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Der Gemeinschaftsbegriff
In den Sozialwissenschaften herrscht nach wie vor Unklarheit über eine einheitliche Defini-
tion des Gemeinschaftsbegriffes. In früheren Konzepten war dieser gekennzeichnet durch
verwandtschaftliche Beziehungen und/oder geographische Nähe. Verursacht durch den in-
dustriellen Wandel ersetzte das gemeinsame Interesse die verwandtschaftlichen Beziehungen
als Kontext für die Bildung von Gemeinschaften [Hamman 2000]. Mit dem flächendecken-
den Einzug von Informations- und Kommunikationstechnologien verliert die geografische
Nähe immer mehr an Relevanz, das gemeinsame Interesse bleibt bestehen. Ein virtueller
Raum ergänzt den geographischen Raum und wird diesen im Hinblick auf zukünftige Ent-
wicklungen teilweise ablösen.
Der interdisziplinäre Begriff der Community erfuhr eine Vielzahl von unterschiedlichen
Definitionen und Definitionsversuchen. George Hillery [Hillery 1955] untersuchte rund 100
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soziologische Definitionen des Terms „Community“. Er fand bei seiner Analyse heraus, dass
eine Gemeinschaft eine Gruppe von Menschen darstellt, deren Bindung sich über gemeinsa-
me Motive, Situationen oder Ziele gründet und die sozial miteinander interagiert. Entschei-
dend ist jedoch, dass sich diese Gruppe zeitweise an einem gemeinsamen Ort befindet. Hille-
ry fasst Community als „a number of people, who share a geographical environment“
zusammen.
Viele, der neueren Definitionsversuche von Communities berücksichtigen bereits den Ein-
fluss der Informations- und Kommunikationstechnologien auf soziale Prozesse. Mynatt
[Mynatt u.a. 1997] sieht den Community-Begriff über mehrer Dimensionen hinweg und
beschränkt ihn nicht mehr im Sinne von geographischer Zusammengehörigkeit. Eine Com-
munity bildet demnach „a social grouping that includes, in varying degrees: shared spatial
relations, social conventions, a sense of membership and boundaries, and an ongoing rhythm
of social interaction.” Der Soziologe Barry Wellman untersuchte Communities als Netz-
werke, die nicht lokal beschränkt sind und ging insbesondere auch auf die soziale Ver-
wendung des Computers ein [Wellmann 2001]: “Although community was once synony-
mous with densely knit, bounded neighbourhood groups, it is now seen as a less bounded
social network of relationships that provide sociability support, information, and a sense of
belonging.”
Nach der Ansicht von Wenger [Wenger 1998] sind Community-Mitglieder über das, was sie
zusammen tun, von Diskussionen am Mittagstisch bis hin zu der Lösung von komplexen
Problemen und über das, was sie durch ihr gemeinsames Engagement gelernt haben, infor-
mell miteinander verbunden. Eine Community ist demnach eine freiwillige Verbindung von
Personen, die nicht direkt voneinander in Bezug auf ihre Erfolgsperspektive abhängig sind.
Bindungen zwischen diesen Personen sind oftmals zahlreich, jedoch oftmals schwach. Das
einzelne Mitglied ist üblicherweise nicht ausschlaggebend für den Erfolg der Community,
die sehr locker oder überhaupt nicht koordiniert wird. Communities sind dynamische Entitä-
ten mit stark flexiblen Mitgliederzahlen. Neue Sub-Communities bilden sich heraus und
führen dazu, dass sich auch der Zweck einer Communities im Laufe der Zeit verschieben
kann.
Carotenuto [Carotenuto u.a. 1999] liefert unter Bezugnahme auf die Parameter Gemeinsam-
keit und Fokus eine Einteilung der Communities in „Communities of Interest“, „Communi-
ties of Practice“, „Communities of Purpose“ und „Communities of Passion“. Communities of
Interest fokussieren sich auf eine Menge von gemeinsamen Interessen. Sie bündeln Personen,
die ein gemeinsames Interesse an einem bestimmten Themengebiet hegen und einen breite-
ren fachlichen Hintergrund besitzen. Communities of Practice weisen einen engeren Fokus
auf gemeinsame Interessen und definieren sich über eine Menge an Tätigkeiten und Prakti-
ken, die gemeinsam gelebt werden. Üblicherweise werden sie von Personen gebildet, die
gemeinsame bzw. verwandte Verantwortlichkeiten oder Aktivitäten teilen. Communities of
Purpose besitzen einen sehr engen Fokus auf das gemeinsame Interesse. Sie werden von
Personen gebildet, die einen gemeinsamen Zweck verfolgen, wie beispielsweise das gemein-
same Verfassen eines Buchs. Communities of Passion bündeln Personen, die eine derart
starke Identifikation mit einem Thema haben, dass sie zu passionierten Verfechtern ihres
Themas werden.
