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Er deckte den Tisch immer auch für Ilse. Das tat er zu der Zeit, als er
noch in Ungewissheit über ihr Schicksal lebte, und er tat es auch viel
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später, als ihn der Brief von Ignatz Grün, einem Mann, der sein Ohr
an allen Schienen hatte, erreichte. Manchmal sprach er sogar mit ihr,
leise, flüsternd, so als dürfe niemand erfahren, dass er mit ihr redet.
Tage, Wochen, Monate und Jahre gingen dahin, zerrannen ihm durch
die Finger wie staubtrockener Sand. Er lebte in einem festen
Rhythmus, wie an einer Richtschnur. Schnell waren die Nächte
vorbei, er stand auf, deckte den Tisch, auch für Ilse. Ein kleines
Frühstück, die Zeitung. Dann tappte er ins Bad, rasierte sich, zog sich
an und bestäubte sich mit Kölnisch Wasser. Mit einem Seufzer räumte
er den Tisch ab, auch das Geschirr, das er für Ilse hingestellt hatte. Er
wanderte in seiner Wohnung auf und ab bis schließlich die Zeit
gekommen war, seine Besorgungen zu machen. Er ging zum Bäcker
und überlegte sich auf dem Weg dorthin schon, was er sich zum
Mittagessen kochen sollte. Einmal in der Woche kaufte er frische
Schnittblumen - für Ilse.
Am Nachmittag legte er sich auf sein dunkelrotes Chaiselongue und
schlief regelmäßig mit der Zeitung oder einem Buch auf dem Bauch
ein. Die Abende verbrachte er meist im Restaurant Rosen ganz in
seiner Nähe.
Er wohnte in der dritten Etage. Jeden Tag kam er zu
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zur Treppe. Sind die Lichter wirklich aus, fragte er
sich?
Ausgeruht, freilich unruhig, machte er sich auf den Weg zum Essen ins
Restaurant.
Es regnete. Es war der übliche Herbstregen. Dauerhaft und ergiebig,
nasser als im Frühling. Hollaender spannte seinen Schirm auf und
fädelte sich in den Strom der eilenden Menschen ein. Weit hatte er es
nicht. Das Restaurant, das er seit einigen Jahren besuchte, erfreute ihn
mit gediegener Behaglichkeit. Hier saß er mit Menschen zusammen,
die einsam waren wie er, oder nicht, die vielleicht nur weg wollten
von zuhause, die Streit hatten daheim, oder die sich nach ihrem
Tagwerk entspannen wollten, bei einem Bier oder einem Schnaps.
In Hollaender jedoch arbeitete die Beunruhigung, die der Angst, wie
der Wind dem Regenschauer, vorausgeht. Es war eine Art mittelbarer
Angst. Jene Sorte Angst, die er längst besiegt oder unter Kontrolle
gebracht zu haben glaubte, die er aber nie los wurde. Er fürchtete sich,
dass die Angst wiederkehrt. Die Angst, die ihm den Schlaf raubte, die
Erinnerungen weckte, die ihn quälten, den Kummer wach hielten. Er
flüchtete vor der Langeweile und vor der Angst vor der Angst. Der
Verdruss über die Beschwerlichkeiten, die das Alter mit sich bringt,
der zäh werdende Strom des Lebens, und der bittere Fluch der
Einsamkeit begleiteten ihn wie ein treuer, ungeliebter Kamerad.
Ein paar Blocks entfernt von seiner aufgeräumten Wohnung im
dritten Stock fand er einen Platz seine Traurigkeit beim Zuschauen
des Lebens anderer Leute zu vergessen. Hollaender betrank sich nicht.
Nie! Zwei Gläser Wein; ein würziger Roter soll gut sein für die
Gesundheit und das Herz kräftigen. Er hatte einen Stammplatz. Es war
ihm gleichgültig, dass die anderen Gäste ihn quasi als Mobiliar
betrachteten. Wenn er einmal nicht um sechs Uhr abends an seinem
Platz saß, tuschelten sie: „Ach, der alte Hollaender ist nicht da. Seht,
sein Platz ist leer. Ist er tot?“
In der kalten Jahreszeit schützte ein dicker Filzvorhang die Gäste vor
den kalten Luftzügen. Hollaender schob den nach dem Rauch der
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Jahrhunderte stinkenden Vorhang beiseite. Berliner Winter, dachte er.
Er kannte die Berliner Winter seit langer Zeit. Heute fühlen sie sich
anders an als früher, dachte er. Die eisigen kontinentalen Ströme aus
dem Osten, aus der Tiefe des russischen Reiches, deren Ausläufer die
deutsche Hauptstadt anhauchten und in all ihrem Drang nach
goldener, weltumspannender Größe erstarren ließen, blieben nach
dem Kriege aus. Heute ist alles milder, glaubte Hollaender.
Er betrat das Lokal, hängte Hut, Mantel und Schirm an die Garderobe,
stets so, dass er seine Utensilien im Blick hatte. Manchmal wählte er
einen Platz an der Theke. Aber viel lieber wartete Hollaender, bis der
kleine, quadratische Tisch am Durchgang zum Speisesaal frei wurde,
an dem er immer Platz nahm. Während vorne in der Gaststätte die
Gäste eher vereinzelt saßen, tranken, und in flüchtigen Gruppen
Gespräche führten, versammelten sich im Saal die Menschen in
fröhlicher Geselligkeit. Im Saal ging es zuweilen hoch her. Je mehr
Zeit verstrich, desto lauter schwoll das Stimmengewirr. Das
Gezwitscher, das er wahrnahm, drehte sich um Politisches,
Sportliches, Gesellschaftliches, um alles eben. Jeder hatte eine
Meinung, die er mit lauter Stimme zu verkünden suchte. Die
saturierten Bürger schimpften über den Bezirksbürgermeister ebenso
wie über die Leistungen ihrer Fußballmannschaft, die mal wieder, wie
sie sagten, verloren habe. Ach ja, der Schiedsrichter, der war an allem
Schuld und die schlechten Leistungen der faulen Spieler. Im Kino
werden Tabus gebrochen, so was gab es früher nicht, die jungen Leute
grüßen nicht mehr auf der Straße, die Kinder toben zu laut im Hof und
ihre Frauen fallen ihnen auf den Wecker. „Ich habe mir einen neuen
Wagen angeschafft, der hat über 100 PS...“,
Wenn er den Unterhaltungen der Männer lauschte, fühlte er sich
geborgen. Es war wie früher, dachte er oft. Früher, vor dem Krieg, als
das goldene Zeitalter Berlin noch mit seinem Zauber erleuchtete, als
Berlin noch zu den Welthauptstädten zählte.
Er konnte jeden eintretenden Gast, beobachten und er hatte seinen
Hut, den Mantel und den Schirm im Blickfeld. Schaute er geradeaus,
sah er den Tresen und maß ihn aus, schätzte die Proportionen und
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wunderte sich ein ums andere Mal über die merkwürdigen Intarsien.
Sie stellten verschlungene, eher handwerklich missglückte
Holzverzierung dar, als kunstvolle Arabesken oder das Auge
betörenden Zierrat. Die Trinker erinnerten ihn an das Federvieh, das
auf der Stange sitzt und sich gütlich tut am Futter. Ja, wie im Winter,
dachte Hollaender. Wenn sich die hungrigen Vögel um die
aufgestellten Futterhäuser scharen und um die Körner balgen und
regelmäßig die Köpfe senken, um mit den Schnäbeln an Wasser und
Futter zu gelangen.
Die Trinker an der Theke saßen mit ihren dicken Hintern auf den
Hockern. Die Bäuche wölbten sich über die Gürtel. Sie blickten meist
stumm geradeaus, hoben wie nach festgelegten Takten ihr Glas,
nahmen einen Schluck, oft synchron, stellten es behutsam auf den Filz
zurück und richteten die Zigarettenpäckchen und die Zündhölzer im
Rechten Winkel aus. Glotzen, saufen, rauchen, dachte Hollaender. Er
sah alles sehr genau und war doch versunken; fern von dem Leben
dieser Menschen mit ihren Zigaretten und Sorgen. Sie bildeten den
Rahmen für das Leben, das er sich für seinen Ruhestand vorgestellt
hatte. ‚Ich bleibe auf ewig der Wanderjude, dessen Zuhause die
Menschen sind, und nur die Menschen, nicht das Land’ dachte
Hollaender.
„Guten Abend Herr Hollaender. Wie immer?“, hörte er eine Kellnerin
aus der Ferne sagen, die er noch nie gesehen hatte. Oder war sie ihm
noch nicht aufgefallen?
‚Ist sie etwa neu angestellt im Restaurant? Nein, kann nicht sein, oder
etwa doch? Früher wäre mir das nicht passiert. Früher, als ich noch
ein junger Mann war, ja, da ist mir jede aufgefallen, ich habe nichts
anbrennen lassen, war gierig auf jeden Hintern, habe mir alle gemerkt
die Formen und Umfänge und sie den jeweiligen Frauen zuzuordnen
gewusst’, dachte er vor sich hin und sah durch die Kellnerin hindurch,
weit in die Vergangenheit.
Er blickte auf und nickte freundlich. „Ja, wie immer. Ein Glas
Bordeaux“. Er hatte den Wirt dazu überredet, einige Flaschen
Bordeaux zu kaufen, der nur an ihn ausgeschenkt wird. Die anderen
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Leute mochten den schweren Wein nicht. Sie soffen lieber das
wässrige Berliner Bier, dessen Schaumkrone mit einem eigens dazu
erfundenen Schaber über den Glasrand gestrichen wird. Die
Leidenschaft für exquisite Tropfen hatte Hollaender ausgerechnet mit
aus Amerika gebracht. Amerika zählt nicht gerade zu den Ländern, in
denen die Gourmets zuhause sind. Aber in seinem Geschäft drüben,
früher, überm großen Teich, im letzten Leben, hielten ihm über einige
Jahre hinweg ein paar Feinschmecker aus der Nachbarschaft die
Treue. Er versorgte sie hauptsächlich mit Weinen aus Frankreich, aber
auch spanische und italienische Tropfen ließ er liefern. Danach galt
Hollaenders Geschäft schnell als gute Adresse für Genießer aus dem
Viertel.
Er besorgte sich eine Illustrierte und las einen Artikel, dessen Autor
die Auffassung vertrat, dass schon bald, er schätzte in fünfzig Jahren,
die Menschen im Weltraum, auf einer in großer Geschwindigkeit die
Erde umkreisenden Raumstation, Ferien machen könnten. Was sie
dort sollten, war Hollaender allerdings nicht ganz klar. Oder aber sie
werden zum Mond oder Mars fliegen.
Wenn er den Leuten nicht mehr zuschauen und zuhören mochte, las er
immer. Lesen war ihm wichtig. Aber aus purer Unterhaltung oder gar
Zeitvertreib hat er nicht gelesen. Das kam für ihn nicht in Frage. Er
sprach stets von Wissensansammlung. Wissen hatte für Hollaender
quantitativen Charakter, je mehr, desto besser, und das war nur durch
stetiges Lesen zu erreichen.
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ist’s vorbei mit der Gemütlichkeit, dann folgt der Ernst des Lebens,
und glaubt ja nicht, dass die Meister euch die Flausen durchgehen
lassen werden“!
Einige Wochen lungerte der junge Alfred Hollaender in der Stadt
herum. Seine Mutter hatte sich nach dem Tod des Vaters als robuste
und resolute Person erwiesen. Ohne viel Federlesens, oder gar
Widerspruch von irgendwo, hatte sie die Rolle des
Familienoberhauptes nach der Art strenger Offiziere eingenommen,
die auch ohne Worte, nur mit stummen Gesten, zwingende Autorität
auszuüben vermochten. Die Mutter besah sich eine Weile das Treiben
ihres Alfreds milde. Dann beendete sie abrupt das Lotterleben des
Sohnes. Sie hatte von einer Bekannten aus der Nachbarschaft von
einem großen Verlag gehört, der Lehrlinge auszubilden bereit war.
Im September 1930 trat der fünfzehn Jahre alte Alfred Hollaender
seine Lehrstelle als Drucker bei Ullstein an. Es war schon recht kalt
an diesem frühen Morgen des ersten Arbeitstages. Den Kragen seines
Anzuges von abgetragenem Glanz, der einem Schneidersohn so gar
nicht würdig war, stellte er hoch, um sich vor dem pfeifenden Wind
zu schützen. Er lief durch die Straßen und überlegte sich vor seinem
ersten Arbeitstag in der Welt der Erwachsenen, was ihn nun erwarten
würde. Er war weder aufgeregt noch gespannt. Ihm war beigebracht
worden, dass er, gewissermaßen einem Naturgesetz folgend, nach der
Schulzeit in ein anderes Leben zu treten habe. Basta! Das war
vollkommen normal, Aufregung schien nicht angebracht, nein sie
störte gar. So ist das Leben.
Die alten Gesellen schonten ihre Lehrbuben nicht, sie wurden
angetrieben zu Genauigkeit und Schnelligkeit. Hollaender wuchs
heran, wurde vom Lehrbuben zum jungen Mann, der sich sehr
geschickt anstellte und sich das Lob seiner Meister verdiente. Auch
die Abschlussprüfung schaffe er ohne Mühe. Er arbeitete gerne, und
er gab der Mutter ohne Murren von seinem Lohn das Kostgeld. Er
arbeitete vor sich hin, so, als ob es nie wieder etwas anderes geben
würde. Die Tage vergingen. Nach seinem Dienst schlenderte er oft
durch die Kaufhäuser, betrachtete mit Freunde die mondänen Damen
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mit ihren schief sitzenden Hütchen, die auf hohen Absätzen
balancierend, in den Auslagen stöberten, und nach dem Bummel die
Kaffeehäuser über alles Wichtige schnatternd, bevölkerten. Dort
spreizten sie wie Adlige den kleinen Finger beim Anheben der
Kaffeetasse oder des Cognacglases. Die kräftigen Waden hatten es
ihm angetan. ‚Das Stöckeln in den hohen Schuhen haben sie trainiert’,
dachte er.
Gegenwart bedeutete für ihn, den Überblick zu bewahren. Er genoss
die Aussicht über die Welt, seine Welt. Er schwebte über Berlin,
seinem Berlin, dessen Luft er schon als Neugeborener eingesogen
hatte, die er liebte, durchtränkt von Maschinenöl und Motorfett, von
Dieselqualm und Pferdemist; all das vermischte sich zu einem
weltstädtischen Brei, und Hollaender war stolz ein Teil dieses
Brodelns, der Giftküche großstädtischer Weitläufigkeit zu sein. Sie
war sein Leben, nichts anderes interessierte ihn. Nirgends entdeckte er
einen blinden Fleck, einen Zweifel. Er suchte nicht, warum auch. Er
genoss das Leben mit seinen Freunden und nach dem Tagwerk labte
er sich an den Freuden, die das schöne Geschlecht ihm schenkte. Das
Amüsement war sein Treibstoff in diesen unbeschwerten Tagen, die
niemals aufhören sollten.
An einem dieser unbekümmerten Tage traf er den Redakteur Justus
Pinkau, der als stellvertretender Nachrichtenleiter beim Spandauer
Illustrirten Blatt arbeitete. Pinkau, ein junger, ehrgeiziger Mann, nicht
einmal zehn Jahre älter als Hollaender, erzählte ihm, dass in seiner
Redaktion bald die Stelle eines Hilfsredakteurs frei werden würde.
„Was ist die Aufgabe eines Hilfsredakteurs“?, wollte Hollaender wissen.
„Nun“, begann Pinkau mit einem Anflug des Prahlens eines jungen
Mannes, der stolz ist auf seinen Vorsprung und auf seine Position, „er
muss Botengänge erledigen, Kaffee für die Redakteure besorgen,
Griffel spitzen, Papierbogen aus dem Lager holen, aber auch kleinere
Texte verfassen. Die Arbeit wird zwar ziemlich schlecht bezahlt, aber
du musst deine Finger nicht mehr in Druckerschwärze tauchen“.
„Hört sich nicht schlecht an“ entgegnete Hollaender. Um die
Anstellung anzutreten, musste er nicht einmal das Verlagshaus
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wechseln, nur die Abteilung, denn das Spandauer Illustrirte Blatt
erschien im Ullstein Verlag, dort, wo er seit vier Jahren arbeitete.
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Nutzen nur darin besteht, eben Kreuzworträtsel zu lösen“, dozierte
Spender, und Hollaender nickte eifrig.
„Daneben erledigen sie mir Botengänge, das Gehen fällt mir schwer,
meine Knie quälen mich, und meinen letzten Assistenten haben sie
versetzt, als wäre mein Ressort weniger wert, als die Wirtschaft oder
der Sport“, jammerte er. „Sie werden mich gut entlasten“, sagte er
zum Abschied, und seine Stimme klang breit und blechern wie eine
Trompete.
Der junge Hollaender machte sich eifrig ans Werk. Mit Stolz blickte
er zurück zu seiner Familie. Ihm, so berichtete er aufschneiderisch, sei
es gelungen, der miefigen Armut, dem wässrigen Kohl der elterlichen
Küche, den abgewetzten Tischen und Stühlen, den tausendmal
geflickten Kleidern zu entkommen. Sein Glück sei ein Wort mit fünf
Buchstaben, senkrecht, und seine Sehnsucht liege waagerecht mit
zehn Buchstaben in der Mitte, amüsierte er seine Freunde an den
Wochenenden, wenn sie in Clärchens Ballhaus die Puppen tanzen
ließen und die Abenteuer der Woche zum Besten gaben.
Wenn diese Aufschneiderei sein Mutter gehört hätte?
Lange Zeit danach, gleich nach seiner Rückkehr nach Berlin, bemühte
sich Hollaender um eine Anstellung. Zuerst schien es ihm
gleichgültig, was für eine Anstellung er antreten würde. Ihm wurde
eine Stelle als Verkäufer angeboten, da er im Gespräch mit dem
Sachbearbeiter auf dem Arbeitsamt von seinen Erfahrungen in
Amerika berichtet hatte. Er solle eine Handelsvertretung für
Schleifscheiben übernehmen.
‚Mit dem Wagen durch die Lande rauschen und Schleifscheiben
verkaufen, wo ich doch viel lieber in Berlin bin’, grübelte er
skeptisch. ‚Nein das ist nichts für mich’, entschied er. Eines Tages
stieß er bei der Zeitungslektüre auf eine Stellenausschreibung, die ihm
interessant erschien, zumindest so interessant, dass die Mühe lohne,
ein Bewerbungsschreiben aufzusetzen.
„Redakteur mit sehr guten Kenntnissen in der englischen Sprache gesucht.
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Ihre Aufgabe wird darin bestehen, englische Begleittexte und
Bedienungsanleitungen zu übersetzen und zu lektorieren.
Bewerbungen mit Lebenslauf, Referenzen und Arbeitsproben richten
sie bitte an den Fachverlag Bloch & Sohn in Berlin, Konstanzer
Straße. Schon eine Woche, nachdem er den Brief in den Postkasten
geworfen hatte, wurde er zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen.
Edgar Zacher, der Verlagsleiter, war ein freundlicher Mann. Sie
unterhielten sich lange. Aufmerksam hörte er sich Hollaenders
Lebenslauf an.
„Drucker, Redakteur, Lebensmittelhändler in Amerika, und nun,
wieder Redakteur, beeindruckend...ich gratuliere Ihnen, sie haben die
Stelle“.
„Mein Vater war ein armer Schneider mit zerstochenen,
gichtkrummen Fingern. Meine Mutter war grau und krank geworden
von den vielen Kindern, der nimmer endenden Arbeit und der
andauernden Sorge nicht genug Nahrung besorgen zu können. Auf der
Anrichte in der Küche stand das Buch unserer Familie, gehalten von
Einmachgläsern mit gekochtem Obst, die Bibel. Ich weiß, wo ich her
komme, sie werden ihre Entscheidung nicht bereuen“, bedankte er
sich mit mächtigem Überschwang, der der Situation nicht angemessen
war. Eine Art Befreiung, Bestätigung, ja tiefer Dankbarkeit überkam
Hollaender.
Beide Männer schüttelten sich kräftig die Hände.
Auf seinem Nachhauseweg mischte sich in seine Freude der bittere
Geschmack, den unangemessenes Verhalten hinterlässt, wenn man es
sich eingesteht. Er bekannte, dass er zu demütig war, zu dankbar. ‚Für
was dankbar?’, fragte er sich ärgerlich. Missmutig setzte er seinen
Weg fort.
Der Vorhang bewegte sich, ein kalter Windzug blies ins Lokal. Die
Trinker an der Theke drehten sich gewohnheitsmäßig, wenn die Tür
knarrend aufgedrückt wurde und ein Luftzug einen neuen Gast
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ankündigte. Sie drehten die Köpfe, unterbrachen ihre Unterhaltung
und das stumpfe Glotzen irgendwo hin, ins Regal, der Kellnerin auf
den Hintern, dem Wirt ins Gesicht, auf den Fußboden. Die Neugier
befahl ihnen, den Kopf zu drehen und zu schauen, wer da eingetreten
war. Danach kümmerten sie sich wieder um ihr Bierglas oder ihre
Zigaretten, hörten dem Nebenmann zu, der sich beklagte über alles
mögliche, manchmal schallend lachte, dann wieder auf irgendwelche
Behörden schimpfte und ebenso plötzlich wie sein Redeschwall
begann, verebbte er wieder, die Worte waren weg, der Brunnen
trocken. Die Gäste stierten mitten in den Gläserschrank, dessen
Holzmaserung sie kannten bis ins kleinste Detail, vom täglichen
Glotzen.
‚Der Schrank hinter der Theke ist abgenutzt alleine vom Glotzen,
dachte Hollaender’.
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Leben verlaufen wäre, wenn seine Frau Rosa, die kleine Tochter
Frieda und er, wie andere Leute auch, die Nachbarn und die Freunde,
überall auf der Welt, eine Familie hätten bleiben können.
‚Was wäre aus Ilse geworden, ach Ilse’, seufzte Hollaender. ‚Liebe
Ilse, was haben sie dir nur angetan. Du bist in Amerika geblieben für
immer, und ohne Grabstein, genau wie Rosa und die süße, kleine
Frieda, meine Frieda’.
Derart versunken saß er da an seinem Tisch, tagein, tagaus. Über ihm
verharrte der Tabakqualm wie eine Gewitterwolke, färbte unmerklich
die Wände, Decken und Gegenstände im Restaurant gelb; ein ins
Braune tendierendes Gelb. Hollaender stellte sich vor, wie es im
Restaurant Rosen nach hundert Jahren aussähe, wenn der Tabakqualm
von Millionen Zigaretten, Zigarren und Pfeifen in flachen Fladen von
den Wänden zu schälen wäre. Archäologen würden mit dem Spachtel
anrücken und Schicht um Schicht abkratzen. Sie würden ihre Funde in
neuartige Mikroskope, welche die Geschichte entschlüsseln könnten,
einspannen und die Begebenheiten lesen können, die sich im Raum
abspielten. Hollaender überlegte sich, dass spätere
Forschergenerationen auf diese Weise aus dem konservierten Qualm
eines Jahrhunderts weise Schlüsse ziehen könnten. Auch sein Leben
würden sie dereinst entschlüsseln und in ihre Bücher schreiben:
„Alfred Hollaender, der unbescholtene Hilfsredakteur, dem man Frau
und Kind genommen hat, der Mord und Totschlag, Flucht und
Vertreibung, Folter und Grauen erlebt hat, bis er schließlich selbst
zum Mörder wurde auf einem elenden Hof .“
Der junge Mann war den ganzen Tag mit seinem Notizblock in der
Stadt unterwegs. Er schrieb alles auf. Wie Regenwasser in einem
Krater sammelten sich seine Einrücke. Seiner Freundin daheim sagte
er, er wolle den Atem der Großstadt einsaugen, ihn mit Akribie
beschreiben und zu Texten falten. So sagte er es nicht. Er wollte es
sagen, zog es aber vor zu schweigen. Wenn er ehrlich ist, vor dem
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Spiegel und im Dunkel seiner großen Stadt, die ihm alles verzieh, da
war es ihm klar, er wollte sich entziehen, fliehen, nur fort.
Nichts schien ihm beim Sammeln und Recherchieren zu unbedeutend.
Sätze, einzelne Worte, Bilder, Reklametafeln für alles mögliche,
Fahnen und Banner mit fremden Sprachen, Ankündigungen, Gekritzel
auf grauem Beton und das Unbedeutendste, das es gibt, „bitte nicht
Einsteigen“, unterzog er einer strengen Prüfung, ob eine Spur an
verwertbarem Gehalt dort wohne. Die flotten Sprüche, Überschriften
aus den Feuilletons, all das Zeugs, das die Spalten der Magazine
füllte, gab er zusammen in einen Tiegel und formte neue
Sprachräume. Es entstanden hohe Gewölbe mit gotischen Spitzbögen,
die zum Lichte strebend über Grüften und Gräben thronten. Aber es
bröckelte an allen Ecken und Enden des Tempels aus der Feder des
jungen Mannes, er hatte den Mörtel vergessen. Nichts wollte sich
wirklich zusammenfügen.
„Substantive haften so schlecht“, tadelte ihn einst ein Professor an der
Universität. Die Kritik verrauchte schnell; „hättest mal lieber
zugehört, anstatt geträumt“, sagte sein Vater oft.
Am meisten Freude bereitete es dem jungen Mann, sich
Gesprächsfetzen vorbei eilender Leute zu merken oder das Allerlei
der Unterhaltungen auf dem Markt und in den Geschäften in seine
Kladde zu übernehmen. In den wenigen Pausen, die ihm sein
immerwährendes Fortstreben und der Zwang des Unterwegsseins
erlaubten, schrieb er alles auf. Häufig krakelte er sogar während des
Gehens, wenn er Angst hatte, irgendwas vergessen zu können.
Manchmal musste er richtig lachen, wenn er die Satzteile, die den
Leuten oft so unachtsam aus dem Mund purzelten, wieder
zusammensetzte. „Es ist ein Sprachpuzzle entstanden“, erzählte er.
Einmal zum Beispiel belauschte er zwei junge Studentinnen, die sich
über hundeköpfige Männer unterhielten bis die Fußgängerampel auf
Grün sprang und sich ihre Stimmen im Straßenlärm verloren samt den
Hundeköpfen, die sie zwischen den Zähnen mit zerrten. Das war mal
wieder ein beutereicher Tag, freute sich der junge Mann über seine
Tagesleistung.
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‚Ja, setz dich nur’, dachte Hollaender.
Der junge Mann blickte sich um im Lokal.
„Ist bei ihnen noch ein Platz frei?“, fragte er den alten Herrn, den er
beinahe angerempelt hätte.
„Setzen sie sich nur“, sagte Hollaender, „setzen sie sich“.
Wippend eilte die kecke Kellnerin herbei.
„Ein Kaffee, bitte“.
„Ein Kaffee?“
„Ja, ein Kaffee“.
„Sie trinken Kaffee? So spät am Abend?“, fragte Hollaender.
„Spät?“
„Ja, spät. Ich könnte das nicht. So spät am Abend, Kaffee? Kein
Auge bekäme ich zu. Nein. Wo ich doch sowieso so schlecht schlafe.“
Die beiden Männer tauschten kurz die Blicke. Der junge suchte sich
eine Zeitung herbei, trank, und Hollaender beobachtete ihn als er
trank, die Tasse ansetzte, und er sah einen kleinen braunen
Kaffeetropfen den Rand hinunter rinnen. Er winkte die Kellnerin
herbei:“ Ach bitte, bringen sie mir einen kleinen“, er hielt kurz inne,
„Cognac, ja, genau, ich möchte einen Cognac“.
„Gerne“.
Henry legte die Zeitung zur Seite machte sich ein paar Notizen.
„Sind sie Schriftsteller oder Journalist?, erkundigte sich Hollaender. Er freute
sich über ein Gespräch. Er suchte Ablenkung.
„Ja und nein“, antwortete Henry. „Ich fühle, dass ich schreiben muss,
aber Schriftsteller bin ich nicht. Ich wünschte, ich wäre es. Ich
schreibe für eine Programmzeitschrift, für eines dieser Stadtmagazine.
Man schickte mich los, eine Geschichte über die Menschen in der
Stadt zu schreiben. Ziemlich unscharfer Auftrag, dachte ich noch“.
„Sie kommen doch aus Köln“, sagte sein Redakteur. „Dann schreiben
sie mal auf, wie sich ein Kölner in Berlin fühlt. Und unterscheiden sie
mir die Menschen!“, gab er Henry mit auf den Weg.
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„Mir fällt immer nur meine eigene ein. Das reicht aber nicht“, sagte er
zu seinem Tischnachbarn mit seltsamer Einsicht einem Fremden
gegenüber.
„Wenn sie gestatten, werde ich ihnen Geschichten liefern, die keiner
außer mir kennt, und die ich noch niemandem erzählt habe“, bot
Hollaender an.
Er folgte einer inneren Stimme, die ihm zusprach, der Junge sei der
Richtige, wenn nicht ihm, wem sonst wolle er seine Geschichte
erzählen. Hatte er es Rosa und Frieda und Gertz und Ilse nicht
versprochen, alles zu erzählen? Wie lange er denn noch warten wolle
und worauf, fragte die Stimme.
Der ersten Geschichte sollten noch viele folgen. Aus Hollaenders
Mund hörten sich die Geschehnisse so an, als hätte er sie gelesen, als
wären sie nicht Teil seines Lebens, sondern schreckliche Zeugnisse
aus dem fernen Mittelalter.
So erzählte Hollaender dem Jungen neben ihm am Tisch die
Geschichte von Kleiner.
Sorgfalt war Hollaender wichtig. Er faltete sein Hemd und seine Hose,
aus der er das Taschentuch entfernt hatte, damit es keine Beulen
verursachen konnte. Die Jacke und den Mantel hängte er in die
Garderobe in seinem schmalen Flur. Die Straßenbahn quietschte unter
seinem Fenster und zog lange Lichtbögen. Die Haltestelle war nicht
weit. Lärmend gingen junge Leute unter seinem Fenster vorbei.
Hollaender schloss das Fenster. Mit offenen Augen, den Blick an die
Zimmerdecke geheftet, lag er im Bett. Die Menschen der Stadt
entfernten sich allmählich und nahmen ihre Geräusche mit. Er
dämmerte dahin. An den jungen Mann dachte er nicht. Sein Leben
verging Blatt um Blatt, wie der kleine Abreißkalender mit den
lehrreichen Lebensweisheiten auf der Rückseite, langsam, mitten in
Berlin. Er schlief schlecht, weil in seinem Herzen etwas kämpfte, das
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Gute gegen das Böse, das Hohe gegen das Tiefe, das Weite gegen das
Nahe. Eine fremde Gier und eine unaussprechliche Sehnsucht schufen
seltsame Traumbilder. Hollaender erreichte nie die Gewissheit, was in
seinem Innern rang. Zuguterletzt betrachtete er es als eine Art Gnade,
oder Glück, dass es keinen Sieger gab bei diesem Kampf.
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Der Kopf mit den aufgerissenen, sterbenden Augen sprang ihn an. Das
Blut rann als langsamer, dunkler Fluss aus dem Riss, den der Hieb des
Wachmannes verursacht hatte.
Und da, ganz plötzlich, sah Hollaender die Gedanken. Eine Windböe
trieb sie vor sich her wie ein Blatt Papier. Er sah sie fliehen, die
Gedanken. Sie wollten der Seele folgen auf ihrem langen Weg zu
Gott, der die Menschen verlassen hatte, der sie liegen ließ mit
schmatzenden Wunden in Blutströmen und übel geschundenen
Körpern, denen die Hoffnung ausgeprügelt worden war. Und alles
stank nach Scheiße. Hollaender erkannte Kleiner, zu dem das Gehirn
und die flüchtenden Gedanken gehörten. Karl Kleiner, der
Bildchenmaler und Schöpfer von holprigen Gedichten. Hollaender
erkannte ganz deutlich in den fremden Gedanken die Badende, von
der der verrückte Kleiner einst erzählt hatte. Ihre Brüste waren ganz
weiß, geschützt vor der Sonne vom Oberteil des Badeanzuges. Der
übrige Körper war kaffeebraun und dehnte und streckte sich
geschmeidig in der seichten Brandung. Sie, die braune Schönheit,
stemmte sich gegen den anlandigen Wind. Hollaender sah nur den
Körper. Wasser und Himmel zerflossen zu einem Fest von Blau. Das
Mädchen, so kam es Hollaender vor, war Teil des Wassers und des
Himmels zugleich. Er starrte auf die Leiche des Kameraden und sah
doch das süße Mädchen.
Das waren die Gedanken des Erschlagenen, dachte der Sträfling
Alfred Hollaender, und er sieht Kleiner, Karl Kleiner der
Bildchenmaler und Reimerzwinger. Wie ein Fresco trat das Gesicht
des Kameraden aus einer verschütteten Erinnerung heraus. Da dachte
Hollaender wieder, als er die größer werdende rote Lache beobachtete,
dass nun, genau in diesem Augenblick, die Gedanken um ihre
Freiheit rangen, um schließlich doch elend zu ersaufen. Hier, so
wusste es, gab es keine Freiheit, nicht einmal für die Gedanken.
Das Mädchen mit den weißen Brüsten indes steht in der Brandung seit
Anbeginn der Zeit unter dem Himmel in dem Ozean...vergeblich.
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Das Blau der Dämmerung zog in das Schlafzimmer von Hollaender
ein. Es war früh an diesem Morgen, der die Woche teilte, eine der
3848 Wochen im Leben des Alfred Hollaender. Was bleibt einem
alten Mann denn schon, als dem Vorbeigehen der Tage, der Menschen
und der Ereignisse zuzuschauen und dabei zu denken, dass einen der
Tod womöglich vergessen hatte, sagte er zu sich. Der Schweiß, der
Nachlass des Traumes und der Nacht, klebte noch an seinem Körper.
Der junge Mann schob sich aus der U-Bahn aus dem Gewühl der
Menschen, die alle Wichtiges zu tun haben. Er war wieder den ganzen
Tag unterwegs. Meist zu Fuß. Nur wenn ihn die Kräfte oder die Lust
verlassen hatten, setzte er sich in den Bus, oder in die U-Bahn mit den
Gerüchen und Geräuschen aus der Unterwelt, dem Gedärm der
Großstadt. Zeugs schrieb er wieder in seine Kladde. Werbeschriften,
Gesprächsfetzen, Brocken vom Boulevard. Mit seinem Mantel blieb
er in der automatischen Tür der Bahn hängen, fluchte, riss sich los,
lachte kurz über sein Missgeschick, fluchte wieder und stieg die
Treppe hinauf. Er sah die Menschen, fühlte die muffige Wärme der
Station, die allmählich dem nasskalten Straßenwind wich und
erreichte den Ausgang. Mit einiger Mühe zündete er sich eine
Zigarette an. Immer wieder blies ihm der Wind das Zündholz aus. Er
sah zwei lumpige Bettler, in Kleiderreste gehüllt. Sie wollten Geld. Er
griff in die Tasche, kramte nach Kleingeld und gab es ihnen ohne
wirklich eine Wohltat erbringen zu wollen. Die Hunde der Bettler
bellten vergnügt, pissten und verloren sich mit dem verlausten
Gesindel irgendwo im trüben Tag. Der junge Mann betrat ein
Gasthaus mit dem schönen Namen „An einem Sommer im August“.
Nach zwei Glas Bier hatte der junge Mann genug. Er schlenderte die
Straße hinab. Der Regen hatte nachgelassen. Während seines
Aufenthaltes in dem Gasthaus mit dem schönen Namen hatte er
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abwechselnd geschrieben, geträumt und aus dem Fenster auf die
Straße geschaut.
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Er sei Agnostiker, eigentlich, aber nach seinem Ausflug in dieses
Inferno, diese Welt der Gefolterten und Toten, in die ihn der alte
Hollaender mitreisen ließ, sei er sich nicht mehr so sicher. Jetzt
tendiere er eher zu den Atheisten. Der Alte nickte.
Die Kellnerin, es war eine andere als am Vorabend, brachte zwei Glas
Bier. „Waren sie schon einmal in Amerika“, wollte Hollaender
wissen.
„Ja, vor drei Jahren besuchte ich meinen Cousin in New York. Er
arbeitete damals in einem Restaurant, war mit einem Touristenvisum
eingereist. Man zahlte ihm einen Hungerlohn für das Abkratzen der
Essensreste von Tellern und aus den Töpfen. Mein Cousin war ein
Tellerwäscher. Millionär ist er nicht geworden. Während er in der
stickigen Spülküche den Dreck von dem Geschirr schabte,
beobachtete ich das Wachsen von Wolkenkratzern. Bei schlechtem
Wetter oder Nebel sieht man die oberen Geschosse nicht mehr. Sie
verschwinden einfach ins Nichts. Noch nie zuvor hatte ich solche
Bauwerke gesehen. Und andauernd wird weiter gebaut, unglaublich“.
‚Dieser junge Kerl’, dachte Hollaender auf dem Heimweg, ‚er ist
jung, aber seltsam schwach auf der Brust, auch scheint mir, dass er
wenig von Körperpflege hält. Er ist eine Art mit Leben gefüllter Tank,
aber er hat keine Ahnung vom woher und wohin’.
‚Ich bin ein leerer Tank’, brummte er vor sich hin. ‚Ich habe zwei
Frauen und ein Kind verloren, aber eine Rente, die mir das Warten in
Würde gestattet. Ja, ja, die Würde, die habe ich wieder’.
21
Seinen Kopf gesenkt auf den Gehweg trottete er weiter. Nacheinander
tauchten die Gesichter seiner Angehörigen und Ahnen auf und
zerplatzten gleich wieder wie Seifenblasen.
‚Nun ja, Gott hat es so gewollt’, beruhigte sich Hollaender. ‚Vater hat
immer gesagt, Junge, sei aufrichtig, immer frei raus, sag, was dich
bekümmert, aber schone die Leute, täusche sie nicht, irritiere sie nicht,
schwimm mit. Ja, das sagte der Vater’. Mein Gott, der Vater, und die
gute Mutter. Der Vater bekam schöne Orden. Er war tapfer im Krieg,
ein Held. Er kämpfte für sein Vaterland. Wo war das noch gleich. In
Flandern, fiel es Hollaender wieder ein. Ja, in Flandern. Das ist doch
in Belgien. Dort tummelte sich der Vater mit seinen Kameraden für
den Kaiser. Freute sich wie alle anderen, in den Krieg für das
Vaterland zu ziehen. Flandern!
Auf seinem Nachtisch brannte eine kleine Lampe. Sie erhellte das
Zimmer gemütlich mit gelbem Licht. Er wollte noch in seinem Buch
lesen. Er fühlte sich ruhig, vielleicht verwechselte er die Ruhe mit
Erschöpfung. Er wusste aber nicht, warum er erschöpft sein könnte.
„Doch“ , entfuhr es ihm in die Stille seiner Wohnung. Es war dieser
verrückte Junge. Er stopfte das Kopfkissen unter seinen Rücken, saß
fast aufrecht im Bett und hatte sein Buch auf dem Schoß. Berlin
Alexanderplatz, von Alfred Döblin, hatte er sich ausgeliehen. Bücher
kaufen erschien ihm unnütz. Und außerdem freute er sich auf die
freundliche Dame in der Bücherei, die bei der Ausgabe und
Rücknahme so sorgsam den Datumsstempel auf die Karteikärtchen im
Buchdeckel drückte und ihn dabei anlächelte.
22
Kind“. Er stieß die Herumstehenden beiseite, fiel kraftlos auf die Knie
und berührte den vor ihm liegenden Haufen. Sein Blick streifte die
Umstehenden, er sah die Baracken, die untergehende Sonne, die
unschuldig war, die lange fröhliche Strahlen warf und die Schuldigen
und die Unschuldigen gleichermaßen gnädig mit ihrem goldenen
Licht überstrahlte, da traf ihn der Pfeil wie Gewissheit: mein Kind,
dort liegt mein Kind.
„Ungewöhnlich für diesen Ort“, sagte einer der dürren Zeugen. „Was
meinst du?“, fragte sein Nachbar. „Gewöhnlich werden die Leute
zertreten, erschlagen, manchmal erschossen, aber so gut wie nie
erstochen. „Die da“, und er zeigte mit seinem Finger auf den
Leichnam, „ist geschlitzt worden. Man hat ihr ein Messer in den
Bauch gerammt, und die im Leib steckende Waffe kreisen lassen, so
dass wir nun diese Schweinerei hier haben“.
Der Junge schüttelte gleichförmig den Kopf und vergrub sein Gesicht
in den Händen, dann schaute er kurz auf, sah Hollaender in die Augen
und fragte: “War es ihre Tochter?“
„Weiß ich nicht“, antwortete der Alte.
Es war drei Uhr in der Früh, als Hollaender hoch schreckte und nicht
wusste, wo er war. Er benötigte eine Zeit lang, um sich darüber im
Klaren zu sein, dass er in Sicherheit war. Er hob sich aus seinem Bett,
ging ins Bad und pisste. Mein Gott, wie lange ist es her, dass ich
meinen Schwanz zu was anderem als zum Pissen benutzte, durchfuhr
es ihn.
23
„Was ist heute schon normal“, fragte Mutter Hollaender immer
wieder. „Heute ist normal, dass der Vater das Essen würgt und wie ein
Schaf ausschaut, nicht mehr arbeiten kann. Das ist normal“. „Das ist
bei Käthe Welter nicht anders. Ihrem Mann hat man beide Beine
abgeschossen. Schrappnells zerfetzten nicht nur das Blätterwerk,
damals im Kriegssommer 1916, sondern auch seine Beine. Der rollt
jetzt auf seinem Brett durch die Schönhauser und sammelt Mitleid ein.
Das ist heute normal“.
24
unglückliche Vater auf dem Friedhof Weißensee. Aber man weiß es
nicht, sagte Alfred Hollaender in späteren Jahren immer wieder zu
Rosa und Frieda, ob er wirklich Frieden finden konnte.
25
Himmel unterging. Auf dem schimmernden Boden, der aus
spiegelglatten Basaltquadern zusammengefügt war, und aussah wie
Straßenpflaster, scheuerten sich die Fersen in soldatischer Disziplin
und schnarrender Gehorsamkeit. Er sah nicht, wie die Schergen sein
Kind ergriffen und es in den Haufen der Elenden schleuderten, auf
dass es unterging und ersticke und alleine seine Frau, die Mutter
seines Kindes, die in diesem Augenblick die Mutter aller Kinder war,
bemerkte es. Sie spürte das Unfassbare, sah Himmel und Hölle sich in
grauenvollem, perversen Inzest umschlingen, um dieses Entsetzen den
Menschen antun zu können. Sie strebte in den letzten Sekunden ihres
Lebens nach Vergebung für die eigene Schuld und hoffnungslose
Hilflosigkeit im Haufen der nach Leben Strebenden. Die Arme und
Beine der Menschen waren verknotet und gebrochen. Manche Köpfe
baumelten aus dem Haufen. Friedas Mutter erinnerte sich der kleinen
Schuhe, die ihre Tochter sich zum achten Geburtstag gewünscht hatte,
die mit den rosafarbenen Schleifchen. Sie suchte ihr Kind im
Menschenknäuel, wie unzählige andere Mütter auch. Wo war Alfred?
