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Deutsch von Peter Weber-Schäfer





















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 ein glücklich lächelndes Gesicht auf die weiße Plastiktragetasche.
Ich benutze bewußt den Ausdruck <zuletzt>, weil das Beweismate-
DAS BEDAUERNSWERTE OPFER, die fünfundzwanzigjährige
rial darauf hindeutet, daß der Lippenstift bei Anfertigung dieser
Mary Woolnoth, wurde nackt im Keller des Bürogebäudes der Firma
Zeichnung stärker zerbröckelt war.
Mylae Shipping Co. in der Jermyn Street aufgefunden, wo sie seit
drei Jahren als Empfangsdame gearbeitet hatte. Der Täter hatte ihr Die Vagina des bedauernswerten Opfers enthielt Spuren eines Sper-
das Gesicht mit einem Splitthammer eingeschlagen. mizids auf Latexbasis, was der Annahme entspricht, der Mörder ha-
be beim Geschlechtsverkehr ein Kondom benutzt. Zweifellos war er
Die Schläge waren so heftig, daß der Unterkiefer an sechs Stellen
sich der Notwendigkeit bewußt, eine DNS-Identifizierung zu ver-
gebrochen und fast alle mit Porzellankappen versehenen Zähne aus-
hindern. Das erwähnte Spermizid gehört einem Typ an, der haupt-
geschlagen waren. Losgelöste Fragmente des Schädelknochens und
sächlich von den Herstellern der Präservativmarke RIMFLY ver-
Hirngewebe des Opfers waren um die Leiche über eine Entfernung
wendet wird, einer Marke, die wegen ihrer größeren Stärke übli-
verteilt, die dem erworbenen kinetischen Impuls entspricht. Nach Si-
cherweise von Homosexuellen verwendet wird. In den letzten Jahren
cherstellung der Tatwaffe kann eine Gleichung aufgestellt werden,
haben wir festgestellt, daß es sich aus den gleichen Gründen auch
aus der sich die Bewegungsenergie des Schlags ergibt. Diese wird
um die bevorzugte Marke bei Vergewaltigungen handelt.»
berechnet, indem man die Masse der Waffe mit dem Quadrat der
Geschwindigkeit multipliziert und das Ergebnis durch zwei dividiert. Jake schlug die Akte auf, die vor ihr auf dem Tisch lag, und sah sich
Ausgehend von der Bewegungsenergie der einzelnen Hammerschlä- die Fotos an. Bevor sie hinsah, holte sie tief Luft. Sie bemühte sich,
ge, der Tiefe der einzelnen Bruchstellen im Schädel und dem jewei- es vor den vier Männern zu verbergen, die mit ihr am Konferenz-
ligen Einfallwinkel, hat der Computer berechnet, daß der Mörder tisch saßen. Drei von ihnen waren Kriminalbeamte. Sie hätte es nicht
l,82 Meter groß ist und ungefähr 85 Kilogramm wiegt. nötig gehabt, Gleichmut vorzuspiegeln, denn einer der Kriminalbe-
amten machte sich gar nicht erst die Mühe, seinen Fotosatz anzu-
Der bedauernswerten Frau war der rotseidene Strumpfhalter um den
schauen. Jake fand das ungerecht. Ein Mann konnte jederzeit ir-
Hals geschnürt worden, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt bereits tot
gendwelche Sprüche machen, etwa, er habe keine Lust, sich so kurz
war. Eine Tragetasche der Supermarktkette Simpson wurde dem Op-
vor dem Essen den Appetit zu verderben, oder so etwas. Dagegen
fer später so über den Kopf gezogen, daß sein zerstörtes Gesicht
hatte niemand etwas einzuwenden, aber für sie galten so einfache
verhüllt war. Dies fand möglicherweise vor Ausübung des Ge-
Ausreden nicht. Jake war sicher, wenn sie sich die Fotos jetzt nicht
schlechtsverkehrs statt. Mit einem Lippenstift der Farbe Crimson
ansah, würde man sagen, das komme davon, daß sie eine Frau war.
Lake von Christian Dior, der
Da machte es nichts aus, daß sie die Leiche schon gesehen hatte, als
aus der Handtasche des Opfers stammt, schrieb der Mörder obszöne sie entdeckt worden war. Außer dem Kriminalbeamten, der sich ge-
Ausdrücke auf ihre nackten Oberschenkel und den Bauch. Unmittel- weigert hatte, die Bilder anzusehen, hatten sie alle die Leiche gese-
bar über der Schamlinie stand das Wort FIKKEN, auf der Rückseite hen.
der Oberschenkel und Gesäßbacken stand das Wort SCHEISSE.
Der vierte Mann am Tisch, ein Spezialist von der Spurensicherung
Quer über beiden Brüsten stand TITTEN. Zuletzt malte der Mörder
namens Dalglish, fuhr in seiner seltsam systematischen Darlegung
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fort. «Gut», sagte Dalglish nachdenklich. «Ein Punkt für den Hammer-
mörder von Hackney.» Aber schon schüttelte ein zweiter Kriminal-
«Es wird Ihnen aufgefallen sein, daß das rechte Bein des armen
beamter den Kopf.
Mädchens unter das linke gekreuzt wurde, daß die Handtasche or-
dentlich neben dem rechten Ellbogen abgestellt war und daß die «Das können Sie nicht ernst meinen», sagte er zu dem ersten Beam-
Brille ein kleines Stück von der Leiche entfernt liegt.» ten. «Überlegen Sie mal. Jermyn Street ist ein ganzes Stück von den
Jagdgründen Ihres Mannes entfernt, meilenweit sogar. Nein, das ist
Jake warf einen knappen Blick auf die Fotos, die in numerischer
einer von meinen Fällen, da bin ich sicher. Das Mädchen war doch
Reihenfolge angeordnet waren: Die Reihe von weißen toten Körpern
Empfangsdame? Also, wir wissen, daß der Motorradbote schon ein
erinnerte sie an eine Tarotkarte: den Gehenkten.
paar Empfangsdamen getötet hat, und meiner Meinung nach gibt es
«Der Inhalt der Tragetasche ist säuberlich auf dem Boden angeord- gar keinen Zweifel daran, daß Mary Woolnoth sein jüngstes Opfer
net worden. Es handelt sich um einen halbseidenen Rock und eine ist.»
Flasche Parfüm der Marke Synthetic, die beide aus dem Supermarkt
Dalglish fing wieder an zu schreiben. «Also», sagte er. «Sie wollen
stammen, sowie einen Kriminalroman aus dem Mystery Bookshop
in der Sackville Street in Piccadilly. Der Titel ist $OLEL Aber das
sie für sich?»
spricht nicht gegen sie.» «Das kann man wohl sagen.» Der erste Kriminalbeamte verzog das
Gesicht. «Also ich weiß wirklich nicht, warum Sie sie haben wollen.
«Gegen wen? Mary Woolnoth oder Agatha Christie?»
Der Motorradbote verwendet immer eine Klinge. Das ist nun mal
Dalglish blickte von seinen Notizen auf und sah sich am Tisch um. sein M. O. Wieso sollte er plötzlich einen Hammer verwenden? Das
Da er nicht feststellen konnte, von wem die Bemerkung stammte, verstehe ich nicht.»
spitzte er mißbilligend den Mund und schüttelte langsam den Kopf.
Der zweite Kriminalbeamte zuckte die Achseln und sah aus dem
«Also gut», sagte er schließlich, «wer bietet als erster?» Fenster. Der Wind schlug heftig gegen die Scheibe, und ausnahms-
weise war Jake froh, daß sie an einer Sitzung in New Scotland Yard
Nach einer kurzen Pause hob der Kriminalbeamte rechts von Jake,
teilnehmen mußte.
es war der, von dem die Frage stammte, einen schmutzigen Zeige-
finger. «Schön, und wieso sollte der Hammermörder plötzlich beschließen,
sein Tätigkeitsfeld in den Westen zu verlegen? Können Sie mir das
«Ich glaube, das ist meiner», sagte er vorsichtig. «Da haben wir
erklären?»
schon einmal den M.O. des Mörders...» Er zuckte die Achseln, als
sei das alles, was es zu sagen gab. «Wahrscheinlich weiß er, daß wir ganz Hackney beobachten. Wenn
er sich da drüben auch nur auf den eigenen Daumen haut, haben wir
DaJglish fing an, seinen Laptop zu bedienen. «Sie sind...?» «Der
ihn.»
Hammermörder von Hackney », sagte der Besitzer des schmutzigen
Zeigefingers. Jake beschloß, daß sie jetzt sprechen mußte. «Sie haben beide un-
recht», sagte sie energisch.
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«Sie wollen den Fall wohl für sich haben», sagte der zweite Krimi- «Vielleicht paßt es Ihnen in den Kram, die Sache so zu sehen, Chef-
nalbeamte. inspektorin Jakowicz», sagte der. «Aber wenn Sie noch einen Au-
genblick darüber nachdenken, werden Sie sich vielleicht an das erin-
«Natürlich will ich das», sagte sie. «Selbst ein Vollidiot müßte ei-
nern, was Sie uns sonst ständig einhämmern. Serientäter neigen da-
gentlich kapieren, daß hier der Lippenstiftmann am Werk war. Wir
zu, einen bestimmten Typ von Mordopfer auszusuchen und dabei zu
bleiben. Dabei kann der PRGXV RSHUDQGL je nachdem, wie sicher
wissen, daß er sich auf Mädchen stürzt, die roten Lippenstift tragen.
Wir wissen, daß er ihren Lippenstift benützt, um Obszönitäten auf
sich der Mörder fühlt, beträchtliche Variationen aufweisen, und sein
die Leiche zu schreiben. Wir wissen, daß er aus irgendeinem Grunde
Sicherheitsgefühl selbst hängt von der Zahl seiner bisherigen Opfer
die Handtasche seiner Opfer immer neben den rechten Ellbogen
ab.»
stellt und daß er RIMFLY-Kondome benutzt. Natürlich halte ich
Mary Woolnoth für meinen Fall.» Sie schüttelte ärgerlich den Kopf. «Ich glaube nicht, daß man einen Opfertyp mit letzter Gewißheit auf
«Ich kann nur einfach nicht verstehen, wie ihr euch um das arme einen Beruf festlegen kann», wandte Jake ein. «Alter und Aussehen
Mädchen streitet, als wäre sie der erste Preis in einem Wettbewerb. sind die eigentlich entscheidenden Faktoren. Und letzten Endes hat
Mein Gott, ihr müßtet euch nur einmal selber zuhören, aber wirk- mich Ihre Theorie nie ganz überzeugt, daß der Motorradbote dazu
lich!» neigt, nur Empfangsdamen zu ermorden. Wenn ich mich richtig er-
innere, war eines seiner ersten Opfer eine Büroputzfrau. Außerdem
Der Kriminalbeamte, der mit dem Versuch beschäftigt war, mit dem
hat er noch nie den Versuch zur Penetration bei einem seiner Opfer
Daumen einen Schmutzflecken vom Zeigefinger zu reiben, sah sie
gemacht, mit oder ohne Kondom.»
kopfschüttelnd an. «Wann hat der Lippenstiftmann je einen Hammer
benützt, um seine Opfer umzubringen? Wann hat er ihnen je eine Jake merkte, wie sie vor Zorn rot wurde. Sie ballte die Faust und
Plastiktüte über den Kopf gezogen? Noch nie! Das ist der PRGXV versuchte sich zu beherrschen. Ihren beiden Kollegen schien die Tat-
RSHUDQGLmeines Mannes!» sache nichts zu bedeuten, daß Mary Woolnoth einmal eine schöne
junge Frau gewesen war, die ihre Zukunft noch vor sich hatte:
«Und seit wann gibt es irgendwelche Indizien dafür, daß der Ham-
Grimmig starrte sie den dritten Beamten an, der sich geweigert hatte,
mermörder überhaupt schreiben kann, geschweige denn mit einem
die Fotos aus dem gerichtsmedizinischen Institut anzusehen, und der
Lippenstift?»
bis jetzt kein Wort gesagt hatte.
«Vielleicht hat er das ja aus der Zeitung.»
«Und Sie?» fragte sie kurz angebunden. «Bieten Sie mit oder nicht?
«Also wirklich», sagte Jake. «Das sollten Sie besser wissen. Alle be- Sie sollten jetzt bieten oder aussteigen!» Ein wenig erinnerte sie das
sonderen Merkmale im PRGXV RSHUDQGL eines Mörders werden ge- Ganze an ein gespenstisches Pokerspiel.
nau deshalb nicht an die Presse weitergegeben.»
Der Mann hob die Hände, als wolle er sich ergeben.
Sie erwartete Einwände von dem zweiten Kriminalbeamten, wandte
«Nein», sagte er, «meiner ist es nicht.» Er sah sich am Tisch um und
sich ihm zu und sagte: «Die Tatsache, daß das Mädchen auch noch
fügte hinzu: «Aber im großen und ganzen glaube ich, daß Chefin-
Empfangsdame war, ist der reine Zufall.»
spektorin Jakowicz recht hat. Mir kommt es auch vor, als sei der
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Lippenstiftmann am Werk gewesen.» «Kriminalinspektor Stanley, nicht wahr?»
«Also, ich bin der gleichen Meinung», sagte Dalglish. Er nickte.
Der erste Beamte verzog wieder das Gesicht. «Entschuldigung», sagte sie, «aber als Leiterin des Dezernats für
Frauenmord sollte ich eigentlich über alle Mordserien informiert
«Laß gut sein, George», sagte Dalglish. «Hör mal, ich weiß, daß du
sein, wenn es sich um Frauen handelt...»
verzweifelt nach einer Spur suchst. Aber das hier ist sie nicht. Da bin
ich sicher. Dein Hammermörder hat noch nie außerhalb von Stanley senkte die Stimme und blickte über die Schulter. «In Wirk-
Hackney zugeschlagen.» lichkeit bin ich vom männlichen Morddezernat, gnädige Frau», sagte
er. «Ich hätte eigentlich gar nicht dabeisein sollen, aber irgend etwas
Der zweite Kriminalbeamte war entschlossen, sich nicht überzeugen
ist durcheinandergekommen. Aus irgendeinem Grund hat man uns
zu lassen.
gesagt, es sei ein Mann gefunden worden und nicht eine Frau. Ich
«Empfangsdamen, Stenotypistinnen, Putzfrauen», sagte er mürrisch, suche nach einem Serientäter, der sieben Männer ermordet hat. Ich
«letzten Endes arbeiten sie alle in Büros. Wir wissen, daß der Motor- wollte nur nichts sagen, um mich nicht zu blamieren.»
radbote seine Opfer so auswählt. Er bringt sie um, während er eine
Jake nickte. Deshalb hatte er sich nicht die Mühe gegeben, die Fotos
Sendung abliefert.»
anzusehen.
Er hielt einen Augenblick inne und ergänzte dann: «Also, ich würde
«Übrigens kam mir das Ganze recht spannend vor», fügte Stanley
Mary Woolnoth immer noch gerne als möglichen Fall haben.»
hinzu. «Geht es bei den Sitzungen immer so zu?»
Dalglish warf Jake einen Blick zu; die zuckte mit den Achseln.
«Sie wollen wissen, ob wir uns jedesmal darum streiten, ob eine
«Sofern mein Mann als erster für den Mord in Frage kommt, habe Leiche zu diesem oder zu jenern Fall gehört? Nein, meistens nicht.
ich nichts dagegen», sagte sie. «Und wenn sich irgend etwas Neues Normalerweise ist alles etwas klarer als heute.»
ergibt, informiere ich Sie auf alle Fälle.»
Beim Sprechen dachte Jake an die Bilder von Mary Woolnoth und
Dalglish wandte sich wieder seinem Computer zu. «Also gut», sagte an das, was das Skalpell des Gerichtsmediziners ihr angetan hatte.
er, «wir sind uns einig. Das ist Nummer...?» Klarer konnten die Schnittlinien kaum sein. Einen Augenblick spürte
sie etwas in der Kehle. Kein Mord konnte je so brutal sein wie das,
«Sechs», sagte Jake.
was auf dem Tisch im Leichenschauhaus geschah. Ein klarer Schnitt
«Nummer sechs für den Lippenstiftmann.» vom Kinn zum Becken, dann wurden die inneren Organe aus dem
Fleisch JH]HUUWwie man bei der Zollabfertigung am Flugplatz einen
Nach der Sitzung hielt Jake den Beamten, der sie unterstützt hatte,
Koffer durchsucht. Sie unterdrückte ihre Gefühle und stellte eine
auf, um sich zu bedanken.
zweite Frage:
«Nichts zu danken, gnädige Frau», sagte er.
«Ein Serientäter, der sich Männer als Opfer aussucht. Ist das nicht

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ungewöhnlich?» 'LHVLQGYLHO]XODXW
Kriminalinspektor Stanley stimmte ihr zu. %HL GHU $UEHLW QHLJH LFK GD]X DXI GHQ +LQWHUNRSI]X IHXHUQ :HQQ
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YHUWUDXW VLQG ZHUGHQ 6LH ZLVVHQ GD‰ GLH Ausgänge der Hirnrinde
«Ich nehme an, wir sprechen vom Lombroso-Mörder?»
Er nickte. EHU HLQH VR JUR‰H )OlFKH YHUWHLOW VLQG GD‰ NHLQH +LUQYHUOHW]XQJ
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«Ich dachte, Kriminalhauptkommissar Challis leitet in dem Fall die
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Untersuchung.»
«So ist es», sagte Stanley. «Er hat mich zu dieser Sitzung geschickt. OHEWZHUGHQDOV9HUOHW]XQJHQLPKLQWHUHQ+LUQEHUHLFK(LQHQ%HOHJ
Nur um sicher zu sein, daß es keiner von unseren Fällen ist.» GDIUVWHOOHQGLHYLHOHQ%R[HUGDUGLHQLFKWDQHLQHPNUlIWLJHQ+LHE
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«Was hat er für einen M. O?»
«Wer? Der Lombroso-Mörder? Ach, nichts besonders Auffälliges. YLHO GDUEHU JHOHVHQ ZDV XQWHU GHQ REZDOWHQGHQ 8PVWlQGHQ MD
Er schießt immer in den Hinterkopf. Sechsmal. Wie die Mafia. War- NDXPDQGHUV]XHUZDUWHQLVW*HVHKHQKDEHLFKDXFKHLQLJHVGDYRQ
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um fragen Sie?»
Jake schüttelte den Kopf. «Aus keinem besonderen Grund. Ich war FKHQ'LH%DXHUQVWHKHQLQGHUYRUGHUHQ5HLKHXQGGLH7UPH/lX
wohl nur neugierig.» Sie sah auf die Uhr. «Ich muß gehen. Ich muß IHU 6SULQJHU .|QLJ XQG 'DPH GLH VRJHQDQQWHQ )LJXUHQ LQ GHU
ein Flugzeug erwischen. Und natürlich meinen eigenen Serientäter.» DFKWHQ 5HLKH DP 5DQG GHV %UHWWV 0DQ N|QQWH DOVR VDJHQ GD‰ LFK
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&KDUOHV 'LFNHQV QLFKW YLHO hEHUKDXSW JLEW HV GD QLFKW YLHO DX‰HU bequem, die Zentralheizung arbeitet, und die Luft ist warm und an-
GHP 7RG GHU NOHLQHQ 1HOO XQG 1DQF\V XQG 'RUD &RSSHUILHOGV XQG genehm entionisiert. Was für eine Diskette wollen Sie sich unter die-
GHUEHLGHQ0WWHUYRQ3LSXQG2OLYHU(VLVWUHFKWJHIlKUOLFKHLQH sen erfreulichen Umständen ansehen? Natürlich eine über einen
'LFNHQVVFKH)UDXHQJHVWDOW]XVHLQ$EHUYLHOOHLFKWZLUGMHW]WZRGHU Mordfall. Aber was für eine Art von Mord ?
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OLFKIU)UDXHQ1DWUOLFKZHUGHQVLHGDVQLHHUIDKUHQ'DVLVWEH
Vor sechzig Jahren hat George Orwell das beschrieben, was vom
GDXHUOLFK$EHUZRYRQZLUQLFKWVSUHFKHQN|QQHQGDUEHUPVVHQ
Standpunkt einer englischen Zeitung aus der «perfekte Mord» wäre.
ZLUVFKZHLJHQ
«Der Mörder», schrieb er, «sollte ein kleiner Mann aus dem Mit-
telstand sein. Er sollte durch eine verbotene Leidenschaft für seine
 Sekretärin oder die Ehefrau eines Konkurrenten aus dem Mittelstand
vom Pfad der Tugend gelockt werden, und er sollte sich erst nach
2
langen und schweren Gewissenskämpfen zum Mord entschließen.
DRITTES SYMPOSION DER EUROPÄISCHEN Nachdem er sich zum Mord entschlossen hat, sollte er das Verbre-
GEMEINSCHAFT ÜBER METHODEN DES chen äußerst gerissen planen und über eine winzige unvorhergesehe-
GESETZESVOLLZUGS UND DER ne Kleinigkeit stolpern. Die Mordwaffe, zu der er greift, sollte natür-
VERBRECHENSAUFKLÄRUNG, HERBERT-MARCUSE- lich Gift sein.»
ZENTRUM, FRANKFURT, GROSSDEUTSCHES REICH. 13.
Orwell, der vom Niedergang dieses, des klassischen englischen
FEBRUAR 2013,
Mords sprach, wies auf den Fall eines gewissen Karl Hulten hin, ei-
13.oo UHR: nes amerikanischen Deserteurs, der, von den falschen Werten der
amerikanischen Filmindustrie inspiriert, mutwillig einen Taxifahrer
REDNERIN: CHEFINSPEKTORIN ISIDORA JAKOWICZ,
ermordete und dabei acht Pfund - den Gegenwert von EG $ 3,00 -
M.SC.,
erbeutete.
STÄDTISCHE KRIMINALPOLIZEI LONDON
Daß dieser Mord - man sprach vom Mörder mit der Kinnspalte -
MITGLIEDSLAND: GB zum meistdiskutierten Mord der letzten Jahre des Zweiten Welt-
kriegs wurde und daß er von einem Amerikaner begangen wurde,
VORTRAGSTITEL: DIE ZUNAHME DES HOLLYWOOD-
verursachte dem auf seltsame Weise patriotischen Orwell einiges
MORDES
Unbehagen. Für ihn ließ sich Hultens «sinnloses» Verbrechen in
15 16
keiner Hinsicht mit dem typischen englischen Mord messen, «dem walttätig und sadistisch sein und wenn möglich eine sexuelle, rituel-
Produkt einer stabilen Gesellschaft, deren allgegenwärtige Schein- le oder vielleicht sogar kannibalistische Komponente enthalten. Die
heiligkeit zumindest dafür sorgte, daß ein so schweres Verbrechen, Mordopfer sollten meist attraktive Frauen sein und den Tod finden,
wie es Mord ist, von starken Gefühlen getragen wurde». während sie sich ausziehen, duschen, masturbieren oder Sexualver-
kehr ausüben. Nur vor diesem Hintergrund, einem Hintergrund im
Heute dagegen sind Verbrechen, wie sie Hulten beging, erbärmliche,
Hollywoodstil, kann ein Mord die dramatischen, ja sogar tragischen
schmutzige und weitgehend gefühllose Taten, verhältnismäßig häu-
fig. «Gute Morde», wie sie der Leser der 1HZVRIWKH:RUOGzu Or-
Aspekte annehmen, die ihn heutzutage bemerkens- und erinnerns-
wert machen.
wells Zeit genießen konnte, werden weiterhin begangen. Aber das
große Publikum bringt ihnen im Vergleich zu dem anscheinend mo- Nicht von ungefähr weist ein beachtlicher Teil der Morde, die im
tivlosen Mord, der inzwischen zum Normalfall geworden ist, wenig modernen Europa verübt werden, Elemente dieser Hollywoodstim-
Interesse entgegen. mung auf.
Heutzutage werden Menschen mit kalter Routine und oft ohne er- Eines der traditionellen Motive des Hollywood-Mords - und hier
sichtlichen Grund ermordet. Gut fünfzig Jahre nach Orwells Tod ist komme ich zum eigentlichen Thema meines Vertrags - stellen die
die Gesellschaft einer wahren Epidemie von Freizeitmorden ausge- maskulinen Bindungen dar, die häufig zwischen männlichen Ange-
setzt, den Taten eines Mördertyps, der anscheinend noch sinnloser hörigen der Vollzugsbehörden und ihrer mörderischen Jagdbeute
zuschlägt als der verhältnismäßig unschuldige Karl Hulten. Hätte entstehen. Gerade da diese Konferenz hier in Frankfurt im Herbert-
sich der Fall heute zugetragen, wäre er einer Lokalzeitung kaum Marcuse-Zentrum stattfindet, sollten wir auf das zurückgreifen, was
mehr als ein paar Zeilen wert. Im Jahre 2013 mag es uns unverständ- die Frankfurter Schule und Marcuse selbst über derartige Verhal-
lich erscheinen, daß der Fall Kulten, wie Orwell berichtet, zur «be- tensmuster gesagt haben.
deutendsten FDXVHFHOHEUHder Kriegsjahre» wurde.
Für Marcuse wurde die eindimensionale patriarchalische Gesell-
Vor diesem Hintergrund kann man, so wie es damals Orwell getan schaft durch das charakterisiert, was er die «Vereinheitlichung der
hat, das konstruieren, was für den heutigen Leser der 1HZV RI WKH Gegensätze» nannte: eine Vereinheitlichung, die sozialen Wandel
:RUOGein «guter Mord» wäre. Er könnte uns auf die Videokassette auf der intellektuellen Ebene durch die Abschließung des Bewußt-
verweisen, die er sich Samstag abend angesehen hat. Der Mörder seins unter männlichen und damit eindimensionalen Aspekten ver-
wäre dann ein unzureichend angepaßter junger Mann, der mitten un- hindert. Die historisch nachweisbare Dominanz männlichen Perso-
ter seinen ahnungslosen potentiellen Opfern irgendwo in den Vor- nals im Polizeidienst ist nur ein Aspekt dieser monolithisch homo-
städten lebt. Irgendeine Verfehlung seiner Mutter sollte unseren er- genen Weltanschauung. Bis vor verhältnismäßig kurzer Zeit verließ
wählten Mörder auf die schiefe Bahn gebracht haben, so daß klar man sich bei der Ermittlung in Mordfällen normalerweise wenig
feststeht, daß die wahre Schuld für die Morde bei einer Frau liegt. oder überhaupt nicht auf spezifisch weibliche Fähigkeiten.
Wenn er sich einmal zum Mord entschlossen hat, sollte sich der Tä-
Verhaltenswissenschaftler und Psychologen berichten, daß der Hor-
ter nicht auf ein Tötungsdelikt beschränken, sondern so viele Opfer
monhaushalt zweifellos eine größere Rolle bei der Ausbildung
wie möglich liquidieren. Seine Vorgehensweise sollte extrem ge-
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männlicher und weiblicher Charakteristika im Gehirn spielt. Wäh- derartigen Richtlinien gab und Frauen weniger als 2 Prozent des lei-
rend beispielsweise Männer eher räumlich in Begriffen wie Entfer- tenden Ermittlungspersonals bei Morden im Hollywoodstil ausmach-
nung und Messung denken, neigen Frauen dazu, sich an Landmar- ten, kam es nur in 46 Prozent aller Fälle zu einer Verhaftung. In den
ken und Wendepunkten zu orientieren. Frauen können sich erheblich späten Neunzigern und im ersten Jahrzehnt des einundzwanzigsten
besser als Männer auf ihre unmittelbare Umgebung konzentrieren, Jahrhunderts, als eine Quotenregelung in Kraft war und 44 Prozent
was ihnen in der Detailbeobachtung unter Umständen eine echte des leitenden Ermittlungspersonals in Frauenmordfällen dieses Typs
Überlegenheit gegenüber Männern verleiht. Infolgedessen sollte der weibliche Kriminalbeamte waren, kam es in 73 Prozent aller Fälle
Nutzen weiblichen Personals bei der Verbrechensaufklärung als of- zur Verhaftung.
fensichtlich betrachtet werden, insbesondere da, wo wie beim Mord
Natürlich hat in den vergangenen zehn Jahren auch eine wesentliche
im Hollywoodstil eine Vielzahl gerichtlich verwertbaren Materials
Verbesserung der Technologie auf dem Gebiet der Verbrechensbe-
vorliegt. Auch andere spezifisch weibliche Qualitäten wie Gewaltlo-
kämpfung stattgefunden, was eine teilweise Erklärung für diesen
sigkeit, Einfühlungsvermögen und Aufnahmebereitschaft können
dramatischen Anstieg der Erfolgsquote britischer Morduntersuchun-
unter dem Aspekt ihrer Nützlichkeit für die Verbrechensaufklärung
gen bietet. Eine wichtige Rolle spielt hier die Einführung von Perso-
erwähnt werden.
nalausweisen mit Strichkodierung und genetischem Fingerabdruck
In den frühen neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts konn- im gesamten Gebiet der EG. Aber selbst wenn man derartige Ent-
ten Kriminologen auf der Grundlage computerunterstützter Analysen wicklungen statistisch nicht einbezieht, scheint es wahrscheinlich,
von polizeilichen Ermittlungen bei Serienmorden im zwanzigsten daß die experimentelle Einführung von geschlechtsorientierten
Jahrhundert feststellen, daß diejenigen Ermittlungen, an denen Frau- Richtlinien bei polizeilichen Ermittlungen in Großbritannien für eine
en in gehobener Stellung teilgenommen hatten, eine wesentlich hö- Gesamtzunahme erfolgreicher Verhaftungen von mindestens 20 Pro-
here Erfolgsrate aufwiesen als Ermittlergruppen, denen keine weib- zent verantwortlich war.
lichen Kriminalbeamten höheren Ranges angehörten.
Vermutlich messen Sie den Erfolg der geschlechtsorientierten Richt-
Auf diese Untersuchung hin legte ein Sonderausschuß des Innenmi- linien an der Tatsache, daß nur 44 Prozent des leitenden Polizeiper-
nisteriums dem Polizeipräsidenten von London, Sir MacDonald sonals Frauen sind. Vielleicht fragen Sie sich, warum eigentlich
McDuff, eine Reihe von Empfehlungen vor, durch die die Mitwir- nicht 100 Prozent? Nun, der neue zweidimensionale Zugang zur
kung weiblicher Polizeibeamter an allen Ermittlungen in schweren Verbrechensbekämpfung ist durch die geringe Anzahl von Frauen in
Fällen, besonders aber beim Frauenmord im Hollywoodstil, verstärkt höheren Diensträngen behindert worden. Zu meiner Freude kann ich
werden sollte. Vor fünf Jahren sind diese Empfehlungen angenom- allerdings berichten, daß sich diese Situation infolge von Rekrutie-
men worden, so daß heute ein weiblicher Beamter mindestens im rungskampagnen unter den Frauen Großbritanniens, neuen Besol-
Rang eines Kriminalsekretärs verantwortlich leitend tätig werden dungsordnungen, Bereitstellung von Kindergartenplätzen und ver-
muß, was einen verbesserten, zweidimensionalen Zugang zum Un- besserten Aufstiegsmöglichkeiten im Wandel befindet. Es besteht
tersuchungsvorgang schafft. die Hoffnung, daß in der näheren Zukunft eine Polizeibeamtin im
Range eines Kriminalsekretärs oder in höherem Rang an allen Er-
Die Erfolge sprechen für sich. In den Achtzigern, als es noch keine
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mittlungen in Fällen von Frauenmord im Hollywoodstil teilnehmen Und außer ein paar Routinenachfragen bei den Elektrohändlern der
wird. Stadt unternahmen sie keinen wirklichen Versuch, dieses auffälligste
Merkmal in der Vorgehensweise des Täters zu verstehen. Es
So stellt sich die Lage von der Kommandobrücke aus dar. Meine ei-
herrschte sogar stillschweigendes Einverständnis darüber, daß die
genen Erfahrungen habe ich im wesentlichen an Deck gesammelt.
Batterien jeweils leer waren. Der Hintergedanke zu diesem Einver-
George Orwell hat neun Fälle aufgezählt, die seinen Kriterien für ei-
ständnis war die Annahme, daß niemand eine funktionsfähige Batte-
nen klassischen Mord gerecht wurden und sich den Anfechtungen
rie an die Vagina einer toten Frau verschwenden würde.
der Zeit gewachsen erwiesen haben. Zufälligerweise habe ich bisher
mit neun Morduntersuchungen zu tun gehabt. Ich bezweifle, daß Die ersten, die daran dachten, zu überprüfen, ob es sich um neue
auch nur eine davon etwas so Mythologischem wie den Anfechtun- oder alte Batterien handelte, waren weibliche Ermittlungsbeamte,
gen der Zeit gewachsen sein wird. Ich hoffe im Gegenteil darauf, die an dem Fall arbeiteten. Später stellte sich übrigens heraus, daß
daß sie ihnen nicht gewachsen sein werden. Aber einen Fall möchte sie jeweils extra für den Mord gekauft worden waren. Unsere Theo-
ich Ihnen als Beispiel für die Zweidimensionalität der Ermittlung rie, die sich nach der Verhaftung des Mörders bestätigen sollte, be-
schildern, von der ich gesprochen habe. sagte weiterhin, daß die Einführung der Batterien in die Vagina der
Toten nichts Phalhsches an sich hatte, sondern daß der Mörder, der
Auf den ersten Blick hatten wir es mit einem einigermaßen typi-
der Frau zur Erreichung seiner sexuellen Ziele das Leben geraubt
schen Fall von Frauenmord im Hollywoodstil zu tun. Ein
hatte, anschließend versuchte, ihr wieder neues Leben zu schenken,
Geisteskranker versetzte die Frauen einer Universitätsstadt im Süden ihr, wie man das bei einem tragbaren Plattenspieler tun würde, mit
Englands in Furcht und Schrecken. In acht Monaten hatte er ebenso Hilfe einer frischen Stromquelle neue Energie zuzuführen.
viele Frauen umgebracht. Sein PRGXVRSHUDQGLsah folgendermaßen
Ein weiterer auffälliger Zug des Falles, der wiederum die Zweidi-
aus: Er schlug sein Opfer bewußtlos, schleppte es an einen abge-
mensionalität weiblicher Untersuchungen bei Serienmorden an
schiedenen ruhigen Ort, erwürgte es dann und befriedigte sich in
Frauen illustriert, lag in der Bedeutung der Tatzeit, zu der alle Opfer
seinem leblosen Mund. Das auffälligste Merkmal des Falles, das ihn
ermordet wurden. Es geschah immer nachts zwischen 22.30 Uhr und
in gewisser Hinsicht von anderen, üblicheren Fällen von Freizeit-
23.30 Uhr.
morden unterschied, bestand dann, daß er zuletzt immer zwei Batte-
rien in die Vagina der toten Frau schob. Ich werde gleich auf diese Tatsache zurückkommen. Aber lassen Sie
mich zunächst auf den Anfang der Ermittlungen eingehen, als routi-
Männliche Kollegen, die an dem Fall arbeiteten, entwickelten eine
nemäßig die Namen aller Sexualtäter der letzten zwölf Monate in der
typisch phallokratische Einstellung zu dieser Verhaltensauffälligkeit.
Gegend im Computer aufgerufen wurden. Polizeibeamte befragten
Das ging deutlich aus dem Spitznamen hervor, den sie dem Mörder
die Männer, um ihr Alibi zu überprüfen. (Ich sollte ergänzend er-
gaben: Herr Immerbereit. Mit pornographischer Literatur vertraut, in
wähnen, daß der Fall sich vor der Aufnahme genetischer Fingerab-
der regelmäßig Fremdkörper als Penisersatz in die Vagina einer Frau
drücke in die Personalausweise ereignete.) Besonders einer der Be-
eingeführt werden, erblickten die männlichen Kollegen wenig be-
fragten, ein neunundzwanzigjähriger Mann, der in dem Park, in dem
sonders Bedeutsames in den zwei Trockenzellen-Alkalibatterien.
später eines der Mordopfer aufgefunden wurde, versucht hatte, eine
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Frau zu vergewaltigen, erregte die Aufmerksamkeit des männlichen tigen ausstellen und fand eine Anzahl pornographischer Magazine,
Beamten, der die Ermittlungen leitete. Inzwischen führte ich ge- in denen ausgeschnittene Bilder von Frau Kreislers Gesicht auf die
meinsam mit einem weiteren Beamten zusätzliche Ermittlungen un- nackten Rümpfe anderer Frauen aufgeklebt waren. Ich fand auch ei-
ter den wegen Sexualdelikten auffällig gewordenen Männern der ne persönliche Videokassette, die Boysfield benutzt hatte, um seine
Gegend durch. hausgemachten Pornofilme anzusehen, in die Aufnahmen von Frau
Kreisler beim Verlesen der Nachrichten eingeblendet waren, außer-
Bei der Befragung eines zweiundvierzigjährigen Junggesellen na-
dem eine Sexpuppe mit Frau Kreislers vom Fernsehapparat aufge-
mens David Boysfield, der wegen exhibitionistischer Handlungen in
nommener Stimme und einer batteriebetriebenen saugfähigen Vagi-
einem Kaufhaus vorbestraft war, fielen mir mehrere Exemplare einer
na. Sowohl der Videorecorder als auch die Puppe waren mit Batteri-
bestimmten Nummer einer Frauenzeitschrift auf. Vielleicht ist es
en der gleichen Marke ausgerüstet, die im Körper aller acht Mordop-
bedeutsam, daß mein männlicher Kollege sie nicht bemerkte. Nicht
fer gefunden worden waren. Boysfield war offenbar das, was man,
daß Sie meinen, ich hätte etwas dagegen, wenn Männer Frauenzeit-
in Ermangelung einer besseren Bezeichnung, einen Maschinenbe-
schriften lesen. Aber ich wurde neugierig und wollte ein wenig mehr
sessenen nennen kann. Seine Wohnung war voll von elektrischen
über Boysfield wissen. Und als ich seine Strafakte nachlas, stellte
Geräten jeder nur denkbaren Art, vom elektrischen Flaschenöffner
sich heraus, daß seine unzüchtige Zurschaustellung in der
bis hin zur elektrischen Kleiderbürste und einem elektrischen Fisch-
Elektroabteilung des Kaufhauses stattgefunden hatte. Noch interes- ausnehmmesser. Es war klar, daß in Boysfields von Geräten be-
santer war die Aussage eines Zeugen, aus der hervorzugehen schien, herrschter Welt Frauen auf den Status elektrisch betriebener Haus-
daß Boysfield sich nicht vor dem weiblichen Verkaufspersonal, son- haltsgeräte reduziert waren.
dern vor einer Anzahl von Fernsehschirmen entblößt hatte.
Die gerichtsmedizinische DNS-Identifizierung ergab bei Boysfield
Jetzt war ich wirklich neugierig, und bei Durchsicht der alten Pro- Polymorphismen der Restriktionsfragmentlänge, die mit denjenigen
grammhefte der Fernsehgesellschaft stellte ich fest, daß am Tattag des Mörders identisch waren. Er hat später gestanden, daß er alle
etwa zu der Zeit, zu der sich Boysfield im Laden aufhielt, eine Sen- acht Frauen getötet hatte, nachdem er Anna Kreisler beim Verlesen
dung mit der bekannten Nachrichtensprecherin Anna Kreisler ausge- der Fernsehnachrichten gesehen hatte. Von ihr besessen, hatte er
strahlt worden war. Bei der Sendung war es darum gegangen, Geld- sich längere Zeit selbst befriedigt, indem er sich vor dem Gesicht
spenden für wohltätige Zwecke einzusammeln, und an einem Punkt von Anna Kreisler auf seinem hochauflösenden Fernsehschirm ent-
des Programms hatte sich Anna Kreisler auf eine telefonische Spen- blößt hatte. Er hatte Phantasievorstellungen, in denen er oral mit ihr
denzusage in Höhe von einer Million EG-Dollar hin nackt ausgezo- verkehrte, und als er sich nach einiger Zeit nicht mehr zurückhalten
gen. Anna Kreisler war auch auf dem Titelbild der Zeitschrift zu se- konnte und anfing, Frauen zu überfallen, versuchte er, in den Mund
hen, die ich in Boysfields Wohnung entdeckt hatte. Genauere Nach- seiner Opfer zu ejakulieren. Boysfield entging der Verurteilung zum
prüfungen ergaben, daß sie an jedem Abend, an dem der Mörder zu- Strafkoma, weil die Einführung der Batterien in die Vagina seiner
geschlagen hatte, die Zehnuhrnachrichten verlesen hatte. Opfer als Beweis dafür gewertet wurde, daß er nicht die Absicht ge-
habt haben könne, sie endgültig ums Leben zu bringen. Er wurde auf
Ich ließ einen Durchsuchungsbefehl für die Wohnung des Verdäch-
unbestimmte Zeit in eine Heilanstalt für gemeingefährliche Geistes-
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kranke eingewiesen. terhin entschieden patriarchalisch, um nicht zu sagen machistisch
bleiben, habe ich nur eins zu sagen: Wenn Sie Frauen nicht für alle
Natürlich wirkt sich Zweidimensionalität in beiden Richtungen aus.
Zukunft als potentielle Opfer einstufen wollen, müssen Sie ihnen ge-
Für den Fall, daß einige von Ihnen den Eindruck gewonnen haben
statten, die Unterwerfungsrollen aufzugeben, in die sie historisch ge-
sollten, ich hielte nicht allzuviel von meinen männlichen Kollegen,
zwungen wurden, so daß sie gemeinsam mit den Männern zu Hütern
möchte ich eines sagen: Erst vor ein paar Wochen hat mich in einer
der zukünftigen Gesundheit unserer Gesellschaft werden können. Ich
Situation, die ich vollkommen falsch beurteilt hatte, nur die schnelle
danke Ihnen.
Reaktion eines männlichen Kollegen vor dem Tod oder einer schwe-
ren Verletzung gerettet. Übrigens war es der gleiche Kollege, der Jake beendete ihren Vortrag, und das Publikum applaudierte höflich.
mich in Boysfields Wohnung begleitet und dort die Frauenzeitschrif- Sie bedankte sich nicht länger für den Applaus, als es angemessene
ten übersehen hatte. Bescheidenheit erlaubt, verließ das Podium und
Ich habe vorhin das Auftreten von Hollywood-Morden als eine Art kehrte an ihren Platz zurück. Der Tagungsvorsitzende, ein fetter
von Epidemie bezeichnet. Das war keine Übertreibung. Die Statisti- deutscher Bürokrat, der den Versuch machte, mit Hilfe eines teuren
ken des Europäischen Kriminalamts beweisen, daß die Zahl sexuell rosa Anzugs einen Teil seiner Körpermasse zu verbergen, trat wieder
motivierter Serienmorde in der EG dramatisch zugenommen hat; seit ans Mikrofon.
1950 um mehr als 700 Prozent. Im vergangenen Jahr haben in der
«Thank you, Chief Inspector», sagte er auf englisch. Ein paar Frauen
Gemeinschaft schätzungsweise 4000 derartige Morde stattgefunden,
im Publikum, die Jakes Feminismus begeistert hatte, spendeten noch
das sind 20 Prozent der Tötungsdelikte in Europa. Nicht nur dies,
eine weitere Minute Applaus, was den Vorsitzenden zwang, eine
sondern das EK nimmt auch an, daß sich derzeit mindestens 25,
Pause einzulegen, bevor er hinzufügen konnte: «Das war höchst in-
möglicherweise aber bis zu 90 aktive Mörder dieses Typs in der EG
formativ.»
aufhalten.
«Das war es wirklich», sagte Mark Woodford, als sie ihren Platz ne-
Man spricht heute noch von Peter Sutcliffe, dem Yorkshire Ripper,
ben ihm wieder einnahm. «Stellenweise vielleicht etwas harsch, aber
der in den siebziger Jahren dreizehn Frauen getötet hat, und von Jack
ich nehme an, bei dem Thema war das zu erwarten.» Er ließ den
the Ripper, der sechs ermordet hat. Aber da draußen gibt es jetzt
Blick etwas ungewiß über das Publikum schweifen und sagte leise
Leute, die zwanzig, dreißig oder noch mehr Menschen umbringen.
lachend: «Es war wohl sogar angebracht.»
Und solange die Opfer weiterhin überwiegend weiblich sind, steht es
Frauen überall auf der Welt nicht an, die Versuche, dem ein Ende zu «Wie bitte?»
setzen, allein den Männern zu überlassen.
Woodfords glatte englische Züge nahmen einen verschlagenen Aus-
Von den übrigen siebzehn Mitgliedstaaten der Gemeinschaft machen druck an, als er die Hände vor der Brust kreuzte und zum Mosaik der
nur Dänemark, Schweden, Holland und Deutschland Anstalten, das Deckenkuppel aufblickte. Es hatte ein wenig Ähnlichkeit mit einer
britische Modell der zweidimensionalen Frauenmordermittlung zu frühchristlichen Basilika, nur daß es sich um ein Werk der Moderne
übernehmen. Den übrigen Mitgliedstaaten, deren Polizeikräfte wei- handelte und Persönlichkeiten der Frankfurter Geschichte darstellte:

