Ablehnung zu begegnen..

„Nun haben sie sich nicht so“, sagte er beschwichtigend.

„Sie wollten mich dringend treffen, ließ mir mein Vetter ausrichten. Was

kann ich für sie tun? Dieses Mal helfe ich Ihnen auch ohne meinem Vetter

etwas schuldig zu sein. Warten sie, lassen sie mich raten. Ich denke, ihre

Frau ist ihnen davongelaufen, und sie wollen auf keinen Fall alleine in das

Land zurück, aus dem sie vor langer Zeit mit ihr zusammen emigriert

waren. Sie mussten aber nicht fortgehen. Der Krieg war vorüber, ihre

Peiniger saßen im Gefängnis oder hatten sich in Luft aufgelöst. Niemand

verfolgte sie mehr. Aber lassen wir das. Es steht mir nicht zu, ihr Leben zu

kommentieren. Verzeihen sie“.

Die beiden Männer hatten in der hinteren Ecke eines der

Flughafenrestaurants Platz genommen. Das zugige Restaurant war kein Ort,

in dem sich schnell Gemütlichkeit einstellt. Es war aufgeschlagen in einem

endlos langen, breiten Gang, Hollaender kam sich vor wie auf einem

Campingplatz. Die Reisenden hasteten vorbei, zogen, schoben und

schleppten ihr Gepäck, schwitzten, fluchten, lachten, die Unruhe des

Aufbruchs trieb sie. Dazwischen saßen Hollaender und Grün, bestellten

217
Kaffee. Eine dunkelhäutige Kellnerin brachte ihn in Pappbechern, in denen

ein Plastikstäbchen zum umrühren steckte. Grün schüttete sich eine

unglaublich große Menge Zucker in den Becher.

„Nun schießen sie schon los. Habe ich Recht mit dem, was ich eben

sagte?“, wollte er ungeduldig wissen. Dabei schaute zu der Kellnerin

herüber, die am Nebentisch umständlich das Geschirr abräumte.

„Wenn man so aussieht ist es nicht sonderlich schlimm, wenn man nichts

kann, stimmt’s mein Freund? Ich gebe ihnen jetzt noch eine Minute“, sagte

er kurz und schaute auf seine Armbanduhr, eine teure, europäische Uhr.

Hollaender war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob er diesem Kerl den

Auftrag erteilen sollte, nach Ilses Schicksal zu forschen. Schon ertappte er

sich dabei, den Vorschuss in seiner Brieftasche ruhen zu lassen, jene

tausend Dollar, die er für Grün vorgesehen hatte. Er zweifelte inzwischen

überhaupt daran, ob es sinnvoll sei, nach Ilse suchen zu lassen. Er scheute

vor der bösen Wahrheit zurück, die Grün, einmal in Gang gesetzt, ins Licht

zerren würde. Eine unbestimmte, unheilvolle Ahnung verfolgte ihn schon

seit Wochen. Nun könnte aus Ahnung Gewissheit werden und die Hoffnung

wäre dahin. Seine Hoffnung, sie tauche irgendwo plötzlich wieder auf,

klopfte an seine Tür, oder schriebe ihm eine Karte...

„Die Angelegenheit ist nicht leicht für mich“, mühte er sich, den

ungeduldigen Grün zu beschwichtigen. In dem Satz klang eine traurige

Melodie. Er fror, als hätte Gott mit eisigem Atem zu ihm gesprochen, der

sich wie Raureif über ihn legte.

„Sie können mir vertrauen“, sagte Grün.

„Aber meine Zeit lasse ich mir von ihnen nicht stehlen. Sie müssen sich

entscheiden.“

218
Nach einigem Zögern griff Hollaender endlich in die Innentasche seiner

Jacke, umfasste den Umschlag und schob ihn Grün über den Tisch. Er hob

ihn an, ließ die Banknoten über den Daumen blättern und bedankte sich.

Allerdings schränkte er ein:“ Ich kann ihnen nicht garantieren, ob tausend

Dollar für meine Recherchen reichen werden“.

Grün wollte alles über Ilse wissen. Bereitwillig schilderte Hollaender die

letzten Tage vor ihrem Verschwinden. Grün insistierte und unterbrach ihn

immer wieder, fragte nach Details, nach Kleidung, Vorlieben, Abneigungen

und schließlich nach einer Fotografie.

Hollaenders Flug wurde aufgerufen. Grün fasste ihn am Ärmel und sagte:“

Keine Frau läuft ihrem Mann ohne Grund weg. Denken sie mal darüber

nach“.

Er nahm das Foto, das Hollaender in seinem Portemonnaie bei sich

getragen hatte, besah es sich und sagte: „Das ist aber nicht mehr neu!“

„Das ist nicht weiter schlimm. Sie hat sich kaum verändert. Sie ist sehr

attraktiv, heute noch. Sie werden sie mit Hilfe der Fotografie identifizieren

können, wenn sie sie gefunden haben werden“. Bei den Worten, die er

einfach so hingesagt hatte, erschrak er. ‚Was habe ich gerade gesagt?:

Identifizieren. Mein Gott, jetzt denke ich bereist selbst an ihren Tod.’ Ihm

wurde schlecht.

Die Männer verabschiedeten sich. Grün rief Hollaender auf deutsch zu:“

Viel Glück in ihrem neuen Leben. Ich mag sie, aber sie haben mich nie

besonders gemocht, stimmt’s?“

219
Er verschwand in dem Strom der eilenden Menschen, die sich in den

bunten, lauten Katakomben vorbei schoben.

Hollaender wurde von einer großen Welle erfasst. Schwindel befiel ihn, er

fühlte sich wie benommen, als hätte eine geheimnisvolle Droge seine Sinne

geschluckt. Die lauten Geräusche des Flughafens erreichten ihn nicht mehr,

das brausende Stimmengewirr erstarb, es wurde still um ihn herum, die

Menschen bewegten sich in Zeitlupe, er selbst stapfte in Watte. Die

Flughafenbediensteten schoben ihn durch die Passkontrolle, er ließ wie ein

Lamm, das zur Schlachtbank betrieben wird, alles über sich ergehen.

Plötzlich dachte er an Ilse, so heftig wie nie zuvor, von Sorge gequält, Grün

tauchte wieder auch, alles drehte sich. Mayers Super Market rotierte so

schnell, dass die Konservendosen, die Flaschen, das Obst, all der Krempel,

den er jahrelang verkaufte, im Laden umher rollte. Karl Kleiber lachte ihn

mit verkohlter Fratze an, Gebirtig schlugen sie wieder und wieder den

Schädel zu Brei, der alte Welter fuhr ihn auf seinem Rollbrett an, hatte

weder Zähne noch Nase noch Augen, ein Farbiger hielt ihm die Pistole an

die Schläfe und drückte ab. Hollaender sackte zusammen, grünweiß wie die

Neonbeleuchtung.

Die Boing der Lufthansa hatte bereits ihre Reiseflughöhe erreicht, als

Hollaender die Augen aufschlug und in das strahlend schöne Gesicht der

Stewardess blickte. Besorgt fragte sie ihn nach seinem Befinden, ob es ihm

wieder besser gehe, ob sie etwas für ihn tun könne.

„Sie sind ohnmächtig zusammengebrochen, aber die Sanitäter meinten, sie

seien soweit wieder in Ordnung, dass wir sie mitnehmen können, ein

220
Schwächeanfall, vielleicht wegen der Aufregung, aber alles nur halb so

schlimm“, sagte die Stewardess. „Fast hätte der Pilot sie nicht

mitgenommen. Ich habe ihnen etwas zu trinken gebracht, das hilft“.

Hollaender versuchte zu lächeln. Die umstehenden Passagiere belästigten

ihn mit ihren mitleidigen Blicken. Er dankte für die Hilfe, er sei froh, dass

sie ihn trotz seiner Schwäche haben mit fliegen lassen.

„Noch acht Stunden im Flieger, dann sind sie zuhause“.

‚Zuhause ?, dachte er.

„Eine kleine Verspätung hat uns der Vorfall schon gekostet“, schalt sie ihn

scherzhaft mit dem Zeigefinger.

Hollaender entschuldigte sich: „Das war wohl alles ein bisschen zuviel für

mich“.

Später war ihm aufgefallen, und ein wenig hatte er sich gewundert, dass alle

im Flugzeug deutsch gesprochen hatten.

Dicht gedrängt, ihr Anblick erinnerte an militärische Formationen, wartete

eine schier unübersehbare Menschenmenge auf dem Flugfeld. Man hatte

ihnen erlaubt, bis zur Maschine vorzurücken. Hollaender trat aus der Tür

der Maschine und winkte den Menschen zu. Tausende Blick hefteten sich

an ihn, verfolgten jede seiner Bewegung. Mit Genugtuung und Freude

nahm er den Empfang zur Kenntnis, der töricht und befreiend zugleich

daher kam. Eine Kapelle kämpfte gegen den Fluglärm des Verkehrs und

gegen die jubilierenden Menschen an. Hollaender bestaunte die Szenerie,

und stand immer noch oben auf der Treppe, wollte sich nicht lösen von dem

Augenblick der Befriedigung. Er konnte die Klänge der Musik nicht hören.

Stumm pusteten die Bläser ihre Backen auf, der Schlagzeuger drosch heftig

221
auf die Trommel, das Glockenspiel, sonst hell und schrill, blieb unhörbar.