Warum hat er mich verlassen, Frieda und mich? Sie schrie aus
Leibeskräften ihre Schmerzen und die Todesangst heraus, die alle
Würde abschnürte. Sie waren begraben unter den anderen Menschen,
die sich verzweifelt der Rettung entgegen stemmten, die sie in der
Höhe, im oberen Teil des Raumes glaubten. Alle schrieen und
weinten. Oben vermuteten sie die Rettung, oben. Aber von oben kam
der Tod in den kahlen Raum über die nackten Menschen.
Hollaenders Frau, die als eine der letzten in die Halle der Offenbarung
gestoßen worden war, hat ihre Tochter nie mehr sehen können. Sie
befand sich am Eingang zur Hölle, als irgend etwas in die
vollgestopfte Kammer geworfen wurde. Sie erkannte ihre Tochter
nicht. Sie empfand Mitleid, wie sie es fremden Menschen entgegen
brachte. Sie dachte an ihre Frieda, an die Schuhe, die Kleidchen und
an die Kinderkritzeleien aus den Zeiten vor dem Unglück.
Sie konnte dem Kind keinen Trost spenden in den letzten
Augenblicken seines kurzen Lebens. Ihr kleines Mädchen, das früher,
26
und dieses „früher“ maß ein Menschenalter, seine bevorzugten
Kleidchen mit stolzer Sicherheit aus dem großen Sortiment des
Kaufhauses gefischt hatte, das seine Kleidergröße wusste wie viele
seiner Altersgenossen nicht, war erschlagen, erstickt, zertrümmert,
zertreten worden wie Ungeziefer. Diese unnützen Gedanken
durchschossen ihren Kopf, sie schämte sich. Die Luft, die sie benötigt
hätte, atmeten die anderen Todgeweihten. Sie bemerkte neben sich
noch einen Mann, der aus der Nase blutete und sich dann über sie
erbrach. Sie schloss die Augen. Mitten unter den Verzweifelten, die
Gott vergessen hatte, und die sich nichts um das Schicksal der Tochter
der Hollaenders scherten, erstarb die Zukunft eines Mädchens und
einer Generation unerkannt, unbeachtet, unberührt. Bis zum Ende
hoffte Rosa Hollaender auf die letzte Gnade, eng umschlungen,
gemeinsam mit dem Kind, den Tod zu erwarten. Sie sehnte sich
danach, das Kind noch einmal in den Arm zu nehmen, es zu berühren.
Ihrer Tochter wollte sie noch einmal Mutter sein wie in den aller
ersten Stunden, als die kleine Frieda noch nicht entbunden war, auf
dem geblähten Mutterbauch lag und schrie aus Leibeskräften dem
Leben entgegen. Ihre Gedanken rasten hitzig hinter den geschlossenen
Augenlidern. Rosa Hollaender dachte an die vielen Abende, als sie die
Kleine vor dem Schlafengehen, noch zudeckte, bevor sie selbst zu
Alfred ins Bett schlüpfte.
Das Gift verteilte sich schnell in dem großen Raum, in dem 1000
Menschen so dicht standen, dass sie keine Bewegung tun konnten und
die Geschlechtsteile, Nasen, Ohren und Haare fremder Menschen auf
ihrer Haut spüren mussten. Rosas Gedanken verschwammen. Von
Ferne betrachtete sie das Gesichtchen der Kleinen und war erfüllt mit
der Freude an eine glückliche Zukunft des sanft schlafenden Kindes.
Im Kessel der Toten blitzten die Tage auf, als sie ihre Frieda morgens
zur Schule weckte, ihr eine Stulle schmierte und die Kleider richtete.
Schön sollte sie aussehen, das gute liebe Kind. Frieda soll ein guter
Mensch werden. Die Kraft der Mutter schwand und mit ihr das Leben.
Sie wurde eins mit dem Haufen Leiber.
27
Nachdem der junge Mann wieder auf der Straße stand, wollte er zuerst
nachhause gehen. Unschlüssig stand er noch einige Augenblicke auf
der Schwelle des Lokales. Er ging ein paar Schritte, erspähte die U-
Bahnstation, glitt am Geländer entlang hinab in die weiß gekachelte
Tiefe. Einige Menschen warteten schon auf dem Perron. Einen
kräftigen unterirdischen Sturm vor sich herschiebend, rauschte die
Bahn heran. In der Schlesischen Straße kehrte der junge Mann in einer
Bar ein, in der sich die Gäste merkwürdig benahmen. Wie in Trance,
psychedelisch berauscht, voller in lächelnde Gesichter gezeichnete
Freundlichkeit und mit positiver Energie geladen, bewegten sich die
Leute halb tanzend, halb schwebend. Ein heiseres Kichern zwang sich
ihm auf, als er die glücklichen Menschen wahrnahm. Am
Nachbartisch unterhielten sich zwei junge Frauen: “Lass uns um die
Häuser ziehen, schonungslos und ohne Hintersinn, willenlos und
immer mittendrin an den letzten Tagen in Berlin“, singt die eine der
anderen leise ins Ohr.
Den nächsten Tag begann der junge Mann mit Voltaire. Der Zweifel ist
gingen die Schilderungen von Hollaender nicht aus dem Sinn, der so seltsam
Familie, vom Krieg, von Deutschland, von Amerika. Dabei war der Alte
stets freundlich, ja er lächelte. Er strich an diesem Tag wie eine Katze durch
die Straßen. Besuchte hier und dort in ein Café, trank, las, schrieb. Wollte
ins Kino gehen, verwarf die Idee wieder. Er ertappte sich dabei, wie er den
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Abend mit Hollaender herbei sehnte. Am frühen Abend, zeitiger als die
ersten Mal traf. Er bestellte sich ein Bier und zündete sich eine Zigarette an.
Las wieder und wartete. Hollaender kam nicht. Er kam nicht am nächsten
Tag und auch an den folgenden Tagen blieb sein Platz verwaist. Andere
Leute setzten sich. Der Junge empfand es als ungehörig, dass sie den Platz
„Also“, sagte der Wirt, „ganz früher wohnte der in der Schönhauser, hat er
mal erzählt. Aber das liegt bestimmt schon fünfzig Jahre zurück. Mehr weiß
ich auch nicht“. Der Wirt wandte sich wieder den anderen Gästen zu,
Hollaender lag seit Tagen im Bett. Irgendetwas klang in seinem Ohr. ‚Nein’,
dachte er. Kein Klang. Ein Ereignis. Von Ferne schlichen sich Bach’sche
Baumpieper und Dohlen ihre Konzerte geben. In seinem Fieber hatte er von
einer alten Frau im Krankenhaus geträumt, sie war wohl achtzig Jahre alt.
Die Alte war seine Tochter. Frieda, die als achtjähriges Mädchen starb,
deren Mutter, ihr nicht helfen konnte. Niemand konnte ihr helfen. Der
Patientin ging es schlecht. Man hatte wenig Hoffnung. Die Ärzte umstanden
29
sterben. Niemand wollte die alte Frau mehr sehen. Besuch kam fast nie.
Einmal kam ein Neffe, oder Cousin, wer weiß das schon genau, mit dem
Arm. Der Neffe. Oder Cousin war erschrocken über den Zustand der
Die Ärzte konnten nichts mehr für sie tun und wollten sie aus den Augen
haben. Wenn sie mit ihrer Kunst am Ende sind, verschließen sie gerne die
Augen. Am Ende des Flures gab es eine Abstellkammer. Oft wurde der
längst entfernt worden war. Die Alte verdrehte die Augen, als sie mit ihrem
Bett über den Flur gerollt wurde. Ungläubig blickte sie erst zur Decke, dann
zum Pfleger, der sie schob. Nach drei Tagen in der Kammer starb sie.
Zum ersten mal nach langer Zeit weinte Hollaender. Er lag in seinem Bett
und beweinte bitterlich den Tod seiner Tochter Frieda. Wäre sie doch
damals nur weggelaufen, von mir aus auf die Straße zu den Straßenkindern,
die ohne Eltern waren. In der Obhut von Jizchak Schwerzenz hätte sie leben
Hollaender kannte Schwerzenz noch aus der Zeit vor dem Krieg. Der
Samariter umsorgte die Waisen und gab ihnen später ein Versteck und
Essen. Er sang für sie die alten Lieder. Das hätte sich Hollaender auch für
seine Frieda gewünscht. Nun lag er in seinem Bett als alter, kränklicher
30
Mann, so alt wie seine Tochter, die als Alte Frau im Kämmerchen eines
Hospitals starb. „Gott ist grausam. Mir lässt er das Kind gleich zwei Mal
Endlich war er wieder genesen und bei Kräften. An diesem Freitag stand er
bereits früh auf, wusch sich rasch in dem kleinen Badezimmer, zog Anzug
und Krawatte an und verließ seine Wohnung. Nach den Tagen einsamer
Bettruhe schlenderte er durch sein Viertel, kaufte ein, las Kinoplakate, traf
Nachbarn, die ihn freundlich grüßten, besorgte sich eine Zeitung und setzte
„Ich habe Sie vermisst“, sprach ihn plötzlich sein junger Freund an. „Ich
dachte, ihnen sei etwas zugestoßen“. Hollaender blickte überrascht auf. Auf
„Ich war krank, fühlte mich nicht wohl. Aber bitte, setzen Sie sich doch“,
„Die Stadt hatte mich verschluckt. Die Leute konnten mich kaum erfreuen.
Ich musste immer wieder an ihre Frau und ihr Kind denken. Wie hießen sie
noch gleich? Und ich dachte dann an meine Freundin; ein Kind haben wir ja
Der junge Mann zündete sich eine Zigarette an und bestellte eine Tasse
31
„Gestern machte ich mich von meiner Pension aus auf den Weg zu einem
kostet das Zimmer in dieser“, der junge Mann zögerte einen Moment,
„Absteige“, sagte er dann. Ein schmales Bett, ein Nachttisch mit Lampe, die
nicht funktioniert, ein windschiefer Schrank und ein Gardine, die so viele
schmutzige Gäste gesehen hat, dass man mit ihr das Zimmerchen
verdunkeln kann. Ach ja. An einer Wand langweilt sich ein Aquarell hinter
einem fleckigen Glasrahmen“. Er beschrieb das Bild. „Das Bild zeigt einen
den Seiten braune Zöpfe herauswachsen. Die Figur scheint eine Schale zu
bewegen, wie beim Auswaschen von Gold. Vielleicht wäscht der Mann auf
dem Bild auch Gold. Die Schale ist gefüllt mit gekritzelten Kügelchen, die
sich in der Mitte so verteilt haben, dass ein Gesicht, oder der Schein eines
Gesichtes zu erkennen ist. Jeden Abend schaut mich dieses Bild von den
Wand an“.
„Am Vormittag“, fuhr der Junge mit seinem Bericht fort,“ es war schon fast
betont jugendlich gekleidet, die mir aufgefallen war, weil sie weit weg von
genau die gleiche Farbe wie ihr Mantel, dunkelblond, ins Braune fließend.
Der Mantel endete etwas oberhalb der Kniehöhe, so dass ich die breite
Plötzlich übergibt sich die Frau. Die Haare flatterten ihr ins Gesicht. Wie
aus heiterem Himmel schoss ein kräftiger Strahl aus ihr heraus auf die
Gleise. Die Aktenmappe, die sie bei sich trug, hatte sie nicht weggelegt. Die
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Szene machte auf mich den Eindruck, als sei es das Natürlichste auf der
Welt, dass man mit einer Aktenmappe unterm Arm auf die Gleise kotzt“.
„Was dachten sie, als sie die Frau so genau betrachteten?, wollte Hollaender
wissen.
„Wissen sie, ich schaue mir alles immer genau an, auch Frauen. Und diese
Frau hatte mir gefallen. Fast wäre ich auf sie zugegangen, um sie
Denn sie sah nett aus, schlank, ovales Gesicht und sehr gepflegt, bis auf die
Laufmasche, wenn man es streng betrachtet. Sonst dachte ich gar nichts. Sie
„Das haben sie also in den letzten Tagen erlebt“, stellte Hollaender erstaunt
fest. „Sind sie zum ersten mal in einer Stadt, ich meine in einer Großstadt?“,
forschte Hollaender .
„Nein. Ich liebe Städte, aber ich fürchte mich auch, ich bleibe fremd.
Manchmal passe ich meine Schritte denen anderer Menschen an. Ich
empfinde plötzlich eine Eile und Getriebenheit, die der Eile und
Geschäftigkeit der Menschen ähnelt, die ich beobachte. Jedoch weiß ich,
dass ich nichts Geschäftliches zu erledigen habe und auch nicht wichtig bin.
Ich spiele Geschäftigkeit und Wichtigkeit. Eigentlich bin nur ein leichtes
Herbstblatt, dass vom Wind geweht wird. Wohin, das weiß ich nicht“.
Hollaender und der junge Mann kannten sich nun schon einige Tage, als
Hollaender entschied, es sei nun an der Zeit einander vorzustellen. „Ich kann
ja nicht immer Kerl oder junger Mann oder so was sagen,“ sagte er.
33
„Lantz. Henry Lantz“.
beiläufig begonnen hatte. Hollaender trieb Henry vor sich her, so wie der
die beiden Männer öfters trafen, veränderte ihr Verhältnis seine Farbe,
inniger Vertrautheit. Wenn die Männer zusammen saßen, nahmen sie das
Die Männer stiegen hinauf in eine eigene Sphäre. Ihre Treffen wurden zu
Sie trafen sich tagsüber in einem der Lokale im Viertel oder am Abend im
Restaurant Rosen. Als Henry einmal an sich und den Alten dachte, fielen
beobachtet hatte. Die Boote tanzten auf den Wellen des unendlichen
Ozeans, die Strömung trieb sie zueinander. Die Fischer verbanden die
sie in dem fremden Hafen und in der fremden Stadt hinter dem Hafen?
Henry legte eine Rast ein und setzte sich auf eine Bank am Paul-Lincke-
flüstern, während in der Ferne die Stadt wie im Film träge vorbei zog. Der
Lärm drang wie durch einen Wattebausch zu ihnen. Sie waren eingehüllt in
34
Zweisamkeit; unverbrüchlich und versöhnt mit der Welt. Allmählich warf
die Abenddämmerung ihr Tuch über die Stadt. Übrig blieb ein funkelndes,
flaches und sich bis zum Horizont ausdehnendes Lichtermeer. Die Schiffe
sah die kleinen, wirbeligen Wellen am Heck bald nicht mehr. Die Boote und
gingen die Liebespaare von Bord, Hand in Hand oder eng umschlungen.
genauso schwach wie seine Sehnsucht. Ihre Gesichtszüge begannen sich von
ihm zu entfernen, ihr Bild verschwand aus seinem Gedächtnis wie ein
Er entschloss sich, mit dem Bus zu fahren. An der Haltestelle streiften ihn
die Scheinwerfer der Autos und übergossen ihn für Augenblicke mit grellem
Licht. Im Bus fiel sein Blick auf ein Paar undefinierbaren Alters. Henry
„Dir fällt immer nur dasselbe ein“, hörte er die Frau sagen. „Du bist immer
nur am meckern“, murrte ihr Mann. Die ganze Fahrt hinweg stritten sich die
beiden.
Sie benehmen sich sehr dezent. Wenn sie nicht streiten, blicken sie bei in die
selbe Richtung aus dem Busfenster in die schwarze Stadt. Es geht um nichts
und um alles, dachte Henry. Es kam ihm so vor, als sei das Paar geübt im
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Als Henry sich von Helen vor ein paar Wochen verabschiedete, stritten sie
auch. Aber dieses kultivierte Streiten, wie er es bei dem Ehepaar im Bus
beobachten konnte, wollte beim ihm und bei Helen nicht gelingen. Das
ältere Paar stritt in einem seit Jahren zu Stein gewordenem Ritual, entworfen
vom Gott des kultivierten Ehestreites, dachte Henry. Helen und er dagegen
stritten wild, heftig, unkontrolliert und verletzend. „Du denkst immer nur an
Melancholie, so dass man ihn nicht erkennen soll, ha, Melancholie. Was du
Melancholie nennst, ist nichts anderes als Flucht und Untreue. Jetzt fährst du
wieder. Ich weiß nicht für wie lange. Ich weiß noch nicht einmal genau
Kopf. Sie lagen im Bett. Stürmisch drehte sie sich von ihm weg. Er wollte
sie küssen oder wenigstens in die Arme nehmen, aber sie wehrte sich
wütend. Aus ihren Augen sickerten Tränen der Wut und der Verzweifelung.
dachte Henry, dass sie nicht aus Wut weinte. Sie ist hübsch, intelligent, von
„Ich lebte mehr als zwanzig Jahre in den Staaten“, entgegnete Hollaender.
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In Lynchburg, Virginia, traf Hollaender 1956 oder 1957 einen Mann, der
sich John Born nannte, der oft betrunken in den Bars herumlungerte und in
Leute aus der Vorstadt. Sie ergründeten die Geschehnisse nicht, die tief in
seinem Innersten glühten. Sie hielten ihn für verrückt. Wenn John im
Englischkenntnisse nicht in dem Maße, wie sich die Worte lösten, einem
das er wie grüne Galle in der Umgebung verspritzte. Deutsch, Jiddisch und
Englisch wurde bei John zu einem Brei. Mehr als einmal musste der Wirt
mäßigend eingreifen und John und die Leute besänftigen. John regte sich
auf, die Leute regten sich auf, es herrschte gespannte Stimmung, und
Vorstadtbar litten an einem niedrigen Siedepunkt und hatten schon aus viel
weniger schlimmen Gründen die Fäuste sprechen lassen. Trotz der großen
Emphase, die John Born bei seinen Schilderungen an den Tag legte, konnte
ihn der Wirt meist beruhigen, „ok John, ist schon ok, hier nimm einen
Schluck und dann ist Ruhe“, sagte der Wirt. Die Burschen kühlten ihr
Eigentlich hieß Born Gebirtig, Mordechaj Gebirtig und stammte aus Iasi in
der Region Moldau. Er hatte sich der Einfachheit halber einen anderen
Namen zugelegt, weil die Amerikaner Mordechaj Gebirtig nur sehr schwer
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aussprechen konnten. Wenn es einer doch versuchte, Mordechaj zu sagen,
sehr schnell. Lange bevor die Sprache sie entlarvte, die auch nach
Jahrzehnten noch nicht der der Einheimischen entsprach, waren sie sich
gewiss, gaben sie sich dennoch nur zögerlich als Emigranten zu erkennen,
tasteten sich schüchtern näher, wie es Jünglinge tun, die dem Mädchen
ihres Herzens alles geben wollen, es aber um keinen Preis vor ihnen
ausbreiten möchten.
Notwendigkeiten, die sie hier hin oder dort hin verschlagen hätten, aber
deckten vor dem fremden Kameraden ihr Innerstes mit der bleiernen
Geheimbündler, die von einem fernen Planeten kamen, mit Namen „Lager“.
Als Hollaender John toben sah und im Rausch schwadronieren hörte, ahnte
Bruder. Er sah die Schrecken der Unterwelt, des Weltenendes, das ganz
nahe gewesen war, und die vergangene Zeit lag vor ihm ausgebreitet, nackt.
Und während John noch Unverständliches Gebrummel von sich gab und an
seinem Schnapsglas sog, fragte ihn Hollaender, den nun die Neugier auf
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„Ich war auf der Arbeit. Ich bin ein verdammter Mechaniker. Ich flicke den
Bauern ihre Traktoren zusammen. Wo soll ich sonst gewesen sein, als in
Darauf war John nicht gefasst. Plötzlich war er nicht mehr John, sondern
wieder Mordechaj Gebirtig. Er fühlte wieder den selben Namen, den sein
Vater trug, seine Brüder und seine Mutter. Er schmeckte sein früheres
sich schlagartig.
aber dann nach Birkenau. War im Sonderkommando. Ich bin einer der
mussten und die sie später, danach, aus dem Bunker wieder heraus zogen.
1948 gelangte ich über Lissabon zuerst nach Palästina. Die Engländer
hassten uns. Du kennst doch die Geschichte von der „Exodus“? Ich wollte
mich nicht von den Briten verjagen lassen. Ich schiffte mich ein nach
Amerika. Soll es doch auch untergehen, das verdammte Schiff, hab’ ich
gesagt, bis man mir gesagt hat, ich soll’s Maul halten“.
Er fragte sich, ob John etwa seine Rosa und seine Frieda zuletzt vielleicht
noch gesehen haben könnte. ‚Vielleicht hat er meine Frau oder mein Kind
auf ihrem letzten Weg beruhigt. Vielleicht hat er gesehen, wie Rosa ihr
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Kind, die geliebte Frieda, an sich drückte, bevor sie schrecklich erstickten,
Rosa und Frieda und alle anderen. Womöglich war John einer von denen,
denen man satt zu essen gab, damit sie derart gemästet die Kräfte aufbringen
„Nach was roch es?“, fragte er John. John, dessen Schnapsrausch sich
plötzlich verzogen zu haben schien, hatte auf alle Fragen eine Antwort. Zu
oft malte er sich aus, was wäre, wenn er einen anderen träfe. Er musste nicht
überlegen. Ihm war, als stünde er vor seinem eigenen Gewissen, als müsse
er sich vor sich selbst rechtfertigen. Das Unglaubliche erklären, das war es,
vor dem er sich immer fürchtete. „Nach Mensch, einfach nach Mensch. Es
roch nach Haut, nach Haaren, nach Schweiß. Einfach nach Schweiß, wie es
wurde, dass es nach Mensch riecht, nach Haaren, Haut und Schweiß, in der
und Männer, manchmal fielen sie übereinander nach den Fußtritten mit den
der Köter. Manchmal dachte ich an die Köter, die so wenig dafür konnten,
wie das Gemäuer, in dem der Schrecken stattfand. Als ich zurück war in der
Kammer mit den Kleidern, die überall herum lagen, erdrückte mich fast der
Geruch der Menschen, die nun nicht mehr waren. In den Kleidern der Leute
steckte noch ein Rest von Leben, glaubte ich. Und so sorgsam wie es nur
ging, bündelte ich die Reste ihres Lebens und wir trugen sie auf Lastwagen,
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die vor dem Krematorium warteten. Der Geruch der Menschen klebt bis
heute noch und für alle Zeit auf meiner Haut. So oft ich auch die Kleider
wechsele und mir neue Sachen kaufe, immer hab’ ich diesen
Menschengeruch an mir und in mir. Er frisst mich auf, von innen, verstehst
du“.
Hollaender tat es ihm gleich. Die Männer schwiegen lange. Die Sätze, die er
ohne zu stocken Hollaender entgegen warf, die von seiner Zunge rollten, die
wie Gefangene waren, die jahrelang eingekerkert waren, hingen über ihnen
wie Gewitterwolken.
überspannen, die sich wie eine Schlucht zwischen die Männer gedrängt
“ Zuhause, in St.Louis, führen Ilse und ich ein ordentliches Leben. Ein Jahr
bestimmt. Ich bin jetzt unterwegs, weil wir unser Sortiment erweitern
wollen. Mir berichtete ein Freund, dass es hier bei euch in der Gegend
steht auf stabilem Fundament“. Seine Zukunft und sein Lebensglück waren
ein umbauter Raum, umsichtig geplant und kalkuliert, wie es ein Kaufmann
Kaufmann.
das er Rosa und Frieda nie würde vergessen können. Kein Ozean, kein
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Kontinent konnte sie voneinander trennen. Mit eisernen Ketten banden sie
ihn an die Vergangenheit, von der er sich sehnlichst wünschte, sie möge sich
lösen und ihn in Frieden lassen. Er war besinnungslos vor Wut und er hasste
der seine Frau und seine Tochter, bestimmt aber die Töchter und Frauen
anderer Männer aus dem Haufen von klebrigen Toten zog und sie denen
Henry hatte die Geschichte von Mordechaj aufmerksam gehört. Fast kam er
sich so ein wenig vor, wie der unglückliche Mordechaj, der sich ertappt und
„Wir tranken noch eine Zeitlang zusammen, erzählten uns Geschichten über
die alte Heimat, seine in diesem Kaff, dessen Namen ich vergessen habe,
und ich über meine Heimat, Berlin, die John nie gesehen hatte. Schließlich
wollte ich gehen. Beim Abschied tauschten wir, vielleicht war es aus
Höflichkeit, Adressen aus. Ich nahm an, dass dies nur aus Höflichkeit
geschehen sein konnte, denn John mochte mich bestimmt so wenig wie ich
ihn. Eine förmliche Galanterie, die dem leichten Anheben des Hutes beim
Hollaender hatte John schnell wieder vergessen. Er gedachte ihm nie wieder
zu begegnen. Die Welt ist groß und weit. Alle Verbrechen und Verbrecher
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finden Platz. Ein kleiner Tümpel ist sie jedoch für diejenigen, die fliehen
mussten. Wie die Strömung auch wirkt, sie treiben immer aufeinander zu,
ob sie wollen oder nicht. Als würden sie sich finden ohne zu suchen, so
In diesen Tagen des Jahres 1956 oder 1957, es lässt sich nicht mehr exakt
datieren, rückte John mit einer Geschichte heraus, die Hollaender sehr
Schatz. Scham und Schuldgefühl verboten ihm bis dahin, etwas davon zu
berichten. Zu Hollaender hegte er Vertrauen. Für ihn hob er das Ereignis aus
hindurch. Die Stimme bahnte sich einen Weg durch den fabrikmäßigen
Lärm. Das metallene Kreischen der Ofentüren, die dauernd geöffnet und
wieder geschlossen wurden, das klacken der Räder auf dem Steinboden, das
Zischen des Feuers und laute Schüren der Öfen mit Kohle und Koks
bepackt waren mit Toten, in die Öfen. Die Arbeiter bewegten sich im
geduldigen Rhythmus von Eseln, die tagein, tagaus, das Joch im Nacken,
sich mühsam ins Geschirr stemmend, Wasser aus Tiefbrunnen fördern. Von
weitem konnte man die sich überschlagenden Stimmen der Wärter mit ihren
Stimmen könnte, ja müsste man hören. Der Raum war erfüllt von den
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verschiedenartigsten Lärmarten und Geräuschschnipseln, die sich
noch verstärkte. Metall traf klingend auf Metall, stumpf auf Holz,
Dampf aus einem geborstenen Ventil entwich. Geräusche aus einer Fabrik.
ausmachte, entdeckte er, dass sie Marcel Stern gehörte. Er kannte Stern, es
war ein Nachbarsjunge. Als Stern am frühen Morgen beim Appell vergessen
hatte, seine Mütze auf den Kopf zu setzen, und sie stattdessen in Händen
hielt, zog dieses Vergehen schlimme Folgen nach sich. Er wurde von
Helfern aus der Reihe gezerrt und schwere Schläge und Tritte verwandelten
ihn in einen blutigen Klumpen. Zwei Häftlinge hoben ihn auf, und waren
ihn auf eine Karre. Später wurde er zur Backsteinhaus gefahren. Stern war
nicht saß, nicht lag, er klemmte schief zwischen einer Metallkiste und einem
Fass, sich krampfhaft mit den Armen abstützend und wimmerte. Mit
auf dass kein Aufseher ihn bemerkte, und näherte sich mit wenigen
„Was ist hier los“, schrie er. Stern wollte dem Wächter gerade berichten,
was passiert war. Er hatte seinen Satz noch nicht beendet, das stieß ihm der
Wärter den Gewehrkolben mit großer Wucht auf den Brustkorb, der in
lautem Krachen zerbrach. Der Kolben hatte ein flache Delle verursacht, an
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Kontrolle verloren. Er zuckte und er lebte. Er kippte leicht zur Seite, da traf
ihn ein zweiter Schlag an den Kopf, aber er lebte immer noch. „Schaff das
weg“, befahl der Wärter Mordechaj. Er zerrte den leblosen Körper zur Seite
und erhielt einen Tritt. „Dort hinein“, schrie der Wärter und deutete auf
einen Ofen, der gerade geöffnet war. Er tat wie ihm befohlen. Er packte den
Zusammen legten sie ihn auf die eben leer gewordene Bahre und schoben
den noch lebendigen Marcel Stern in die Flammen. Mordechaj vernahm ein
leises Zischen, wie Stroh, wenn es verbrennt, als Sterns Haare von kleinen,
geschultert hatte. Mordechaj würgte. Es dauerte nicht lange, bis er den Fraß
Wassereimer über die saure Suppe aus Mordechajs Magen, wischte kurz mit
Spät in der Nacht war die Schicht für Mordechaj und seine Kameraden
zuende. Sie stapften müde die Treppen hinauf zu ihrer Unterkunft. Es gab zu
Nummer. IV. Ihre Wohnräume befanden sich über den Öfen. So lag er nun
sich kaum noch an die Farben der Blumen und der Wiese und an den
saftigen Geruch der Wiese erinnern kann. In seinem Wachtraum lag er auf
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der Wiese, wie jetzt auf dem Strohsack, und blickte zu einem blauen
vernagelt mit braunen Brettern. Der Blick stieß an die braunen Bretter. Es
gab niemanden, dem er das hätte erzählen können. Sein Herz zog sich
zusammen. Er versuchte zu beten, aber er war ungeübt und das wenige, das
nun von tiefgläubigen Menschen kamen oder von einem wie Mordechaj.
Sein Beten glich eher einem Fluchen. Wie oft flehte und fluchte er, wo,
wenn nicht hier und jetzt, müssen Wunder geschehen. Es geschah kein
Wunder. In der Schule lernte Mordechaj einmal, dass das Wesen der
Fortpflanzung das Leben kennzeichnet, dass die bunten Blüten alleine zum
ausgebildet waren. Alles dient der Erhaltung der Art und somit dem Leben.
Unter ihm, nur ein Stockwerk tiefer, zwanzig Zentimeter Beton trennten ihn
Der Bahlui ist ein kleiner Fluss. Am Unterlauf des Flusses liegt inmitten
(Iasi). Die Häuser, Kirchen und Fabrikgebäude schmiegen in das Knie, das
Stern und Gebirtig lebten dort ein unbeschwertes Kinderleben. Die beiden
Jungen kannten sich von der Schule. Die Straße war damals voller Kinder,
sie spielten ausgelassen und rauften, stritten und vertrugen sich. Die Wege
von Mordechaj und Marcel trennten sich früh, als der begabtere der beiden,
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eingenommen hatten, kam es zu entsetzlichen Pogromen. Im Sommer
beobachtete Marcel Stern den Mord an vier jungen Männern aus seiner
Eichen, vergaß er die Zeit und träumte in den Tag hinein. Als er plötzlich
eine Grube zu Graben. Die Soldaten lachten. Es kam Marcel so vor, dass sie
betrunken seien. Immer wieder stießen sie die armen Kerle an und befahlen
ihnen schneller zu arbeiten. Später rannte er wie von Sinnen nach Hause.
Schilderungen; die Freunde nicht, und auch nicht die frommen Alten. Ihre
Phantasie reichte nicht aus, sich eine solche Tat vorstellen können, sie
schüttelten die Köpfe und tuschelten, dass Marcel, der Sohn von Abraham
Stern, verrückt geworden sei. Marcel war aber nicht verrückt geworden. Er
schrieb in einer kleinen Kladde, die er fortan immer am Leib trug, das auf,
was er mit eigenen Augen gesehen hatte. Auch in den folgenden Tagen ließ
Die Umtriebigkeit und die Aufregung, die der Junge mit seinem
nicht verborgen. Einige Tage nach dem Mord an den vier Männern drangen
sie polternd in das Haus der Familie Stern ein und nahmen den Jungen mit.
Das Flehen um Gnade für ihren Sohn quittierten die Männer mit Schüssen in
die Zimmerdecke. „Das nächste mal treffen die Kugeln euch“, brüllte der
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Anführer. Marcels Büchlein fanden sie nicht. Auf der Polizeiwache
schlugen sie ihm die Zähne aus und die Augen blau. Sie fragten ihn gar
nicht, ob und was er gesehen habe. Marcel befand, dass trotz der Bildung,
die sie in ihrer Jugend genossen hatten, bei den Offizieren eine äußerst
Hollaender dachte damals, dass John sich wohl zu Tode gesoffen haben
würde. Was die Deutschen nicht geschafft haben, werden wohl seine
amerikanischen Kumpels erledigt haben. Sie werden ihm das Maul gestopft
haben, dachte Hollaender kalt. Er aber, Alfred Hollaender, blieb John Born
oder Mordechaj Gebirtig in Erinnerung. Er war für ihn wie ein Fenster mit
Blick zurück in das Vaterland, auf die Felder, Wiesen und geschwungenen
Hügel, die zusammen mit dem Flüsschen Bahlui das Paradies bildeten,
vergessen, erreichte mich viele Monate später ein Päckchen mit einem
Begleitschreiben von ihm. So erfuhr ich etwas über sein weiteres Schicksal
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verfolgten. Sein in der Lagerzeit gestählter Selbsterhaltungstrieb, der dem
entkommen, bog in eine mit alten Platanen bestandene Nebenstraße ein und
wollte sich hinter einem der Bäume verstecken. Die Schläger holten ihn ein,
zerrten ihn hinter seinem Versteck hervor und verpassten ihm ohne zu
auf den Kopf zu fallen. Es gelang ihm aber nicht die schweren Tritte und
Schläge, die auf seinem ganzen Körper nieder gingen, abzuwehren. Nach
endlos scheinender Zeit, in Wirklichkeit dauerte der Angriff nur drei oder
vier Minuten, war alles vorbei. Die Burschen rannten weg. Gebirtig blieb
noch geraume Zeit auf dem Gehweg halb auf der Seite liegen. Seine Wange
spürte das kühle Straßenpflaster. Die Wunden brannten, als hätte jemand
Salz in sie eingerieben. Nach einer Weile, ihm kam es so vor, als hätte er
eine ganze Nacht auf der Straße gelegen, kam ein versprengter Zecher
herbei, der ihm wieder auf die Beine half und ihn in das Bezirkskrankenhaus
begleitete.
„Sollen wir nicht doch besser zur Polizei gehen“, fragte der Mann am
wollte nicht. Er wehrte ab, bedankte sich und schleppte sich ins Hospital.
Hollaender.
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John hatte beschlossen, Lynchburg zu verlassen. Er kündigte sein
Zimmerchen, das er bei einem Lehrer gemietet hatte, der darüber sehr
Immer wieder näherte sich der Lehrer schüchtern und sehr höflich dem
Handwerker aus Osteuropa, der aber seine Avancen schroff zurück wies.
Gebirtig wollte nach Süden. Ein Ziel hatte er nicht. Der Süden sollte es sein,
Geld zurücklegen können. Es war ihm klar, dass sein Grabstein nicht in
Lynchburg stehen würde. Diese Stadt bedeutete ihm nichts, sie war eine
Station auf seiner Reise, die ihn irgendwo hin führen würde.
Um nicht schon alleine für die Fahrt durch den Kontinent seine gesamte
Landstreicher an, die in jenen Jahren Güterzüge kaperten, und illegal und
fuhren. Im Frühjahr 1960 erreichte John Born, oder Mordechaj Gebirtig den
südlichsten Punkt der Vereinigten Staaten von Amerika. Aber auch dort war
ihm kein Glück beschieden, schrieb er Hollaender. Er fand für kurze Zeit
eine Arbeit im Hafen, soff und prügelte sich durch die Spelunken, bis ihm
eines Tages jemand von Unruhen auf Kuba erzählte. Er hörte öfters die
Worte Revolution und Aufstand. Ohne auch nur einen Gedanken an Zweifel
sich stark, hatte noch einige Dollar in der Tasche, ein kleines Vermögen. In
Über eine holprige Piste führte Gebirtigs Weg durch die ausgedehnte
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verlassen, nachdem ihm ein alter Barkeeper den Tipp mit Matanzas gab.
Dort, so erzählte er ihm, könne er viel billiger als in Havanna einen Wagen
kaufen. Er bestieg einen fensterlosen Überlandbus, der unter der Last der
Die rote Tonerde des Landes speichert das Regenwasser, so dass auch in der
heißesten Jahreszeit die Pflanzen saftig grün leuchten und nicht verdorren.
zufrieden auf der hölzernen Sitzbank des Busses zurück, paffte genüsslich
eine Zigarre, die es überall zu kaufen gab, an jeder Straßenecke. Es kam ihm
vor, als besäße jeder Kubaner eine Tabakplantage. Campesinos kehrten von
der Feldarbeit zurück und winken den Reisenden. Später passierte der Bus
verrottete Ölfelder. Es stank nach Schwefel wie in der Hölle, die Luft klebte,
sie war schwer und lastete auf den Lungen. Alte Pumpen und
zu skurrilen Skeletten. „Gleich sind wir da, meine Herrschaften“, brüllte der
Busfahrer nach hinten und hat Mühe, den Motorenlärm zu übertönen. Einige
sprang mit einem Satz aus dem Bus und half beim Entladen des Gepäcks.
Noch steif vom langen Sitzen schaute sich Gebirtig um, und sah sich mitten
sich über den bunten Zauber und die kolonialen Häuser, die aneinander
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gelehnt wie besoffene Seeleute aus dem heißen Sand ragten. Er hielt sich
nicht lange mit Staunen auf, immerhin hatte er ein Verabredung. Orlando
nannte sich der Mann. Er gab vor aus der Armee Batistas desertiert zu sein.
Nun sei er glühender Anhänger der Revolution. „Es lebe die Revolution,
zeigte Gebirtig ein kleines, mit Wellblech gedecktes Geschäft, das von drei
Seiten offen war. Hinter der Theke lungerte eine junge Schwarze, deren
Haar steif im Wind stand. „Warten sie dort“, befahl Orlando. Stunde um
Stunde wartete Gebirtig und als er sich schon damit abgefunden hatte, der
Kerl hätte in einfach stehen lassen, vergessen, rollte hupend ein riesiger
amerikanischer Wagen heran. Orlando winkte ihn herbei:“ Das ist ihr Taxi.
er sich sicher und am Ziel fühlte, an einem Ziel, das er gleichwohl nie
heiratete eine Mulattin mit Haut wie Ebenholz und zeugte zwei Kinder. „Ich
Alfred Hollaender. Der Stolz über seine Lebensleistung, sein Sieg über
Schicksal und Irrwitz sickerte förmlich aus den Zeilen, die er Hollaender
schrieb. Im Irrwitz wohnt nur insofern ein Sinn, als man sich nicht mit ihm
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Henry hatte das Gefühl, als beobachtete ihn der Alte. Der aber schien ganz
der freundliche Herr, als der er sich bisher immer gezeigt hatte.
nach zu spüren. Aber den Alten umgab eine Festung, die nichts
Verdacht, den er jedoch nicht belegen konnte. Denn oft dachte er, der Alte
wolle ihn fertig machen, ihn zerstören, nicht ruhen, bis er endlich am Boden
Stockhiebe. Henry fühlte sich schwach und anfällig. Seine Abwehr war
nicht auch die Rachegelüste und die Eifersucht des Alten. Er hatte keine
Henry schaute den Alten an, öffnete einen zweiten Knopf am Kragen, ihm
gegenüber und Henry sah, dass sein Freund (er ließ sich nicht davon
Henry verschloss für die Dauer eines kurzen Atemzuges seine Augen.
Plötzlich löste sich der Alte in seine Bestandteile auf. Millionen und
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Abermillionen einzellige Hollaenders zerstoben wie nach einer Explosion
purzelten munter durcheinander. Das Öffnen der Augen war wie der Sprung
vom Karussell. Er wähnte sich in Sicherheit mit festem Boden unter den
Füßen.
Ihm war, als widersprächen sich Hollaenders Augen und Mund. Während
der Mund stets ein feines Lächeln aufwies, absichtsfrei, undefinierbar, wie
unter buschigen Augenbraun. Seine Augen waren zwei dunkle Tunnel, die
nichts freigaben, als ein kleines Feuer am Ende tiefer Höhlen, die in seinen
Kopf gegraben waren. Diese Feuer strahlten vor glühendem Eifer. Es war
ein Feuer, das ohne Holz, Kohle und Sauerstoff loderte. Es war das Feuer
Hollaender entschied, dass der richtige Zeitpunkt gekommen sei, ihm von
Marcel Stern, der ein so fürchterliches Ende gefunden hatte, entpuppte sich
im Nachhinein als findiger Kerl; gerettet hat ihn das jedoch nicht. Er hatte
hatte sich vorgestellt, wie der schmächtige Marcel Stern mit seinem
Büchlein, das er fest umklammert in seinen Händen barg, vor den schwarz
gekleideten Rittern der Hölle steht und ihnen seine Freiheit und die Freiheit
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seines Volkes abpressen würde. Daran dachte er, als er anhob, Henry die
Geschichte zu erzählen.
Stern lag bereits auf der Bahre, obenauf, als einziger lebendig, da hob er
zum Schrecken von Gebirtig mit letzter Anstrengung den Kopf und flüsterte
Mir hat es nicht geholfen, dir wird es vielleicht helfen. Es ist ein kleines
Buch, das ich in unserer Baracke vergraben habe, unter meinem Platz...“,
weiter kam er nicht mehr, denn sein Mund füllte sich mit Blut. Das
Verbrechen, dessen Zeuge er wurde, und das er notierte, wurde ihm zum
Verhängnis. Aber das Buch hatte noch keiner gefunden. Stern erfand einen
Vorwand, dass ihn die anderen von der mittleren Pritsche nach unten
umziehen ließen. So hatte er freien Zugriff auf den gestampften Boden. Seit
wenn er den Inhalt an richtiger Stelle vortrug und die Bestialität der
Besatzer anzeigte. Diese würden schließlich angeklagt, der ganze Spuk hätte
ein Ende.
Unter seinem neuen Lager grub er eine Mulde, in die das Büchlein genau
hinein passte. Die anderen beobachteten ihn, wie er schrieb und malte.
„Mir gefror das Blut in den Adern, als ich von dem Verbrechen las, das
ihr Grab geschaufelt hatten“, fuhr er fort, „verbanden ihnen die Soldaten die
Augen, fesselten ihre Arme auf dem Rücken und ließen sie vor dem Loch
knien. Mit einem Kanister in der Hand stieß ein weiterer Soldat zu der Stelle
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in der Lichtung dazu. Er übergoss die Gefangenen mit Benzin, die Männer
schüttelten sich. Der Anführer des Trupps schnippte seine Zigarette auf die
die Männer die lichterloh Brennenden in das Loch, sie fielen übereinander
und wanden sich unter den Flammen. Eine Zeit lang betrachteten die
Soldaten die Gequälten, bis schließlich der Befehl erging, ihnen den
Gnadenschuss zu geben“.