25 26
Karl der Große, Goethe, die Rothschilds und Marcuse versammelten «Wo ist er?» fragte sie.
sich in Ungewisser Komposition vor einem himmelblauen Hinter-
«Hinterlassen Sie eine Botschaft auf seinem tragbaren Computer,
grund, als warteten sie darauf, daß Gott erscheine und seinen Richt-
und versuchen Sie herauszufinden, was ihn aufhält.»
spruch spreche.
Jake hob die Handtasche vom Boden auf und nahm ihren eigenen
Jake betrachtete Woodfords leicht dekadentes Adlerprofil. Hat er
PC heraus. Sie klappte den Bildschirm, der so groß war wie ein
nicht eine gewisse Ähnlichkeit mit dem König ? fragte sie sich.
Briefumschlag, auf und gab mit der Kleinsttastatur Gilmours Namen
«Es ist erfreulich, wenn man den Franzosen, den Italienern und den und Nummer ein. Nach wenigen Sekunden erschienen die Worte
Spaniern zeigen kann, daß sie in irgendeinem Punkt hinter uns her- «Verbindung hergestellt» auf dem graugrünen Glas.
hinken», murmelte er. «Patriarchalisch, um nicht zu sagen machi-
«Woodford will wissen, wo Sie bleiben», tippte Jake. «Staatssekre-
stisch. Doch, das hat mir gefallen.» Er neigte den Kopf und versuch-
tärin fängt gleich mit ihrer Rede an. Bin sicher, daß Sie das nicht
te, aus dem Augenwinkel einen Blick auf seine Staatssekretärin zu
verpassen wollen.»
werfen.
«Auf keinen Fall», kam die stumme und, wie Jake annahm, sarkasti-
«Und jetzt ist die Staatssekretärin dran. Das klingt vielversprechend,
sche Antwort. «Aber anscheinend ist wieder einer aus dem Lombro-
meinen Sie nicht?» Er zeigte auf den Vortragstitel, wie ihn das Pro-
so-Programm ermordet worden. Muß ein paar Anrufe machen.»
gramm auf seinen Knien aufführte. ^Vergeltung: Ein Thema für das
neue Jahrhundert.) Das sollte ihnen imponieren.» Mark Woodford, der über Jakes Schulter mitlas, seufzte und schüt-
telte den Kopf. «Das wird ihr nicht gefallen», sagte er, als die Staats-
Jake nickte schweigend. Sie hielt nicht viel von den alttestamentari-
sekretärin sich räusperte und das Rednerpult übernahm. «Sagen Sie
schen Auffassungen der Staatssekretärin, wo es um Schuld und Süh-
dem Polizeidirektor lieber Bescheid, daß er eine Konferenzschaltung
ne ging. Genausowenig hielt sie vom Privatsekretär der Staatssekre-
per Bildtelefon mit England einrichtet. Ich brauche den Beamten,
tärin.
der für die Ermittlungen zuständig ist, so schnell wie möglich per
Woodford warf einen Blick auf den leeren Platz neben sich. Inzwi- Satellit.»
schen nahm die Staatssekretärin, eine gutaussehende Schwarze in
Jake gab die Nachricht ein und bot, von dem dringenden Wunsch
elegant geschnittenem violettem Kostüm, ihren Platz am Mikrofon
beseelt, dem zu entgehen, was auf sie zukam, ihre Unterstützung an.
neben dem Vorsitzenden ein. In ihrer teuren pastellfarbenen Klei-
Sie schickte die Nachricht ab und blickte erwartungsvoll auf den
dung sahen sie aus wie zwei exotische Ziervögel.
blinkenden Kursor.
«Wenn Gilmour nicht aufpaßt, wird er den Vortrag verpassen», be-
«Nein, danke», antwortete Gilmour. «Bleiben Sie da, und genießen
merkte Woodford.
Sie die Rede der Staatssekretärin.»
Jake lehnte sich in ihrem Sessel vor und warf einen Blick über
Aus dem Augenwinkel kontrollierte Jake, daß ihr Woodford nicht
Woodfords kaum vorhandenen Bauch hinweg. Sie hatte noch gar
über die Schulter sah. Aber er hatte jetzt nur noch Blicke für seine
nicht gemerkt, daß Gilmour nicht an seinem Platz war.
27 28
Chefin und machte ein aufmerksam stolzes Gesicht wie ein begei- «Eine respektable Leistung, Chefinspektorin», sagte Mrs. Miles, als
sterter Vater beim Krippenspiel. Jake gab ein: «Hab ich ein Glück!», sie ihren Platz am Kopf des Tisches einnahm. «Sie haben wohl einen
sandte die Nachricht ab und steckte den PC wieder in die Handta- von diesen Rhetorikkursen für Anfänger mitgemacht.»
sche.
«Ich fühle mich geschmeichelt», antwortete Jake flink, obwohl sie
Jake hatte den Eindruck, daß Grace Miles, Mitglied des Unterhauses, wußte, daß das nicht die Absicht gewesen war.
nicht viel für sie übrig hatte. Die Staatssekretärin im Innenministeri-
Mrs. Miles lächelte geheimnisvoll und hoffte, die Mehrdeutigkeit
um schien eine jener Frauen zu sein, die lieber von ausschließlich
ihrer Bemerkung möge Jake noch ein wenig beschäftigen. Aber Jake
männlichen Kollegen umgeben waren, und da ganze acht männliche
nahm ihren Platz neben dem Polizeidirektor ein und kümmerte sich
Bürokraten in der Polizeiverwaltung dafür zuständig waren, die Tä-
nicht darum.
tigkeit von 45 000 Angestellten in New Scotland Yard zu überprü-
fen, soweit es um den Schutz des Gesetzes ging, war es nicht Mark Woodford nickte Jake und Gilmour zu und stellte dann den
schwer, einer derartigen Vorliebe entgegenzukommen. Mann vor, der ihm in den Raum gefolgt war und jetzt die Tür hinter
sich zuzog.
Jake hegte den Verdacht, Gilmours Entscheidung, sich von ihr auf
die Konferenz begleiten zu lassen, sei ebenso stark von dem Wunsch «Sie haben sicher alle schon von Professor Waring gehört», sagte er.
geprägt gewesen, die Staatssekretärin zu irritieren, wie von dem «Ich habe ihn wegen seines großen Interesses an allem, was mit dem
Wunsch, Chancengleichheit für Frauen in der Londoner Polizei zu Lombroso-Programm zusammenhängt, gebeten, an unserer Sitzung
demonstrieren. Er hatte Jake gewarnt, sie werde es nicht leicht ha- teilzunehmen.»
ben. Jetzt wußte sie, warum. Gilmour hatte ihr erzählt, es sei der
Das war, wie es Jake scheinen wollte, ein wenig bescheiden ausge-
ausdrückliche Wunsch der Staatssekretärin gewesen, daß Jakes Rede
drückt. Waring war Professor für Gerichtspsychiatrie an der Univer-
vor ihrer eigenen auf dem Programm stand. Nun war die Hoffnung
sität Cambridge und der wichtigste Berater der Regierung für Strate-
enttäuscht worden, Jake werde das Ganze verpatzen und der Staats-
gien der Verbrechensverhütung. Waring war auch der Vorsitzende
sekretärin die Gelegenheit verschaffen, beachtliche Kompetenz bei
der Kommission gewesen, auf deren Bericht hin die Durchführung
Kongreßbeiträgen zu demonstrieren.
des Lombroso-Programms beschlossen worden war.
Wie das Schicksal es so wollte, traf der Bericht der Staatssekretärin
«Selbstverständlich», sagte Gilmour, «ich hätte daran denken sollen,
über das Scheitern des Abschreckungsgedankens als Grundlage ei-
Sie hinzuzuziehen.»
ner modernen Theorie der Verbrechensbekämpfung nicht auf die be-
geisterte Zustimmung, die sie erwartet hatte, und allgemein war der Waring schüttelte abwehrend den Kopf, als bedeuteten ihm derart
deutliche Eindruck entstanden, sie sei von einer einfachen Polizeibe- nebensächliche Etikettefragen nichts.
amtin ausgestochen worden. Infolgedessen ließ sich Jake nicht durch
Woodford sah auf die Armbanduhr und blickte auf den leeren flak-
Mrs. Miles' lobende Erwähnung ihrer Leistungen täuschen, als sie
kernden Bildschirm des Pictofons. «Für wann erwarten wir den An-
sich bei der Sitzung wiedertrafen, die Gilmour auf Anweisung
ruf?» fragte er Gilmour.
Woodfords einberufen hatte.
29 30
Der Polizeidirektor sah auf seine eigene Uhr. «In etwa zwei Minu- «Gestern abend gegen zehn Uhr wurde die Leiche eines fünfund-
ten», sagte er. «Kriminalhauptkommissar Colin Bowles von der dreißigjährigen männlichen Weißen in einer Gasse im Dorf Selly
städtischen Polizei Birmingham wird berichten.» Oak aufgefunden.»
«Birmingham?» fragte Mrs. Miles nervös. «Sagten Sie Birming- Die Staatssekretärin stieß einen Fluch aus. Jake, die wußte, daß Selly
ham?» Oak der Wahlkreis der Staatssekretärin war, jubelte innerlich. Stok-
kend und verunsichert blickte Kommissar Bowles wieder in die Ka-
«Jawohl, gnädige Frau.»
mera.
«Und genau wo in Birmingham wurde die Leiche gefunden?» fragte
«Schon gut», sagte Woodford beruhigend, «fahren Sie in Ihrem Be-
sie ungeduldig.
richt fort.»
«Tja, bis mir Bowles' Bericht vorliegt...» Gilmour zuckte die Ach-
«Jawohl. Der Mann war zwischen neun Uhr und neun Uhr dreißig
seln.
durch sechs Schüsse in den Hinterkopf getötet worden. Nach einer
«Der Wahlkreis der Staatssekretärin liegt in Birmingham», erklärte Überprüfung der Leiche und der unmittelbaren Nachbarschaft durch
Woodford. Spezialisten der Spurensicherung wurde die Leiche ins gerichtsme-
dizinische Institut überführt. Der Pathologe hat in der Leiche sechs
Das Pictofon gab ein lautes Summen von sich. Gilmour drückte auf
konisch-konoide Geschosse gefunden, die aus einer Entfernung von
einen Knopf der Fernbedienung, und auf dem Schirm wurde ein
weniger als zehn Metern aus einer hochwirksamen Gasdruckpistole
kahlköpfiger Mann von etwa fünfzig Jahren sichtbar, der noch damit
abgefeuert worden waren. Der Tod muß mehr oder weniger sofort
beschäftigt war, seine Krawatte zu richten. Die kleine Kameralinse
eingetreten sein.
über dem Gerät begann zu kreisen und die Runde am Konferenztisch
aufzunehmen. Der Tote wurde später als Sean Andrew Hill, wohnhaft in der Selly
Oak Road, Birmingham, identifiziert. Als die Identifizierungsmerk-
«Erstatten Sie Bericht, Herr Kommissar», sagte Gilmour. Bewies'
male des Toten in den Computer im Polizeihauptquartier Kidlington
Augen schwenkten zwischen dem Blatt Papier, das er in der Hand
eingegeben wurden, gab der Lombroso-Computer automatisch an,
hielt, und der Kameralinse über seinem eigenen Pictofongerät hin
daß es sich um eine Person handelte, die sich bei Überprüfung als
und her. Als er zu sprechen anfing, war kaum etwas zu hören.
VMN-negativ erwiesen und den Codenamen Charles Dickens erhal-
Mrs. Miles stöhnte laut auf. «Der verdammte Idiot hat den Geheim- ten hatte. Diese Tatsache sowie der PRGXV RSHUDQGL des Mörders
haltungsknopf noch an.» führen uns zu der Annahme, daß er der gleichen Person zum Opfer
gefallen ist, die Henry Lam, Craig Edward Brownlow, Richard Gra-
Bowles errötete. Auch wenn die Staatssekretärin ihn nicht hatte hö-
ham Swanson und Joseph Arthur Middlemass ermordet hat...»
ren können, hatte er sie gewiß gehört. Er griff nach seiner eigenen
Fernbedienung und drückte auf einen Knopf. «Tut mir leid», sagte «Danke, Herr Kommissar», unterbrach ihn Gilmour. «Sie brauchen
er. Dann räusperte er sich und begann noch einmal vorzulesen. nicht die ganze Liste vorzulesen.»