Die übrigen Passagiere drängten sich an ihm vorbei und bahnten sich

unbemerkt einen Weg durch die Menschenmenge. Er hingegen verweilte

noch für Minuten hoch droben über den Köpfen. Mit würdevollen Schritten

näherte sich ein groß gewachsener, älterer Herr mit graumelierten Haaren,

die im Wind grotesk zu Berge standen. Er trug eine Schärpe quer über den

Oberkörper gespannt.

„Sehr verehrter Herr Hollaender“, sprach er mit feierlicher Stimme, „ganz

Frankfurt, Deutschland und die Welt sind vor Freude bewegt, ja ergriffen,

dass sie uns die Ehre erweisen, und wieder deutschen Boden betreten. Es ist

unserer Wissenschaft gelungen, das Herz eines Farbigen zu nehmen, es in

die Brust eines weißen Juden einzupflanzen und es mit Serum zu

behandeln, das in Deutschland hergestellt worden ist“.

Die Stimme des Herrn mit der Schärpe verwandelte sich zu einem

brummeligen, langgezogenen Grunzen und wie von weit her geweht hörte

Hollaender ihn sagen: „Willkommen“. Dann erstarb seine Stimme,

verstummte wie die Kapelle und die jubelnden Menschen.

„Er lebe hoch, er lebe hoch...“, tönte es aus vielen Tausend Kehlen, aber

kein einziger Hochruf drang zu Hollaender. Als er zum Dank und in

Freundschaft die Hand des Herrn ergreifen wollte, der mit tiefer

Verbeugung vor ihm stand, zerfiel er zu heißem Staub. Auch die erregten

Massen zerstoben und auf den noch glimmenden Staubhügelchen, die ihren

Körpern entstammten, schwammen wie Eigelb in der Pfanne ewig

lächelnde Gesichter, die in wundersamer Verzückung erstarrt, gen Himmel

blickten.

222
Das Flugzeug landete sachte, wie es moderne Maschinen immer zu tun

pflegen, und Hollaender erwachte nur durch den Ruck des aufsetzenden

Flugzeuges und das Quietschen der Reifen des bremsenden Fahrwerks.

Ermattet von dem langen Flug, reckten die Passagiere ihre Glieder,

Hollaender tat es ihnen gleich. Er fühlte sich wieder gesund, ja frisch und

ausgesprochen wohl. Noch einmal besuchte ihn die hübsche Stewardess

und fragte nach seinem Befinden, erdankte höflich und verabschiedete sich.

Hunger überkam ihn, denn er hatte den ganz Flug über nicht gegessen. Er

fürchtete sich zu übergeben, deshalb hatte er auf Essen verzichtet. In der

Nähe des Bahnhofs, den er in der Zwischenzeit erreicht hatte, suchte er sich

ein Café, aß mit großem Appetit eine Kleinigkeit und bestieg den Zug nach

Berlin. Er dachte an Ilse und Paul, dem er so nah zu sein glaubte wie nie

zuvor. Keinen Schritt bewegt hatte er sich bewegt, seit der Zeit, als er Paul

in der Blutlache hat liegen sehen. Wie damals breitete sich ein Gefühl der

Verlorenheit und Leere in ihm aus. Er sah das Leben seiner Familie und

seiner Freunde langsam erlöschen, es schmerzte ihn sehr. Er vertiefte sich

in sein Buch, ein Stadtführer über Berlin, und entfloh auf diese Weise

seinen traurigen Gedanken. Während der Zug in schneller Fahrt die

Landschaft zerteilte, meinte er auf der Stelle zu verharren. Er legte den

Stadtführer beiseite und las eine Zeitung, die er sich am Kiosk gekauft

hatte. Es war die erste deutsche Zeitung, seit langer Zeit, die er in Händen

hielt. Ereignisse und Persönlichkeiten, von denen er noch nie zuvor etwas

erfahren hatte, kamen ihm nahe.

‚Ist dies Anfang oder Ende’, fragte er sich. Wälder, Höhenzüge, kleine

Dörfer mit verlassenen Bahnhöfen, Felder, die nach der Ernte braun und

223
nutzlos sich ausbreiteten, von Hecken umsäumt, dem Wind trotzend, flogen

an ihm vorbei.

‚Deutschland im Herbst, auf der Fahrt von West nach Ost’, dachte

Hollaender im Stillen, während der Zug in langsamer werdender Fahrt sich

dem Grenzübergang Gerstungen näherte. Von weitem vernahm er Unruhe

und Schritte auf dem Gang. Die Mitreisenden in seinem Abteil indes lasen

weiter, schauten aus dem Fenster oder dösten vor sich hin. Zwei Zollbeamte

mit merkwürdigen Uniformen, die Hollaender an Trachten von Jägern

erinnerten, schoben die Türe zum Abteil auf, grüßten förmlich mit an die

Mütze salutierender Hand und verlangten die Pässe. Sie sprachen nichts,

beäugten sehr aufmerksam die Papiere, bis sie schließlich mit hoheitlicher

Geste Stempel in die Pässe drückten. Hollaender fühlte sich unwohl in

Anwesenheit der Zöllner, so, als hätte er etwas zu befürchten. Schweiß trat

ihm auf die Stirn.

Einige Minuten hatte der Zug Aufenthalt in dem kleinen Bahnhof in

Gerstungen. Hollaender besah sich seinen Pass und las in dem Stempeloval

den Namen „Gerstungen“. Später, er achtete nicht darauf wie viel Zeit

verstrichen war, passierte der Zug die Grenze, die Deutschland hüben und

Deutschland drüben, trennte. In der Ferne machte er Wachtürme aus, die in

weiten Abschnitten, aber in Sichtweite untereinander entlang der Grenze

errichtet waren. Sie erinnerten ihn in erschütternder Weise an die

Wachtürme im Lager.

‚Zuhause in St.Louis’, erinnerte er sich, als er die furchterregenden, vorbei

wandernden Bauwerke betrachtete, ‚hatten wir fast nichts erfahren über die

Geschehnisse in Deutschland. Nur selten drangen Informationen, meist

durch einen Zufall, irgend jemand hatte etwas gelesen oder gehört, wen

224
interessierte das damals schon wirklich’, zu ihnen heran. Der Alltag in

Mayers Super Market ließ auch wenig Zeit für die Betrachtung der

politischen Bewegungen in Europa. Er empfand die Wachtürme mit ihren

schmalen Fensterbändern knapp unter der Dachlinie als obszön.

Hollaender widmete sich wieder seiner Zeitung. Ein großer Artikel erörterte

die Auswirkungen des ersten deutschen Gipfelgespräches, wie es in der

Zeitung hieß, zwischen Bundeskanzler Willy Brandt und Willi Stoph, dem

Ministerpräsident der Deutschen Demokratischen Republik. „Der Kalte

Krieg und die Nachkriegszeit in Deutschland sind nun endlich vorbei?“,

frohlockte der Korrespondent im Überschwang seiner patriotischen

Gefühle. Eine Spalte daneben las Hollaender einen langen Nachruf auf den

früheren Reichskanzler Heinrich Brüning, der im hohen Alter verstarb. Er

hatte bei Ullstein gerade seine erste Arbeitsstelle angetreten, als Heinrich

Brüning Reichskanzler wurde, erinnerte er sich. Wie alte, verblichene

Fotografien tauchten in Bruchstücken Bilder aus seiner unbeschwerten

Jugend auf. Hollaender starrte so lange auf die Seite bis die Buchstaben sich

in kleine Tierchen verwandelten und davon krabbelten, weiß und schwarz,

wie Tag und Nacht.

Er dachte an Frieda, Rosa und Ilse und nahm einen Schluck Kaffee, den er

mit einem Cognac verstärkt hatte. Tränen sammelten sich in seinen Augen,

heiß rannen der Kaffee und der Cognac die Kehle hinab, sein Blick verlor

sich in der Weite, die von dem Abteilfenster gerahmt wurde.

225
Helen kam sofort, als sie Arnos Brief erhalten hatte. Er schrieb ihr in

schlagender Deutlichkeit und ohne, etwa einer Freundschaft geschuldeten

Rücksichtnahme, dass Henry nicht mehr bei ihm bleiben könne.

„Ich habe ihn mit offenen Armen und der Großzügigkeit, zu der ich mich

als alter Freund verpflichtet fühlte, bei mir aufgenommen“, teilte er Helen

mit. Seine Sätze wirkten auf sie wie auf Stelzen gesetzt, einer Sekretärin

diktiert, geschäftsmäßig. Von Arno hatte sie nicht anderes erwartet, sie

mochte ihn nicht. Sie erinnerte sich an ihre Verwunderung, als sie erfahren

hatte, auf Umwegen, dass Henry bei Arno eingezogen war.

Sie begegnete Arnos Begrüßung sehr kühl, distanziert, ohne ihre Abneigung

mit sentimentalem Lametta zu verschleiern. „Gib dir bitte keine Mühe!“.

Sie wolle sofort sein Zimmer sehen, entschied sie und machte Anstalten,

den Raum gleich selbst zu suchen. Der Mann, der sie begleitete, etwa Mitte

dreißig, hatte kurze, blonde Haare, war offenbar sehr modebewusst. Der

beige Anzug vormochte es nur mühsam seine sportive Erscheinung zu

verbergen. Er sagte nicht, schob Helen aber mit sanftem Druck an Arno

vorbei. Arno drehte sich um und deutete an, dass Henrys Zimmer auf der

gegenüberliegenden Seite des Flures liege. Sie drängte vor und pochte mit

der Faust an die Türe. Ohne auf Antwort oder Regung zu warten drückte

der sportive Schatten an ihrer Seite die Klinke herunter, er verspürte keine

Lust, seine Ungeduld zu zähmen. Er tat seiner Freundin Helen nur einen

Gefallen, ihn interessierte das alles nicht.