Henry Lantz gefiel es schon lange nicht mehr in seiner Absteige. Die
pissenden Freier im Hof, die ihre Abscheu den Dirnen gegenüber nicht
selten dadurch zum Ausdruck brachten, dass sie, anstatt die Toiletten im
Haus, die es sehr wohl auch in dem schäbigen Puff gab, zu benutzen, in den
Hof urinierten. Das Plätschern gesellte sich zu dem brüllenden Lachen und
schallte hoch hinauf zu den Nutten und zeigte ihnen, was sie ihren Freiern
wert waren. Henry hörte oft das Gesindel im Hof. Sie grölten unflätige
Worte in das enge Hofgeviert. Das Hinterhofecho schickte den Auswurf und
die Demütigungen von Wand zu Wand. Henry hasste es. Die Niedertracht,
hassen gelernt, so wie er die nackte Glühbirne über seinem Bett, die
zuwenig Licht zum Lesen spendete, hasste. Sie bot als gelbliche Funzel und
verdammte Birne, so dachte er oft, verhindert nur, dass man sich statt neben
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das Bett hinein legt. Er verabscheute auch das Etagenbad, diese dreckige,
nicht möglich, denn immer wieder verrichtete irgend jemand seine Notdurft
im Klo nebenan. Überhaupt: die Klos. Sie waren entweder verstopft oder
Es traf sich also ganz gut, dass Henry eines Tages seinem alten Schulfreund
Arno von Reith begegnete. Arnos Wiege stand wie die von Henry in Köln.
Er war der Sohn einer wohlhabenden Familie. Sein Vater arbeitete als
Der junge von Reith konnte sich an einem von materiellen Schwierigkeiten
Kopfbewegung zurück warf, die Mädchen standen auf ihn. Sie mochten sein
lautes Lachen, seine Unbekümmertheit und das Geld, mit dem er um sich
warf. Selten, vielleicht einmal im Jahr, besuchten ihn seine Eltern, wollten
sehen, wie ihr stolzer Nachkomme lebte, was er alles schon erreicht habe.
wie das Leben ihn verwöhnte in der großen Stadt mit Theater und Varieté
und ob er sein Herz vielleicht schon an eine hübsche junge Frau aus gutem
Hause verloren habe. Kurzum: Sie mochten am Erfolg ihres Sohnes, den sie,
„Vater wartet auf dich in der Kanzlei“, pflegte Arnos Mutter immer zu
sagen, und hatte dabei ganz präzise Vorstellungen. Arno sollte seinem Vater
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Lange im Voraus kündigten seine Eltern ihre Besuche an, so dass Arno
ausreichend Zeit hatte, die Spuren seines ganz und gar nicht standesgemäß
Bohemiens, ohne ein Bohemien zu sein. Ihm war weder an bildender Kunst,
Nutten und deren Entourage. Nicht die Nächstenliebe trieb den Studenten
der Jurisprudenz in die Nähe der Menschen, die die Kälte des Asphalts
kennen. Es war die reine Gier nach Körperlichkeit und das Streben, über
diese Menschen triumphieren zu können. Für Arno von Reith bestand ein
Gefühl die Mädchen zu greifen, wann immer er Lust dazu verspürte. Macht
über andere Menschenerlangen, das war es, was er wollte. Große Brüste sah
er als sein Eigentum, wenn er sie umfasste mit seinen weichen Händen,
dann gehörten sie ihm. Nicht selten verursachte er mit Absicht Schmerzen.
Die Geschlechtsteile waren ihm Schleusen, die ihn in die Welt gefühlloser
Wollust abließen, in der er ohne Reue wüten konnte. Die Nutten nutzten ihn,
und er nutzte die Nutten. So war es. Der blonde, schöne, talentierte Arno
Die Zeit rückte näher, dass er alles satt hatte Er zögerte keine Sekunde eine
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können. Die Entscheidung lautete: Die ganze Mischpoke fliegt raus! Ihm
war klar geworden, dass er sich zu weit von den glänzenden Fassaden seines
Nun gut, dachte er bei sich, „ich hätte auch in die schlagende Verbindung
Germania eintreten, um mich halb oder ganz zu Tode zu saufen und mir von
versammelt, die er nicht mehr mochte, weil sie ihn langweilte. Er befand
sich mit den Gästen aus der Unterwelt moralisch auf einer Stufe, war ebenso
frei von Skrupeln, aber sein Geist bestach durch analytische Schärfe, was
Lüsternheit, mit er sich in all den Monaten besudelte, erdrückte ihn nicht,
förderte keine Scham hervor, aber sie erlosch. Die Langeweile war ein
Er sorgte dafür, dass der Hinweis eines Anonymus die Polizei alarmierte,
die für den feinen Arno von Reith die Wohnung vom Abschaum reinigte.
Die meisten hatten etwas auf dem Kerbholz, manche wurden sogar mit
Haftbefehl gesucht. Er, Arno von Reith hatte sich noch nicht einmal die
„Wir haben uns aber schon lange nicht mehr gesehen. Ich glaube seit den
Lantz.
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„Ja“, sagte Henry. „Und ich wusste gar nicht, dass du in Berlin lebst“. Sie
umarmten herzlich sich und klopften sich gegenseitig auf den Rücken.
„Ich lade dich ein zu einem Kaffee, hast du Zeit?“, fragte Arno.
„Gerne“, lachte Henry, der sofort, als er den Schulfreund sah, an mögliche
Nachdruck zu verleihen. Charmant lud Arno seinen Freund ein, bei ihm zu
geschuldet. Er hatte schon früh gelernt, dass eine kleine Gabe hier und eine
Spende dort nützliche Bekanntschaften festigen und sie über die tiefen
Gräben, die die Zeit wie ein Fluss ins Gestein schleift, hinüber retten kann.
„Ich habe meine Wohnung renovieren lassen. Der alte Dreck ist fort
geschafft. Die Wände sind geweißt und für dich, lieber Henry, steht immer
„Was treibst du hier in der Stadt“, fragte Arno den Freund aus Jugendtagen.
zögernd.
„Ich hasse das Wort ‚eigentlich’. Es bedeutet eigentlich gar nichts, außer,
wenn man ‚eigentlich’ sagt, man eigentlich etwas ganz anderes will, oder?
‚Eigentlich’ ist das Synonym für ‚ich weiß es nicht, ich kann es nicht, ich
„Ja, du hast Recht. Ich weiß es wirklich nicht. Eigentlich will ich
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„Nun aber im Ernst“, fasste sich Henry. „Ich schreibe. Was es wird, weiß
ich noch nicht. Ich arbeite an einen Band mit Erzählungen, die das Leben in
der Stadt schildern. Ich habe eine kleine Erbschaft gemacht, davon lebe ich,
Männer fanden ein Restaurant, um etwas zu essen. Sie redeten von früher,
von den Zeiten in der Schule, von den glanzvollen Taten ihrer Primanerzeit.
gesagt. Die Freunde lachten und scherzten den ganzen Abend bis in die
Nacht. Henrys Stimme überschlug sich, sie war schrill und heiser geworden,
als er von Helen erzählte und dass er nun die Trennung beschlossen hatte.
Sie tranken und schwatzen die ganze Nacht hindurch bis ins Morgengrauen.
Henry war so gelöst wie lange nicht mehr. Ihm war plötzlich so, als könnte
nichts sein Gemüt beschweren. Je mehr er trank, desto heller wurde seine
dem ausladenden Hintern, die in einem tiefen Sessel eingesunken vor sich
hin dämmerte, die ganze Welt und auch Hollaender. Er nahm sich vor,
Arno zu ziehen. Sein Herz hüpfte vor Freude. Henry träumte davon, endlich
Zeitungen aus den Händen reißen würden, ja, stöhnte und schwärmte er,
dies alles kann ich jetzt schaffen. Noch ohne sein neues Zimmer gesehen zu
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haben, hatte er es bereits eingerichtet. Am Fenster sollte der Schreibtisch
stehen, nicht weit daneben, das Bücherregal, eine kleine Sitzgruppe für die
Alfred Hollaender lag lange wach in seinem Bett. Mehrmalig nahm ein
schwerer Schlaf ihm die Besinnung und drückte seinen Greisenkörper auf
die Matratze. Dann erwachte er wieder. Unter seinem Fenster hatte jemand
Lichtgemälde an die Zimmerdecke. Nun war er 3851 Wochen alt, dachte er.
übergehen, die Tage zu zählen, dann die Stunden, schließlich Minuten und
Sekunden.
wusste er. Er machte sich nichts vor. Aber so einfach aufhören nach allen
Geschehnissen wollte er auch wieder nicht. Jeder Tag bedeutete einen neuen
Triumph über seine Peiniger und einen Sieg über die Gebrechlichkeiten des
Alters. „Zwei mal Genugtuung jeden Tag, na, wenn das nichts ist“. Er
kicherte verstohlen ins Dunkel. „Was bin ich doch ein verwegener Kerl“.
Langsam erhob er sich aus seinen Kissen, ertastete seine Brille auf dem
Nachttisch, schlüpfte in die Hausschuhe und stand auf. Vor dem Fenster sah
er die unruhig schlafende Stadt mit den sonderbaren Klängen, die nur bei
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und da huschte eine dunkle Menschengestalt über die Straße. Vielleicht war
es der Bäcker, der zur Arbeit in die warme Backstube eilt. Vielleicht ein
junger Freier, der nach dem Schäferstündchen das Weite suchte. Oder ein
von seinem Gesicht auf die Scheibe. Eine riesige, blau-schwarze Wolke
schob sich vor den fast vollen Mond. Auf dem Erdbegleiter entdeckte er
dunklen Stellen, die Täler und Berge markieren. Elf Kilometer hoch soll die
höchste Erhebung auf dem Trabanten sein. Auf der Rückseite des Mondes
herrscht eine Temperatur von Minus 153 Grad Celsius. Es war, als ob eine
große Macht die Wolke zog. Sie glitt gleichförmig, wie auf Schienen,
langsam vor den hellen Mond, dessen silbernes Strahlen mehr und mehr
Hollaender warf seinen Kopf noch weiter ins Genick, um möglichst den
ganzen Himmel zu sehen mit den funkelnden Sternen, Lichtjahre weg von
dem Schmerz, der Wut , dem Hunger und der Trauer und Kälte auf der Erde.
den Himmel schauen und warten, bis die Kälte von unten herauf den ganzen
vorüber als er plötzlich einen kräftigen Tritt in seinen Hintern spürte. Der
Tritt war so heftig, dass seine Wirbelsäule bis hoch in den Nacken gestaucht
wurde und seine schmutzige Kappe ihm von seinem knöchernen, kahlen
Kopf ins Gesicht rutschte. Erschrocken schob er mit der linken Hand die
Mütze aus den Augen und mit der anderen hielt er sich sein schmerzendes
Hinterteil. Da traf ihn auch schon der zweite Schlag; noch viel heftiger.
Dieser erwischte ihn auf der Nase, die laut krachend zersplitterte. Der
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Schlag hatte ihm nicht nur die Nase demoliert, aus einer länglichen
Platzwunde, die der Lauf des Gewehres verursacht hatte, rann das Blut in
seinen Mund. Mit weit aufgerissenen Augen drehte er sich um und blickte in
die gleichgültigen Augen des Wärters, der einfach weiter ging neben den
torkelnden Gestalten, die eher tot als lebendig waren. Er bewachte die
Gedränge und die Verwirrung nach den Schlägen. Er taumelte. Nur nicht
stürzen, dachte er. Nun aber träumte er nicht mehr vom Erfrieren, vom
gütigen Schoß. Das Feuer des Hasses brannte wieder und wütete in seinem
ausgeruht. Einige Augenblicke lang dehnte sich für ihn die Zeit und er
konnte aus dem unendlichen Meer der Ruhe schöpfen. Der Wärter hatte ihm
gleichförmigen Trott erfieren zuerst die Füße. Der eisige Tod ergreift die
Beine, bis er schließlich das Herz zum Stillstand zwingt. In der Karawane
der Verlorenen sprach niemand. Unter den Füßen war nur das Knirschen des
verharschten Schnees zu hören. Die Menschen stöhnten unter der Last ihres
nahmen kaum mehr wahr, wie sich allmählich die Landschaft veränderte,
wie die endlosen, weiten Tiefebenen immer mehr parzelliert wurden durch
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Weiler und versprengten Siedlungen mit niedrigen Gehöften, Feldern,
Hollaender. Sie fielen einfach um. Aus den Gewehrläufen zuckten kleine
strauchelten und konnten sich nur unter größten Qualen auf den Beinen
halten. Die Überlebenden, die noch nicht Erschossenen, versuchten sich mit
großen Kräften die Toten vom Leibe zu schaffen, schoben sie von sich und
vollendeten die Arbeit der Mörder, indem sie die Unglücklichen aus der
waren oder nicht, man war tot, wenn man als tot angesehen wurde.
Diejenigen, die in der Mitte der Todeskarawane gingen, waren von den
dass die Knie einknickten, halfen die Menschen links und rechts daneben
dem Ärmsten manchmal wieder auf die Beine. Diejenigen aber, die am
Rande gingen und vor Hunger und Müdigkeit aus der Reihe kippten, wurden
säumte den Wegesrand und markierte die Spur für die Befreier. Der Mond
noch die Sterne, noch die Kleinbauern in ihren Katen, noch die Pappeln oder
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Gott hatten Mitleid mit den Unglücklichen. Diese Leute hat man
am Hintern, dort, wo die Kacke angefroren war und in den wunden Stellen
Hollaender und sein Kamerad Paul Gertz, der vor Jahrhunderten ebenso wie
überlegt. Beide Männer ließen sich immer langsamer werdend bis ans Ende
des hinter den Horizont reichenden Zuges zurückfallen. Sie fassten sich an
den Händen, um sich nicht zu verlieren und die Körperwärme des einen auf
den anderen zu leiten. Es war ein kleiner Kreislauf von mickriger Wärme
aber ein großer von Menschlichkeit. Die Psychologie der Horrors, des
Undenkbaren hatte sie zu Liebenden gemacht. Ja, sie liebten sich, Alfred
und manchmal murrte einer und stieß krächzend schreckliche Flüche aus.
Langsam und langsam fielen beide immer weiter zurück, durchbrachen die
Fünferreihen ein ums andere Mal, um schließlich ganz ans Ende zu geraten.
Das Ende der Marschkolonne wurde von drei Aufsehern bewacht. Paul und
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wieder. Sie hatten einigermaßen Kräfte gesammelt und machten sich wieder
zurück auf den Weg die Spitze der Kolonne zu erreichen. Dieses langsame
einigen Tagen. Sie schonten also nicht nur ihre Kräfte, sondern sie
Schnees, dem Keuchen der Elenden um sie herum, dem Jammern der Frauen
Prozession von vorn nach hinten und wieder nach vorn widerstehen. Vom
gehalten schienen, die aussahen wie schwarze, dicke Fäden, die in weiten
Paul und Alfred an das normale Leben und an ihren Hass. Krumme Zäune
sollten die Häuser schützen. Aber sie verhinderten bloß, dass das Federvieh
davon flatterte. Die Zäune schützten vor nichts, nicht vor dem Krieg, nicht
Manchmal glaubten Paul und Alfred hinter den matt gelb erleuchteten
sitzenden Mützen auf dem Kopf und Kinder mit Spielzeug und dämlichen
„Menschen, die in der warmen Stube am Ofen sitzen, sich mit Brot und
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Wurst die Bäuche füllen, um satt und zufrieden ins Federbett zu sinken. Da,
sieh nur, sie glotzen uns an“. Alfred Hollaender betrachtete seinen Freund
sehr genau. Paul war zäh und stark geblieben. Das sollte was heißen, in
einer Zeit, als ein Menschenleben nicht mehr wog als das einer Ratte. Paul
hatte das Zeug zum Überleben, in ihm loderte ein Wille, der bis über die
Die Dämmerung färbte die kein Ende nehmende Straße und tauchte sie in
Hoffnung und ein Fünkchen Hass in seinem Herzen, welches ihn befähigte,
dem neuen Tag mit einem schmalen Strich Tatkraft entgegen zu sehen. An
blinzelte zwischen den Mützen der Sträflinge hindurch Richtung Osten und
schon Hoffnung. Ist die Hoffnung nicht einfach nur ein Zustand hilflosen
Treibens in einem uferlosen Meer? Hollaender hoffte immer nur von einer
einen ganz allmählich kleiner werdenden Schatten wahr nahm. Wie immer
hatte er sich etwa in der Mitte des Zuges aufgehalten. Nur dem Zufall oder
vielleicht einer Eingebung war es gedankt, dass er ohne Grund seinen Blick
aus den Gedanken hob und nach links schaute, noch nicht einmal den Kopf
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drehend, nur die Augen rollte er ein wenig, und diesen Schatten sah. Es war
die graue Silhouette eines Mannes in der Nacht, der aus dem Zug der
Elenden heraus trieb, wie ein Brett im Strom von Treibholz, das von einer
Freund und Freude an dessen Mut vermischten sich, sein Blut wallte.
Immer noch wankte er, rang mit sich: sollte er es dem Freunde gleich tun.
Mörder und Verbrecher, die sie bewachten. Er fasste seinen letzten Mut,
als er im Lichte erwachender Gedanken kühl bemaß, dass dort, wohin der
Zug getrieben wird, nichts anderes wartete als der sichere Tod. Die Flucht,
vom Zug. Er blickte nicht zurück. Die Angst wich mit den Schritten, die er
zwischen sich und dem kleiner werdenden, schwarzen Zug brachte. Schon
war er euphorisch, wollte den Freund anrufen, ihn anflehen zu warten, ließ
es aber sein. Er schwitzte. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn, rann
seine Achseln hinab. Bald sollte er Gertz eingeholt haben. Der Zug
entfernte sich, und Hollaender schien es, als würde er immer schneller. Die
Häftlinge verschmolzen in der Ferne mit der Nacht. Ein Traum. Nichts war
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vom Zug des Todes abgesprungen waren. Die Angst vor den Schüssen ihrer
Häscher wich und machte der kriechenden Kälte Platz. Sie erwarteten den
Tod. Sie wussten nicht, was die neue Freiheit und das Leben, das nun sich
anschickte von neuem zu beginnen, für sie bereit hielt. Sie waren verloren
Schnee und frostiger Kälte. Sie kämpften sich Meter und Meter voran, in
welcher Richtung, das wussten sie nicht. Vielleicht liefen sie seit Stunden
im Kreise und stießen bald wieder auf die Marschkolonne und ihre Jägern,
die sie dann einfach nur noch abzuknallen brauchten, das dachte
Hollaender. So stolperten sie weiter über Steinbrocken und Äste, fielen ein
ums andere mal in den Schnee, knickten ein in die Unebenheiten des
Rinnsalen. Ein Reh erschreckte sie fast zu Tode, als es ein Ästlein knackend
zerbrach. Das Echo hallte im kahlen Winterwald, bis sich das Tier wieder
im Wald verlor. Ein Vogel stieg, laut mit den Flügeln schlagend, von den
Sie waren zu erschöpft und was sollten sie auch sagen. Sie lauschten
erreichten sie eine Lichtung. Die Wolkendecke riss auf und der fahle
Schimmer des Mondes überschüttete die hellen Birken. Es war, als hätte
Gott ein Einsehen mit seinen durchfrorenen, hungrigen Geschöpfen, die der
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Flüchtenden auch von Zweifeln geplagt wurden, die an ihnen nagten wie
Baumwurzeln und stießen leises Jammern aus. Der Hunger peinigte sie
Buchnüsse und bittere Wurzeln, die sie aus der Erde gegraben hatten, ihre
Nahrung gewesen. Nun wussten sie nicht, was schlimmer war: Hunger oder
der Frost.
geworden, die einzig dem Trieb gehorchten. Dem Trieb nicht zu sterben.
Dem Trieb, den Hass am Leben zu erhalten, um sich an all jenen zu rächen,
die das Inferno entzündet hatten. Dem Trieb, endlich wieder was in den
Magen zu bekommen.
Gertz und Hollaender erlaubten sich eine Pause und ließen sich einfach in
den Schnee fallen. „Jetzt einfach liegen bleiben und ruhig zu schlafen“,
“ Nein. Nein!! Wenn wir hier liegen bleiben, erleben wir den Tag nicht
mehr. Wir haben es bald geschafft, das spüre ich, ich weiß es“. Sie rafften
sich mühsam wieder auf ihre schwachen Beine, sie erstrahlten beim
Anblick des unschuldigen Scheins des Morgens. Der Nebel trat aus tausend
Quellen, waberte mal hoch bis fast in die Baumkronen, mal tief bei den
Gräsern, suchte seinen Weg zu einem Bachlauf in der Schlucht, die die
Männer eben überquert hatten, bis ihn die fröhliche Sonne ungnädig
vertrieb.
Auch die hohen Wolken verzogen sich allmählich und gaben den Blick frei
auf das glückliche Violett des jungen Tages, das sich am Himmel breit
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machte und dem Morgen den Weg ebnete. Hollaender und Gertz fühlten
sich in der Gegenwart angekommen. Die Gegenwart hatte jedoch nichts als
beißende Kälte und Hunger für sie. Auf den lauen Hauch der Hoffnung
gegenseitig. Sie hatten keinen Wunsch außer dem, nicht doch noch eine
Kugel in den Leib zu bekommen. Der Schnee blieb weiß. Kein Blut färbte
ihn. Sie gingen und gingen und die glückliche Gewissheit wuchs trotz aller
Es war etwa Sieben Uhr in der Früh, als die Fliehenden den Waldrand
erreichten und eine frische Spur im Schnee entdeckten. Sie ließ auf einen
Weg schließen, der unter der Schneedecke verborgen war und den nur die
Sie stapften hinterher. Die Sonne stand niedrig am Horizont und goss ihr
Helligkeit drang durch das dürre Geäst bis tief in den Wald. Hollaender und
Gertz folgten der Schneespur wie der Neigung eines leicht abschüssigen
Mosaiksteinchen glichen und kein deutliches Bild ergaben, weder von dem,
was geschehen war, noch von dem, was sein wird. Sie zogen flüchtig und
leise vorüber wie die Schleierwolken, die das Blau des Himmels filterten.
Stelle auch nicht“, fiel es aus Gertz heraus wie Erbrochenes. Hollaender
Kameraden, erschrak, dachte daran, dass er genauso aussah wie der Freund
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und sagte schließlich lakonisch: „Im Winter gibt es keine Singvögel. Im
Übrigen habe ich Hunger“. Sie trotteten weiter, das Wetter verschlechterte
sich, Nebel zog auf, der sich in dicken Matten herab senkte. Die Sonne
klebte faul am Himmel, sie war nur zu erahnen. Das Ende des Waldes war
erreicht. Eine zeitlang wanderten die Freunde am Waldrand entlang, als sie
in der Ferne, schwach vom Tageslicht erleuchtet, ein flaches Gebäude aus
dünnen, hellbraunen Fahnen Rauch empor, der sich mit dem Nebel mischte.
Ihre Freude war so groß, dass sie sich innig umarmten und im Schnee
tanzten, den Pfad schnell verließen und ungestüm quer über das Feld zu
dem Häuschen liefen. Gertz, der schneller war als Hollaender, brach in
Kameraden aus der misslichen Lage, beide purzelten in den Schnee und
lachten wie Kinder. Aus etwa hundert Metern Entfernung bemerkten sie,
dass es sich bei dem Häuschen um einen Teil eines Gehöftes handelte.
Rechts neben dem Wohnhaus lehnte ein stabiler Schuppen, fest gemauert
und mit Dachziegeln gedeckt. Gegenüber befand sich ein drittes Gebäude
mit flach geneigtem Dach. Alle Häuser zusammen bildeten ein Geviert,
dessen Mitte ein Brunnen markierte. Sie bewegten sich vorsichtig auf eines
der Häuser zu. Die erste Euphorie wich der Unschlüssigkeit, die sich
unversehens einstellte, was sollten sie tun? Stinkend und verdreckt wie sie
waren, machten sie es ihren möglichen Gastgebern nicht gerade leicht. Wer
wollte schon zwei entflohene Sträflinge aufnehmen, die aussehen, als hätten
einem Fenster, kratzen Eis und Schnee beiseite und lugten ins Innere. Es
war eine Werkstatt, in der allerdings, das war offensichtlich, schon lange
73
niemand mehr gearbeitet hatte. Staub und dichte Spinnennetze überzogen
Werkzeug und Einrichtung, Gerümpel lag herum. Sie machten kehrt und
Sie waren gerade im Begriff an die Türe zu klopfen, als eine Frau öffnete.
Misstrauisch öffnete ein Frau, die auf den ersten Blick weder jung noch alt
aussah, vorsichtig die Tür. Sie beäugte die beiden Kerle von oben bis unten
mit abschätzendem Blick. Gertz setzte ein Lächeln auf, das eher einem
gar nicht mehr zugetraut, gestand er ein. Nicht ohne Stolz wand er sich kurz
billige Stoff fast zerriss. Natürlich konnte Hollaender kein Polnisch, nur zur
Ton macht die Musik, überlegte er sich, das ist auch in Polen nicht anders,
schmeichelnder Stimme. Plötzlich hob die Frau zu einer wüsten Tirade an.
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Ihre Stimme überschlug sich, sie fuchtelte mit den Armen und bedeutete
nachmittägliche Ruhe. Weit reichte der Schrei nicht, denn der Schnee
schluckte den Schall und schüttete ihn in seinen dicken Teppich. Nun riss
Gertz der Geduldsfaden, er hatte genug von dem Palaver. Er sprang nach
vorn, stieß dabei Hollaender beiseite, packte die Frau und drückte sie in die
Stube. Hollaender griff nicht ein. Eine Weile verharrte er, warf dann die
„Halt dein Maul“, brüllte Gertz in deutschem Befehlston, dabei drohte er ihr
mit der Faust. Sie las in seinem Gesicht, dass mit ihm nicht zu spaßen sei.
Nachdem sich die Frau allmählich beruhigte, ließ Gertz von ihr ab und wies
auf einen Hocker neben dem heißen Ofen, in dem ein knisterndes
Feuerchen loderte. Die Bäuerin gehorchte, ließ sich auf den Schemel
„Verstehen sie deutsch?;“ wollte er wissen. Die Frau schüttelte den Kopf.
“Ha, ein wenig sicher doch, nicht wahr“, freute sich Gertz.
„Wir“, er zeigte mit dem Finger auf sich und seinen Freund, „haben Hunger
und wollen uns nur ein wenig aufwärmen und ausruhen, verstehen sie“,
dabei rieb er mit der flachen Hand seinen Bauch: „Hunger, kalt, capito?“
Die Bauersfrau, die den Männern so merkwürdig ohne Alter vorkam erhob
sich, ging gar nicht plump wie eine Bauersfrau, sondern federnd, zum Tisch
und lupfte den Deckel eines Topfes, der auf einer grob gezimmerten
Anrichte stand. Der Raum füllte sich sogleich an mit dem Wohlgeruch von
Männer den Essensdunst, als sie von einem Hauch Majoran und Kümmel in
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der Nase umschmeichelt wurden. Hollaender verdrehte verzückt die Augen
„Da haben wir aber ins Schwarze getroffen mein lieber Paul“, rief er zu
seinem Freund hinüber. Er nahm der Frau den Deckel aus der Hand und
warf einen gierigen Blick in den Topf. Als wäre nichts geschehen, als hätte
sie an diesem Tag auf die beiden Flüchtlinge mit dem Essen gewartet, so
ging sie nun zu einem Wandschrank, entnahm zwei Teller und hölzerne
Löffel und arrangierte das Geschirr auf dem Tisch. Paul ermahnte seinen
Freund, sich nicht vom nagenden Hunger verleiten zu lassen. „Sonst ist das
deine Henkersmahlzeit, glaub mir. Wir sind das Essen seit langem nicht
mehr gewöhnt. Wenn du zu schnell und zu viel schlingst, zerreißt’s dir das
Gedärm, dann galoppiert die Trommelsucht, und nicht einmal ein Pfund
unterbrach Gertz sie ungerührt. Hollaender stopfte indes, ohne auf den
und hielt nur kurz inne, als ihm die Bäuerin ein Glas mit klarer Flüssigkeit
hinstellte. Noch mit vollem Mund blickte er zu ihr auf, roch kurz an dem
Glas, nickte Gertz zu, „Schnaps“, sagte er strahlend. Er trank das Glas in
zwei Zügen leer, verlangte noch eins und schüttete auch dies mit kräftigen
Schlucken in sich. Er leerte seinen Teller und leckte die Rest auf. Eine
bleischwere Müdigkeit überfiel die beiden Kameraden nach dem Mahl. Sie
ließen sich noch einmal die Gläser füllen, prosteten sich satt, beschwipst
und glücklich zu und kippten auch diese Portion in ihre Mägen auf den
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Wenn vor wenigen Stunden die bewaffneten Schergen ihr einziger Feind
gewesen waren, so gesellte sich jetzt der Schlaf hinzu. Der Schlaf lieferte
sie aus. Wie konnten sie wissen, was die Bauersfrau vorhatte. Vielleicht
rückte bald der Bauer an mit einem Trupp bewaffneter Verstärkung an.
Darüber hatten sie in keiner Minute des Schlemmens nachgedacht. Oder die
Bäuerin. Sie könnte sie im Schlaf erstechen, mit einem der langen Messer,
die in einem Holzklotz griffbereit steckten. Der Schlaf ließ sich nicht
überlisten, auch nicht durch Angst und Vorsicht. Eskortiert von heftigen
Darmwinden, die der Kohl in ihren Mägen entfacht hatte, schliefen sie ein.
Gertz als erster. Er fiel vorn über, und sein Kopf senkte sich in den leeren
Teller. Hollaender bedankte sich etwas umständlich bei der Bäuerin, sie
hervor, dass der Kamerad im Teller schlief, schleppte sich auf die kleine
Bank neben dem Ofen und schloss ebenso schnell die Augen wie sein
Freund, der im Traum von den Häschern gefasst wurde. Hollaender träumte
nicht.
Henry Lantz hatte sich bei seinem Freund recht gut eingelebt. Wenngleich
ein bitterer Beigeschmack verblieb. Er kam aus der Rolle des Gastes, also
desjenigen, der sich zu bedanken hatte, nicht heraus. Die Großzügigkeit und
zu geschehen hatte und was nicht. Er bestimmte die Freunde, die gerne
gesehen waren, und sortierte die aus, die er aus den Augen haben wollte.
zu behandeln, durchschaute Henry nicht. Henry sah von allen Zügen, die
unter der Fuchtel Arnos abfuhren, stets nur die drei großen roten
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Schlussleuchten. Arno war unernst und leichtlebig geblieben auch nach
einer Richtung: seiner eigenen. Nun, tröstete sich Henry, die Richtung
alleine besitze keinen Wert. Erst in Verknüpfung mit einem Ziel gewinnt
Hollaender band sich eine Krawatte um, zog den Knoten fest, zupfte ihn
zurecht, strich sich mit einem Kamm durch sein graues Haar und nickte sich
„Herr Hollaender, sie unterbrachen sich, als sie mit ihrem Freund Gertz bei
„Ja“, sagte Hollaender, „wir waren eingeschlafen. Ich war betrunken und
hundemüde“.
„Was denken sie über den Tod, junger Mann?“ Henry überlegte längere
Zeit an einer Antwort und fragte sich gleichzeitig, was Hollaender mit
Beklommenheit in seiner Stimme. „Der Tod ist so weit weg, ich fühle
nichts, keine Berührung. Ich denke darüber nach. Rational betrachtet wird
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der Tod das Ende sein. Staub zu Staub. Zwischen dem ersten Schrei und der
unendlichen Stille am Ende hebt und senkt sich der Vorhang des
was vorher geschieht und danach, in der großen Stille, ist Geschichte für die
Überlebenden, die sich gerade zwischen erstem Schrei und großer Stille
befinden, auf der Bühne wie im Publikum. Wissen sie Herr Hollaender, wie
eigentlich gar nicht zugetraut. „Nun denn, Junge, erzählen sie mal,“ forderte
er ihn auf.
„Mein Vater nahm mich früher manchmal an Sonntagen mit ins Museum,
die Kunst des 16. Jahrhunderts hatte es ihm angetan. Und als ich also die
Werke von Brueghel, Riemenschneider und Cranach sah, fragte ich den
Vater, wie alt diese Kunst sei. Denn sie machte auf mich so einen frischen,
500 Jahre, mein Sohn, eine halbe Ewigkeit“. Als ich wenig später in der
Schule lernte, dass die Ewigkeit unteilbar ist, hatte ich für mich die
„Mit ihrer Einschätzung sind sie recht weit vorgedrungen, wenngleich sie
ausgesprochen theoretisch klingt. Es ist ganz so wie sie sagten, sie waren
„Zwei Glas Wein bitte“, rief Henry der Kellnerin zu, die sich ihrem Tisch
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„Was es über den Tod zu sagen gibt, ist ganz einfach“, begann Hollaender.
„Wenn ein Mensch gestorben ist, entfernt sich sein Licht mit
Das größte Problem mit dem Tod haben die Hinterbliebenen. Wenn das
Licht vergeht, marschiert die Trauer ein. Aber nicht alles Licht vergeht, ein
Rest verbleibt auf einem fernen Planeten. Trotzdem ist die Trauer gewaltig,
weil die Menschen das ferne Licht nicht erkennen. Die Trauer würgt die
schreitet die Zeit immerfort, unaufhaltsam. Auf ihrem Weg trocknen die
werden regelmäßig auf dem Grab abgelegt. Schon bald, nach wenigen
Wochen oder Monaten kehrt das erste Lächeln wieder zurück. Die Lippen
wieder klar, nachdem der Schleier vergangen ist und blicken in das normale
Leben. Das Leben, das niemals aufhört, verdünnt die schwarze Milch der
monochromen Kälte des Todes und seinem dicken Umhang, der Trauer, in
Henry hatte dem Alten zugehört ohne ihn zu unterbrechen. Der Alte leierte
seine Küchenphilosophie herunter ohne Punkt und Komma, als hätte er sie
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Engherzigkeit, als ihm die Familie des Alten einfiel und er die Gründe zu
Unfug zu erzählen. Henry ließ ab. Er dachte nicht mehr daran, Hollaender
zu widersprechen. Der Alte zwang den jungen Henry auf seinen Weg, und
Als Gertz und Hollaender erwachten, dämmerte es bereits. Der erste Tag in
Freiheit verabschiedete sich. Hollaender sah sich im Zimmer um, das Feuer
im Ofen war fast erloschen, nur ein kleiner Gluthaufen war übrig. Von
draußen schlich die Kälte ins Haus. Während Hollaender Reisig in den
„Ich weiß es nicht. Ich bin selbst eben erst aufgewacht. Wie spät mag es
wohl sein?“
den Schläfen.
„Was das wohl für ein Gesöff war“, fragte Gertz gequält.
Sie riefen in die Wohnung, gingen von Zimmer zu Zimmer. Es blieb still.
Das Zuhause der Bauern war sehr aufgeräumt und sauber. Das Ehebett
ordentlich gemacht, Laken und Kissen straff gezogen, einladend. Gertz und
Hollaender nickten sich angetan zu. Die Stube war ungeheizt. Ein Tisch,
vier Stühle mit Kissen, ein zertretener Teppich, ein Regal mit Püppchen,
Kreuz an der Wand, das war alles. Die Leute lebten in der Küche, die über
eine niedrige Stufe ohne Diele in den gepflasterten Hof führte. Trotz der
Bescheidenheit der kleinen Kate, die sich den Männern bot, verströmte die
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Wohnung eine gemütliche Behaglichkeit, wie sie nur Frauen einzurichten in
der Lage sind. Hier ein gehäkeltes Deckchen, dort eine schlanke Vase, die
Hollaender ein paar vertrocknete Zigaretten. „Da schau mal Paul“, rief er
Sie ließen sich nieder, dachten einige Minuten lang nicht mehr an die
rauchten und genussvoll Kringel in die Luft bliesen, fühlten sie sich sicher.
Die Frau indes blieb verschwunden. Ratlos standen die Männer da.
‚Sollte die Frau wirklich...war das schon das Ende? Ist die polnische
Vielleicht sitzt sie jetzt in diesem Augenblick auf dem Schoß des
Polizeioffiziers und weint sich aus und beschreibt mit vielen Worten das
Hollaender ging zum Fenster und kratze die Eisblumen vom Glas. So
entdeckte er vor Gertz die Wagenspuren, die sich tief in den Schnee
„Sieh nur“, rief er seinem Kamerad zu, „sie hat sich tatsächlich aus dem
82
„Wir müssen jetzt klaren Kopf behalten“, befahl Gertz. „Wir benötigen
neue Kleidung, Schuhe, Mantel, all das“. Hollaender fühlte sich plötzlich
Er wollte aufgeben. Gertz trieb ihn an, sich auf keinen Fall aufzugeben.
„Überleg doch“, schrie er , „wir haben es längst nicht geschafft. Das war
doch klar. Nur ein Kindskopf wie du kann annehmen, dass unsere Flucht
mit dem Verlassen des Zuges ein Ende haben würde. Unser Kampf ist noch
lange nicht zuende. Erst wenn wir wieder am Herd der Mutter in Berlin
Hollaender fügte sich. In einer Truhe, die sich in der Schlafkammer befand,
„Kennst du das?“, fragte Gertz. „Wir sind offenbar nicht die ersten, die
diesem Weibsbild einen Besuch abstatten“, stellte er ungerührt fest. Als sie
den Schrank öffneten, kam ihnen der strenge Geruch von Mottenpulver
früheres Leben, das sich so weit von ihnen abgewendet hatte, dass es nicht
mehr zu ihnen gehörte. Ihr altes Leben verpuffte in diesem Geruch von
erblickten.
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Besitzer. In einem Seitenfach standen Schuhe, die in ihrer rustikalen
Nachdem sich die Männer den gröbsten Schmutz vom Leib geschrubbt
hatten, sprangen sie in die neuen Kleider und verwandelten sich sogleich in
zivilisierte Menschen. Fast sahen sie so aus wie früher, wenn sie nicht gar
so kläglich abgemagert daher kämen, die Haut über den Wangen gespannt
und mit stumpfem Blick aus tiefdunkel geränderten Augen. Wie kleine
Jungen posierten sie vor dem Spiegel; sie konnten kaum fassen, was sie dort
sahen. Nachdem sie fertig waren, stiegen sie die steile Treppe wieder hinab
in die Küche. Sie waren noch nicht unten angelangt, fuhr ihnen ein
hätten sie nie gerechnet. Und sie kam alleine. Die Frau betrachtete sich die
neu eingekleideten Männer genau, während Paul und Alfred wie ertappte
Diebe beschämt zu Boden schauten. Sie klopfte sich den Schnee, den sie
von draußen mitgeschleppt hatte, vom Mantel und gab sich gelassen, so als
sei es das Normalste auf der Welt, dass fremde Männer in ein Haus
eindringen, sich die Bäuche mit fettem Eintopf voll schlugen und die
stumm in sich hinein, wie eine Mutter, die sich insgeheim über die Scherze
ihrer kleinen Jungen amüsiert, obwohl sie eigentlich schimpfen müsste. Sie
hatten einen schweren Korb mit ins Haus gebracht, der gefüllt war mit
Besorgungen aus dem Dorf. Sie bedeutete den beiden, ihr gefälligst zu
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helfen. Der Wagen war noch nicht abgespannt. Die Gäule warteten mit
stießen, auf ihre Kutscherin. Als die Bäuerin eben damit beschäftigt war,
verkrallte sich in ihren Haaren und wie trunken von Gier und Hass riss er
ihr die Kleider vom Leib, seine Hände zitterten und Speichel sammelte sich
in seinen Mundwinkeln und auf den Lippen, die dadurch weiß wurden.
erklären konnte.
‚Der Kamerad hat Schaum vorm Maul’, dachte er. Die Frau lag unter Gertz,
mit seinen Knien hatte er sie fixiert; sie schrie, er schrie, die Stimmen
wie ein Ferkel, das vom Schlachter abgeholt wird. Gertz sah ihren Körper,
den er ruppig aus den Kleidern schälte, wie er himmlische Anmut und
Liebreiz strahlte. Wild wühlte er sich in ihren Körper, Hollaender griff nicht
ein, er stand nur teilnahmslos herum und wusste nicht so recht, was er in
diesem jetzt tun sollte. Da tat er lieber nichts. Gertz drang in die Bäuerin
ein, sie schrie und strampelte wild mit den Beinen und trat mit den Füßen,
die noch in den Stiefeln steckten, ins Leere. Danach ließ Gertz von der
Bäuerin ab, rollte von ihr und blieb neben der geschändeten Frau auf dem
als gäbe es dort etwas zu entdecken. Sie wand sich rasch und in voller
zerrissenen Kleider hingen von ihr herunter, sie wand sich wie ein Wild im
Todeskampf. Sie kam schneller als es Gertz lieb sein konnte auf die Beine.
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Vor seinen Augen zuckte plötzlich ein sonnenheller Blitz , dann folgte ein
dumpfer, gewaltiger Hieb, der ihm alle Kraft raubte. Ein pochender
Schmerz begrub seine Gedanken, Blut floss aus einer klaffenden Wunde am
Kopf. Zuerst tropfte es auf den gestohlenen Anzug, dann quoll es in dicken
Strömen, bis sein Körper leer gepumpt war und bleich auf dem Boden lag.
Er zuckte heftig, verdrehte die Augen nach dem Freund, sah ihn nicht, war
geblendet nach dem Schlag. Danach erstarb sein Wille. Er hatte alles
überlebt, nicht aber die Bauersfrau, die ihm mit der Axt den Schädel
zertrümmerte. Als er sich beim Anblick der Frau, der ersten richtigen Frau
seit Jahren, seiner Manneskraft und seinem brutalen Trieb überlassen hatte,
Die Frau nutzte den einen Augenblick, in dem sich Hollaender schamhaft
von dem Paar abgewendet hatte, um die Axt zu ergreifen, um sich an dem
Kamerad nicht mehr helfen. Das Leben von Paul Gertz endete mit 31
durch das sein Freund vom Leben zum Tod gebracht wurde, beendete
Hollaender, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, das Leben der Bäuerin.
Wieselflink hatte er ihr die Axt entwunden und ihr mit einem Hieb den
Schädel gespalten. Er wunderte sich darüber, wie das Werkzeug den Kopf
so leicht spleißte, wie Holz, das gespaltet wird. In zwei Hälften klappte das
Gesicht auseinander.
‚Sollte sie einen Ehemann gehabt haben, er würde sie jetzt nicht wieder
erkennen’.
86
Nass geschwitzt und unter großer Anstrengung schleppte er die beiden
die Nasen seiner Verfolger dringen möge und ihm ausreichend Vorsprung
verschaffte. Erschöpft kehrte er zurück in die Stube und ließ sich auf einen
Schemel neben dem Spülstein sinken. Die Arbeit hatte seine Kräfte
überstiegen.