31 32
«Herr Kommissar», fragte Woodford, «hat Ihre Spurensicherung ir- «Ich habe keine Frage an den Herrn Kommissar», sagte Jake ener-
gend etwas gefunden?» Er spitzte die Lippen und schüttelte den gisch.
Kopf, als suche er nach einem Signal, das Bowles inspirieren könn-
«Danke, Herr Kommissar. Momentan ist das alles.» Jake warf einen
te. «Hinweise, Spuren?»
prüfenden Blick auf ihre Umgebung. Es handelte sich um einen je-
«Hinweise?» Bowles machte ein Gesicht, als bereite ihm bereits die ner nur allzu häufig anzutreffenden Sitzungssäle, in denen die Be-
Erwähnung des Wortes physische Schmerzen. «Nein, wir haben quemlichkeit der Farbe, der Geometrie und der Funktionalität gewi-
nichts in der Richtung gefunden.» chen ist. Die Art von Raum, in dem sie sich vorkam wie ein Plastik-
spielzeug in einem Architektenmodell. Es hätte sie nicht überrascht,
«Und wie steht es mit Zeugen?» fuhr Woodford fort. «Hat irgend
wenn sie aus dem Fenster gesehen und Schaumgummibäume ent-
jemand irgend etwas gehört oder gesehen?»
deckt hätte. «Wie viele sind es bis jetzt, Mr. Gilmour?» fragte Frau
Bowles lächelte verunsichert, als sei ihm plötzlich klargeworden, Miles. «Es ist der achte Mord in acht Monaten.» «Ich muß Sie sicher
daß er mit jemandem sprach, der nur eine sehr vage Vorstellung von nicht darauf aufmerksam machen, daß sich das zu einer peinlichen
dem hatte, wonach er fragte. «Nicht sehr wahrscheinlich, daß sie et- Angelegenheit auswachsen kann.» «Nein, das müssen Sie nicht,
was gehört haben sollten», sagte er. «Wie schon gesagt, hat der Frau Staatssekretärin.» «Das Lombroso-Programm hat uns Millio-
Mörder eine Gasdruckpistole benützt, um sein Opfer zu töten. Die ist nen von Dollar gekostet», fuhr sie fort. «Natürlich stellt es selbst nur
vollkommen geräuschlos.» Er nickte bedächtig mit dem Kopf. « einen Bruchteil innerhalb eines Programms steigender Ausgaben für
Aber wir stehen noch am Anfang der Untersuchungen, und die Er- die Aufrechterhaltung der Ordnung und Verhütung von Verbrechen
mittlungen dauern an.» dar, zu dem sich unsere Regierung immer wieder bekannt hat. Aber
es ist so etwas wie der Vorreiter dieser allgemeinen Politik. Es wäre
«Ja, natürlich», Woodford sah sich am Tisch um. «Sonst noch je-
höchst bedauerlich, wenn wir das Programm wegen dieses Irren un-
mand eine Frage?»
terbrechen oder gar einstellen müßten.»
«Vielleicht die Chefinspektorin», sagte die Staatssekretärin hilfreich.
«Natürlich, Frau Staatssekretärin.»
«Das ist doch Ihr Spezialgebiet, nicht wahr? Was war noch einmal
der ein wenig an die Groschenpresse erinnernde Ausdruck, den Sie «Ich kann gar nicht deutlich genug darauf hinweisen, wie schädlich
in Ihrem Vortrag verwendet haben ? Mord im Hollywoodstil oder es für unsere Wahlchancen wäre, wenn die Presse das
so?»
Ganze an die Öffentlichkeit zerren würde», sagte sie, «insbesondere
Jake nahm Haltung an. «Entschuldigung, gnädige Frau, das bezieht die Tatsache, daß das Lombroso-Programm der einzige gemeinsame
sich nur auf den Freizeitmord an Frauen.» Faktor in acht Mordfällen ist. Das muß Ihnen doch einleuchten.»
«Aber hier handelt es sich um einen Fall von Freizeitmord», insi- Gilmour nickte.
stierte Mrs. Miles. «Ich sehe nicht ein, was für einen Unterschied es
«Aber wir können die Presse nicht ewig heraushalten. Journalisten
macht, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt. Es muß
haben die häßliche Angewohnheit, sichinderartigen Dingen gegen
doch wohl irgendwelche gemeinsamen Merkmale geben?»
33 34
die Regierung zu stellen. Selbst dann, wenn das Ganze der Geheim- rin.»
haltungspflicht unterliegt.»
«Zunächst einmal stehen wir doch wohl vor der Tatsache, daß ein
Sie warf Professor Waring einen Blick zu. Der war damit beschäf- Sicherheitsleck im Lombroso-Programm aufgetreten ist, ob uns das
tigt, auf der dreieckigen Schreibunterlage, die vor ihm lag, kompli- paßt oder nicht. Meiner Meinung nach muß zunächst festgestellt
zierte Kringel zu zeichnen. werden, ob das Sicherheitssystem von innen oder von außen umgan-
gen worden ist. Erst wenn wir eine Antwort auf diese Frage haben,
«Und was liest du diesmal aus den Tintenklecksen, Norman?» fragte
können die eigentlichen Ermittlungen einsetzen.»
sie energisch.
Professor Waring wandte sich wieder seiner Kritzelei zu. «Frau
Waring kritzelte ein paar Sekunden weiter. Er sprach langsam.
Chefinspektorin», sagte er, «wieviel wissen Sie über das Pro-
«Wir sind ein wenig über die Verwendung unstrukturierter Formen gramm?»
als Hilfsmittel der Diagnose hinaus», sagte er pedantisch und lächel-
Jake zuckte die Achseln. «Nur das, was ich in der Zeitung gelesen
te verkniffen über seine eigene Bemerkung.
oder im Fernsehen gesehen habe.»
«Ich brauche Vorschläge, Norman», sagte sie. «Wenn dieser
Waring begann aggressiv auf den Mittelpunkt seiner Zeichnung ein-
Wahnsinnige das Programm aufhält, könnte es passieren, daß sich
zuhacken. «Wie können Sie dann ahnen, was Sie da sagen! Das
dein Forschungsinstitut nie wieder von dem Schock erholt. Verstehst
Computersystem des Lombroso-Programms ist sensibel und hoch
du, was ich meine?»
entwickelt. Die Idee, die Sie hier so munter vortragen, es könne
Waring zuckte frustriert die Achseln. «Bei allem Respekt, Frau möglich sein, das Sicherheitssystem des Computers zu umgehen, ist
Staatssekretärin, wir wissen noch nicht einmal, daß es ein Wahnsin- fast so unsinnig wie die Idee, irgend jemand von Gleitmanns eige-
niger ist.» Er warf Gilmour einen bedeutungsvollen Blick zu. «Und nem Personal könne etwas mit der ganzen entsetzlichen Geschichte
die Polizei weiß nicht, wie sie ihn fangen soll. Ich habe mehrfach zu tun haben.»
mit Professor Gleitmann über diese Frage gesprochen, und er kann
«Unsinnig oder nicht, logisch gibt es nur diese beiden Möglichkei-
sich immer noch nicht vorstellen, wie es zu dem Bruch der Sicher-
ten.»
heitsbestimmungen gekommen sein kann. Ich selbst kann mir nicht
einmal vorstellen, daß so etwas möglich ist.» Waring schnaubte ärgerlich und schüttelte ungeduldig den Kopf. Die
Kritzelei sah allmählich aus wie eine Gravüre.
«Und trotzdem», insistierte die Staatssekretärin, «ist es geschehen.»
«Was würden Sie tun, Chefinspektorin Jakowicz», fragte Mark
Unruhige Stille breitete sich im Raum aus. Diesmal war es Jake, die
Woodford, «wenn Sie in diesem Fall zu ermitteln hätten?»
das Schweigen brach.
Jake ließ sich ein paar Ideen durch den Kopf gehen. Dann sagte sie:
«Wenn ich einen Vorschlag machen darf...»
«Also, als erstes würde ich mir vom Dezernat für
«Ja, natürlich. Dazu sind wir ja hier versammelt, Frau Chefinspekto-
Computerkriminalität den besten Mann ausleihen. Ich würde ihn den
35 36
Lombroso-Computer ansehen lassen. Er soll versuchen herauszufin- Falles beschränken, werden wir keine Fortschritte machen.»
den, was passiert ist. Außerdem würde ich...» Jake zögerte einen
Zu ihrer Überraschung fand Jake die Zustimmung der Staatssekretä-
Augenblick und dachte darüber nach, wie sie ihren nächsten Vor-
rin. «Das ist das Vernünftigste, was ich den ganzen Tag gehört ha-
schlag am besten anbringen sollte.
be», sagte Mrs. Miles. «Frau Staatssekretärin...»
Woodford gab ihre Vorschläge in seinen PC ein. Erwartungsvoll
Sie wandte Waring ihr elegantes Profil zu und brachte ihn mit einem
blickte er auf: «Ja?»
Winken der schwer mit Ringen beladenen Hand zum Schweigen. Ja-
Jake hatte den Eindruck, jetzt könne sie nur noch mit der Tür ins ke entdeckte eine Maniküre, die der erlauchten Stellung ihrer Träge-
Haus fallen. «Ich würde das gesamte Personal, das am Lombroso- rin nicht angemessen schien. Mrs. Miles hatte Fingernägel von der
Computer arbeitet, an den Lügendetektor anschließen.» Form und Farbe abgerissener Orangenschalen.
Waring warf den Federhalter auf den Tisch. Er prallte auf und «Nein, Norman, Chefinspektorin Jakowicz hat recht. Vielleicht fehlt
hinterließ eine kleine Spur von Tintenflecken auf dem polierten dieser Untersuchung ja wirklich nur eine weibliche Perspektive, ge-
Walnußholz. «Ich kann nicht glauben, was ich da höre», knurrte er nauso, wie sie es uns heute vormittag erklärt hat. Jedenfalls sieht es
wütend. «Chefinspektorin Jakowicz, Sie nehmen doch nicht nicht aus, als ob wir unter männlicher Leitung große Fortschritte
ernsthaft an, daß einer der Mitarbeiter von Professor Gleitmann gemacht hätten, oder?» Mrs. Miles ignorierte Professor Waring, der
lügt!» noch einmal den Versuch machte, sie zu unterbrechen. «Vielleicht
Er durchbohrte sie mit einem scharfen Blick. Jake tat ihr Bestes,
ist ein bißchen Aufmerksamkeit für die feinen Details genau der
dem Blick standzuhalten. «Entweder einer seiner Mitarbeiter oder
weibliche Zug, der bis jetzt gefehlt hat.» Lächelnd fügte sie hinzu:
Professor Gleitmann selbst», warf sie provozierend in den Raum.
«Und ein bißchen weniger Phallozentrismus in ihrer Umgebung wä-
Waring ließ empört einen Luftstrom aus dem Mund rauschen. Die re ja auch nicht schlecht.» Sie wandte sich dem Polizeidirektor zu.
Staatssekretärin und ihr Privatsekretär schienen das amüsant zu fin-
«John», sagte sie, «sorg bitte dafür, daß Chefinspektorin Jakowicz
den, aber Jake war noch nicht fertig.
für die Leitung der Ermittlungen abgeordnet wird. Ist das klar?»
«Wenn ich das so sagen darf», wandte sie sich an Woodford, «das ist
Gilmour nickte unbehagliche Zustimmung. Er haßte es, wenn ihm
die einzige vernünftige Art, an die Ermittlungen heranzugehen, so-
irgend jemand sagte, wie eine Ermittlung geführt werden sollte.
lange es überhaupt keine...», sie merkte, daß sie lächeln mußte, als
Schlimmer war nur, wenn es ein Politiker war oder gar die Staatsse-
sie sich darauf vorbereitete, ein Wort auszusprechen, das sonst nicht
kretärin selbst. Andererseits hatte Gilmour das Gefühl, daß Jake
zu ihrem Wortschatz gehörte, «... keine Spuren gibt.» Vor ihrem in-
recht hatte und daß sie in der Tat die richtige Person für die Aufgabe
neren Auge stand ihr eigenes Bild, wie sie ein Garnknäuel aufrollte
war.
und so den Weg aus dem Labyrinth suchte. «Wir müssen von innen
anfangen und uns herausarbeiten», fügte sie hinzu. «Der Schlüssel «Sie haben doch nichts dagegen, Chefinspektorin?» fragte Mrs. Mi-
zu dem Muster, dem diese Morde folgen, steckt im Programm selbst. les.
Solange wir uns hartnäckig auf die äußeren Aspekte jedes einzelnen
Jake fühlte sich von der Plötzlichkeit der allerhöchsten Entscheidung
37 38
wie von der autokratischen Allüre, mit der sie vorgetragen wurde, ohnehin engen Rocks straffte sich über dem muskulös geschwunge-
überrumpelt und zuckte ungewiß die Achseln. Sie dachte an den ge- nen Gesäß und ließ den Ansatz des Höschens ahnen.
waltigen Haufen unerledigter Arbeit, der in Scotland Yard auf sie
«Ach ja, noch eines, Chefinspektorin...» «Ja?» sagte Jake.
wartete, und an die Verwirrung, in die ihre neue Aufgabe ihren
Dienstvorgesetzten, Hauptkommissar Challis, stürzen würde. Sie «Bitte enttäuschen Sie mich nicht. Ich will Ergebnisse, und ich will
dachte an das Vergnügen, das ihr Challis'Verwirrung bereiten wür- sie bald. Ich brauche Ihnen sicher nicht zu sagen, daß ich normaler-
de, wenn man ihm den Fall entzog, und nickte Zustimmung. « Mir weise bekomme, was ich will, und wenn ich es nicht bekomme, kann
soll's recht sein, gnädige Frau», sagte sie. «Ich würde aber gerne in ich äußerst rachsüchtig sein. Haben Sie mich verstanden?»
Kontakt mit einer speziellen Ermittlung bleiben, die ich bisher gelei-
«Ich glaube schon, Frau Staatssekretärin», sagte Jake. Das Bild des
tet habe.» Jake dachte an den Lippenstift auf Mary Woolnoths Lei-
nackten, schweißüberströmten Körpers der Staatssekretärin, das vor
che, an ihr zu Brei geschlagenes Gesicht und daran, wie gerne sie
ihrem inneren Auge schwebte, wurde plötzlich durch ein Bild ihrer
den Mann zur Strecke bringen würde, der Mary getötet hatte. «Dar-
selbst verdrängt, wie sie auf einer Straßenkreuzung den Verkehr re-
auf würde ich sogar bestehen.»
gelte. Sie hatte keine Zweifel daran, daß Mrs. Miles ihre Drohungen
Mrs. Miles'Gesicht überzog ein breites Lächeln und legte glänz- wahr machen und dafür sorgen würde, Jakes berufliche Laufbahn
endweiße Zahnreihen frei. Es war ein gutes Lächeln. Es war das Lä- wirksam aufzuhalten und in eine Sackgasse umzuleiten.
cheln, mit dem man Stimmen gewinnt. Das Lächeln, das Mrs. Miles
«Also gut, Jake», sagte der Polizeidirektor, sobald sie allein waren,
geholfen hatte, ihre beiden olympischen Goldmedaillen über 100
«das haben Sie sich selbst zugezogen.» Sie lächelte ein wenig schief.
und 200 Meter in eine politische Karriere umzumünzen und im ju-
«Sieht so aus, Boss.» «Ach, wissen Sie, ich hege keinerlei Zweifel
gendlichen Alter von neunundzwanzig Jahren ins Unterhaus einzu-
daran, daß Sie vernünftige Vorstellungen über diese Ermittlungen
ziehen.
haben und wie man sie weiterführen sollte. Aber ich würde ungern
«Keine Einwände», sagte sie. «Gut. Das ist also klar. Mark?» nur wegen der Launen einer Staatssekretärin mit Brennesseln in den
Höschen eine meiner besten Kriminalbeamtinnen verlieren. Es sieht
«Frau Staatssekretärin?»
nicht aus, als ob sie Sie besonders mag. Vielleicht würde es sie ja
«Ruf bitte Professor Gleitmann an und sag ihm, er solle der Chefin- freuen, wenn Sie gerade bei dieser Ermittlung auf die Nase fielen.»
spektorin und ihren Leuten alle Unterstützung gewähren, die sie für
«Vielleicht.» Jake zuckte die Achseln.
angemessen hält. Das gilt auch für dich, Norman. Verstanden?»
«Also, ich könnte natürlich jederzeit mit Sir MacDonald sprechen,
Waring nickte mürrisch.
wenn wir wiederinLondon sind. Er könnte Mrs. Miles davon über-
Mrs. Miles stand auf und schritt, von ihrem Sekretär begleitet, wie zeugen, daß er lieber jemand anderen die Untersuchungen leiten sä-
eine große starke Katze auf die unmöglich hohe Tür zu. Waring he.» Er rieb sich den Nacken. «Was sage ich da eigentlich? Die Un-
folgte den beiden in verbittertem Abstand. Im Hinausgehen drehte tersuchungen leitet doch schon jemand.»
sich die Staatssekretärin auf den hohen Absätzen um. Der Stoff ihres
«Challis.»
39 40
«Eben.» VFKH $XVQDKPHHUVFKHLQXQJ ZLH VLH QXU LQ GUHL YRQ HLQKXQGHUWWDX
VHQG)lOOHQDXIWULWW
«Die Medaille würde ich mir gerne an die Wand hängen, Boss», sag-
te sie, «wenn ich es schaffe.» 'LH =DKOHQUHLKH LVW QLFKW QDFK HLQHU H[WHUQHQ VRQGHUQ QDFK HLQHU
LQWHUQHQ5HODWLRQJHRUGQHW
«Sie hat Sie herausgefordert, was? So ein Biest! Also, wenn Sie
wirklich wissen, was Sie wollen. Ich gebe Ihnen Rückendeckung. $OOHUGLQJV LQWHUQ $QGHUH N|QQHQ GDV :HVHQ PHLQHU 0RQVWURVLWlW
Aber was soll ich Challis erzählen?» HEHQVRZHQLJ DQKDQG YRQ 6LQQHVHLQGUFNHQ HUIDVVHQ ZLH LFK HV
VHOEVWEHJUHLIHQNDQQ$EHUVLHLVWQDWUOLFKDXIHPSLULVFKHP:HJH
IHVWJHVWHOOW ZRUGHQ XQG GDPLW LVW PHLQ PRQVWU|VHU =XVWDQG XQWHU
«Warum sagen Sie ihm nicht, Sie wollten, daß ich die Routineermitt-
SKlQRPHQRORJLVFKHQ $VSHNWHQ QLFKW EOR‰ HLQH DSULRULVFKH 6HW]XQJ
lungen übernehme?» fragte Jake. «Daß Sie meinen, es müsse sich
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einmal jemand mit einem neuen Zugang zu der Sache damit beschäf-
LQGHU:HOWRIIHQEDU]XPDFKHQ
tigen. Daß Sie ihn für zu wichtig halten, um sich mit den Alltagser-
mittlungen zu befassen. Vielleicht könnte er ja irgend eine überwa-
chende Rolle spielen.» 1DWUOLFKKDEHLFKLPPHUJHZX‰WGD‰LFKDQGHUVELQDOVGLHDQGH
UHQ$EHUGDEHLJHKWHVQLFKWXPVRHWZDV3ULPLWLYHVZLHHLQHQDE
ZHLFKHQGHQ.|USHUW\SXVRGHUGHUJOHLFKHQ,P*HJHQWHLOLFKELQHLQ
Gilmour grunzte. «Klingt nicht sehr überzeugend», sagte er. «Macht
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nichts. Mir fällt schon etwas ein.» Er hob seine Aktentasche auf und
VWQGHHLQKDJHUHUPlQQOLFKHU.|USHUYRQ
nahm sie auf den Schoß, bevor er darin herumwühlte und schließlich
eine Kassette mit Computerdisketten herauszog. Erwählte eine aus
und drückte sie Jake in die Hand. ]DUWHP %DX XQG PLW OHLFKWHU 0XVNXODWXU YRU ,KQHQ 1DWUOLFK NDQQ
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VH ZlUH LFK GXUFK PHLQHQ OHSWRVRPHQ 6FKZlFKOLQJVN|USHU DXI GHU
«Hier», sagte er. «Darauf erfahren Sie alles, was Sie brauchen, über
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das Lombroso-Programm.»
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41 42
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Jake warf einen prüfenden Blick über die Schulter und sah sich im
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Raum um. Sie achtete sorgsam darauf, keinen Blickkontakt mit ei-
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nem der einsamen Herzen auf Geschäftsreise aufzunehmen, das auf
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die Idee kommen konnte, sein Glücksabend sei gekommen, weil es
]LHKXQJ]XHLQHUQRFKJU|‰HUHQ$QRPDOLHLP.OHLQKLUQ GHU+\SHU
eine attraktive Frau ohne männliche Begleitung entdeckt hatte.
WURSKLHGHV9HUPLV VWDQGXQGDQGHUHUVSlWHUGLH1HLJXQJ]XNUL Die Hotelbar strahlte die gleiche gnadenlose, ein wenig spartanische
PLQHOOHU9HUNRPPHQKHLWORNDOLVLHUWH-, ZDUHUHLQHUJU|‰HUHQ6DFKH Modernität aus, wie sie die Innenausstattung deutscher Autos prägt.
DXIGHU6SXUDOVHUDKQHQNRQQWH Der anthrazitfarbene Teppichboden war bis zur Höhe der Fenster-
$OOHUGLQJV KDWWH /RPEURVR QRFK QLFKW NDSLHUW GD‰ GHU ZDKUH +LQ
scheiben aus getöntem Sicherheitsglas umgeschlagen. Die schwar-
ZHLV DXI GLH NULPLQHOOHQ 1HLJXQJHQ HLQHV 0HQVFKHQ QLFKW DXI GHU
zen Ledersessel sahen aus, als trügen sie das Gütesiegel eines Chiro-
6FKlGHOREHUIOlFKHVRQGHUQDXIGHU*HKLUQREHUIOlFKHOLHJW6FKDGH
praktikers; allerdings saß man nicht besonders bequem darin. Auf
GD‰ HU VLFK GXUFK DOO GHQ 8QVLQQ EHU GLH 2KUOlSSFKHQ YRQ *H
der elegant geschwungenen Walnußtheke stand eine Reihe kleiner
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Bildschirme, so daß die Gäste sich auf Knopfdruck über alles Wis-
senswerte von den Getränkepreisen bis zum Programm des hotelei-
=XIlOOLJVLQGPHLQHHLJHQHQ2KUOlSSFKHQJUR‰XQG/RPEURVR GHU genen Kabelfernsehens informieren konnten. Jake wandte sich wie-
HUVWH /RPEURVR  KlWWH PLFK P|JOLFKHUZHLVH DOV 9HUEUHFKHUW\S HLQ der den ordentlich aufgereihten Flaschen hinter der Bar zu und ver-
JHRUGQHW9LHOOHLFKWLVWHVMDJXWGD‰QLHPDQGZLVVHQNDQQZDVLP suchte, während sie nach ihrem Glas griff, den hoffnungsvollen jun-
.RSIHLQHVDQGHUHQYRUJHKW1LHPDQGDX‰HUGHP]ZHLWHQ/RPEURVR gen Mann zu ignorieren, der im eleganten italienischen Anzug neben
KHL‰WGDV8QGGDVLVWVRHWZDVZLHHLQH7DXWRORJLH ihr stand. «Sitzt hier schon einer?» fragte er in stockendem Deutsch.
 «Niemand außer unserem Herrn», antwortete sie flüssiger. Dabei
starrte sie den Mann mit dem verklärten Lächeln an, das sie von den
MIT SEINER WUCHTIGEN FASSADE erinnerte das Hotel Jake
widerlichsten, süßlichsten Fernsehpredigern gelernt hatte.
ein wenig an eine Justizvollzugsanstalt, die sie einmal in Los Ange-
les besucht hatte. Allenfalls der Portier und ein Taxistand vor dem «Sagen Sie, mein Freund», fragte sie eifrig, «sind Sie gerettet?»
Eingang machten deutlich, daß es sich um ein Hotel handelte. Es
Der Mann, dessen Selbstbewußtsein vor ihrem zur Schau getragenen
hätte sie nicht überrascht, auf dem Dach des schleifenförmigen Ge-
religiösen Eifer rapide dahinschwand, geriet ins Stocken.
bäudes ein Maschinengewehrnest zu entdecken.
«Äh, nein...»
Sie ging in die Bar, setzte sich an die Theke und bestellte einen
Whisky Sour und eine Zwanzigerpackung Nikotinfreie. Der Barkee- Jake schmunzelte vor sich hin, als sie versuchte, seinen Gedanken-
per öffnete ihr das Päckchen, und sie knabberte ein paar Pistazien. gängen zu folgen. Wieviel Glück konnte ein Mann schon bei einer
45 46
Frau haben, die sich offenbar nur für das Heil seiner unsterblichen «Ja, es ist warm.»
Seele interessierte.
Der junge Amerikaner lächelte verbittert. «Was haben Sie denn für
«Vielleicht ein andermal», sagte der Mann im Rückzug begriffen. ein Problem?»
«Es ist nie zu spät für Jesus», bemerkte Jake und riß die Augen auf «Im Moment dein Rasierwasser, Kleiner.» Jake rutschte auf dem
wie eine Wahnsinnige. Aber er war schon verschwunden. Barhocker weiter weg. «Hau ab, bevor meine Kontaktlinsen be-
schlagen.»
Jake nippte an ihrem Drink und lachte. Die Missionarsmasche war
einfach unschlagbar. Sie hatte Übung, wo es darum ging, allein in Der Gesichtsausdruck des Amerikaners wurde bösartig. Er spitzte
Bars zu trinken. Unerwünschte männliche Versuche zur Kontaktauf- ein paarmal die Lippen, bis ihm eine Antwort einfiel.
nahme (und alle männlichen Versuche zur Kontaktaufnahme waren
«Schwanzabschneiderin», knurrte er und zog ab.
Jake unerwünscht) irritierten sie nicht mehr als einen abgebrühten
Südamerikaforscher ein Moskitoschwarm. Man konnte sie sich Jake schnaubte verächtlich, aber sie wußte, daß sie genau das war;
leicht vom Leibe halten, und nach einiger Zeit gewöhnte man sich an das und noch ein bißchen mehr. Sie hätte fast lesbisch sein können,
sie. Sie wußte, daß sie derartige Annäherungsversuche leicht hätte aber als sie es versuchte, hatte es ihr keinen besonderen Spaß ge-
vermeiden können, wenn sie es sich zur Gewohnheit gemacht hätte, macht. Faith, eine lesbische Freundin in Cambridge, hatte einmal ge-
nur in Lesbenbars zu verkehren. Aber so einfach war das Leben sagt, Jakes Sexualität erinnere sie an eine Bemerkung von Jeremy
nicht. Bentham über John Stuart Mill: Er haßte die herrschenden wenigen
mehr, als er die leidende Masse liebte. Es ging nicht darum, hatte
«Kann ich Sie zu einem Drink einladen?» Diesmal war es ein Ame-
Faith behauptet, daß Jake Frauen liebte, sondern daß sie Männer
rikaner, der selbstverständlich annahm, daß alle Welt Englisch
haßte.
sprach.
Ihr Männerhaß war genauso intensiv wie die Abneigung gegen Hö-
Jake, die gut Deutsch sprach, spielte mit dem Gedanken, so zu tun,
hen, leere Räume oder Spinnen, die andere Menschen empfinden,
als könne sie kein Wort Englisch, und verwarf ihn dann wieder.
und sie hatte ihn mehr oder weniger auf die gleiche Art erworben,
Konversationsfähigkeit war nicht das, worauf ein Mann scharf war,
wie eine Ratte lernt, auf einen Schalter zu drücken, um einem
der versuchte, eine Frau anzumachen.
Stromstoß zu entgehen.
«Das weiß ich nicht», sagte sie uninteressiert.
Das Instrument, dem sie ihre negative Konditionierung verdankte -
«Wie bitte?» sagte der Mann und zuckte zusammen. den Ausdruck hatte sie gelernt, als sie in Cambridge Naturwissen-
schaften studierte -, war weniger direkt als Elektrizität und hinterließ
Jake sah ihm direkt ins Gesicht. Kurze Haare, frisches Gesicht, ver-
keine sichtbaren Narben. Aber der Reiz, um den es sich handelte, lö-
mutlich nicht viel älter als seine Kragennummer. Hätte er ein biß-
ste eine Wirkung aus, die ebenso schmerzhaft war wie irgend etwas,
chen intelligenter ausgesehen, dachte sie, hätte sie vielleicht mit ihm
das man ihr mit ein paar strategisch angebrachten Elektroden hätte
geschlafen.
antun können. Die Wunden waren unsichtbar, aber sie fühlten sich
47 48
so unauslöschlich an, als hätte man sie ihr ins nackte Fleisch ge- Knöchel und stieg mit einem weiten Schritt über den ausgestreckten
brannt. Körper des Amerikaners weg.
Eine undankbare Tochter war dem Gift nicht gewachsen, mit dem «Erdgeschoß», befahl sie dem Steuercomputer und trat in den Flur.
ein Vater seinen Haß in ihr Rückenmark spritzen konnte. Hinter ihr schlössen sich geräuschlos die Fahrstuhltüren. Der Hotel-
flur war so lang wie eine Autobahn. Sie wollte ihr Zimmer errei-
Sie trank ihren Drink aus und bestellte noch einen. Der Barkeeper
chen, bevor der Mann sich aufrappelte und wieder aus der Emp-
mixte mit einem Tempo, als hätte er sein Handwerk in den Boxen
fangshalle heraufkam. Vor ihrer Zimmertür blieb sie stehen und
am Nürburgring gelernt. Aber seine Drinks schmeckten, wie es sich
suchte in der Handtasche nach dem Schlüssel. Dann fiel ihr ein, daß
gehörte, und Jake nickte ihm anerkennend zu.
es keinen Schlüssel gab. Die Tür funktionierte auf Stimmabdruck.
Sie warf einen Blick auf die Armbanduhr. Bevor sie schlafen ging,
«Jakowicz», sagte sie, und die Tür öffnete sich.
sollte sie das Informationsmaterial lesen, das Gilmour ihr gegeben
hatte. Es gab kaum einen Grund, sich in der Bar aufzuhalten. Sie Halogenlicht aus den vier gewaltigen Glasbrüstungen, von denen das
konnte gut verstehen, warum in Frankfurt so viele internationale oberste Stockwerk der beiden Hotelflügel beherrscht wurde, fiel wie
Messen und Tagungen stattfanden. Es war eine jener Städte, die kei- der Lichtstrahl eines Filmprojektors durch das schießschartengroße
nerlei Ablenkung bieten: kein Nachtleben, keine nennenswerten Se- Fenster. Jake steckte eine Zigarette an. Es war eine nikotinfreie, aber
henswürdigkeiten, keine historischen Gebäude, kein Theater, kein der Rauch in ihrer Lunge fühlte sich gut an. Sie griff zum PC und
anständiges Kino. Der Frankfurter Flughafen war so ungefähr das schob Gilmours Informationsdiskette ein.
interessanteste Gebäude, das sie hier gesehen hatte. Sie trank ihren
EIGENTUM DER STÄDTISCHEN POLIZEI GROSSLONDON;
Drink aus, unterschrieb die Rechnung und ging in die Halle.
INFORMATIONSDEZERNAT DISKETTE LMP/ 2000 /
Mit einem gewaltigen Luftzug kam der Fahrstuhl an, und Jake stieg ALLGEMEINE DATEI MENÜ: 1. WAS IST LOMBROSO?
ein. Sie nannte dem Computer ihre Etage und sah zu, wie sich die
2. HINTERGRUNDINFORMATIONEN ZUM
Türen schlössen. Sie schlössen sich nicht schnell genug, um den
LOMBROSOPROGRAMM
jungen Amerikaner, der sie in der Bar angesprochen hatte, daran zu
hindern, sich im letzten Augenblick in Jakes Fahrstuhl zu quetschen. A. DAS SCHEITERN VON PRÄVENTIVPROGRAMMEN
GEGEN GEWALTVERBRECHEN
«Sie sollten freundlicher sein», sagte er und berührte ihre Brust.
B. SOZIALPOLITISCHE UND PHILOSOPHISCHE
Jake lächelte, um ihninSicherheit zu wiegen. Sie lächelte immer
HINTERGRÜNDE
noch, als ihr Schuhabsatz über sein Schienbein kratzte. Der Mann
schrie auf und griff instinktiv nach dem schmerzenden Bein. Dabei 3. SOMATOGENE BESTIMMUNGSFAKTOREN VON
beugte er sich genau in den Kinnhaken vor, der sich ihm schon wie GEWALTVERBRECHEN
ein Hammer entgegenhob. In ein paar Sekunden war alles vorbei.
4. DURCHFÜHRUNG
Die Fahrstuhltür öffnete sich in Jakes Stockwerk. Sie rieb sich die

49 50
5. BEHANDLUNG UND INTEGRATION UM 4 Millionen Männer überprüft worden, und davon haben sich 0,003
INFORMATIONSMATERIAL IN NUMERISCHER % als VMK-negativ erwiesen. Nur 30 % aus dieser Gruppe wieder-
REIHENFOLGE AUFZURUFEN, EINGABETASTE DRÜCKEN. um waren zu einer Gefängnisstrafe verurteilt oder sonst strafrecht-
lich auffällig geworden. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt hat das
Nachdem sie das Menü überflogen hatte, drückte sie wie vorge-
Lombrosoprogramm eine Rolle bei der Aufklärung von insgesamt
schrieben die Eingabetaste.
10 Mordfällen gespielt.
1. WAS IST LOMBROSO?
Jake las den ersten Teil des Informationsprogramms durch, gähnte
L. O. M. B. R. O. S. O. ist die Abkürzung für Lokalisierung Organi- und trat ans Fenster ihres Hotelzimmers. In der Ferne konnte sie den
scher Medullärzerebral Bestimmter Resonanzen und Obligater So- Main sehen, dessen verwaschenes Grau die Farbe des Himmels wi-
zialer Orthopraxie. Ein auf der Grundlage des klassischen Protone- derspiegelte. Tutend glitt ein riesiger Schleppkahn gemächlich durch
nemissions-Tomographen von Professor Burgess vom Nuffield Insti- die Flußlandschaft. Frankfurt reizte sie nicht, und es reizte sie nicht,
tut für Naturwissenschaft der Universität Cambridge entwickelter den Abend mit der Lektüre von Programmen zur Verbrechensverhü-
Apparat kann diejenigen männlichen Versuchspersonen erkennen, tung zu verbringen. Ehrlich gesagt, hatte Jake wenig Vertrauen in all
deren Gehirn ein ventromedialer Kern (VMK) fehlt, der als dämp- diese Programme. Angesichts einer weiterhin eher unterausgestatte-
fendes Regulativ für den sexuell dimorphen Kern (SDK) wirkt. ten Verbrechensaufklärung hielt sie das Ganze für eine gewaltige
Hierbei handelt es sich um einen vor dem optischen Nerv gelegenen Geldverschwendung.
Bereich des männlichen menschlichen Gehirns, von dem aggressive
Jetzt war sie endgültig abgelenkt, schaltete das Nicamvideo an und
Reaktionen gesteuert werden. Im Jahre 2010 wurde die computerge-
knipste sich durch die 42 Kabelkanäle. Ihre Deutschkenntnisse wa-
stützte Registrierung männlicher britischer Staatsbürger mit dem
ren recht gut, aber keines der Programme schien der Mühe wert, ihm
Ziel eingeleitet, den VMK-negativen Versuchspersonen Behandlung
Aufmerksamkeit zu schenken. Kurzfristig blieb sie an einem Sex-
und / oder Beratung anbieten zu können. Das Programm des Lom-
film hängen, in dem ein Pärchen gemeinsam ein Bad nahm. Das
broso-Computers unterliegt strengen Datenschutzbestimmungen,
Mädchen erinnerte sie an Grace Miles: eine kräftige, sportlich wir-
denen zufolge die Identität VMK-negativer Testpersonen durch Zu-
kende Schwarze mit großen Brüsten und einem Hintern wie ein gut-
teilung eines Decknamens geschützt werden muß. Der Computer ist
gefüllter Brotbeutel. Aber als sie mit der gelangweilten Hingabe ei-
jedoch durch eine Datenleitung mit dem Zentralen Polizeicomputer
nes Kindes, das sein Eis lutschte, anfing dem Mann einen zu blasen,
(ZPC) in Kidlington verbunden. Sollte der Name eines Verdächti-
verzog Jake angeekelt die Lippen und schaltete den Apparat ab.
gen, der im Verlauf der Untersuchung eines Gewaltverbrechens in
den Polizeicomputer eingegeben wird, derjenige einer männlichen Bildeten sie sich wirklich ein, es könne einer Frau Spaß machen, so
Person sein, die sich als VMK-negativ erwiesen hat, informiert der etwas zu tun? Sie zuckte die Achseln. Vielleicht war es ihnen ein-
Lombroso-Computer den ZPC über diese Tatsache. Das Vorliegen fach egal.
eines negativen VMK-Testergebnisses als solches ist jedoch nach
Sie zündete noch eine Nikotinfreie an, wandte sich unwillig wieder
der Strafprozeßordnung nicht als Beweismaterial verwertbar. In der
ihrem PC zu und rief den Rest der Informationsdiskette auf.
bisher zweijährigen Laufzeit des Lombrosoprogramms sind mehr als
51 52
2. HINTERGRUNDINFORMATIONEN ZUM rigen Jahrhunderts verloren fatalistische Theorien darüber, aus wel-
LOMBROSOPROGRAMM A. DAS SCHEITERN VON chen sozialen und ökonomischen Gründen Menschen Gewaltverbre-
PRÄVENTIVPROGRAMMEN GEGEN GEWALTVERBRECHEN chen begehen, ihre Glaubwürdigkeit. Die nahezu ausschließliche
Beschäftigung mit den äußeren Ursachen von Verbrechen ließ jedes
In den letzten beiden Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts hat
Gefühl für persönliche Verantwortlichkeit schwinden. Heute ist die
die britische Gesellschaft den Versuch gemacht, ganze Gruppen,
Gesellschaft als Ganzes ebensowenig bereit, die alleinige Verant-
Bevölkerungen und Lebensumwelten unter Kontrolle zu bringen. Es
wortung dafür zu übernehmen, daß jemand zum Verbrecher gewor-
ging dabei weniger um gemeinschaftliche Kontrolle als um die Kon-
den ist, wie dies der einzelne für sich selbst tut. Das Zusammenwir-
trolle von Gemeinschaften. Technologische und ökonomische Res-
ken gesellschaftlich bedingter und individueller Faktoren gilt als er-
sourcen wurden gezielt zu Zwecken der Überwachung, der Verhin-
folgversprechender Erklärungsansatz für kriminelles Verhalten jeder
derung und der Kontrolle eingesetzt, nicht aber zum Zweck der «
Art.
Spurensicherung», wo es um den einzelnen verurteilten Straftäter
ging. Die Absicht war es, die Umwelt so zu manipulieren, daß die In unserem neuen Jahrhundert gilt Determinismus nicht mehr als
ursprüngliche Übertretung verhindert werden konnte. Die Gemein- Bedrohung der Freiheit. Die pragmatische Annahme von grundle-
schaft blieb weiterhin betroffen, aber die Realität war weniger er- genden Ordnungsprinzipien kann, wenn sie der wissenschaftlichen
freulich. Das Lebenineiner Wohnfestung und bewaffnete Streifen Forschung dient, nicht in Frage gestellt werden. Damit wird ein
auf Schulhöfen und Flughäfen waren Lösungen und Probleme in ei- ehemals vorherrschender Trend in den Sozialwissenschaften umge-
nem: Sie wurden zu Problemen, weil sie dazu beitrugen, die städti- kehrt, dem zufolge man irrigerweise glaubte, Freiheitsräume zu
schen Alpträume zu schaffen, gegen die die Menschen rebellierten. schützen, wenn man den Determinismus auf die Welt der Physik be-
schränkte und somit jeden Versuch, irgendeine Art von «biologi-
Mit dem Scheitern der Versuche zur Verbesserung der Lebenswelt
schem Determinismus» zu etablieren, als illegitim erklärte.
wurde wieder mehr Nachdruck auf die Verfolgung des einzelnen
Straftäters gelegt. Nach der Masseneinwanderung von chinesischen Die moderne Sozialwissenschaft hält weder Voraussagbarkeit noch
Flüchtlingen aus Hongkong in die EG im Jahre 1997 erwies sich die Verallgemeinerung für gefährlich. Im Gegenteil:
Einführung eines einheitlichen Personalausweises innerhalb der EG
Wenn man nicht zuerst bestimmte Grundvorstellungen von mensch-
als beachtlicher Erfolg. Noch wirksamer wurde diese Maßnahme,
lichem Verhalten festgelegt hätte, wären keinerlei Fortschritte in den
seit in den Personalausweis auch die DNS-Identifizierung aufge-
Sozialwissenschaften erzielt worden. Die Behauptung, menschliches
nommen wurde. Damit war zum erstenmal in der Geschichte der
Verhalten sei beliebig anpassungsfähig, ist nicht mehr gültig. Damit
Verbrechensbekämpfung ein Instrument geschaffen, das es der Re-
ist auch die Vorstellung, Gewaltverbrechen wurzelten in Wirklich-
gierung ermöglichte, den einzelnen aufzuspüren, noch bevor er straf-
keit nicht in uns, sondern seien ein von außen her gesellschaftlich
fällig wurde.
produziertes Phänomen, endgültig widerlegt.
B. SOZIALPOLITISCHE UND
3. SOMATOGENE BESTIMMUNGSFAKTOREN VON
PHILOSOPHISCHE HINTERGRÜNDE In den Neunzigern des vo- GEWALTVERBRECHEN

53 54
In den letzten zehn Jahren hat die somatogenetische Forschung, ins- größer war als beim weiblichen Exemplar. Er entdeckte außerdem,
besondere auf dem Gebiet der Ätiologie von Geisteskrankheit (mit daß der VMK beim männlichen Menschen aggressionshemmend
Ausnahme von Umsetzungsstörungen wie etwa Neurosen) gewaltige wirkt. Wurde der SDK entfernt, wies der Mann keinerlei Aggression
Fortschritte gemacht. Man geht heute davon aus, daß die meisten mehr auf. Dagegen steigerte das Fehlen oder die Amputation des
geistigen Störungen eine organische Ursache haben. Eine ähnliche VMK beim Mann wie bei Gorskis Ratten die Aggressionsbereit-
Revolution des Denkens hat auf dem Gebiet der organischen Patho- schaft. Auch hier wurde die Aggressivität weiblicher Versuchsper-
logie und ihrer Beziehung zu Gewaltverbrechen stattgefunden. sonen mit kleinerem SDK durch das Fehlen oder die Amputation des
VMK nicht beeinflußt.
Die neurologische Forschung hat sich dabei auf sexuellen Di-
morphismus, also auf den Unterschied zwischen dem männlichen Die Forschungsresultate Phelans wurden von Professor David
und dem weiblichen Gehirn, konzentriert. Eine Pionierrolle spielte Gleitmann von der Abteilung für gerichtsmedizinische Neuroendo-
dabei Professor Burgess Phelan von der Abteilung für Anatomie und krinologie am Londoner Institut für Gehirnforschung aufgenommen.
Zellularbiologie an der Universität Cambridge, zugleich Leiter des Er entdeckte, daß einige Gewaltverbrecher überhaupt keinen VMK
neuroendokrinologischen Labors im Londoner Institut für Gehirn- besaßen, daß sie also VMK-negativ waren.
forschung.
Diese bahnbrechende Entdeckung wurde zunächst auf operativem
Phelans Arbeiten bauten auf den Forschungen von Roger Gorski von Wege gemacht. Später jedoch ermöglichte es ein Durchbruch in der
der Universität Californien (Los Angeles) auf, der im vor dem opti- Technologie der Protonenemissions-Tomographie, die sogenannte
schen Nerv gelegenen Gehirnbereich der männlichen Ratte das ent- PET-Untersuchung, Gleitmann, detaillierte Farbaufnahmen des Ge-
deckte, was die Bezeichnung sexuell dimorpher Kern (SDK) erhielt. hirns im Schädel des lebenden Menschen zu machen. Mit Hilfe die-
Dieser Bereich, der zur Steuerung des Sexualverhaltens beiträgt, war ser Fotos konnte Gleitmann in wenigen Minuten die Anwesenheit
bei männlichen Ratten fünfmal größer als bei weiblichen. Ein weite- oder Abwesenheit eines VMK und dementsprechend das Vorliegen
rer Bereich des Rattenhirns, dessen Größe geschlechtsabhängig ist, oder Fehlen latenter Kriminalität feststellen.
ist der ventromediale Kern (VMK), der sowohl bei der Nahrungs-
Bisher ist durch die Forschungen Professor Gleitmanns nachgewie-
aufnahme wie bei aggressivem Verhalten eine Rolle spielt. Gorski
sen worden, daß die Neigung zu Gewaltverbrechen bei einem VMK-
entdeckte, daß die Amputation oder auch nur geringfügige Verlet-
negativen Individuum dauerhaft latent bleiben kann. Die laufende
zung des VMK einer Ratte das männliche Tier außerordentlich ag-
Forschungsarbeit konzentriert sich auf die
gressiv werden ließ. Dagegen zeitigte eine gleichartige Verletzung
des VMK bei weiblichen Ratten keinerlei Wirkung. Möglichkeit, daß viele Männer, die VMK-negativ sind, ihr Aggres-
sionsniveau anscheinend durch erhöhte Ostrogenproduktion stabili-
Anhand von Atlanten der Gehirnchirurgie und unter Einbeziehung
sieren können.
von Gehirnuntersuchungen an freiwilligen männlichen Strafgefan-
genen entdeckte Burgess Phelan einen SDK und einen VDK im 4. DURCHFÜHRUNG
menschlichen Gehirn. Auch hier stellte sich wie bei den Ratten her-
Im Jahre 2005 betrugen die durchschnittlichen Ermittlungskosten in
aus, daß der SDK des männlichen Menschen um ein Mehrfaches
55 56
einem Mordfall in der EG etwa EG $ 750000. Im gleichen Jahr er- Faktoren hat zur freiwilligen Teilnahme beigetragen. Im ersten Pro-
eigneten sich 3500 Tötungsdelikte, was Ermittlungskosten von 2,6 grammjahr wurden kleine finanzielle Anreize geschaffen, die ähn-
Milliarden in der Gemeinschaft entspricht. Im Rahmen der Versu- lich wie bei Blutspendeaktionen funktionierten. Das Zentrale Infor-
che, diese gewaltigen Kosten zu senken, hat das Europaparlament mationsamt sponserte eine Reihe von Fernsehspots, in denen Män-
beschlossen, sich Professor Gleitmanns Forschungen im Kontext ei- ner aufgefordert wurden, «gute Bürger» zu sein und sich untersu-
nes Versuchsprogramms anzuschließen, das in einem Mitgliedsland chen zu lassen. Damit wurden einige Mythen und Negativbilder zer-
unternommen werden sollte. Wegen seiner überdurchschnittlichen streut, die sich unvermeidbarerweise um das Programm gerankt hat-
Anzahl an Gewaltdelikten wurde das Vereinigte Königreich ausge- ten. Es dauerte allerdings nicht lange, bis die Arbeitgeber im öffent-
wählt, und im Jahre 201l wurde das Experiment in der Form des lichen Dienst anfingen, die Überprüfung ihrer sämtlichen Angestell-
Lombrosoprogramms initiiert. ten zu verlangen. Ihnen folgten bald die Arbeitgeber im Gesund-
heitswesen und die Versicherungsgesellschaften. Allgemein ist man
Unter Einsatz eines speziell entworfenen Computers und einer An-
davon überzeugt, daß der einzige Grund, warum nicht mehr Männer
zahl von Überprüfungszentren in London, Birmingham, Manchester,
überprüft werden können, in der begrenzten Kapazität des Pro-
Newcastle und Glasgow lassen sich Männer untersuchen. Den weni-
gramms selbst hegt.
gen, von denen sich herausstellt, daß sie VMK-negativ sind, wird in-
soweit Vertraulichkeit zugesichert, als nur der Computer ihre wahre 5. BEHANDLUNG UND INTEGRATION
Identität kennt. Bevor die Betroffenen zur Teilnahme an einer per-
Erbliche Veranlagung ist nur der unmittelbare Anlaß bei aggressiven
sönlichen Beratung eingeladen werden, bei der ihnen die Bedeutung
Störungen, und der Berater muß den Betroffenen auf alle Fälle dar-
des Untersuchungsresultats von einem qualifizierten Therapeuten
auf hinweisen, daß eine Anzahl zusätzlicher Faktoren auftreten müs-
erläutert wird, legt ihnen der Computer Decknamen zu. Primäres Be-
sen, um bei Personen mit der ursprünglichen Erbanlage den patholo-
ratungsziel ist Hilfeleistung. Zur Behandlung werden somatische
gischen Prozeß auszulösen. Hierzu gehören beispielsweise ASS (Ar-
Therapien (üblicherweise Östrogen und/oder Psychopharmaka) an-
beitslosigkeits-Stress-Syndrom), USS (Umweltbelastungs-Stress-
geboten. Den Betroffenen wird erklärt, daß der Lombroso-Computer
Syndrom) bzw. GWFSS (Gesellschaftlich-Wirtschaftlich-Familiäres
die Vertraulichkeit betreffs VMK-negativer Personen nur aufheben
Stress-Syndrom). Diese Faktoren können sehr fernliegend sein, so
wird, wenn der Name des Betroffenen im Verlauf polizeilicher Er-
daß das VMK-negative Individuum im Alltagsleben verhältnismäßig
mittlungen über ein Gewaltverbrechen auftaucht.
gut funktionsfähig ist.
Bisher sind mehr als 4 Millionen Männer überprüft worden. Von
Betont werden sollte, daß kein Verdacht auf Geisteskrankheit geäu-
diesen haben sich 0,003 % (120 Männer) als VMK-negativ erwie-
ßert werden darf. Zu diesem Zweck werden die Betroffenen übli-
sen. 30 % davon (36 Männer) befanden sich in Haft oder hatten ein
cherweise auf die Standardwerke über strukturelle Persönlichkeits-
Vorstrafenregister irgendwelcher Art. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt
tests hingewiesen. Aus diesen geht hervor, daß die Meßskala für
hat das Programm eine Rolle bei der Festnahme von insgesamt 10
psychopathische Abweichung (PA) des klassischen MMPI (Minne-
Gewaltverbrechern gespielt.
sota Multiphasic Personality Inventory) für Personen mit hohem PA-
Die Überprüfung ist zwar nicht obligatorisch, aber eine Anzahl von Wert eine Tendenz zur Aggression ergibt; daß aber hohe PA-Werte
57 58
auch typisch für Schauspieler und andere Personen mit deutlich umbringen würden, wäre das Leben gerettet. Das Leben von Frauen
überdurchschnittlicher Kreativität sind. wie Mary Woolnoth. Jake konnte sich genau vorstellen, wie sie vor
der Mutter eines Mordopfers stand und ihr erklärte, daß der Mörder
Soweit Betroffene weiterhin darauf beharren, sich selbst als mit ei-
ihrer Tochter seinen Sonderstatus nur als das betrachtete, was die
nem psychischen Defekt behaftet einzustufen, müssen sie aufgefor-
Diskette eine «Entdeckungsreise ins Selbst» im Sinne von R. D.
dert werden, ihren Sonderstatus als Aufforderung zu einer Entdek-
Laing nannte.
kungsreise ms Selbst im Sinne von R. D. Laing zu betrachten.
«Also dann, Chefinspektorin Jakowicz, ist es wohl in Ordnung. Ei-
Man kann sogar von der Annahme ausgehen, die Existenz von
nen Augenblick lang hätte ich ja beinahe geglaubt, meine Tochter
männlichen Individuen dieses Typs solle gesellschaftlich positiv
sei ganz grundlos vergewaltigt und ermordet worden.»
bewertet werden, da jeder von ihnen sich als ein zweiter Beethoven
oder Gauguin entpuppen kann. Dies soll allerdings nicht die soziale Sie lachte laut auf. Es war immerhin eine Abwechslung, wenn sich
Anerkennung beliebiger Handlungen auf Grund ihrer unerwarteten mal jemand damit beschäftigte, Männer zu ermorden. Ein wenig
künstlerischen Nebenwirkungen implizieren. Dennoch sollten mora- grotesk war die Situation schon: Was sollte sie, die Expertin für
lische Werte eben nicht als unbezweifelbar höchste Werte, sondern Frauenmorde, eigentlich tun? Einen Moment lang stellte sie sich
als Werte unter anderen Werten betrachtet werden. amüsiert vor, wie die dummen verängstigten Schweinehunde einan-
der abends nach Hause begleiten würden. Vielleicht könnte sie sogar
TEXTENDE
eine offizielle Warnung veranlassen und Männer auffordern, nach
Jake fand die Lektüre nicht erbaulich. Der Text war voll von Formu- Einbruch der Dunkelheit zu Hause zu bleiben. Das würde eine hüb-
lierungen, in denen sich eine gewisse Sympathie für diese Männer sche Delle in die gut lackierte Karosserie des kollektiven männli-
aussprach, in denen das Potential schlummerte, sich zu gewalttätigen chen Über-Ichs schlagen. Trotz der verhüllten Drohung der Staats-
Mördern zu entwickeln. Als Mitglied der Ordnungskräfte beunruhig- sekretärin hatte Jake das Gefühl, der Fall könne ihr vielleicht sogar
te sie diese Sympathie, und als Frau und potentielles Opfer eines Spaß machen.
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Gewaltverbrechens fand sie sie empörend.