„Er schließt sich immer ein“, sagte Arno beiläufig. Der blonde Schatten trat

vor, klopfte kräftig an die Türe. Das forsches Auftreten verfehlte seine

Wirkung nicht. Sein verächtlicher Seitenblick zu Helen sagte: “Siehst du,

so macht man das“.

226
„Still, es regt sich was“, bemerkte sie mit vor Aufregung bebendem

Gesicht. Ihre Züge wechselten von verlegenen Versuchen zu lächeln hin zu

nervös flackerndem Ernst. Die Tür wurde von innen einen Spalt breit

aufgezogen. Arno, Helen und der muskelbepackte Schatten erschraken, als

sich Henry, einem Gespenst gleich, aus der Dämmerung seines Zimmers

schälte. Ein zerzauster, staubiger Kopf, aus dem ein rot entzündetes

Augenpaar hervor blinzelte, streckte sich ihnen entgegen. Kurz darauf trat

Henry ganz aus der Türe, verwirrt, alterslos. Er saugte das Gift seiner

Zigarette ein, es drang in ihn wie eine Infusion.

„Henry, was ist mit dir?!“. Helen konnte kaum glauben, dass diese

erbarmungswürdige Gestalt, die leicht gebeugt vor ihr stand und den Blick

zu Boden gerichtet hatte, ihr früherer Geliebter war. Seine mit Flecken

übersäte Hose schlackerte um die dünnen Beine, ein weiter Pullover hing

schlaff über den Schultern. Da stand der Jammer. Helens Augen

schwammen in Tränen wie in einem Teich, dessen Damm gebrochen war,

und das Make Up schmierte über ihr Gesicht. Gnadenlos war das Leben des

Alfred Hollaender in den letzten Monaten wie ein Zug über Henry

gerauscht. Mitleid und Schuldgefühle überkamen sie.

Aus dem Zimmer stieg der kalte Dunst einer Gruft. Zigarettenqualm und

die schwere Luft, die aus leeren und halbvollen Flaschen diffundierte,

verpestete das Zimmer und durchzog nun die ganze Wohnung.

Wie ein aufgeschlagenes Buch lagen die Reste von Henrys Leben vor den

Eindringlingen. Es beichtete Sünden, die er nicht begangen hatte. Er war

ein Häftling geworden in einem Gefängnis aus zu betrunkener Schuld

gewordener Unschuld.

227
Zettel, Zeitschriften, Bücher, Socken, Unterwäsche und Hemden lagen weit

verstreut im Raum. Drei Kerzen, die mickrig flackerndes Licht spendeten,

boten Orientierung. Sie verbargen den Schmutz und den Unrat mehr als sie

ihn ausleuchteten.

„Schließ die Tür“, befahl Arno vor Ekel. Helen gehorchte nicht.

Sie hatten die Tür zur Kammer eines Mannes aufgestoßen, der ausgezogen

war, um Worte zu finden. Der Zufall führte ihn in einen reich bestückten

Steinbruch, der ihm ein fremdes, unheimliches Leben offenbarte. Die Steine

aber waren stärker und schwerer als die Kraft von Henry. Sie deckten ihn

Schicht um Schicht zu, bis er vollständig verschüttet war. Ohne einen Sinn

zu ergeben lagen die geborgenen Steine vor ihm ausgebreitet. Sätze waren

ihm zu Feinden geworden, so dass die Erlebnisse, von denen sich

Hollaender befreite, sich nicht mehr zu Berichten zusammenfügten. Sie

durchfurchten seinen Geist, bis sie ihn schließlich umnachteten.

So trat er hervor, ein Bild des Jammers, mit schmutziger Hose vor fremden

Menschen und war nicht einmal mehr im Stande, sich zu schämen.

Helen und ihr Schatten betraten das Zimmer und wateten betroffen durch

den Unrat auf dem Fußboden. Vor ihnen öffnete sich ein Kosmos an

Papierschnitzeln, die alle mit kleiner Schrift beschrieben waren. Manche

waren schwarz vor Schrift, der Wahnwitz unlesbar. Auf anderen wiederum

stand nur ein einziges Wort vermerkt. Mit spitzen Fingern hob Helen einen

auf, „Hollaender und ich sind Mörder“, konnte sie entziffern. In der

Zwischenzeit hatte sich Henry wieder auf seine Matratze zurück gezogen

und kauerte mit angezogenen Beinen teilnahmslos.

„Hochverehrtes Publikum, jetzt kein Verdruss, wir wissen wohl, dies ist

kein rechter Schluss. Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen den

228
Vorhang zu und alle Fragen offen“, platzte es plötzlich aus Arno. Er lachte

schallend, bis ihm Helen Einhalt gebot:

“Du Arschloch!“

„Ich möchte, dass alle auf der Stelle mein Zimmer verlassen“, murmelte

Henry. Diese zehn Worte schnitt er sich regelrecht heraus. Mit wirrem

Blick spähte er über seinen Knie, die Katzenaugen blinzelten in die tief

stehende Sonne, die durch die offene Türe ins Dämmerlicht des Zimmers

fiel. Ein fetter Sonnenstrahl bahnte sich eine Schneise in das Reich aus

Zetteln und Abfall, als wolle er alles verbrennen.

„Mein lieber Henry“, begann Arno, „du verkennst eindeutig die Situation.

Nicht du hast das recht, jemanden rauszuschmeißen, ich werde dich auf der

Stelle vor die Türe setzen...“Er sprach nicht zuende.

Die drei verließen das Zimmer, was sollten sie noch dort. Ratlos trafen sich

ihre Blicke, aber Arno lächelte immer noch ein wenig über sein Bonmot.

Helen lehnte aschfahl in der Küche, sie nippte an einem Glas Wasser, ihr

Schatten tröstete sie mit seinen starken Armen. Arno wanderte

unentschlossen im Wohnzimmer auf und ab. Ein Taubenpaar turtelte auf

dem Balkon, ihre Schnäbel berührten sich, sie schlugen aufgeregt mit den

Flügeln. Arno hasste Tauben. Wütend über sich, Henry und die Besucher,

riss er die Balkontüre auf, die Vögel flatterten unbekümmert davon in den

milden Berliner Abend. Unten auf der Straße schob sich der Verkehr

zusammen, die Menschen machten Erledigungen, kauften ein, trafen sich zu

einem Plausch, das Leben ging seinen Gang, wie immer. Nur oben, in

seiner Wohnung, da verrottete ein Mensch, dachte Arno finster.

‚Hilft nichts’, sagte er zu sich. Er kehrte zurück zu den anderen und bot sich

an, Kaffee zu kochen, „oder lieber Tee, meine liebe Helen?“.

229
Hellen und ihr Schatten lehnten brüsk ab.

„Nein danke, wir möchten lieber gehen...“

„Einen Augenblick bitte“, unterbrach Arno, der zurück gefunden hatte zu

seiner juristischen Prägnanz. Er fühlte sich zu Unrecht in die Rolle des

Schuldigen, oder zumindest Mitschuldigen an der Misere gedrängt.

„Ich bat dich hierher zu kommen“, sagte er mit drohendem Unterton, „dass

wir gemeinsam eine Lösung für das Problem finden, das wir eben dort

drüben besichtigen konnten. Jetzt kommst du hierher, bist empört,

erschrocken oder was weiß ich, leidest gerade so viel, dass ich es bemerke,

und das soll es gewesen sein? Nein meine Liebe, so geht das nicht. Soweit

mir bekannt ist, seid ihr, also Henry und du, immer noch ein Paar“.

Der Schatten zog Helen fest an sich heran, so dass kein Zweifel mehr

bestand, wer mit wem ein Paar bildete. Helen wehrte sich nicht.

„Du hast ein Problem mit deinem Untermieter. Er hat mich verlassen, und

er ist zu dir gezogen“, antwortete sie mit zornig funkelnden Augen. Dabei

betonte sie das „dir“ mit fester Stimme.

„Ich pflege keinen Umgang mit Männern dieser Sorte. Und zu dieser Sorte

zählst auch du“, beschied sie. Henry schaute aus seinem Zimmer, und

beobachtete den Streit.

Helens Blässe war einer munteren Gesichtsfarbe gewichen. Ein

unmerkliches Nicken zu ihrem Schatten beendete den Besuch.

„Du hast recht, lass uns gehen“, sagte der Schatten.

Die Haustüre fiel ins Schloss. Die Tauben hatten zu ihrem angestammten

Platz auf dem Balkongeländer zurückgefunden. Zornig schleuderte Arno

ihnen eine Tasse entgegen, die laut scherbend unten im Hof aufschlug.

230
Auf der Straße fasste der Schatten Helen zärtlich am Nacken, griff mit

seinen Fingern wie ein Kamm in ihr wehendes Haar und wollte sie küssen,

ihr den Stempel seines Sieges auf die Lippen drücken.

„Lass das“, wehrte sie ab. „Ich bin nicht in Stimmung“.