‚Was um Gottes Willen ist geschehen? Was soll ich jetzt tun?’, hämmerte
saß er eine ganze Weile mit gesenktem Kopf auf dem Dreibein. Irgendwann
beschloss er, einfach sitzen zu bleiben, regungslos, bis jemand käme und
das tue, zu was er nicht fähig war: seiner erbärmlichen Existenz ein
voller Selbstmitleid, pochte es laut an die Türe. Ein Mann mit einem
nicht richtig auf seinen Kopf passte, zu groß war für seinen Schädel,
Dorfpolizist, vielleicht war er auch gar kein richtiger Polizist. Auf seiner
täglichen Runde hielt er stets Einkehr bei der Bäuerin, um nach dem
Rechten zu sehen. Er besuchte die fidele Bäuerin gerne, sie gefiel ihm, er
wusste, dass sie alleine wohnte mit der ganzen Arbeit auf dem Hof, seit der
Bauer nicht mehr da war. Mit einem Gläschen pflegte sie ihn zu
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Als er keine Regung aus dem Hause vernahm, klopfte er an die Scheibe.
Nichts. Der Mann verschwand kurz, um wenig später mit einem lauten
Krachen mitten in der Stube zu stehen. Mit einem festen Tritt hatte er die
Türe geöffnet. Sofort sah er die frische Blutlache auf dem Boden und
Hollaenders Herz sprang so heftig in seinem Brustkorb auf und nieder, dass
Mann erkannt zu haben, könne seine Furcht erkennen und ihn einer
Versuch deutsch zu reden. Das, was er zu sagen hatte, wäre in jeder Sprache
zu verstehen gewesen.
Hollaender und Gertz waren, wie sie vor dem Kleiderschrank richtig
erkannt hatten, nicht die ersten Besucher der Bäuerin. Gerade einmal drei
Wochen vor ihnen gelangten zwei Entflohene in die Gegend und erbaten
von der Bäuerin Hilfe. Sie gab ihnen Obdach und zu Essen, bis sie gestärkt
Nun stand der Polizist mitten in der Stube, das Feuer im Ofen war fast
erloschen. Hollaender saß auf dem dreibeinigen Schemel, ängstlich wie ein
kleiner Junge, auf den bald eine ordentliche Tracht Prügel niedergehen
wird. Der Polizist brüllte mit Leibeskräften durch den Raum: „Was ist hier
los?“. Er befürchtete, der Bäuerin könne etwas zugestoßen sein, und dieser
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Wie durch Watte drangen die Worte zu Hollaender auf dem Schemel.
Zögernd erhob er sich. Jetzt, so überlegte er, würde sich das Schicksal
erfüllen, der Kreis sich schließen. Aber es kam anders. Plötzlich kehrte sein
Wille und die unbändige Kraft Leben zu wollen zurück, und verliehen ihm
konnte, so wenig rechnete der Gendarm mit dem pfeilschnellen Angriff des
Preis mochte er jetzt mehr aufgeben, nicht jetzt, nicht nach dem
Verbrechen, das er begangen hatte, nicht nach all den Tantalusqualen, die er
erduldete mit breitem Kreuz, auf dem noch die Peitschenhiebe brannten.
Hollaender ergriff eine hinter ihm auf dem Tisch stehende Flasche, die mit
irgendetwas gefüllt war und schleuderte sie ohne zu zielen auf den
Gendarmen. Die halbvolle Flasche traf den armen Mann mitten auf die
Stirn. Er torkelte, und fiel so langsam um, wie eine gefällte Fichte. Ein
rundes Loch sprang auf und trat Blut hervor, das dem getroffenen in einem
Panik. Was tun, wenn der Mann gar nicht tot war? Seine Gedanken
entschied er. Er ging zum Schrank, öffnete eine Schublade nach der anderen
bis er ein Messer gefunden hatte. Er nahm die Waffe, mit der die Bäuerin
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am Vortag das Essen bereitet hatte und stieß es dem Ohnmächtigen in die
Brust. Drei, vier, fünf mal rammte er das Messer dem Unglücklichen tief
Winter 1945 stattfand. Das Blut spritzte in alle Richtungen und der
Gendarm stöhnte und seufzte bei seinen letzten Atemzügen. Hollaender ließ
sich zu Boden fallen. Er konnte nicht mehr denken, alles strebte von ihm
weg, zuerst die Freiheit, schließlich die Hoffnung und, ‚verdammt’, fluchte
er in sich hinein, ‚das Leben’. Das hatte er nicht beabsichtigt. „Nein, nein,
„Wir wollten doch nur etwas zu essen und schlafen, eine kurze Zeit
innehalten auf der Flucht“, winselte er. Niemand hörte sein Klagen. Er
Nach einiger Zeit nahm sein Verstand die Arbeit wieder auf. Zuerst, dem
irgendwo hin, in einen Fuchsbau, in eine Höhle, klein sollte es sein, ganz
klein, so klein und niedrig er sich fühlte, einfach nur verkriechen. Als er
aber den Pferdewagen der Bäuerin sah, sprang er kurzentschlossen auf den
Kutschbock. Noch nie hatte er ein Fuhrwerk gesteuert. Jetzt ließ er die
Zügel knallen, löste die Bremse und raste vom Hof. Viel zu schnell fuhr der
klapprige Wagen und die Pferde, obwohl noch müde von der Fahrt mit ihrer
Herrin aus dem Dorf zum Hof, stürmten voraus, gehorchten ihm nicht. Er
stemmte sich ins Geschirr. Sie galoppierten so schnell, als wollten sie vor
dem Wagen mit Hollaender auf dem Bock fliehen. An der Einbiegung der
langen, holprigen Zufahrt zur Landstraße kippte der Wagen und Hollaender
Tiere zerrten in zügelloser Flucht den auf die Seite gefallenen Karren hinter
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sich her, dabei brach eine Achse, ein Rad löste sich und rollte davon.
Hollaender steckte im tiefen Schnee und hatte Mühe das Weiß des Schnees
von der Helligkeit des Tages zu unterscheiden. Wieder überkam ihn das
wieder zur Besinnung, kroch er aus dem Schnee, wunderte sich, dass er
Er mochte den Gendarm nicht einfach liegen lassen und entschloss sich, ihn
sich hin. „Niemand kann mir etwas nachweisen, weder den Tod an der
Bäuerin noch des Tod des Gendarmen. Ich bin das Opfer! Jawohl!! Warum
tut Gott uns das an, warum tut er mir das an? Weißt du, Rosa, ich konnte ja
gar nicht anders, als die Frau und den Gendarmen zu töten. Ich hab’ es für
dich getan, für dich und Frieda, ja, genau so war es. Ich werde leben, damit
ihr lebt. Ach, die Krähen und das andre Federvieh...ich muss die Schweine
Sträucher und Wiesen wieder blühen? Es wird ewig Nacht bleiben, und
Winter, kalt und still für immer. Kein Feuer wird mich noch einmal wärmen
können.“
Er wartete die Nacht ab. Schauder beschlich ihn. Er schritt zum Ofen und
wohlige Wärme. Sobald er die Augen schloss, sah er Paul, die Bäuerin und
Warten, das war seine einzige Möglichkeit. Er fand ein Glas und auch eine
Kamerad auf ihre Flucht angestoßen hatte. Er prostete sich selber zu. Mit
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einem Zug leerte er das Glas und dann noch eins. Seine Taten ließen ihn
liefen einige Hühner umher, zum Eierlegen war es ihnen zu kalt. Sie
Krähen senkten sich sanft auf die Erde, in der Hoffung ein Körnchen
den Flügeln, bis sie hungrig auf den blattlosen Pappeln an dem kleinen
Bachlauf rasteten. Er trank den Rest aus der Flasche. Ihm wurde übel, alles
Zimmer umher. Der Schnaps erlöste den Mörder Hollaender nicht. Die
Toten lachten über ihre Verletzungen, die beiden hatten sich miteinander
angefreundet. Hollaender sah, wie Gertz der Bäuerin seine Wunde zeigte.
rieben bis das Blut sich zu einem breiten Strom röter Brühe vermischte. Der
Schwanz des toten Gertz, der vor kurzer Zeit kläglich versagte, drang jetzt
hatte keine Uhr. Die Sonne stand noch über einem anderen Kontinent, weit
entfernt war ihre Helligkeit und ihr Trost. Bis sie ihr dämmriges Gold dem
bevor ein Sonnenstrahl das erste Licht des Tages ins Zimmer warf, machte
sich Hollaender auf den Weg. Eigentlich wollte er nach der missglückten
Flucht mit dem Wagen den Tag abwarten, aber er trat in die bittere
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Morgenkälte und verschloss die Türe, als ob das irgend jemanden
Schicksal. Er fühlte sich von Gott schmählich verlassen. Ihn begleiteten nur
Eiseskälte, dürre Bäume, die ihr Geäst drohend reckten, armselige Gräser,
die aus der Schneedecke neugierig nach dem Frühling suchten, auf seinem
wusste nicht wie lange er gegangen war, als die Sonne endlich aufging. Sie
milderte den Frost ein wenig und gab ihre friedlichen Strahlen frei, die den
Himmel röteten, wie an jedem Tag von Anbeginn der Zeit, immer wieder
von Neuem. Als weiche Kugel stieg das Gestirn aus dem nebligen Dunst
und malte ihr neues Gemälde aus vielfältig gebrochenem Licht an den
‚Wenn ich jetzt meinen Schatten sehen kann, bin ich auf dem richtigen
Weg. Westen.
Die Saatkrähen und ein paar Raubvögel, riefen in die Stille. Sie kreisten
hoch über ihm, er sah ihnen nach, träumte sich auf ihre Flügel, ‚ach, wie
tröstlich’.
Sprache nicht’, dachte er vor sich hin und sah ihnen sehnsuchtsvoll nach.
Von Ferne knallte plötzlich ein Schuss. Gepolstert durch den dicken Schnee
Strahlen, sein Ziel vor Augen, das ihm der Stern wies.
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In diesen Tagen, als er einsam durch die ausgestorbene westpolnische
fand er noch ein Versteck für seine Würde, die ihm kein Mensch rauben
konnte. Aber dem Anblick einer Frau konnte er nicht widerstehen. Und nun
war er tot, lag unter dem stinkenden Misthaufen samt der Frau und dem
Gendarmen.
dessen Besitzer geflohen waren oder ermordet. Dort wagte er auch Feuer zu
aufstöberte.
Als er noch mit seinem Freund zusammen unterwegs gewesen war, erzählte
dieser ihm oft von seiner Schwester Ilse, die, das sagte Paul, Berlin nie
verlassen hatte. Eines Nachts, als sie ohne Hoffnung aneinander gelehnt
irgendwo saßen und den Tag frierend erwarteten, bat ihn Paul:“ Mein lieber
Freund, ich vertraue dir. Sollte ich, was man in unserer Lage kalkulieren
seiner Schwester Ilse, von ihrem Leben, ihren Freuden, ihrem Liebreiz und
Schönheit, ganz so, als wollte er Hollaender auf eine künftige, überaus
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„Ja, Paul, ich werde deine Schwester finden und mich um sie kümmern. Ich
will das für sie sein, was sie von mir wünscht“, antwortete Hollaender.
„Du bist mehr als ein Freund für mich“, sagte Paul.
„Wenn ich es überlebe und in die Freiheit komme, wem soll ich Grüße
ausrichten“, fragte Paul nach längere Stille, in der nur das trockene Knarren
„Du kannst niemandem Grüße von mir überbringen. Frau und Kind sind
durch den Kamin. Brüder und Schwestern auch, oder verschollen, wer weiß
das schon. Sie wandeln zusammen mit Vater und Mutter auf den Wolken,
sehen zu uns herab und weinen, wenn sie unser Schicksal sehen“.
Daran dachte Hollaender in den Tagen, als er alleine auf der Flucht war. Ilse
Gertz war zu seiner Freundin geworden, ein leuchtendes Ziel. Für sie sollte
sich die Qual lohnen. Die unbekannte Ilse bedeutete ihm alles. Sie war zu
seiner Begleiterin geworden am Tag wie in der Nacht und keine Macht der
Erde konnte sie ihm entreißen. Nie im Leben hatte er sie gesehen, meinte
aber, sie so gut zu kennen wie eine alte Freundin, mit der man eine fröhliche
Vergangenheit teilt. Er malte sich aus, wie es wohl sein würde, wenn er sie
endlich gefunden haben wird, er wünschte sich ihr strahlendes Lächeln, das
Mit dem Adagio eines kaltblütiges Pferd näherte sich der Frühling. Es war
langsam von der gläsernen Kälte. Überall tropfte das Wasser und ließ
allmählich Rinnsale entstehen, die Bäche und Flüsse mit dem flüssig
werdenden Winter anschwellen ließen. Eilig flossen die Gewässer über glatt
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polierte Kieselsteine. Der harte Frostboden verwandelte sich allmählich in
Morast, so dass das Fortkommen zur Mühsal wurde. Bis über die Knöchel
sank Hollaender in den Schlamm. Das Tauwetter ließ sein Herz vor Freude
hüpfen. „Ja, ja Ilse. So nah war ich dir noch nie“, sagte er beschwingt zu
einem Wildschwein, das sich neugierig umschaute, und sich dann ins
Unterholz verdrückte.
Die Gegend, so meinte er, hatte sich verändert. Sie schien bewohnter und
belebter. Immer häufiger stieß er auf Gebäude. Die Häuser, Ställe und
gleichgültigem Blick kippte die Hausfrau ihm gerade das vor die Füße, was
sie in den Händen trug. Da sie war auf dem Weg zum Schweinestall war,
kam Hollaender in den Genuss von hartem Brot und Kartoffelschalen. Das,
was die Tiere bekommen sollten, warf man ihm gnädig zu. Als die Tür
wieder ins Schloss gefallen war, überwand er seinen Stolz und raffte die
trüben Glas. Er lachte derb, schlug dem Flüchtling auf die Schulter und
deutsch. Er hielt seine Hände tief in die Manteltaschen vergraben und die
rückwärts gehend in der kniefälligen Ergebenheit, die ihm damals half, das
Lager zu überleben, und die er sehr gut beherrschte. „Eine Frage noch“,
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„Du bist in Tauchritz“, rief ihm der Mann laut zu, der offenbar nicht
‚Ausgesprochen nett, der Mann’, dachte Hollaender so vor sich hin. Selten,
ganz selten auf seiner Wanderschaft empfing man ihn mit etwas, was im
sich genau anschaute, hatten die Leute Recht, so, wie er aussah. Die Kleider,
die er aus dem Schrank der Bäuerin gestohlen hatte, waren zu fleckigen
Lumpen geworden und er stank. Er kam daher wie ein Landstreicher, der
säumten. Die Dornen zerkratzten sein Gesicht und die Hände. Vor Angst
wagte er nicht zu atmen. Der Konvoi hielt unmittelbar neben der Hecke, in
aber nichts geschah. Bis plötzlich ein Milizionär von der Pritsche sprang,
Wie die Soldaten ihn aufspüren konnten, blieb Hollaender ein Rätsel.
Vielleicht hatten sie ihn bereits vorher erspäht, er wusste es nicht. Der
Soldat legte an. „Das ist mein Ende“, dachte Hollaender. Er schlang seine
Arme um den Kopf und gab sich verloren. In seiner Todesangst stimmte er
ein Gejammer an, das von seiner Vogelfreiheit handelte. „ Soldat, hören sie,
bitte, nicht schießen. Schläge, Tritte, Hunger, alles habe ich zur Genüge
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erlitten, nun soll ich meinen letzten Seufzer machen? Ich habe so viele
Strafen auf mich genommen, dass ich einen Handel damit beginnen könnte,
verstand kein einziges Wort. Hilfe suchend drehte er sich zum Lastwagen
um, als sich vom Beifahrersitz des zweiten Fahrzeuges ein junger Offizier
erhob und langsamen Schrittes näher trat. Hollaender sah den Mann zuerst
nicht, da er auf die Knie gefallen war und sich halb in seinen Mantel
verkrochen hatte.
„Steh’ auf“, befahl der Offizier erst auf russisch, dann wechselte er ins
hob den Kopf und stemmte sich auf die Beine. Er musste einen solch
elenden Eindruck auf den Offizier gemacht haben, denn in dessen Ausdruck
mischte sich so etwas wie Mitleid. Hollaender scheute sich, dem Offizier in
ausgestreckter Hand hob der junge Offizier das Kinn des Flüchtlings, der
Der Jüngling befehligte einen kleineren Trupp mit drei Dutzend Soldaten.
Es waren wilde Gesellen mit großen Händen und kleinen Gehirnen. Die
wurden und sie genug Schnaps intus hatten, konnten sie leicht zu
Dörfern anempfohlen, ihre Frauen und Mädchen zu verstecken, auf dass die
Horde sie nicht entehre. Das ist die einfache Moral im Krieg. Von alledem
wusste Hollaender nichts. Er wusste nicht einmal, dass hier in der Gegend
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Grenzverlauf, den die Sieger gezogen hatten und mit ihren Panzern
ein. Überall plätscherte das Wasser in die Pfützen, die sich als kleine Maare
Das Gesicht des Offiziers passte zu seiner Stimme, stellte Hollaender fest.
Er war ein junger Mann von nicht einmal dreißig Jahren, groß und schlank,
ein richtiger Herr mit fein gezeichneten Gesichtszügen. Die Burschen, die er
eher dem groben, halbfertigen Entwurf eines Bildhauers, der Menschen aus
dem Kinn des Flüchtlings und hob es an, so dass er sein Gesicht sehen
Die Soldaten umkreisten den vor Angst und Kälte schlotternden Flüchtling,
„Woher kommst du?“, fragte der Offizier und schob dabei seine breite
völlig entkräftet. Er hatte aufgegeben, sein Leben war gelebt, sah den Tod
vor Augen, ‚es war beschissen’, dachte er in diesem Augenblick. Ilse und
ihr Bruder kamen ihm in den Sinn, auch Frieda und Rosa. Niemals wieder
wird er sie auf seinen Knien reiten lassen können, niemals wieder in den
Schlaf singen, niemals wieder trösten können, wenn der kindliche Kummer
überkommt.
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Er hatte die Frage des Offiziers nicht verstanden, denn er sprach kein
mit denen war nicht zu spaßen. In seinem Kopf tobten Kämpfe. Opfer und
womöglich schon tot. Aber jetzt die Russen. Waren sie Retter, Befreier?
Hollaender hatte keine Ahnung. Er war ein einmal ein Deutscher, dem man
Heimat konnte das nicht rühren. Jetzt richteten die Russen ihre Waffen auf
ihn.. Die wilden Soldaten sahen nicht aus, als ob sie ihn retten wollten.
Hollaender war sich sicher: Das sind Feinde. In trotziger Verzweifelung hob
nicht zugeschwollen sind, glaubt ihr, mir kann noch irgend ein Mensch auf
dieser verfluchten Erde Schlimmeres antun, als das, was ich erlebt habe?!“
Das wollte er sagen, nur gut, dass er es unterließ. Anstelle dessen streifte er
wortlos den linken Ärmel seiner Jacke hoch und zeigte eine Nummer, die
mit blauer Tinte eingeritzt war: 267689. Der Offizier schob die Soldaten zur
Seite kam einen Schritt näher, ergriff den Arm und betrachtete die
„Was ist das?“, wollte er wissen. „Bist du ein Dieb, ein Sträfling?“
immer geantwortet hatte. Das „Jawohl“ hatte einen Nachklang, der besagte,
„ich tue alles, was du willst, aber, bitte, lass mich am Leben“.
„Was bist du jetzt? Dieb oder Sträfling, oder beides? Was sagt mir die
wunderte sich, dass der Mann so gut deutsch sprechen konnte, fast ohne
Akzent, alleine das gutturale „R“, das in der Kehle rollte, verriet ihn.
100
‚Vielleicht war der Mann ein Agent? Aber dann müsste er die Bedeutung
Der Offizier beriet sich kurz mit einem seiner Leute, wandte sich wieder um
‚Warum will er meinen Schwanz sehen’, fragte er sich. ‚Was wird hier
gespielt?’
„Mach schon, lass die Hose fallen ich will mich davon überzeugen, ob dein
konnte.
Nun, „mir ist schon weit schlimmeres widerfahren“, sprach er sich Mut zu.
„Wenn’s sonst nix ist, na gut, lasse ich die Hose fallen“, antwortete er dem
Soldat. Er fingerte an seiner Hose herum, öffnete die Knöpfe und kramte
nach seinem Penis. Die umstehenden Soldaten hielten sich die Bäuche vor
Lachen und zeigten mit Fingern auf Hollaender, der mit herunter gelassener
„So sieht das also aus“, grinste der Offizier. Er schnappte sich einen der
bedeutete ihm mit einer schroffen Handbewegung, auch die Hose runter zu
lassen. Mit einer weit ausladenden Geste wies er die anderen an, auch sie
sollten ihre Hosen fallen lassen. Am Ende öffnete der junge Offizier seinen
der frischen Luft, die Schwänze der stolzen Soldaten der glorreichen
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Gelächter der verlausten Männer drang schallend und boshaft zu ihm, in
„Siehst du“, sagte gravitätisch der Offizier, „wir sind alle Juden. Die Juden
sind auf der ganzen Welt zerstreut, jeder kann sagen er sei ein Jude, so auch
du. Ich glaube, dass du ein flüchtiger Verbrecher bist. Ich weiß zwar nicht,
Zeit morden viele Leute. Vielleicht bist du ja sogar ein Jude und ein
Verbrecher, so etwas soll es auch geben, verstehst du. Ich gebe dir nun noch
eine letzte Gelegenheit mir zu beweisen, dass du der bist, der vorgibst zu
begann Hollaender, der seit dem Tod seiner Vaters nicht mehr gebetet hatte,
„Höre Israel. Du sollst den Ewigen, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen,
von ganzer Seele und ganzem Vermögen. Die Worte, die ich dir jetzt
befehle....“
So stand Alfred Hollaender nun mit herunter gelassener Hose und bebender
Stimme vor den Kerlen, der Schwanz hing ihm heraus, und betete. Seine
Augen füllten sich mit dem Wasser der Wut und des Unglücks. Er betete
und betete. Er betete um sein Leben und versank in den heiligen Versen wie
„Gut mein Freund“, erbarmte sich der Offizier, „zieh die Hose wieder
hoch!“
Mäuler der Milizionäre, sah ihre brüchigen Zähne und die schmutzigen
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Augen zu einer einzigen großen Grimasse, zu einer Fratze, deren Lachen
Teufels zu sehen. Aber ihm gegenüber wartete nicht der Teufel, sondern
nur der junge, gepflegte und milde drein schauende Offizier. Er spürte wie
gedemütigt worden. Er war sich sicher, dass für ihn das Gesetz der
machen, was er wollte, ihn erniedrigen, ihn schlagen, ihn töten. Das Lager
war kein ferner Alptraum, nein es existierte fortwährend als Realität und
Der Offizier mahnte seine Männer zur Eile und befahl ihnen, in die
sagte: “ Der Sohn weint um seine Mutter, der Jude um seinen Bruder und
der Christ zerbricht unter der Last seiner Schuld. Denke an die Worte des
toten Christus, die er vom Weltengebäude herab sprach, dass es keinen Gott
gäbe, denn ein Gott hätte das alles nicht geschehen lassen. Gott hätte seine
jagen“.
Nach einer kleinen Pause sagte er: “ Geh deiner Wege, du bist frei“.
und kleiner wurden die dicht hintereinander rollenden Militärwagen, die aus
der Ferne aussahen wie eine satte Schlange, die sich behäbig davon
103
schlängelt. Hollaender sah ihnen nach bis sie schließlich hinter einer lang
Lachen, das eher einem Husten und Krächzen glich, das in ein Schluchzen
überging. So lachte und weinte er zugleich. Sein lautes Klagen wurde vom
Lachen verschluckt, das Lachen von seinen Tränen erstickt. Er schrie das
Baustamm, bettete sein Gesicht in die knochigen, harten Hände und betete
„Was ist los Herr Hollaender, ist ihnen nicht gut?“, trieben die fremd und
war, und bei Sinnen, so sehr hatte er sich für Augenblicke vertieft und
das Schma Israel vor lachenden sowjetischen Soldaten hatte beten müssen.
Ausgeschlossen war auch, dass er, außer vor sich selbst, eingestehen würde,
zwei Menschen getötet zu haben. Henry plapperte noch viele andere milde
Worte, die dazu geeignet waren, jedem zu Herzen gehen, außer Hollaender.
Er verachtete mehr und mehr die Anteilnahme und das Verstehen wollen
jetzt. Der Tag war anstrengend. Ein alter Mann braucht seine Ruhe. Er
104
lächelte beinah, aber es gelang ihm nicht und in seiner Stimme lag kein
Ton.
„Sie übernehmen heute die Rechnung“, stieß er schroff hervor. „Ich habe
ihnen heute eine Menge Stoff geliefert, den sie wohl aufschreiben werden,
um daraus eine Reportage oder was weiß ich zu fabrizieren. Das Leben von
uns Alten ist wie ein Steinbruch, nicht wahr junger Mann. Sie übernehmen
ab sofort alle Rechnungen. Das ist der Preis für meine Geschichten. Sie sind
Wenn Hollaender zum Friedhof ging, dann nicht, um ein bestimmtes Grab
zu besuchen. Wen sollte er dort auch suchen. Seine Trauer hatte dort keinen
Grab des Vaters wurde in den Wirren des Krieges Teil des riesigen Berliner
Hitze über den Grabplatten und feiner Staub legte sich auf die gemeißelten
Namen all derer, die sich in Ewigkeit an Gottes Gnade erwärmen. Der
Wirkung des Alltages, Kälte und Nässe vertrieben die Farben von den
Dingen und die spielenden Kinder von der Straße ins Haus, dachte er immer
wieder. Dann setzte er sich auf eine Bank und sah den im Wind
Eine wohlige Melancholie bemächtigte sich seiner und das milde, diffuse
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friedlich. Die Kälte des Winters versteinerte seine Gesichtszüge und ließ
ihn bald aussehen wie eine der vielen Heiligenfiguren auf dem Friedhof.
So saß der alte Mann an vielen Tagen auf einer Bank auf dem Friedhof und
schaute dem zu, was der Tod zurückgelassen hatte. Oft verweilte er nur eine
Stunde oder ein wenig mehr, aber diese Zeit reichte ihm, um seine
Er trug stets ein kleines, faltbares, und überaus praktisches Kissen bei sich,
das er sich unterschob. Während er auf der Bank saß beobachtete er die
alten Leute, die freundlich grüßend an ihm vorbei gingen. Sie kamen ihm
vor wie bunte Schatten. Er sagte es laut vor sich hin: “Bunte Schatten“, und
freute sich über das Wortbild, das ihm eingefallen war und so treffend
schien. Eine ältere Dame kam des Wegs und erbat sich den freien Platz
neben Hollaender.
„Aber gerne, bitte schön“, sagte Hollaender sofort, stand ehrerbietig auf und
hob seinen Hut. Die Dame war auf einen mittäglichen Plausch aus, das
„Haben sie schon mal bunte Schatten gesehen?“, fragte er die Dame.
Hollaender lachte. „Nein, entschuldigen sie, dieser Gedanke ist mir nur
eben durch den Kopf geschossen. Wenn ich so alleine auf der Bank sitze,
kommen mir manchmal die lustigsten Gedanken“, sagte er zu der Dame, die
„Wissen sie, was mir vorgestern hier auf der Bank aufgefallen ist?“
„Wissen sie, ich finde, dass die Leute hier auf dem Friedhof
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„Ja, doch, wenn sie meinen, das kann man schon so sehen“, stammelte
Hollaender.
Ihm war aufgefallen, dass sie die meisten ihrer Sätze mit, ‚wissen sie’
„Wissen sie, Altsein ist nicht sonderlich schön. Jeden Tag schmerzt eine
andere Stelle im Körper. Erst gestern, wissen sie, ist es mir so schlecht
ergangen, dass ich das Haus nicht verlassen konnte. Ich habe den Leib voll
Rheuma. Wissen sie! Dieses verfluchte Rheuma fließt mir mit ziehenden
Die Dame trug einen wunderschönen, rot schimmernden Fuchspelz, den sie
Sie hatte eine spitze Nase und ihre Augen waren von Runzeln und Falten
eng umfurcht. Die leuchtend rote Lippenstiftfarbe gab ihrem Mund den
sich auch auf ihren langen, bräunlichen Zähnen, die schief aus dem Kiefer
ragten. Sie wirkten wie schlecht angestrichen. Hollaender hatte bei älteren
Damen schon öfters beobachtet, dass ich die Farbe des Lippenstiftes auf die
„Glauben sie, dass die Gespenster mit dem Leben abgeschlossen haben? Ich
weiß, was sie glauben, jahaha. Sie bilden sich ein, die alte Schachtel habe
nicht mehr alle Tassen im Schrank. Jahahah, genau das Denken sie, nicht
wahr?“.
„Aber nein, wo denken sie hin,“ beruhigte Hollaender belustigt der Dame
neben ihm.
„Wann beginnt man damit, ich meine, wann beginnt man damit, mit dem
Leben abzuschließen, also eine Art Bilanz aufzustellen. Ich stelle mir vor,
107
wissen sie, dass man das Gute gegen das Böse aufrechnet, und, vielleicht,
„Ich erlaube mir die Beantwortung der Frage nach dem Zeitpunkt der
„Aber ich bitte sie, natürlich. Ich bin richtig gespannt auf ihre Antwort. Sie
sind sicherlich ein Mann, der in seinem Leben schon viel nachgedacht hat“,
Er ignorierte ihre Freundlichkeit und sagte: „Man beginnt sehr spät damit.
Spätestens, wenn die Besuche auf dem Friedhof die Regelmäßigkeit der
Verrichtung der Notdurft erlangen, dann ist es soweit. Dann zieht man
Bilanz. Wenn alte Leute die Toten auf dem Friedhof besuchen, sich an die
dem sie sich den Toten näher wähnen als den Lebenden, nicht wahr,
gnädige Frau?“.
Er glaubte die Dame verwirrt zu haben, denn sie schaute ratlos über ihre auf
den Knien ruhende Handtasche hinaus auf die Gräberfelder. Ihr Kopf
“nichts auf der Erde geht verloren, wissen sie. Der Körper des Verstorbenen
zersetzt sich mit Hilfe von Bakterien in seine atomaren Bestandteile, die
Ich wünsche ihnen noch einen schönen Tag und vielen Dank für die nette
108
Henry hatte den letzten Nachtbus verpasst. Nun saß er verdrossen an der
wohnte, hatte sich sein Leben ordentlich verändert. Arno war in den Schoß
der bürgerlichen Behaglichkeit zurück gekehrt, die seine Eltern für ihn
arrangiert hatten. Er war für ein Semester in London. Sein Vater hielt einen
Rechtssystem zu studieren. Dr. von Reith hielt sich für fortschrittlich, wenn
er behauptete, dass ein Advokat keinen Schmiss brauche, aber etwas von
geflissentlich.
Henry hatte also die ganze Wohnung für sich alleine, nutzte jedoch nur sein
Hollaender hatte ihn auf einen Gedanken gebracht, der ihm seit ihrem
verlassen wollte. „Natürlich“, sprach er laut vor sich hin, „warum bin ich
schaffen. Dieser Redakteur beantwortet schließlich die Frage, was mit dem
weil kein Rückporto beigelegt war. Ich schreibe ein Buch!“, sagte er zu
109
sich. Ein Mann mittleren Alters, der wie Henry auf den Bus wartete, blickte
versunken saß Henry an der Haltestelle. Als er sich gerade erheben wollte,
um sich ein wenig die Beine zu vertreten, sprach ihn eine Frau an, die ihn
um Feuer für ihre Zigarette bat. Sie war attraktiv, nicht mehr sehr jung, und
der Laterne über der Straße erhellte sich ihr Gesicht nur kurz, um wieder ins
das Streichholz und reichte die zittrige Flamme zu ihr herüber. Sie schützte
die Flamme vor dem Wind mit ihren beiden Händen. Henry wunderte sich
kurz über die kräftigen Finger. Sie sog den Rauch in die Lungen und blies
ihm die Wölkchen aufreizend ins Gesicht. Er wandte sich ab und wollte
schon zurück auf seinen Platz gehen, als die Frau ihn fragte, ob sie nicht
zustimmen oder ablehnen konnte, hatte sie sich bei ihm untergehakt. Sofort
plapperte sie drauflos. Der Mann an der Haltestelle sah den beiden nach wie
unbehaust, Taxis rasten vorüber und von Weitem näherte sich der
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„Ich heiße Dora“, stellte sie sich Henry vor. Sie versprühte ein Hohes Maß
zusammen. „Die Frau, die Dora heißt, imitiert Eleganz, ja so ist es“, dachte
Henry. „Sie schaut sich Eleganz in Frauenmagazinen ab, wie sie bei
Dora eine Spur zu theatralisch und gestelzt daher kam, so aufgeregt wie sie
erzählte und jede Pointe mit einer weitgreifenden Geste unterstrich. Alles
war von großer Wichtigkeit, das wollte schließlich betont sein. Zur Aura
einer salonfähigen Dame gehört auch eine Stimme, die trotz angedeuteter
Sie entblätterte sich förmlich vor Henry. Sie blies ihm ihr Leben ins
Gesicht, wie man den Staub von einem alten Folianten bläst. Die
Staubkörnchen ihres Lebens verteilten sich über ihn. Henry verstand nichts
von dem, was sie ihm in Halbsätzen und Andeutungen, vermischt mit
Lachen, erzählte. Für ihn war es nichts als Belangloses Zeug, wie es
überhitzt und übermütig vom Abend, wackelte mit ihrem straffen Hinterteil,
das ein viel zu kurzer, violetter Rock gerade eben zu bedecken vermochte.
Ihre Füße steckten in schreiend gelben, schmalen Schuhen mit sehr hohen
111
Dort, wo der Kottbusser Damm in schrägem Winkel auf die Skalitzer
Straße trifft, hielt das ungleiche Paar kurz. Es schien, als verhandelten sie
etwas. Dann bogen sie in eine Toreinfahrt ein, die schummrig beleuchtet
war durch eine nackte Glühbirne, die vom Nachtwind leicht bewegt wurde
und hin und her pendelte. Über der Eingangstür, vor der sie warteten, las
sich ein kleines Fensterchen, aus dem ein bleiches Gesicht mit zusammen
„Hallo Dora!“, rief das Gesicht. „Wen hast du uns denn da mitgebracht.
Kommt rein Kinder, in die jute Stube“. Henry stand etwas verloren in einer
Art Diele herum. Seine Müdigkeit war verflogen und einer Neugier
ihm nicht die Ausmaße des Raumes zu schätzen. Das Dutzend Tische im
dort herrschte, wie Schiffe aus Nebelbänken. Die übrigen Gäste, die er nur
zärtlich, selige Blicke für eine Nacht des Glücks. Die Kerzen warfen einen
beruhigenden Schein auf die Gesichter der Menschen und vor Henrys
Augen öffnete sich die Gewissheit, dass es Männer waren, die Männer
liebkosten, und Frauen, die Frauen liebkosten. Es war früher Morgen, vor
der Dämmerung, und Berlin bereitete sich gerade auf einen neuen,
ereignisreichen Tag vor. Zu dieser Stunde befand sich die Stadt bei der
Morgentoilette, dachte Henry, als er mit Dora auf die Getränke wartete.
112
Dora nippte kurz an ihrem Martini und fiel Henry durch ihre unvermutete
Schweigsamkeit auf. Sie erinnerte ihn an eine Vase, deren Inhalt plötzlich
ausgegossen war, hübsch und leer. Er beobachtete sie. An ihr schienen die
Erzählungen eines Causeurs. Und nun war nur Schweigen mit einem
erschallten Schlager mit süßlichen Refrains, sie ermüdeten mehr, als sie
Wolken, getragen durch den zittrigen Schein der Kerzen, durch den
niedrigen Raum. Henry erblickte einen Kellner, der seinen Kopf in eine
Dora stieß einen tiefen Seufzer aus, so als lasteten schwere Gewichte auf
ihr. Sie sehnte sich nach Henrys Arm und Schulter. Gefühllos stellte er fest,
dass sie leise weinte. Er küsste sie ohne Leidenschaft auf den Mund. Fast
war es so, als sträubte sich etwas in ihm gegen diese Zärtlichkeit, und er
wusste nicht warum. Trotzdem legte er seine Hand auf ihr Knie, es war kalt.
Sie nagte an seinem Ohr, es kitzelte, und er fühlte eine Träne an seinem
fand den Mut ihre Brüste zu berühren, über den flachen, seltsam
Rock gab leicht die Stelle frei, die die Männer in Verzückung versetzt.
erreichte. Er keuchte sanft. Doch auf einmal traf es ihn wie ein Blitz, taghell
113
wurde es um ihn. Etwas, das er nie vermutet hätte, ließ ihn erstarren. Er
hatte ein Stück Fleisch in der Hand. Er wich entsetzt zurück, hatte er doch
Schrei. Die anderen Gäste blickten erschrocken auf, kümmerten sich aber
„Sie ist keine Frau!“, wiederholte er, als spräche er mit einem dritten Gast
am Tisch.
Mit dem ersten Bus, den er erreichen konnte, und dessen Ziel ihm
des Motors und das Husten der Fahrgäste erreichte ihn nicht. Er schaute
stumm aus dem beschlagenen Busfenster hinaus auf die Straße. Verloren.
‚Die Frau, die keine ist, Arno, der Lump, Helen, ja, was ist mit Helen,
Hollaender, der Exkulpator, und ich, was ist mit mir? Wer bin ich, und was
tue ich? Was geschieht mit mir?’ Hilflos saß er auf seinem Platz und
beobachtete wie die Leute ihr Tagwerk begannen. Er sah sich davon treiben
und wie ein Ertrinkender wild mit den Armen rudern. Nichts hatte mehr
etwas mit ihm zu tun. Niemand warf ihm einen Rettungsring zu, an dem er
sich hätte festklammern können. Und als er nachhause kam war es bereits
hell; die Morgensonne begrüßte freundlich und frisch die Stadt und
durchstach die bläuliche Decke des Morgennebels. Das letzte, was Henry an
diesem Morgen vor dem Einschlafen sah, war der in der Ferne glühende
Funkturm im Osten der Stadt. Er träumte von Dora, die in seinem Traum
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Stefan hieß, und als Transsexuelle in ein gefürchtetes Männergefängnis
eingeliefert worden war, weil sie gestohlen und gelogen hatte und
Menschen verführt. Dort quälten sie Stefan mit glühenden Eisen, zerstachen
Sofa, starrte zur Decke und dachte nach. Er haderte mit seiner getroffenen
‚Wohin führt das, wenn ich weiter mein Leben von hinten aufrolle vor
diesem jungen Mann?’, fragte er sich. ‚Wie konnte es geschehen? Ich werde
es zuende bringen, es ist meine Geschichte, mein Leben, das ich diesem
Tunichtgut offenbare, was auch immer mich dazu verleitet hat. ‚Ich habe
keine Zukunft, das wird es sein. Der Weg der vor mir liegt, ist deutlich
kürzer, als die Strecke, die ich hinter mich gebracht habe’.
Er erhob sich vom Sofa, kochte sich eine Tasse Tee, blätterte ohne wirklich
bis auf die Straße hinaus. Am Abend betrat er, nachdem er seine
Erledigungen verricht hatte und auch beim Arzt vorgesprochen hatte, das
Restaurant Rosen. Wie gewöhnlich grüßte er mit einem Lächeln und einer
Er war einige Tage nicht hier gewesen und glaubte nun, den jungen Henry
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warfen rätselhafte Schatten und machten die Vergangenheit lebendiger, als
ihm lieb war. Die Vergangenheit war eine langsam wirkende Krankheit, die
Henry zu servieren, desto gewaltiger bahnte sich sein Hass den Weg zurück
in sein Leben, das er eigentlich für befriedet glaubte. Vorwelt in den Sarg,
Deckel und Erde drauf, und erledigt war die Sache, so lebte er. Und so
erzählte er weiter und saß auf dem Floß auf dem Strom der Vergangenheit,
anzulegen.
An dem Nebentisch entdeckte er eine junge Frau, die Rosa, seiner Rosa, auf
Versonnen schaute er auf die Wellen, aus denen sich das Antlitz Rosas
formte. Ein ovales, fein und zart geschnittenes Gesicht mit vollen Lippen,
die er heftig begehrt hatte. Leicht nach vorn gebeugt stellte er das Glas
wieder vor sich, die Hände trugen seinen Kopf, er blickte unbeweglich ins
Glas, der Wein hatte sich beruhigt und schimmerte glatt. Vor seinen Augen
erstand die alte Welt, Stein für Stein, und zerfiel wieder zu Staub und aus
ihn aber schon eine Zeitlang im Auge, getraute sich jedoch nicht an den
näherte er sich Hollaenders Platz mit einer Mischung aus Demut und
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„Es ist fast wie am ersten Abend“, sagte Hollaender zur Begrüßung.
In den vergangenen Wochen saßen die beiden oft zusammen. Heute jedoch
verscheucht von Hollaenders grimmiger Kälte, die jetzt hervortrat und den
„Sehen sie die junge Frau dort drüben?“, fragte Hollaender und wies mit
„Diese Frau gleicht meiner ersten Frau Frieda in so schamloser Art, dass ich
„Sagen sie nichts, junger Mann. Ich möchte nicht mehr von Rosa reden, und
auch nicht mehr von Frieda, nie mehr. Aber ich will unsere Angelegenheit
zum Schluss bringen. Wie käme ich dazu, nur die Hälfte meines Lebens zu
„Was meinen sie mit Angelegenheit?“ Und kleinlaut fügte er hinzu, dass er
habe auch niemals verlangt, dass ihm ein fremdes Herz ausgeschüttet
werde.
Hollaender wischte den Einwand barsch zur Seite und sprach ungerührt
weiter.
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„Von Tauritz an der Grenze fuhr ich zunächst mit einem Fuhrwerk und
später mit einem klapprigen Lastwagen, sie können sich gar nicht
waren, bis nach Bautzen. Dort übernachtete ich in einer Scheune, bis mich
marschierte ich zu Fuß. Über Lübben erreichte ich endlich Schönefeld und
roch die Heimat schon, obzwar sie nach verbrannter Erde stank und nichts
aus. Heimat, was bedeutet schon Heimat? Wie viel Heimat passt in einen
Menschen?, dachte ich mir, als ich Berlin immer näher kam. Beklemmung
Die Vorfreude dauert von alle Freuden am kürzesten, nicht wahr junger
Mann?