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Als Jake mit der Informationsdiskette fertig war, zog sie sie aus dem
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PC, und da sie feststellen mußte, daß der Nachttisch, der aussah, als
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bestehe er aus drei Spazierstöcken von Harry Lauder, keinen Platz
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für irgend etwas außer der stabförmigen Lampe bot, die auf ihm lag,
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warf sie PC und Diskette mit verächtlichem Schnauben auf das Bett.
Sie setzte sich vor das Fenster. 6DFKODJHXQGPHLQHQ3ODW]LQGHU:HOWQDFK
Und wenn jemand beschloß, ein paar potentielle Psychopathen um- ,FK HULQQHUHPLFK GD‰ LFK VR EHWlXEW ZDU GD‰ LFK HV HLQIDFK YHU
zubringen? Dann konnte sie sich die Mühe sparen, sie zu erwischen. JD‰ PLU VLQQORVH *HZDOWDNWH JHJHQ GLH DQGHUHQ &DIHJlVWH
Und allen unschuldigen Frauen, die sie sonst irgendwann einmal DXV]XPDOHQ6WDWWGHVVHQWUDQNLFKHLQSDDU7DVVHQ.DIIHHD‰HLQH
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61 62
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63 64
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65 66
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N|QQHQGXXQGGHLQ5$PLFKY|JHOQELV]XP*HKWQLFKWPHKUª WKRGHGD]XZDUGDV6\VWHPQHX]XERRWHQHVDOVRHUVWHLQPDOJDQ]
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XQGVDK]X ZLHGHU %LOGVFKLUPVLFKY|OOLJ OHHUWH ELVQXUQRFK GDV
DQVFKOVVH GHV &RPSXWHUV NRQWUROOLHUW ZXUGHQ $QVFKOVVH PLW GH
(LQJDEH]HLFKHQ©6WDPPªDXILKPIODFNHUWHXQGPLUYHUULHWGD‰LFK
UHQ+LOIHPDQVLFKHLQH$QQlKHUXQJDQGLHVLQQOLFKH:DKUQHKPXQJ
PLFKGHP=LHOQlKHUWH
MHGHU :LUNOLFKNHLW YHUVFKDIIHQ NRQQWH GLH LP &RPSXWHU HU]HXJW
ZXUGH'DVZDUGLH$UWYRQ5HDOLW\$SSUR[LPDWLRQGLHLQGHQ6SLH 'DQQ EHIDKO LFK GHP &RPSXWHU DOOH 8QWHUYHU]HLFKQLVVH DXI]XIK
ORWKHNHQEHOLHEWZDU,FKKDEHMDVFKRQYRUKLQJHVDJWGD‰LFKVHOEVW UHQ GLH LP 6WDPPYHU]HLFKQLV HQWKDOWHQ ZDUHQ (UVW NDP GDV 9HU
DXFKHLQH5$0DVFKLQHXQGHLQHQ%RG\VXLWGD]XEHVLW]H ]HLFKQLVGHV/RPEURVRSHUVRQDOVXQGGDQQHLQSDDUDQGHUHGLHPLW
$EUHFKQXQJHQ *HKDOWVOLVWHQ %HUDWXQJVWHFKQLNHQ 9RUJHKHQVZHLVH
©:DVLVWªVFKPROOWH0DULO\Q©KDVWGXGHLQH=XQJHYHUVFKOXFNW"ª
EHL 3(78QWHUVXFKXQJHQ XQG GHUJOHLFKHQ ]X WXQ KDWWHQ *DQ] ]X
$XFK ZHQQ LFK PHLQHQ %RG\VXLW PLWJHKDEW KlWWH ZlUH LFK VRZLHVR OHW]W NDPHQ GLH ]ZHL 8QWHUYHU]HLFKQLVVH DQ GLH LFK KHUDQNRPPHQ
QLFKW GDUDXI KHUHLQJHIDOOHQ 0DULO\QV HLQ]LJH $XIJDEH ZDU HV W| ZROOWHHLQPDOGDVYRUJHODJHUWH%HWULHEVV\VWHPXQGGDQQGLH'DWHQ
ULFKWH 6FKXOMXQJHQ+DFNHU GD]X ]X YHUIKUHQ LKUH =HLW ]X YHU EDQNGHU90.1HJDWLYHQ
VFKZHQGHQXQGQLFKWZHLWHUPV6\VWHPHLQ]XGULQJHQ,FKZX‰WH%H
0HLQ RSWLPLVWLVFKHU 9HUVXFK XQPLWWHOEDUHQ =XJDQJ ]X GHP 8QWHU
VFKHLG XQG DOOHV VSUDFK GDIU GD‰ MHPDQG GHU 0DULO\QV )UDJHQ
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ULFKWLJEHDQWZRUWHWHXQGVLHILFNHQGXUIWHDP(QGHHQWGHFNHQZU
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HEHQ GLHVHU ,QIRUPDWLRQHQ EHVWDQG 'LH $QQDKPH HUVFKLHQ PLU OR
0DULO\Q VWHFNWH HLQH +DQG ]ZLVFKHQ GLH %HLQH XQG VWUHLFKHOWH VLFK JLVFKGD‰PHLQ:XQVFKPLFKQDFK%HOLHEHQIUHLLP6\VWHP EHZH
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67 68
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VR YHUVHW]WH LFK PLFK LQ GDV 8QWHUYHU]HLFKQLV IU GHQ 6XSHU
,FK YHUOLH‰ GDV 6\VWHP ZLHGHU XQG YHUVXFKWH PLFK GDUDQ ]X HULQ
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QHUQZLHWRWH*ULHFKHQXQG5|PHUXQEHKHOOLJWLQV5HLFKGHV+DGHV
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,FKNDQQQLFKWJHQDXVDJHQZRGXUFKLFKLKQ DXVJHO|VWKDEH9LHO LKQGXUFKGLH8QWHUZHOWJHOHLWHWH":DVKDWWHVLH.HUEHURV]XJHZRU
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WXQKDWWHDEHUPHLQHHLJHQH6LWXDWLRQVFKLHQLUJHQGZLH]XHWZDV]X lungen zu übernehmen. Natürlich werde ich unsere eigenen Ermitt-
SDVVHQ GDV EHUHLWV YRQ VLFK DXV H[LVWLHUHQ NRQQWH 9LHOOHLFKW VROOWH lungen über den Lippenstiftmörder weiterführen, aber das Innenmi-
LFKHWZDVEHUGHQ)LOPVDJHQ(VZDUHLQHUMHQHUDOWPRGLVFKSHV nisterium macht Druck. Sie wollen den neuen Fall gelöst haben, und
VLPLVWLVFKHQ )LOPH ZLH PDQ VLH LQ GHQ 6LHE]LJHUQ GUHKWH GLH *H ich werde mich stärker damit beschäftigen müssen. Du wirst also
VFKLFKWHHLQHV+WHUVGHU*HUHFKWLJNHLW(LQ0DQQKDWHLQIDFKHXQG mehr dir selbst überlassen sein. Du mußt mehr Eigeninitiative ent-
NODUH 9RUVWHOOXQJHQ GDYRQ ZDV *HUHFKWLJNHLW LVW XQG HU NQDOOW VLH wickeln und dich auf deine eigenen Einfalle verlassen. Halt mich auf
GHQhEHOWlWHUQPLWWHQGXUFK%UXVWXQG+LUQNDVWHQ'HUVFKUHFNOLFKH dem laufenden über alles, was vor sich geht, und wenn du glaubst,
9HUHLQIDFKHUGHU+HOGGHUJHIlKUOLFKHQ1lFKWHZDQGHUWHGXUFKGLH daß du ohne meine klugen Ratschläge nicht weiterkommst, wende
6WUD‰HQYRQ1HZ<RUNIXKUPLWGHU8%DKQXQGERWVLFKVHOEVWDK dich jederzeit an mich. Ich will, daß wir diesen Schweinehund krie-
QXQJVORVHQ 6FKOlJHUQ XQG 0|UGHUQ DOV .|GHU DQ GLH LQ GHP $X gen, Ed, und ich will ihn bald kriegen.» Crawshaw nickte bedächtig.
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«Hast du Mary Woolnoths Daten durch den Computer gejagt?»
%LOG'HQQZHQQGDV'LQJLP6DFKYHUKDOWYRUNRPPHQNDQQVRPX‰ «Ja», sagte er. «Wir haben sogar etwas gefunden. Mordopfer Num-
GLH0|JOLFKNHLWGHV6DFKYHUKDOWHVLP'LQJEHUHLWVSUlMXGL]LHQVHLQ mer fünf, Jessie Weston, schwärmte für Kriminalromane, genau wie
Mary. In ihrer Aktentasche steckte ein Exemplar von %UDQGQDUEHQ
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von Sara Paretsky. Ich hab darüber nachgedacht, ob sie ihr Buch im
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gleichen Laden gekauft hat, in dem Mary ihre Agatha Christie ge-
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kauft hat, dem Mystery Bookshop in der Sackville Street.»

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«Warum nicht?» sagte Jake. «Sie hat in der Bond Street gearbeitet.
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Das ist nicht allzu weit von der Sackville Street. Wenn du recht hast,
kann es ja sein, daß der Typ nicht bloß gerne Mordgeschichten
 liest...»
WIE WAR ES IN FRANKFURT?» «.. .vielleicht veranstaltet er sie auch gerne. Es ist immerhin eine
Möglichkeit. Soll ich einen Zivilfahnder bei ihm einschleusen?»
Kriminalinspektor Ed Crawshaw schloß die Tür zu Jakes Büro in
New Scotland Yard hinter sich und nahm Platz. «Wie schon gesagt, du mußt eigene Initiativen entwickeln, Ed», sag-
te Jake. «Aber ich glaube, du wärst besser beraten, wenn du ein paar
«Darüber wollte ich gerade mit dir sprechen», sagte sie. «Hast du
weibliche Polizisten auftreibst, die bereit sind, ein bißchen herumzu-
schon von dem Serientäter gehört, der nur Männer umbringt, Ed?»
schmökern.»
Er nickte. «Ja, dies und jenes schon. Hat offenbar irgend etwas mit
«Einen Köder auslegen.»
dem Lombrosoprogramm zu tun, oder nicht?»
Jake zuckte zusammen. «Ich habe diesen Ausdruck nie sehr ge-
«Richtig. Auf der Konferenz hat mich der Chef gebeten, die Ermitt-
mocht», sagte sie. «Irgendwie klingt es so, als ob der Köder am En-
73 74
de aufgefressen wird. Als ich noch in der Abteilung für Verhaltens- das?»
wissenschaften im Europäischen Kriminalamt gearbeitet habe, haben
Chefinspektor Cormack zuckte die Achseln. «Yat», wiederholte er
wir bei so einer Operation immer von einem goldenen Apfel gespro-
und nickte mit dem Kopf, «ein Chinese.»
chen. Psychologisch gesehen ist das für den oder die Freiwillige
weitaus motivierender.» Jake lächelte verkniffen. «Na schön, ich hab mir auch nicht einge-
bildet, daß der Prince of Wales so heißt.»
Jake warf einen Blick auf ihre Uhr und stand auf. «Ich muß runter-
gehen», sagte sie und fügte dann hinzu: «Noch etwas, Ed. Sorg da- «Wenn Sie mich fragen», sagte Cormack energisch, «der Mann ist
für, daß sie viel roten Lippenstift tragen. Möglicherweise gibt es bei gut. Wo es um künstliche Intelligenz geht, weiß er einfach alles. Und
unserem Mann einen chromatischen Auslöser für aggressives Ver- er kann sich eine ganze Menge vorstellen, was noch gar nicht erfun-
halten. Ich möchte nicht, daß der Schweinehund uns durch die Lap- den ist. Gilmour sagt, ich soll Ihnen meinen besten Mann leihen.
pen geht, bloß weil eine modebewußte kleine Polizistin eine andere Aber euer Laden ist mir unheimlich. Ihr habt es doch mit einem Ir-
Lippenschattierung bevorzugt, die viel besser zu ihrem Teint paßt. ren zu tun, oder etwa nicht? Normalerweise ist das Gefährlichste,
Blutrot oder gar nichts ist die Devise.» womit Yat zu tun hat, ein Kurzschluß. Also offen gesagt, wenn es
auch nur die leiseste Chance gibt, daß ihm bei euren Ermittlungen
Die Abteilung für Computerverbrechen war in einem klimatisierten
etwas passiert, schicke ich Sie lieber wieder nach Hause und lasse es
Raum im Untergeschoß von New Scotland Yard untergebracht. Ge-
auf ein Disziplinarverfahren ankommen.»
tönte Glasschiebetüren verbargen das Chaos einer schlecht aufge-
räumten Elektronikwerkstatt vor den Blicken der Passanten und lie- «Beruhigen Sie sich», sagte Jake. «Ich werde ihn nicht einmal Zahn-
ßen dabei gerade noch genug Licht durch. seide benutzen lassen, damit sein Mund nicht anfängt zu bluten. Al-
les, was ich von ihm will, ist eine Spurensicherung am Computer.
Jake bahnte sich ihren Weg durch einen weiten Saal, der ausrangier-
Niemand erwartet, daß er einen Mörder überredet, die Pistole weg-
te Bildschirme, nicht mehr benötigte Tastaturen und laufmaschen-
zuwerfen.»
gierige Laserdrucker beherbergte. Die letzte Tatsache bemerkte sie
zu spät. Fluchend marschierte sie zur Hinterseite des Saals, wo eine Cormack nickte zustimmend. Er war ein hagerer mürrischer Schotte
Wendeltreppe aus buntlackiertem Eisen zu der Galerie führte, an der mit ungekämmtem Prophetenbart und einer weltfremden Aura, als
die Büroräume lagen. Jake klopfte an eine Tür aus Glasfaser und trat sei er in einem Reagenzglas aufgewachsen. Hinter verschmierten
ein. Hier sollte sie den Leiter der ACV treffen und dem Experten Brillengläsern starrten seine Augen Jake unverwandt an. Seine Blik-
vorgestellt werden, der ihrer Ermittlungsgruppe zugeteilt worden ke folgten der Laufmasche in ihrem schwarzen Strumpf, glitten an
war: laut Anforderung dem besten Mann der Abteilung für Compu- ihrem Oberschenkel entlang und versuchten, unter den Saum ihres
terverbrechen. kurzen Rocks zu kriechen. Er wußte selbst, daß er ein bißchen alt für
solche Geschichten war, aber bei dem Anblick vollkommener Weib-
Der beste Mann in der ACV war nach Meinung des leitenden Chef-
lichkeit, die ihm gegenüber saß, fing er an, schwer zu atmen wie ein
inspektors Kriminalsekretär Yat Chung.
verliebter Unterprimaner. Hochgewachsen, streng und weiblich, mit
Überrascht wiederholte Jake den Namen. «Was für ein Name ist heiser kratziger Stimme und dem Blick, der die Brillengläser eines
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Mannes zum Springen bringen und seinen Bart mit Reif bedecken er nicht, auf welcher Seite er landen wollte. Gleichzeitig schlug Jake
konnte. Er mochte Frauen wie Jake: eher gut aussehend als hübsch, die Beine übereinander. Cormacks Netzhaut saugte ein paar Sekun-
eher sportlich als elegant, eher intelligent als charmant. Frauen, de- den lang den Anblick von Jakes Unterwäsche ein, dann spitzte er die
nen man ansah, daß sie ein Ende eines Lötkolbens vom anderen un- Lippen und sagte: «Im Grunde ist er in Ordnung. Sein einziger Feh-
terscheiden konnten. Am liebsten aber hatte Cormack harte Weiber, ler ist, daß er alles wörtlich nimmt. Redet manchmal, als schriebe er
wie er sie so oft in Lederkleidung mit der Peitsche in der Hand in Il- in seiner Freizeit Computerhandbücher. Das Problem ist nur, daß
lustrierten gesehen hatte. heutzutage die meisten Computerverbrechen von Leuten begangen
werden, die mehr Phantasie haben, als sich in einem Betriebshand-
«Was für ein Computer?» fragte er und schluckte ein paar Liter Sau-
buch niederschlagen würde.»
erstoff.
«Also Sicherheitsdienst der Armee?» Jake gab eine Notiz in die Da-
«Eine Paradigma Fünf», antwortete sie.
tei ein. «Wie lange?»
«Und das Betriebssystem?»
«Fünf Jahre. Ging direkt nach Cambridge zur Armee.» «Welches
«Das Datennetzwerk der Europäischen Gemeinschaft.» College?»
Seufzend schüttelte er den Kopf. « Scheiße », sagte er trübsinnig. «Ich glaube Trinity, klassische Philologie.» «Und woher dann das
«Noch gar nicht so lange her, daß sie es installiert haben. Wo ist die Interesse an Denkmaschinen?» «Computer? Ach so, sein Vater hat
undichte Stelle?» bei IBM gearbeitet.» Cormack lächelte. «Das ist etwas, das wir ge-
meinsam haben.» «Ihr Vater war auch bei IBM?»
«Das Institut für Gehirnforschung. Der Lombroso-Computer.»
«Nein, ich selber. Ich habe Programme für den Firmengebrauch
«Ja, ich glaube, ich habe so etwas läuten hören.»
entworfen. Buchhaltungssysteme und dergleichen.»
«Möglich. Behalten Sie es aber bitte für sich. Das Innenministerium
«Interessant», sagte Jake.
ist ganz hübsch nervös wegen der ganzen Angelegenheit. Ich will
von Ihrem Mann wissen, ob das Leck innen oder außen liegt.» «Eigentlich nicht. Deshalb bin ich zur Polizei gegangen, um Daten-
piraten zu fangen.»
«Wer ist der Sicherheitschef?»
«Die Lombroso-Leute sind ziemlich schweigsam geworden, als ich
Jake klappte den PC auf ihrem Schoß auf und rief die Datei auf.
angedeutet habe, irgend jemand könne in ihr System eingedrungen
«Doktor Stephen St. Pierre», sagte sie. «Kennen Sie ihn?» Cormack sein. Aber von der Idee, das Ganze könne aus dem eigenen Betrieb
stieß einen Grunzlaut aus. «St. Pierre war früher Leiter der Compu- stammen, waren sie auch nicht begeistert. Was meinen Sie? Geht es
tersicherung der britischen Armee», sagte er. von außen?»
«Und?» «Als die Regierung des Vereinigten Königreichs vor zwanzig Jahren
die Benutzerregeln für amtliche Datennetze in alle Computer einge-
Cormack schüttelte den Kopf von einer Seite zur anderen, als wisse
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baut hat, hielt man sie für unüberwindbar. Innerhalb von fünf Jahren haben wild entschlossene Hacker die Software entworfen, um das
hatte sich herausgestellt, daß das System mehr Löcher hatte als ein Ganze noch einfacher zu machen.»
russisches Kondom. Computersysteme werden von Menschen ent-
Jake war erleichtert, als die Gegensprechanlage auf Cormacks
worfen, verstehen Sie, und Menschen irren sich manchmal, und
Schreibtisch anfing, laut zu summen. Bei technischen Erklärungen
manchmal sind sie korrupt. Wenn man das menschliche Element aus
dieser Art mußte sie immer nach Luft schnappen. Cormack stach mit
der Gleichung eliminieren könnte, könnte man möglicherweise ein
dem Finger auf den Antwortknopf ein wie auf ein lästiges Insekt.
vollkommen sicheres System schaffen.» Er zuckte die Achseln.
«Das wahrscheinlichste Drehbuch für den Fall? Irgend jemand hat «Kriminalsekretär Chung», sagte eine Stimme. «Ich sollte Sie anru-
nicht aufgepaßt. Wahrscheinlich wechseln sie im Gehirnforschungs- fen.»
institut jeden Tag das Paßwort. Aber das ist eine zweischneidige Sa-
«Yat, komm bitte in mein Büro», sagte Cormack so laut, daß er ei-
che. Einerseits wird es einem Fremden schwer gemacht, das Paßwort
gentlich gar keine Gegensprechanlage mehr gebraucht hätte. «Ich
herauszufinden. Andererseits fällt es den Leuten, die dort arbeiten,
will dich jemandem vorstellen.»
schwer, sich das Wort zu merken. Vielleicht schreibt es sich dann
einer auf; vielleicht bittet er jemanden, es sich für ihn zu merken. So Cormack ließ den Knopf los und richtete den Finger auf Jake.
kann ein Unberechtigter das Paßwort sehen oder hören, und dann ist
«Nur ein paar Worte über Yat», sagte er mit gerunzelter Stirn. «Yat
er drin. Es könnte so etwas Einfaches sein.»
ist ein mürrischer Kerl. Wie die meisten Hongkong-Chinesen hat er
Er zündete sich einen Zigarillo an. Zwar bestand im ganzen Hause es nicht gerade leicht gehabt. Kam als Kind hierher, als die Kolonie
Rauchverbot, aber hinter geschlossenen Türen war nicht anzuneh- zusammenbrach. Aber... na ja, Sie wissen, was ich meine.»
men, daß irgend jemand Theater machen würde außer Jake, und die
Jake, die sich noch daran erinnern konnte, wie sie die ganze tragi-
würde ihm ohnehin keine Schwierigkeiten machen, solange sie noch
sche Angelegenheit am Fernsehen verfolgt hatte, wußte nur zu gut,
etwas von seiner Abteilung wollte.
was Cormack meinte. Die Rückgabe der Kolonie an das kommuni-
«Natürlich genügt es nicht, daß er ins System eindringt. Er muß auch stische China war mit einem dramatischen Ausmaß an Unfähigkeit
noch seine Sprache verstehen, und dazu braucht er ein Protokollana- und Ungerechtigkeit erfolgt. Zugleich fand Jake die Vorstellung ab-
lysegerät.» «Was ist das?» stoßend, daß sie jemanden überreden sollte, etwas zu tun, was er so-
wieso tun mußte. Sie tanzte nicht gern auf Zehenspitzen um Mimo-
«Ein Protokoll ist ein Regelsatz. Ein Analysegerät ist ein tragbarer
sen herum, die sich einbildeten, ihr Geschlecht oder ihre Rasse ver-
Apparat mit eigenem Kleinbildschirm und eigener Tastatur. Sieht so
liehen ihnen Sonderrechte. New Scotland Yard war voll von dieser
ähnlich aus wie Ihr Laptop da, oder ein bißchen größer. Das Gerät
Art von Scheiße.
erforscht die Telefonleitung des Zielsystems oder den Anschluß
selbst und versucht experimentell herauszukriegen, welches von ein «Wir werden uns sicher hervorragend verstehen», sagte sie kühl,
paar hundert möglichen Protokollen bei der Datenübertragung ver- «jedenfalls solange er gut arbeitet.»
wendet wird. Ein anständiges volldigitalisiertes Analysegerät kann
Anscheinend gab es keinen Regen mehr, dachte Jake, als Yat Chung
mit synchroner und asynchroner Übermittlung umgehen. Manchmal
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und sie im Streifenwagen zum Gehirnforschungsinstitut fuhren. Der «Vor 1997.»
Wagen kroch langsam über staubige Straßen. Jetzt war es Winter,
«Und dann kamen wir plötzlich alle an, was?» Ganz unerwartet fing
und die Wasserrationierung vom vorigen Sommer galt immer noch.
er an zu grinsen. «Sie sind vielleicht eine beschissen komische Da-
Es gab Gegenden in Südengland, die seit fünf Jahren über Fernlei-
me!» Jake erwiderte sein Lächeln. Sie fand es fast so schlimm, eine
tungen versorgt werden mußten. Sie fragte sich, was der kleine
Dame genannt zu werden, wie eine beschissen komische Dame.
Mann, der neben ihr saß, wohl davon hielt. Er wohnte in der Nähe
von Reading, im schlimmsten Dürregebiet. Aber aus Hongkong war «Glauben Sie nicht, daß ich das Kompliment nicht zu würdigen
er es vielleicht gewohnt, Wasser vom Gemeinschaftshahn zu holen. weiß», sagte sie. «Aber es wäre mir lieb, wenn Sie in meiner Ge-
Sie fragte sich, ob er sie ausgelacht hätte, wenn sie ihm ihre Gedan- genwart ein wenig auf Ihre beschissene Ausdrucksweise achten
ken verriet. Sie dachte noch einmal darüber nach, und jetzt kam es würden.»
ihr unwahrscheinlich vor, daß er überhaupt gelacht hätte. Cormack
«Meine Ausdrucksweise war nicht immer so schlimm», sagte Yat.
hatte nicht übertrieben. Der Chinese hatte ein Temperament wie die
«Vor 1997 war sie ganz erträglich.»
drei Mörder, für deren Strafkoma Jake gesorgt hatte.
Er lachte so herzlich über seinen eigenen Witz, daß Jake sich einen
«Ich glaube es einfach nicht! Dieses beschissene Land», knurrte er,
Augenblick lang fragte, ob er wirklich ein so hervorragender Com-
als der Wagen schon wieder stehenblieb. Sie hatten eine Viertelstun-
puterexperte sein könne, wie Cormack behauptet hatte. Seine Unge-
de für die letzten fünfzig Meter gebraucht.
schliffenheit schien sich schlecht mit etwas so Exaktem wie einem
«Was glauben Sie nicht an diesem Land?» Computer zu vertragen.
«Zum Beispiel der beschissene Verkehr», sagte er und blickte sie Sie beobachtete ihn aus dem Augenwinkel und überlegte, wie
kaum dabei an. schwer es wäre, ihn zu beschreiben, wenn man aus irgendeinem
Grund eine exakte Personenbeschreibung von ihr verlangt hätte.
«Na gut, aber ohne Ihre ganze Computerausrüstung hätten wir ja zu
Schlank, mittelgroß, etwa fünfunddreißig Jahre alt, trägt einen teuren
Fuß gehen können. Schließlich ist es nicht gerade weit.»
marineblauen Trainingsanzug, die Ärmel über den knochigen Unter-
«Und dann die beschissenen Leute.» armen hochgerollt. Und dann? Sein Gesicht war jung, fast kindlich,
die Haut beneidenswert glatt und weich. Eigentlich wie fast alle jun-
Über irgend etwas war er wütend. Er wandte den Kopf ruckartig ei-
gen Männer aus Hongkong. Sie fing an, darüber nachzudenken, was
ner gewaltigen Menschenmenge zu, die auf einen Bus wartete.
der Versuch bedeutete, jemanden zu beschreiben. Wieviel mehr an
«Sehen Sie sich die Typen doch bloß an. Warum unternimmt nie- einer Beschreibung im Auge des Betrachters liegt als im beschriebe-
mand was?» nen Gegenstand. Jede Beschreibung eines anderen Menschen konnte
genausoviel über denjenigen aussagen, der sich an die Beschreibung
«Es war nicht immer so schlimm», sagte Jake trocken. «Ich kann
machte, wie über den, der beschrieben wurde.
mich an eine Zeit erinnern, als die Stadt ganz erträglich war.»
Schließlich hielten sie vor einem Gebäude aus goldfarbenem Tafel-
«Ja? Wann war das wohl?»
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glas, in dem sich der Nachmittagshimmel spiegelte, als sei es in zelheiten ihres Besuchs in den Empfangscomputer ein, der sie auf-
Wirklichkeit so etwas wie eine meteorologische Bodenstation. Ein forderte zu warten, bis jemand Zeit hätte, sie abzuholen. Nach ein
Flugzeug bewegte sich von der einen glänzenden Gebäudekante zur paar Minuten spuckte ein Thermaldrucker zwei Sicherheitspässe aus,
anderen, dann kam ein stummer Taubenschwarm und dann eine die sie an die Jacke hefteten. Zugleich öffnete sich eine Fahrstuhltür,
Wolkenbank, die erschreckend schnell vorbeizog. Yat stand neben und ein außerordentlich langer Mann mit weißem Mantel und
Jake und folgte ihren Blicken. schlecht rasiertem Kinn kam auf sie zu. Die Hand, die er zum Gruß
ausstreckte, ragte aus einer Manschette hervor, hinter der sich nur
«Bewegt sich der Himmel immer so für Sie?» fragte er.
mühsam etwas verbarg, das wie ein Trainingsanzug aus Körperhaar
Sie kniff die Lippen zusammen und marschierte zielbewußt auf den aussah. Jake verschluckte sich beinahe vor Ekel. Nichts an einem
kameraüberwachten Haupteingang zu. Yat hatte keinen Sinn für den Mann war für sie abstoßender als Brust- und Körperhaar.
gereizten Rhythmus und die zunehmende Lautstärke von Jakes
«David Gleitmann», stellte sich der Mann mit der Leidensmiene vor.
Schritten auf ihren hohen Absätzen. Er schaffte es trotz seiner
«Ich bin hier Professor für Neuro-Endokrinologie. Ich leite das For-
schweren Ausrüstung mühelos, mit ihr Schritt zu halten.
schungsinstitut und das Programm.»
«Wenn Sie wollen, daß die Erde für sie bebt, wenden Sie sich ver-
Jake stellte sich und Kriminalsekretär Chung vor. Der stieß einen
trauensvoll an mich», sagte er anzüglich grinsend.
Grunzlaut aus und blickte betont in die andere Richtung. Sie hatte
Jake war die erste an der Tür und hielt sie ihm auf. « Cormack be- ihn vor weniger als einer Stunde kennengelernt, und schon hatte sie
hauptet, Sie seien ein verdammtes Genie, wenn es um Computer Lust, ihn zu Brei zu schlagen. Der Fahrstuhl brachte sie ins oberste
geht. Den Beweis dafür sind Sie mir allerdings noch schuldig, Yat, Stockwerk. Eine Gebärmutter und eine sichere Höhle, dachte Jake,
mein Junge.» Auf dem Weg zum Überwachungspult fügte sie hinzu: als sie Gleitmann in sein Büro folgte. Die Wände waren im gleichen
«Persönlich habe ich nichts gegen Leute wie Sie. Aber in Ihrem Fall Beigeton gestrichen wie Fußboden und Decke, und wenn man ein-
wäre ich bereit, eine Ausnahme zu machen. Verstanden, Herr Kri- mal von den teuren Edelholzmöbeln absah, hätte man das Zimmer
minalsekretär?» auf den Kopf oder auf die Seite stellen und es immer noch genauso
bequem bewohnen können. Was auf den ersten Blick Fenstern glich,
Er grinste sie böse an. «Das Problem mit euch Bleichgesichtern ist,
waren flache rechteckige Beleuchtungskörper. Und trotz seines zeit-
daß ihr keinen Sinn für Humor habt.»
genössischen Herstellungsdatums strahlte das Mobiliar einen leich-
Das Institut für Gehirnforschung war in einem intelligenten Gebäude ten Hauch von Klassik aus. Es bestand aus Plinthen, Querbalken und
untergebracht, dessen Beleuchtung, Sicherheitssystem, Temperatur Bögen, als hätte es einst einem griechischen Philosophen des Mittel-
und Telefonnetz von einem eigenen Computer gesteuert wurden. alters gehört. Die Wirkung wurde von gewaltigen ledergebundenen
Das Gebäude konnte nahezu alles selbständig regeln, ob es darum Büchern verstärkt, die wie ein Haufen Pflastersteine auf dem Boden
ging, einen Brand zu lokalisieren und die Feuerwehr anzurufen, oder lagen. Ein freistehendes Bücherregal, in Form und Größe einem
als Empfangsdame für das Institut zu arbeiten. Während Chung da- heidnischen Familienschrein nicht unähnlich, stand in jeder der sie-
für sorgte, daß das Gepäck durchleuchtet wurde, gab Jake die Ein- ben Ecken des Raums. Ein zweiter Mann saß bereits an dem Tisch,

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der groß genug für das Refektorium eines Klosters gewesen wäre. «Wann immer Sie wollen, Frau Chefinspektor», seufzte Gleitmann,
Als sie ins Büro kamen, stand er auf, und Gleitmann stellte ihn als «wenn Sie es für nötig halten.»
Dr. Stephen St. Pierre vor. Der Computerspezialist, sagte sich Jake,
«Das tue ich», sagte Jake energisch. «Sagen Sie, Herr Professor, füh-
der auffiel, wie nervös er wirkte.
ren Sie eigentlich immer noch Untersuchungen im Rahmen des
Gleitmann bot Kaffee an. Yat Chung teilte mit, er zöge Tee vor, und Lombrosoprogramms durch?»
wich dabei dem strafenden Blick seiner Vorgesetzten aus.
«Jedenfalls habe ich keine Anweisungen bekommen aufzuhören.» Er
Sie setzten sich an Gleitmanns Tisch. Yat Chung hielt Abstand von legte die schlanken Fingerspitzen aneinander, als warte er auf Wi-
den anderen, als zöge er es vor, nicht an der Besprechung teilzu- derspruch. Jake schwieg. «Das stimmt doch, oder etwa nicht? Das
nehmen. Aber Jake bemerkte sein neu erwachendes Interesse an den Innenministerium hat uns nicht angewiesen, die Untersuchungen
Vorgängen, als Gleitmanns Sekretärin, eine gutaussehende Chinesin, einzustellen.»
mit einem Tablett voll Erfrischungen und Yats Tee den Raum betrat.
Jake fiel auf, wie sich der Singular in den Plural verwandelt hatte:
Sie folgte den Blicken ihres Untergebenen, die ihrerseits dem Mäd-
ein offensichtliches Zeichen der Schwäche, das sie auszunutzen be-
chen folgten, das den Raum verließ, und fand seinen Geschmack an-
schloß.
erkennenswert. Das Mädchen war es wert, angesehen zu werden.
«Es geht wohl kaum darum, daß dazu eine Anweisung nötig wäre»,
«Ich bin vom Innenministerium angewiesen worden, Ihnen jede Un-
sagte sie. «Unter den vorliegenden Umständen könnte ich mir vor-
terstützung zu gewähren», sagte Gleitmann, der sich offensichtlich
stellen, daß Sie von selbst aufhören möchten. Jedenfalls so lange, bis
unbehaglich dabei fühlte.
Kriminalsekretär Chung eine Möglichkeit gefunden hat herauszufin-
«Wenn es Ihnen nichts ausmacht», sagte Jake höflich. Ob es dir et- den, wo die Sicherheitslücke liegt.»
was ausmacht oder nicht, dachte sie im stillen.
«Ich sehe nicht ein, was das nützen soll.» Der Einwurf kam von St.
Gleitmann schob die Unterlippe gegen eine vollkommene Zahnreihe Pierre. «Wir müssen wohl von der Annahme ausgehen, daß der
und biß darauf. «Mark Woodford hat irgend etwas von einem Lü- Mörder oder die Mörderin bereits über alle Informationen verfügt,
gendetektortest gesagt, dem sich alle unterziehen müssen.» die er oder sie benötigt.»
«Das stimmt. Kriminalsekretär Jones von meiner Ermittlungsgruppe «Ich habe die Erfahrung gemacht, daß man bei Mördern dieses Typs
wird sich darum kümmern. Es wäre mir recht, wenn er die Tests so sicherheitshalber gar keine unbewiesenen Annahmen machen soll-
bald wie möglich durchführen könnte.» Sie öffnete die Handtasche, te», sagte Jake und betrachtete ihre Fingernägel.
nahm ein Döschen Süßstoff heraus und warf eine Tablette in ihren
«Aber wenn hier überhaupt Annahmen gemacht werden, würde ich
Kaffee. «Wann kann er seine Geräte bringen?»
es vorziehen, sie selbst zu machen, wenn Sie nichts dagegen haben.»
Sie sah, wie Gleitmann einen Blick mit St. Pierre wechselte und wie
«Aber Frau Chefinspektor, das Programm jetzt zu unterbrechen wäre
St. Pierre den Kopf schüttelte und dann die Achseln zuckte.
doch nichts weiter als die Stalltür abzuschließen, nachdem...»