Henrys Lethargie, die Lähmung lockerte sich. Er bewegte sich zum Fenster,

entfernte die Verdunkelung, riss das Fenster auf und schrie wie von Sinnen

heraus:“ Ihr rührt mit euren manikürten Händen an Dingen, die euch nichts

angehen, die ihr nicht versteht“. Die Passanten hoben kurz die Köpfe in

Richtung des Geschreis und gingen weiter ihrer Wege. Der Schatten

richtete seine Krawatte, ein dünner Lederstreifen. Helen schaute zu Henry

hinauf, der immer noch aus dem Fenster hing und lange in den beginnenden

Abend schwätzte. Es sah komisch aus, wie sie ihren Hals verdrehte, um ihn

zu sehen, während sie, eingehängt in den Arm ihres Schattens, in ihr Leben

gezogen wurde.

Alfred Hollaender erinnerte sich noch genau an den Tag, als er den Brief

eines gewissen Ignaz Grün aus New York in Händen hielt. Und er konnte

auch exakt das Datum abrufen, an dem er dem jungen Henry, der ihm mit

Angelusaugen gegenüber saß, von diesem Brief erzählte. Ignaz Grün,

diesen zwielichtigen Agenten hatte er fast vergessen, genau wie den

Auftrag, den er ihm erteilte.

Lieber Al,

ich hoffe, es geht Ihnen gut. Sind Sie gut in Deutschland angekommen? Sie

haben mir nie geschrieben. Ich wünsche es sehr, denn die Nachricht, die ich

231
Ihnen mit diesem Brief überbringen muss, ist leider, und glauben sie mir,

ich hätte lieber bessere Nachrichten für sie, sehr, sehr traurig.

Hollaender las den Brief langsam, seine Hände zitterten, so dass er das

Papier vor sich auf den Tisch legen musste. Er konnte die schnell

geschriebenen Zeilen nur schwer entziffern. Es war auch lange her, dass er

englisch lesen musste, so dass ihm so manche Vokabel nicht mehr einfallen

wollte. Gespannt und aufmerksam folgte er dem Bericht des Agenten aus

der fernen Welt, die vor einem halben Menschenleben einmal seine Heimat

werden sollte, aber es nie wurde. Amerika war ihm entfremdet, die

Erinnerung verdünnte sich von Tag zu Tag. Ilse hingegen war in seinem

Herzen lebendig geblieben, wenngleich ihr Abbild verblasste.

Ignaz Grün schilderte ihm in schnörkelloser, nüchterner Eigentümlichkeit,

so, wie er sprach, in beinahe grobem Ausdruck, das Schicksal seiner Ilse.

Hin und wieder gestattete sich der Lesende eine Erholung und schaute vom

Blatt auf, dann sog er tief Luft ein, als benötige er einen langen Atem, den

Brief durch zu stehen. Ein Gedanke durchkreuzte ihn: ‚Will ich das wissen,

was mir Grün schreibt. Will ich das heute, nach so langer Zeit noch wissen?

Muss ich mir das antun, jetzt, wo ich ein alter Mann geworden bin, jetzt, wo

nichts mehr zu ändern ist, wo das Vorhersehbare eingetreten zu sein

scheint?’

Die Straße unter seinem Fenster kam ihm vor, wie ein weit verzweigter,

von fiebrigen Adern durchzogener Teil eines Organismus, in dem die roten

und weißen Lichter an den Autos als weiße und rote Blutkörperchen

wirkten und sich in langem, trägem Strom vorwärts schoben.

232
„Nachdem Ilse den geisteskranken Veteran verlassen hatte, reiste sie weiter

in Richtung Süden. Sie suchte vermutlich Sonnenwärme oder Zuneigung

oder beides, wer weiß das schon. Im Sommer 1975 erreichte sie nach

längerer Odyssee kreuz und quer durch die südlichen Staaten ein

verschlafenes Nest namens Little Rock. Dort, das ergaben meine

Nachforschungen, fand sie Arbeit in einem Restaurant mit Tankstelle. Wie

man mir mitteilte, gehörte auch ein Motel dazu. Ihre kleine Barschaft, die

sie wohl aus Ihrer Kasse entwendete hatte, Herr Hollaender, war schnell

aufgebraucht. Der Besitzer des Restaurants, ein, wie man mir zugetragen

hat, schmieriger Typ mit Namen Oskar Deibel, vermutlich ein Einwanderer,

aber das spielt an dieser Stelle wirklich keine Rolle, hatte gerade eine seiner

Kellnerinnen rausgeschmissen. Ihre Frau kam ihm gerade recht. So, wie

damals dort auftauchte, sah sie nicht mehr besonders gut aus. Nach

tagelangem, oder wochenlangem Vagabundenleben roch sie auch nicht

mehr so gut. Deibel sagte mir, dass sie gestunken hätte. Klebriges Haar,

hing strähnig von ihrem Kopf. Kurzum, ein jammervoller Anblick. Sie

entsprach überhaupt nicht den Vorstellungen von Deibel, der normalerweise

lecker aussehende, junge Mädchen bevorzugte, zu deren hervorstechenden

Eigenschaften funkenbildender Intellekt nicht gehören musste. Ihre Frau

war ja auch schon ein wenig angejahrt. Wie dem auch sei, der Not

gehorchend und irgendwie milde gestimmt, stellte er Ilse ein. (Sie erlauben

mir doch hoffentlich, dass ich Ihre Frau der Einfachheit halber in dem Brief

mit Vornamen nenne?!) Fleißig und zuvorkommend und mit dem

geschliffenen Charme einer reifen Frau ausgestattet, eroberte sie schnell den

Respekt der Gäste. Gestatten Sie mir an dieser Stelle eine kleine,

gewissermaßen persönliche Bemerkung. Ilse war mir, wie sie ja wissen,

233
keine Unbekannte. Mir fiel bei Ihrer beider Ankunft in New York ihre

vornehme Erscheinung. Ich schätzte damals, dass sie aus guten Hause

stammen müsse. Aber mehr wusste ich zu dieser Zeit noch nicht. Und, mit

Verlaub, es interessierte auch nicht besonders. Aber je mehr ich mich in den

Fall vertiefte, desto deutlicher trat der erste Eindruck wieder hervor. Ich

rekonstruierte Ilse, ich ließ sie wieder auferstehen, um ihr besser

nachspüren zu können. Ich musste mich in sie hinein versetzen. Es ist mir,

wie ich meine, gelungen. Nicht zuletzt aufgrund dieser Erkenntnisse, Ilse

wurde mir immer vertrauter, empfinde ich die Geschehnisse um so

bedauerlicher. Warum?, fragte ich mich immer wieder.

Nun, ihrem Chef Oskar Deibel, kann man keinen Vorwurf machen, ein

einfältiger Typ eben. Das entscheidende blieb ihm nicht verborgen. Ilse galt

zwar nicht mehr unbedingt als Quelle männlicher, mithin umsatzfördernder

Begehrlichkeiten, jedoch mit routiniertem, fast mütterlichem Einsatz wurde

sie schnell zur Seele des Betriebes, wie man so sagt. Aber sie hatte auch

einen ganz speziellen Sex.

Er bot ihr im Motel ein Zimmer an, das sie gerne annahm. Sie richtete sich

ein, kaufte dies und das für ihr neues Heim an, wer konnte schon wissen,

wie lange sie blieb. Deibel berichtete mir, dass sie ihm häufig traurig und

verschlossen vorkam. Zuweilen, wenn sie etwas getrunken hatte, löste sich

ihre Zunge und aus dem verschlossenen Wesen drang die melancholische

Sehnsucht nach einem früheren Leben. Freilich hatte sie nie Zweifel an

ihrer Entscheidung zugelassen, Sie, verehrter Herr Hollaender, zu verlassen.

Meinen Notizen entnehme ich, dass die Augenblicke ihres bescheidenen

Glückes immer seltener wurden. Es fand sich das Tagebuch, dem sie sich

anvertraute. Es war durchtränkt von Seufzern, ja Klagen, was Gott ihr

234
abverlange, wo sie doch einfach nur leben wollte. Mir fällt ein Ausdruck

ein, der mir zutreffend scheint: Erhaben. Ich glaube, dass sie erhaben war.

Sie überragte ihr Elend, konnte ihm jedoch letztlich nicht entrinnen, sie

steckte bis zum Hals in dieser Suppe. Ich entdeckte aber auch Einträge, die

dem widersprechen, was sich mir an anderer Stelle aufdrängte. Sie war sehr

wankelmütig zu jener Zeit. Ich bin kein Psychologe, deshalb lassen Sie

mich jetzt fortfahren. An meinen privaten, theoretischen Bemerkungen liegt

Ihnen vermutlich nicht viel.

Trotz ihres Alters (sie war ja kein junges Ding mehr) wurde sie beschrieben

als eine Frau, die sich eine gewisse jugendliche Unbeschwertheit bewahrt

hatte. Dieser Umstand wurde wohl durch die anregende Konkurrenz zu den

anderen Frauen hervorgerufen, die bei Deibel verkehrten. Der leidlich

unbefleckte Glanz der jungen, kichernden Frauen ließ Ilse wieder glühen.

Sie soll vor dem Spiegel posiert, sich aufreizend benommen haben. Sie

wurde übermütig, gab Deibel zu Protokoll. Sie kaufte sich Kleider, die zu

Frauen ihres Alters nicht mehr so recht passen wollen. Die Röcke zu kurz,

der Ausschnitt zu tief, sie verstehen. Die Frauen schüttelten die Köpfe über

sie, einige Männer dagegen waren entzückt.