Ich fühlte mich abgestoßen und anzogen gleichermaßen, zwei Kräfte rissen
an mir. Die Heimat glänzt im Schimmer der Einzigartigkeit, ist aber auch
ich mit Kopfschmerzen und wunden Füßen in meine Heimatstadt ein, nach
Früher, vor dem Krieg, wenn ich nach einer Reise wieder nach Hause kam,
überkam mich stets ein wohliger, heimeliger Schauer, den ich im Bauch
und auf dem Rücken spürte. Nun aber war nichts, außer Trümmer, Schutt,
Beim Erzählen ließ Hollaender seinen Zuhörer nicht aus den Augen. In
Freude. Wilder Zorn, der von dem lammfrommen Jüngling stets von
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Neuem entfacht wurde, rauchte zwischen seinen Sätzen. Die Kraft und
Entschlossenheit, die der Alte plötzlich an den Tag legte, entzog er dem
und dem Alten zu errichten. Hollaender sprengte den Wall ein ums andere
und Schuld: Ja, der Alte hatte ihn schuldig gesprochen. Aus Verlegenheit
wurde Angst, aus Zweifel Schuld, alles lastete auf seinen Schultern dabei er
Paul Gertz konnte seine Schwester Ilse kurz vor seiner Verhaftung nach
Kladow in Sicherheit bringen. Aber nach 1941 wurde die Lage immer
entschlossen sich schon wenig später aus Angst vor den Russen nach dem
hieß es. Ilse mussten sie zurück lassen. Auf Vermittlung des Pfarrers kam
sie bei einer Kossattenfamilie unter, die eine billige Magd gut gebrauchen
konnte. Man gab ihr in den ersten Tagen ein Lager im Stall, bis sie
zur Hand zu gehen. Am Abend las sie den beiden Kindern Märchen vor, bis
sie neben ihr eingeschlafen waren. Das Hofgelände durfte sie nicht
verlassen. Die Gefahr war zu groß, dass man sie entdeckt und denunziert
essen, eine Kammer mit gemütlicher Schlafstelle und im Winter glühten die
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beiden Öfen im Haus, so dass es warm war wie im Mutterschoß. Tagein,
tagaus mühte sie sich ab und erreichte eine Sonderform des Glückes. Sie
dankte täglich dem Schöpfer für ihre Rettung und ihr Überleben, nach dem
dieser Zeit schlugen in Ilses Brust drei Herzen: das Bauernherz, das
Ilse war zur Bäuerin geworden, ihre beiden anderen Herzen hatten eins nach
Hände und staunte, wie sie sich verändert hatten. Früher arbeitete sie als
spielte sogar mit großer Hingabe und Begabung Klavier. Sie lebte das
Zurückhaltung, was ihren Bruder Paul zuweilen zum Reißen derber Scherze
verleitete: “ Du bekommst nie einen Kavalier ab, so dass ich mich bis zu
unserm Ende um dich kümmern muss“. Der Krieg hatte Pauls scherzhaften
Sie hatte sich mit ihrem Leben abgefunden, ihre Bescheidenheit half ihr
dabei und sie haderte nicht mit ihrem Schicksal. Die Unendlichkeit des
Krieges, also auch die nicht endende Existenz als Bauernmagd stand für sie
fest. Ilse war so fest davon überzeugt, dass ihr niemals in den Sinn
werden. Und jetzt? Die waren Hände schwielig geworden, die Füße spröde
und rau, sie steckten in schlechtem Schuhwerk. Ihr Gesicht blieb auch in
den Sommern grau und glanzlos, als hätte die Sonne das jüdische Mädchen
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im Stall vergessen. Die gute Bäuerin sprach mit ihr. Oft nahm sie ihre Magd
an die Hand und wollte sie aufheitern, wenn sie annahm, dass das Mädchen
daran, dass ihre Wehmut als Undank verstanden würde. Sie setzte ein
Bäuerin den Kopf, stand auf, zuckte mit den Schultern und scheuchte mit
Alfred Hollaender hatte sich einen Besitz bewahrt: ein ledernes Mäppchen,
in dem die Adresse von Ilse steckte. Paul hatte sie ihm im Hause der
von früher noch kannte. Halb Berlin tummelte sich im Sommer an den
Routen der Fähren, die zwischen Kladow und Wannsee pendelten. Unter
der angegebenen Adresse fand er das Haus, in dem Paul seine Schwester
versteckt hatte. Es befand sich in der Ortsmitte. Hollaender klopfte sich den
Schmutz von Jacke und Hose, strich sich durchs Haar und pochte an die
Tür. Es öffnete ihm ein Mann mit freundlichem Gesicht, vielleicht 40 Jahre
alt. Seine Hände zitterten und sein Gesicht wurde durch heftiges Zucken
entstellt.
„Ich suche eine junge Frau mit Namen Ilse Gertz. Sie ist im Krieg hier
„Davon weiß ich nichts“, erwiderte der Mann, dessen Kopf von den
Zuckungen ständig herum gerissen wurde, „denn meine Frau und ich leben
erst seit wenigen Monaten hier. Das Haus hat man uns zugewiesen, wir
wurden ausgebombt“.
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Aus dem Hausflur hörte Hollaender eine Frauenstimme plärren: “Was ist da
vorne los, Helmut?“ Der Mann drehte sich um: “Nichts, gar nichts, mach’
weiter!“
„Von den Nachbarn haben wir jedoch mal gehört, dass die Leute, die vorher
hier gelebt hatten, in den Westen gezogen sind. Von einer jungen Frau war
nicht die Rede. Versuchen sie es mal dort drüben in dem Gasthaus, die
Hollaender dankte, zog seinen Hut und wechselte schräg über die Straße.
marschierte der Krieg vorbei. Zwei Bomben fielen, erzählte die Wirtin. „Im
bitterkalten Januar 1944 starben in einem Haus zwei Ehepaare“, Edwin und
Magda Schwarz und Pauline und Oskar Fischer wurden von ihren eigenen
vier Wänden erschlagen. Stellen sie sich das mal vor. Von den eigenen
„Direkt hinter unserem Garten liegt der Friedhof, dort haben wir sie
beigesetzt“.
Die Wirtin schien in Trauer zu sein, denn sie trug einen schwarzen Rock,
eine schwarze Bluse und darüber eine mit verschieden großen Quadraten
los geplaudert hatte, wie es Wirtsleute eben so tun, verfiel sie jetzt in ein
Schweigen, das Hollaender nicht verstand. „Ist ihnen nicht gut, erkundigte
er sich höflich?“
„Es ist alles in Ordnung, danke der Nachfrage. Aber immer, wenn ich an
122
„Magda und Pauline waren meine Schwestern. Wir mussten ihre
zerschmetterten Körper aus den Trümmern bergen. Ich bin ...“. Wieder hielt
sie inne. Sie eilte in die Küche und kam bald danach wieder heraus.
„Bei uns ist nicht viel los. Da bin ich froh, wenn mal einer kommt, mit dem
ich mich unterhalten kann, aber immer wieder, gleich was ich erzähle,
komme ich auf das schlimme Unglück vom Januar 1944 zu sprechen. Der
Krieg forderte für mich zwei Tote, verstehen sie. Um alle anderen kann ich
nicht trauern, zwei Tote, das reicht, das ist genug Kummer. Das reicht für
ein Leben“. Dann lief sie wieder in die Küche und förderte aus ihrer
Während er die Personen auf den Bildern begutachtete, redete die Wirtin
weiter.
„Für wenige Tage waren die Russen bei uns“, fuhr sie fort, „dann nisteten
sich die Engländer ein. Die hatten es auf den Flugplatz Gatow
abgesehen...aber das wollten sie ja alles gar nicht wissen, nicht wahr. Nach
„Ich erkundigte mich nach einem jungen Mädchen, Ilse Gertz, die
„Ja, richtig, die Ilse kenne ich“. Sie zapfte ihm ein Bier. Hollaender lehnte
„Ach, stellen sie sich nicht so an, trinken sie, das geht auf’s Haus“. Sie
stellen, dass Ilse im Dorf nur als unsichtbare Neubürgerin bekannt war.
Anfänglich redeten die Leute noch über sie, bis schließlich das Interesse an
123
„Das junge Mädchen lebte nach seiner Ankunft in dem Haus dort drüben“,
die Wirtin wies mit dem Finger aus dem Fenster, „dann ging sie zur
Bauernfamilie Fechtner, aber wie das zustande gekommen ist, das dürfen
sie mich nicht fragen. Auf jeden Fall, das kann ich schwören, sind die
Fechtners brave und fleißige Leute, die ihren Hof anständig bewirtschaften.
Aber sagen sie, was wollen sie denn von den Leuten? Möchten sie noch ein
„Oh, nein, ich bin den Alkohol nicht mehr gewöhnt“, sagte Hollaender.
„Ja, ich sehe schon, sie waren in der Gefangenschaft. Man hat sie früh
„Die Ilse ist die jüngere Schwester eines Freundes und ich habe ihm,
kümmern“.
„Das ist ein feiner Zug, in diesen schlimmen Zeiten, wo jeder nur an sich
„Ach, bitteschön, gnädige Frau, ich habe ganz vergessen zu fragen, wo ich
„Ach ja, natürlich“. Sie erklärte ihm sehr wortreich den Weg. Hollaender
Die Frau schob die Gardine zurück und sah ihren Gast um die Ecke biegen.
Hollaender entfernte sich mit großen Schritten und ging auf der langen,
geraden Dorfstraße, die bis nach Potsdam führte. ’Irgendwann sollte ein
124
trennten die Straße von den umliegenden Feldern. Hollaender hatte seinen
schlichen zu jener Zeit durch die Städte und Dörfer. Hätte man alle nach
ihrem Schicksal befragt, jedes Mal hätte man Zerberus getroffen. Am Ende
der eintönigen Straße bog er in den beschriebenen Feldweg ein und nach
einigen hundert Metern erreichte er das Bauernhaus, das sich in eine Mulde
mit roten Ziegeln gedeckte Dach grüßte ihn von weitem. Es war mit
rostigen Blechen und Ölpappe ausgebessert und sah aus der Nähe aus wie
ein Flickenteppich. Der Hofhund kündigte ihn mit seinem Bellen an.
Hollaender freute sich über einen frischen Strauß Feldblumen, der in einer
Vase auf dem niedrigen Fensterbrett steckte. Daneben lag eine kalte Pfeife
Der Hund hatte das Bellen eingestellt, irgendwo hinter den Hecken lachten
Kinder.
Er fragte sich auf dem Weg zu dieser Kate, zu Ilse, immer wieder, wie er
einfallen werde. Die Aufgabe, vor der er stand, war nicht einfach. Er musste
125
ihr den Tod des geliebten Bruders berichten und sich zugleich als dessen
von Anfang an die richtigen Worte zu finden. Wie sollte er einer Frau, die
er noch nie in seinem Leben gesehen hatte, deren Bild sich ausschließlich
begegnen? Besteht nicht die Gefahr mit dem ersten falschen Wort oder
hämmerten, hatte sich die Katze mit erhobenem Schwanz davon gemacht.
übrig geblieben war. Es entstand die ungenaue Skizze eines Mädchens mit
‚Ich sollte einfach an die Türe klopfen und abwarten, was dann passiert’,
sagte er zornig zu sich. Er klopfte. Das Herz schlug wild in seiner Brust.
Die Tür öffnete sich und Hollaender sah in das Geicht einer Frau, deren
Alter er nicht einschätzen konnte. Für einen Atemzug erschrak er, weil er
sich bereits Ilse gegenüber wähnte, und setzte seinen Schritt zurück. Die
Frau trug ein im Nacken geknotetes Kopftuch, ein farbloses Kleid und eine
126
„Guten Tag, entschuldigen sie, ich bin auf der Suche nach einer jungen
Frau mit Namen Ilse Gertz. Die Wirtin im Dorf sagte mir, dass sich sie hier
finden könne“.
„Ich bin Ilse Gertz, wir kaufen nichts, und wir geben auch nichts, denn wir
„Nein, nein. Ich will nichts verkaufen. Sieht so jemand aus, der etwas zu
verkaufen hat?“, sagte Hollaender und zeigte mit dem Daumen auf sich.
„Sie sehen aus, als wollten sie betteln“, gab Ilse zurück.
„Nein, auch das nicht. Es ist so...“, begann er stotternd, „ich habe
weiter. Alles, was er sich zuvor zurecht formuliert hatte, kehrte sich von
ihm ab. Er fühlte sich so nackt wie vor dem sowjetischen Offizier. Dann
merkte er, dass er vergessen hatte, seinen verbeulten, staubigen Hut vom
„Nun sagen sie schon, was sie wollen“. Ilse wurde ungeduldig.
Bruder, der Paul, und ich, wir sind, äh, wir waren Kameraden auf der
Flucht. Wir entkamen während der Evakuierung des Lagers mit den letzten
Insassen. Man sagte, wir sollten in einem anderen Lager zur Arbeit
eingesetzt werden. Das glaubten wir aber nicht, das glaubte kein Mensch.
Wir schlugen uns bei Eis und Schnee durch bis zu einem Bauernhaus,
Polen, bestimmt in Polen, dann hat uns die Bäuerin verraten, aber
womöglich bildeten wir uns das alles nur ein, weil wir ja vollkommen
127
dass die Bäuerin es überhaupt nicht böse mit uns gemeint hatte, vielleicht
wollte sie nur Hilfe holen, wir verstanden zu wenig von der Sprache,
Panik...“.
Hollaender eilte wie von einer Hundemeute gehetzt durch die Erinnerungen
an die Flucht.
„Paul ist tot“, stellte Ilse fest, ohne eine Regung zu verraten.
„Ja, er war alles, was ich damals hatte, verstehen sie, wir waren Bruder,
„Kommen sie herein. Der Bauer und die Bäuerin sind im Dorf, ich
beaufsichtige die Kinder, den Ernst und den Hans. Es sind liebe Kinder, ich
habe nicht viel Arbeit mit ihnen. Die Wohnung war einfach, aber sauber
und praktisch eingerichtet. In der Mitte stand ein runder Ofen, dessen Rohr
quer durch das Zimmer in den Kamin führte. In einer Ecke befand sich eine
mächtige Truhe, daneben eine lange Bank, auf der Kissen ordentlich
drapiert lagen. Um den Tisch vor dem Fenster waren sechs Stühle gerückt,
darauf eine Schale mit Früchten aus dem Garten. Kreuz und quer durch den
Raum spannte sich die Wäscheleine, an der wenige feuchte Lappen zum
trocknen hingen.
128
‚In dieser blitzblanken Stube werden die summenden Viecher nichts zum
Ilse machte sich an der Anrichte zu schaffen. Sie hatte Hollaender den
Rücken zu gekehrt.
„Sie haben bestimmt Hunger“, sagte sie ohne sich umzudrehen. Ich kann
ihnen frische Milch, sie ist noch lauwarm, Brot, Kartoffelsuppe und Speck
anbieten“.
„Machen sie sich doch bitte keine Mühe. Ich gehe später wieder zurück ins
„So wie sie aussehen“, sagte sie mitleidig, „haben sie großen Kohldampf
Hollaender schämte sich. Er aß mit der Gier eines Mannes, der sehr lange
Zeit kein Obdach, geschweige denn Komfort genossen hatte. Ilse setzte sich
zu ihm an den Tisch und schaute ihm zu. Nachdem er alle Teller und
Schalen geleert hatte, brachte sie ihm wortlos noch einen Nachschlag. Er
verzehrte das Essen wie ein hungriger Wolf, der in seiner Wildheit alles
frisst, was ihm hinhält. Er spürte wie die Nahrung in ihn eindrang, wie die
Milch, das Brot, die Suppe und der Speck ihn anfüllte, ja zu verstopfen
drohte.
„Einmal in der Woche machen sich die Fechtners auf den Weg ins Dorf“,
unterbrach Ilse sein Schmatzen. „Wenn sie zurück sind, werde ich sie ihnen
vorstellen“.
Hollaender wunderte sich, dass Ilse die Nachricht vom Tode ihres Bruders
allzu große Bedeutung bei. Bauer Fechtner war ein wortkarger, strenger
129
Mann. Die buschigen Augenbrauen unter seiner flachen Stirn verschatteten
seine tief liegenden Augen. Hin und wieder blitzten sie auf. Wenn er sich
ärgerte, wütend war oder sich freute funkelten sie wie Diamanten.
Ansonsten verrieten die Augen keine Regung. Seine Hände ruhten gefaltet
auf der Tischplatte, wie Werkzeuge, die an Feiertagen akkurat auf der
erfolgte ihr schweigend. Ilse hatte die Bauern und Hollaender miteinander
sie seine Lagerhaft. Hollaender ließ sie gewähren, nickte ab und zu und
verfolgte die Schilderung, als sei es nicht die seiner Vergangenheit. Ilse
sei ein Verbrecher, und aus diesem Grund ins Lager gesteckt worden. Sie
improvisierte und wirkte so sicher und wortgewandt, als erzähle sie ihre
eigene Geschichte. Hollaender intervenierte auch nicht, als sie ihm ein
rosa wie ihre Gesichtsfarbe war, die beim Hühnerschlachten nicht zusehen
konnte und die fürsorglich ihre Familie umsorgte und liebte, ging zur Tür
und schaute nach den Kindern, die auf den Kastanienbaum geklettert waren.
Als sie zurück am Tisch war, sah Hollaender, dass ihre Augen in Tränen
„Ach Mutter“, sagte der Bauer mit brummiger Stimme, „du kannst doch
An die beiden jungen Leute gewandt teilte er mit, und er hörte sich so an,
als hätte er lange mit der Entscheidung gerungen, nun aber um so fester in
der Überzeugung war:“ Wenn ihr wollt, könnt ihr bei uns wohnen. Es gibt
130
viel zu tun auf einem Hof. Der Schuppen muss in Ordnung gebracht
werden, es regnet hinein. Der junge Soldat kann mit mir aufs Feld hinaus
fahren und mir helfen, dass ich mich nicht immer alleine plagen muss wie
Es war Sonntag. In den kräftigen Strahlen der Sonne, die das Fenster
Nacktheit räkelte sie sich vor Hollaender, ihr Nachthemd war ihr über die
Schulter gerutscht; der Morgen hatte sie noch nicht geweckt. Vom Dorf her
erinnerte an das Lachen von Kindern beim Spielen. Die Glocken riefen die
zu jenen Menschen gehöre, die den Glauben nie gelernt hätten. „Wissen
sie“, sagte er ungeniert, „mein Glaube war der Führer und Deutschland“.
Ilse lebte die Jahre bei Fechtners als eifrige Christin, empfing die heiligen
evangelischen Leben teil. Sie war den Bauern wie eine Tochter geworden.
Während die Familie im Sonntagsstaat zusammen mit Ilse zur Kirche ging,
lag er auf seinem Bett und blickte hinaus in den verführerisch schönen
Morgen. Zum ersten Mal, seit das Schicksal ihm als finstere,
lächelte vor sich hin und war voller Zuversicht. Das Leben hatte ihn wieder
aufgenommen.
131
Die Monate verstrichen. Sommer und Herbst gingen über das Land und
Hollaender arbeitete hart, oft bis zur Erschöpfung. Er stellte sich nicht
immer geschickt an, so dass der Bauer zuweilen murrte und schimpfte und
Verstimmung, aber er lobte auch den Fleiß und die Beharrlichkeit seines
Die Abende verbrachte die Familie beim gemeinsamen Essen, man sprach
über die Arbeit des Tages, und wenn die Kinder im Bett waren, tranken der
Die Bäuerin hatte von Anfang an darauf bestanden, dass in der Kammer der
jungen Leute ein Vorhang das Zimmer teilen müsste. Der Einfall stammte
eigentlich von Hollaender, der sich damit die Zufriedenheit aller im Hause
erschleichen wollte. Die Aussicht im Stall zu schlafen war ihm nämlich ein
Graus. Ein eigenes Zimmer für ihn stand nicht zur Verfügung, so dass er
eine Schlafstelle in Ilses Zimmer erwog, sehr zum Verdruss der Bäuerin.
Nach ihrem Willen sollte dieses Antependium zumindest den Schein von
Schmucklosigkeit als Zier galt. In ihr wohnte kindliches Misstrauen und der
Glaube an die vom Teufel gesandte Sünde, die mit unerbitterlicher Strenge
die Gedanken der Bäuerin an die Sünde zu zerstreuen, denn sie beschrieb
132
baumelte alsdann an der Decke, so wurde der Moral im Hause Fechtner
Tribut gezollt. Dieser dünne Schleier sollte aber kein Hindernis darstellen.
Er verband mehr als er trennte, ganz so, wie aufreizend gekleidete Damen
mehr Reize fördern als das nackte Fleisch. So schürte der Vorhang
die Unruhe. Ilse öffnete ihr Herz nicht, also wusste Hollaender nicht, wie
sie empfand. Sie hatte ihre Zweifel an seiner Aufrichtigkeit noch nicht
begraben. Wie eine Schwester lächelte sie ihn an. Freilich, hinter ihrem
Seele und düngte seinen Wunsch nach einer Frau an seiner Seite; Ilse sollte
es sein. Ihr mädchenhafter Charme, der immer öfters hinter der Schale
Winkel getroffen. Sie leuchtete ihn hinein, wie eine Lampe, so dass
allmählich aus der Knospe seiner Zuversicht wahres Glück in ihm anwuchs.
Ilse war ein zerbrechliches und zugleich erhärtetes Wesen von betörender
Anmut.
Bei der Arbeit auf dem Hof suchte er immer ihre Nähe. Er freute sich, ihr
Handreichungen seine Gunst zu beweisen. Sie freute sich, bis sie bald auf
ihn wartete. Nicht lange danach hob sich zum ersten Mal der Vorhang
zwischen ihren Betten. Ilse war es, welche die Grenze überschritten hatte,
die in kühler Nacht seine Wärme suchte. Seine Überraschung war so groß
wie die Freude. Er umschlang sie mit seinen harten Armen und sie küssten
133
Hollaender trat aus der Türe, die knarrend wieder ins Schloss fiel. Ilse blieb
Die Kühe waren gemolken, die Schweine und Hühner gefüttert, der Stall
gesäubert und die Bauersleute waren mit ihren Kindern in der Kirche. Ilse
Die Klärapfel lagen im feuchten Gras. Der sanfte Herbstnebel hüllte die
Gebäude ein. Oktober 1946. Mehr als ein Jahr arbeitete Hollaender nun
schon auf dem Hof, hatte ein nettes Mädchen an seiner und den Freund
vergessen, dem er nicht nur sein Leben verdankte, sondern auch das
geschuldet. Er blieb fremd auf dem Hof, so dass der Wunsch nach Wandel
stärker wurde. Ihm war, als seine Zeit auf dem Fechtner – Hof in Kladow
abgelaufen. Mit einem Apfel zielte er auf eine Weide, traf sie und er
entschloss sich, mit Ilse den Hof, Kladow, Berlin und Deutschland zu
verlassen.
Lange Zeit hatte Alfred Hollaender monologisiert. Ein paar Schlucke aus
Erinnerungen. Der Junge war ihm gleichgültig geworden. Henry war ein
der da vor sich hin erzählte. Hollaenders Berichte sprudelten nicht wie aus
einer klaren Waldquelle, sie quollen wie Lava aus einem Vulkan, der jeden
bewahrten die Hitze. Hollaender legte eine Pause ein. Die Männer
134
schwiegen. Henry kratzte mit ein paar Geldmünzen auf dem Tisch und sah
„Was tun sie da?“, entfuhr es Hollaender. Henrys Blick heftete sich an den
„Nein, das ist ein Missverständnis. Ich meine, das, was sie mir erzählen
wuchert auf merkwürdige Weise in mir. Es scheint fast so zu sein, als hätten
sie mich mit einer Krankheit infiziert. Mit einer düsteren Verstimmung, die
mich an tief hängende Gewitter erinnern. Ihr Leben lastet auf mir wie eine
Grabplatte“.
„So, so. Mein Leben ist also eine Grabplatte“, höhnte Hollaender. „Mit
Den Anflug von Milde schob Hollaender beiseite und er fragte, ob Henry
noch Interesse am Fortgang seines Lebens habe. Immerhin sei er, Henry, es
aus der Vergangenheit und schließlich, ich mag es kaum glauben, von
großer Liebe. Wie können sie mir die Impertinenz unterstellen, sie
Henry fand sich gefangen im Netz des ehemaligen Häftlings, das er fein
rauchte viel.
135
Henry kam erschöpft nachhause. Er wollte nur noch schlafen, aber es
gelang ihm nicht. Arno behandelte ihn schon längere Zeit nicht mehr als
alten Kumpel, mit dem durch die Straßen zieht. Er gab sich ausgesprochen
Er verließ die Wohnung meist spät am Vormittag. Er streifte durch die Stadt
stöberte
Seite, beschrieb alle Zettel, derer er habhaft werden konnte, wenn er seinen
er seine Zettel aus den Taschen ohne sich der Mühe des Ordnens zu
wurde auf gewisse Weise jeden Tag wieder geboren, seine Kraft bröckelte
136
„Heute werde ich ihnen erzählen, wie es uns ergangen ist, nach dem
Alfred und Ilse verließen die Familie Die Kinder weinten, verstanden sie
doch nicht, warum ihre liebe Freundin sie verlassen wollte. Sie war ihnen
ans Herz gewachsen. Auch die Bäuerin tat sich schwer. Sie fragte laut und
mit Vorwurf:“ Ist dies nun der Dank für alles? Musst du wirklich gehen?
Wir hatten es doch so schön“, flehte sie, bis sie plötzlich verstummte und
Ilse mit ihren dicken Armen fast erdrückte. Der Bauer zog an seiner Pfeife,
der Tabakqualm kräuselte sich in seine Haare. Er blieb stumm. Was sollte
er auch sagen, seine Frau hatte alles gesagt. Er entfernte sich ein paar Meter
von den andern und winkte Hollaender zu sich Gruppe. Mit einem festen
Geldscheine in die Tasche. Ilse klopfte er ungelenk auf die Schulter und
täschelte ihr Gesicht, wie man es bei kleinen Kindern zu tun pflegt.
„Viel Glück und vergesst uns nicht“, rief er und verschwand mit den
Kindern, die sich mit verheulten Gesichtern noch einmal umdrehten, ins
Haus. Seine Frau winkte den beiden jungen Leuten nach, länger als sie sie
sehen konnte.
Von den Engländern, die den Russen in Kladow als alliierte Siegermächte
137
„Wieder eine Nummer“, brummte Hollaender. Als er aber seinen Namen
auf der Karte gelesen hatte, erfüllte ich tiefe Genugtuung. Er hatte, ganz
Stempel und unleserlicher Signatur, das ihm von Beamten mit wichtig drein
Mensch. Das ganze Elend hatte ein Ende genommen. Die Schufterei auf
dem Hof hatte Hollaender nicht im geringsten als Strafe empfunden, aber
frei hatte er sich nicht gefühlt. Wenn Ilse nicht gewesen wäre, dachte er,
keine Woche hätte er durchhalten wollen. Ilse gab ihm als erster Mensch
wieder das Gefühl, ein Geschöpf Gottes zu sein, und die Bauernfamilie
Sie machten sich zunächst auf den Weg zurück in die Stadt, in Richtung
Neubauten. Von den Gerüsten herab winkten die Handwerker. In der Stadt,
so hofften sie, werde sich das Rote Kreuz und jüdische Hilfsorganisationen
um sie kümmern. Einige Tage verbrachten sie bei Privatpersonen, denen sie
die Vögle auf ihre Konzerte verzichteten, trafen die beiden Franz Spelcher,
gemacht. Nicht wenige wünschten ihm die Pest an den Hals. Spelcher,
Veteran aus dem Ersten Weltkrieg wie der alte Hollaender, war schon vor
dem Krieg ein alter Mann, so alt, dass er am Ende nicht einmal für den
138
Volkssturm taugte. Er erkannte Alfred Hollaender sofort. Mit jammervoller
Stimme berichtete er von seinen beiden Söhnen, von denen noch keiner aus
dem Feld zurückgekehrt sei, von seiner Frau, die nach den britischen
Familie sei. „Bitte, Alfred, ich kenn dich noch als Kind, hilf mir!“, flehte er.
Voller Verachtung und mit den Insignien des gerechten Opfers ausgestattet
sagte Hollaender:“ Deine Söhne werden schon wieder kommen, wenn sie
Glück haben. Wenn sie auch nur einen Bruchteil meines Glückes haben,
Mit dem Ärmel seines Hemdes verwischte der alte Spelcher Staub, Schweiß
und Tränen über sei Gesicht, schüttelte verzweifelt den Kopf über sein
Unglück und packte Hollaenders Hand. Er drückte die Hand an seine Stirn,
„Tut mir leid, ich kann ihnen nicht helfen. Selbst wenn ich wollte, was
„Du bist jung und stark und ein guter Junge, du hast das Leben noch vor dir.
Ich habe alles verloren, was mir etwas bedeutete und hause jetzt in einem
Kellerverlies mit Ratten und anderem Ungeziefer zusammen, die mir nachts
an den Ohren knabbern. Keiner von den anderen Leuten spricht mit mir.
erfrieren sie. Der Winter kommt bald und auch ich werde erfrieren. Gib mir
„Ich habe auch alles verloren. Alles, meine Familie, meine Frau, mein
Kind. Wen kümmert das, sagen sie, wen kümmert das?“, rief Hollaender
voller Zorn.
139
Ilse versuchte Hollaender zu besänftigen. Sie sah, wie die Wut seine Adern
anschwellen ließ. Sie zog ihn zur Seite und sagte:“ Hör mal, frag ihn, ob er
etwas weiß von deinen Geschwistern oder anderen aus deiner Familie, dann
Hollaender griff den Alten am Kragen, zog ihn zu sich und schob ihm einen
Geldschein hin.
„Die Frau Kalinke, die kennst du doch noch. Das ist die, die immer als erste
die Fähnchen aus dem Fenster gehängt hat. Sie hat mir erzählt, dass,
nachdem deine Mutter und die anderen abgeholt worden wurden, ein
Bruder von dir, ich weiß nicht mehr genau wer es gewesen war, ihr wart ja
so viele Kinder, sich versteckte hatte und später nach Belgien abgehauen
„Ja, ich bin mir sicher, das hat die Kalinke so gesagt.
„Lassen sie sich’s gut gehen, Spelcher“, schob er voller Häme nach.
„Halt, halt, so geht’s nicht. Die Information ist aber mehr wert als dieses
Er hob den Arm zum Gruß und sah, wie sich der Alte laut fluchend davon
machte.
die Berliner an ihre Kaisertreue mahnte, und wo jetzt aus einem riesigen
140
Trümmerberg etwas hervorschaute, das an einen ausgehöhlten, faulen Zahn
Mitteilungen über Geburtstag, letzte Adresse oder Zielort, oder nur Namen.
Hinter manchen Namen waren sogar Fotos geklebt. Hollaender und Ilse
blätterten in den Karteien herum, Alfred suchte unter dem Buchstaben „H“
nach seinen Angehörigen, als eine gut genährte Frau, die ihre braunen
Haare zu einem Dutt in die Höhe toupiert hatte, ihn ansprach und fragte, ob
sie helfen könne. Hollaender berichtete, wonach er forschte. Die Frau, die
„Herein“, sagte eine Stimme. Das junge Paar trat ein und Hollaender, einem
angstvollen Reflex folgend, nahm sogleich Haltung an, als er vor einem
Kopf, hielt den Blick gesenkt und wartete, bis der Offizier sie ansprach. Ilse
ging hinter seinem Rücken in Deckung. Die einsamen Jahre auf dem Hof
hatten sie menschenscheu werden lassen und Uniformierte flößten ihr große
Angst ein. Als sich Hollaender allmählich aus der Starre löste, wagte er den
Blick zu heben und er sah in ein offenes, liebenswürdiges Gesicht, aus dem
„Alfred“, sagte das Gesicht, „mein Gott Alfred Hollaender, was machst du
denn hier? Wie geht es dir? Du siehst gut aus. Ist das deine Frau? Stell sie
mir vor!“.
141
„Ja kennst du mich denn nicht mehr? Ich bin’s, Hermann, Hermann
Sonnenfeld“.
Der Offizier lockerte seine Umarmung, so dass sich die Männer direkt in
die Augen schauen konnten. Der Amerikaner lachte schallend und es klang
sich herab und wischte Straßenschmutz von seiner Hose, an der jedoch gar
stand er für eine kleine Ewigkeit vor dem Offizier, dessen zudringliches
Gehabe ihm langsam auf die Nerven ging. Es war nie Hollaenders Sache,
machen. Und für das laute Getöse des Offiziers brachte er ebenfalls wenig
Verständnis auf. ‚Die Leute sollen sich zusammen reißen’, das war sein
Credo, der Vater hatte das immer gepredigt, aber nicht vorgelebt. Für ihn
zu gewähren.
„Selbst wenn ich ihnen alle meine Sünden beichte, so öffnet dies nicht den
„Das ist Ilse Gertz, die Schwester meines Freundes Paul und meine
Verlobte. Kaum hatten die Worte seinen Mund verlassen, trat Ilse aus
seinem Schatten und betrachtete ihn mit großen Augen. Ihr Gesicht fror zu
einer bangen Frage, aber sie brachte kein Ton heraus. Er nahm sie in den
Arm und manifestierte mit einem Kuss auf die Wange seinen
Besitzanspruch.
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Hermann Sonnenfeld war der älteste Sohn des Augenarztes Dr. Chaim
Sonnenfeld. Mit Hermann drückte er die Schulbank, bis dieser auf das
„displaced persons“.
„Das sind Menschen wie sie, mein lieber Herr Lantz“, scherzte Hollaender
Seine Aufgabe sah Leutnant Sonnefeld nicht primär darin, fuhr er fort,
Geld und Unterkunft, als ersten Schritt in eine geordnete Freiheit. Als
Vorgesetzten ließen ihn gewähren, sie kannten seinen Fleiß, lobten seine
143
Sonnenfeld ließ Kaffee bringen und dazu stellte er trockenen Kuchen. Sie
nahmen um den Tisch Platz, der mit Listen ausgelegt war, an denen
aus, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Ilse hörte zu. Nur
einmal hob sie die Stimme, als Sonnenfeld sich auch an ihren Vater
Sie saßen mehr als eine Stunde zusammen, als sie sich verabschiedeten.
draußen in die Stadt stürmen, um Verbrecher zu fangen. Aber weit und breit
Zigarette, stand wieder auf und sein Blick streifte die erkalteten Ruinen der
Stadt, über die die Sonne ihr purpurnes Abendlicht gegossen hatte.
Sonnenfeld hatte Alfred Hollaender und Ilse Gertz mit allen notwenigen
sagte. In beruhigendem Ton hatte er versprochen, dass sie sich auf den
Vetter verlassen könnten. „An ihn könnt ihr euch immer wenden. Ich werde
ihm gleich heute einen Brief schreiben und ihm mitteilen, dass er euch am
Schiff abholen möge, sobald ihr ihm eure Ankunft avisiert haben werdet.
Das ist eine Option“, fügte er mit gespielter Strenge hinzu. „Ihr könnt
144
zu seinem Schreibtisch, und entnahm der Schublade ein Couvert, in das er
Bremerhafen nach New York gedacht sind. Sie sind von unbegrenzter
Gültigkeit“, bemerkte er, und übergab Hollaender das Couvert. „Pass gut
auf!“.
Hollaender und Ilse erfuhren von Sonnefeld auch, dass Alfreds ältester
kooperierte, sollte das Paar in den ersten Tagen nach ihrer Ankunft in
Belgien beherbergen. Wohlgemut machten sich die beiden auf den Weg
zum Bahnhof Zoo, von dem aus die ersten Züge wieder fuhren. Zwei Tage
dauerte die Reise, die sie über Köln an die belgische Grenze führte.
seien. Sie durften einreisen, ihre Papiere waren korrekt, die Beamten
der Belgier traf Ilse stärker als Hollaender. Sie war, fast ihrer Angst enteilt,
gerade wieder dabei das Mädchen von früher zu werden, das in Berlin
Kaffeehäuser, Theater und Kinos besuchte, und nun tauchten die alten
der ihm damals bereits aufgefallen war, als sie ihm zum ersten Mal die
145
Sie waren dem Zug in Antwerpen entstiegen, rastlose Menschen schubsten
sie zum Ausgang, er küsste sie. Er wollte sie zu seiner Frau machen. Rosa
war tot, Frieda war tot, aber Ilse lebte. Er schwärmte von einer glücklichen
Zukunft, die sie sich redlich verdient hätten und ergriff ihre Hand in dem
nicht unbeschwert und ihre Zukunft leuchtete nicht glücklich, sie waren
verflog rasch.
Sie spazierten ohne Eile am Scheldeufer entlang und beobachteten die zäh
Nordsee. Auf einer Wiese, die mit schiefen Pappeln umstanden war,
Die Adresse von Stefan, die ihnen Sonnenfeld ermittelt hatte, lag in einer
Süden der Hafenstadt. Vor ihnen erhob sich ein mächtiges, etwas herunter
Haus einer Stilrichtung zuzuordnen. Jugendstil, dachte er, das könnte sein.
steinerne Blüte, „was für eine Verschwendung, welch unnütze Zier“, sagte
Hollaender zu Ilse.
146
Sie betraten das Gebäude. Zu ihrer Linken öffnete sich eine quadratische
diesem Haus“.
„Sind sie Verwandte“, wollte die Frau wissen und blätterte bereits in einem
dicken Journal.
„Ja, Stefan Hollaender ist mein Bruder und die Dame hier ist meine Frau.
Besucherliste ein.
„Die Ausweise bekommen sie wieder, wenn sie das Haus verlassen“.
Sie telefonierte. Hollaender und Ilse sahen sich um. Hollaender beschlich
die Ahnung, dass in diesem Haus der Tod wohnte. Das Leben befand sich
fahler Lichtschein. Ein warmer Luftzug wehte durch die Gänge, es roch
nach Essen. Hollaender konnte sich keine Speise vorstellen, die so roch.
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„Fisch vielleicht, Aal. Was isst man in diesem Land eigentlich, Ilse, weißt
du das?“
„Ach, wie lange gab’s keinen Fisch mehr, stöhnte sie mit schwacher
Sehnsucht. Aber weißt du, Alfred, Fisch mochte ich noch nie besonders
gerne“.
In ihre Plauderei über Fisch mischten sich die im langen Flur hallenden
Schritte einer Schwester, die sich ihnen näherte. Die großen, glatt polierten
menschenfeindliche Ausstrahlung.
„Hier möchte ich nicht leben“, flüsterte Hollaender Ilse ins Ohr. Sie
Die Schwester nahm sie in Empfang und begrüßte sie freundlich mit der
Aufforderung, ihr zu folgen. Wie ein Feldwebel marschierte sie voran. Die
beiden konnten kaum mithalten. Auch die Bewegungen ihrer Arme hatten
etwas Militärisches. Vor der letzten Tür des schier endlosen Ganges blieb
ernstem Blick die breite Tür, an der ein Schild mit der Aufschrift: Stefan
der Schwester und betraten das Zimmer. Die Vorhänge waren zugezogen.
das den Weg durch den Vorhang schaffte, beleuchtete alle Gegenstände des
Wände und das Waschbecken, alles hatte die gleiche Tonung: gelb-grün. In
148
diesem Augenblick wusste Hollaender, wo sie sich befanden. ‚Der Tod ist
Ihr Blick fiel auf einen ausgedörrten Mann, dessen Alter man leicht auf
Jahre. Die Wangen waren tief eingefallen und bildeten fleckige Krater, über
die sich papierne Haut spannte. Die Wangenknochen stachen spitz hervor
wie Zelte. Die Augen ruhten tief in den Höhlen. Damit der Mund nicht
aufklappte, bevor die Starre eingetreten war, hatten die Schwestern es mit
einem Verband fixiert. Auf der Bettdecke, die schon ein halbes
Menschenleben nicht mehr weiß war, aber sauber und gestärkt wirkte,
schauten aus dem Totenhemd die Hände von Stefan Hollaender hervor.
Fremde Hände hatte sie gefaltet, damit er betend und voller Demut vor
seinen Herrn treten konnte. Ein grauer Bart umwilderter den Totenschädel.
Der Zustand des ausgedorrten Leichnams, der nach den Bekundungen der
Entsetzen taumeln. Er konnte und wollte seinen Bruder nicht erkennen. Ilse
legte fassungslos ihre Hände vor den Mund. Hollaender stürmte in wilder
„Was ist hier los? Wer ist der Mann? Sie können doch nicht wirklich
schrie er die Schwester an, die teilnahmslos aus dem Fenster im Flur
schaute, das auf den Innenhof wies. Der Lärm lockte weitere Bedienstete
an, die neugierig in den Flur blickten, sich gleich darauf jedoch wieder
„Herr Hollaender ist heute Morgen verstorben, wir konnten nichts mehr für
149
„Welches Beileid? Von wem Beileid? Wer sind sie überhaupt?“, brüllte er
einzelne Organ in ihm rotierte in rasender Fahrt. Ihm wurde übel. Er ließ
sich auf einen Stuhl neben der Türe fallen, Ilse hielt seine Hand. Er sprang
Leise hörte er die Schwester sagen, dass man nicht genau wisse,, was
geschehen war.
gestern von der Rettung gebracht, die ihn bewusstlos im Rinnstein gefunden
hatte. Vielleicht war es ein Unfall, oder Überfall, wer weiß das schon?“
„Was erzählen sie mir?!“, schrie Hollaender, „Der Mann dort ist
verhungert. Sie haben ihn getötet, der belgische Staat, der König, die
Polizei, was weiß ich, sie alle haben ihn auf dem Gewissen“. Ilse fing
Stuhl herbei und besorgte ein Glas Wasser. So hatte Ilse den Alfred noch
nicht erlebt. Er war wie ein aufgewühltes Meer, über das ein Orkan
Nach einigen Minuten der Aufregung fand Hollaender wieder zu sich und
150
„Er hatte keinen Wohnsitz, zumindest hat er uns keine Adresse angegeben.
Ich glaube, erlebte auf der Straße und bettelte. Er wurde uns oft in
volltrunkenem Zustand gebracht, mit blutender Nase von einem Sturz. Wir
ließen ihn übernachten und gaben ihm zu essen. Einmal musste er eine
Woche bleiben, als er sich das Bein gebrochen hatte. Und gestern brachte
ihn die Rettung wieder, er war bewusstlos. Ich vermute, dass seine Kraft
zuende war. Seine Augen, ich erinnere mich ganz genau, starrten leer und
fest...“.
Dann sagte die Schwester:“ Ich nehme an, dass sie sich nicht um seine
„Ich bin autorisiert, ihn auf unserem Friedhof begraben zu lassen. Neben
unserem Krankenhaus befindet sich ein Gräberfeld, das wir für Verstorbene
ohne Angehörige reserviert halten. Dort findet er seine letzte Ruhe. Unsere
Gärtner haben Erfahrung, die werden das schon erledigen“, versicherte sich
in trostvollem Ton.
Hollaender war der Frau aufmerksam gefolgt. Sein wahnvoller Rausch, den
bei sich?“, wollte er wissen. Ilse streichelte weiter seinen Arm. Die
Tausend Kilometer trennten Hollaender von der Heimat, und es war nicht
151
„Haben sie die genauen Umstände des Todes ihres Bruders nie erfahren?“,
geworden war, zu dem man ihn hat werden lassen, wie ein Köter, den
niemand mehr haben wollte. Genau so, wie es uns allen zugedacht war,
„Aber der Krieg war doch, als sie nach Belgien kamen, längste zuende!?;
„Der Krieg ist nie vorbei. Für uns wird er kein Ende haben, solange wir
leben, das ist gewiss. Gott mag weise sein, gnädig ist er nicht“.