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Gleitmann führte die Metapher nicht zu Ende, und Chung runzelte noch aus ihrer Ausbildungszeit bei der Verkehrspolizei in Hendon
verständnislos die Stirn. erinnerte. Mehrere Goldreifen glitten mit dem Geräusch eines klei-
nen Tamburins ihr kräftiges, schlankes Handgelenk entlang.
«Sie gehen von der Annahme aus, daß das Wissen des Mörders, wo
es um die Daten des Lombrosoprogramms geht, nicht auf dem neue- «Ich habe diese Faktoren in Betracht gezogen», sagte sie, «und ich
sten Stand ist. Ich glaube nicht, daß wir davon ausgehen können, daß habe beschlossen, mich nicht darum zu kümmern.»
er oder sie (obwohl ich glaube, wir haben es mit einem Mann zu tun)
St. Pierre lehnte sich über den Tisch und verschränkte ein Paar Hän-
keinen Zugang zum System mehr hat, auch wenn es sich um unauto-
de, die stark genug waren, einen Ringkämpfer zu erwürgen. Er erin-
risierten Zugang handelt. Bevor wir wissen, wie die Sicherheitsvor-
nerte Jake nicht an den typischen Militärangehörigen. Er war breit-
kehrungen umgangen worden sind, habe ich den Verdacht, daß Sie
schultrig und kräftig gebaut, trug das dunkle Haar kurz geschoren
durch eine Fortführung der Untersuchungen noch mehr Männer ei-
wie beim Arbeitsdienst und hatte einen üppig wuchernden Karl-
nem unkalkulierbaren Risiko aussetzen.»
Marx-Bart. Die randlose Brille verstärkte den intellektuellen An-
Gleitmann rührte nachdenklich in seiner Kaffeetasse. «Ich fürchte, strich. Er sah aus wie ein gebildeter Rocker. Sie fragte sich, ob dies
da kann ich Ihnen nicht zustimmen», sagte er entschieden. «Wenn betont männliche Image des Doktors etwa bedeuten könnte, daß er
Sie das Programm abbrechen wollen, müssen Sie sich schon an das schwul war. Er lächelte, und als er das Wort ergriff, machte sich ein
Innenministerium wenden.» kleiner Sprachfehler bemerkbar, als behindere sein Schnurrbart die
Bewegung der Lippen.
Jake zuckt die Achseln. «Also gut».
«Werden Sie das in Ihren Bericht für das Ministerium aufnehmen?»
Das lange dunkle Gesicht des Professors nahm einen gereizten Aus-
fragte er.
druck an.
Bevor Jake antworten konnte, unterbrach Gleitmann: «Soweit ich
«Frau Chef Inspektor», sagte er mit feierlicher Stimme, «es scheint,
weiß, Frau Chefinspektorin, haben Sie nur den Auftrag, die Quelle
Sie haben die beträchtlichen Investitionen nicht hinreichend beach-
unseres Sicherheitslecks festzustellen. Das stimmt doch?» Er wartete
tet, die für ein Projekt dieser Größenordnung aufgebracht worden
nicht auf eine Antwort. «Das kann doch wohl einen so wichtigen
sind. Es gibt noch andere und weitaus komplexere Aspekte dieser
Punkt wie die Fortführung unseres Programms nicht betreffen. Ich
Angelegenheit als Fragen der individuellen Sicherheit. Muß ich Sie
schlage vor, daß Sie sich auf die Durchführung Ihres eigentlichen
daran erinnern, daß dies ein Privatunternehmen ist? Alle Verbindun-
Auftrags beschränken. Selbstverständlich werden wir Kriminalsekre-
gen, die wir zu Regierungsstellen haben, gehen einzig und allein aus
tär Chung jede Unterstützung gewähren. Uns ist genauso viel daran
vertraglichen Verpflichtungen hervor. Ich habe nicht nur Verpflich-
gelegen, diese Angelegenheit aufzuklären, wie Ihnen. Aber alles,
tungen den Patienten gegenüber, sondern auch meinen Aktionären.
was darüber hinausgeht...» Ein ausdrucksvolles Achselzucken. «Tut
Die finanziellen, geschweige denn die politischen Folgen Ihres Vor-
mir leid, nein!»
schlags...»
«Wie Sie wollen», sagte Jake. «Aber ich möchte jeden Ihrer Berater
Jake unterbrach ihn mit dem einzigen Handzeichen, an das sie sich
einzeln sprechen.»
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«Darf ich fragen, wozu?» rückgelassen hatte, und fragte sich, wie Crawshaw wohl vorankam.
Das gestaltete sich alles komplizierter, als sie gedacht hatte. Gleit-
«Um keine Zeit zu verlieren, will ich zunächst einmal von der An-
mann und seine Leute machten keinen besonders hilfsbereiten Ein-
nahme ausgehen, daß jemand von außen in das Sicherheitssystem
druck. Zu Hause im Yard hatte sie auch bereits Schwierigkeiten,
eingedrungen ist und daß es jemand war, der selbst ein VMK-
weil man ihrem Vorgesetzten den Fall entzogen hatte. Wenn es das
negatives Untersuchungsergebnis hatte. Lassen Sie mich das erklä-
Rauchverbot in öffentlichen Gebäuden nicht gegeben hätte, hätte sie
ren: Wenn ich richtig informiert bin, identifiziert das Lombrosopro-
jetzt eine Zigarette oder auch zwei angesteckt. Dann meldete sich
gramm diejenigen Männer, die irgendwann einmal schwere aggres-
Gleitmann zu Wort.
sive Störungen entwickeln könnten. Vorläufig werde ich von der
Annahme ausgehen, daß genau das geschehen ist. Ein VMK- «Entschuldigung?» fragte sie zurück.
negatives männliches Individuum hat eine schwere aggressive Ver-
«Ich habe gesagt: Hoffentlich kann Ihr Assistent sich da durchfin-
haltensstörung entwickelt, und die Aggression richtet sich gegen an-
den.»
dere VMK-Negative. Vielleicht kann sich einer Ihrer Berater an ei-
nen Probanden erinnern, der ein auffälliges Ausmaß an Feindselig- «Ja, das hoffe ich auch», stimmte ihm Jake zu. Sie schenkte sich
keit gegen das Programm und die Teilnehmer am Programm an den Kaffee nach. «Wir sprachen von Ihren Beratern», sagte sie. «Ja, gut.
Tag gelegt hat.» Der Chef der Psychiatrie im Institut ist Dr. Cleobury. Sie ist für die
Berater zuständig. Soll ich sie zu uns bitten?»
«Es ist Ihnen doch klar», sagte St. Pierre, «daß der Computer allen
Männern, die sich als VMK-negativ erweisen, Decknamen zulegt. Jake schüttelte den Kopf. «Nein, das wird im Moment nicht nötig
Selbst wenn sich einer unserer Berater an jemanden erinnern würde, sein. Wir werden hier in London anfangen und dann die Berater in
auf den Ihre Beschreibung paßt, würde er ihn nur unter seinem Birmingham, Manchester, Newcastle und Glasgow befragen.»
Decknamen kennen. Ich sehe nicht so recht, wie Ihnen das helfen
«Alle Berater?»
könnte.»
«Alle. Ach ja, ich wäre dankbar, wenn Sie mir ein Büro mit Pictofon
«Ich würde sie aber trotzdem gerne vernehmen. Oder haben Sie da-
und Computer für meine Ermittlungen zur Verfügung stellen könn-
gegen auch Einwände?»
ten.»
St. Pierre fuhr sich mit den Fingern durch den Bart und räusperte
« Selbstverständlich. Meine Sekretärin wird sich darum kümmern.
sich. «Keinerlei Einwände, Frau Chefinspektor. Ich wollte Ihnen nur
Und sagen Sie dem Computer Bescheid, wenn Sie sonst noch etwas
Arbeit abnehmen, sonst nichts.» Er warf einen Blick auf die Arm-
brauchen. Schließlich befinden wir uns in einem intelligenten Ge-
banduhr. «Ich denke, ich sollte jetzt Kriminalsekretär Chung unsere
bäude. Erst einmal werde ich Dr. Cleobury bitten, die Verbindung zu
Paradigma Fünf zeigen.» Jake nickte Yat zu. Der trank seinen Tee
den Beratern herzustellen.» «Vielen Dank.» Sie sah zu, wie er anrief,
aus und stand auf.
und wandte ihre Aufmerksamkeit
Während St. Pierre und er den Raum verließen, starrte sie auf den
dann seiner Bibliothek zu. Viele Titel waren ihr aus ihrer Zeit als
verschmierten Halbmond, den ihr Lippenstift auf ihrer Tasse zu-
89 90
Gerichtspsychologin beim Europäischen Kriminalamt vertraut, und Es war nicht einmal ein schlechtes Buch. Es gefiel ihr besser, als sie
eine ganze Menge stammte von Gleitmann selbst. Ein paar standen erwartet hatte. Natürlich war ein großer Teil nichts weiter als Speku-
partienweise im Regal, als betreibe er eine Buchhandlung. Allein in lation, aber es waren intelligente, einleuchtende Spekulationen.
einem Regal zählte Jake fünfzig Exemplare von 6R]LDOH %HGHXWXQJ
GHV PHQVFKOLFKHQ JHVFKOHFKWVEHVWLPPWHQ 'LPRUSKLVPXV Offenbar
Jake erinnerte sich an die Zeit vor ihrer Laufbahn in New Scotland
Yard, als sie im EK über männliche Sexualpsychologie gearbeitet
war er stolz auf sein Werk. Sie zog ein Exemplar aus dem Regal und
hatte. Gelegentlich wurde sie gefragt, warum sie zu einem so absolut
begann zu blättern.
männlich dominierten Institut wie dem Yard gegangen sei, wenn sie
«Ich würde mir das gerne ausleihen», sagte sie, als er sein Gespräch Männer schon nicht ausstehen konnte. Für Jake war die Antwort ein-
beendet hatte. fach: Wenn so viele Frauen männlichen Verbrechern zum Opfer fie-
len, schien es ihr nicht angezeigt, den Schutz der Frauen ganz in
Gleitmann lächelte dümmlich. «Nehmen Sie es ruhig mit.»
Männerhände zu legen. Frauen waren verpflichtet, zu ihrem eigenen
Zu Hause aß Jake den übriggebliebenen Thunfischsalat vom Abend Schutz beizutragen.
vorher. Dann setzte sie sich an das elektronische Klavier. Sie suchte
Erst als sie Gleitmanns Buch fast zur Hälfte gelesen hatte und es er-
eine Platte aus ihrer reichhaltigen Kollektion aus und schob sie ins
schöpft beiseite legte, bemerkte sie, daß er das Exemplar signiert
Laufwerk: Schuberts Klaviertrio in h-Moll, genauer gesagt die Auf-
hatte.
nahme der Cello- und Geigenstimmen. Die Klaviernoten leuchteten
auf dem integrierten LCD-Schirm über der Tastatur auf. Typisch männlich, dachte sie.
Jake, die als Teenager eine kompetente Pianistin gewesen war, spiel- +DEHQ 6LH *HGXOG ,FK ZHUGH VRIRUW EHU GLH QlFKVWH +LQULFKWXQJ
te präzise und exakt, aber sie verfügte nicht über die Technik der EHULFKWHQ Kaltblütig, ZLH 7UXPDQ &DSRWH JHVDJW KlWWH /DVVHQ 6LH
beiden Streicher und konnte die Ausdruckskraft nicht erreichen, die PLFK YRUKHU QXU VFKQHOO GHQ OHW]WHQ )DNWRU LQ GHU QHXHQ *HVWDOW
das Stück zu einem Meisterwerk des jugendlichen Optimismus PHLQHV/HEHQVHUZlKQHQ
1DFK PHLQHU 1DFKW DP &RPSXWHU XQG PHLQHQ hEHUOHJXQJHQ EHU
macht. Besonders gern spielte sie das Scherzo mit seinen ausgedehn-
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ten Stakkatopartien in Viertel- und Achtelnoten und dem kunstrei-
JLQJLFK]XGHP7HUPLQGHQLFKYRUGHU8QWHUVXFKXQJPLWPHLQHP
chen Kontrapunkt. Wenn es ein Musikstück gab, das ihre Laune na-
$QDO\WLNHU'U:UDWKDOOYHUHLQEDUWKDWWH
hezu immer verbesserte, war es das Scherzo op. 99. Und als die Zi-
geunerweise im Rondo des Schlußsatzes ihre Fingertechnik bis zum
äußersten gefordert hatte, ließ sie sich zufrieden seufzend in einen 6LHZHUGHQIUDJHQZDUXPLFKVFKRQEHLHLQHP3V\FKRDQDO\WLNHULQ
Sessel fallen. %HKDQGOXQJZDU$OVRLP*UXQGHELQLFKHLQZHQLJQHXURWLVFKXQG
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Die Erinnerung an die Musik blieb noch minutenlang an ihren Fin-
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gerspitzen haften und belebte all ihre Sinne. Später fühlte sie sich
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sogar der Aufgabe gewachsen, Gleitmanns Buch zu lesen.

91 92
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6WRIIGHFNH NUDPSIWH GLH =HLFKQXQJHQ XQG $TXDUHOOH YRU GHP sich hinter der äußeren Form verbarg. Der Mann von der Spurensi-
JHIlKUOLFKHQ 6RQQHQVFKHLQ VFKW]W %HLQDKH GDFKWH LFK HU ZUGH cherung, ein gewisser Kriminalsekretär Bruce, hockte sich neben sie
GDV 7XFK ]HUUHL‰HQ DEHU GDQQ ZDU HV LKP DXV GHQ )LQJHUQ auf den Boden.
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«Nun, was haben wir bisher erreicht?» fragte sie.

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«Nun, Jerusalem haben wir noch nicht erbaut», antwortete er. «So-
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viel kann ich jetzt schon sagen.»
HLQ*UXQGZDUXPHVVFKZLHULJHULVWEHL7DJHVOLFKW]XDUEHLWHQ(LQ «Ich lass nicht ab von geistigem Streit, Herr Kollege», erwiderte sie,
ZHQLJ%OXWVSULW]WHDXIPHLQHQ6FKXK$XVDOOGLHVHQ*UQGHQNDQQ «noch ruht das Schwert in meiner Hand. Dennoch wäre ich Ihnen
LFKPLFKQLFKWHULQQHUQRELFKGDV*HUlXVFKJHK|UWKDEHDQGHP dankbar, wenn Sie etwas anderes als Banalitäten, sei es auch noch so
PDQHLQHQHUIROJUHLFKHQ.RSIVFKX‰HUNHQQW poetisch, mitzuteilen hätten.»
(UVWGDILHOPLUDXIGD‰LFKLKQLQGLH6WLUQXQGQLFKWLQGHQ «Jawohl, gnädige Frau», sagte Bruce und klappte seinen Laptop auf.
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«Oliver John Mayhew, wohnhaft 137 Landor Road, London SW9.
IXJWHLFKDOVLFKPLFKJHODVVHQXQGUXKLJYRQ5XVVHOOV/HLFKHHQW
Sechs Kopfschüsse aus geringem Abstand gegen l Uhr 20 heute mit-
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tag. Der Wärter hat ihn gefunden. Hat angeblich nichts gesehen und
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nichts gehört.»
:DKUVFKHLQOLFKNHLW «Also wirklich», sagte er, «was zuviel ist, ist zuviel! Was soll denn
das? Was wird aus meinem Teppich?»
5
«Machen Sie sich darum keine Sorgen», erwiderte Jake. «Wir geben
JAKE BLIEB VOR EINEM der Bilder stehen. Sie hatte schon im-
ihn zurück, sobald wir mit den Untersuchungen fertig sind. Wer
mer eine Schwäche für Blake gehabt. Zwei Reproduktionen seiner
weiß, wenn Sie einen hübschen Rahmen drum machen, können Sie
Gemälde hingen an der Wand ihres Badezimmers. Sie wußte, daß
ihn ja vielleicht ausstellen.»
Blake nicht jedermanns Geschmack war. Den meisten war er zu my-
stisch. Aber Jake hatte eine Schwäche für Mystik jeder Art, und die Spencers Mund öffnete und schloß sich lautlos, und Jake, an deren
besten Einfalle kamen ihr oft im kleinsten Raum der Wohnung. Mag Ohr keine Stimme aus dem übelriechenden rosa Abgrund seines Ra-
sein, daß sie eher zeitgebunden als erdumspannend dachte, aber Bla- chens drang, wünschte ihm einen guten Tag und ging.
kes Gemälde vermittelten ihr eine Ahnung von der dunkleren Seite
Mayhews, den seine Firma gut versichert hatte, lag in einer Privat-
des menschlichen Wesens, die ihrer Ermittlungsarbeit zugute kam.
klinik, die mit dem Westminster-Krankenhaus zusammenarbeitete.
Sie wandte ihre Aufmerksamkeit dem großen Blutflecken auf dem Die Klinik sah aus wie ein teures Hotel: dicke weiche Teppiche, Le-

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dermöbel, große moderne Gemälde und Bonsaibäumchen. Unter ging. «Hier», sagte sie, «riechen Sie mal dran!»
dem Lautsprecher am Empfang tröpfelte sogar ein kleiner Spring-
Stanley hielt die Flasche unter die ausladenden Nüstern, zog ein
brunnen vor sich hin. Der Lysolgeruch und die gelegentlich auftau-
paarmal Luft ein und nickte ihr dankbar zu. « Danke », sagte er mit
chenden weißen Uniformen schienen ein wenig fehl am Platze, als
schwacher Stimme.
werde die Atmosphäre von ruhig gediegenem Luxus durch einen
unvorhergesehenen Zufall gestört. «Behalten Sie sie lieber», sagte sie. «Fühlen Sie sich jetzt imstande,
Ihren Bericht zu erstatten?»
Kriminalinspektor Stanley erwartete sie in einem stillen Gang vor
dem OP. Als sich Jake zu Beginn der Ermittlungen an ihr erstes Zu- Er nickte. «Mayhew wird noch operiert. Es sieht aber ziemlich hoff-
sammentreffen mit Stanley erinnerte, hatte sie sich gefragt, ob sie nungslos aus. Er hat mehr Löcher im Kopf als eine Bowlingkugel.
weiter mit ihm zusammenarbeiten sollte. Konnte ein Beamter von Außerdem hat er viel Blut verloren. Aber während der Kollege im
der männlichen Mordkommission, der beim Tatortbericht über einen Unfallwagen bei ihm war, ist er kurz einmal aufgewacht.»
Frauenmord auftauchte, mehr als eine Belastung sein? Ed Craws-
Stanley winkte dem bewaffneten Polizisten, der ein wenig abseits
haw, der Stanley aus Hendon kannte, sagte, er sei kein schlechter
von den beiden stand. Der Mann schritt auf seine beiden dienstälte-
Bulle und zuverlässig, auch wenn er dazu neigte, alles ein bißchen
ren Kollegen zu, und seine Schuhe quietschten auf den teuren Bo-
zu wörtlich zu nehmen. Jake ihrerseits neigte dazu, diese Kritik als
denmatten wie zwei kleine Pelztierchen.
eher für Stanley sprechend zu betrachten. Die assoziative Phantasie,
die man bei der Lösung eines Falles brauchte, traute sie sich selbst «Wachtmeister, erzählen Sie der Chefinspektorin, was Mayhew im
zu und arbeitete lieber mit Leuten zusammen, bei denen sie sich dar- Krankenwagen zu Ihnen gesagt hat.»
auf verlassen konnte, daß sie genau das taten, was man ihnen aufge-
Der Wachtmeister schob die Maschinenpistole beiseite, knöpfte die
tragen hatte. Wenn Jake an die meisten ihrer Kollegen im Yard
Brusttasche seiner Uniformjacke auf und zog den
dachte, kam sie zu dem Schluß, daß Phantasie häufig ein Indiz für
Korruption war. Computer heraus. «Er hat gesagt: «Diese Schweine! Sie haben gelo-
gen. Sie haben gelogen. Ich hätte wissen sollen, daß sie von Anfang
Stanley war ein großer, sportlich wirkender Mann mit langem Haar
an vorhatten, mich umzubringen. Sie haben gelogen. Gehirn. Ge-
und einem Gesicht so bleich wie Ziegenkäse. Er schwankte ein biß-
hirn.>» Er schüttelte den Kopf. «Ich fürchte, er hat nicht sehr ver-
chen, als er begann, seinen Bericht abzustatten.
ständlich gesprochen.»
«Scheiße, was ist los mit Ihnen?»
«Sind Sie ganz sicher?» fragte Jake. «Das ist wörtlich das, was er
«Krankenhäuser», sagte er mit Grabesstimme. «Es ist immer das gesagt hat?»
gleiche. Ich vertrage den Geruch nicht.»
«So wörtlich, wie ich es mitbekommen habe, gnä'Frau. Er lag mehr
«Gut, aber kollabieren Sie nicht hier. Das können Sie sich nicht lei- oder weniger im Delirium.» Der Wachtmeister steckte den Compu-
sten.» Jake suchte in ihrer Handtasche und fand eine kleine Flasche ter in die Tasche und schob die Maschinenpistole wieder vor die
Riechsalz, die sie noch aus der Zeit mit sich führte, als sie Streife Brust.
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«Und er hat nur das eine Mal gesprochen?» Der Wachtmeister nick- «Heißt das, daß unser Mörder seine eigene Munition herstellt?» frag-
te. «Bis wir hier waren, hatte der Atem ausgesetzt. Ich glaube, sie te Jake, von der Begeisterung des Experten für sein Spezialgebiet
haben ihn im Operationssaal wiederbelebt. Die Schwester hat ver- verwirrt.
sprochen, auf alles aufzupassen, was er sagt, solange er da drin ist.»
«Nein, nein. Es geht, wie gesagt, um Präzisionsmechanik. Diese
«Danke», sagte Jake. «Wenn er sonst noch was sagt, egal wie unbe- Hülse hier wird von einem Waffenfabrikanten in Birmingham herge-
deutend es klingt, will ich es wissen. Verstanden?» «Jawohl, gnä' stellt. Man kann die Patronen in jeder Waffenhandlung kaufen, und
Frau.» man kann jede beliebige Kugel draufsetzen. Insoweit hat Ihr Mann
seine eigene Munition fabriziert. Und zwar schwere Munition: mit
Jake und Inspektor Stanley waren schon auf halbem Weg zum Aus-
konisch-konoidem Hohlkopf, zugespitzt und stromlinienförmig.»
gang, als jemand sie von hinten rief. Sie wandten sich um und sahen
den Wachtmeister, der sie wieder herwinkte. Neben ihm stand ein «Es geht um eine Gasdruckpistole», sagte Jake, der das Ganze im-
Mann im grünen Kittel. mer noch nicht klar war. «Ist das so etwas wie ein Luftgewehr?»
«Es tut mir leid», sagte der Chirurg, als sie bei ihm waren. «Ihr «Wenn es darum geht, wie man die Waffe abfeuert, ja. Aber wenn es
Mann ist nicht mehr zu Bewußtsein gekommen.» um das geht, was aus dem Lauf herauskommt, nein.» Er nahm das
verformte Metallstück von Jakes Handfläche und hielt es ans Licht.
Lester French, Experte für Schußwaffen im gerichtsmedizinischen
«Will sagen: Die normale Kugel für ein Luftgewehr hat nicht mehr
Institut von Scotland Yard, erhob sich von seiner Sammlung von
Ähnlichkeit mit dem hier als eine blöde kleine Erbse. Was man da-
Mikroskopen und Kameras und ließ eine Kugel in Jakes ausge-
mit trifft, das ist ein für allemal erledigt.»
streckte Hand fallen.
«Wie sieht die Waffe dazu aus?» fragte Stanley.
«Daran ist Mayhew gestorben», sagte er. «Die und noch fünf von ih-
ren Schwestern. Ihr Mörder weiß, was er tut, soviel kann ich Ihnen French öffnete eine Tür hinten im Laboratorium und führte sie auf
verraten. Diese kleine Schönheit hat einiges an Wucht.» einen kleinen Schießstand. Auf einem Pult lag etwas, das aussah wie
ein langläufiger Revolver vom Kaliber .44. Er hob die Waffe auf
«Und es ist der gleiche Typ, mit dem die anderen getötet worden
und gab sie Jake. «Etwa so», sagte er.
sind?»
«Sieht aus wie eine normale Pistole.»
French nickte entschieden.
French spitzte die Lippen. «Sie tut auch alles, was man von einer
«Wie funktioniert sie?»
normalen Pistole erwarten würde.» Er wies mit dem Kinn auf eine
«Schon die Hülsen sind Meisterwerke der Präzisionsmechanik», sag- der Zielscheiben. «Probieren Sie es. Sie ist geladen.»
te French bewundernd. «Eine geschliffene Messinghülse mit ge-
Jake spannte den Hahn. Die Waffe fühlte sich leichter an als ein
schlossener Druckluftkammer. Ein einfaches und wirksames Ventil-
normaler Revolver.
system.» Er nahm einen kleinen Gaszylinder von der Werkbank.
«Damit lädt man die Patronen auf.» «Gut so», sagte French. «Entsichern Sie jetzt, und sie ist feuerbe-
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reit.» «Die Gewehre haben wahrscheinlich noch mehr Durchschlagskraft»,
meinte Jake.
Sie richtete den Lauf auf die Zielscheibe, zielte und drückte den Ab-
zug durch. Die Waffe bewegte sich kaum in ihrer Hand und macht «Wenn Sie die richtige Munition nehmen, können Sie mit einem gu-
weniger Geräusch als ein Finger, der auf den Tisch klopft. ten Gasdruckgewehr einen ausgewachsenen Hirsch erlegen. Das
Ganze gibt es auch noch mit Feineinstellung.» Ein grimmiges Grin-
«Raffiniert, was?» French ging zur Zielscheibe voran.
sen zog über Frenchs Gesicht. «Hoffen wir, daß Ihr Typ nicht so et-
«Das hier ist eine zwei Zentimeter starke Spanplatte. Das gibt Ihnen was erwischt hat. Dann kann man gar nicht mehr sagen, wozu er fä-
einen Eindruck davon, was eine voll ausgewachsene Gasdruckpisto- hig wäre. Immerhin hat er sich ja schon ganz schön betätigt. Am hel-
le einem Menschen antun kann.» len Tag einen Mann in der Tate Gallery zu erschießen! Die Presse
wird begeistert sein.»
Jakes Kugel hatte die Zielscheibe in Menschengestalt in der Leisten-
gegend getroffen. Später am Nachmittag hatte Jake einen Termin bei ihrer Therapeu-
tin, Dr. Blackwell. Die Praxis war in einem eleganten dreistöckigen
«Sauberer Schuß», sagte French. Er zog einen Kugelschreiber aus
Haus in Chelsea in einer Nebenstraße der King' s Road, und Jake
der Jackentasche und steckte ihn in das Loch. «Glatter Durchschuß.
ging seit knapp einem Jahr zu Dr. Blackwell.
Beeindruckend, was?» «Und wie», murmelte Stanley.
Dr. Blackwell rechnete sich zur neoexistentiellen Schule der Psycho-
«Wenn Ihnen die Waffe immer noch zu laut ist, können Sie sogar
therapie. Hier vermied man die eher mechanischen Aspekte der klas-
einen Schalldämpfer dafür kaufen. Aber das Bemerkenswerte daran
sischen freudianischen Analyse und ermutigte den Patienten, sein
ist, daß sie nicht waffenscheinpflichtig ist. Jeder, der älter als sieb-
Leben eigenverantwortlich zu gestalten. Das Schlüsselelement der
zehn ist, kann heutzutage in einen Laden gehen und so etwas kaufen,
Beziehung zwischen Existenztherapeut und Patient war die Konfron-
ohne daß man ihm irgendwelche Fragen stellt.»
tation, in der die Probleme des Patienten diskutiert wurden und der
Jake schüttelte verwundert den Kopf. «Wie das?» French zuckte die Therapeut versuchte, den Patienten auf die lebensfördernden authen-
Achseln. «Der Gesetzgeber hat sich so ausschließlich auf konventio- tischen Lösungen hinzuweisen, die durch freie Entscheidung ent-
nelle Schußwaffen konzentriert, daß es niemandem aufgefallen ist, deckt werden konnten. Laut Dr. Blackwell übertrug sich die Erfah-
was für raffinierte Luftgewehre es heutzutage gibt. Sie müßten aller- rung aus dieser Konfrontation letztlich auf die Art, wie der Patient
dings über fünfhundert Dollar für ein Exemplar wie das hier zahlen. sich und andere sah.
Ein Gewehr kostet doppelt soviel.»
Die Empfangsdame lächelte, als Jake die Klinik betrat, und stand
«Soll das heißen, es gibt auch solche Gewehre?» fragte Stanley. hinter ihrer Theke auf.
«Aber ja doch. Sogar mit lasergesteuertem Infrarotvisier, wenn Sie «Sie sollen gleich reinkommen», sagte sie, «sobald Sie sich ausge-
ein bißchen wildern wollen. Und mit quecksilber- oder glyzeringe- zogen haben.» Sie führte sie zu den Umkleidekabinen.
füllten Explosivpatronen ist es genau das, wovon so ein kleiner Lee
Wie die meisten neoexistentiellen Therapeuten verlangte Dr. Black-
Harvey Oswald träumen würde.»
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well von ihren Patienten, daß die Konfrontation im Zustand völliger Dr. Blackwells Zimmer war groß und hell, und der tiefe, weiche
Nacktheit erlebt wurde, um das Gefühl persönlicher Offenheit zu blaue Teppich war extra dazu bestimmt, ein Gefühl von Entspan-
stärken. Jake betrat die Kabine und zog den Vorhang hinter sich zu. nung aufkommen zu lassen. Sie saß hinter einem großen grauen Le-
Sie zog die Jacke aus und legte sie auf den Hocker. Dann öffnete sie derschreibtisch vor einer Wand, an der die Kopie eines Gemäldes
den Reißverschluß ihres Rocks, zog ihn aus, hängte ihn auf einen von Francis Bacon hing. Hinter ihren Schultern sah man zwei Fen-
Bügel und hängte dann die Jacke darüber. Als sie die Bluse auf- sterbögen so groß wie eine Telefonzelle. Als Jake das Zimmer
knöpfte, vernahm sie das vertraute Rascheln von Dr. Blackwells betrat, blickte sie von ihrem Krankenblatt auf und lächelte freund-
Rock, die von der anderen Seite auf den Vorhang zukam. lich.
«Kommen Sie rein, wenn Sie soweit sind, Jake», sagte die Thera- «Und wie ist es Ihnen ergangen?»
peutin.
«Gut», sagte Jake. «Oder eigentlich, so wie immer. Nichts Neues.»
Ihre Stimme war gedämpft und wohlartikuliert und klang beinahe
Dr. Blackwell nickte mit dem Kopf. Sie war eine kräftig gebaute
ehrfurchterregend, als wäre Dr. Blackwell die Äbtissin eines
Frau von etwa fünfzig mit den großen Händen einer Bäuerin und ei-
schweigsamen und sehr frommen Nonnenordens. Es war eine Stim-
nem seltsam niedlichen Puppengesicht. Sie trug einen teuren Haar-
me, die Jake an die Direktorin ihrer Klosterschule erinnerte. Viel-
schnitt mit elegant geschwungenen Seitensträhnen, die sich unter
leicht war das einer der Gründe dafür, daß sie zu Dr. Blackwell und
dem Kinn schlössen, und ein weißes Bouclekleid, das kaum nach
nicht zu einer anderen Therapeutin ging. Die Therapeutin erinnerte
Krankenhaus aussah und einen malerischen Kontrast zu ihren son-
sie an jemanden, der früher einmal freundlich und verständnisvoll
nengebräunten Armen bot.
gewesen war, und das zu einem Zeitpunkt, zu dem sie es ihres Va-
ters wegen dringend gebraucht hatte. «Ist es Ihnen warm genug?»
«Gut», sagte Jake, ließ ihr Höschen zu Boden fallen und hakte den Jake sagte ja.
Büstenhalter auf. An der Kabinenwand hing ein Spiegel in voller
«Also gut. Schließen Sie die Augen, und versuchen Sie sich zu ent-
Körperlänge, und Jake betrachtete ihren Körper einen Augenblick
spannen. Gut so. Einatmen, ausatmen. Wenn ich <Jetzt> sage, sollen
lang kritisch. Die Brüste waren zu groß.
Sie den Morgenrock fallen lassen, und ich will, daß Sie sich gleich-
Aber sonst sah alles noch ungefähr so aus wie damals, als sie das zeitig vorstellen, Sie würfen alle Hemmungen von sich. Enthüllen
Studium in Cambridge beendete. Nicht schlecht für eine siebenund- Sie nicht bloß Ihren Körper, sondern auch all Ihre tiefsten Gefühle.»
dreißigjähnge Frau. Ein paar von ihren verheirateten Freundinnen Sie hielt einen Moment inne und sagte dann: «Jetzt!»
sahen inzwischen eher aus wie ihre eigene Mutter. Ohne Zweifel
Jake ließ den Morgenrock auf den Teppich gleiten und blieb schwei-
waren es die Kinder, die eine Frau richtig alt werden ließen.
gend und abwartend stehen. Sie spürte weder Schamgefühl noch
Ein roter Morgenrock, der Jake etwas zu männlich vorkam, hing am Peinlichkeit, nur das Gefühl vollkommener Befreiung.
Kleiderhaken. Jake zog ihn an, band den Gürtel um und öffnete dann
«Öffnen Sie die Augen», sagte Dr. Blackwell fröhlich, «und legen
den Vorhang.
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Sie sich hin.» «Letzten Endes sind wir das, was wir uns zu tun entscheiden.»
Mitten im Zimmer stand eine schwarze Ledercouch, daneben ein «Deshalb komme ich ja zu Ihnen», sagte Jake. «Um besser mit den
Stuhl. Jake legte sich hin und starrte auf die teure Beleuchtungsanla- Entscheidungen leben zu können, die ich treffe.»
ge, die zugleich ein Teil des Heizungssystems war. Dann hörte sie
«Ich weiß nicht, ob ich Ihnen dazu verhelfen kann, sich wohler zu
das Quietschen des Stuhls, als sich Dr. Blackwell setzte.
fühlen, wenn Sie jemand angegriffen haben», sagte Dr. Blackwell.
«Haben Sie wieder Alpträume gehabt?» fragte sie. «In letzter Zeit, «Aber erzählen Sie mir einmal allgemein, wie Sie sich fühlen, wenn
nein.» Sie entdecken, daß einige Ihrer Entscheidungen falsch waren, so wie
bei dem Mann, den Sie niedergeschlagen haben.»
«Treffen Sie sich zur Zeit mit irgend jemand?» «Sie meinen, schlafe
ich mit irgend jemand?» «Wenn Sie es so wollen.» «Nein, ich schla- Jake seufzte. «Ich habe das Gefühl, mein Leben habe keinen wirkli-
fe mit niemand.» «Wann hatten Sie das letzte Mal eine Liebesaffä- chen Sinn.»
re?» Jake schüttelte den Kopf und sagte nichts. Dann fragte sie sich
«Und Ihr Vater? Was fühlen Sie in letzter Zeit, wenn Sie an ihn den-
selbst: «Habe ich das je gehabt?»
ken?»
Sie hörte, wie Dr. Blackwell sich Notizen machte. «Und haben Sie
«Ich glaube, jetzt, wo er tot ist, hasse ich ihn noch mehr.»
immer noch feindselige Gefühle gegen Männer?» «Ja.»
«Und trotzdem war Ihr Vater nur ein Mann, nicht alle Männer.»
«Erzählen Sie von dem neuesten Fall.» «Das war ein Mann in einem
Hotel in Frankfurt. Er versuchte, mich anzumachen, und ich war un- «Wenn man ein Kind ist, steht der Vater für alle Männer.»
höflich zu ihm. Als ich ihn später im Fahrstuhl traf, hat er mich an-
«Wenn Ihr Vater nicht das Ungeheuer gewesen wäre, von dem Sie
gegriffen.» «Wie hat er Sie angegriffen?» «Er hat meine Brüste be-
mir erzählten, Jake...»
rührt.» «Glauben Sie, er wollte Sie vergewaltigen?»
Sie schnaubte laut durch die Nüstern.
«Nein, wahrscheinlich nicht. Ich glaube, er war bloß angetrunken.»
Manchmal dachte sie, es wäre leichter gewesen, Dr. Blackwell zu
«Und was ist dann geschehen?»
erzählen, ihr Vater habe sie sexuell mißbraucht, denn die Realität,
Jake lächelte verlegen. «Was glauben Sie schon, daß geschehen ist? die sie erfahren hatte, war so viel schwerer zu erklären. Inzest zwi-
Ich habe ihn k. o. geschlagen.» schen Vater und Tochter und seine mögliche traumatisierende Wir-
kung auf ein junges Mädchen waren etwas so viel Greifbareres,
«Und wie haben Sie sich danach gefühlt?»
leichter Verständliches als das, was Jake durchgemacht hatte. Es ge-
«Zunächst habe ich mich richtig wohl gefühlt», sagte sie. «Aber spä- nügte einfach nicht, wenn sie sagte, daß sie von ihrem Vater ihre
ter habe ich gewünscht, ich hätte es nicht getan. Wenigstens hätte ganze Jugend hindurch beschimpft und verbal mißbraucht worden
ich nicht gleich so hart zuschlagen sollen. Wie gesagt, ich war über- war, daß er keine Gelegenheit ausgelassen hatte, sie vor anderen zu
haupt nicht gefährdet. Ich weiß nicht, warum ich es getan habe.» blamieren, daß er ihr keinerlei Zuwendung gezeigt hatte.