Eine Gruppe junger Kerle um einen Typen, den alle nur Stan nannten, traf

sich häufig bei Deibel. Sie tranken Bier, lärmten, lachten viel, nichts

Ernstes, wie Deibel später aussagte. Was gab es schon in Little Rock an

Unterhaltung für junge Leute. Während die Jungs um die Mädchen buhlten,

hatten sie für die verblühte Ilse nur Spott übrig. Sie ließ sich von

zweideutigen Avancen und von verlogenen, lüsternen Komplimenten

täuschen, die bei Lichte betrachtet, Beleidigungen waren. Das Licht war

nicht dort, wo Ilse sich aufhielt und so kam es, dass sie zweifelhafte

235
Einladungen annahm. Ihrem Tagebuch vertraute sie an (ich habe es Ihnen

beigelegt), dass sich mit Ihrer Person nur leidvolle Erinnerungen verbinden.

Die Reise ins Ungewisse, ich schätze, sie meint damit die Abkehr von der

Heimat, Mayer’s Super Market, die hasserfüllten Angriffe und die

Langeweile setzten ihr sehr zu. Sie, Herr Hollaender, hätten das Leben

bestimmt. Von fremden Kleidern sprach sie, die man ihr übergezogen hätte.

Sie sei die perfekte Hausfrau gewesen, voll Demut und Zurückhaltung. Es

sei aber nicht ihr Leben gewesen. Als Ehefrau habe sie die Schenkel nicht

aus Liebe geöffnet, sondern aus Pflichtbewusstsein. In den Jahren mit

Ihnen welkte sie zu einer trockenen Rose“.

Eines Abends, die Nacht brachte kaum Abkühlung, wollte Ilse gerade das

Restaurant verlassen, ihre Tasche hatte sie schon über die Schulter gehängt,

als ein Wagen neben ihr hielt. Auf seiner gemächlichen Kontrollfahrt durch

die Hauptstraße schaute der Sheriff bei ihr vorbei. Sie bot ihm einen

lauwarmen Kaffee an. Sie sprachen kurz miteinander, schließlich drehte der

Sheriff weiter seine Runde. Es war noch nicht sehr spät. Der Sheriff gab

später zu Protokoll, dass es etwa gegen 23 Uhr gewesen sein musste. Ilse

schickte sich an, die milde, warme Nacht noch etwas zu genießen, einen

Spaziergang zu unternehmen, die funkelnden Sterne zu beobachten. Beim

Schlendern stellte sie fest, dass das Licht der Straßenlaterne den gleichen

Farbton angenommen hatte, wie der gelbe Wüstensand, der den Ort umgab.

Sie streichelte den Hund der Stewarts, der in der Gegend streunte. Sie

erkannte das Tier an seinem blauen Halstuch. Auf der anderen Straßenseite

winkte jemand, sie winkte zurück, wusste nicht wer ihr gewunken hatte,

236
ging weiter, schaute den Autos nach, die vorbeifuhren und lange Lichtkegel

vor sich her schoben, Staub aufwirbelten, bis sie sich in der Wüste verloren.

Die Lichter tanzten noch eine Zeit lang in der Schwärze des Nichts, das sich

in der Ferne auftat, bis sie sich in Sand verwandelten.

„Ja Herr Hollaender, die Wüste verspricht und droht zugleich. Wenn ich

nun den weiteren Gang der Ereignisse dieses Abend rekonstruiere, ergibt

sich folgendes Bild: Ihre Frau bemerkte die Männer nicht, die hinter ihr her

schlichen. Niemand wusste, ob es drei oder vier waren. Mit unbarmherziger

Gewalt sind die Männer, gleichsam wie räudige Köter, über Ilse

hergefallen, nachdem sie sie zu Boden gerissen hatten. In wilder Gier

zerrten sie ihr die Kleider vom Leib. Plötzlich blitzte die Klinge eines

Messers. Ilse schrie nicht mehr, als die Waffe mit voller Wucht bis zum

Schaft in ihren Körper drang.“

Mit starren Augen, so fand man sie, schaute sie ein letztes Mal zum

Himmel, die Sterne funkelten wie wenige Minuten zuvor, und wie früher,

als sie als kleines Mädchen versuchte die Sterne zu zählen und Sternbilder

zusammen zu setzen. Der Schmerz der Welt mischte sich mit den Bildern

ihres Lebens, ihres Vagabundenlebens. Nach dem Gemetzel bestanden alle

Bilder nur noch aus Konturen, die sich langsam auflösten und zu einem

ewigem, grauen Rauschen wurden.

Sie war schon lange gestorben, als die johlende, keuchende Meute von ihr

abgelassen hatte und der letzte ihrer Peiniger seinen Schanz aus ihr heraus

zog.

237
Grün schrieb weiter: „Die Schändungen hatte sie entsetzlich entstellt. Die

Lokalzeitung schrieb in ihrem Bericht über die Tat, dass es in Little Rock

niemals zuvor ein derart verabscheuungswürdiges Verbrechen gegeben

habe. Der Sheriff, der Zeuge und Ermittler war, sagte, „ich selbst habe ihr

die Augen zugedrückt, schrecklich“. Er sagte aber auch, dass Mrs

Hollaender allzu offen mit dem, was von ihrer Jugend geblieben war,

kokettiert habe. Er ging nicht so weit zu sagen, dass sie die Tat provoziert

habe. Später erzählte er von der fleißigen Jugend im Ort, als wären es seine

eigenen Kinder, die ihrer Arbeit nachgingen und freundlich grüßten.

Nach wenigen Wochen wurden die Ermittlungen in der Mordsache zum

Schaden der Mrs Ilse Hollaender eingestellt, hieß es nüchtern. Das Interesse

an diesem Fall hatte schnell nachgelassen. Einmal, es mögen sechs Wochen

vergangen gewesen sein, bohrte ein Reporter einer Radiostation nach. Er

stieß auf eine Wand des Schweigens. Mit Glück gelang es ihm, Little Rock

unbeschadet zu verlassen.

Alfred Hollaender legte den Brief beiseite. Im Schrank wartete noch eine

Flasche Whiskey. Sie war ein Geschenk, von wem, wusste er nicht mehr.

Hollaender trank die ganze Nacht hindurch und stieß immer wieder auf Ilse

an. Er war sehr betrunken in dieser Nacht, nach dem Brief, der seine letzten

Hoffnungen zerstörte. Er saß an seinem Tisch, schaute auf das Bild von

Ilse, das er nach einer Fotografie hatte in Öl malen lassen, darunter hing das

Foto von Rosa und Frieda. Einen Augenblick lang wünschte er Ilses

Grabstätte zu sehen, Blumen und Kerzen wollte er dort abstellen. Er wollte

Ilse um Verzeihung bitten mit einer tiefen Verbeugung. ‚Aber

wahrscheinlich gibt es gar kein Grab’, dachte er. ‚ In einem Armengrab

oder einem Erdloch wird man sie beigesetzt haben, die Wüstensand fegt

238
darüber hinweg. Wie viele Jahre habe ich sie nicht mehr gesehen? Gnädiger

Gott, Paul, Ilse...’ .

Sein Kopf fiel in tiefem Rausch auf den Tisch. Der Schlaf war traumlos und

ohne Erholung. Dies war die Nacht der Nächte, die Nacht, in der ein

Gebäude entstand, ein Tempel gewissermaßen, gestützt durch Säulen aus

Zorn, wilder Wut und Hass, Verzweifelung und Not. Hollaender trug

Abscheu in seinem Herzen und die absolute Gewissheit des Verlorenseins,

der Ausweglosigkeit und des Todes.

Nur noch selten, an ganz wenigen Tagen, immer dann, wenn die

anderen Menschen in ihren gemütlichen Wohnungen saßen, und er

sich unerkannt und unbeobachtet wähnte, verließ Henry seine Höhle.

Dann trieb er mit bewölktem Gemüt ziellos durch die Straßen, wie ein

Blatt. Er schluckte alles, was seine quälende Trübsal aufzuhellen

vermochte. Er tappte halb torkelnd zu einem Kiosk und versorgte sich

mit Zigaretten und Schnaps. Dort trafen sich die vom Leben

vergessenen. Sie lärmten, schwatzten und tranken, ihre Hunde

kläfften. Henry gesellte sich kurz zu ihnen, er rauchte und trank. Die

Sehnsucht, welche, das wusste er nicht mehr, trieb ihn weiter in die

Dunkelheit und er erreichte einen Zustand, nicht Tag, nicht Nacht,

nicht hell, nicht dunkel. Er spürte ewige Dämmerung. Henry fror vor

Kälte und Einsamkeit. Nach einiger Zeit, er bemerkte nicht die

mitleidigen Blicke der Passanten, die ihm nachschauten, erreichte er

den Bahnhof Neukölln. Stunden musste er unterwegs gewesen sein,

denn er fühlte sich sterbensmüde. Unter Stöhnen bestieg er eine steile

Böschung, die zu den Schienensträngen führte. Er kam ins Straucheln,

239
rutschte ein paar Meter hinab, raffte sich laut fluchend wieder auf.