Angst, es war die Emphase und die unterschwellige Drohung, die in ihr
klang. Er wollte sich gerade eine Zigarette anzünden, als Hollaender ihn
hart am Unterarm packte und sagte:“ Schauen sie mich mal an!“ Henry
gehorchte und ließ Zündholz und Zigarette auf den Tisch sinken.
Er sah das Gesicht eines alten Mannes, länglich mit braunen Augen, die von
des Mundes, gruben sich von der Nase bis fast zum Kinn. Die Ohren stand
länger er Hollaender betrachtete, desto mehr kam es ihm wie eine Maske
Im Frühjahr des Jahres 1951 kamen Hollaender und Ilse mit der Eisenbahn
in Bremerhaven an. In der selben Stunde begaben sie sich zum Hafen. Die
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Wellen an die Kaimauer zu schwappen. Das Gepäck der beiden passte in
zwei Koffer. Hollaender umarmte Ilse und küsste sie auf den Mund. Sie
erwiderte seine Zuneigung mit Akkuratesse, indem sie seine Hand zu ihrem
Mund führte und ihr eine Zärtlichkeit anvertraute. Mehr als seine
Begleiterin empfand Hollaender ein großes Gefühl, das er ihr mit blumigen
Worten beschrieb. Dieses Gefühl nannte er Freiheit und umarmte dabei den
Ozean.
wohin es einen zieht, eine Arbeit zu tun, die einem Freude macht und das
zuzusehen, sich dem Rauschen der Bäume hinzugeben, die Füße in einen
eiskalten Bach zu halten, das, und noch viel mehr ist Freiheit“. Als er das
sagte, tastete er behutsam nach dem Couvert mit den Schiffstickets und dem
Möwen zogen sich über ihnen zusammen, Hollaender freute sich auf seine
Am Pier strömte nach und nach aus vielen Richtungen eine große
sogar Seile, Seifen, Parfüm, Werkzeuge und Hüte. Hollaender staunte über
die Hüte. Manch ein Reisender ergatterte einen Stetson, ganz so als wären
153
die Passagiere nach Amerika Pioniere, die ihren Kopf vor gleißender Sonne
müssten. Das beste Geschäft machten die seriösen Verkäufer mit ihren
stand sie am Stand eines Händlers, dessen Tisch sich unter der Auslegeware
bog. ‚Sie freut sich wie ein kleines Mädchen, so unbefangen und hübsch,
schaut sie aus’, lächelte Hollaender. Sie hielt sich die Bluse vor den Bauch
und juchzte“: Die möcht’ ich haben! Steht sie mir? Sag Alfred!“
„Hübsch, sehr anziehend, und sie betont die Figur. Sie passt ausgezeichnet
zu dir. Wir kaufen sie“. Ilse fiel Alfred dankbar um den Hals, als hätte er ihr
ein mit Brillianten gespicktes Collier verehrt. Aus der Menge schälte sich
behände und nahezu unbemerkt ein Fotograf heraus, richtete seine Camera
auf eine junge Familie mit drei Kindern, die wie die Orgelpfeifen
trennte die Reisenden von Publikum und Händlern mit lauten Rufen. Eine
154
Kette wurde gespannt, und je nach Klasse verteilten sich die Passagier vor
den Gangways. Das Durcheinander bekam Struktur; drei Blöcke mit zum
‚Zeit zum Abschied nehmen’ dachte Hollaender. Wie ein weites Feld
öffnete sich die Erinnerung an sein altes Leben. Er winkte den Gräbern, die
leer blieben, und er winkte seiner Familie, die keine letzte Ruhestätte fand.
Er winkte der Asche, die die Böden der Lager bestaubt hatte und die
Hollaender und Ilse waren Teil des Gedränges, das sich die steilen Gänge
Reisepapiere mit strengen Blicken kontrollierten. Ein Blick auf den Pass,
Als Hollaender und Ilse endlich nach ewiger Zeit an Deck anlangten, füllten
sich ihre Herzen mit Genugtuung und Freude auf ein neues Leben im dem
freiesten Land auf Erden. Der schier endlose Strom von Menschen versiegte
ihrer Last zu ächzen. Von hoch oben blickte der Kapitän auf seine Ladung.
Er schien dem Offizier, der neben ihm auf dem Posten stand, etwas
Lustiges gesagt zu haben, denn beide Männer lachten plötzlich. Man konnte
das Lachen nicht hören. Hollaender beobachtete eine Familie mit zwei
kleinen Mädchen, die die letzten Schritte hinauf auf Deck mit letzter Kraft
geschafft hatten. Die Kinder weinten. Die Haare der Mutter tanzten im
155
Wind und standen zu Berge. Der Vater, bleich vor Anstrengung seine
heraus stehenden Schraube den Mantel und fluchte wild. Völlig erschöpft
sank er auf einen Koffer und hielt seine Hände vors Gesicht. Eine alte
Dame suchte ihren Mann, bis ein Stewart sie beruhigte:“ Unsere „Bremen“
verliert niemanden“. Hollaender und Ilse bahnten sich einen Weg durch die
überall müde lagernden Menschen bis zur Bugspitze. Sie wollten jetzt, noch
in Bremerhafen, Amerika ganz nahe sein. Die blecherne Stimme, die aus
missfiel Hollaender. „Ich will nie wieder das Wort ‚schnell’ hören“,
flüsterte er Ilse ins Ohr. Sie sah ihn an, während der Wind auffrischte und
mit ihren Haaren spielte. Sie hatte die Zöpfe gelöst und schüttelte den Kopf,
Es war noch ein weiter Weg, und mehrmals verliefen sie sich auf dem
Zwischendecks und Treppen, bis sie endlich ihre Kabine fanden. Sie maß
etwa drei Meter in der Breite und fünf Meter in der Tiefe. „Es riecht
modrig“, befand Ilse, von deren Leben auf dem Bauernhof ein äußerst
Decken auf den vier schmalen Betten, die in zwei Etagenbetten jeweils
156
„Hier ist aber kein Platz für lustige Zweisamkeit“, beschwerte sich
Hollaender.
„Wir müssen aufpassen, dass der Kopf nicht herunter rollt“, sagte
Beim Betreten der Kabine fiel der Blick sogleich auf zwei nebeneinander
war. Die Regale reichten vom Boden bis zur Decke und schienen die
Hollaender schritt die Kabine ab wie ein Gutsbesitzer seine Latifundien. So,
wie er nun in der Kabine stand, mit tief in die Taschen gestopften Hände,
dem hoch ragenden Kinn und dem Blick in die Ferne, hätte man annehmen
Knecht gehöre das Schiff, und es dauere nur noch wenige Augenblicke, bis
sich im gelobten Land der Vereinigten Staaten von Amerika Ströme von
Milch und Honig um ihn schlossen und das Glück ihn forttragen würde bis
zum Ende seiner Tage. Aber im Augenblick herrschte er mit seiner Ilse
nicht einmal über die erbärmliche Wabe tief unten im Bauch der „Bremen“,
die so groß war wie eine Stadt. Jeden Augenblick mussten Hollaender und
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Ilse mit zwei weiteren Passagieren rechnen, die sich anstellten, ihr kleines
Reich zu halbieren.
„Stell dir vor, Ilse, dieses Schiff ist so groß, dass mehr Menschen Platz
Ilse lachte:“ Du bist albern. Ganz Kladow auf unserm Schiff, womöglich
„Zu was Menschen alles imstande sind“, träumte er weiter, „sie bauen
Schiff so groß wie Städte. Bald fliegen sie auf den Mond“.
„Ja, vielleicht“:
Behutsam umfasste er ihre Taille, die sich weich geschwungen nach innen
wölbte, und begehrte ihre warme Weiblichkeit. Sie wehrte ihn große Kraft
ab.
das!“
Mit lautem Knall flog plötzlich die Kabinentüre auf, Hollaender hielt Ilse
noch im Arm. Die Uniformierten ersparten sich die Begrüßung oder andere
„Eure Papiere“, befahl der ältere der beiden Männer. In der Gewissheit
die Beamten. Ilse sprang vor ihn:“ Entschuldigen sie bitte, mein Verlobter
hat etwas zuviel getrunken, das Reisefieber und die Aufregung, verstehen
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„In Ordnung“, brummte der ältere. Sie gaben die Papiere zurück. Sie
sie so wenig wie die Möwen, das Wetter oder die aufkommende
verließen sie auch wieder die Kabine. Es waren Männer, die in Uniformen
Hollaender sah wieder aus wie ein Knecht, nicht wie ein Gutbesitzer.
Trotzig entgegneter er:“ Ich mache nun das, was du den Typen eben gesagt
hast. Ich suche eine Bar, in der man mir etwas gibt gegen Reisefieber und
die Aufregung“.
Er ließ sich durch die unendlichen Korridore treiben, die die „Bremen“
durchzogen wie Kanäle. Die nächste Treppe nahm er nach oben. Siege um
Stiege erklomm er die Treppe, bis er endlich auf einem der unteren Decks
angekommen war. Die Matrosen waren gerade dabei die Leinen zu lösen
langanhaltende, tiefe Ton der Schiffshupe gab das Signal zum Ablegen.
Dicht gedrängt lehnten die Menschen an der Reling und winkten in die
ihn wie ein Virus und zersetzte seine noch vor wenigen Stunden gefeierte
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Auf seinem Erkundungsgang nach einer Bar erreichte ihn der Klang eines
Klaviers. Er folgte der Musik und nach wenigen Metern öffnete sich vor
ihm eine ausgedehnte Lounge. Wie Inseln ruhten schwere mit rotbraunen
Entweder sie sitzen am Bühnenrand und werden übertönt von den anderen
summte er vor sich hin, verwehre man den Klavierspielern den Respekt.
Edvard Grieg, den er verehrte. Die kühle Distanz, mit der Grieg die rauen
etwas an dem mäßigen Talent des müden Musikers, der unpräzise den
ganz so, als wolle er seine Fingerübungen flott zuende bringen. Dabei fiel
ihm sein unglücklicher Vater ein, er wusste nicht wieso, der es mit der ihm
eigenen Version von Präzision ebenfalls nie so genau nahm. Den Takt gab
eindeutig die Mutter vor. Mit den Tugenden, auf die er in seiner
preußischen Militärzeit gedrillt worden war, und mit denen auch die Lager
später betrieben wurden, mühte sich der Vater ab, aus den Kindern
Einklang mit seinen Taten, ja, meist lagen sie in Konkurrenz. Der alte
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Hollaender war ein kränklicher Kauz, der sich in seiner winzigen
Schneiderwerkstatt verkroch.
Ein Rezeptionist steuerte auf Hollaender zu, der in Gedanken noch ganz bei
Grieg und seinem Vater weilte. Der Mann in weißer Jacke mit goldenen
hier oben keinen Zutritt hätten. Und so, wie er aussehe, könne er sich nicht
zwecklos ist. Der Rezeptionist wies mit dem Finger zum Ausgang,
Hollaender murrte einen Fluch und gehorchte. So wurde also der stolze
Besitzer der „Bremen“ und Eroberer des Glücks in Amerika von einem
Subalternen verscheucht. Seine Wut hatte freilich auch etwas Gutes: Die
Durch die Türe wurde er gewahr, wie der Rezeptionist eine überaus
eine für Hollaender unerreichbare Wonne. Ihre Lippen formten Worte, die
Der weitere Reiseverlauf glich der Ruhe auf dem Atlantik. ‚Nur gut, dass
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spähte, aber nichts sah als die das Schiff begleitenden Möwen und den
grauen Atlantik, der die ganze Erde zu bedecken schien. Er hatte sich mit
erdulden müssen, als den Rauswurf aus einer Schiffsbar. Es gab Zeiten, die
dafür.
In der Kabine hatte es sich ein älteres Ehepaar gemütlich gemacht. Beseelt
befanden sie als erträglich, wenn auch nicht als luxuriös. Das Ehepaar
entschuldigte sich bei Hollaender und Ilse für die Störung des jungen
Glückes, wie sie es empfanden. Ilse half dem Paar zuvorkommend beim
Gegenteil, ihre Neugier war größer als die Einschränkung, die zu erwarten
zu helfen und auf jeden Fall nützlich zu sein. Die Hilfsbereitschaft ersetzt in
vielen Fällen das Nachdenken. Er empfand Zorn, wusste diesen Zorn aber
weder zu lenken noch verfolgte er ein Ziel. Er zog sich unter Vorspielung
162
während Ilse und die neuen Kabinengäste sich angeregt unterhielten. Ilse
unterrichtet hatte, bis er aus dem Dienst entfernt worden war. Es gefiel
Das war das einzige Verbrechen, dessen er sich schuldig gemacht hatte,
verstand nicht, was um ihn herum vorging. Die Veränderungen waren nicht
Teil seiner Wahrnehmung. Man warf ihm vor, etwas ganz Ungeheuerliches
zugelassen zu haben. In seiner Klasse herrschte ein Geist, den er als Lehrer
hatte.
„Ich bin ganz und gar unpolitisch, ja unpatriotisch, bis zum heutigen Tag“,
„Meine Profession war es, den Schülern das Universum der Antike mit
diskutiert“.
Der Lehrer trieb in seinen Erinnerungen ab und erzählte, wie Cicero das
Grab des Archimedes entdeckte, und der wiederum das Quadrat der Parabel
„Ich lese keine Zeitung“, fuhr er fort. „Nichtwahr, wir haben nie Zeitungen
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morgen den stinkenden Fisch von gestern ein. Nun ja, so entging mir in
jener Zeit, als man mit deutschem Gruß zu salutieren hatte, die Einsicht
mich zu sortieren. Sie müssen wissen, ich war ein preußischer Beamter. Mir
dass Subversion eine Gefahr darstellte, geschweige denn, dass ich mich
Griechisch und Philosophie, verstehen sie junge Frau, das war meine
Dreifaltigkeit“.
Ilse hörte dem traurigen Lehrer aus Dresden aufmerksam zu und fand,
während der Lehrer weiter redete über die Bücher Gustav Schwabs und
über das katholische Weltbild, die Bürgerrechte im alten Rom und die
Verse des Sophokles, wie fern ihr die Menschen waren. Die Jahre ihrer
Wohlstand in Amerika zu finden, klangen hohl. Sie reichten ihr nicht, aber
sie konnte nicht genau sagen, warum. Die Ungewissheit dräute am Ende des
Weges. Sie litt daran. Der Lehrer rezitierte aus der Thebanischen Trilogie,
Ilse erkannte, dass sie auf sonderbare Weise Hollaender liebte. Der Lehrer
redete weiter. Ilse liebte Hollaender wie der Zierfisch im Aquarium die
Hand liebt, die die Scheiben von den Algen reinigt, wie der Tank den
Tankwart liebt, der Aschenbecher, den die Kippe plagt und das erlegte Reh
164
‚Wo führt mich Alfred hin?’, sann sie in finsterer Ahnung. Sie hasste sich
Das Ehepaar aus Dresden und Ilse saßen auf den Betten in der fensterlosen
Kabine, die Beleuchtung flackerte, Ilse blickte zur Decke, eine winzige
„Ist ihnen nicht gut?“, fragte besorgt die Frau des Philologen, erhob sich
Entschluss. Er sah sich in New York einen prächtigen Strauß roter Rosen
seinem Innern suchte er das Glück zu erneuern, das ihm einst mit Frieda
und Rosa geschenkt worden war. Ilse sollte aufblühen, schwor er sich. Alles
Glück und Wohlstand wollte er ihr zu Füßen legen. Noch im Hafen wollte
„In jener Zeit schwankte ich sehr zwischen hochfahrendem Glück und tiefer
Henry verzog das Gesicht, als wollte er Hollaenders Zweifel nicht glauben.
Schroff fuhr er seinen jungen Zuhörer an und sprach von Frechheit und
Undank.
„Was sehen sie mich so an? Aus ihnen ruft mal wieder die Skepsis!“
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Der arme Junge konnte tatsächlich nichts machen. Jedes Wort und jede
Sonnenfelds Cousin, der Hollaender und Ilse in New York am Pier abholte,
hieß Ignaz Grün. Er war ein kleiner, unfreundlich drei blickender Mann,
dessen Körperfülle den Anzug prall ausfüllte und dessen Hemdskragen ihn
fast erdrosselte. Er machte aus seinem Widerwillen keinen Hehl und gab
Hafen mit dem lächerlichen Täfelchen in der Hand, auf dem die Namen von
werden dürften.
Menschen, die drängelnden Passagiere, von denen jeder als erstes vom
Schiff wollte, hatten an ihren Kräften gezehrt. Die lauten Rufe und
Leute wie Schafe in Absperrungen, die von Polizisten bewacht wurden. Das
erste, was Ilse in der Neuen Welt tat, war weinen. Der dicke Grün sah die
Anzug neben ihr, der sich zerrieb zwischen der Sorge um Ilses
Wohlergehen, Glücksgefühl über die Ankunft und der Angst vor der
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Unzugänglichkeit des Molochs New York. Hollaender kam es vor, als
erschrecken.
‚Und dann noch dieser miese Empfang’, dachte er. Am liebsten hätte er
dem Dicken eins aufs Maul gegeben. Aus verheulten Augen sah Ilse, wie
„Lass das! Denk nicht mal dran!“, befahl sie und fand wieder zu
Contenance.
Grün führte sie durch verschlungene Gassen, die sich auftaten wie lotrechte
lebendige Erinnerung an den Verkehr in Berlin vor dem Krieg. Aber das,
was sich ihm jetzt darbot, übertraf alle seine Erwartungen. Er fühlte sich
und Ilse trieben wie kleine Boote aus Papier auf einem tosenden Strom, der
sie hin und her warf. Aber Grün hatte das Steuer in der Hand und lotste sie
durch das Gewühl. Ilse klammerte sich an Hollaenders Hand. Sie durften
Grün in dem Gewimmel nicht verlieren, sie mussten mit ihm Schritt halten.
‚Ohne diesen Grün wären wir jetzt hoffnungslos verloren’, dachte er. Und
im Stillen dankte er seiner Ilse, dass sie ihn vor einer Riesendummheit
167
bewahrt hatte. Grün marschierte mit schnellen kurzen Schritten weiter
„Ich weiß nicht mehr, wie viele Häuserblocks wir in Richtung Norden
hinter uns ließen. Irgendwann kreuzten wir den Broadway und erreichten
die 42. Straße. Ein schlimmes Viertel, kann ich ihnen sagen“, gestand
„Ich wusste damals noch nicht einmal, in welcher Richtung wir uns
bewegten. Diese Stadt ist ein Dschungel aus Steinen, Stahl und Dreck, so
„Nehmen sie noch einen Bordeaux?, fragte die freundliche Kellnerin, als sie
sah, dass Hollaender sein leeres Glas mit Daumen und Zeigefinger drehte.
„Nein vielen Dank. Ich bevorzuge jetzt ein ordinäres Bier, wie mein
Gegenüber hier“, gab er zurück und deutete mit dem Kinn auf Henry. „Sie
angeführt von Grün, ein kleines, recht ordentlich wirkendes Hotel. Der
Eingang lag geschützt unter einem Baldachin aus blauem Zeltstoff, der auf
dünnen Stützen ruhte, und der bald bis zur Mitte des Bürgersteiges
hervorstand.
„In ein oder zwei Tagen wird ein verrückter, älterer Typ vorbei kommen,
Mayer oder so ähnlich heißt er. Mein Cousin verfügt über viel Einfluss und
kennt viele Leute, wissen sie. Sein Arm reicht bis tief in dieses Land“. Er
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legte eine Pause ein, zündete sich eine Zigarette an und sagte etwas, was
„Ob wir uns jetzt mögen oder nicht, wir müssen doch allezeit zusammen
sich, stieg die Treppe hinab, Hollaender hörte seine Schritte durch die
dünne Holztür. Sie schauten ihm vom Fenster aus nach, als sich der
„Das Hotel ist doch o.k.?“, fragte Herb Mayer noch bevor er sich den
beiden Deutschen vorstellte. Mit der flachen Hand drückte er auf die
Matratze des noch von der Nacht zerwühlten Bettes, um ihre Qualität zu
„Gutes Bett, gutes Hotel“, sagte er mit einer Stimme, die das ganze noch
Er schüttelte zuerst Ilse die Hand. „Mayer, Herb Mayer“, verkündete er, als
müsse halb New York stolz sein auf solch einen Kerl wie ihn. Herb Mayers
Deutsch war kräftig gefärbt mit gutturalem Jiddisch, jener Weltsprache, die
nach dem Krieg nur noch von ein paar Tausend Menschen beherrscht
wurde. Herb Mayer rollte das „R“, blähte das „J“ und stauchte das „E“,
jonglierte mit den Buchstaben, kaute jedes Wort und ließ es auf der Zunge
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bevor er es ausspie mit feuchter Prononcierung. Hollaender mochte diesen
Die beiden Männer saßen sich in einer Bar in der Nähe der U-Bahnstation
Hollaender bat den Wirt, die Musik leiser zu stellen. Ein alter Mensch
könne den, er bat um Entschuldigung für den Ausdruck, Krach, nicht gut
„Das tut wohl“, freute sich der Alte, als er sich wieder zu Henry setzte.
„Stille ist selten geworden, finden sich nicht auch?“ „Ist irgendwo in einem
Zimmer ein Loch in der Wand, wird sogleich ein Lautsprecher hingestellt.
Lautsprecher, da sagt doch schon alles. Laut und sprechen, welch ein
Unsinn. Lassen sie uns ein paar Minuten einfach schweigen und dem
Henry stimmte zu, warum, wusste er nicht, wohl aus Angst Hollaender zu
unterbrach Hollaender die Stille am Tisch. „Ich mag keinen Lärm und
keinen Qualm, nicht mehr. Ist es ihnen möglich, das zu akzeptieren? Viele
Tage werde ich nicht mehr benötigen, dann ist unsere Geschichte zu Ende“.
„Unsere Geschichte...?“
„Ja, inzwischen koitierten meine Geschichte und das, was sie als Geschichte
„ Ich wundere mich ein wenig, dass sie das nicht bemerkt haben. Nolens
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Unterschied zur biologischen Definition, nach der die in Symbiose
„Sie meinen also, ich will ihnen schaden“, fragte Henry ungläubig.
„Nun, vielleicht nicht bewusst. Aber es ist ihnen gelungen, alte Wunden
aufzureißen. Mein Leben hat sich damit sehr verändert. Dagegen kann ich
mich jetzt nicht mehr wehren. Die Wunden klaffen, so ist das. Ich
ermögliche ihnen einen Blick in die Hölle, damit schade ich ihnen. Jeder
Gleichzeitig werden sie Schuld empfinden, die ihnen aber nie zugesprochen
von Witebsk. Die Eltern waren wohlhabend und nicht ohne Einfluss, denn
der Vater war ein geschickter Kaufmann. Die drei Kinder lernten an
schwere Krankheit den Vater für lange Zeit ans Bett. Er konnte den
Geschäften nicht mehr nachgehen und seine Kunden, deren Treue er früher
besuchten sie ihn noch am Krankenbett, aber schon bald wandten sie sich
von ihm ab. Die Mutter versuchte den Handel weiterzuführen, aber sie hatte
kein Glück. Ihr gelang es nicht, das Netz an Freundschaften, deren einziger
beglückte die falschen Leute mit Nachgiebigkeit, zollte den Beamten nicht
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genügend Respekt und schalt ihre ungeduldige Kundschaft. Dazu spuckte in
jener Zeit die zaristische Obrigkeit den Juden kräftig in die Suppe. Zar
Alexander und sein Sohn Nikolaus, der dem Vater nach dessen
hinterlistiger Ermordung auf dem Thron folgte, verboten den Juden die
Städten. Per Ukas wurde ein Ansiedlungsrayon katastriert, der den Handel
mit den Kindern auf der guten Schule verlor nach und nach ihren Geltung,
alter Tatkraft, aber er Stand vor den Trümmern seines Handels. Eines Tages
sagte er zu seiner Frau und seinem ältesten Sohn Herbert:“ Meine Lieben,
mir ist kein Geld zur Bestechung der Beamten des Zaren geblieben, keine
für die Schulausbildung, keines für Kleidung und nur noch wenig für
Nahrung. Ich will mich dem Zug der Auswanderer nach Amerika
anschließen und ihr werdet mir in einigen Monaten folgen, sobald ich das
Geld für eure Reise zusammen habe. Bis dahin bist du, mein lieber Sohn,
das Oberhaupt der Familie. Pass mir gut auf deine Mutter und die
Schwestern auf.“
Am 3. April 1901 verließ der alte Mayerbeer seine Familie in Plotzk und
schiffte sich auf ein rußendes, fauchendes Dampfschiff nach Amerika ein.
Die Mutter und die Schwestern weinten ihm nach, auch Herbert war zum
Weinen zu Mute, aber sein Stolz, nun das Oberhaupt der Familie zu sein,
war größer.
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Auf der Überfahrt sah der Vater viele Menschen sterben. Und er sah viele
gelangte kein Tageslicht und keine Frischluft. Die Kleider faulten den
die fast zu ertasten war in den elenden Quartieren: Man hörte nur das
Stöhnen und das Gejammer. Kaum waren die Leute drei, vier Tage an Bord,
war ihnen alle Hoffnung vergangen. Die apathischen Mütter wussten nichts
mehr mit ihren Kindern anzufangen, die ihnen um die Beine krochen, und
denen die Bäuche aufgasten vor Hunger. Die Männer lungerten, von
sinnvoller Tätigkeit ausgeschlossen, herum, und nicht selten entlud sich ihre
Vater Mayerbeer bestand die Prüfung in einem dieser Viertel in New York,
waren.
Die Mutter, die Schwestern und Herbert erlebten in den Monaten vor ihrer
und Städte verheerten und sich alles raubten, was ihnen von Wert schien.
Die Juden, die sie nicht töteten, wurden verjagt. Sie schändeten Frauen und
Mädchen und unterschieden dabei nicht sehr genau. Auch die Schwestern
und die Mutter von Herbert kamen ihnen in die Fänge. Sie besudelten sie
und hinterließen für alle Zeit ein Stigma auf den Frauen. Für Mutter
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Mayerbeer, eine verblühte Schönheit von 43 Jahren, hatte sich der Anführer
der Horde etwas ausgedacht, was sogar die Vorstellungskraft seiner rauen
Kumpane übertraf. Er warf sie auf den Boden, riss ihr den weiten Rock
hoch und versuchte ihr den Schaft seines Gewehres in den Leib zu bohren.
Als sein Vorhaben zunächst nicht gelang, drehte er die Waffe um, und
steckte der sich unter reißenden Qualen windenden Frau die Mündung in
den Leib. Danach zog er die Waffe mit einem heftigen Ruck wieder heraus,
drehte sie und schob ihr unter Aufbringung von großer Kraft den hölzernen
Griff in die Scheide. Blut schoss aus ihrem Schoß und rötete das
Unterkleid, den Fußboden und rann den Oberschenkeln entlang bis zu den
ersparte, rollte sie ihre Augäpfel, so dass nur noch weiß zu sehen war. Die
Umstehenden, die eine derartige Marter noch nicht gesehen hatten, fanden
lachten, zunächst nur ihr untertäniges Lachen, das sich alsbald steigerte in
einen Rausch. Sie rissen die Schwestern auseinander und einer nach dem
anderen machte sich über die Mädchen her. Diejenigen, die gerade nicht an
der Reihe waren, würgten sie und hielten ihnen die Arme fest an den Boden
die das Geschrei eingestellt hatten und nur noch wimmerten wie
Katzenjunge vor dem Ertränken. Die Schmerzen, die ihnen die Horde
zufügte, ließen alle Gedanken absterben, brachten sie um den Verstand. Vor
Qualen und Scham wünschten sie sich den raschen Tod herbei. Aber der
Tod ereilte sie nicht. Nach einer Weile, die ein ganzes Zeitalter dauerte,
ließen die Folterer von ihren Opfern ab. Polternd und grölend wie sie in das
Haus der Familie Mayerbeer eingerungen waren, zogen sie wieder ab. In
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mörderischer Gründlichkeit verwüsteten sie die Wohnung, zerstörten das
und die Mädchen gestorben waren; sie ließen sie in ihrem Blut und in den
Trümmern liegen.
Die Pogrome breiteten sich in flammenden Schüben aus, die immer wieder
verlassen hatten, lag beklemmende Ruhe über den Häusern, Schuppen und
Ställen, Äckern und Wiesen. Der Wind fuhr mit einem Rauschen in die
Pappeln. Aus den Siedlungen wurde das Leben hinaus gepeitscht auf die
Straße, wo es im Morast versank. Die Hühner liefen ziellos hin und her und
schauten so aufgeregt, als hätten sie begriffen, was passiert war. Irgendwo
brüllte eine Kuh, deren Milch in den Eutern versauerte. Während dessen
prahlten die Täter bei Schnaps und Bier in den Wirtshäusern oder
Das Geld des Vaters kam. Mit letzter Kraft, und mit dem Geld des Vaters
machte sich die Familie auf den Weg nach St.Petersburg. Kurz darauf
„Ich höre meine Mutter heute noch über die Zaristen und ihre Soldateska
fluchen, die alle feige Speichellecker, Schänder, Mörder und Gauner waren.
Und die ungewaschenen Bauernsöhne standen uns auch nicht bei. Sie hatten
nur Stroh im Kopf“, erzählte Herb Mayer Hollaender. „Die Seelen der
Mutter und der Schwestern waren schwer versehrt. Ich merkte das erst viel
später, aber da gab es keine Rettung mehr. Die Hurensöhne haben alles
durcheinandergebracht“.
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Henrys Vater war bei einer Versicherungsgesellschaft durch fleißiges
Position gekommen, die es ihm abverlangte, mit Autorität eine Truppe von
fließendem Material, der seine Autorität und seinen Rang unterstrich. Mit
der Zeit hat er sich ein schmuckes Reihenhaus mit Satteldach erarbeitet.
Vor dem Haus parkte der schnittige Dienstwagen. In Henrys Vater glühte
nicht eben ein großer Geist. Praktisch veranlagt, galt seine Aufmerksamkeit
dem Wohle seiner Familie. Nur sein Sohn bereitete ihm Sorgen. Er konnte
ihm schon nicht mehr folgen, als dieser vierzehn, fünfzehn Jahre alt
Menschen der sich „Don Juan“ nannte und schrieb selbst Gedichte. Sie
alles überragenden und alleine selig machenden ersten Liebe. In der Schule
galt Henry als begabt, wenngleich seine Lehrer nicht recht wussten, in
welche Richtung seine Eignung tendiere. In diese Zeit fiel auch ein
Ereignis, das Henry bis zum heutigen Tag nicht vergessen konnte. Der
Vater warf einen ganzen Stapel Blätter in den Müll. Der Vater glaubte,
seinen Sohn vor sich selbst schützen zu müssen und ihn anzuspornen, etwas
Vernünftiges aus seinem Leben machen. Alles, was sich nicht sofort in
Mark und Pfennig umrechnen ließ, galt dem Vater als unnützes Zeug.
Henrys Mutter hingegen versuchte mit ihren Mitteln den Sohn zu schützen
und zu verstehen. Aber alles, was sie zustande brachte, war ein zähflüssiger,
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Der jungen Magda Lantz, geborene Stummbaum, prophezeite man eine
glänzende Zukunft, denn das Mädchen bewegte sich in der Malerei ebenso
exzellent, wie in der Musik. Ihr Herz gehörte Ludwig van Beethoven und
zum Kränkeln neigende Magda brachte jedoch nicht die Kraft auf, ihre
Nach der Niederkunft mit Heiner, auf diesen Namen wurde Henry getauft,
ließ sie ihre Lehrtätigkeit ruhen und nahm sie auch Jahre später nicht mehr
auf.
Heiner hatte als Gymnasiast den Spitznamen „Henry“, mit dem ihn die
prächtig, benötigte aber viel Zuwendung, die ihm die Mutter mit großer
Hingabe schenkte. Sie verglich bei Familienfesten gerne die Liebe zu ihrem
was regelmäßig mit einigem Befremden beantwortet wurde und dem Sohn
Im Laufe der Jahre, eins glich dem anderen, trübte sich das Gemüt von
Henrys Mutter. Sie war der festen Überzeugung, dass die Jahre nicht
zusammenfielen. Wenn sie also auf ihr Leben zurückblickte, sah sie nichts
als ein Trümmerfeld. Und später, ihre Melancholie war fortgeschritten, lag
nicht nur ein Trümmerfeld hinter ihr, sondern auch die Aussicht in die
Zukunft verhieß nichts als Trümmer, so weit sie blickte. Der Trübsinn der
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Mutter schritt unaufhaltsam voran und die Gedichte des Sohnes wanderten
von der Liebe zum Tod. Die Depression verschlechterte ihren Zustand so
sondern nur einzelne Brocken, die ihr vor die Füße rollten. Sie dämmerte
schattenstill vor sich hin. Ein ums andere Mal marschierte die schmerzhafte
Migräne wie ein Heer todbringender Soldaten herbei. Am Ende bewegte sie
„Schön, dass sich mein Sohn auch mal wieder zeigt“, begrüßte Manfred
„Interessiert dich das wirklich, wie es deiner armen Mutter geht, oder
belastet dich dein Gewissen? Willst du höflich sein, gut erzogener Sohn
„Vater, bitte entschuldige, ich möchte keinen Streit. Ich möchte wissen, wie
es der Mutter und dir geht. Gerade zu ihr zieht es mich, wo es sie doch so
„Woran du eine große Schuld trägst, mein Sohn. Du hast deiner Mutter sehr
viel Kummer gemacht. Sie wollte, dass du hier bleibst, du gingst fort.
Gerade, als es ihr schlecht ging, hast du das Gegenteil dessen getan, was
sie, oder auch wir, wollten. Dein Egoismus hat sie krank gemacht. Mich
übrigens auch“.
„Das ist nicht wahr, und das weißt du ganz genau. Ich habe keine Lust, mit
dir immer und immer wieder dasselbe Thema zu diskutieren. Du hast sie
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Rasenmähen, den Grillabenden mit den unglaublich langweiligen
Menschen und mit deinem Desinteresse an den Dingen, die ihr wichtig
Vorsichtig schlich er sich in das Zimmer, in dem seine Mutter mit vor
Haare, die es umgaben, die schlaff am Körper anliegenden Arme und ihren
Brustkorb, der sich hob und senkte. Er strich ihr zärtlich über die Wange
Der Vater hatte den Sohn im Türrahmen lehnend beobachtet. Als sich
Henry an seinem Vater vorbei drücken wollte, nahm er ihn in den Arm, und
sein ganzes Leben floss dahin. Die Frau todkrank, der Sohn im Streit aus
dem Haus.
„Es ist noch früh am Abend, lass uns noch etwas essen gehen. Hier in der
„Danke“, unterbrach ihn Henry, „mir ist nicht danach, verzeih, ich möchte
alleine sein“.
Der alte Lantz machte es seinem Sohn nicht leicht. Er zählte zu den
keinen wirklichen Grund, der dazu taugte, ihn zu kritisieren. Er war ein
versuchte die Familie zusammen zu halten und ein nützliches Mitglied der
Lokalzeitung, die er hasste, weil sie seine Gedichte nicht abgedruckt hatten.
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Jetzt brauchte er sie nicht mehr. Jetzt war er in Berlin, suchte dort die
Anerkennung, die er sich beimaß. Der Abschied vom Vater war herzlich, so
als ahnten beide, dass sie sich nicht so bald wiedersehen würden. Noch
einmal besuchte er die Mutter in ihrer Gruft, sie lag wach, und antwortete
Auf der Reise zurück nach Berlin umkreisten seine Gedanken Hollaender.
Der Schnellzug fraß sich durch die deutschen Landschaften. Wälder, klein
Zwei Tage hatte Henry am Schreibtisch verbracht. Nur einmal sah er Arno,
der gerade mit einer hübschen jungen Dame nach Hause kam. Am Abend
des dritten Tages machte er sich auf den Weg, den alten Hollaender zu
treffen. Unterwegs schüttelte er über sich selbst den Kopf: ‚Warum tue ich
Ein benutzter Teller mit Essensresten stand vor ihm, das Besteck ordentlich
ausgerichtet, die Serviette darüber. Er hatte gut gespeist und war offenbar
„Ich grüße sie, Henry. Nehmen sie Platz. Ich habe gut gegessen. Wie geht
es ihnen? Haben sie Hunger? Wo waren sie, ich habe sie schon vermisst?“
„Mir geht’s gut, danke, dass sie fragen. Ich besuchte in Köln meine Eltern.
War nicht sehr angenehm. Meine Mutter ist sehr krank und mit Vater
verstehe ich leidlich. Wir leben auf zwei weit entfernten Planeten“. Er
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andächtig und nickte ab und zu. Henry klagte über das Unverständnis
seines Vaters, das Leid der Mutter, das Reihenhaus mit Satteldach, die
Rhododendron sprießt und blasse Hortensien, die immer aussehen als seien
sie verblüht, das Auge beleidigen. Er klagte über die Geranien, die von den
„Hören sie auf“, befahl Hollaender. „Was erzählen sie mir von einem
grotesken Theater. Ich will ihre boshaften Arien nicht hören. Sie bis oben
voll mit Undank. Wie können sie so über ihre Eltern reden?! Eines will ich
ihnen sagen, es betrifft ihre Mutter. Sie ist die einzige, die begriffen hat,
dass die Welt ein Grab ist. Nur eines hat sie in ihrem Leben nicht erfahren
dürfen, wie es scheint, dass der Künstler der Grabwächter ist. Wenn sie
diese Konsequenz gefolgert hätte, würde sie sich frohgemut aus dem
Krankenlager erheben, ihrem Vater und ihnen in den Hintern treten, sich an
Alfred Hollaender und Ilse saßen mit Herb Mayer im Auto und waren
unterwegs nach St.Louis. In drei Tagen wollte Herb die 1000 Meilen lange
Strecke geschafft haben. Aber er hatte die Rechnung ohne seinen alten Ford
gemacht. Der Wagen bereitete ihnen immer wieder Probleme. Mal war es
die Benzinleitung die leckte, dann drohte das Kühlwasser zu kochen und
zwei Mal mussten sie unter Einsatz großer Kräfte Reifen wechseln. Aber
nach den vielen Pannen entschloss sich der betagte Ford zu funktionieren
und es ging flott voran. „Und außerdem“, betonte Herb beruhigend, „läuft
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Etwa 50 Meilen vor Indianapolis, in einem staubigen Nest mit Namen
Madison, stoppte Herb den Wagen vor einem unscheinbaren Gebäude, das
von einem nach allen Seiten offenen Turm gekrönt war. Unter dem spitzen
das Glöckchen schlägt und für wen, wer es antreibt und warum es innehält.
„Nein, nein“, antwortete Herb. „Den Priester in dieser kleinen Kirche kenne
ich, es ist zwar nur ein Christ, aber was soll’s, vor Gott gelten alle
Hochzeiten“. Er lachte wieder. „Ich erinnere mich, dass du mir erzählt hast,
Hollaender fühlte sich ertappt. Sein Gesichte rötete sich. Tatsächlich hatte
er Herb in New York von seinen Absichten erzählt. Es stimmte auch, dass
er sich auf dem Schiff geschworen hatte, Ilse mit einem Rosenstrauß, ganz
offiziell und feierlich, einen Heiratsantrag zu machen. Jetzt stahl ihm Herb
die Schau und Ilse saß auf dem Rücksitz, lächelte verlegen und tat so, als
ginge sie das alles nichts an. Hollaender fasste sich ein Herz, ergriff Ilses
Hand, küsste sie lange und fragte sie schließlich:“ Willst du meine Frau
werden. Willst du Frau Hollaender werden?“ Er hatte seine Frage mit etwas
ohnehin vorhatte, aber nicht zu dem von ihm geplanten Zeitpunkt. Die erste
ihn Herb vor die Entscheidung gestellt. Ein Zurück gab es nicht mehr.
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Ilse, die seit ihrer Flucht nach Kladow nie mehr etwas zu bestimmen hatte,
nicht gefragt worden war, ob sie lieber dies wolle oder jenes, die sich in ihr
Schicksal fügte und gehorchte, fand sich unvorbereitet vor der Alternative,
Hollaender zu heiraten, oder eben nicht, mit Folgen, die sie nicht
einzuschätzen vermochte. Eine wirkliche Wahl hatte sie nicht. Sie saß
Wagen, schaute abwesend aus dem Fenster und der Film ihres kurzen
Lebens lief ab. Endlos dauerte das Schweigen. Das Abendlicht zauberte
eine Milde in ihr Gesicht, die das Tageslicht nicht zuließ und die das
„Im Talmud steht, dass der Mensch erst dann vollkommen ist, wenn er
einen Ehepartner hat“, sagte Herb über die Rückenlehne im Wagen gebeugt.
„Gefastet habt ihr auch, oder? Solltet ihr Bedenken haben, so kann ich sie
sie folglich auch von einem Priester in einer Kirche vollzogen werden
können. Zwei Zeugen stehen zur Verfügung, George der Priester, und seine
Haushälterin. Die macht mit, ich bin sicher. Na ja, und als Chuppa nehmen
wir einfach...“, er überlegte kurz, „ja, natürlich“, rief er, „das Dächlein oben
auf der Kirche. Ringe hast du auch, Alfred, also, ihr beiden, worauf wartet
ihr noch?“
Ilse willigte ein. Ein Rest schwachen Missgefühls, das Hollaender nach
Herbs Vorstoß in sein Privatleben auslöste, und sein Groll über das eigene
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flüsterte ihr etwas ins Ohr, sie kicherte wie ein kleines Mädchen, dann
küsste er sie innig und anhaltend, bis Herb sie unterbrach:“ Halt, halt, dafür
Wenig feierlich, nur eine Formalität, war ihre Hochzeit. Der gelangweilte
Priester George spulte sein Programm ab, wie er es täglich bei vielen
Paaren machte. Nur eines war nicht wie immer: dass seine Haushälterin als
Zeugin her halten musste. Sie erledigte die Pflicht, zu der sie ihr Priester
aufgefordert hatte mit einigem Argwohn. Sie entledigte sich ihrer Schürze,
legte sie über eine der Kirchenbänke und wohnte mit gleichgültiger Miene
der Zeremonie bei. Danach verließ sie ohne Gruß die Kirche.