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Das alles hätte sie ihrem Vater vergeben können. Was sie unter kei- den?»
nen Umständen verzeihen konnte, war der Haß, mit dem er ihre
Jake dachte einen Augenblick nach. «Ja», sagte sie, «das wäre mög-
Mutter verfolgt hatte.
lich.»
Jakes Mutter war eine schüchterne, leidensfähige Frau gewesen, die
«Glauben Sie, rein theoretisch, Sie hätten eine befriedigende Bezie-
anscheinend jeden einzelnen Fall ignorieren oder verzeihen konnte,
hung zu einem Mann haben können?»
in dem ihr Mann sich widerlich benahm: seine ständige Untreue,
seinen bösartigen Sarkasmus, seine Wutanfälle, seine schlechte Lau- «Das ist eine schwierige Frage. Wenn Sie meinen Beruf hätten und
ne und seine Gewalttätigkeit. die Dinge sehen würden, zu denen Männer, und nur Männer, fähig
sind... Mein Gott!»
Sie faßte nie den Mut, ihn zu verlassen. Das Leben mit ihm, so er-
klärte sie es Jake, war gewiß unsäglich, aber ein Leben ohne ihn wä- Sie dachte an Mary Woolnoths nackte Leiche und die obszönen Lip-
re undenkbar gewesen. Bis der Tag kam, an dem dieses unsägliche penstiftspuren auf dem nackten Körper.
Leben plötzlich unerträglich wurde und sie Selbstmord beging.
«Also theoretisch ja, möglicherweise. Aber ich bin nicht hier, weil
Die siebzehnjährige Jake hatte sie mit einem Messer in der Brust auf ich den Eindruck habe, daß mit meinem Sexualleben etwas nicht
dem Boden des Geräteschuppens im Garten gefunden. Natürlich hat- stimmt.»
te sie angenommen, ihr Vater habe ihre Mutter ermordet. Vielleicht
«Ja, ich weiß. Sie sind hier, weil Sie glauben, Ihr Leben sei sinnlos.»
hatte es auch so aussehen sollen. Aber die Polizei hatte festgestellt,
daß eine Zwinge auf der Drehbank ihres Vaters auf die Breite des «Richtig.»
Messerstiels eingestellt war. Sie war zu dem Schluß gekommen, die
«Und dennoch hat Ihr Leben auf Grund Ihrer eigenen ontologischen
Tote habe das Messer in der Zwinge befestigt und sich dann wie ein
Unsicherheit keinen Sinn, Jake. Weil Sie in sich gespalten sind. In
römischer General selbst ins Messer gestürzt. Lange Zeit hatte Jake
diesen pathologischen Ausbrüchen von Männerfeindschaft zeigt sich
geglaubt, die Polizei habe sich geirrt, und ihr Vater habe ihre Mutter
Ihre innere Spaltung. Sie sind eine intelligente Frau. Um das heraus-
doch ermordet. Erst als sie selbst zur Polizei ging, war es ihr gelun-
zufinden, brauchen Sie mich nicht.»
gen, das Ermittlungsergebnis zu akzeptieren.
Jake setzte sich auf und bedeckte ihre nackten Brüste mit den Hän-
Daß sie es war, die den Selbstmord ihrer Mutter entdeckte, hatte bei
den. Sie seufzte tief und setzte sich auf den Rand der Couch. Dr.
Jake eine bleibende Abscheu vor Selbstmord zurückgelassen; von
Blackwell stand auf, ging wieder an ihren Schreibtisch, setzte sich
einem ausgeprägten Haß auf ihren Vater ganz zu schweigen, und als
und machte einen Vermerk in Jakes Krankenblatt.
ihr Vater drei Jahre später an einem Gehirntumor starb, der wenig-
stens eine Erklärung für sein entsetzliches Verhalten bot, war Jakes «Haben Sie gemerkt, daß wir heute einen echten Fortschritt gemacht
Haß auf den wichtigsten Mann in ihrem Leben zu etwas weitaus haben?» fragte sie gleichmütig. «Das war das erste Mal, daß Sie zu-
Allgemeinerem geworden ... gegeben haben, daß Ihr Leben ohne Ihren Vater vielleicht anders
ausgesehen hätte.»
«...wäre es dann möglich, daß Sie nicht alle Männer hassen wür-
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Jake stand auf, hob den Morgenrock vom Boden und warf ihn über. rem Balkongarten, und wenn sie überhaupt einen Nachteil hatte,
dann, daß sie zu nah am Hubschrauberlandeplatz Westland lag. Ge-
«Und was beweist das?» fragte sie.
legentlich kreisten weißgestrichene Hubschrauber wie gewaltige
«Ach, ich weiß nicht, ob es irgend etwas beweist. Beweise spielen in Möwen geräuschvoll über ihrem Balkon, besonders dann, wenn sie
der neoexistentiellen Therapie keine besondere Rolle. Aber offenbar ein Sonnenbad nahm.
spielen sie eine große Rolle in Ihrem Leben.»
Eine Zeitlang hatte Jake versucht, ihr Heim mit einer Untermieterin
«Natürlich tun sie das. Schließlich bin ich Polizistin.» zu teilen, einem Mädchen namens Menon, deren Mutter mit Jakes
Mutter befreundet gewesen war. Anfangs kamen Merion und sie gut
«Um so besser. Ich bezweifle ja nur, daß es legitim ist, Beweisbar-
miteinander aus. Jake hatte nicht einmal etwas dagegen, als Merion
keit auch im Privatleben als einziges Kriterium anzuerkennen. Ge-
anfing, ihren behaarten Freund Jono mit in die Wohnung zu bringen,
walttätigkeit und Feindseligkeit sind nichts weiter als verstärkende
um sich ihm geräuschvoll in Jakes Badewanne hinzugeben. Sie hatte
Techniken für das, was Sie sich selbst beweisen wollen, und für das,
sich nicht einmal darüber beschwert, daß die beiden anschließend
was Sie versuchen zu verdrängen. Vielleicht werden Beweise einen
die Wanne nicht besonders gründlich putzten. Aber als Jono im un-
geringeren Stellenwert annehmen, wenn Sie die Realität der Ent-
verzeihlichen Zustand totaler Nüchternheit einen entschiedenen An-
scheidungsmöglichkeiten akzeptieren, die Ihnen offenstehen. Aber
näherungsversuch bei Jake gewagt hatte und Jake ihn im Gegenzug
eins müssen Sie wissen: Bevor irgendeine Besserung zu erwarten ist,
k. o. geschlagen hatte, nahm Merion Anstoß an Jakes mangelnder
werden Sie wohl wenigstens einen Mann finden müssen, den Sie ge-
Feinfühligkeit und zog wenig später aus.
nauso von ganzem Herzen bewundern können, wie Sie früher einmal
Ihren Vater bewundert haben. Vielleicht werden Sie sich dann wie- Auf diese Zeit folgte eine Periode intensiver Promiskuität, in die
der echt und authentisch fühlen.» sich Jake eher stürzte, um ihre wiedergewonnene Privatsphäre zu
feiern, als weil sie ein starkes Bedürfnis danach gehabt hätte. Eine
Jake nickte verärgert. «Vielleicht», sagte sie.
Zeit, die einer ebenso intensiven, ebenso langen und ebenso unbe-
Dr. Blackwell lächelte. «Darum geht es ja, wenn wir von Entschei- friedigenden Periode der Promiskuität in ihren Zwanzigern ent-
dungsfreiheit reden.» sprach. Danach hatte sie eine kurze und unvermeidlicherweise stür-
mische Affäre mit einem Schauspieler, der in Muswell Hill lebte und
Jake wohnte allein in Battersea in der Nähe der Königlichen Ballett-
eine modische Feindseligkeit gegen den Londoner Süden und die
akademie. Sie konnte sich erinnern, daß sie früher einmal Ballettän-
Polizei zur Schau trug. Gelegentlich machte er in beiden Hinsichten
zerin werden wollte, aber ihr Vater hatte ihr gesagt, daß sie zu groß
eine Ausnahme für Jake.
dafür war, und ausnahmsweise hatte er recht gehabt.
Seitdem waren zwei Jahre vergangen, in denen Jake mehr oder we-
Ihre Wohnung lag im obersten Stockwerk eines altmodischen mo-
niger keusch geblieben war. Mehr, nachdem ein Mann, den sie ver-
dernen Gebäudes, und von einem kleinen Betonbalkon aus, auf dem
nahm, sie so heftig zwischen die Beine trat, daß sie sich für vier
eine unwahrscheinliche Sammlung von Grünzeug wuchs, hatte man
Wochen krank schreiben lassen mußte; weniger am letzten Silve-
einen schönen Blick auf den Fluß. Jake liebte die Wohnung mit ih-
sterabend auf einer Party mit einem genauso gefühllosen Typ, der
111 112
bei der BBC arbeitete. weil ein Terrorist der IRA, ein gewisser Declan Fingal, morgen
abend im Gefängnis Wandworth der Vollstreckung des Urteils auf
Als Jake nach Hause kam, goß sie ihre Pflanzen, steckte eine Fer-
nicht aufhebbares Koma entgegensah.
tigmahlzeit in die Mikrowelle und griff zur Abendzeitung. French
hatte recht behalten. In der Spätausgabe des (YHQLQJ6WDQGDUGfand Tony Bedford, Mitglied des Unterhauses und Oppositionssprecher
sich ein Bericht über den Mordanschlag, und obwohl das Lombroso- für Fragen von Schuld und Sühne, war zu einer Anzahl von Demon-
programm nicht erwähnt wurde, konnte der Verfasser immerhin dar- stranten gestoßen, die vor dem Gefängnis gegen die Urteilsvollstrek-
auf hinweisen, daß die Polizei von der Annahme ausging, der An- kung protestierten, und breitete seinen Abscheu vor dem, was hier
schlag auf Mayhew stehe in Verbindung mit einer Anzahl ungelöster im Namen des Gesetzes geschehen sollte, vor den Fernsehkameras
Mordfälle der letzten Zeit. Jake interessierte sich besonders für den aus. Er wirkte so aufgeblasen wie immer, und während Jake mit dem
Bericht, weil sie wußte, daß er eine wichtige Fehlinformation ent- meisten von dem, was er sagte, übereinstimmte, hatte sie doch den
hielt. Auf ihre Anordnung hin hatte die Pressestelle von New Scot- Eindruck, daß Bedford, wäre er der Innenminister, Fingal nach einer
land Yard die Tatsache verschwiegen, daß Mayhew tot war. Statt ernsthaften Ermahnung nach Irland zurückgeschickt hätte.
dessen hatte man den Journalisten erzählt, Mayhews Krankenhaus-
Es folgte ein Interview mit Grace Miles. Frau Miles wirkte ent-
bett werde Tag und Nacht in der Hoffnung bewacht, er werde das
spannter als in Frankfurt und trug ein schwarzes Kleid mit juwelen-
Bewußtsein wiedererlangen und den Täter beschreiben können. Jake
geschmückten Knöpfen der Größe und Form von Wikingerfibeln mit
hegte die vage Hoffnung, der Mörder könne sich zu dem Versuch
einem tiefen Ausschnitt über ihrem wohlgeformten Busen. Sie sah
veranlaßt fühlen, sein Werk zu vollenden. Sie wußte, daß das kein
betörender aus als ein ganzer Felsen voll Sirenen. Die Kamera fuhr
sehr aussichtsreicher Plan war, aber er schien den Versuch wert.
im Schwenk auf eine Ganzansicht der Parlamentarischen Staatsse-
Sollte der Mörder sein Gesicht im Westminster-Hospital zeigen, er-
kretärin, und als habe man ihr ein Stichwort gegeben, schlug Frau
wartete ihn das Mobile Einsatzkommando. Wenig Aussichten, dach-
Miles die Beine übereinander, um den Blick auf ein wenig zuviel
te sie, so etwas geschieht allenfalls im Kino. Und deswegen war sie
Oberschenkel und, kaum zu fassen, einen Strumpfrand freizugeben.
zu Hause und nicht im Krankenhaus und dachte an die Badewanne
Eine Nummer für die Boulevardpresse, dachte Jake. Frau Miles war
und einen kurzen
die einzige Frau in der Regierung, die ihren Sex-Appeal einsetzen
Abend. Professor Gleitmanns Buch lag auf ihrem Nachttisch und sah konnte, und sie tat es auch.
wie ein wirksames Schlafmittel aus. Aber erst stellte sie die Nicam-
Zwar zweifelte Jake nicht daran, daß Frau Miles eine attraktive Frau
vision an, um zu sehen, ob es irgendwelche Nachrichten über May-
war, aber was sie dem Moderator über Strafverfolgung zu sagen hat-
hew gab.
te, war weniger attraktiv. Und ihre Stimme war lehrerhaft und insi-
In den Nachrichten wurde er nicht einmal erwähnt. Was war schon stierend und machte das Zuhören nicht leicht. Jake erinnerte sich
ein Mordanschlag im Vergleich mit den Berichten über Kriege, ungern daran, daß sie für die sture Strafpolitik dieser Frau gestimmt
Hungersnöte und Katastrophen, die den größten Teil des Programms hatte. Aber als Polizeibeamtin, so sagte sie sich, war man manchmal
ausmachten. Nach den Nachrichten beschäftigte sich eine Sendung der eigenen Absichten nicht mehr sicher.
mit den Vor- und Nachteilen des Strafkomas. Die Frage war aktuell,
113 114
Polizeibeamte finden nur selten Gefallen an einem Pictofonanruf um «Schlafen?» fragte Jake. «Woher so plötzlich die dezente Aus-
drei Uhr morgens. Bestenfalls hätte Jake normalerweise mit einem drucksweise?»
Exhibitionisten gerechnet, der seine Geschlechtsteile vor die Kamera
«Hm?»
hielt, um eine hilflose alte Jungfer zu erschrecken. Jake suchte blind
um sich greifend nach dem Schalter für das Licht und die sprechen- «Vergiß es! Also erzählen Sie mir, was Sie zu erzählen haben, damit
de Uhr - «Es ist drei Uhr morgens» -, schüttelte den Schlaf aus dem ich wieder einschlafen kann, Sie kleiner gelber Armleuchter.»
Kopf und griff nach der Fernbedienung für das Pictofon. Einen kur-
«Sie sollten da wirklich aufpassen. Ich könnte Sie beim Verein ge-
zen Augenblick lang dachte sie, es könne das Krankenhaus sein, und
gen rassistische Verfolgung anzeigen, wenn Sie noch einmal so et-
ihr Köder habe gewirkt. Aber als sie den Knopf fand, der den Anruf
was sagen. Ich habe Ihr Problem gelöst, weiße Herrin.»
entgegennahm, erschien Kriminalsekretär Chungs Gesicht auf dem
Minibildschirm auf dern Nachttisch. Jake saß plötzlich aufrecht im Bett. «Sie meinen, Sie können die Si-
cherheitslücke erklären?»
«Ich hoffe, ich habe Sie nicht geweckt», sagte er fröhlich und verlo-
gen. «Nicht schlecht», sagte Chung und grinste beim Anblick von Jakes
überraschend freigelegten Brüsten. «Wirklich nicht schlecht. Wissen
Jake fletschte verschlafen die Zähne. «Wissen Sie, wieviel Uhr es
Sie was? Zeigen Sie mir ganz schnell mal den Rest, und ich vergesse
ist?»
die Geschichte mit dem Rassismus. Wie war' s?»
«Ob ich weiß, wieviel Uhr es ist? Natürlich weiß ich, was die ver-
Jake griff nach der Bettdecke und zog sie bis zum Hals empor. Am
dammte Uhr zeigt. Gerade erst hat meine Frau angerufen, um mir zu
liebsten hätte sie Chung aufgefordert, sich ins Knie zu ficken, und
sagen, wie beschissen spät es ist. Sie wollte wissen, warum ich im-
ihm dann eine dienstliche Rüge erteilt. Andererseits wollte sie ihm
mer noch hier im Gehirnforschungsinstitut bin, statt nach Hause zu
keinen Anlaß geben, noch kooperationsunwilliger zu werden, als er
kommen und sie zu vögeln.»
es ohnehin schon war. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, zu
«Ja, ich kann mir vorstellen, daß ihr das fehlt», sagte Jake und regu- was für Behinderungstaktiken er fähig war. Also biß sie die Zähne
lierte die Farbsättigung in Richtung auf Gelb, bis Chungs Kopf aus- zusammen, vergaß seine sexistische Bemerkung und forderte ihn auf
sah wie eine große Zitrone. zu berichten, was er entdeckt hatte.
«Da haben Sie verdammt recht», sagte Chung, der Jakes Ironie nicht «Wenn ich Sie wäre», sagte er, «würde ich meinen weißen Arsch
mitbekommen hatte. hochkriegen und mich hierher bewegen. Und zwar sofort. Hören Sie,
es ist ein bißchen kompliziert, das Ganze am Pictofon zu beschrei-
Jake griff nach den Zigaretten und zündete sich eine an. «Hören Sie,
ben, und wenn Sie erst morgen früh kommen, werde ich nicht mehr
Chung», sagte sie, «wenn Sie etwas zu berichten haben...»
dasein. Ich habe jetzt zwanzig Stunden an dieser Scheiße durchgear-
«Ich habe nicht angerufen, um Sie ohne Makeup zu bewundern», beitet, und sobald ich Ihnen alles erklärt habe, werde ich nach Hause
knurrte er, «oder um nachzusehen, mit wem Sie schlafen.» gehen und verdammt noch mal endlich schlafen.»

115 116
«Ich kann nur für Sie hoffen, daß das alles die Mühe wert ist», GDPPQLV YRQHLQDQGHU JHWUHQQW ]X KDOWHQ (V LVW HLQ lKQOLFKHU $Q
knurrte Jake und drückte auf die Fernbedienung, um das Gespräch EOLFNZLHGHUGHQGLH%HIUHLHUYRQ$XVFKZLW]VDKHQDOVVLHDXIGLH
zu beenden. DXIJHKlXIWHQ0DVVHQ QDFNWHU XQEHJUDEHQHU/HLFKHQVWDUUWHQ (LQH
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117 118
0DOH EHUVHKHQ 8QG K|UHQ 6LH KLQ .|QQHQ 6LH GLH HOHNWULVFKH Projektor eingespeist. Jetzt, wo sie ihm näher kam, bemerkte sie sei-
(QHUJLH K|UHQ GLH YRQ GLHVHQ 6\QDSVHQ HU]HXJW ZLUG" 6LH K|UHQ nen Geruch, der nicht allzu erfreulich war.
VLH"0HLQHQ*OFNZXQVFK6LHGHQNHQ
Chung bemerkte Ihr leichtes Nüsternzucken und schnaufte verächt-
$OVR GHQNHQ 6LH MHW]W GDUDQ :HQQ 6LH GLH *HVDPWKHLW GHU ZDKUHQ lich.
*HGDQNHQ GLH ORJLVFKHQ %LOGHU GHU 7DWVDFKHQ ]XVDPPHQIDVVHQ
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«Falls ich stinken sollte, dann, weil ich seit fast drei Tagen hier sit-
ze.»
:LUN|QQHQQLFKWGHQNHQZDVZLUQLFKWGHQNHQN|QQHQXQGZDVZLU
QLFKWGHQNHQN|QQHQGDVN|QQHQZLUDXFKQLFKWVDJHQ
Jake beschloß, die Gelegenheit zu nützen und den Chinesen durch
Komplimente zu besänftigen.

«Ich weiß», sagte sie, «und glauben Sie nicht, ich wüßte es nicht zu
KRIMINALSEKRETÄR CHUNG SASS auf einem dreibeinigen schätzen. Ich weiß, wie hart Sie gearbeitet haben. Mehr hätte nie-
Hocker vor einem grauen Plexiglastisch in der Computerzentrale des mand verlangen können. Hören Sie, Yat, wenn Sie eine Spur finden,
Instituts. Auf einer Seite des kreisförmigen Tisches befand sich eine die auf den Täter weist, werde ich dafür sorgen, daß der Polizeidi-
Tastatur und in der Mitte eine holographische Darstellung der Daten, rektor davon hört.»
mit denen er arbeitete. Im Dämmerlicht des Computerraums erinner-
Chungs schmale Augen wurden noch schmaler.
te die Maschine Jake an ein antikes Orakel.
«Schon gut, schon gut», sagte er mit unterdrücktem Lachen. «Ich bin
«Ehrwürdiger Priester», sprach sie Chung, an, «fragt das Orakel, ob
im Bilde. Übertreiben Sie bloß nicht gleich. Ehrlich gesagt, es ist mir
es uns der Mühe wert erscheinen wird, um drei Uhr früh aus dem
scheißegal, was Sie irgend jemandem erzählen.»
Bett geschmissen worden zu sein.»
Dennoch konnte Jake sehen, daß er sich geschmeichelt fühlte.
«Sie können auf ein bißchen Schönheitsschlaf verzichten», knurrte
Chung über den Rand seiner Kaffeetasse. «Bitte, Yat», sagte sie mit kindlich erregter Stimme, «ich sterbe vor
Neugierde. Erzählen Sie, was Sie entdeckt haben.» Sie schlug sich
«Aus Ihrem Munde, mein lieber Chung, klingt das geradezu ver-
mit den Fäusten auf die Knie und quietschte aufgeregt wie ein klei-
dächtig nach einem Kompliment.»
nes Mädchen.
«Und wenn schon, ich bin eben müde», sagte er gähnend und rieb
Chung lächelte kühl und berührte eine Taste auf dem Tisch.
sich die Augen. «Das sind die verdammten Hologramme. Ich kann
sie nicht ausstehen. Wie irgendwelche Halluzinationen. Ich ziehe ei- «Ich werde versuchen, es in einfache Worte zu fassen.»
nen anständigen Bildschirm vor.»
«Tun Sie das, bitte!»
Jake zog einen zweiten Hocker heran und setzte sich neben ihn an
«Also: Erstens, der Eindringling kam von außen. Wenn man sich in
die Konsole. Der Hauptteil des Lombrosocomputers lag unter ihren
das System einklinkt, nimmt der Speicher unter dem Tisch den Vor-
Füßen, und die Informationen wurden durch die Tischbeine in den
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gang unter einer laufenden Nummer zu den Akten und macht eine den, weiter voranzukommen.»
Notiz darüber, welches Terminal benutzt worden ist. Natürlich gibt
«Nichtautorisiert?» Jake runzelte die Stirn. «Hatte er keine Benut-
es täglich Hunderte derartiger Vorgänge, die von einem der neun-
zernummer und das Paßwort des Tages?»
unddreißig Terminals in diesem Gebäude und den übrigen vier
Lombrosozentren in Birmingham, Manchester, Newcastle und Glas- Chung drückte auf ein anderes Feld auf der glatten Glasfläche und
gow ausgehen.» Er deutete auf das Hologramm vor sich. « Das da ist ließ eine Liste von Vorgangsnummern erscheinen. Jake konnte se-
einer der heutigen Vorgänge: Nummer 280213 - das ist das Datum; hen, daß eine davon ein paar Ziffern kürzer war.
dann die laufende Nummer des Vorgangs - 71839422; TRINITY -
«Doch, hatte er. Das Paßwort, das er benützt hat, war CH ANDLER.
das ist das Paßwort von gestern; und schließlich 09 - das ist die
Fragen Sie mich nicht, wie er daran gekommen ist. Ich habe keine
Nummer des Terminals; in diesem Falle, dieses Terminals hier.
Ahnung. Jedenfalls noch nicht. Nein, wenn er nicht autorisiert war,
Und das war der eigentlich mühselige Teil. Ich habe den Computer dann einfach, weil sein Terminal keine Identifizierungsnummer im
darauf programmiert, alle Vorgänge der letzten zwölf Monate darauf System hatte.» Jake nickte. «Verstanden.»
zu überprüfen, ob irgendeiner von einem nicht identifizierten Termi-
«Das Sicherheitssystem war die holographische Darstellung eines
nal ausgegangen ist, also von einem Terminal ohne Nummer, das
dreiköpfigen Hundes.»
dann auch außerhalb des Systems der fünf Institute liegen muß. Und
Sie werden es nicht glauben, ich habe einen gefunden. Datum «Kerberos», sagte Jake.
221112.»
«Kennen Sie das Programm?»
Jake nickte. «Das heißt also, daß am 22. November vergangenen
«Nein, aber ich verfüge über so etwas wie klassische Bildung.»
Jahres jemand in das System eingebrochen ist.»
«Aha! Na, der Einbrecher offenbar auch. Das ist das Problem mit
«Richtig. Das System selbst gehört zum Datennetzwerk der Europäi-
den Typen von der Computersicherheit. Die glauben immer, alle sei-
schen Gemeinschaft, und das heißt, daß nur jemand, der Zugang
en so unwissend wie sie selbst.»
zum EGDN hat, in das Lombrosoprogramm eindringen konnte. In
anderen Worten, er muß eines unter etwa einem Dutzend Systemen «Gilt das auch für Dr. St. Pierre?»'
der Verwaltung benutzt haben. Anders geht es nicht. EGDN ist eine
private Telekomlinie, zu der die Öffentlichkeit keinen Zugang hat.» «Das gilt ganz besonders für Dr. St. Pierre», sagte Chung. «Von der
Art liefen bei uns in Hongkong eine Menge rum. Blöder sturer Bock.
«Also ist unser Verdächtiger höchstwahrscheinlich im öffentlichen Kann nur in einer geraden Linie denken.»
Dienst beschäftigt.»
«Und ich muß wohl annehmen, daß unser Einbrecher dem Kerberos
Chung nickte zustimmend. «Aber dann zeigt sich, daß er schlau ist. entkommen ist. Richtig?»
Die Tatsache selbst, daß er ein Terminal außerhalb des Instituts be-
nützt hat, hat das zusätzliche Sicherheitssystem des Computers akti- «Entkommen?» Er grinste fröhlich und gab schnell eine Reihe von
viert. Damit sollen nichtautorisierte Personen daran gehindert wer- Befehlen ein.

121 122
Die Zahlenreihen verschwanden, und an ihrer Stelle erschien die le- dann hinzu: «Passen Sie auf, wohin Sie den Rauch blasen. Er stört
bensgroße Darstellung eines schlafenden dreiköpfigen Hundes. Das das Hologramm.»
Viech sah bedrohlich genug aus, daß Jake froh war, daß es schlief,
Jake hielt die Zigarette mit ausgestrecktem Arm hinter sich. «Es gibt
ob es nun bloß ein Hologramm war oder nicht.
eine Sonderliste der Decknamen in einem anderen System, für das
«Er hat ihn betäubt», sagte Chung. das Vertraulichkeitsgebot des Lombrosoprogramms nicht gilt. Lei-
der enthält sie nur die Decknamen und sonst nichts. Jedenfalls bin
«Einen computergesteuerten Hund betäubt?» fragte Jake ungläubig.
ich davon ausgegangen, habe die Liste genommen und angefangen,
«Wie macht man das?»
Lombroso eine Frage zu stellen.»
«Zu umständlich zu erklären. Aber es ist eine Technik, die generell
«Was für eine Frage?»
als Trojanisches Pferd bezeichnet wird. Es gibt viele verschiedene
Variationen davon, aber die Grundidee ist klar.» «Nun, sehen Sie, ich hab mir die ganze Zeit überlegt, wenn mein
Name in der Lombrosodatei stände, würde ich den Sicherheitsvor-
«Fürchte die Griechen, und doppelt, wenn sie schenken, oder so?
kehrungen im System trauen? Garantiert nicht! Also würde ich ver-
Schlau.»
suchen, meinen Namen und meine Adresse so schnell wie möglich
Chung schüttelte den Kopf. «Der eigentliche Trick kommt erst noch. zu löschen. Ich hab also nichts getan, als bei jedem Namen auf mei-
Erinnern Sie sich dran, wie Sie alle die beratenden Psychologen be- ner Liste die Bestätigung anzufordern, daß er auch in der Hauptdatei
fragt haben? Sie haben sie gefragt, ob sie sich an die Decknamen erscheint. Ich hatte den Verdacht, daß unser Mann seine Identität be-
von ein paar VKM-negativen Versuchspersonen erinnern könnten, reits gelöscht hat.» «Und?» fragte Jake erwartungsvoll.
und ob jemand darunter dem Programm überdurchschnittlich feind-
«Einen Namen nach dem anderen, genau so. Und schließlich habe
selig gegenüberstand.»
ich das gefunden, was ich suchte. Genauer gesagt, ich habe es nicht
«Ja. Es gab eine Liste. Aber sie enthielt nur Decknamen. St. Pierre gefunden, wenn Sie wissen, was ich meine. Ich habe einen Deckna-
sagte, der erste Programmpunkt für den Computer sei der Daten- men eingegeben, von dem ich mit Sicherheit wußte, daß er ausgege-
schutz und die vertrauliche Behandlung der wahren Identitäten. Er ben worden war, und um Bestätigung gebeten. Plötzlich teilte mir
bestand darauf, daß der Computer ihre Namen und Adressen nicht Lombroso mit, daß es im System keinen derartigen Namen gab.» Er
herausgeben würde.» hielt einen Augenblick inne und zuckte schuldbewußt die Achseln.
«Und gerade da ist es passiert.»
«Und unser Einbrecher hat genau das geschafft.» Jake zündete eine
Zigarette an. So früh am Morgen konnte man von niemand verlan- «Was ist passiert?»
gen, daß er sich an ein Rauchverbot hielt. «Ich wollte Sie bitten, ge-
«Eine Scheißlogikbombe. Das Arschloch hatte eine Zeitbombe dage-
nau das zu versuchen, wenn Sie damit fertig sind, den Eindringling
lassen, und als ich versucht habe, Bestätigung für seinen Decknamen
zu finden», sagte sie.
zu kriegen, habe ich sie ausgelöst.»
«Dann bin ich schon um eines weiter als Sie», sagte er und fügte
Jake runzelte die Stirn. «Was zum Teufel ist eine Logikbombe?»
123 124
«Hauptsächlich ist es ein beschissener Haufen Geld. Sehen Sie, es ist pitel der Kriminalgeschichte. Denken Sie nur einmal daran.»
so etwas wie ein Programm mit einem Verzögerungseffekt.» Er biß
«Ich werde es probieren.»
sich auf die Lippen. «Mit einem verzögerten Zerstörungseffekt.»
«Denken Sie an das Positive!» belehrte er sie. «Sie kennen das Da-
«Um Gottes willen», flüsterte Jake erschrocken. «Sie wollen mir
tum, an dem der Einbrecher in das System eingedrungen ist. Sie wis-
doch nicht etwa erzählen, daß diese Logikbombe, oder wie immer
sen, daß er im öffentlichen Dienst stehen muß. Sie wissen, daß er
Sie das nennen wollen, das ganze System ruiniert hat?»
etwas von Computern versteht. Vielleicht ist er sogar wegen anderer
«Nicht das ganze, nein, nicht das ganze. Ich habe alle meine eigenen EDV-Delikte vorbestraft. Sie kennen seinen Decknamen. Sie haben
Spezialprogramme ausprobiert. Aber bis ich das richtige gefunden sogar einen Berater, der sich an ihn erinnert.»
und das Programm daran gehindert hatte, sich selbst zu vervielfälti-
«Ist das so? Wie lautet der Deckname?»
gen, hatte ein bestimmter Teil des Systems schwere Schäden erlit-
ten.» Chung zog einen Notizzettel zu Rate. «Wittgenstein», sagte er.
«Ludwig Wittgenstein.» Er betonte den Namen auf der zweiten Sil-
«Welcher bestimmte Teil des Systems?»
be, verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. «Also wenn man
«DieVMK-Datei.» mir so einen Decknamen verpaßte, würde es mich gar nicht wun-
dern, wenn ich auch Lust hätte, ein paar Leute umzubringen.»
«Scheiße!»
Jake überlegte, ob Chung wohl Antisemit sei. Sie hätte ihn gerne
«Nicht die ganze Datei, nur ein Teil davon.»
darauf aufmerksam gemacht, daß sie selbst Jüdin war. Nicht daß ihr
«Ein wie großer Teil?» das viel bedeutete, aber es wäre lustig gewesen, ihm Rassismus vor-
zuwerfen.
Chung zuckte mit den Achseln. «Schwer zu sagen. Etwa 30 bis 40
Prozent.» «Und was paßt Ihnen daran nicht?»
«Was soll ich Gleitmann bloß sagen?» Chung wandte sich ab und versuchte, sein Grinsen zu verbergen.
Anscheinend wollte er etwas sagen, dann überlegte er es sich anders,
«Früher oder später wäre die Zeitbombe sowieso losgegangen», sag-
lachte und sagte etwas anderes: «Beschissen schwer auszusprechen,
te Chung und lachte verlegen. «Die Logikbombe saß im Hauptspei-
sonst nichts.»
cher und wartete nur auf den Zünder. Hätte sie jemand anders ausge-
löst, hätte die Bombe die ganze Festplatte gelöscht. Die haben noch Das war es also, dachte sie. Er hatte noch nie etwas von Ludwig
Glück gehabt, daß ich die richtige Software dabeihatte, ein Pro- Wittgenstein gehört. Seine Unwissenheit war ihm peinlich. Nicht
gramm, das ich selber geschrieben habe. So etwas wie ein Impfstoff. daß sie so viel gewußt hätte. Allenfalls ein paar allgemeine biogra-
Es ist gegen beinahe 200 verschiedene Virenarten wirksam.» Er phische Tatsachen. Das, was man für Allgemeinbildung hält. Aber
nickte zufrieden mit dem Kopf. «Es ist schon so, edle Dame. Ohne sie ahnte, daß sie weitaus mehr wissen würde, bevor der Fall gelöst
mich wäre das ganze Lombrosoprogramm ein abgeschlossenes war.
Kapitel der Kriminalgeschichte. Denken Sie nur einmal daran.»
125 126
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ZHL‰ QLFKW ZHP ,FK ZHL‰ QLFKW PHKU ZRYRQ HV KDQGHOW stat rosa sehen. Die Versuchung lag auf der Hand, und manchmal gingen die
postina nomine, nomina nuda tenemus. Besatzungen der Luftüberwachung zu weit. Die Zeitungen waren
voll von dem Skandal, der entstanden war, als eine Luftüberwa-
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chungsmannschaft das kompromittierende Gespräch zweier homo-
NACHDEM JAKE IHREN BERICHT an den Polizeidirektor been- sexueller Abgeordneter aufgenommen hatte, die auf dem Trafalgar
det hatte, kaute Gilmour ein paar Minuten gedankenversunken an Square saßen und ihre Sandwiches verzehrten. «Wie geht es jetzt
den Nägeln, bevor er einen tiefen Seufzer ausstieß. weiter?» fragte Gilmour. «Nun, Kriminalsekretär Chung hat mir er-
klärt, bei dem Computersystem, mit dem das IGF arbeitet, könne
«Weiß Professor Gleitmann schon Bescheid?» fragte er mit gequäl-
man manchmal versehentlich gelöschtes Material rekonstruieren.
ter Stimme.
Man nennt das einen elektronischen Stachel. Ich habe ihn angewie-
«Jawohl.» sen, sich darauf zu konzentrieren.»
Gilmours buschige Augenbrauen stellten eine stumme Frage. Gilmour schüttelte den kahlen Kopf und strich sich nervös über den
mexikanischen Schnurrbart. «Ich verstehe diese verdammten Com-
«Er war nicht gerade begeistert», sagte Jake.
putertypen nicht», sagte er verärgert und wandte seine Aufmerksam-
«Das kann ich mir vorstellen. Aber Sie sind sicher, daß Kriminalse- keit nunmehr den Knöpfen an seiner gutgebügelten Uniform zu.
kretär Chung nicht an dieser Logikbombe schuld war?» «Entweder ist etwas gelöscht worden oder nicht.» Wenn er zornig
wurde, verriet sein leicht nördlicher Akzent deutlicher die Herkunft
«Absolut sicher. Chungs Vorgesetzter von der Abteilung für Com- aus Glasgow.
puterverbrechen war im Institut und hat eine gründliche Untersu-
chung vorgenommen. Er hat Kriminalsekretär Chungs Darstellung «Das habe ich auch gesagt», berichtete Jake. «Aber Chung sagt, bei
bestätigt.» künstlicher Intelligenz komme es manchmal vor, daß etwas aus einer
Datei verschwindet und dennoch gut verborgen irgendwo im Haupt-
«Gut. Das letzte, was wir brauchen können, wäre ein Innenministe- speicher noch vorhanden ist.»
rium, das versucht, uns die Schuld dafür zuzuschieben.»
«Sonst noch kluge Vorschläge, Jake? Was ist mit Mayhews letzten
Gilmour lehnte sich zurück und drehte sich im Stuhl so, daß er aus Worten?»
dem Fenster seines Büros in New Scotland Yard sehen konnte. Die
Täte Gallery, Schauplatz des jüngsten Lombrosomords, war nur ei- Jake zuckte mit den Achseln. «Vielleicht hat er sich eingebildet, die
nen Kilometer weit entfernt. Von irgendwo oben konnte man den Lombrosoleute hätten den Mord arrangiert. Vielleicht hatte er ja so-
Polizeihubschrauber hören, der ständig auf der Jagd nach Terroristen gar recht damit. Vielleicht litt er auch nur an Verfolgungswahn.»
oder einsamen Irren über den Dächern des Innenministeriums und
«Ja, ich kann mir vorstellen, wie er sich gefühlt hat.» «Chung hatte
der Parlamentsgebäude kreiste. Jake wußte, daß er Kameras an Bord
noch einen weiteren Vorschlag. Er glaubt, er habe eine Methode ge-
hatte, mit denen man die Spange in ihrem Haar hätte fotografieren
funden, in das einzudringen, was von der Datenbank des Lombroso-
können, von den hochentwickelten Abhöranlagen einmal ganz abge-
programms übrig ist. Sie erinnern sich vielleicht daran, daß der
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Lombrosocomputer mit unserem Apparat in Kidlington verbunden «Dazu brauche ich wohl die Genehmigung des Innenministeriums»,
ist und daß ihr System uns benachrichtigen soll, falls ein Name, den sagte Gilmour.
wir bei den Ermittlungen in einem Gewaltverbrechen eingeben, auf
«Wir müssen wenigstens versuchen, all diese Männer zu warnen»,
der Lombrosoliste von VMK-Negativen steht?»
sagte Jake. «Schließlich und endlich...»
Gilmour stieß einen zustimmenden Grunzlaut aus.
«Ich werde sehen, was sich machen läßt, Jake. Ich kann nichts ver-
«Also, Chung will die vollständige Liste der Telefonkunden im Ver- sprechen.» Jake spürte, wie sie die Stirn runzelte. «Sonst noch et-
einigten Königreich nehmen - irgendwo gibt es das auf Disketten - was?»
und sämtliche Namen und Nummern im Rahmen einer fiktiven
«Vielleicht ist das jetzt nicht der richtige Augenblick», sagte sie ab-
Mordermittlung randomisiert in den Polizeicomputer eingeben. Das
wehrend. «Es ist eine etwas wilde Idee.»
kann einige Zeit dauern, aber die Grundidee ist die, daß Lombroso
gezwungen sein wird, die Namen und Nummern aller als VMK- «Ich möchte es lieber gleich hören, Jake, egal wie phantasievoll es
negativ klassifizierten Männer auszuspucken, oder zumindest die klingt.»
Namen, die noch übrig sind, nachdem die Logikbombe des Mörders
Sie versuchte, Gilmour ihren Plan schrittweise näherzubringen, er-
explodiert ist. Auf die Art könnten wir wenigstens ein paar davon
zählte ihm, daß sie schon eine Gruppe von Beamten daran gesetzt
überwachen.»
hatte, den Verkauf von Gasdruckpistolen zu überprüfen und die Po-
Gilmour stützte den Kopf auf den Arm. «Ersparen Sie mir die tech- lizeiakten auf Personen durchzusehen, die schon einmal wegen un-
nischen Erklärungen, Jake. Wenn Sie es für eine gute Idee halten, autorisierten Eindringens in einen Computer auffällig geworden wa-
tun Sie es.» ren. Dann erzählte sie, daß einer der Berater am Gehirnforschungs-
institut sich daran erinnerte, mit dem Mann mit dem Decknamen
«Ich habe auch einen Formbrief an alle VMK-Negativen vorbereitet,
Wittgenstein gesprochen zu haben, der jetzt der Mordverdächtige
die sich in Behandlung begeben haben. Das sind etwa zwanzig. Pro-
war.
fessor Gleitmann hat eingewilligt, daß die Lombrosoberater ihren
Patienten diese Briefe aushändigen. In dem Brief wird jeder einzelne « Genau gesagt: er kann sich an den Decknamen und an sonst nicht
aufgefordert, im Interesse seiner eigenen Sicherheit vertraulichen viel erinnern», erklärte sie. «Also was ich gerne tun möchte: Ich
Kontakt zu mir aufzunehmen. Der Haken ist nur, daß gerade diese möchte ihn hypnotisieren lassen, um herauszufinden, ob sein Unter-
Männer nicht besonders dazu neigen, der Polizei Vertrauen zu bewußtsein eine bessere Beschreibung liefern kann.»
schenken. Sie werden annehmen, das alles sei ein Teil eines großen
Gilmour zog ein langes Gesicht, und Jake überlegte, wie lange es
Plans, und irgendwann würden wir sie alle einsammeln und in ein
noch bis zu seiner Pensionierung dauerte. Wahrscheinlich nicht sehr
Gefängniskrankenhaus einweisen. Aber ich glaube trotzdem, daß es
lange, dachte sie. Aber er nickte. «Wenn Sie es für nötig halten.»
den Versuch wert ist. Außerdem möchte ich ein paar Anzeigen in
«Das tue ich.»
der Tagespresse schalten. Nur eine Liste von Decknamen, sonst
nichts. Und die Aufforderung, eine bestimmte Nummer anzurufen.» Das Nicken wich einem resignierten Achselzucken. «Dann wäre da