Seit dem Jahr 1976 verbreiteten sich Mailinglisten und seit 1979 von Wissenschaftlern ur-
sprünglich zum Wissensaustausch genutzte Newsgroups rasch. 1978 erschien das erste MUD
(Multi-User-Dungeon), in dem eine beliebige Anzahl von Spielern virtuelle Spielfiguren
durch eine textuelle Phantasiewelt steuern konnten. Soziale Interaktion zwischen den Spie-
lern war zum gemeinsamen Bestehen von Aufgaben notwendig. Vor allem in den USA exis-
tierten in den 1980er Jahren bereits zahlreiche Communities auch in der Form von Bulletin-
Board Systemen (BBS). Die bekannteste virtuelle Community „Whole Earth ‚Lectronic Link
- The Well“ wurde 1985 gegründet und hatte zum Ziel, die Kommunikation zwischen Perso-
nen im Großraum San Francisco zu erleichtern.
Mitte der 1990er Jahre wurde das Konzept der virtuellen Community von den Unternehmen
entdeckt. Die betriebswirtschaftliche Sicht konzentrierte sich anfangs hauptsächlich auf die
Möglichkeit, mittels virtueller Gemeinschaften zusätzliche Einkünfte zu lukrieren. Die Jahre
1997 bis 2000 zeichneten sich durch einen Wettlauf von neu gegründeten Unternehmen in
Richtung Internet aus, wobei die meisten Geschäftsmodelle die virtuelle Community als ein
elementares Element berücksichtigten. Nach dem Platzen der Dot-Com Blase im Jahre 2001
und dem Ende des ersten Hypes rückten virtuelle Communities in den letzten Jahren wieder
vermehrt ins Rampenlicht: Insbesondere bezeichnet das Phänomen Web 2.0 (O’Reilly 2004)
Prinzipien, die entsprechend komplexe und spezialisierte Plattformen im Web ermöglichen,
um den Beziehungsaufbau und das Beziehungsnetzwerk der User zu unterstützten.
Döring [Döring 2001] äußert sich in ähnlicher Weise unter starker Betonung des Aspekts des
gemeinsamen Interesses und bezeichnet eine virtuelle Gemeinschaft als einen “Zusammen-
schluss von Menschen mit gemeinsamen Interessen, die untereinander mit gewisser Regel-
mäßigkeit und Verbindlichkeit auf computervermitteltem Wege Informationen austauschen
und Kontakte knüpfen“. Dass eine virtuelle Gemeinschaft auf sozialen Beziehungen sowie
einem gemeinsamen Interessensschwerpunkt beruht, definieren auch Fernback und Thomp-
son [Fernback und Thompson 1995]. Den Schwerpunkt des gemeinsamen Interesses bei
Rheingold, Döring, Fernback und Thompson ergänzt Levy [Levy 1998] durch einen Prozess
der Kooperation.
Preece [Preece 2000] zeigt in ihren Ausführungen, dass eine virtuelle Community im Allge-
meinen aus vier Elementen besteht: “People, who interact socially as they strive to satisfy
their own needs or perform special roles, such as leading or moderating. A shared purpose,
such as an interest, need, information exchange, or service that provides a reason for the
community. Policies, in the form of tacit assumptions, rituals, protocols, rules, and laws that
guide people's interactions. Computer systems, to support and mediate social interaction and
facilitate a sense of togetherness.”
Aus Sicht der Betriebswirtschaftslehre beschreiben Hagel und Armstrong [Hagel und Arm-
strong 1997] die kommerzielle Bedeutung der virtuelle Community als ein Phänomen, das
den Informationsvorsprung der Unternehmen aufhebt und die Marktmacht von den Anbie-
tern zu den Nachfragern verlagert. Für virtuelle Communities existieren vielfältige Einsatz-
szenarien: Dazu zählt beispielsweise die Extraktion von Innovationen aus den Daten, die von
Communities im Rahmen ihrer Kommunikation und Diskussion erstellt wurden [Füller u.a.