Herb hatte ihnen auf der langen Reise durch wundervolle Landschaften in
ihrem Traumland, an denen sie sich nicht satt sehen konnten, viel von
nähme sie die Geschenke Gottes nicht wahr, sagte Ilse: „Was war das für
„Ich bin eure Familie, ab sofort und so lange ich lebe“, antwortete mit lauter
Stimme der fröhliche Herb zu seinen Fahrgästen im Fond. „Ich bin Vater,
Je länger die Reise dauerte, um so mehr übertrug sich seine Stimmung auf
das Brautpaar. Bald waren sie eine kleine lustige Reisegesellschaft auf dem
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Nach dem Tod seines Vaters hatte Herb das Geschäft übernommen. Aus
weitem Umkreis kamen die Kunden herbei. Zu der Zeit, als der alte
Mayerbeer den Laden eröffnete, waren viele der jetzt die Straße säumenden
windschiefe Schuppen und ein Markt, das war alles, was er vorfand.
schien ewig, und in Weltraumnähe standen die weißen Wolken so stabil, als
„Mein Vater führte den ersten Supermarkt in dieser Gegend, als sich noch
kein Mensch hier vorstellen konnte, dass alle Waren des täglichen Bedarfs
verbarg er nicht den Stolz, den er bei der Erinnerung an seinen Vater hegte.
Damen und geheimnisvolle Pillen, die die Leute immer dann nachfragten,
wenn sie vom Trübsal geplagt wurden, wenn sie Brummschädel oder
Regel der Gattin ausblieb oder die Kinder ausdauernd schrieen. Herb Mayer
war mit seinen Geschäften sehr zufrieden. Es gelang ihm ein erkleckliches
Begabung aus einem Dollar zwei, aus zwei vier zu machen hatte ihm Vater
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Noblesse durchzogen war wie das seines Vaters, dessen Erscheinung von
guter Mann. Es war ihm aber nicht gelungen, eine Frau zu finden, die ihm
„Ich habe viele gesehen, die zu mir gepasst hätten, die sogar ganz
ansehnlich waren, aber letztlich entschwanden sie alle wieder. Die Frauen
kamen und gingen. Ich wurde älter, so alt, bis mir schließlich gar keine
mehr folgen wollte, bis auf die, die für ein paar Dollar zu allem bereit
Mayers Mutter und die beiden Schwestern hatten Vater und Bruder schon
„Es gab immer Streit“, erzählte Mayer. „Unsere Familie, auf die wir einmal
so stolz gewesen waren, zerbrach in zwei Hälften. Was sollten wir tun. Die
Frauen zeterten, wollten und konnten nicht ablassen, der Vater wohl auch
nicht. Du darfst eines nicht vergessen, seine Frau und seine Kinder wurden
auf das Grauenhafteste gepeinigt, man hat dem Vater damit auch die Ehre
genommen, man hat ihn zerbrochen...“. Herb Mayer hielt kurz inne, als
„Unsere Mutter erklärte die Männer, verstehst du, alle Männer, nach den
Schändungen zu Feinden und nahm Vater und mich von diesem Fluch nicht
mit ihr verbunden, schalten uns als Lumpen und als genauso
verachtenswert, wie die Schufte, die ihnen das Schlimmste angetan hatten.
Zornig und verbittert rief sie dem Vater zu, die beiden Töchter an der
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Hand:“ Du hast in Amerika gehockt, schön gemütlich, hast dich aus dem
Staub gemacht, und dann dieser Laden....und dein Sohn hat uns auch nicht
geholfen!“
„Ja, sie war sehr ungerecht, die Mutter“, seufzte Herb Mayer.
„Wir haben nie wieder etwas von ihnen gehört, das hat dem Vater das Herz
gebrochen“.
Hollaender und Ilse bezogen eine kleine Wohnung über dem Geschäft. Das
Appartement bestand aus zwei Kammern, die durch die Küche zu erreichen
Hollaender zog rasch die hässlichen Vorhänge zu Seite, die den Blick zur
große Bett, Ilse kicherte. Links und rechts standen Nachttische, auf denen je
nicht erkennen, ob jemals eine Türe den Schrank verschlossen hatte. Ilse
„Schau Alfred, hier, ein Kühlschrank, ein elektrischer. Zuhause, ich meine
Zwischen dem klobigen Kühlschrank und dem Gasherd war eine breite
Ablage an die Wand geschraubt. In der Mitte, unter eine nackten Glühbirne,
wartete Geselligkeit versprechend der Tisch mit vier Stühlen. Alles sah
abgenutzt aus. Ordentlich zwar und sauber, aber die Wohnung hätte
„Wer wohl hier wohnte?“, fragte Ilse ohne eine Antwort zu erwarten.
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„Mit etwas Farbe werden wir unser Reich verschönern“, sagte Alfred.
Kaum hatten sie ihre wenigen Habseligkeiten verstaut, rief auch schon Herb
müsste. Hollaender und Ilse schauten sich erstaunt an. „Was meint er
damit? Sollen wir jetzt schon, also an unserem ersten Tag hinunter ins
„Lass nur, Liebes, ich gehe, ich mach’ das schon. Warum sollen wir
aufschieben, was nicht aufschiebbar ist. Die Wohnung UND das Geschäft
Sein Englisch hörte sich noch sehr bemüht an, auch fehlten ihm viele
Vokabeln. Auf der langen Überfahrt lernte er ein paar Redewendungen und
Worte, die er sich sorgsam notierte und immer wieder las. Seine erste
Kundin in St.Louis, in Mayer’s Super Market, war eine alte farbige Frau,
die zwei Flaschen Coca Cola und Kornettbeef in der Dose kaufte. Herb
Mayer hielt sich im Hintergrund, sprang nur dann ein, wenn Hollaender gar
Hollaender und Ilse machten große Fortschritte, teilten sich die Arbeit klug
auf, sehr zur Freude des Inhabers. Nach und nach übertrug ihnen Herb
Mayer mehr Aufgaben. Mit Freude beobachtete er das Ehepaar und war
sogar stolz und zufrieden, dass nun nicht mehr alle Verantwortung auf
seinen Schultern lastete. Jeden Morgen in der Früh brach Hollaender mit
Ware zu besorgen. Derweil stand Ilse im Geschäft. Herb Mayer ließ sie
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immer öfter alleine und irgendwann trat er sogar seine erste Urlaubsreise
Die Jahre vergingen im Flug, Zeit zum Nachdenken blieb kaum. Das
Sorgen, ihre Freude und ihr Glück umkreisten heliozentrisch das Geschäft.
Herb Mayer begnügte sich inzwischen damit, erst am späten Vormittag aus
seiner Wohnung, die ein Stockwerk über der der Hollaenders lag, herunter
Kaffee zu schlürfen. Hier versammelten sich zu dieser Zeit die Alten aus
Herb Mayer über das deutsch eingefärbte Englisch von Herb zu lästern, alle
am Tisch lachten. Hollaender lachte zurück und rief über die Ladentheke,
dass das Englisch vieler am Tisch nur älter klang, nicht aber besser.
Treppen hoch hinauf zu Herb. ‚Seltsam’, dachte er, als er vor der
der gute alte Herb wird alt.’ Es dauerte einige Zeit, bis die Türe geöffnet
wurde. Herb wirkte verschlafen oder verwirtt. Seine Haare standen wirr
vom Kopf.
„Die Ilse und ich haben überlegt, dass es an der Zeit sei, einen Verkäufer
du...“,
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„Ich weiß, ihr arbeitet mit unerbittlichem Fleiß, deutschem Fleiß könnte
man bald sagen. Wenn du dir das gut überlegt hast, habe ich natürlich nichts
Kirk, ein junger Kerl, 26 Jahre alt, trat die Stelle in Mayer’s Super Market
an. Er wohnte nur ein paar Blocks weiter, seine Mutter war eine treue
Kirk entlastete vor allem Ilse, die neben der Arbeit im Geschäft, für die
Männer kochte und den Haushalt führte. Sie zog sich zurück, saß manchmal
alleine am Tisch oben in der Wohnung, hörte Schlager aus dem Radio und
ihre Gedanken schweiften weit ab vom täglichen Einerlei. Sie entließ sie
aus dem Fenster, sie strömten die Straße hinab, die in gerader Linie aus der
Stadt führte und sie stießen tief in das weite amerikanische Land. ‚Ihr
Land?’, dachte Ilse. Sie träumte von San Franzisko, dorthin flogen ihre
Gedanken. Von San Franzisko hatte sie in einem Magazin gelesen. Von den
Twin Peaks, die sie auf einer Fotografie bestaunte, von den cable cars, dem
Pazifik, der Golden Gate Bridge aber auch von Alcatraz. Ilse trat zwei
Schritte vom Fenster, ging in der Wohnung rastlos umher. Jetzt, mit sich,
dem Radio, dem Tisch und der schönen Wohnung alleine, schämte sich,
auch bei größter Anstrengung kein Glück fühlen zu können. Sie überlegte,
ob ihr Kinder fehlten, eine richtige Familie. Dann wieder empfand sie
Dankbarkeit.
‚Hatte Alfred sie nicht vom Hof geholt, sie nach Amerika geführt, und zu
190
‚Golden Gate’, murmelte sie vor sich hin.
Dankbar war sie den Freunden, einige stammten aus ihrer alten Heimat,
Emigranten wie sie, obschon seit langem Amerikaner, aber dennoch mit
Ilse kochte Herb Mayer das Mittagessen, wie jeden Tag, immer zur
gleichen Zeit.
„Herb“, hallte es durch das Treppenhaus. Kurz darauf schlurfte Herb herein.
Er fühlte sich so müde in letzter Zeit. Nach dem Essen ruhte er. Am
wanderte durch die Korridore, die die Regale mit den Waren bildeten,
rückte Preisschilder zurecht, bis später die alten Freunde kamen, so verlief
das Leben.
zusammen, manchmal stellte sich Besuch ein. Ilse hatte aus der schäbigen
Wohnung ein gemütliches Nest gebaut. Bunte Tapeten und neue Möbel
hatten sie sich angeschafft und ein Telefon. Wenn Ilse vor dem Gerät saß
und Strümpfe stopfte oder Rätsel löste und darüber in gesunde Müdigkeit
verfiel, stand Hollaender oft lange am Fenster. Er sah dem Verkehr zu, der
sich vom Jefferson Boulevard in die 22. Straße, ihre Straße, einschob und
kurz vor dem Backsteinhaus mit Mayer’s Super Market an einer Ampel
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schwitzender Menschen, an Autos und Mauern gelehnt, so als erwarteten
sie etwas.
An einem Morgen im Sommer des Jahres 1962, die Nacht hatte kaum
Was meinst du, sollen wir nicht nach Herb schauen, da stimmt was nicht.
Um diese Zeit ist er doch üblicherweise längst unten zum Kaffee gewesen?“
„Du hast Recht, das sollten wir tun“, entgegnete sie ihm. Beide beschlich
ein mulmiges Gefühl, als sie hoch zu ihrem alten Freund stiegen. Ihr
Klopfen blieb unbeantwortet. Die Tür war unverschlossen, sie traten ein in
Der alte Herb Mayer, Herbert Mayerbeer aus Plotzk in Weißrussland, der
freundliche Kaufmann, der Jude, lag in seinem Bett und Gott hatte ihm die
Hände gefaltet. Er war in der Nacht gestorben, hatte die Welt verlassen,
Hollaender und Ilse verlassen, sein Geschäft verlassen, das sein Vater als
Heimstatt für die Familie gegründet hatte. Er saß an der Seite seines Vaters
und schaute zu mit liebevollen Blick auf Hollaender und Ilse, die zu seinen
Liebeskummer, er weinte, streichelte dem Freund übers Haar und fiel auf
Er weinte um Frieda, Rosa, Paul, um alles, was man ihm genommen hatte.
Er vergoss die Tränen, die ihm früher nicht aus den Augen kommen
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wollten. Er weinte um ein ganzes Volk, ein Ozean voll Tränen. Herbs
friedlicher Tod belebte auf grausame Weise die Vergangenheit. Ihm wurde
klar, dass der Fluch seines Lebens nie vergehen würde. Er war nicht zu
vertreiben mit Arbeit, nicht mit Mühsal und auch nicht mit Liebe. Von dem
geblieben. Der Hass hatte nie aufgehört in ihm zu kochen. Sein Hass war
wie Magma, die ewig glühende Schmelze, die tief in der Erde in ihren
Die Kundschaft in Mayer’s Super Market hatte sich verändert, genauso wie
Viertel. Sie grüßten nicht beim Betreten des Ladens, beachteten Hollaender
nicht, behandelten ihn wie ein Regal, das eben so herumsteht, mit irgend
etwas gefüllt, wovon man sich bedienen kann. Oft schimpften sie,
wurde kaum noch verlangt. Zigaretten, Schnaps und Bier verlangten die
Leute. Zwei Häuser neben Mayer’s Super Market befand sich bis vor
einigen Monaten noch ein Hutgeschäft. Der Besitzer war Jakob Armreich.
Ihn lernten Hollaender und Ilse schon kurz nach ihrer Ankunft im
die Neger, die sich im Viertel ausbreiten würden, kein Geld in der Tasche
hätten und immer nur bevor den Geschäften lungerten ohne zu arbeiten.
„Von morgens bis abends hängen die Leute herum und vertreiben uns noch
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Niemand im Viertel vermochte genau zu festzustellen, wann alles anfing.
auch immer Leute weggezogen und neue kamen hinzu“. Einmal sagte ihm
verdammt viele neue Leute nach Deutschland, sonst wärst du ja heute nicht
hier“. Hollaender wurde sehr wütend und noch Tage später sprachen die
„Den Armreich traf es schneller, denn Hüte verkaufen sich eben nicht wie
Lebensmittel. Wer trägt den heutzutage noch einen Hut. Die Leute wollen
andere Sachen und ein guter Kaufmann muss sich anpassen. Wenn keiner
mehr Hüte kauft, dann muss ich was anderes verkaufen. So einfach ist das“,
sagte Hollaender zu seiner Frau, als sie in lauer Nacht am Fenster lagen und
dem Treiben auf der Straße zuschauten. Immer noch hegte er Groll gegen
Armreich.
Die Sirenen, die sie früher nur aus der Ferne, vom Fluss her vernommen
hatten, rückten näher und endeten bald täglich in der 22. Straße, ihrer
Straße. Es brannten Autos, Männer wurden gejagt und verprügelt und sogar
Schüsse fielen. Sie knallten wie Donnerschläge. Lange war es her, dass
Hollaender und Ilse durch Schüsse in der Nacht jäh aufgeweckt wurden.
die Zettel mit den Geldbeträgen zusammen, die er wieder einmal hat
stunden müssen, als die Türklingel des Geschäftes läutete. Kirk war heute
schob das neue Gitter vor das Schaufenster und die Eingangstür. Hollaender
194
hatte diese Vorsichtsmaßnahme aber versäumt. Er hatte kaum aufgeblickt,
da fühlte er die kalte Mündung einer Pistole an seinem Kopf. Durch den
durch den Hintereingang. Niemand hatte sich die Mühe angetan, das
hartem Griff entriss einer der Ganoven Hollaender das Geld und stopfte es
in seine Tasche, während der zweite sich seelenruhig eine Flasche Bier
öffnete und sie in einem Zug leerte. Er stieß einen lauten Rülpser aus, die
Kumpane lachten. Danach pisste er in die Auslage, in der noch ein paar
Äpfel lagen, die Hollaender mit in die Wohnung nach oben mitnehmen
wollte. Angst und Zorn mischten sich, als er tatenlos zusehen musste, wie
brüllten die Kerle, dass sie Weiße verabscheuten und weiße Juden noch viel
mehr.
Der Polizeioffizier, der einige Zeit später mit einem Kollegen am Tatort
aufmerksam, stets den Kopf hin und her wiegend, lauschte, schob die
Wissen sie, lieber Mister Hollaender, die Zeiten haben sich geändert. Was
sollen wir tun. Was um alles in der Welt sollen ein paar Polizisten tun,
wenn es überall brennt? Die Armee müsste hier aufkreuzen und das
Gesindel verjagen, dorthin, woher sie kommen. Gestern haben sie uns mit
Steinen beworfen, heute schießen sie. So ist das. Ich gebe ihnen einen
kostenlosen Rat, machen sie’s wie ihre Nachbarn“, er deutete mit seinem
Arm auf die gegenüberliegende Straßenseite. „Sehen sie genau hin, was die
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machen. Die packen ihre sieben Sachen und verschwinden. Die Stadt ist
groß. Es gibt hier auch Platz für euch Juden. Hauen sie ab“, riet er in
‚was nutzt das’, dachte er finster. Die Polizisten schrieben noch etwas in
ihren Block, stellten Hollaender ein paar Fragen, dann verließen sie das
Geschäft missmutig betrachtete, ruhte sein Arm noch auf Ilse, die seltsam
bewaffnen.
„Wir müssen uns selbst schützen. Die Gangster haben Waffen, nun, dann
Ilse hatte sich aus seiner Umarmung gelöst und begann mit den
ihn in seine Richtung. Mit von Ekel und Wut verzerrtem Gesicht schrie
sie:“ Ja, tu es, knall sie ab. Während. Alfred Hollaender war bereit den
Kampf aufzunehmen.
die weißen Rassisten? Vielleicht gegen die ganze Welt? Nein Alfred, mein
Kampf ist vorbei. Ich kämpfe seit Jahren...“. Sie sank auf den Boden,
schlug sich die Hände vors Gesicht und schluchzte. Hollaender verweilte
unentschlossen hinter dem Pult. Liebe, Mitleid, Sorge alles stieg auf einmal
in ihm hoch. Er kratzte sich an der nackten Brust, die behaart aus dem
Hemd schaute, und schritt langsam auf sie zu. Sie spürte seinen Atem näher
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verwischt, blickte ihm das nackte Entsetzen entgegen. Er beugte sich und
ihm, dass sie ihre Zukunft hinter sich hatten. Die Zukunft des Geschäftes
und die gemeinsame Zukunft des Ehepaares Hollaender. In ihm wühlte die
Ob Ilse ihn geliebt hatte? Ob sie ihn jemals geliebt hatte? Das Schicksal
führte sie zusammen. Sie fühlte sich Hollaender zugehörig, sich in Sprache,
Abkunft und Heimat mit ihm verbunden. Er hatte sie aus ihrem Dasein als
Magd befreit und sie überführt in ein Dasein als treusorgende Ehefrau. In
den Nächten, wenn das Getöse auf der Straße nachließ, die Schlaflosigkeit
Entscheidung heran, alles hinter sich zu lassen. Oft, und darüber erschrak
sie, sehnte sie sich in die Obhut der Familie Fechtner zurück. Sie dachte an
den kleinen Hof, die Dorfwirtschaft, in die sie der Bauer gelegentlich
losschickte, einen Krug Bier zu holen, an die Tiere, den märkischen Wind,
der in die zittrigen Blätter der Pappeln stieß und an die große, Geborgenheit
das one way Ticket, das ihr die Reise nach San Franzisko sicherte. Was sie
dort wollte, und warum sie sich gerade für diese Stadt entschieden hatte,
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blieb im Dunkeln. Sie hatte für ihren Mann kein Wort des Abschieds
gefunden; vielleicht aus Scham, oder der Befürchtung, er würde sie zurück
gehalten haben. Jetzt saß sie an einer Busstation draußen am Stadtrand. Ein
vermählte sich mit Blättern und kleinen Ästen, sie band ihr Haar zu einem
Zopf zusammen. Wann der nächste Bus kommen würde, wusste sie nicht,
blinzelte in den grellen Himmel, schloss die Augen, sie fühlte nichts. Wer
sie so sitzen sah, spürte ihre anrührende Verletzlichkeit. Mit den von der
Gesicht, die ihr den Wind immer wieder auf die Augen legte. Autos fuhren
an ihr vorüber, manch ein Fahrer winkte ihr zu. Lastwagen, beladen mit
vorbei, der Sturm, den sie vor sich herschoben, warf Ilse fast von ihrem
stritten. Schließlich stand sie, verspannt vom verkrampften Sitzen, ging ein
paar Schritte, bis sie aus der Ferne den Greyhoundbus herannahen sah. Eine
Staubwolke vor sich herschiebend hielt der Bus neben ihr. Freundlich
Kofferradio, das ihn mit Unterhaltung begleitete, tönte ein Schlager. Eine
löste einen Stein aus dem Trümmerhaufen, den sie in ihrem Herzen
schleppte. Die Überreste erzählten von einem Leben, als sie fröhlich und
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Auf einer Bank schräg gegenüber von Ilses Sitzplatz döste ein Mann vor
Regen über sich ergehen. Hollaender grub in seiner Vergangenheit wie nach
einem Schatz. Er duldete kaum eine Regung und schon gar keinen
Widerspruch. Oft legte er seine Stirn in Falten und ließ seinen Blick über
Henrys Miene wandern. Er sezierte ihn und freute sich über seine Funde. Er
ahnte nicht, wie grob er Henry verletzte, dass seine monistische Haltung
Befehl und Gehorsam. Die Männer beschritten einen Weg, auf dem es kein
Zurück gab.
Ilse schaute lange auf ihren Nachbarn, der eine seltsame Anziehungskraft
auf sie ausübte. Lässig zurückgelehnt lag er im Sitz, die blonden Locken
quollen unter seinem Hut hervor. Gleichmäßig hob und senkte der Atem
seinen Brustkorb. Seine weichen Gesichtszüge, die sich unter dem Hut
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gefielen ihr. Ein Lächeln überzog sie. Sie lächelte mit dem ganzen Körper.
Er glich Hermaphroditos, sie der Nymphe Salmakis, die, ihn mit Amor
Hollaender zu lieben, der vorgab, sie befreit zu haben, gerettet vor dem
Misthaufen in Kladow und der Mühsal auf dem Bauernhof, wie er immer
betonte. Sie horchte vergeblich nach dem inneren Ruf. Hingabe und
In dem Greyhoundbus ließ sie zu, dass ihr laute Sätze aus dem Mund
entwichen. Der Mann mit dem Hut erwachte und hörte Ilse, wie sie ihm mit
Die Weite des Kontinentes flog an ihnen vorbei. Der Bus leerte sich, füllte
sich wieder mit Reisenden, die schwitzend ihr Gepäck verstauten, die
Fahrer wechselten, Ilse und ihr Nachbar waren immer noch an Bord. Ihr
Ziel war die Endstation. Sie parlierten unbeschwert, machten sich über die
durchfahren hatte.
Ilse war keine junge Frau mehr, eine verschleierte Eleganz war ihr jedoch
sie sich wie ein junges Mädchen. Sie lachte unbeschwert, als wäre sie ohne
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Vergangenheit, als hätte sie eben die High School abgeschlossen, und
Mit stoischer Ruhe lenkte der Fahrer den Bus, er schwitzte stark. Wenn sich
er sich einer Stadt näherte, kündigte er diese mit blumigen Worten wie ein
Reiseführer an. Hin und wieder warf er einen Blick in den Spiegel. Er hatte
schon viele Buslieben entstehen sehen. Aber oft taten sich die Menschen
Freunde, verabschiedeten sich, und sahen sich nie wieder. Auf diese Weise
wurden viele Geheimnisse ausgetauscht, Intimitäten, die man sonst für sich
behalten hätte.
„So ein Bus ist eine eigene Welt. Durch die Fenster sieht man eine ganz
andere, vergängliche. Hier drinnen bleiben die Menschen und die Zeit steht
Der Mitreisende schwieg, sah sie lange mit leerem Blick an. Unterdessen
ertastete er sich Ilses Hand und hauchte einen Kuss darauf. Sie ließ es
„Nein“, antwortete Ilse. Ich hab’ mal was über San Franzisko in einer
Illustrierten gelesen. Das könnte mir gefallen. Es ist dort warm und die
Sie hatte ihm im Verlauf der Reise viel von Hollaender erzählt, von ihrem
Geschäft in St.Louis, von den Überfällen. Sie sparte dabei auch nicht ihre
„Du kannst bei uns wohnen. Ich lebe zusammen mit meiner Halbschwester
in einem Haus, von dem aus man die Bay sehr gut sehen kann. Eine
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wundervolle Aussicht. Oft sitze ich stundenlang auf einem Felsvorsprung
„O.k.“, unterbrach ihn Ilse, „ich schaue es mir an. Von dort aus kann ich
Frank Elroy, der Bekannte aus dem Bus, war ein Veteran. Schon sein Vater
war Veteran. Zwei Kriege auf dem fernen Kontinent legten tiefe Gräben in
die Familie. In seinen Träumen wurde Frank Nacht für Nacht von Bord
Kameraden geweckt, aus dem Schlaf hochschreckt. Jede Nacht besuchte ihn
der Soldat, dem eine Granate ein großes Loch in den Leib gerissen hatte,
Körper zu stopfen und flehte, vor Franks Bett kniend, ihm zu helfen. Er riss
seinen Mund auf, ein stummer Schrei beendete die Nacht, jede verdammte
Kummer über den Bruder, legte stets ihre Hoffnung in die Frauen, die
Frank mit nachhause brachte. So sollte auch Ilse Frank zuerst vom Schnaps,
dann vom Krieg heilen. Franks Seele war jedoch so zerschossen, wie der
Die Schwester hatte einen Mund wie ein Fischmaul und immer, wenn sie
mit weicher Stimme sprach, bewegten sich ihre schwülstigen Lippen auf
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und zu, als schnappte sie nach Luft. Sie erzählte mit dem Fischmund, wie
Frank stundenlang auf einem Felsen sitze, aufs Wasser stiere und Flasche
um Flasche leere. Dann komme er nachhause, stinke aus allen Poren und
kotze, jeden Tag. Manchmal verreise er für einige Tage. Er nenne das
Urlaub.
Einmal, nachdem Frank Ilse im Rausch die Nase blutig geschlagen hatte,
packte sie ihren Koffer. Er bemerkte es nicht. Wieder war ein Stück ihrer
Hoffnung zerbröckelt. Die Vergangenheit lag hinter ihr, und keine Zukunft
vor ihr. Die Schwester schaute ihr nach, bis sich Ilse im Flimmern der Hitze
verlor.
Henry verbrachte den Tag in einem Museum. Weniger das Interesse an der
klassischen Moderne leitete ihn, als der einsetzende Regen, vor dem er
ihm gleich und wanderten ziellos mit auf dem Rücken verschränkten
Armen und dem Blick des Connaisseurs an den Gemälden vorbei. Die
ihnen zu entfliehen. Egal wohin er sich bewegte, der schneidende Klang der
allwissenden Stimmen war schon da. Trotzdem gelang es ihm mit einem
Sylvette David, als die blecherne Stimme, die zu einer dicken Frau gehörte,
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ausfüllte und Henry wieder hinaus in den Regen trieben. ‚Lieber Regen als
Ein dicker Tropfen löschte seine Zigarette. Er wartete, nur halb vor dem
Regen geschützt, in einem Unterstand, als die Zukunft und etwas Zeitloses
die hübsche Sylvette, also Helen, zerfällt, und die Bruchstücke ihres
Er fuhr mit dem Wagen in der Gegend um her, und wo er auch fragte, ein
Krankenhäusern und fragte, das Foto in der Hand, nach seiner Frau. Kein
brusthohen Tresen beugte sich der Beamte herab, und beschied ihm
nachhause zu gehen. Wenn man etwas in Erfahrung bringe, werde man ihn
schon davon in Kenntnis setzen. Sein Weg mit dem Lieferauto führte ihn in
abgelegene Gegenden der Stadt, die er zuvor noch nicht gesehen hatte.
mit einem fremden Mann sitzend. Eifersucht mischte sich plötzlich in seine
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zwang er sich zur Arbeit. Nach Ilse hatte ihn nun auch Kirk verlassen, der
eine neue Stelle gefunden hatte. „Hier gibt’s nichts mehr zu holen, Al“, rief
er seinem Chef zum Abschied zu. Die Sorge um Ilse ließ nicht nach. Er
schaute aus dem Fenster, sah die Schwarzen mit hämischem Grinsen an
schwarze Gestalten vor ihm auf, traf ihn wie ein Blitz glühende
Nachts träumte er von ihnen, am Tage überfielen sie das Geschäft. Die alten
traten Frieda und Rosa ihm zur Seite...’Habe ich mein Schicksal
überleben? Wie kann ich verhindern, dass einen nächsten gibt?’ Viele
Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Er schritt zum Schaufenster, das
er vor einiger Zeit zusammen mit seinem Freund Sam durch Gitter gesichert
auseinander zu ziehen waren. Eine kleine Stelle im Fenster war nicht mit
den Blick frei auf die Straße. Hollaender sah, was er immer sah. Jeder
Im Viertel sammelte sich der Abfall. Die Stadtverwaltung hatte nach der
sich häufenden Zahl von Übergriffen auf ihre Müllmänner den Abtransport
Wracks und anstelle der Fenster klafften nun gähnende Löcher, die das
205
zerstörte Innere der Wagen freigaben. Die Fensterhöhlen der verlassenen
gefangen hielten, hinaus auf die Straße. Die Löcher riefen Hollaender zu,
dass er, der Jude, der Deutsche, der Weiße, nicht in diese Gegend gehöre.
Er solle endlich verschwinden. „Verpiss dich“, malten sie mit Kreide auf
den Gehweg.
sortiert werden, als ein lautes Scheppern, gefolgt von einem Klirren den
Vormittag zerschnitt. Ein Ziegelstein landete mit dumpfem Knall auf dem
sich zusammenfiel und sich auflöste in Millionen Scherben. Er hielt sich die
Ohren zu und verkroch sich unter einen Tisch, weil er mit einem zweiten
und dritten Stein rechnete. Zitternd wartete er unter dem Tisch. Als er
annahm, der Angriff sei nun vorbei, kam er aus seinem Versteck hervor und
taxierte das Ausmaß der Zerstörung. Voller Rage rannte er zur Türe hinaus
auf die Straße, vielleicht war noch ein Täter zu erwischen. Gleichsam nackt
ohne den Halt der Scheibe. Draußen lachten einige Leute, andere gingen
rasch vorüber. Mit so etwas wollten sie nichts zu tun haben. Eine alte Frau
verscheuchte.
Die helle Sonne brach in sein Geschäft und mischte sich mit dem
grünlichen Neonlicht.
206
‚So hell war es noch nie’, dachte er voller Sarkasmus.
‚Sollte ich jemals neue Scheiben anbringen lassen, werde ich sie nicht mehr
bekleben.
Nichts als das Gitter trennte ihn von dem Leben auf der Straße und von dem
umher streichenden Lumpengesindel, das immer nur grinste und die weißen
Körpern.
Die Polizei rückte nicht an. Die Glasscherben waren schnell zusammen
gekehrt, gelegentlich unterbrach er seine Arbeit, warf einen Blick auf die
sich befand. Auch Sam und die anderen wenigen Freunde, die im Viertel
„Das hatten wir alles schon einmal“, bestätigte Sam, „aber nicht hier in
Amerika. Man stelle sich das einmal vor: Eine verfluchte Kette der
Ereignisse. Der weiße Mob schlägt auf den schwarzen Mob und der
mit einigen Maklern, die, als sie hörten in welchem Stadtbezirk das Haus
207
sich befand, schnell das Interesse verloren. Andere wären durchaus bereit
Woche, sein Geschäft war immer noch geschlossen, zog er seinen besten
die ihm die Empfangsdame zugewiesen hatte, wartete Hollaender. Über ihm
auf der Straße fuhren die Wagen, man konnte sie nicht hören. Kein Laut
„Kaffee?“
„Nein, nein. Nur ein paar Minuten“, sagte die Dame beiläufig, und stakste
Herb Mayer ererbt hatte, und den er später zu großer Blüte geführt hatte.
ragten alle Graphen steil in die Höhe. Im Dunst seiner eigenen Worte
208
wollte. Geduldig, in dezenter Höflichkeit lauschten ihm die Herren in ihren
Referat über das in St.Louis einzigartige Geschäft dauerte, desto mehr wich
schönen Diagrammen mit den steilen Graphen gehen wollte, unterbrach ihn
einer der Zuhörer. Es war der jüngere der Herren und offenbar oblag ihm
„Lieber Mister Hollaender, ersparen sie sich und uns das jüdische
Geschwätz. Wir wissen ganz genau, warum sie verkaufen wollen. Wir
glauben sie, wie werden in unserer Bank von Nachrichten abgeschirmt? Wir
verschanzen uns nicht hinter dem Geld von unseren Kunden. Und wissen
ausgefressen hat.
„Wenn uns nicht das Vertrauen entgegen gebracht wird, das wir verdienen
durch den ehrlichen Handel und die Verwaltung der Besitztümer unserer
Kunden. Und wir lieben es nicht, wenn man uns zu verarschen versucht“,
sagte der Beamte mit Bestimmtheit und sein Jackett hob sich vor Stolz.
Auf der Heimfahrt kam ihm Ilse wieder in den Sinn. Er seufzte schwer.
‚Was sie wohl jetzt, in diesem Augenblick tut? Lebt sie noch? Wie gerne
hätte ich ihr mitgeteilt, dass ihr heimlich gehegter Wunsch nach Rückkehr
nach Deutschland, oder sollte ich besser sagen Abkehr vom Unglück hier in
209
Amerika, wohl bald in Erfüllung geht? Ich weiß es nicht.’ Die Fahrt im
dichten Verkehr der Großstadt zog sich hin. Er saß in seinem leeren
Lieferwagen, die Autos vor ihm hielten, er betrachtete die Menschen rechts
und links auf den Trottoirs, die Geschäfte, Hochhäuser, und bemerkte
An den Verlust, der ihm das Geschäft mit der Southern National Bank
schob er die Schmach beiseite. Er prahlte nicht vor seinen Freunden mit
dem Verkauf, wie er es sonst gerne tat, sondern teilte ihnen nüchtern mit,
dabei, dass er Verkauf des Geschäftes und die geplante Rückkehr nach
sich ein Glas Wein, setzte sich an den Tisch, es war immer noch der erste
‚Hätte ich etwas verhindern können? Ilses Flucht, wenn auch nicht das
nicht lache. Was ist an mir jüdisch, mein Geschwätz etwa? Oder gar, dass
ich den besten Preis für Mayers Super Market herausschlagen wollte? Ist
das ein Verbrechen? Habe ich mich des Verbrechens schuldig gemacht,
mein Geschäft verkaufen wollte? Was habe ich den Schwarzen dort unten
getan?’
210
Wenige Tage blieben ihm noch vor der Abreise. Er plante ein
Abschiedsessen mit den Freunden. Wehmut stellte sich ein, als er daran
dachte, dass er nie wieder an diesen Ort zurückkehren würde. Mit der Zeit
würden sich die schönen Stunden mit den schrecklichen zu einer einzigen,
würde er den Groll ersaufen, davon war Hollaender fest überzeugt. Seine
Früher, als die Ilse noch da war, hatte er ihr gerne die Hausarbeit und das
Kochen überlassen. Sie war eine vorzügliche Köchin, sie konnte in kurzer
einzukaufen, den Tisch zu decken und die Wohnung für seine Gäste mit
den Tisch festlich zu decken und am Ende, zur eigenen Belohnung, ein
Die Brüder Ronald und Donald Frischmut waren die ersten, die sich
Amerika. Oft saßen sie zusammen an diesem Tisch, Herb, Ilse, Sam und
Hollaender. Ilse liebte den Tisch wegen seiner feinen Maserung, es war bei
Hollaender nach seinem Tode nicht nur Haus und Grund, sondern auch die
Mann, der zu jedem Thema eine passende Stelle im Talmud zitieren konnte.
211
Karl und Hedda Pollak kamen zusammen mit ihrer Tochter Edith, die
obschon über dreißig Jahre alt, immer noch bei ihren Eltern lebte.
Hollaender und Ilse hatten die Familie, die aus einer Provinzstadt an der
gute Freunde. Karoline und Herschel Bleiberg hatten sich entschuldigt, sie
Kommen.
bemerkten, dass die Gastgeberrolle bei allem Eifer nicht zu seinen Stärken
gehörte, sprangen hilfreich zur Seite. Man plauderte und trank, die Zeit
verging im Flug. Wieder und wieder ließen sie die alten Zeiten hoch leben,
aber niemand störte sich daran. Alle waren betroffen von den Ereignissen,
„Die Geschäfte locken doch als leichte Beute die Gangster an. Es ist leicht,
zücken, wenn es gut läuft setzt es nur Schläge für den Kaufmann, wenn es
schlechter läuft fallen Schüsse oder Messer kommen zum Einsatz. Was
sollte uns in dieser Situation deine bald leer geräumte Wohnung kümmern“,
entschuldigte.
212
Die Überfälle, die Demütigungen und der vollständige Rückzug der
gediegenen Bürgerlichkeit, lasteten auf allen. Hollaender war der erste, der
Es ging hoch her an diesem letzten Abend. Man diskutierte, wie es so weit
hat kommen können, dass die Anarchie in ihrem Viertel obsiegte. Karl
Hollaender erlebte als Einziger die Schrecken, und dennoch fand er in der
Nachsicht mit dem Volk der Täter sein Heil. Er war alleine. In ihm lebte die
Heimat noch, er zehrte von den schönen Tagen, die anderen hatten ihre
Erinnerung längst aufgezehrt. Sie waren Teil des neuen Landes geworden.
Sie verschmolzen mit der Stadt, der Straße und dem Viertel, das sie mit
aufgebaut hatten. Sie fühlten sich als Pioniere und schufen mit ihren starken
Händen und Fleiß ihr neues Schtetl. Hier naschten sie von der gewonnenen
Freiheit.
„Ich glaube an den Allmächtigen und an den amerikanischen Staat, der uns
„Das ist doch Unsinn, Samuel. Mir ist schon lange keine Streifenwagen
mehr begegnet“, widersprach Karl. „Ich kann Alfred verstehen. Er trägt die
Polizeibeamten gejagt, obwohl er unschuldig war, nur weil er Jude ist. Hier
213
darf man zwar Jude sein, hier darf jeder alles sein, aber es gibt keinen
Schutz vor denen, die uns hassen, weil wir Juden sind“.
„Ich sehe die Angriffe nicht als tiefen Hass, sondern als Ausdruck von
Brot und Schulen, so dass sie lernen können, was Glaube bedeutet, so
„Was ist mit der Armenküche. Habt ihr vergessen, wie wir den alten
Schuppen neben dem Park umgebaut haben? Habt ihr vergessen, wie er
brannte...?“
„Nein, Alfred, das haben wir nicht. Die Schuldigen wurden nie gefunden...“
So uneins die Freunde bei der Befassung mit politischen Fragen blieben, so
Das kleine Fest neigte sich dem Ende zu. Es war spät geworden. Einer nach
dem anderen verabschiedete sich. Mit jedem, der ihn verließ, brach ein
Sam blieb noch eine Weile. Nach dem Tod seiner Frau wartete nichts als
ein kaltes Bett auf ihn. Hollaender bewegte die Lampe, die in geringem
Abstand über dem Tisch hing. Ihr Lichtschein traf die leeren Gläser, die die
Gäste zurück gelassen hatten, und die vollen Aschenbecher. Er öffnete das
Fenster als hoffte er, die frische Morgenluft würde seine traurigen
214
taumelte im Gefängnis der absoluten Gewissheit seines Verlorenseins, das
vergitterte Fenster vor Augen. Es gab kein Zurück, seine Niederlage war
Vertriebenen.
scheinen, die überall auf der zu Flüchtlingen werden, und denen der Hass
„Einst beklagte sich das Volk Israel“, begann Samuel bedächtig, „dass kein
Regen fällt. Sie beteten und schworen alle Eide bis endlich der Regen
Heftigkeit fiel, dass die Tropfen so groß waren wie die Öffnung eines
Fasses. Da jammerte das Volk Israel erneut und betete und schwor, dass der
Regen aufhören solle. Herr der Welt, das Volk Israel, das du aus Ägypten
geführt hast, kann weder im Übermaß des Guten noch im Übermaß der
Hollaender starrte auf das Weinglas vor sich auf dem Tisch wie auf einen
„Du meinst also, dass das Verstehen nichts nützt, wenn es nichts zu
verstehen gibt, und du hältst mich für undankbar, ist es nicht so?“
Marcel Stein bei lebendigem Leib hat verbrennen müssen und er fügte die
Geschichte ihrer Flucht an. Er beschrieb die lebendigen Toten auf ihren
Beinen wie Stöcken, ohne Schuhe, ohne Kleidung, die leichengrau mit
die jedoch weder gesoffen noch gefressen hatten, bis sie schließlich von
215
einem Knüppel oder Gewehrkolben mit einem Schlag ins Jenseits befördert
wurden. Und er erzählte von der jungen Mutter, die wie eine Löwin um ihr
Kind kämpfte, was man ihr entreißen wollte, um es auf einen Berg mit
„Man hat ihr einfach die Augen ausgestochen, alle haben es sehen können“,
schloss er.
„Und da ist auch noch Ilse“ fuhr er fort. „Wir haben uns Schritt für Schritt
durch einen langen Gang getastet, bis hier her, in diese Wohnung, aber am
Ende habe ich sie verloren. Jetzt erst erkenne ich ihre Schwierigkeiten.
Zeiten treffen Menschen aufeinander, die bei Windstille an ein anderes Ufer
gerudert wären. Ohne Ilse lebe ich in Finsternis. Und aus der Dunkelheit
dringt keine Antwort zu uns. Die Antwort ist mit Licht geschrieben und
dieses Licht leuchtet mir aus meiner alten Heimat. Die Heimat ist
hatte die Zungen der beiden Männer träge werden lassen, ihr Geist dagegen
blieb wach.
„Gott mag weise sein, aber offenbar ohne Gnade“, entgegnete Samuel
nachdenklich.
Fett und feist stand Ignatz Grün vor Hollaender und blies ihm den Rauch
seiner Zigarette ins Gesicht. Er hatte den selben, festen Händedruck wie bei
Auftreten passte zu jeder Faser seines straff sitzenden Anzuges. Über seinen
216
rosigen Wangen funkelte ein grünes Augenpaar, das in jeder Sekunde
Wachsamkeit aussendete. Sein kleiner Hut saß schief auf dem rundlichen
Kopf.
„Ihre Frau Gemahlin reist nicht mit“?, erkundigte er sich mit unverhohlener
schüttelte:“ Nein, sie bleibt hier“. Die alte Abneigung gegen den dicken
Grün schmeckte bitter. Grün lächelte. Er wusste, was Hollaender dachte, tat
„Sie wollten mich dringend treffen, ließ mir mein Vetter ausrichten. Was
kann ich für sie tun? Dieses Mal helfe ich Ihnen auch ohne meinem Vetter
etwas schuldig zu sein. Warten sie, lassen sie mich raten. Ich denke, ihre
Frau ist ihnen davongelaufen, und sie wollen auf keinen Fall alleine in das
Land zurück, aus dem sie vor langer Zeit mit ihr zusammen emigriert
waren. Sie mussten aber nicht fortgehen. Der Krieg war vorüber, ihre
verfolgte sie mehr. Aber lassen wir das. Es steht mir nicht zu, ihr Leben zu
endlos langen, breiten Gang, Hollaender kam sich vor wie auf einem
217
Kaffee. Eine dunkelhäutige Kellnerin brachte ihn in Pappbechern, in denen
„Nun schießen sie schon los. Habe ich Recht mit dem, was ich eben
„Wenn man so aussieht ist es nicht sonderlich schlimm, wenn man nichts
kann, stimmt’s mein Freund? Ich gebe ihnen jetzt noch eine Minute“, sagte
er kurz und schaute auf seine Armbanduhr, eine teure, europäische Uhr.