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noch etwas. Ich bin überzeugt davon, daß unser Mann glaubt, im öf- «Und wenn Sie es schaffen und er Verbindung aufnimmt, was
fentlichen Interesse zu handeln.» dann?»
«Wie meinen Sie das?» «Je nachdem, auf welchem Wege er Kontakt aufnimmt, könnten wir
eine Menge Daten über ihn gewinnen: graphologisches Gutachten,
«Er bringt Leute um, die sich als VMK-negativ entpuppt haben,
linguistische Analyse, Persönlichkeitsprofil. Das wäre alles nützlich
Männer, die selbst potentielle Mörder sind. Ich bin sicher, unser
bei unserer Suche. Ich brauche Sie doch gewiß nicht daran zu erin-
Mann...» Sie brachte es immer noch nicht fertig, den Mörder bei sei-
nern, daß ein Mörder wie er überaus schwer zu fangen ist. Vielleicht
nem Decknamen zu nennen. Es war absurd, daß ein geistesgestörter
klammere ich mich ja an ein paar Strohhalme, aber offengestanden,
Mörder den Namen eines der größten Philosophen des zwanzigsten
es sind allenfalls die fragmentarischen Daten, die es uns möglich
Jahrhunderts tragen sollte. «Also, er könnte sich eine Rechtfertigung
machen, ein Bild von dem Mann zu gewinnen.»
für seine Taten zurechtgelegt haben. Ich möchte ihn ein bißchen aus
der Reserve locken, ihn in so etwas wie einen Dialog verwickeln.» Jake hielt ein, um sich Gilmours Aufmerksamkeit zu vergewissern.
Sie wußte, daß er kein Intellektueller war. Er stammte aus der alten
«Wie wollen Sie das anstellen?»
Schule: mit sechzehn von der Schule abgegangen und zur Polizei,
«Ich möchte eine Pressekonferenz einberufen und etwas über diese dann langsam hochgedient. Der Schotte wußte etwa soviel über Ge-
Mordfälle sagen. Natürlich werde ich das Programm selbst nicht er- richtspsychiatrie und die Erstellung eines Täterprofils wie sie über
wähnen. Aber ich will versuchen, ihn ein bißchen zu provozieren, Robert Burns. Aber er hatte die Augen noch nicht geschlossen, und
indem ich darüber rede, wie vollkommen unschuldig die Opfer wa- sie fuhr fort.
ren, wie sinnlos die Morde sind, daß nur ein Verrückter so etwas tun
«Ich meine eine systematische kumulative Profilherstellung», sagte
kann. So in der Richtung. Wenn ich recht habe, wird ihm das nicht
sie. «Wir versuchen den Typ des Täters, nicht das Individuum fest-
gefallen.»
zulegen. Die Verhaltenswissenschaftliche Abteilung im Yard hat be-
«Und wenn Sie ihn nur dazu provozieren, sich an die Presse zu wen- reits psychologische Tiefenstudien über alles vom Yorkshire Ripper
den und zu erklären, was er da zu tun meint? Wir können die Ange- bis hin zu David Boyfield ausgearbeitet. Wir wollen ihre Vorarbei-
legenheit ohnehin nur noch mit Mühe aus den Nachrichten heraus- ten als Vergleichsmaterial verwenden, um den Tätertyp zu finden,
halten. Wenn dieser Irre sich dann auch noch mit seiner Geschichte nach dem wir suchen. Aber ohne Stroh kann ich keine Ziegel bak-
an die Presse wendet, ist es endgültig aus.» ken. Ich brauche Daten. Die Verbindung zum Mörder würde uns da
etwas in die Hand geben.»
«Nein, ich bin sicher, daß er das nicht tun würde. Er will ja die gan-
zen anderen VMK-Negativen auf seiner Liste nicht warnen. Wenn Gilmour nickte ernst. «Nach was für einem Menschen suchen wir
die sich alle vor Angst in die Hosen machen und vor ihm auf der Hut Ihrer Meinung nach, Jake?»
sind, erschwert ihm das den Job nur unnötig. Nein, ich glaube eher,
«Meiner Meinung nach?» Jake zuckte die Achseln. «Es handelt sich
daß er versuchen wird, mit uns in Verbindung zu treten und seine
jedenfalls nicht um einen desorganisierten Asozialen; soviel ist si-
Version der Geschichte zu präsentieren.»
cher. Der Täter ist ein schlauer, methodisch vorgehender, berech-
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nender Mörder, für den der Mord Selbstzweck ist. Das ist in sich te, erklärte sie, daß sie die Trance mit Hilfe eines Stroboskoplichts
schon höchst ungewöhnlich. Die meisten Serienmorde sind Lust- und eines Metronoms einleiten wollte.
morde. Aber dieser Mann wird von nichts anderem angetrieben als
«Der Vorteil dabei», sagte sie zu Jake, «ist die Kombination von au-
dem Gefühl, eine Aufgabe erfüllen zu müssen. Das heißt, daß er kei-
ditorischer und visueller Fixierung. Ich halte es für die wirksamste
ne offensichtlichen Schwächen hat. Und das macht ihn gefährlich.»
Technik.»
Gilmour seufzte. « Also gut, Jake, Sie haben mich überzeugt. Sie
Jake, die selbst ein Psychologiediplom besaß, war damit wohl ver-
kriegen Ihre Pressekonferenz, und wenn ich vor dieser Ziege auf die
traut, aber sie sagte nichts zum Thema, weil sie es lieber sah, wenn
Knie gehen muß.»
Dr. Cleobury für sie statt gegen sie arbeitete.
«Danke.»
Chen saß im Lehnsessel, blickte ins Licht und wartete auf die Wir-
«Noch eine Frage, Jake.» kung der Spritze. Nach ein oder zwei Minuten nickte er Dr. Cleobu-
ry zu, und die schaltete die Lichtmaschine an und setzte das Metro-
«Ja?»
nom in Bewegung. Sie regelte den Takt, bis er dem Rhythmus der
«Wer war eigentlich Ludwig Wittgenstein?» blitzenden Lichter entsprach. Dann fing sie an, auf ihn einzureden.
Sie hatte eine angenehm ruhige und selbstbewußte Stimme und ei-
Der Psychiater, der sich an die Beratung eines VMK-Negativen mit
nen leichten irischen Akzent.
dem Decknamen Wittgenstein erinnern konnte, war Dr. Tony Chen.
Wie Kriminalsekretär Chung war auch er ein Einwanderer aus «Blicken Sie weiter auf das Licht, und denken Sie an nichts außer
Hongkong, nur daß er etwas älter war und wesentlich bessere Ma- dem Licht... Bald werden sich Ihre Augenlider schwer fühlen, und
nieren hatte. Er war offenbar gern bereit, Jake bei ihren Ermittlungen Sie werden schläfrig werden... schläfrig und entspannt. .. Ihre Au-
zu helfen, auch wenn er dazu eine Reise ins eigene Unbewußte an- genlider werden schwerer und schwerer...»
treten mußte.
Licht und Schatten flackerten wie die Flügel einer großen Motte
«Ich kann mich nicht sehr gut an den Mann erinnern», gab er zu. über Chens breites asiatisches Gesicht, und während die Minuten
«Ich habe seitdem eine Anzahl von VMK-Negativen beraten. Nach verstrichen, wurden seine Atemzüge regelmäßiger und tiefer.
einiger Zeit wird es schwer, sie auseinanderzuhalten, besonders die,
«Bald werden Sie das Bedürfnis haben, die Augen zu schließen, weil
die nicht zu einer regelmäßigen Beratung wiederkommen. Wittgen-
sie so schwer werden und Sie sich so schläfrig fühlen. ..»
stein kam jedenfalls nicht wieder; so weit reicht meine Erinnerung.»
Er rollte den Ärmel auf. «Also los, machen wir uns dran.» Chens schmale Nüstern spannten sich, sein Mund wurde etwas lok-
kerer, und die Augen wurden so schmal, daß man nicht mehr sehen
Dr. Carrie Cleobury, Leiterin der Psychiatrischen Abteilung des
konnte, ob sie offen oder geschlossen waren.
Lombrosoprogramms, übernahm in ihrem Büro im Institut in Ge-
genwart von Professor Gleitmann und Jake die Hypnose ihres Kol- «... und jetzt fallen Ihnen die Augen zu, und Sie entspannen sich,
legen. Nachdem sie Chen eine Droge zur Entspannung injiziert hat- immer tiefer, immer tiefer... Sie fühlen sich sicher und bequem und

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entspannt...» Sie begann, von zehn an rückwärts zu zählen, und als sie bei Null,
dem Erdgeschoß in Dr. Chens Phantasie, angekommen war, forderte
Sein Kopf schwankte und senkte sich dann unaufhaltsam. Dr. Cleo-
sie ihn auf, den Fahrstuhl zu verlassen und da zu bleiben, wo er war,
bury bemühte sich weiter darum, Chens Bewußtsein einzuengen und
«ganz tief unten».
alle Ablenkungen zu beseitigen, die der Wirkung ihrer Worte hätten
im Weg stehen können. Sie schaltete das Licht aus, aber die Stimme Chens Unterkiefer lag jetzt auf dem Schlüsselbein. Gleichzeitig
behielt den immer gleichen beruhigenden Tonfall bei, als locke sie wurden seine Arme und sein Oberkörper starr wie bei einem Sträf-
eine Katze zu sich. ling, der auf dem elektrischen Stuhl den tödlichen Stromstoß erwar-
tet.
«Und mit jedem Atemzug entspannen Sie sich immer mehr und
mehr... Sie fallen tiefer und tiefer...» «Sie werden jetzt ganz behaglich in diesem zutiefst entspannten Zu-
stand bleiben», sagte Dr. Cleobury. «Ich werde Ihnen ein paar einfa-
Jake bemerkte, daß Chens Lider etwas flatterten und sein Mund ein
che Anweisungen geben. Ich werde Sie nicht auffordern, irgend et-
wenig zuckte. Die Atembewegung ließ nach, und er fiel offenbar in
was zu tun, das Sie nicht tun wollen. Bitte, nicken Sie mit dem Kopf,
eine leichte Trance.
damit ich weiß, daß Sie verstehen, was ich sage.»
«Hören Sie auf meine Stimme. Nichts anderes ist wichtig. Nur der
Chens Kopfhaltung versteifte sich. Dann nickte er. «Heben Sie den
Klang meiner Stimme. Jetzt lenkt Sie nichts mehr ab. Sie hören nur
Kopf, Tony, und öffnen Sie die Augen.» Er gehorchte, und Dr.
noch meine Stimme.»
Cleobury ging auf ihn zu und überprüfte mit einer Taschenlampe die
Zu Beginn hatte Dr. Cleobury in gleichmäßig langsamem Tempo ge- Lichtempfindlichkeit seiner Augen. Er zwinkerte nicht einmal, als
sprochen, als trage sie in der Kirche ein Gebet vor, aber jetzt wurde das Licht direkt auf die Pupille fiel, und Cleobury nickte Jake zu.
ihre Stimme schärfer und dominierender. Ihre Entspannungshinwei- Die stellte das Aufnahmegerät an.
se bezogen sich auf immer größere und komplexere Muskelgruppen.
«Es ist Ende letzten Jahres, Tony. Genau gesagt, der 22. November.
Als sie sich schließlich davon überzeugt hatte, daß der Körper ihres
Ein VMK-negativer Patient ist zur Beratung zu Ihnen geschickt
Kollegen vollkommen entspannt war, stellte sie das Metronom ab
worden. Sie halten seine Computerkarte in der Hand. Der Deckname
und fing an, die Trance durch Phantasievorstellungen zu vertiefen.
rechts oben auf der Karteikarte ist <Ludwig Wittgenstein>. Können
«Tony», sagte sie, «Tony, jetzt sollen Sie Ihre Phantasie anspannen. Sie ihn sehen?» Chen atmete tief und nickte dann.
Stellen Sie sich vor, Sie stehen in einem Fahrstuhl. Wenn Sie auf-
«Ich will Ihre Stimme hören, Tony. Sprechen Sie mit mir.» Ein paar
blicken, können Sie die Stockwerksanzeige sehen. Wir sind jetzt im
Worte drangen aus Chens offenstehendem Mund. Jake verstand
zehnten Stock, aber gleich werde ich den Fahrstuhl bedienen und Sie
nichts.
ins Erdgeschoß schicken. Mit jedem Stockwerk, an dem wir vorbei-
fahren, wird Sie der Fahrstuhl tiefer in den Schlaf tragen. Mit jeder «Englisch, Tony, wir sprechen jetzt Englisch. Sagen Sie mir, ob Sie
Zahl wird der Schlaf tiefer. Behalten Sie die Anzeigetafel im Blick. den Namen sehen können.»
Jetzt fange ich an...»
Er runzelte die Stirn, als sein Unterbewußtes sich Dr. Cleoburys
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Willen unterwarf. «Ja», sagte er, «ich kann ihn sehen.» «Er ist wütend. Und er hat Angst, sagt er.»
«Jetzt sehen Sie bitte den Mann an, der vor Ihnen sitzt. Den Mann «Das geht den meisten so», flüstert Professor Gleitmann Jake zu.
mit dem Decknamen Wittgenstein. Sehen Sie ihn?» «Ja.»
«Als ich ihm den Test erklärte, fragte er mich, woher er wissen kön-
«Sehen Sie ihn deutlich?» «Deutlich. Ja, ich sehe ihn deutlich.» ne, daß das alles wahr sei. Ich sagte, ich könne ihm das PET-Bild
zeigen, das wir von seinem Gehirn gemacht hatten. Er erwiderte, es
Jakes Herz schlug höher, als sie dran dachte, was vor Chens unbe-
mache überhaupt keinen Unterschied, wenn ich ihm das Bild eines
wußtem Auge stand: das Gesicht des Mörders. Die Möglichkeit, so
Rhinozerosgehirns zeige. Was immer ich ihm erklärte, sei nur eine
zu einer Personenbeschreibung zu kommen, könnte irgendwann
aus der Erfahrung abgeleitete Vorstellung, die er nicht als Tatsache
einmal sogar ein gutes Thema für einen Aufsatz sein.
akzeptieren könne, sondern nur als behauptete Aussage.» Chens
«Können Sie den Mann für uns beschreiben?» Kopf fiel wieder auf die Brust.
Chen stieß einen Grunzlaut aus. «Fragen Sie ihn, ob er irgendwelche Hinweise auf seine Identität ge-
ben kann», sagte Jake. «Was er für einen Beruf hat, wo er hingeht,
«Erzählen Sie uns von Wittgenstein, Tony.»
um ein Bier zu trinken, derartige Sachen.»
Chen lächelte. «Er ist sehr logisch, sehr leidenschaftlich. Streitlustig,
«Hören Sie, Tony», sagte Dr. Cleobury. «Hören Sie mir gut zu. Hat
aber intelligent.»
Wittgenstein irgend etwas von sich selbst erzählt? Hat er gesagt, was
«Und wie sieht er aus? Können Sie uns, bitte, irgend etwas dazu sa- für einen Beruf er hat, wo er wohnt?»
gen?»
Chen schüttelte den Kopf. «Er sagte nur, er kümmere sich nicht all-
«Wie er aussieht?» Chen zog die Brauen zusammen. «Mittelgroß bis zusehr um sich selbst. Das war alles.»
groß. Braunes, gewelltes Haar. Große, sehr bewegliche blaue Augen.
«Bekleidung», soufflierte Jake. «Was hatte er an?» «Tony, können
Denkerstirn. Ich meine: Seine Stirn ist ständig in Gedanken gefaltet.
Sie uns sagen, was er anhatte?» «Eine sportliche Tweedjacke, einen
Ausgeprägte Gesichtszüge. Die Nase ist ein bißchen geschwungen.
weißen Rollkragenpullover, braune Cordhosen, kräftige braune
Und der Mund wirkt verdrießlich, vielleicht ein bißchen weichlich,
Schuhe. Die sahen teuer aus. Ein beiger Regenmantel, den er auf
als ob er viel in den Spiegel sähe. Hager, aber nicht sportlich. Er ist
dem Schoß hält.» «Alter.»
nicht schlank, weil er Sport treibt, sondern weil er zuwenig ißt. Sehr
intensiv...» Er schwieg ein paar Sekunden. «Wie alt ist er, Tony?» «Etwa Ende Dreißig.»
«Irgendwelche auffälligen Merkmale?» «Tony, erzählen Sie mir, wie Sie ihn beraten haben. Sagen Sie bitte
etwas darüber.»
Chen schüttelte bedächtig den Kopf. «Nichts, außer vielleicht seiner
Stimme. Sehr korrekte Aussprache. Akzentfrei.» «Wir haben einen Termin ausgemacht, um über Psychotherapie zu
sprechen. Und Medikamente. Ich habe ihm Östrogentabletten und
«Was erzählt er Ihnen, Tony? Sagt er irgend etwas über sich selbst.»
Valium verschrieben.»
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«Gut, Tony. Gehen wir weiter. Es ist der Tag, an dem der Patient sehr genau. Es ist durchaus möglich, daß Dr. Chen unter Hypnose
namens Wittgenstein seinen ersten Termin hat. Erzählen Sie mir, die Unwahrheit gesagt hat, ohne daß ihn irgendeine Schuld daran
was geschieht.» träfe. Ich bin gar nicht sicher, daß es ihm gelungen ist, zwischen
dem Mann, dem unser Lombrosocomputer den Decknamen Wittgen-
Chen zuckte mit den Achseln. «Er erscheint nicht. Das ist alles, was
stein zugeteilt hat, und dem wirklichen Wittgenstein, dem Philoso-
geschieht. Er hat nicht einmal angerufen und den Termin abgesagt.
phen, zu unterscheiden. Möglicherweise hat er die beiden unbewußt
Er ist einfach nicht erschienen.»
miteinander verwechselt. Denken Sie einmal daran, wie Chen den
Dr. Cleobury blickte zu Jake hinüber. « Haben Sie noch weitere Fra- Patienten beschrieben hat: gewelltes braunes Haar, große blaue Au-
gen, Frau Chefinspektor?» gen, verdrießliche Mundwinkel, scharf profilierte Gesichtszüge. Das
alles paßt genau auf den wirklichen Wittgenstein.»
« Nein », sagte Jake, « aber wenn Sie die Trance beenden, wäre ich
dankbar, wenn Sie Dr. Chen auffordern könnten, sich an alles zu er- «Und erinnern Sie sich an die Bemerkung, die der Patient gemacht
innern, was er von Wittgensteins Erscheinung weiß. Wenn er wieder haben soll, daß nichts Empirisches wißbar sei oder so, daß er nur die
bei Bewußtsein ist, möchte ich ihn zu einem unserer Phantombild- Existenz von Behauptungen anerkennen könne?» Gleitmann zuckte
spezialisten schicken. Vielleicht bekommen wir etwas Greifbareres unbehaglich die Achseln. «Also ich erinnere mich nicht mehr an viel
zusammen als eine rein verbale Beschreibung.» von dem, was Wittgenstein tatsächlich geschrieben hat, aber das
Ganze entspricht recht genau seiner allgemeinen Weltanschauung.»
Jake stellte das Aufnahmegerät ab und ließ es in die Handtasche
gleiten. Dr. Cleobury fing an, Chen aus der Hypnose herauszuzäh- «Ich sehe, worauf Sie hinauswollen, Herr Professor.» «Tut mir leid,
len. Professor Gleitmann begleitete Jake zur Tür. Frau Chefinspektor. Es war eine kühne Idee, aber das Bewußtsein
betrügt uns alle.»
«Könnte ich Sie kurz in meinem Büro sprechen?» sagte er und hielt
ihr mit einer unbeschreiblich haarigen Hand die Tür auf. «Ich möch- «Und was wäre, wenn Chen nichts über den richtigen Wittgenstein
te Ihnen etwas zeigen.» wüßte? Wäre es dann nicht wahrscheinlicher, daß er unbewußt die
Wahrheit gesagt hat?»
Sie fuhren ins oberste Stockwerk, und Gleitmann zog ein Buch aus
einem der Kirschholzregale, schlug es auf und legte es vor Jake auf «Das wäre möglich. Aber Chen ist ein gebildeter Mann. Ich kann
den Besprechungstisch. Jake sah die Fotografie eines Mannes und mir nicht vorstellen, daß er überhaupt nichts von Wittgenstein wis-
blickte Gleitmann erwartungsvoll an. sen sollte. Schließlich hat er in Cambridge Psychologie studiert.»
«Ich weiß nicht, ob es Ihnen aufgefallen ist», erklärte der und wies Jake zuckte mit den Achseln. «Das habe ich auch getan, Herr Pro-
auf das Bild, «aber fast alles, was Dr. Chen gesagt hat, würde auch fessor, und ehrlich gesagt, noch vor ein paar Tagen hätte alles, was
auf ihn passen, den richtigen Ludwig Wittgenstein, meine ich.» ich über Wittgenstein wußte, auf die Rückseite einer Briefmarke ge-
paßt.»
«Ich verstehe nicht ganz.»
Lange Zeit war der Name für Jake nicht mehr gewesen als ein Em-
«Sehen Sie, gnädige Frau, das Unbewußte unterscheidet nicht immer
141 142
blem geistiger Macht, ein Name, der Symbole des Intellekts herauf- mir nicht sicher.»
beschwor wie der Name Einstein. Vielleicht ließ sich die geheimnis-
«Nehmen wir an, es habe bereits eine Diathese vorgelegen, eine erb-
volle Macht des Namens überhaupt aus dem semitischen Suffix ab-
lich bedingte Anfälligkeit für die Krankheit. Dann wäre nur noch ei-
leiten. Aber seit sie Wittgensteins kürzestes und umwälzendstes
Buch, den 7UDFWDWXVgelesen hatte, war ihr klarer geworden, warum
ne Belastungssituation nötig, um eine Möglichkeit in Wirklichkeit
zu verwandeln. Etwa die Belastung, die entsteht, wenn einem je-
er eine so bedeutende Erscheinung der Philosophiegeschichte war.
mand erklärt, man sei VMK-negativ.»
Von der rätselhaften, nahezu hermetischen Qualität seines Stils ganz
abgesehen, ging es immer noch um das Thema seiner Untersuchun- «Das könnte die Krankheit wohl auslösen.»
gen: Wie ist Sprache möglich? Das war etwas, das manche Men-
Jake lächelte verbissen, wenn sie an Gleitmanns Widerstand dage-
schen, insbesondere Polizisten, nur allzuleicht als gegeben hinnah-
gen dachte, die Möglichkeit von etwas einzugestehen, das ihr offen-
men, obwohl gerade diese Frage die Grundsubstanz des inneren
sichtlich vorkam.
menschlichen Lebens ausmachte. Noch wichtiger als Wittgensteins
Versuch, die Möglichkeiten der Sprache zu erklären, schien Jake «Kommen Sie schon, Professor», sagte sie, «Sie wissen verdammt
sein Versuch zu klären, wozu sie nicht fähig war. Hier hatte er etwas gut, daß das passieren würde.»
berührt, das tief in ihrer Seele, vielleicht sogar nahe an ihrer eigenen
Nach der Besprechung verließ Jake das Gebäude. Draußen vor dem
Sexualität lag.
Institut entdeckte sie, daß sich ihr Gähnen in etwas verwandelte, das
«Wissen ist ein seltsames Phänomen», sagte Jake. «Zumindest mein- mehr brauchte als eine kurze Anspannung der Kopf- und Schulter-
te das Wittgenstein.» muskeln: Bewegung und Luft, und wenn es die verschmutzte Luft
der Victoria Street war. Sie beschloß, nicht mit dem Auto zum Yard
«Offensichtlich haben Sie Ihre Wissenslücken schnell aufgefüllt»,
zurückzufahren, nahm die Pistole aus dem Handschuhfach, entließ
sagte Gleitmann.
den Fahrer und machte sich zu Fuß auf den Weg.
«Lücken füllen ist mein Beruf», sagte Jake. «Aber es gibt natürlich
Die meisten Londoner wären an ihrer Stelle bald nach Norden in die
noch eine weitere Möglichkeit. Vielleicht ähnelt ja der Mörder Witt-
Richtung zum St.-James-Park abgebogen. Aber die Anziehungskraft
genstein tatsächlich in mehr Punkten als in einem Namen, den Ihr
des Flusses war zu stark für jemanden wie sie, der den größten Teil
Computer ausgespuckt hat. Nehmen wir einmal an, er sei tatsächlich
seines Lebens an seinen Ufern verbracht hatte.
ein gebildeter Intellektueller. Nehmen wir beispielsweise an, er habe
schon früher etwas über Wittgenstein gelesen, sei vielleicht beein- Dennoch war die Aussicht auf der Westminster Bridge mit Gefahren
druckt davon. Könnte der Schock, den das VMK-negative Tester- verbunden. An den Ufern gab es zu viele Bettler und Taschendiebe,
gebnis sicher bedeutete, nicht eine psychopathologische Störung und die Pistole war eine notwendige Vorsichtsmaßnahme.
ausgelöst haben? Etwa paranoid-schizophrene Wahnvorstellungen?»
Der Anblick ging ihr immer wieder zu Herzen, auch wenn die
Gleitmann rieb sich nachdenklich über das schlechtrasierte Kinn. smogbeladene Luft es der Sonne nicht erlaubte, die Ausflugsboote,
«Ich nehme an, daß so etwas möglich ist. Aber so schnell? Ich bin die gläsernen Wolkenkratzer, die Satellitenpilze, die Theater und die

143 144
Moscheen zu erleuchten. Jake sah der schlammigen braunen Themse 'DVHLQHLVWGLHVKLHUGDV%XFKGDVLFKPHLQ%UDXQHV%XFKQHQQH
zu, die unter ihren Füßen vorbeiglitt, und ein Gefühl ungeahnter Ru- 'DQQJLEWHVHLQ]ZHLWHVLQGHP'HWDLOVEHUGLHZHQLJHQ3HUVRQHQ
he überkam sie. Sie fragte sich, ob Dr. Cleoburys Technik der Induk- ]X ILQGHQ VLQG GLH LFK KLQJHULFKWHW KDEH RGHU KLQ]XULFKWHQ SODQH
tion von Trancezuständen durch Entspannung auch bei ihr Wirkung 'DV LVW PHLQ %ODXHV %XFK ,FK VFKUHLEH PLW HLQHP DOWPRGLVFKHQ
zeigte. )OOIHGHUKDOWHU ,FK KDEH PLFK QLFKW VHKU JXW GDUDQ JHZ|KQW :LH
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Der Verkehr war schwächer als gewohnt, und sie wechselte die
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Brückenseite. Ruhig schritt sie über den ausgestreckten Körper eines
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Betrunkenen hinweg, der im Rinnstein schlief. Selbst das Parla-
mentsgebäude schien zu schlafen. Sie lächelte, als sie sich die Lügen
vorzustellen versuchte, die eben jetzt von Grace Miles und ihresglei- .HLQHVGHUEHLGHQ%FKHULVWEHVRQGHUVJXWDEHUVLHVLQGVRJXWZLH
chen am Geburtsort der Demokratie verbreitet wurden. HVPLUP|JOLFKLVW,FKQHKPHDQVLHZHUGHQHUVWEHHQGHWVHLQZHQQ
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Die innere Ruhe verließ Jake auch dann nicht, als der Betrunkene
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aufwachte und mit einer Aussprache, die nahezu völlig frei von
Konsonanten war, Geld von ihr verlangte. Sie griff in die Handta-
sche und behielt die Hand auf der dreißigschüssigen Automatikpisto- 'D‰GLHVHQEHLGHQEHVFKHLGHQHQ%lQGHQLQLKUHU'UIWLJNHLWXQGGHU
le, während sie mit der anderen Hand einen Fünfdollarschein heraus- )LQVWHUQLV GLHVHU =HLW EHVFKLHGHQ VHLQ VROOWH /LFKW LQ HLQ RGHU GDV
suchte und ihm gab. Der Mann starrte den Schein einen Augenblick DQGHUH *HKLUQ ]X ZHUIHQ LVW QLFKW XQP|JOLFK DEHU IUHLOLFK QLFKW
lang verständnislos an, nickte, murmelte eine Antwort und beschloß ZDKUVFKHLQOLFK'RFKwie GLH:HOWLVWLVWIUGDV+|KHUHYROONRP
dann, nicht nach der Handtasche der hochgewachsenen Frau zu grei- PHQJOHLFKJOWLJ
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fen. Er verzog sich und wußte nicht, wie knapp er dem Tod durch
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Erschießen entgangen war.
Jake sah der Krone der Schöpfung nach, wie sie unsteten Schritts in GLHORJLVFKH1RWZHQGLJNHLW8QGGLH9RUVWHOOXQJHVJHEHIUDOOHVVR
Richtung auf den nächsten Schnapsladen über das Pflaster wankte, HWZDVZLHHLQHQDWUOLFKH(UNOlUXQJXQGGLHVQDWUOLFKH*HVHW]VHL
und fühlte nichts als Verachtung für ihn und alle Männer. Sie hätte XQXPVW|‰OLFKLVWJDQ]HLQIDFKZLGHUVLQQLJ
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ihm genauso gerne eine Kugel in den Kopf gejagt wie seiner dro-
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henden Bitte um Geld nachzukommen.
Es war der Anblick des Flusses, der sie gerührt hatte, nicht der des 3HUVRQ JHQDX IHVWOHJW ZLH LFK LKUH +LQULFKWXQJ DXVIKUHQ ZHUGH
Menschen. $OVRJXW LP)DOOYRQ%HUWUDQG5XVVHOOKDEHLFK PLFKQLFKWGDUDQ
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145 146
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JAKE NAHM IHREN PLATZ am Tisch zwischen Gilmour und
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dem Mann ein, den sie als Ermittler abgelöst hatte und der als Leiter
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der Mordkommission theoretisch ihr Vorgesetzter war: Hauptkom-
missar Keith Challis. Mit kühlem, ruhigem, leidenschaftsfreiem und
8UVSUQJOLFKKDEHLFK5$]XWKHUDSHXWLVFKHQ=ZHFNHQJHNDXIWXP ernstem Gesichtsausdruck standen sie vor den Journalisten im Saal,
PHLQH $JJUHVVLRQHQ ]X EHNlPSIHQ XQG HLQ SDDU KDQGHOVEOLFKH die mit Fotoapparaten, Galgenmikrofonen und Diskettenrecordern
3URJUDPPGLVNHWWHQ IUPHLQH SHUV|QOLFKHQ%HGUIQLVVHPRGLIL]LHUW bewaffnet waren. Gilmour eröffnete die Pressekonferenz, und Jake