Endlich, nach mehrmaligen Versuchen, kam er oben an. Er legte eine

Rast ein und leerte dabei das Fläschchen Likör, das er sich zwischen

den Kiffern und Trinkern am Kiosk gekauft hatte, in einem Zug. Der

Schnaps erwärmte ihn für einen Moment und auch ein Gefühl großen

Glücks stellte sich ein. Er schwebte über den Dingen. Wie in einem

Heißluftballon stieg er empor, drunten blieb Hollaender zurück, und

Arno, und sein Leben, alles schrumpfte auf Zwergesformat. Er sah in

die Tiefe, Schwindel befiel ihn und ein aufgewühltes Meer tobte in

seinem Kopf. Die Wellen waren stärker als die Trägheit des

Alkoholrausches. Sie trugen ihn fort. Von weiten hallte Helens

Stimme zu ihm und verlor sich wieder wie ein Echo. Dazu gesellte

sich Hollaenders Befehl. Laut wies er ihn an zu gehen, immer weiter.

Henry fiel auf den Rücken. Einem angeschossenen Solden ähnlich

erhob er sich mühsam und wankte auf die Schienen zu. Ein lautes

Pfeifen traf seine Ohren. Henry wich erschrocken zurück. Der Zug

rauschte in schneller Fahrt an ihm vorbei. Er wankte im Sturm, der

den Zug begleitete. Die Zwerge aus seinen Träumen marschierten mit

kleinen Schritten auf ihn zu. Sie trieben Henry vor sich her und

verfluchten ihn mit grimmigen Mienen, bis er über die Schwellen

stolperte und auf die Gleise fiel. Unter Siegesgeschrei machten sich

die kleinen Kerle über ihn her, wie die Liliputaner über Gulliver, und

banden ihn so fest, dass er sich nicht mehr bewegen konnte. Jedes

Haar knoteten sie an Pflöcke. Tausende von kleinen Fäden hielten ihn

fest am Boden. Zwei weit aufgerissene Augen, weißgelb wie die des

Teufels, rasten mit lauten Gebrüll auf ihn zu. Immer näher kamen die

240
blendenden Lichter des Zuges. Die Zwerge hüpften mit flachen

Sprüngen in die Büsche. Der Lokführer erkannte das Hindernis,

erkannte einen Menschen, der mit weit ausgebreiteten Gliedern vor

ihm auf den Gleisen lag. Er stemmte sich mit aller Kraft gegen sein

Steuerpult, als könne er die Bremswirkung damit verstärken.

Vor Henry indes tat sich ein unendliches Plastikmeer auf. In dem

Meer kopulierten Fische aus Plastik, am Ufer umarmten sich ein

Mann und eine Frau. Ihre Lippen berührten einander.

Das Plastikmeer dehnte sich immer mehr aus. Es erstreckte sich jetzt

bereits bis zum Horizont und noch viel weiter. Kleiner fragte sich,

warum sie in polnischer Sprache sprechen, obwohl das Deutsche doch

ihre Muttersprache sei. Ein Balken wurde über die Köpfe anderer

Menschen hinweg von einem Handwerker an den anderen gereicht.

Ein Handwerker trug Bart und hielt in seiner Linken ein kleines,

gekrümmtes Stück Rohr. Die Menschen sind unentwegt beschäftigt,

dachte Kleiner in seiner friedlichen Koje. Er aber, ging umher und

schaute und stellte fest, dass kein Weg zu weit ist zur Erkenntnis.

Plötzlich sagte jemand in deutscher Sprache, dass die Zeit

ausgeschöpft sei. Ausgeschöpft. Aus-ge-schöpft. Mit welchem

Werkzeug schöpft man Zeit?, fragte sich Kleiner, der Bildchenmaler

und Dichter. Und genau in diesem Augenblick dachte er an den

Urgroßvater aus dem kleinen Städtchen im fernen, untergegangenen

Land, dort wo das Plastikmeer endet, am Anfang der Zeit, die

ausgeschöpft wurde mit dem unbekannten Werkzeug, geleert. Und der

Urgroßvater ist schon vor bald 70 Jahren gestorben, nach der

241
Großmutter, seiner Tochter, die einen Sohn gebar: Kleiners Vater, der

noch lebt mit seiner Frau, die neue Kleiners gebar, die wiederum in

späteren Zeiten von Gott aufgefordert worden waren Kleiners das

Leben zu schenken. Unterdessen dehnte sich das Plastikmeer weiter

aus. An einer Stelle fanden Elefanten eine Furt, die ihnen ermöglichte,

durch den Morast und den sehr feuchten Sumpf zum süßen Wasser

des Meeres zu gelangen, ohne mit den Säulenbeinen im Schlamm zu

versinken. Fröhlich trompeteten die Elefanten, tauchten ihre Rüssel in

das Meer aus Süßwasser mit den kopulierenden Fischen, sogen

beides, Plastikwasser und Plastikfische ein, ohne sich der Tragweite

ihrer Missetat im Klaren zu sein, denn sie töteten die Plastikfische.

Nicht alle, aber eine Anzahl von ihnen und mit dem gerade

entstehenden, schuppigen Nachwuchs, der noch in Eiern schlummerte.

Die Elefanten spuckten Wasser und Fische und den ungeborenen

Nachwuchs aus, duschten und kühlten ihre Leiber mit den Fischen

und dem Wasser aus dem Meer und merkten nichts. Kleiner, wie

immer unterwegs, beobachtete alles genau. Er war der Einzige, der es

sah, der den Schrecken in der lieblichen Szene entdeckte, weil seine

Zeit nicht ausgeschöpft war und er unterwegs war. Das Plastikmeer

war sein Reservoir. So sah er das, so wollte er das erkennen und

erklären. Später, lange nach der Entdeckung des Plastikmeeres, also in

der Neuzeit, wusste Kleiner auch um die Bedeutung der hängenden

Zwerge, die ihm immer wieder begegneten. Diese Zwerge waren

aufgehängt am Wegesrand an ihren Zwergenhälsen an einem

unendlich über das Meer gespannten Baldachin. Die Zwerge

baumelten an Seilen, die um ihre Hälse geschlungen waren, im

242
Abendrot. Sie boten ein gespenstisches Bild, wie sie so hingen, leicht

schwingend, als wären sie von ihren Richtern eben erst vom Schafott

gestoßen worden. Sie pendelten. Sie waren Zwerge. Aus welchem

Grund wurde ihre Zeit ausgeschöpft. Das fragte sich Kleiner. Entleert,

buchstabierte er langsam vor sich hin. Die Zwerge konnte niemand

mehr retten. Die Fische auch nicht. Wer entleerte die Zeit der

Zwerge? Die Fische waren zur falschen Zeit am falschen Ort. Aber

die Zwerge?

Ratternd, im rhythmischen Wiederkehren der Schwellen, überrollten

alle Waggons Henry. Er hörte es.

Kleiners Bekannte, die Badende vor dem schmelzenden Himmel und

Meer, hatte helle Brüste. Er konnte sich nicht erinnern, jemals zuvor

derart gebleichte Brüste gesehen zu haben. Sein Verstand war frei und

klar. So klar und rein und unberührt und unschuldig wie der Bergsee,

den er vor kurzer Zeit umwandert hatte. Er erinnerte sich, dass in

diesem See keine Fische lebten. Die Evolution schien das Gewässer

hoch droben in den Bergen vergessen zu haben.

Henry blickte plötzlich von seinem Papier auf, er blickte aus seinen

Träumen heraus, ganz neugierig, wie ein Fisch, der seinen Kopf

knapp aus dem Wasser streckt, und nach Luft schnappt.

Ebenso blickte Kleiner vom Himmel herab auf die Welt und auf das

Papier des jungen Herrn. Er erwachte grob. Er spürte nicht mehr die

wohlige Erholsamkeit nach der Nacht wie früher, als er Kind war.

243
Henry träumte von einer Frau. Was es Helen? Die Frau war blond, ein

dunkles, rauchiges blond. Wie die Badende. Der Kopf ihres Freundes,

der neben ihr saß, war beklebt mit schwarzen Haaren. Der dritte hatte

keine Haare. Die Badende und die Blonde hatten Verletzungen jeweils

an der linken Hand. Sie beschmierten die Wände mit Blut. Der Saal

war erhellt von vielarmigen Leuchtern, die ihr Licht mit der Farbe des

Blutes an den Wänden mischten. Die Szene mahnte Kleiner an das

Plastikmeer, an die Fische und die unglücklichen Zwerge. Über ihre

Hände hatten die Mädchen Plastikhandschuhe gestülpt. Aus den

Handschuhen der Mädchen quoll das Blut ihrer Verwundungen.

Kleiner glaubte seinen Augen nicht. Es war das erste Mal, dass er

seinen Augen nicht traute. Er bemühte sich, die blutrote Zipfelmütze

des polnisch sprechenden Menschen nicht zu sehen. Er sah sie auch

nicht. Aber die Zipfelmütze war real. Sie existierte wie die Fische, das

Meer und die Elefanten. Das war Kleiner zu diesem Zeitpunkt nicht

klar. Erst später, in einem anderen Traum. Zwischenzeitlich träumte

er, dass seine Frau gestorben wäre, zum selben Zeitpunkt, als auch die

Frau des Kameramannes verstorben war, eines berühmten Künstlers

aus den UFA-Studios. Und plötzlich übermannte Kleiner diese

schwere Traurigkeit, im Traum. Dieser Urtraum überlagerte alle

anderen und Kleiner, aber auch Henry, erkannten die Wahrheit, oder

den Weg dorthin. Dieser Weg schlängelte sich von dem von Gott

vergessenen Bergsee hinab und mündete in dem Plastikmeer. Die

Elefanten hatten den Strand des Meeres vollständig zertrampelt. Sie

zerstörten im Übermut der Freude und des Glückes den einzigen,

schmalen Pfad zum Wasser. Nachgeborene Elefanten erreichten das

244
Plastikmeer nie mehr. Es war endgültig vorbei mit der

Süßwasserdusche und dem Mord an den Fischen. Der Bestand der

Fische erholte sich nachfolgend rasch. Kleiner berichtete davon seiner

Bekannten, der wunderschönen Frau mit den gebleichten Brüsten.