Hollaender war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob er diesem Kerl den
vor der bösen Wahrheit zurück, die Grün, einmal in Gang gesetzt, ins Licht
seit Wochen. Nun könnte aus Ahnung Gewissheit werden und die Hoffnung
wäre dahin. Seine Hoffnung, sie tauche irgendwo plötzlich wieder auf,
„Die Angelegenheit ist nicht leicht für mich“, mühte er sich, den
Melodie. Er fror, als hätte Gott mit eisigem Atem zu ihm gesprochen, der
„Aber meine Zeit lasse ich mir von ihnen nicht stehlen. Sie müssen sich
entscheiden.“
218
Nach einigem Zögern griff Hollaender endlich in die Innentasche seiner
Jacke, umfasste den Umschlag und schob ihn Grün über den Tisch. Er hob
ihn an, ließ die Banknoten über den Daumen blättern und bedankte sich.
Grün wollte alles über Ilse wissen. Bereitwillig schilderte Hollaender die
letzten Tage vor ihrem Verschwinden. Grün insistierte und unterbrach ihn
Hollaenders Flug wurde aufgerufen. Grün fasste ihn am Ärmel und sagte:“
Keine Frau läuft ihrem Mann ohne Grund weg. Denken sie mal darüber
nach“.
getragen hatte, besah es sich und sagte: „Das ist aber nicht mehr neu!“
„Das ist nicht weiter schlimm. Sie hat sich kaum verändert. Sie ist sehr
attraktiv, heute noch. Sie werden sie mit Hilfe der Fotografie identifizieren
können, wenn sie sie gefunden haben werden“. Bei den Worten, die er
einfach so hingesagt hatte, erschrak er. ‚Was habe ich gerade gesagt?:
Identifizieren. Mein Gott, jetzt denke ich bereist selbst an ihren Tod.’ Ihm
wurde schlecht.
Die Männer verabschiedeten sich. Grün rief Hollaender auf deutsch zu:“
Viel Glück in ihrem neuen Leben. Ich mag sie, aber sie haben mich nie
219
Er verschwand in dem Strom der eilenden Menschen, die sich in den
Hollaender wurde von einer großen Welle erfasst. Schwindel befiel ihn, er
fühlte sich wie benommen, als hätte eine geheimnisvolle Droge seine Sinne
geschluckt. Die lauten Geräusche des Flughafens erreichten ihn nicht mehr,
Lamm, das zur Schlachtbank betrieben wird, alles über sich ergehen.
Plötzlich dachte er an Ilse, so heftig wie nie zuvor, von Sorge gequält, Grün
tauchte wieder auch, alles drehte sich. Mayers Super Market rotierte so
schnell, dass die Konservendosen, die Flaschen, das Obst, all der Krempel,
den er jahrelang verkaufte, im Laden umher rollte. Karl Kleiber lachte ihn
mit verkohlter Fratze an, Gebirtig schlugen sie wieder und wieder den
Schädel zu Brei, der alte Welter fuhr ihn auf seinem Rollbrett an, hatte
weder Zähne noch Nase noch Augen, ein Farbiger hielt ihm die Pistole an
die Schläfe und drückte ab. Hollaender sackte zusammen, grünweiß wie die
Neonbeleuchtung.
Die Boing der Lufthansa hatte bereits ihre Reiseflughöhe erreicht, als
Hollaender die Augen aufschlug und in das strahlend schöne Gesicht der
Stewardess blickte. Besorgt fragte sie ihn nach seinem Befinden, ob es ihm
seien soweit wieder in Ordnung, dass wir sie mitnehmen können, ein
220
Schwächeanfall, vielleicht wegen der Aufregung, aber alles nur halb so
schlimm“, sagte die Stewardess. „Fast hätte der Pilot sie nicht
ihn mit ihren mitleidigen Blicken. Er dankte für die Hilfe, er sei froh, dass
„Eine kleine Verspätung hat uns der Vorfall schon gekostet“, schalt sie ihn
Hollaender entschuldigte sich: „Das war wohl alles ein bisschen zuviel für
mich“.
Später war ihm aufgefallen, und ein wenig hatte er sich gewundert, dass alle
ihnen erlaubt, bis zur Maschine vorzurücken. Hollaender trat aus der Tür
der Maschine und winkte den Menschen zu. Tausende Blick hefteten sich
nahm er den Empfang zur Kenntnis, der töricht und befreiend zugleich
daher kam. Eine Kapelle kämpfte gegen den Fluglärm des Verkehrs und
und stand immer noch oben auf der Treppe, wollte sich nicht lösen von dem
Augenblick der Befriedigung. Er konnte die Klänge der Musik nicht hören.
Stumm pusteten die Bläser ihre Backen auf, der Schlagzeuger drosch heftig
221
auf die Trommel, das Glockenspiel, sonst hell und schrill, blieb unhörbar.
Die übrigen Passagiere drängten sich an ihm vorbei und bahnten sich
noch für Minuten hoch droben über den Köpfen. Mit würdevollen Schritten
näherte sich ein groß gewachsener, älterer Herr mit graumelierten Haaren,
die im Wind grotesk zu Berge standen. Er trug eine Schärpe quer über den
Oberkörper gespannt.
Frankfurt, Deutschland und die Welt sind vor Freude bewegt, ja ergriffen,
dass sie uns die Ehre erweisen, und wieder deutschen Boden betreten. Es ist
Die Stimme des Herrn mit der Schärpe verwandelte sich zu einem
brummeligen, langgezogenen Grunzen und wie von weit her geweht hörte
„Er lebe hoch, er lebe hoch...“, tönte es aus vielen Tausend Kehlen, aber
Freundschaft die Hand des Herrn ergreifen wollte, der mit tiefer
Verbeugung vor ihm stand, zerfiel er zu heißem Staub. Auch die erregten
Massen zerstoben und auf den noch glimmenden Staubhügelchen, die ihren
blickten.
222
Das Flugzeug landete sachte, wie es moderne Maschinen immer zu tun
pflegen, und Hollaender erwachte nur durch den Ruck des aufsetzenden
Ermattet von dem langen Flug, reckten die Passagiere ihre Glieder,
Hollaender tat es ihnen gleich. Er fühlte sich wieder gesund, ja frisch und
und fragte nach seinem Befinden, erdankte höflich und verabschiedete sich.
Hunger überkam ihn, denn er hatte den ganz Flug über nicht gegessen. Er
Nähe des Bahnhofs, den er in der Zwischenzeit erreicht hatte, suchte er sich
ein Café, aß mit großem Appetit eine Kleinigkeit und bestieg den Zug nach
Berlin. Er dachte an Ilse und Paul, dem er so nah zu sein glaubte wie nie
zuvor. Keinen Schritt bewegt hatte er sich bewegt, seit der Zeit, als er Paul
in der Blutlache hat liegen sehen. Wie damals breitete sich ein Gefühl der
Verlorenheit und Leere in ihm aus. Er sah das Leben seiner Familie und
in sein Buch, ein Stadtführer über Berlin, und entfloh auf diese Weise
Stadtführer beiseite und las eine Zeitung, die er sich am Kiosk gekauft
hatte. Es war die erste deutsche Zeitung, seit langer Zeit, die er in Händen
hielt. Ereignisse und Persönlichkeiten, von denen er noch nie zuvor etwas
‚Ist dies Anfang oder Ende’, fragte er sich. Wälder, Höhenzüge, kleine
Dörfer mit verlassenen Bahnhöfen, Felder, die nach der Ernte braun und
223
nutzlos sich ausbreiteten, von Hecken umsäumt, dem Wind trotzend, flogen
an ihm vorbei.
‚Deutschland im Herbst, auf der Fahrt von West nach Ost’, dachte
und Schritte auf dem Gang. Die Mitreisenden in seinem Abteil indes lasen
weiter, schauten aus dem Fenster oder dösten vor sich hin. Zwei Zollbeamte
erinnerten, schoben die Türe zum Abteil auf, grüßten förmlich mit an die
Mütze salutierender Hand und verlangten die Pässe. Sie sprachen nichts,
beäugten sehr aufmerksam die Papiere, bis sie schließlich mit hoheitlicher
Anwesenheit der Zöllner, so, als hätte er etwas zu befürchten. Schweiß trat
Gerstungen. Hollaender besah sich seinen Pass und las in dem Stempeloval
den Namen „Gerstungen“. Später, er achtete nicht darauf wie viel Zeit
verstrichen war, passierte der Zug die Grenze, die Deutschland hüben und
Wachtürme im Lager.
wandernden Bauwerke betrachtete, ‚hatten wir fast nichts erfahren über die
durch einen Zufall, irgend jemand hatte etwas gelesen oder gehört, wen
224
interessierte das damals schon wirklich’, zu ihnen heran. Der Alltag in
Mayers Super Market ließ auch wenig Zeit für die Betrachtung der
Hollaender widmete sich wieder seiner Zeitung. Ein großer Artikel erörterte
Zeitung hieß, zwischen Bundeskanzler Willy Brandt und Willi Stoph, dem
Gefühle. Eine Spalte daneben las Hollaender einen langen Nachruf auf den
hatte bei Ullstein gerade seine erste Arbeitsstelle angetreten, als Heinrich
Jugend auf. Hollaender starrte so lange auf die Seite bis die Buchstaben sich
Er dachte an Frieda, Rosa und Ilse und nahm einen Schluck Kaffee, den er
mit einem Cognac verstärkt hatte. Tränen sammelten sich in seinen Augen,
heiß rannen der Kaffee und der Cognac die Kehle hinab, sein Blick verlor
225
Helen kam sofort, als sie Arnos Brief erhalten hatte. Er schrieb ihr in
„Ich habe ihn mit offenen Armen und der Großzügigkeit, zu der ich mich
als alter Freund verpflichtet fühlte, bei mir aufgenommen“, teilte er Helen
mit. Seine Sätze wirkten auf sie wie auf Stelzen gesetzt, einer Sekretärin
diktiert, geschäftsmäßig. Von Arno hatte sie nicht anderes erwartet, sie
mochte ihn nicht. Sie erinnerte sich an ihre Verwunderung, als sie erfahren
Sie begegnete Arnos Begrüßung sehr kühl, distanziert, ohne ihre Abneigung
Sie wolle sofort sein Zimmer sehen, entschied sie und machte Anstalten,
den Raum gleich selbst zu suchen. Der Mann, der sie begleitete, etwa Mitte
dreißig, hatte kurze, blonde Haare, war offenbar sehr modebewusst. Der
verbergen. Er sagte nicht, schob Helen aber mit sanftem Druck an Arno
vorbei. Arno drehte sich um und deutete an, dass Henrys Zimmer auf der
gegenüberliegenden Seite des Flures liege. Sie drängte vor und pochte mit
der Faust an die Türe. Ohne auf Antwort oder Regung zu warten drückte
der sportive Schatten an ihrer Seite die Klinke herunter, er verspürte keine
Lust, seine Ungeduld zu zähmen. Er tat seiner Freundin Helen nur einen
„Er schließt sich immer ein“, sagte Arno beiläufig. Der blonde Schatten trat
vor, klopfte kräftig an die Türe. Das forsches Auftreten verfehlte seine
226
„Still, es regt sich was“, bemerkte sie mit vor Aufregung bebendem
nervös flackerndem Ernst. Die Tür wurde von innen einen Spalt breit
sich Henry, einem Gespenst gleich, aus der Dämmerung seines Zimmers
schälte. Ein zerzauster, staubiger Kopf, aus dem ein rot entzündetes
Augenpaar hervor blinzelte, streckte sich ihnen entgegen. Kurz darauf trat
Henry ganz aus der Türe, verwirrt, alterslos. Er saugte das Gift seiner
„Henry, was ist mit dir?!“. Helen konnte kaum glauben, dass diese
erbarmungswürdige Gestalt, die leicht gebeugt vor ihr stand und den Blick
zu Boden gerichtet hatte, ihr früherer Geliebter war. Seine mit Flecken
übersäte Hose schlackerte um die dünnen Beine, ein weiter Pullover hing
und das Make Up schmierte über ihr Gesicht. Gnadenlos war das Leben des
Alfred Hollaender in den letzten Monaten wie ein Zug über Henry
Aus dem Zimmer stieg der kalte Dunst einer Gruft. Zigarettenqualm und
die schwere Luft, die aus leeren und halbvollen Flaschen diffundierte,
Wie ein aufgeschlagenes Buch lagen die Reste von Henrys Leben vor den
gewordener Unschuld.
227
Zettel, Zeitschriften, Bücher, Socken, Unterwäsche und Hemden lagen weit
boten Orientierung. Sie verbargen den Schmutz und den Unrat mehr als sie
ihn ausleuchteten.
„Schließ die Tür“, befahl Arno vor Ekel. Helen gehorchte nicht.
Sie hatten die Tür zur Kammer eines Mannes aufgestoßen, der ausgezogen
war, um Worte zu finden. Der Zufall führte ihn in einen reich bestückten
Steinbruch, der ihm ein fremdes, unheimliches Leben offenbarte. Die Steine
aber waren stärker und schwerer als die Kraft von Henry. Sie deckten ihn
Schicht um Schicht zu, bis er vollständig verschüttet war. Ohne einen Sinn
zu ergeben lagen die geborgenen Steine vor ihm ausgebreitet. Sätze waren
So trat er hervor, ein Bild des Jammers, mit schmutziger Hose vor fremden
Helen und ihr Schatten betraten das Zimmer und wateten betroffen durch
den Unrat auf dem Fußboden. Vor ihnen öffnete sich ein Kosmos an
waren schwarz vor Schrift, der Wahnwitz unlesbar. Auf anderen wiederum
stand nur ein einziges Wort vermerkt. Mit spitzen Fingern hob Helen einen
auf, „Hollaender und ich sind Mörder“, konnte sie entziffern. In der
Zwischenzeit hatte sich Henry wieder auf seine Matratze zurück gezogen
„Hochverehrtes Publikum, jetzt kein Verdruss, wir wissen wohl, dies ist
kein rechter Schluss. Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen den
228
Vorhang zu und alle Fragen offen“, platzte es plötzlich aus Arno. Er lachte
“Du Arschloch!“
„Ich möchte, dass alle auf der Stelle mein Zimmer verlassen“, murmelte
Henry. Diese zehn Worte schnitt er sich regelrecht heraus. Mit wirrem
Blick spähte er über seinen Knie, die Katzenaugen blinzelten in die tief
stehende Sonne, die durch die offene Türe ins Dämmerlicht des Zimmers
fiel. Ein fetter Sonnenstrahl bahnte sich eine Schneise in das Reich aus
„Mein lieber Henry“, begann Arno, „du verkennst eindeutig die Situation.
Nicht du hast das recht, jemanden rauszuschmeißen, ich werde dich auf der
Die drei verließen das Zimmer, was sollten sie noch dort. Ratlos trafen sich
ihre Blicke, aber Arno lächelte immer noch ein wenig über sein Bonmot.
Helen lehnte aschfahl in der Küche, sie nippte an einem Glas Wasser, ihr
dem Balkon, ihre Schnäbel berührten sich, sie schlugen aufgeregt mit den
Flügeln. Arno hasste Tauben. Wütend über sich, Henry und die Besucher,
riss er die Balkontüre auf, die Vögel flatterten unbekümmert davon in den
milden Berliner Abend. Unten auf der Straße schob sich der Verkehr
einem Plausch, das Leben ging seinen Gang, wie immer. Nur oben, in
‚Hilft nichts’, sagte er zu sich. Er kehrte zurück zu den anderen und bot sich
229
Hellen und ihr Schatten lehnten brüsk ab.
„Ich bat dich hierher zu kommen“, sagte er mit drohendem Unterton, „dass
wir gemeinsam eine Lösung für das Problem finden, das wir eben dort
erschrocken oder was weiß ich, leidest gerade so viel, dass ich es bemerke,
und das soll es gewesen sein? Nein meine Liebe, so geht das nicht. Soweit
mir bekannt ist, seid ihr, also Henry und du, immer noch ein Paar“.
Der Schatten zog Helen fest an sich heran, so dass kein Zweifel mehr
bestand, wer mit wem ein Paar bildete. Helen wehrte sich nicht.
„Du hast ein Problem mit deinem Untermieter. Er hat mich verlassen, und
er ist zu dir gezogen“, antwortete sie mit zornig funkelnden Augen. Dabei
„Ich pflege keinen Umgang mit Männern dieser Sorte. Und zu dieser Sorte
zählst auch du“, beschied sie. Henry schaute aus seinem Zimmer, und
Die Haustüre fiel ins Schloss. Die Tauben hatten zu ihrem angestammten
ihnen eine Tasse entgegen, die laut scherbend unten im Hof aufschlug.
230
Auf der Straße fasste der Schatten Helen zärtlich am Nacken, griff mit
seinen Fingern wie ein Kamm in ihr wehendes Haar und wollte sie küssen,
Henrys Lethargie, die Lähmung lockerte sich. Er bewegte sich zum Fenster,
entfernte die Verdunkelung, riss das Fenster auf und schrie wie von Sinnen
heraus:“ Ihr rührt mit euren manikürten Händen an Dingen, die euch nichts
angehen, die ihr nicht versteht“. Die Passanten hoben kurz die Köpfe in
Richtung des Geschreis und gingen weiter ihrer Wege. Der Schatten
hinauf, der immer noch aus dem Fenster hing und lange in den beginnenden
Abend schwätzte. Es sah komisch aus, wie sie ihren Hals verdrehte, um ihn
zu sehen, während sie, eingehängt in den Arm ihres Schattens, in ihr Leben
gezogen wurde.
Alfred Hollaender erinnerte sich noch genau an den Tag, als er den Brief
eines gewissen Ignaz Grün aus New York in Händen hielt. Und er konnte
auch exakt das Datum abrufen, an dem er dem jungen Henry, der ihm mit
Lieber Al,
ich hoffe, es geht Ihnen gut. Sind Sie gut in Deutschland angekommen? Sie
haben mir nie geschrieben. Ich wünsche es sehr, denn die Nachricht, die ich
231
Ihnen mit diesem Brief überbringen muss, ist leider, und glauben sie mir,
ich hätte lieber bessere Nachrichten für sie, sehr, sehr traurig.
Hollaender las den Brief langsam, seine Hände zitterten, so dass er das
Papier vor sich auf den Tisch legen musste. Er konnte die schnell
geschriebenen Zeilen nur schwer entziffern. Es war auch lange her, dass er
englisch lesen musste, so dass ihm so manche Vokabel nicht mehr einfallen
wollte. Gespannt und aufmerksam folgte er dem Bericht des Agenten aus
der fernen Welt, die vor einem halben Menschenleben einmal seine Heimat
werden sollte, aber es nie wurde. Amerika war ihm entfremdet, die
Erinnerung verdünnte sich von Tag zu Tag. Ilse hingegen war in seinem
so, wie er sprach, in beinahe grobem Ausdruck, das Schicksal seiner Ilse.
Hin und wieder gestattete sich der Lesende eine Erholung und schaute vom
Blatt auf, dann sog er tief Luft ein, als benötige er einen langen Atem, den
Brief durch zu stehen. Ein Gedanke durchkreuzte ihn: ‚Will ich das wissen,
was mir Grün schreibt. Will ich das heute, nach so langer Zeit noch wissen?
Muss ich mir das antun, jetzt, wo ich ein alter Mann geworden bin, jetzt, wo
scheint?’
Die Straße unter seinem Fenster kam ihm vor, wie ein weit verzweigter,
von fiebrigen Adern durchzogener Teil eines Organismus, in dem die roten
und weißen Lichter an den Autos als weiße und rote Blutkörperchen
232
„Nachdem Ilse den geisteskranken Veteran verlassen hatte, reiste sie weiter
oder beides, wer weiß das schon. Im Sommer 1975 erreichte sie nach
längerer Odyssee kreuz und quer durch die südlichen Staaten ein
man mir mitteilte, gehörte auch ein Motel dazu. Ihre kleine Barschaft, die
sie wohl aus Ihrer Kasse entwendete hatte, Herr Hollaender, war schnell
aufgebraucht. Der Besitzer des Restaurants, ein, wie man mir zugetragen
hat, schmieriger Typ mit Namen Oskar Deibel, vermutlich ein Einwanderer,
aber das spielt an dieser Stelle wirklich keine Rolle, hatte gerade eine seiner
Kellnerinnen rausgeschmissen. Ihre Frau kam ihm gerade recht. So, wie
damals dort auftauchte, sah sie nicht mehr besonders gut aus. Nach
mehr so gut. Deibel sagte mir, dass sie gestunken hätte. Klebriges Haar,
hing strähnig von ihrem Kopf. Kurzum, ein jammervoller Anblick. Sie
war ja auch schon ein wenig angejahrt. Wie dem auch sei, der Not
gehorchend und irgendwie milde gestimmt, stellte er Ilse ein. (Sie erlauben
mir doch hoffentlich, dass ich Ihre Frau der Einfachheit halber in dem Brief
geschliffenen Charme einer reifen Frau ausgestattet, eroberte sie schnell den
Respekt der Gäste. Gestatten Sie mir an dieser Stelle eine kleine,
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keine Unbekannte. Mir fiel bei Ihrer beider Ankunft in New York ihre
vornehme Erscheinung. Ich schätzte damals, dass sie aus guten Hause
stammen müsse. Aber mehr wusste ich zu dieser Zeit noch nicht. Und, mit
Verlaub, es interessierte auch nicht besonders. Aber je mehr ich mich in den
Fall vertiefte, desto deutlicher trat der erste Eindruck wieder hervor. Ich
nachspüren zu können. Ich musste mich in sie hinein versetzen. Es ist mir,
wie ich meine, gelungen. Nicht zuletzt aufgrund dieser Erkenntnisse, Ilse
Nun, ihrem Chef Oskar Deibel, kann man keinen Vorwurf machen, ein
einfältiger Typ eben. Das entscheidende blieb ihm nicht verborgen. Ilse galt
sie schnell zur Seele des Betriebes, wie man so sagt. Aber sie hatte auch
Er bot ihr im Motel ein Zimmer an, das sie gerne annahm. Sie richtete sich
ein, kaufte dies und das für ihr neues Heim an, wer konnte schon wissen,
wie lange sie blieb. Deibel berichtete mir, dass sie ihm häufig traurig und
verschlossen vorkam. Zuweilen, wenn sie etwas getrunken hatte, löste sich
ihre Zunge und aus dem verschlossenen Wesen drang die melancholische
Sehnsucht nach einem früheren Leben. Freilich hatte sie nie Zweifel an
Glückes immer seltener wurden. Es fand sich das Tagebuch, dem sie sich
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abverlange, wo sie doch einfach nur leben wollte. Mir fällt ein Ausdruck
ein, der mir zutreffend scheint: Erhaben. Ich glaube, dass sie erhaben war.
Sie überragte ihr Elend, konnte ihm jedoch letztlich nicht entrinnen, sie
steckte bis zum Hals in dieser Suppe. Ich entdeckte aber auch Einträge, die
dem widersprechen, was sich mir an anderer Stelle aufdrängte. Sie war sehr
wankelmütig zu jener Zeit. Ich bin kein Psychologe, deshalb lassen Sie
Trotz ihres Alters (sie war ja kein junges Ding mehr) wurde sie beschrieben
als eine Frau, die sich eine gewisse jugendliche Unbeschwertheit bewahrt
hatte. Dieser Umstand wurde wohl durch die anregende Konkurrenz zu den
unbefleckte Glanz der jungen, kichernden Frauen ließ Ilse wieder glühen.
Sie soll vor dem Spiegel posiert, sich aufreizend benommen haben. Sie
wurde übermütig, gab Deibel zu Protokoll. Sie kaufte sich Kleider, die zu
Frauen ihres Alters nicht mehr so recht passen wollen. Die Röcke zu kurz,
der Ausschnitt zu tief, sie verstehen. Die Frauen schüttelten die Köpfe über
Eine Gruppe junger Kerle um einen Typen, den alle nur Stan nannten, traf
sich häufig bei Deibel. Sie tranken Bier, lärmten, lachten viel, nichts
Ernstes, wie Deibel später aussagte. Was gab es schon in Little Rock an
Unterhaltung für junge Leute. Während die Jungs um die Mädchen buhlten,
hatten sie für die verblühte Ilse nur Spott übrig. Sie ließ sich von
täuschen, die bei Lichte betrachtet, Beleidigungen waren. Das Licht war
nicht dort, wo Ilse sich aufhielt und so kam es, dass sie zweifelhafte
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Einladungen annahm. Ihrem Tagebuch vertraute sie an (ich habe es Ihnen
beigelegt), dass sich mit Ihrer Person nur leidvolle Erinnerungen verbinden.
Die Reise ins Ungewisse, ich schätze, sie meint damit die Abkehr von der
Langeweile setzten ihr sehr zu. Sie, Herr Hollaender, hätten das Leben
bestimmt. Von fremden Kleidern sprach sie, die man ihr übergezogen hätte.
Sie sei die perfekte Hausfrau gewesen, voll Demut und Zurückhaltung. Es
sei aber nicht ihr Leben gewesen. Als Ehefrau habe sie die Schenkel nicht
Eines Abends, die Nacht brachte kaum Abkühlung, wollte Ilse gerade das
Restaurant verlassen, ihre Tasche hatte sie schon über die Schulter gehängt,
als ein Wagen neben ihr hielt. Auf seiner gemächlichen Kontrollfahrt durch
die Hauptstraße schaute der Sheriff bei ihr vorbei. Sie bot ihm einen
lauwarmen Kaffee an. Sie sprachen kurz miteinander, schließlich drehte der
Sheriff weiter seine Runde. Es war noch nicht sehr spät. Der Sheriff gab
später zu Protokoll, dass es etwa gegen 23 Uhr gewesen sein musste. Ilse
schickte sich an, die milde, warme Nacht noch etwas zu genießen, einen
Schlendern stellte sie fest, dass das Licht der Straßenlaterne den gleichen
Farbton angenommen hatte, wie der gelbe Wüstensand, der den Ort umgab.
Sie streichelte den Hund der Stewarts, der in der Gegend streunte. Sie
erkannte das Tier an seinem blauen Halstuch. Auf der anderen Straßenseite
winkte jemand, sie winkte zurück, wusste nicht wer ihr gewunken hatte,
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ging weiter, schaute den Autos nach, die vorbeifuhren und lange Lichtkegel
vor sich her schoben, Staub aufwirbelten, bis sie sich in der Wüste verloren.
Die Lichter tanzten noch eine Zeit lang in der Schwärze des Nichts, das sich
„Ja Herr Hollaender, die Wüste verspricht und droht zugleich. Wenn ich
nun den weiteren Gang der Ereignisse dieses Abend rekonstruiere, ergibt
sich folgendes Bild: Ihre Frau bemerkte die Männer nicht, die hinter ihr her
Gewalt sind die Männer, gleichsam wie räudige Köter, über Ilse
zerrten sie ihr die Kleider vom Leib. Plötzlich blitzte die Klinge eines
Messers. Ilse schrie nicht mehr, als die Waffe mit voller Wucht bis zum
Mit starren Augen, so fand man sie, schaute sie ein letztes Mal zum
Himmel, die Sterne funkelten wie wenige Minuten zuvor, und wie früher,
als sie als kleines Mädchen versuchte die Sterne zu zählen und Sternbilder
zusammen zu setzen. Der Schmerz der Welt mischte sich mit den Bildern
Bilder nur noch aus Konturen, die sich langsam auflösten und zu einem
Sie war schon lange gestorben, als die johlende, keuchende Meute von ihr
abgelassen hatte und der letzte ihrer Peiniger seinen Schanz aus ihr heraus
zog.
237
Grün schrieb weiter: „Die Schändungen hatte sie entsetzlich entstellt. Die
Lokalzeitung schrieb in ihrem Bericht über die Tat, dass es in Little Rock
habe. Der Sheriff, der Zeuge und Ermittler war, sagte, „ich selbst habe ihr
Hollaender allzu offen mit dem, was von ihrer Jugend geblieben war,
kokettiert habe. Er ging nicht so weit zu sagen, dass sie die Tat provoziert
habe. Später erzählte er von der fleißigen Jugend im Ort, als wären es seine
Schaden der Mrs Ilse Hollaender eingestellt, hieß es nüchtern. Das Interesse
stieß auf eine Wand des Schweigens. Mit Glück gelang es ihm, Little Rock
unbeschadet zu verlassen.
Alfred Hollaender legte den Brief beiseite. Im Schrank wartete noch eine
Flasche Whiskey. Sie war ein Geschenk, von wem, wusste er nicht mehr.
Hollaender trank die ganze Nacht hindurch und stieß immer wieder auf Ilse
an. Er war sehr betrunken in dieser Nacht, nach dem Brief, der seine letzten
Hoffnungen zerstörte. Er saß an seinem Tisch, schaute auf das Bild von
Ilse, das er nach einer Fotografie hatte in Öl malen lassen, darunter hing das
Foto von Rosa und Frieda. Einen Augenblick lang wünschte er Ilses
oder einem Erdloch wird man sie beigesetzt haben, die Wüstensand fegt
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darüber hinweg. Wie viele Jahre habe ich sie nicht mehr gesehen? Gnädiger
Sein Kopf fiel in tiefem Rausch auf den Tisch. Der Schlaf war traumlos und
ohne Erholung. Dies war die Nacht der Nächte, die Nacht, in der ein
Zorn, wilder Wut und Hass, Verzweifelung und Not. Hollaender trug
Nur noch selten, an ganz wenigen Tagen, immer dann, wenn die
Dann trieb er mit bewölktem Gemüt ziellos durch die Straßen, wie ein
mit Zigaretten und Schnaps. Dort trafen sich die vom Leben
kläfften. Henry gesellte sich kurz zu ihnen, er rauchte und trank. Die
Sehnsucht, welche, das wusste er nicht mehr, trieb ihn weiter in die
nicht hell, nicht dunkel. Er spürte ewige Dämmerung. Henry fror vor
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rutschte ein paar Meter hinab, raffte sich laut fluchend wieder auf.
Rast ein und leerte dabei das Fläschchen Likör, das er sich zwischen
den Kiffern und Trinkern am Kiosk gekauft hatte, in einem Zug. Der
Schnaps erwärmte ihn für einen Moment und auch ein Gefühl großen
Glücks stellte sich ein. Er schwebte über den Dingen. Wie in einem
die Tiefe, Schwindel befiel ihn und ein aufgewühltes Meer tobte in
seinem Kopf. Die Wellen waren stärker als die Trägheit des
Stimme zu ihm und verlor sich wieder wie ein Echo. Dazu gesellte
erhob er sich mühsam und wankte auf die Schienen zu. Ein lautes
Pfeifen traf seine Ohren. Henry wich erschrocken zurück. Der Zug
den Zug begleitete. Die Zwerge aus seinen Träumen marschierten mit
kleinen Schritten auf ihn zu. Sie trieben Henry vor sich her und
stolperte und auf die Gleise fiel. Unter Siegesgeschrei machten sich
die kleinen Kerle über ihn her, wie die Liliputaner über Gulliver, und
banden ihn so fest, dass er sich nicht mehr bewegen konnte. Jedes
Haar knoteten sie an Pflöcke. Tausende von kleinen Fäden hielten ihn
fest am Boden. Zwei weit aufgerissene Augen, weißgelb wie die des
Teufels, rasten mit lauten Gebrüll auf ihn zu. Immer näher kamen die
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blendenden Lichter des Zuges. Die Zwerge hüpften mit flachen
ihm auf den Gleisen lag. Er stemmte sich mit aller Kraft gegen sein
Vor Henry indes tat sich ein unendliches Plastikmeer auf. In dem
Das Plastikmeer dehnte sich immer mehr aus. Es erstreckte sich jetzt
bereits bis zum Horizont und noch viel weiter. Kleiner fragte sich,
ihre Muttersprache sei. Ein Balken wurde über die Köpfe anderer
Ein Handwerker trug Bart und hielt in seiner Linken ein kleines,
schaute und stellte fest, dass kein Weg zu weit ist zur Erkenntnis.
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Großmutter, seiner Tochter, die einen Sohn gebar: Kleiners Vater, der
noch lebt mit seiner Frau, die neue Kleiners gebar, die wiederum in
aus. An einer Stelle fanden Elefanten eine Furt, die ihnen ermöglichte,
durch den Morast und den sehr feuchten Sumpf zum süßen Wasser
Nicht alle, aber eine Anzahl von ihnen und mit dem gerade
Nachwuchs aus, duschten und kühlten ihre Leiber mit den Fischen
und dem Wasser aus dem Meer und merkten nichts. Kleiner, wie
sah, der den Schrecken in der lieblichen Szene entdeckte, weil seine
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Abendrot. Sie boten ein gespenstisches Bild, wie sie so hingen, leicht
schwingend, als wären sie von ihren Richtern eben erst vom Schafott
Grund wurde ihre Zeit ausgeschöpft. Das fragte sich Kleiner. Entleert,
mehr retten. Die Fische auch nicht. Wer entleerte die Zeit der
Zwerge? Die Fische waren zur falschen Zeit am falschen Ort. Aber
die Zwerge?
Meer, hatte helle Brüste. Er konnte sich nicht erinnern, jemals zuvor
derart gebleichte Brüste gesehen zu haben. Sein Verstand war frei und
klar. So klar und rein und unberührt und unschuldig wie der Bergsee,
diesem See keine Fische lebten. Die Evolution schien das Gewässer
Henry blickte plötzlich von seinem Papier auf, er blickte aus seinen
Träumen heraus, ganz neugierig, wie ein Fisch, der seinen Kopf
Ebenso blickte Kleiner vom Himmel herab auf die Welt und auf das
Papier des jungen Herrn. Er erwachte grob. Er spürte nicht mehr die
wohlige Erholsamkeit nach der Nacht wie früher, als er Kind war.
243
Henry träumte von einer Frau. Was es Helen? Die Frau war blond, ein
dunkles, rauchiges blond. Wie die Badende. Der Kopf ihres Freundes,
der neben ihr saß, war beklebt mit schwarzen Haaren. Der dritte hatte
keine Haare. Die Badende und die Blonde hatten Verletzungen jeweils
an der linken Hand. Sie beschmierten die Wände mit Blut. Der Saal
war erhellt von vielarmigen Leuchtern, die ihr Licht mit der Farbe des
Kleiner glaubte seinen Augen nicht. Es war das erste Mal, dass er
nicht. Aber die Zipfelmütze war real. Sie existierte wie die Fische, das
Meer und die Elefanten. Das war Kleiner zu diesem Zeitpunkt nicht
er, dass seine Frau gestorben wäre, zum selben Zeitpunkt, als auch die
anderen und Kleiner, aber auch Henry, erkannten die Wahrheit, oder
den Weg dorthin. Dieser Weg schlängelte sich von dem von Gott
244
Plastikmeer nie mehr. Es war endgültig vorbei mit der
aus, unter dem blauen Himmel im Wasser, das sich mit dem Gevatter
Lange nach seinem Tod machte sich Kleiners Urgroßvater auf den
bettete er die zarte, weiche, lebendige Hand seiner Tochter, die viele
war. Hand in Hand schritten Vater und Tochter aus dem Schtetl die
sahen auch die Zwerge, deren Leichname längst zur ewigen Ruhe in
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einen merkwürdigen Tod. Er fühlte den schweren Hieb mit dem
Kolben, der seinen Schädel mit dem Fleisch und er Haut und dem
Blut seines Gesichtes vermählte. So tot wie das trockne Meer, so tot
wollte, was geschehen war in der Zeit danach, nach ihrem Leben,
lösten sich die Vorfahren auf. Sie waren Staub und wurden Staub,
oder Luft oder Nichts. Verzweifelt schrie Kleiner in den Staub, in die
Die vielarmigen Leuchten schütteten mal gelbes, mal rotes Licht über
Henry. Der Platz neben ihm war leer geworden. Die Bekannte mit den
Ihre Zeit an seiner Seite war ausgeschöpft, dachte er. War er erwacht?
Die Reise zuende? Welche Reise? Hatte er sich jemals entfernt von
nicht. Die Deckenleuchte vergoss ihr mildes Licht wie Tränen auf die
Traum und der Erinnerung an erhängte Zwerge und Elefanten, die aus
berührten den Enkel und Urenkel, betten seine Hände in ihre Hände,
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Liebe, zärtlich geweht, aber unerkannt und unerwidert. Er fühlte sich
zum Spaß töten, Zwerge aufgeknüpft werden, Löwen Gnus reißen und
das Gesetz. Gottes Gesetz. In der Erinnerung saßen die Kinder, die
Haar und lustigen Kinderschlipsen, brav auf den Knien der Vorfahren.
Sie sahen auf in Gottes Antlitz und waren geblendet von seinen
gütigen Augen, als er auf sie blickte mit dem Gleichmut des Vaters,
Stolz hatte Gott einst die Zwerge gemacht, stolz und bärenstark, aber
werden, und schrieb Henry in seine Kladde. Dabei hatte er die eigene
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Unschuld im Blick. Nach dem kurzen Zwischenspiel, dem leisen
zarten Schimmer der Liebe auf seinen Händen, wieder pochte sein
entsteigen, aber es gelang ihm nicht. Er musste auf der tiefen, kalten
Sohle verharren. Alleine sein Bild fand den Weg zurück ins Licht.
Menschenschatten aus dem Nichts der Nacht ins Nichts der anderen
Nacht, in eine Leere. Die Autos schoben weiße Lichter auf der Straße
vor sich her, Henry dachte daran. Bildern. Er glaubte nicht, dass er
mit Stricken um den Hals, wild fauchende Löwen liefen umher mit
den Resten ihrer Beute in der Mähne. Mädchen mit blutenden Malen
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wuschen sich im Plastikmeer, vielarmige Leuchter, die harte
Schattenlinien auf Tische werfen, bildeten das ab, was Henry tief
unter seiner Haut fühlt, riecht, schmeckt, liebt und verabscheut: Sein
Leben. Aber er war auch der Held, Retter von Fischen, Elefanten,
Zwergen und der geliebte Nachfahre seiner Ahnen. Sie sahen ihn
den Tod der Zwerge in Kauf genommen. Er hat nicht das süße Blut
aus dem Löwenmaul geleckt. Die Richter der Richter, die mit großer
dem grausamen Tod. Ratten sollen ihn zerteilen, ihn zerlegen in seine
Das letzte, was Henry Lantz in seinem Leben vernahm, war das
Pfeifen und Donnern der eisernen Räder des zweiten Zuges. Die
Dunkel. Die Wucht des Aufpralls hatte seinen Körper weit von den
Gleisen. Blut, Haut- und Fleischfetzen und der Abfall am Rande der
Kleiber und Gebirtig, von Ilse und Paul, lag schockgefroren über
seinen toten Zügen. Henry sah aus, als hätte er noch ein letztes Mal
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Hollaenders Blick fiel auf eine Urkunde, die gerahmt vom braungelb
kleinen Rahmen, auf den das brüchige Papier gepresst war, zuvor
noch nicht bemerkt hatte. So lange wie ein Atemzug dauert, wurde
Gemurmel und Gewimmer aus der Baracke, das abrupt erstarb, als die
Kellnerin sich über ihn beugte und ihn mit einem törichten Ausblick
bringenden Zacken und schwebt über dem Text der feierlich daher
kommenden Verleihungsurkunde.
den Kopf, ‚wie kann das sein’, sprach er vor sich hin. Einem ersten
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Weiblichkeit der Kellnerin und ergab sich, trank seinen Wein und
Wort für Wort, Satz für Satz, ohne auch nur eine einzige Meldung
heute jedoch war es etwas anderes. In dem langen Artikel, der in einer
Nacht zum Freitag wurde die Leiche eines jungen Mannes entdeckt,
dessen Alter die Polizei auf unter dreißig schätzt. Der Zugführer der
Schock. Mit was seine Bahn kollidiert sei, darüber konnte der Mann
Hinweise zur Identifizierung des Toten geben? Wer kann etwas zur
welches das Gesicht des Toten zeigte. Es war gereinigt vom Blut. Die
Gesicht. Der Leichnam war so aufgebahrt, dass die Fotografie nur das
unversehrte Gesicht zeigte. Am unteren Teil des Bildes war ein Zipfel
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des grünen Tuches zu erkennen, das den zerstückelten Körper
bedeckte. Hollaender stellte sich vor, wie das Blut aus den großen
Wunden den Stoff durchdrang und ihn schwarz färbte. Augen, Ohren,
Nase und Mund, alles unverletzt, bildeten das Antlitz des jungen
Mannes ab, den er gekannt hatte. Hollaender legte das Foto auf den
Tisch und sagte dem Beamten:“ Dieses Bild zeigt Henry Lantz. Ich
mir sicher. Wir lernten uns durch Zufall vor ein paar Monaten
kennen. Später trafen wir uns öfters und unterhielten uns; mal über
dies, mal über das. Wie das so ist bei flüchtigen Bekanntschaften“.
Er hielt inne, die Brille zwischen zwei Fingern, dann sprach er weiter,
ohne Aufforderung:“ Aber schon vor einiger Zeit, ich weiß nicht mehr
genau wann das war, tut wahrscheinlich nichts zur Sache, zog er sich
zurück. Auf jeden Fall sahen wir uns nicht mehr. Ich maß dieser
Angelegenheit keine Bedeutung zu. Wissen sie, junge Leute und alte
leben in verschiedenen Welten, ich konnte, als ich jung gewesen war,
nicht so recht glauben. Es gibt es keine, wie soll ich mich ausdrücken,
„Und das kam ganz plötzlich, dass sie sich nicht mehr trafen?“, setzte
„Nein, das war nicht plötzlich, man könnte es eher mit einem Prozess
vergleichen. Ich habe ihm etwas aus meinem Leben erzählt, das war
und wir trafen uns nicht mehr. Ich glaube, dass der junge Mann das
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Der Polizist bat ihn das Protokoll zu unterschreiben, bedankte sich,
„Jung und alt passen eben nicht zusammen, so ist das“, sagte
Achseln.
spielten ein paar Kinder. Sie winkten ihm fröhlich zu, er lächelte.
jedoch weniger die Kinder, mehr noch die Gegenstände, die sie zu
ihm brachten, ihm anvertrauten, die ihn freuten. Er vertrieb sich die
Spielsachen, strich zärtlich darüber, nahm Nadel und Faden und war
über allem schwebte der Tod. Jetzt widmete er sich nur noch den
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Hollaender hatte sich vorgenommen, den schönen Tag mit einem
Herbst war in diesem Jahr früh unterwegs, überlegt er. Er sehnte sich
nach der Sommerwärme, die sich einem wohlig auf die Schultern legt.
sieht und fühlt, sei der Wirkung der Kraft Gottes geschuldet. ‚Alles
ruht in Gott’, murmelte er vor sich hin. ‚Die Erde dreht sich um die
brennende Sonne, sie spendet Leben, Gott stiftete die Seele dazu’.
Ein kühler, höchst angenehmer Windstoß, der den Sommer vor sich
her trieb, entzückte ihn noch einmal. Gelb und weiß regneten die
Blüten der einzigen Robinie herab. Der Wind trieb sie über den
ENDE
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