2004]. Im Gegensatz dazu bilden sich sogar im Web zu Produkten oder Dienstleistungen
bottom up, weitestgehend selbstorganisiert und ohne Zutun der Unternehmen virtuelle
Communities, in denen sich Nutzer mit unterschiedlichen Expertisegraden gegenseitig frei-
willig unterstützen.
Die beiden Begriffe soziales Netzwerk und Community werden sehr oft zur Erklärung von
ein und demselben Phänomen benutzt. Amy Jo Kim [Kim 2000] definiert den Unterschied
zwischen Communities und Netzwerken über die unterschiedliche Stärke der Verbindungen
zwischen den Personen: “A network is composed of loose ties, often the focus is on a topic
or particular type of content or behaviour. A community may have the same focus but the
ties are stronger. No one misses you in a network; they might if you’re a popular and vocal
member of a community.”
Ein Netzwerk definiert eine mögliche Sichtweise auf ein Ganzes: Es bildet ein Interaktions-
geflecht mit Hilfe von Knoten und Kanten ab, ein zentraler Kern ist typischerweise nicht
existent, jedoch finden sich unterschiedlich dimensionierte Cluster. Im Gegensatz dazu prä-
sentiert sich die Community im Allgemeinen als eine Einheit, die sich nach außen hin ab-
grenzt und um einen Kern formiert. Die Beziehungen der einzelnen Mitglieder einer Com-
munity können in einem sozialen Graphen dargestellt werden. Eine derartige Abgrenzung ist
bei sozialen Netzwerken im Allgemeinen nicht der Fall. Im Mittelpunkt des „social networ-
kings“ stehen der Aufbau und Pflege von Beziehungen, während in virtuellen Communities
das Herausbilden eines Gemeinschaftsgefühls zwischen den Mitgliedern selbst das zentrale
Element darstellt (vgl. Abschnitt 1.1.2).
Unter Bezugnahme auf aktuelle Phänomene wie Web 2.0 sprechen sowohl Praktiker, als
auch Wissenschaftler vom Übergang von zentralistischen Communities zu dezentralen
Netzwerken. Die Blogosphäre bildet als die Gesamtheit aller Weblogs [siehe hierzu im De-
tail Beitrag von Robes] beispielsweise ein derartiges soziales Netzwerk. Allerdings sind mit
dem Web 2.0 die Zeiten der klassischen Community-Unterstützungswerkzeuge wie Chat
oder Diskussionsforen nicht vorbei: Ein deskriptives Beispiel stellt wiederum XING dar, das
Foren verwendet, um den Mitgliedern die Bildung von virtuellen Communities innerhalb des
sozialen Netzwerks von XING zu ermöglichen und somit die Bindungen untereinander zu
stärken. XING fördert die Herausbildung themenspezifischer Communities, die sogar oft-
mals den Weg aus der Virtualität hin zu regelmäßigen Face-to-Face Treffen finden.
1.1.4 Zusammenfassung
Die zunehmende Technologisierung unserer Gesellschaft führt zum Phänomen der Virtuali-
sierung einzelner Bereiche im Leben der Menschen. Soziale Prozesse werden verstärkt durch
das Internet unterstützt, oder laufen in manchen Fällen sogar gänzlich im Internet ab. Men-
schen erweitern ihr soziales Netzwerk unter der Zuhilfenahme von Informationstechnologie
und befriedigen ihren Wunsch nach Gemeinschaft mit Gleichgesinnten vermehrt online.
Während das Konzept der Community den Fokus auf die Gemeinschaft und den Gemein-
schaftssinn setzt, fokussiert sich das soziale Netzwerk auf die Darstellung der Akteure sowie
der konzeptionell überwiegend schwachen Beziehungen zwischen den einzelnen Akteuren.
Virtuelle Communities zeichnen sich durch starke Bindungen und demzufolge ein starkes
Gemeinschaftsgefühl aus. Unternehmen, die virtuelle Communities „aufbauen“ oder beste-
hende nutzen möchten, müssen vorab die zugrunde liegenden sozialpsychologischen Kon-
zepte verstehen.