Wenn er sich freute, hüpfte sein Herz in seinem karierten Hemd.

Seiner Bekannten war es möglich, ihre Brüste unabhängig

voneinander zu bewegen. So drückte sie für alle sichtbar ihre Freude

aus, unter dem blauen Himmel im Wasser, das sich mit dem Gevatter

Himmel traf in so großer Entfernung, dass der junge Herr glaubte :

niemals auf diesem Planeten.

Lange nach seinem Tod machte sich Kleiners Urgroßvater auf den

Weg in die Träume. Dort erlöste er seine geliebte Tochter, die

Großmutter geworden war, aus ihrem Grab. In seine beiden Hände

bettete er die zarte, weiche, lebendige Hand seiner Tochter, die viele

Jahre vor dem Heimgang ihres Vaters in Gottes Schoß angekommen

war. Hand in Hand schritten Vater und Tochter aus dem Schtetl die

Front der Verwüstungen ab, die Zwergenmörder angerichtet hatten.

Sie gingen vorbei an den Elefantenkadavern, den kleinen

Fischgerippen, vorbei an Galgen, Kerkern, Schlammlöchern, Asche,

Staub, verkohlten Herzen und ungeborenem Leben. Sie sahen das

versandete Plastikmeer, Folien unter denen Früchte wachsen,

erstorbene Partys, Terroristen und Toilettenfrauen. Sie sahen aber

auch fröhliche Menschen, die mit ihrem eigenen Blut Wände

bemalten. Nichts hatte sich verändert. Urgroßvater und Großmutter

sahen auch die Zwerge, deren Leichname längst zur ewigen Ruhe in

gesegneter Erde gebettet waren. Während dessen verspürte Kleiner

245
einen merkwürdigen Tod. Er fühlte den schweren Hieb mit dem

Kolben, der seinen Schädel mit dem Fleisch und er Haut und dem

Blut seines Gesichtes vermählte. So tot wie das trockne Meer, so tot

wie das geronnene Blut an den Wänden, das den schweren

Verwundungen junger Frauen entstammte. Immer, wenn Kleiner

seinen Urgroßvater und die Großmutter greifen wollte, ihnen erklären

wollte, was geschehen war in der Zeit danach, nach ihrem Leben,

lösten sich die Vorfahren auf. Sie waren Staub und wurden Staub,

oder Luft oder Nichts. Verzweifelt schrie Kleiner in den Staub, in die

Luft, ins Nichts. Er wollte niemals aufhören zu erklären.

Die vielarmigen Leuchten schütteten mal gelbes, mal rotes Licht über

Henry. Der Platz neben ihm war leer geworden. Die Bekannte mit den

gebleichten Brüsten war gegangen, grußlos und stumm in die Nacht.

Ihre Zeit an seiner Seite war ausgeschöpft, dachte er. War er erwacht?

Die Reise zuende? Welche Reise? Hatte er sich jemals entfernt von

den Orten, die ihm vertraut, ja lieb geworden waren? Er wusste es

nicht. Die Deckenleuchte vergoss ihr mildes Licht wie Tränen auf die

polnisch sprechenden Menschen, die nichts ahnten von den

Wanderungen Henrys zwischen Bergsee und Plastikmeer; zwischen

Traum und der Erinnerung an erhängte Zwerge und Elefanten, die aus

reiner Lebensfreude, oder sollte man es, Doppelglück nennen, Fische

getötet hatten. Urgroßvater und Großmutter kamen wieder herbei,

berührten den Enkel und Urenkel, betten seine Hände in ihre Hände,

ein Händeknäul. Er aber, Henry, spürte den sanften, ungleichen,

liebreizenden Druck ihrer Hände nicht. Es wehte nur ein leichter

Atem auf seinen Händen, ein flüchtiger Hauch von unsterblicher

246
Liebe, zärtlich geweht, aber unerkannt und unerwidert. Er fühlte sich

schuldig am Tod der Zwerge. Aber: So deutlich, wie der Unbekannte

von sicherem Ort aus das bunte flackernde Lichtermeer des

Nachtlebens aufnahm, so zweifellos war seine Schuld. Die Lippen der

liebenden Menschen berühren sich nicht mehr. Die Zärtlichkeit wurde

von festem Drang vertrieben. Urgroßvater und Großmutter sind in

ihren Gräbern versunken und entließen ihre Nachkommen in die Welt

voll Licht und Finsternis. Eine Welt, in der Elefanten Plastikfische

zum Spaß töten, Zwerge aufgeknüpft werden, Löwen Gnus reißen und

zerfleischen und den Inhalt von Zuckerdosen in ihren wilden Schlund

schütten. Die Vorfahren müssen ihre Nachfahren zurücklassen. Das ist

das Gesetz. Gottes Gesetz. In der Erinnerung saßen die Kinder, die

Mädchen mit geflochtenem Haar und die Jungen mit gescheiteltem

Haar und lustigen Kinderschlipsen, brav auf den Knien der Vorfahren.

Sie sahen auf in Gottes Antlitz und waren geblendet von seinen

gütigen Augen, als er auf sie blickte mit dem Gleichmut des Vaters,

der ein mildes, verständnisvolles Nicken losschickt, das die

Sinnlosigkeit ihres Tuns begleitet. Gottes Schoß entspringen vor

Hunger wütende Löwen, Insekten und schlaue Nagetiere, Zwerge und

Riesen, freie und verfolgte Menschen, gedemütigte und geachtete,

geliebte, gefolterte, mächtige und machtlose.

Stolz hatte Gott einst die Zwerge gemacht, stolz und bärenstark, aber

vor ihren Scharfrichtern konnten sie nicht bestehen.

Das Elend der unglücklichen Zwerge müsse dem ungezügelten

Treiben der Elefanten in ferner Vergangenheit entgegengestellt

werden, und schrieb Henry in seine Kladde. Dabei hatte er die eigene

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Unschuld im Blick. Nach dem kurzen Zwischenspiel, dem leisen

Auftauchen aus dem still stehenden Reich der für immer

Ausgelöschten erschienen Urgroßvater und Großmutter für wenige

Augenblicke in den Träumen der Lebenden. Wieder fühlte Henry den

zarten Schimmer der Liebe auf seinen Händen, wieder pochte sein

Herz. Waren die Ahnen vergeblich zurück gekehrt? Ein heftiges

Erwachen warf ihn in die Welt zurück. Er vernahm den infernalischen

Maschinenlärm der Lebendigen, das Getöse aus der Wirklichkeit, die

quietschenden, kreischenden Eisenräder des Zuges..

Henry mühte sich den feuchten, modrigen Grabeshöhlen zu

entsteigen, aber es gelang ihm nicht. Er musste auf der tiefen, kalten

Sohle verharren. Alleine sein Bild fand den Weg zurück ins Licht.

Was bis zuletzt in seiner Wahrnehmung geblieben war, waren die

mexikanischen Trompetenklänge, Rhythmen des Lebens, rote Tische,

Zuckerstreuer, erlöschende Kerzen, vorbeihuschende

Menschenschatten aus dem Nichts der Nacht ins Nichts der anderen

Nacht, in eine Leere. Die Autos schoben weiße Lichter auf der Straße

vor sich her, Henry dachte daran. Bildern. Er glaubte nicht, dass er

noch am Leben ist. Er glaubte diesem Leben nicht. Er misstraute dem

wunderbaren Schein hedonistischer Fülle der großen Stadt. In ihm

glühte das Brannteisen des Unglaubens. Noch im Tod trug schwer an

dem zu Stein gewordenen Unernst. Im Gleichnis des großen

Welterlebnisses, das so erhaben ist wie die Menschen selbst, die es

denken, tanzten Zuckerstreuer, mordeten Elefanten, hingen Zwerge

mit Stricken um den Hals, wild fauchende Löwen liefen umher mit

den Resten ihrer Beute in der Mähne. Mädchen mit blutenden Malen

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wuschen sich im Plastikmeer, vielarmige Leuchter, die harte

Schattenlinien auf Tische werfen, bildeten das ab, was Henry tief

unter seiner Haut fühlt, riecht, schmeckt, liebt und verabscheut: Sein

Leben. Aber er war auch der Held, Retter von Fischen, Elefanten,

Zwergen und der geliebte Nachfahre seiner Ahnen. Sie sahen ihn

saufen von dem Plastikwasser. Er trank das Wasser, in dem die

Elefanten töteten. Er hat vom Wasser der Erkenntnis getrunken und

den Tod der Zwerge in Kauf genommen. Er hat nicht das süße Blut

aus dem Löwenmaul geleckt. Die Richter der Richter, die mit großer

Güte urteilten und die Welt bewegten, verurteilen Karl Kleiner zu

dem grausamen Tod. Ratten sollen ihn zerteilen, ihn zerlegen in seine

atomaren Bestandteile, auf dass seine sterblichen Reste im gesegneten

Boden vergeudet werden.

Das letzte, was Henry Lantz in seinem Leben vernahm, war das

Pfeifen und Donnern der eisernen Räder des zweiten Zuges. Die

Reifen bremsten und spuckten Feuerkaskaden in hohem Bogen ins

Dunkel. Die Wucht des Aufpralls hatte seinen Körper weit von den

Gleisen weggeschleudert, zerschmettert lag er im Dreck neben den

Gleisen. Blut, Haut- und Fleischfetzen und der Abfall am Rande der

Schienen rührten einen schmutzigen Brei. Sei Gesicht blieb,

engelsgleich, unversehrt. Das Entsetzen über das Schicksal von

Kleiber und Gebirtig, von Ilse und Paul, lag schockgefroren über

seinen toten Zügen. Henry sah aus, als hätte er noch ein letztes Mal

schreien wollen. Er war kein Soldat gewesen.

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Hollaenders Blick fiel auf eine Urkunde, die gerahmt vom braungelb

des Nikotins, an der Wand hing. Er wunderte sich, dass er diesen

kleinen Rahmen, auf den das brüchige Papier gepresst war, zuvor

noch nicht bemerkt hatte. So lange wie ein Atemzug dauert, wurde

das Stimmengewirr im Restaurant Rosen zu Kriegsgeschrei, orgelndes

Heulen von Tieffliegern setzte ein, kurz schallte das erbärmliche

Gemurmel und Gewimmer aus der Baracke, das abrupt erstarb, als die

Kellnerin sich über ihn beugte und ihn mit einem törichten Ausblick

in ihr Dekolletee erlöste.

„Der Reichsminister der Luftfahrt und Oberbefehlshaber der

Luftwaffe verleiht Hans Müller das Abzeichen für Flugzeugführer“.

Nachdem er der Kellnerin aufgetragen hatte, ihm seinen Wein zu

bringen, betrachtete er sich noch einmal genau diesen in ihm Abscheu

und Ekel auslösenden, eingerahmten Zettel. Ein martialisch stilisierter

Adler, verbandelt mit einem Hakenkreuz, emergiert aus dem Unheil

bringenden Zacken und schwebt über dem Text der feierlich daher

kommenden Verleihungsurkunde.

„Heil Hitler“, darunter eine schiefe Unterschrift. Hollaender schüttelte

den Kopf, ‚wie kann das sein’, sprach er vor sich hin. Einem ersten

Reflex folgend wollte er das Restaurant verlassen und es nie wieder

betreten. ‚Womöglich hängen noch Tausende dieser Urkunden

überall in Wohnstuben und sonst wo herum, zeugen von der

bronzenen Ehre der glorreichen Helden’, dachte sich Hollaender. Er

fühlte sich zu müde, um gegen die Allgegenwart der Vergangenheit

anzukämpfen. So ließ er sich gerne zerstreuen von der ungestümen

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Weiblichkeit der Kellnerin und ergab sich, trank seinen Wein und

dämmerte vor sich hin.

Wort für Wort, Satz für Satz, ohne auch nur eine einzige Meldung

auszulassen, las er die Zeitung. Der Polizeibericht erweckte an diesem

Morgen sein Interesse ganz besonders. Er las den Bericht immer,

heute jedoch war es etwas anderes. In dem langen Artikel, der in einer

Spalte aller Ereignisse zusammenfasste, hieß es an einer Stelle:“

Unbekannter Toter am Bahndamm in Neukölln aufgefunden. In der

Nacht zum Freitag wurde die Leiche eines jungen Mannes entdeckt,

dessen Alter die Polizei auf unter dreißig schätzt. Der Zugführer der

S-Bahnlinie 297 hatte einen Unfall gemeldet. Er erlitt einen schweren

Schock. Mit was seine Bahn kollidiert sei, darüber konnte der Mann

keine weitere Auskunft geben. Die sofort ausgelöste Suchaktion blieb

in der Dunkelheit ergebnislos. Erst am frühen Morgen wurde der

Leichnam des Mannes aufspürt. Die Polizeidienststelle bitte um

Zweckdienliche Hinweise. Wem ist in der Nacht eine Person in der

Nähe des Bahndamms aufgefallen? Wer kann zweckdienliche

Hinweise zur Identifizierung des Toten geben? Wer kann etwas zur

Aufklärung des Unglücks beitragen?“

Auf der Polizeiwache legte man Hollaender das Polaroidfoto vor,

welches das Gesicht des Toten zeigte. Es war gereinigt vom Blut. Die

Verletzungen am Hinterkopf der Leiche bekam Hollaender nicht zu

Gesicht. Der Leichnam war so aufgebahrt, dass die Fotografie nur das

unversehrte Gesicht zeigte. Am unteren Teil des Bildes war ein Zipfel

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des grünen Tuches zu erkennen, das den zerstückelten Körper

bedeckte. Hollaender stellte sich vor, wie das Blut aus den großen

Wunden den Stoff durchdrang und ihn schwarz färbte. Augen, Ohren,

Nase und Mund, alles unverletzt, bildeten das Antlitz des jungen

Mannes ab, den er gekannt hatte. Hollaender legte das Foto auf den

Tisch und sagte dem Beamten:“ Dieses Bild zeigt Henry Lantz. Ich

mir sicher. Wir lernten uns durch Zufall vor ein paar Monaten

kennen. Später trafen wir uns öfters und unterhielten uns; mal über

dies, mal über das. Wie das so ist bei flüchtigen Bekanntschaften“.

Er hielt inne, die Brille zwischen zwei Fingern, dann sprach er weiter,

ohne Aufforderung:“ Aber schon vor einiger Zeit, ich weiß nicht mehr

genau wann das war, tut wahrscheinlich nichts zur Sache, zog er sich

zurück. Auf jeden Fall sahen wir uns nicht mehr. Ich maß dieser

Angelegenheit keine Bedeutung zu. Wissen sie, junge Leute und alte

leben in verschiedenen Welten, ich konnte, als ich jung gewesen war,

nicht so recht glauben. Es gibt es keine, wie soll ich mich ausdrücken,

ja, Schnittmengen, verstehen sie?“

„Und das kam ganz plötzlich, dass sie sich nicht mehr trafen?“, setzte

der Polizist nach.

„Nein, das war nicht plötzlich, man könnte es eher mit einem Prozess

vergleichen. Ich habe ihm etwas aus meinem Leben erzählt, das war

eigentlich alles. Später ist uns dann der Gesprächsstoff ausgegangen,

und wir trafen uns nicht mehr. Ich glaube, dass der junge Mann das

Interesse an mir, an einem alten Mann, verloren hat, so was soll es ja

geben, nicht wahr?“

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Der Polizist bat ihn das Protokoll zu unterschreiben, bedankte sich,

„auf wiedersehen, Herr Hollaender“.

„Jung und alt passen eben nicht zusammen, so ist das“, sagte

Hollaender beim Verlassen des Wachzimmers und zuckte dabei die

Achseln.

Vor seinem Wohnzimmerfenster, drunten auf dem breiten Trottoir,

spielten ein paar Kinder. Sie winkten ihm fröhlich zu, er lächelte.

Hollaender hatte an allem das Interesse verloren. Alleine die Kinder

erfreuten ihn. Sie waren zu seinen Freunden geworden. Es waren

jedoch weniger die Kinder, mehr noch die Gegenstände, die sie zu

ihm brachten, ihm anvertrauten, die ihn freuten. Er vertrieb sich die

Zeit damit, ihre Puppen und das Spielzeug zu reparieren. Er stopfte

die Löcher in Teddybären, nähte neue Knopfaugen an. An einer Puppe

fehlte ein Ärmchen, oder das mechanische Lid klemmte. Er machte es

heil. Mit ganz bedächtigen Bewegungen widmete er sich jeder

Reparatur, sie verrieten seine Hochachtung. Er beugte sich über die

Spielsachen, strich zärtlich darüber, nahm Nadel und Faden und war

zum Puppendoktor geworden. Er dachte nach, ohne zu Klagen. In

seinem Leben gab es von allem Schlechten zu viel: zuviel Aufregung,

zuviel Enttäuschung, zuviel Verzweifelung, zuviel Entsagung und

über allem schwebte der Tod. Jetzt widmete er sich nur noch den

Gegenständen, den Gegenständen, die die Kinder aus der

Nachbarschaft ihm brachten.

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Hollaender hatte sich vorgenommen, den schönen Tag mit einem

Spaziergang und einem Besuch auf dem Friedhof zu beenden. Der

Herbst war in diesem Jahr früh unterwegs, überlegt er. Er sehnte sich

nach der Sommerwärme, die sich einem wohlig auf die Schultern legt.

In seinen Gedanken war er weit weg. Er dachte, die Seele eines

Menschen sei die Ursache aller Vorstellungskraft. Alles, was man

sieht und fühlt, sei der Wirkung der Kraft Gottes geschuldet. ‚Alles

ruht in Gott’, murmelte er vor sich hin. ‚Die Erde dreht sich um die

brennende Sonne, sie spendet Leben, Gott stiftete die Seele dazu’.

Die Zugvögel, die sich versammelten, verstummten plötzlich. Kein

Straßenlärm, keine Kinder, kein Rufen war mehr zu vernehmen.

Hollaender verspürte eine stechende Qual, bis sein langsam

verlöschendes Leben nicht mehr schmerzte.

Ein kühler, höchst angenehmer Windstoß, der den Sommer vor sich

her trieb, entzückte ihn noch einmal. Gelb und weiß regneten die

Blüten der einzigen Robinie herab. Der Wind trieb sie über den

unebenen Boden bis an den Pfeiler, an dem Hollaender lag.

ENDE

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