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dachte an die wenigen abschließenden Worte, die er an sie gerichtet betrachten. In der Vorgehensweise des Täters gibt es gewisse
hatte, als sie sein Büro im fünfzehnten Stock von New Scotland Merkmale, die uns zu dieser Schlußfolgerung veranlaßt haben. Wir
Yard verließen und den Fahrstuhl zum Konferenzraum betraten. können zwar keine Einzelheiten über den PRGXVRSHUDQGLdes Mör-
ders bekanntgeben, um die Ermittlungen nicht zu gefährden, aber
«Ich hoffe, Sie wissen, was Sie tun», hatte er kurz angebunden ge-
wir können bestätigen, daß alle Opfer durch mehrere Kopfschüsse
sagt. «Wenn der Plan platzt, wird die Staatssekretärin Ihren Kopf
aus verhältnismäßig geringem Abstand getötet wurden.
verlangen, nicht meinen. Ich habe so das Gefühl, sie läßt Ihnen gera-
de genug Freiraum am Seil, daß Sie sich selbst aufhängen können.» Ich brauche Ihnen sicher nicht zu erzählen, daß es, wie bei allen die-
sen scheinbar unmotivierten Verbrechen, auch in diesem Fall wenig
«Schon möglich», hatte Jake geantwortet. «Aber ich habe nicht vor,
Anhaltspunkte für die Identität des Mörders gibt. Zum gegenwärti-
mich selbst umzubringen.»
gen Zeitpunkt, wo wir Hunderte, möglicherweise Tausende von
Nach den einleitenden Worten an die Presse übernahm Jake als Möglichkeiten überprüfen müssen, kann man die Aufgabe der Er-
dienstälteste ermittelnde Beamtin die Vorstellung des Polizeibe- mittler mit der sprichwörtlichen Suche nach einer Nadel im Heuhau-
richts. In einer ganzen Reihe von Seminaren zur Öffentlichkeitsar- fen vergleichen. Infolgedessen ist unter meiner Leitung ein Bera-
beit hatte sie Techniken der Präsentation entwickelt. Ihr war klar, tungsausschuß von Experten gegründet worden, dessen Aufgabe es
wieviel ihr physisches Erscheinungsbild zum Erfolg der Pressekon- sein wird, sämtliche Morde unter Einsatz der Hilfsmittel des Euro-
ferenz beitragen konnte, und heute hatte sie besondere Sorgfalt auf päischen Kriminalamts, insbesondere des Computersystems des EK,
ihre Kleidung verwendet. Sie hatte ein türkisfarbenes Kostüm aus zu untersuchen. Für diejenigen unter Ihnen, denen dieses spezielle
Bouclestoff gewählt. Sie wußte, daß es der Presse schwerer fallen System nicht vertraut ist: Das Computersystem des EK übernimmt
würde, sich auf eine Frau einzuschießen, die sich nicht an das Stan- die Arbeit des Polizeibeamten, indem es die menschliche Urteils-
dardimage von Polizeiarbeit und grauem Flanell hielt. Es war nicht kraft durch standardisierte Computerprogramme ersetzt. Wir hoffen,
das erste Mal, daß sie sich während der Ermittlungen in einer Mord- auf diese Weise, die analytische Kapazität zu schaffen, die erforder-
sache um die Presse kümmern mußte, aber sie behandelte das Ereig- lich ist, um festzustellen, ob das existiert, was wir in Ermangelung
nis, als sei es einmalig. Es war auf alle Fälle sinnlos, auch nur an- eines besseren Ausdrucks den gemeinsamen Schwerpunkt all dieser
deutungsweise den Eindruck zu erwecken, sie nehme das Ganze in Mordfälle nennen.»
irgendeiner Form auf die leichte Schulter. Sie sprach langsam und
Jake gab ein paar uniformierten Polizisten einen Wink, und sie be-
deutlich und beobachtete beide Seiten des Raums wie der Leibwäch-
gannen, Exemplare des Phantombilds auszuteilen, das der Polizei-
ter eines Präsidenten, als erwarte sie, von einem der Journalisten mit
zeichner mit der Hilfe Tony Chens und eines Computerprogramms
etwas Gewichtigerem als einer rhetorischen Frage bombardiert zu
angefertigt hatte. Sie hatte sich mit der Möglichkeit abgefunden, daß
werden. Es ist immer besser, das Unerwartete zu erwarten.
er unbewußt gelogen haben konnte, aber ohne das Bild gab es nur
«Die Polizeibehörden neigen mittlerweile dazu, eine Anzahl von an- wenig Anlaß, eine Pressekonferenz einzuberufen.
scheinend zusammenhanglosen Morden an Männern, die während
«Auf der Grundlage der Beschreibung, die das jüngste Opfer des
der letzten Monate verübt worden sind, als die Taten einer Person zu
Mörders, Oliver Mayhew, vor seinem Tod gegeben hat, können wir
149 150
nun eine Phantomzeichnung des Mörders vorlegen. Laut Beschrei- mengetroffen war.
bung handelt es sich um einen fünfunddreißig- bis vierzigjährigen
Ich möchte auch das Gerücht zurückweisen, daß sich der Mörder be-
Mann von mittlerer Größe mit gewelltem braunem Haar, blauen Au-
reits mit der Polizei in Verbindung gesetzt habe. Daran ist nichts
gen, scharf geschnittenem Gesicht und schlankem Körperbau. Bei
Wahres. Es hat keinerlei Mitteilungen gegeben. Wenn aber irgend
seinem letzten Auftreten trug er eine braune Tweedjacke, einen wei-
jemand glaubt, im Besitz von Informationen zu sein, die für die Er-
ßen Rollkragenpullover, festes Schuhwerk und einen beigefarbenen
mittlung relevant sein könnten, möchte ich denjenigen oder diejeni-
Regenmantel.
ge dringend auffordern, sich sofort mit der Polizei in Verbindung zu
Es handelt sich um ein äußerst schlaues und skrupelloses, mögli- setzen.
cherweise psychotisches Individuum, das unterschieds- und rück-
Schließlich möchte ich ein Wort an den Mörder richten: Wer immer
sichtslos zuschlägt. Anscheinend sind allerdings nur Männer gefähr-
Sie sein mögen, ich fordere Sie auf, sich zu stellen. Ich gebe Ihnen
det. Also möchte ich die Öffentlichkeit, insbesondere die männliche
mein Wort, daß Sie fair behandelt werden und daß ich alles in mei-
Öffentlichkeit, zu erhöhter Wachsamkeit aufrufen, wenn sie abends
ner Macht Stehende tun werde, um dafür zu sorgen, daß Sie ange-
allein nach Hause gehen.»
messene medizinische Behandlung erhalten. Wenn ich das sage, so
Das sollte ihm die Laune verderben, dachte Jake. Sie sprach wieder möchte ich zu Protokoll geben, daß es mein Hauptanliegen ist, den
laut, um sich Gehör über dem Gemurmel zu verschaffen, das nach Verlust von noch mehr Menschenleben zu vermeiden.»
der Verteilung der Zeichnungen ausgebrochen war.
Jake hielt kurz inne und ließ den Blick über ihr Publikum schweifen.
«Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit das Gerücht im
«Irgendwelche Fragen?»
Keime ersticken, irgendeines der Opfer des Mörders sei auf Grund
Ein Dutzend Hände streckten sich in die Luft, und Jake deutete auf
seiner kriminellen Vergangenheit oder seiner sexuellen Gewohnhei-
ein Gesicht, an das sie sich vage erinnerte.
ten ausgewählt worden. Ebensowenig ist irgendeines der Opfer im
Verlauf eines tätlichen Angriffs eines Raubversuchs oder aus sexuel- «Carol Clapham von ITN», stellte sich die Frau vor. «Chefinspekto-
len Motiven ermordet worden. Es gibt keinerlei Anlaß zu der Ver- rin Jakowicz, sind Sie sicher, daß das Motiv für diese Morde nicht
mutung, bei dem Mörder handle es sich um einen selbsternannten Raub ist?»
Rächer im Stil von Hollywoodfilmen. Es gibt auch keine Belege da-
«Vollkommen sicher. Keiner der Männer wurde beraubt. Wenn ich
für, daß die Morde in Zusammenhang mit dem organisierten Verbre-
mich richtig entsinne, war einer der Männer noch im Besitz einer
chen stehen. Ich kann die Tatsache gar nicht genug betonen, daß al-
Brieftasche, die über hundert Dollar enthielt. Nächste Frage.» Sie
le, ich wiederhole: alle Opfer unschuldige Männer waren, die sich
wies auf einen Mann in der ersten Reihe.
um ihre eigenen Angelegenheiten kümmerten, als der Mörder zu-
schlug. Keiner von ihnen hatte Grund zu der Annahme, der Mörder «James McKay, (YHQLQJ 6WDQGDUG Sie haben Hunderte, vielleicht
werde ihn auswählen. Darüber hinaus bin ich überzeugt davon, daß sogar Tausende von Möglichkeiten erwähnt, die überprüft werden
keiner von ihnen den Mörder kannte oder früher mit ihm zusam- müssen. Sind Sie bereit, ein paar davon zu nennen?»

151 152
«Nein. Der nächste.» Wieder streckte sie den Finger aus. Damit stand Gilmour auf und erklärte die Pressekonferenz für been-
det. Aus dem Saal rief man den dreien, die sich zurückzogen, Fragen
«Sind irgendwelche Opfer in irgendeiner Form verstümmelt wor-
nach, die sie ignorierten. Draußen im Korridor hinter dem Konfe-
den?» fragte der dritte Journalist.
renzsaal atmete Gilmour erleichtert auf. «Das haben Sie gut pariert,
«Kein Kommentar.» Jake wollte eventuellen Nachahmetätern keine Keith», sagte er. «Danke, Chef», sagte Challis. «Es war ein bißchen
Informationen liefern. «Der nächste.» knapp, oder etwa nicht? Man kann sich einfach nicht auf die ver-
dammten Arschlöcher vom *XDUGLDQverlassen.»
«Gehen Sie davon aus, daß der Mörder wieder zuschlagen
Gilmour nickte streng. «Ich muß mich mal mit der Pressestelle dar-
wird?»
über unterhalten. Wir sollten ihnen eine Lektion erteilen. Keine
«Ja, das scheint mir eine gerechtfertigte Annahme zu sein.» Pressemitteilungen mehr, oder so etwas. Ihnen zeigen, daß sie in
Ungnade gefallen sind, bis sie sich anständig benehmen wie der Rest
Sie rief einen fünften und dann einen sechsten Journalisten auf.
dieser Reptilien.»
Dann kam die Frage, die sie befürchtet hatte.
«John Joyce vom *XDUGLDQChefinspektorin Jakowicz, möchten Sie
«Ach, ich weiß nicht», sagte Jake. «Man kann Ihnen keinen Vorwurf
daraus machen, daß sie es versuchen.»
einen Kommentar zu dem Gerücht abgeben, daß diese Morde mögli-
cherweise im Zusammenhang mit dem Lombrosoprogramm stehen, Gilmour blickte Jacke gerade ins Gesicht, kümmerte sich nicht um
das derzeit im Staatlichen Institut für Gehirnforschung durchgeführt ihre Meinung und machte ihr Komplimente über ihre eigene Lei-
wird?» stung.
Bevor Jake antworten konnte, kam ihr Challis zuvor. «Das war gut gemacht, junge Dame», sagte er gönnerhaft wie ein
freundlicher Onkel. Jake lächelte verbissen.
«Ich glaube, ich kann diese Frage beantworten», sagte er und warf
Jake einen Blick zu, als wolle er sichergehen, daß sie nichts dagegen «Ich hoffe nur, Sie wissen, was Sie tun. Wenn der Plan platzt...»
hatte, unterbrochen zu werden. Aber sie wußte, daß das nur Schein Ausnahmsweise vollendete Gilmour die Prophezeiung nicht. Statt
war. Challis war es letzten Endes völlig egal, was seine weibliche dessen legte er den Finger an den Nasenrücken und fügte hinzu:
Untergebene dachte. «Laßt uns hoffen, daß dieser Armleuchter von Wittgenstone Fern-
sehnachrichten sieht.»
«Wie die Chefinspektorin angedeutet hat, hat es eine Anzahl von
Gerüchten über diese Morde gegeben, und sie sind mit allem - von Es war nahezu undenkbar, daß es nicht so sein sollte, dachte Jake,
der Niederlage Englands im World Cup bis zur vorherrschenden als sie abends nach Hause fuhr. Das Fernsehen war der gewaltige
Großwetterlage - in Zusammenhang gebracht worden.» Er setzte ein Gott Großbritanniens. Zugegebenermaßen kam es häufig genug vor,
abscheuliches Grinsen auf. «Sagen wir doch einfach, daß wir beim daß sie abends nach Hause kam und feststellte, daß sie nicht mehr
gegenwärtigen Stand der Ermittlungen keine Annahme ausschließen genug Energie hatte, irgend etwas zu tun, außer in das große, nie-
können, egal wie phantastisch sie klingt.» mals blinzelnde Auge zu starren. Aber genau aus diesem Grund hat-

153 154
te Jake den Fernseher an ungewöhnlicher Stelle untergebracht. Statt wenig oder gar keine Ahnung davon hatten, wie langweilig, gedan-
in einer Zimmerecke wie eine Überwachungskamera den Raum zu kenlos, brutal und gewöhnlich wirkliche Mordfälle waren. Die Por-
überblicken, machte Jakes Gerät schon durch seine Position deutlich, trätfotos auf den Schutzumschlägen bestärkten diesen Eindruck. Da
wie wenig Zeit seine Besitzerin an das Programm zu verschwenden sah man die Gesichter von rosig strahlenden jungen Müttern, ver-
bereit war. Der Apparat stand im obersten Fach eines Bücherregals schlagenen Individualisten mit Hornbrillen, glatten, gutangezogenen
quer zur kürzesten Wand des Raums direkt gegenüber der Tür. Wer Typen aus der Werbebranche, staubtrockenen Akademikern, streng
immer das Ding betrachten wollte, mußte es im Stehen tun. Nicht, dreinblickenden und säuerlich lächelnden alten Jungfern und zweit-
daß Jake etwas gegen Aufnahmen von weit entfernten Kriegen, klassigen Spinnern, deren harte, dunkle Blicke Jake an den Würger
Kriminalfilme und die zweiminütigen Werbeblocks gehabt hätte, die von Boston oder ihren Vater erinnerten.
alle Viertelstunde über den Schirm huschten. Selbst wenn sie genau
Gelegentlich mußte Jake laut über das lachen, was sie sich unter fin-
wußte, daß es nichts Sehenswertes gab, konnte sich Jake dem Sog
steren Mordtaten vorstellten. Meistens aber erweckten sie nur den
nicht verschließen, den das Fernsehen ausübte. Sie wollte es sich nur
Wunsch, den Autor mit ins anatomische Labor zu nehmen und ihm
unbequem genug machen, um sich selbst zu zwingen, etwas anderes
den verschimmelten, schmutzigen und entsetzlich verschwenderi-
zu tun. Lesen zum Beispiel.
schen Schrecken eines wirklich finsteren Mordes vorzuführen.
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Auch hier wirkte sich ihr anstrengender Beruf nachteilig auf ihr Le-
IDFKWRWDOYHUUFNWELQ:HQQPDQQHXQ0lQQHUHUPRUGHWKDWVROOWH
ben aus. Je steiler Jakes Karriere verlief, je später sie abends im
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Yard zu tun hatte, je weniger Privatleben ihr noch blieb, desto häufi-
HUNDOWEOWLJXQGLQPHKUHUHQ)lOOHQYHUEWZLUGHLQHQKLQUHLFKHQ
ger entdeckte sie, daß die Energie, die sie aufbringen mußte, um ir-
GHQ %HZHLV IU HLQ DQRUPDOHV 6HHOHQOHEHQ GDUVWHOOW $EHU GDV JHKW
gend etwas außer Schund zu lesen, einfach zu groß war. Wenn sie
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ihre viel zu selten abgestaubten Bücherregale betrachtete, konnte Ja-
ke manchmal selbst kaum glauben, daß die Bücher, die da standen,
einer Frau gehören sollten, die ein Stipendium nach Cambridge be- 'LH3ROL]LVWLQLQGHU1LFDPYLVLRQKDWEHKDXSWHWLFKVHLP|JOLFKHU
kommen hatte. ZHLVH SV\FKRWLVFK 9RQ GHU 7DWVDFKH HLQPDO JDQ] DEJHVHKHQ GD‰
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URVHQXQG3V\FKRVHQDXIJHJHEHQXQGGLHVHEHUKROWHQ%H]HLFKQXQ
Viele ihrer Bücher hatten geschmacklose Umschläge, waren schlecht
JHQDXVGHPGHU]HLWJOWLJHQRIIL]LHOOHQ.DWDORJGHUSURIHVVLRQHOOHQ
geschrieben und erzählten von unglaubhaften Mordfällen am Dorf-
'LDJQRVWLNJHVWULFKHQKDWJODXEHLFKQLFKWGD‰PDQPLFKYHUQQI
brunnen, die von vorlauten weiblichen Privatdetektiven oder bier-
WLJHUZHLVHLQGHP6LQQHDOVSV\FKRWLVFKEHVFKUHLEHQNDQQGD‰PHLQ
schweren Kriminalinspektoren gelöst wurden, deren Leben aus aus-
'HQNHQXQGPHLQH%HGUIQLVVHGHQ$QIRUGHUXQJHQGHU5HDOLWlWQLFKW
gefallenen Hobbys, romantischen Affären, Abenteuern in fernen
PHKU JHZDFKVHQ VHLHQ 6HOEVW ZHQQ PDQ GLH 7DWVDFKH DX‰HU DFKW
Ländern, Gesprächen mit glattzüngigen Schurken, klugen Beobach-
Ol‰WGD‰GLHHLQ]LJH5HDOLWlWGHUHQPDQVLFKJHZL‰VHLQNDQQGDV
tungen und befriedigenden Enthüllungen bestand. Es waren Lebens-
6HOEVWLVWP|FKWHLFKGRFKGDUDXIKLQZHLVHQGD‰PHLQ'HQNHQXQG
läufe, die Jake vielfältiger und spannender erschienen als ihr eigener.
PHLQH%HGUIQLVVHGLH$QIRUGHUXQJHQGHU5HDOLWlWHKHU]XJUQGOLFK
Jakes einziger Trost war, daß die Autoren dieser Bücher offenbar

155 156
LQ5HFKQXQJVWHOOHQ %ODXHQ%XFKDXIEHZDKUW.HLQHUGDYRQGHXWHWLUJHQGHWZDVLQGLHVHU
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157 158
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159 160
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9
GDYRQVSUHFKHQXQG HVLVW QLFKWV 8QVlJOLFKHVGDVLKQ VRVFKUHFN JAKES BERATERKOMMISSION BESTAND aus Professor Wa-
OLFK PDFKW 'HQQ GLH .XOWXU GLH 0R]DUW %HHWKRYHQ XQG *RHWKH ring, Dr. Cleobury, Kriminalinspektor Stanley und den Kriminalse-
KHUYRUJHEUDFKWKDWKDWGLHVH9HUEUHFKHQEHJDQJHQ*HQDXVRKDEHQ kretären Chung und Jones. Zwei Tage nach der Pressekonferenz traf
GLH5|PHU+RUD]XQG3OLQLXVKHUYRUJHEUDFKWXQGGHQQRFK&KULVWHQ man sich in New Scotland Yard, um über die weiteren Ermittlungen
GHQ /|ZHQ YRUJHZRUIHQ *UR‰H 9HUEUHFKHQ VLQG HLQ $EIDOOSURGXNW zu beraten.
JUR‰HU=LYLOLVDWLRQHQ
«Das hier ist die Zeitungsannonce, wie die Agentur sie entworfen
'LH HLQ]LJH*UHQ]HGHV6DJEDUHQLVWGLH *UHQ]HGLHGHQ 6LQQYRP hat», sagte Jake und legte eine Kopie vor Waring und Cleobury auf
8QVLQQ WUHQQW 'LHVH %HJUHQ]XQJ PDFKW HLQVLFKWLJ GD‰ GHU +ROR den Tisch. «Bisher hat es kaum Reaktionen auf die Anzeige und
FDXVWYROONRPPHQVLQQYROOZDUDXFKZHQQPDQLKQYHUGDPPW 8QG meine Presseerklärung gegeben.»
GHQQRFK KlOW VLFK GHU *ODXEH GD‰ GDV 9HUVWlQGOLFKH ]XJOHLFK XQ
DXVVSUHFKOLFKVHLQN|QQHGD‰GHU6LQQGHU:HOWLQQHUKDOEGHU:HOW
Waring warf einen Blick auf die Liste mit Decknamen von VMK-
JHIXQGHQZHUGHQN|QQH
Negativen und schüttelte den Kopf. «Ich möchte bloß wissen, was
die Öffentlichkeit davon hält.»
$EHUZHQQHVHLQHQ:HUWJLEWGHU:HUWKDWVRPX‰HUDX‰HUKDOEDO
OHV *HVFKHKHQV XQG 6R6HLQV OLHJHQ 7DWVDFKH LVW GD‰ DOOH 6lW]H
«Es hat ein paar neugierige Anrufe von Journalisten gegeben»,
JOHLFKZHUWLJVLQGXQGGD‰HVNHLQH6lW]HGHU(WKLNJHEHQNDQQ'LH
räumte Jake ein. «Übrigens, was ich Sie noch fragen wollte: Wie ist
(WKLNLVWWUDQV]HQGHQWDOXQGXQDXVVSUHFKOLFK.XU]JHVDJW(WKLNLVW
die Liste von Decknamen für das Computerprogramm eigentlich zu-
XQP|JOLFK
sammengestellt worden?»

:DUXPVRQVWVROOWHPDQVLFKGDJHJHQDXIOHKQHQ":HQQGLH([LVWHQ]
Waring zuckte die Achseln. «Wissen Sie das vielleicht, Dr. Cleobu-
HLQHV PRUDOLVFKHQ 6DW]HV GHU GHQ 0RUG YHUELHWHW P|JOLFK ZlUH
ry?»
ZUGHLFKLKPQLFKWZLGHUVSUHFKHQ$EHUYRP:LOOHQDOV7UlJHUGHV Sie lächelte. «Das war ein Einfall von Dr. St. Pierre», erklärte sie.
(WKLVFKHQNDQQQLFKWJHVSURFKHQZHUGHQ$OVRW|WHLFKZHLOHVNHL «Er war auf der Suche nach einer Namensliste von Personen, die un-
QHQORJLVFKHQ*UXQGJLEWQLFKW]XW|WHQ ter Garantie tot sind. Sie verstehen, er hatte Angst vor juristischen
'LH:DKUKHLWGHUKLHUPLWJHWHLOWHQ*HGDQNHQVFKHLQWPLUXQDQWDVW
Komplikationen. Jedenfalls hat er dann den neuesten Katalog der
3HQJXLQ&ODVVLFVgenommen und die Namen direkt in den Computer
EDU XQG GHILQLWLY ,FK ELQ DOVR GHU 0HLQXQJ GLH 3UREOHPH LP :H
VHQWOLFKHQHQGJOWLJJHO|VW]XKDEHQ'LH(QGO|VXQJ
eingegeben.»
©3HQJXLQ &ODVVLFV"ª fragte Jake. «Sie meinen die Taschenbuchrei-
$EHULFKVFKODJHGLH=HLWWRWVWDWWPLFKGHP7RGGHVQlFKVWHQ1D
PHQVDXIPHLQHU(LVWH]X]XZHQGHQ8QGZDVIUHLQHQ1DPHQVHLQ
he?»
7UlJHU WUlJW (LQHQ 1DPHQ GHU IU GLH JHVDPWH JHLVWLJH 7UDGLWLRQ «Richtig. Wenn die Liste erschöpft ist, will er die Namen sämtlicher
161 162
Romanfiguren von Charles Dickens verwenden.» eigenen Daten gelöscht hat.»
Jake zog eine Augenbraue hoch. Aber dann erschien ihr die Vorstel- «Ich frage mich, warum die Reaktion so schwach war.»
lung, Edwin Droods Mörder zu fangen, doch nicht ohne Reiz.
«Weil sie Angst haben», sagte Jake. «Vielleicht wußten Sie es ja
«Wie kommen Sie bei Ihren Experimenten am Lombroso-Computer nicht, aber ein paar von ihnen haben Angst davor, kaserniert und un-
voran, Frau Chefinspektor?» fragte Waring. «Was macht der elek- ter Quarantäne gestellt zu werden. Manche erwarten noch Schlim-
tronische Stachel?» meres. Wenn ich an ihrer Stelle wäre, wäre ich auch nicht scharf
darauf, mich zu melden.»
Jake blickte zu Chung herüber. «Vielleicht können Sie darüber be-
richten», sagte sie. «Aber das ist doch reiner Blödsinn», sagte Waring. «So etwas sind
törichte Gerüchte, und wer sie verbreitet, handelt verantwortungs-
Chung setzte sich auf: «Meine Hoffnung, daß es so etwas wie einen
los.»
elektronischen Stachel geben könnte, hat sich weitgehend erfüllt!»
erklärte er. «Der Computer hat beschlossen, die Löschung als einen «Mag sein, aber ein paar von ihnen glauben es nun einmal», erwi-
Unfall zu betrachten, obwohl der wichtigste Teil des Speicherinhalts derte Jake.
noch nicht ganz rekonstruiert ist. Allerdings haben wir die persönli-
Professor Waring nickte trübsinnig und blickte mit gesenktem Haupt
chen Daten, die der Verdächtige gelöscht hat, nicht wieder auffinden
auf die Papiere in seinem Aktenordner. Offenbar war er nicht an ei-
können. Wie Sie vielleicht wissen, habe ich seitdem an unserem ei-
ner weiteren Diskussion dieser Frage interessiert. Jake verspürte
genen Polizeicomputer gearbeitet. Dabei habe ich die Ermittlungen
plötzlich einen vagen Verdacht, als könnte hinter dem Gerücht ein
in einem fiktiven Mordfall simuliert und aus einer Reihe von Na-
Körnchen Wahrheit stehen. Aber sie behielt ihre Zweifel für sich.
men, die der Computer nach dem Zufallsprinzip aus dem Telefon-
Sie wußte, daß Waring ihre Art, die Ermittlungen zu führen, nicht
buch ausgewählt hat, eine Liste von Verdächtigen zusammengestellt,
schätzte; aber sie hatte Respekt vor seinen Fähigkeiten als Gerichts-
um Lombroso zu einer Reaktion zu provozieren.» Er zuckte die
psychologe. Er war nun einmal der beste, den es gab, und beim ge-
Achseln. «Aber so etwas ist zeitraubend, und nicht alle VMK-
genwärtigen Stand der Ermittlungen wäre es töricht gewesen, ihn
Negativen haben Telefon.» «Wie viele bisher?» fragte Jake. «Acht»,
unnötig vor den Kopf zu stoßen. Sie sah, daß Waring die Liste mit
sagte Chung.
den Namen von Wittgensteins neun Opfern studierte. Er las langsam
«Acht von 120 potentiell Betroffenen», sagte Waring. «Zwei haben einen nach dem anderen in der Reihenfolge vor, in der sie ermordet
sich auf unsere Anzeige hin gemeldet», sagte Jake, «sechs haben auf worden waren.
einen Brief ihres Betreuers geantwortet, und neun sind bereits tot.
«Darwin, Byron, Kant, Aquinas, Spinoza, Keats, Locke, Dickens
Insgesamt macht das fünfundzwanzig. Ziehen wir die VMK-
und dann auch noch Bertrand Russell.» Er blickte auf und sah die
Negativen ab, die im Gefängnis sitzen, bleiben immer noch fünfund-
anderen am Tisch an. Mit seinem schlohweißen Haar, der halbmond-
siebzig.»
förmigen Lesebrille, den hageren Gesichtszügen, die ihm ein asketi-
«Vierundsiebzig», sagte Chung, «wir wissen, daß Wittgenstein seine sches Aussehen verliehen, und den buschigen Augenbrauen, die an

163 164
schottischen Wollstoff erinnerten, fiel es ihm nicht schwer, einen «Also, letzten Endes war Erasmus Darwin einer der ersten Forscher,
gedankenverlorenen Eindruck zu machen. «Man kann wohl kaum die versucht haben eine physiologische Basis für geistige Phänome-
davon ausgehen, daß sich da so etwas wie ein Muster ergibt, oder ne zu finden. Es ging um die Rückenmarksubstanz.» Sie schüttelte
vielleicht doch?» sagte er aufs Geratewohl. den Kopf und wartete, bis alle ihrer Eingebung gefolgt waren. «Ver-
stehen Sie? Genau darum geht es doch beim Lombrosoprogramm.»
«Sie meinen so etwas wie intellektuelle Zusammenhänge?» fragte
Jake. «Also unser computergestütztes Untersuchungssystem hat Jake nickte, obwohl sie nicht davon überzeugt war, daß die Diskus-
nichts Derartiges erkennen können.» sion sehr ergiebig war.
«Computer haben keine Phantasie», sagte Wanng verächtlich. «Wie «Sehr passend», stimmte Waring zu, der sich immer mehr in seine
wäre es, wenn wir zur Abwechslung mal unser eigenes Gehirn be- Idee verbiß. «Aber was für eine Verbindung gibt es dann zu Imma-
nützten und nach einem Muster suchten?» Jake zuckte die Achseln. nuel Kant?»
«Sicher, warum nicht?» «Fangen wir einmal bei Darwin an», sagte
Jake warf Chung einen Blick zu. Der zuckte gelangweilt die Ach-
er. «Das war der erste. Wer sollte auch sonst der erste sein? Sie wis-
seln. Kriminalinspektor Stanley untersuchte den Inhalt seiner Tee-
sen doch, die Entstehung der Arten und so.»
tasse, als sei er auf der Suche nach Weissagungen über den weiteren
Dr. Cleobury schüttelte energisch den Kopf. «Leider handelt es sich Gang der Ermittlungen. Kriminalsekretär Jones, der das Protokoll
um den Großvater, nicht um den Enkel. Der Tote ist Erasmus Dar- führte, gähnte den Bildschirm seines Computers an. Jake mußte
win, nicht Charles, Herr Professor.» grinsen, als sie sah, wie er Kant buchstabiert hatte. Waring hatte es
auch gesehen und schüttelte energisch den Kopf, als mache er sich
«Was hat Erasmus Darwin geschrieben, das ihn zum Klassiker ma-
selbst Vorwürfe.
chen würde?» fragte Waring.
«Natürlich», sagte er. «Wie dumm von mir! Seine Familie stammte
«Er hat ein paar Gedichte über Pflanzen verfaßt», sagte Jake. Dr.
aus Schottland. Sie haben den Namen von Cant in Kant geändert,
Cleobury nickte, schenkte Jake ein freundliches Lächeln und arran-
um der deutschen Aussprache gerecht zu werden. Nun, und Darwin
gierte ihren breiten Hintern bequem im Sessel. Als sie sich wieder
hat sein Medizinexamen in Edinburgh abgelegt. Natürlich ist das
wohl fühlte, kontrollierte sie mit strengem Blick den Saum ihres en-
keine so starke Verbindung wie etwa zwischen Kant und Hume, aber
gen schwarzen Rocks und strich ihre blonden Dauerwellen zurecht.
immerhin...»
Jake fand, sie sehe eher wie eine Bardame aus als wie eine Psycho-
login. Jake ließ den Professor und Dr. Cleobury ein Weilchen ihr hochin-
tellektuelles Spiel weitertreiben und bedeutungslose Verbindungsli-
«Bedeutsamer ist vielleicht die Tatsache», warf sie ein, «daß fünf
nien zwischen neun Decknamen aufstellen; dann brachte sie die
von den neun Philosophen waren.»
Diskussion im Rückgriff auf ihre eigene Bemerkung wieder auf den
«Sechs», sagte Dr. Cleobury, «wenn man die sogenannte Empfin- Boden der Tatsachen zurück.
dungsschule der Philosophie mitrechnet, die Erasmus Darwin be-
«Vielleicht sollten wir uns nicht allzusehr treiben lassen», sagte sie
gründet hat. Einen Augenblick...» «Was ist?» fragte Jake.
165 166
lächelnd. «Ich glaube, das Entscheidende ist, daß auf einer Liste von «Also, schießen Sie schon los!»
120 VMK-Negativen zwanzig Decknamen die Namen von Philoso-
«Ich habe gerade eine Telefonnummer und einen Namen eingege-
phen sind. Wir wissen aber nicht nur, daß der Mörder selbst den
ben, die nach dem Zufallsprinzip ausgewählt waren», erklärte
Namen eines Philosophen trägt, sondern auch, daß mehrere seiner
Chung, «und der Lombroso-Computer hat reagiert. Ein Typ namens
Opfer die Namen von Philosophen trugen. Ich habe den Eindruck,
Martin John Baberton. Und gleichzeitig entdeckt der Polizeicompu-
wir haben es hier mit einem Mörder mit Sinn für Humor zu tun. Die
ter in Kidlington, daß dieser Baberton wegen Computerbetrugs und
Vorstellung, daß ein Philosoph den anderen umbringt, reizt ihn.»
Mordversuchs vorbestraft ist.»
Waring dachte einen Augenblick darüber nach. « Aber warum hat er
Jake blickte von ihrer Kaffeetasse auf. «Machen Sie keine Witze!»
dann nicht alle neun Opfer nach diesem System ausgewählt, sondern
nur fünf?» Chung warf einen Blick auf den Computerausdruck in seiner Hand.
«Und was sagen Sie dazu? Er hat ein Philosophiediplom und war
«Oder sechs», sagte Dr. Cleobury. «Vergessen Sie Darwin nicht.»
wegen psychischer Störungen in Behandlung.»
Jake zuckte die Achseln. «Vielleicht will er kein Muster hinterlas-
«Das klingt zu schön, um wahr zu sein», sagte Jake. «Haben Sie die
sen, das wir entschlüsseln könnten.»
Akte da?»
Waring seufzte müde. «Wenn er das will, ist er ganz schön erfolg-
«Das ist das Merkwürdige daran. Im Archiv können sie die Handak-
reich.»
te nicht finden. Es gibt nur die Computerdaten.»
Kriminalsekretär Jones blickte von seinem Bildschirm auf. «Ob er
Er überreichte Jake den Ausdruck und beobachtete sie beim Lesen.
wohl wirklich etwas von Philosophie versteht?» fragte er.
Sie blieb an dem Bild hängen, das der Laserdrucker ausgeworfen
Jake nickte. «Die Frage habe ich mir auch schon gestellt.» Die Dis- hatte.
kussion zog sich noch eine Zeitlang hm, bevor Jake sie für beendet
«Das sind nicht gerade die besten Bilder, wenn es um Personeniden-
erklärte. Um fünf ging sie sich eine Tasse Kaffee holen. Als sie zu-
tifizierung geht», sagte sie, «aber ich werde das Gefühl nicht los, daß
rückkam, wartete Chung in ihrem Büro. Er wirkte ungewöhnlich
ich den Mann schon einmal gesehen habe. Was ist sein Deckname
aufgeregt.
im Programm?»
«Was ist denn mit Ihnen los?» fragte sie. «Haben Sie in der Lotterie
«Laut Lombroso heißt er Sokrates.»
gewonnen?»
«Noch ein Philosoph.»
«Kann sein», sagte er und wedelte grinsend mit einem Stück Papier.
«Wie lautet die Adresse?»
Erschöpft setzte sich Jake an den Schreibtisch und hob den Deckel
von ihrer Styroportasse. Nach Konferenzen fühlte sie sich immer «Es sind zwei bekannt. Eine steht auf dem Ausdruck des Lombroso-
platt wie ein Teppichboden. Computers und die zweite in der Polizeiakte.»

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«Welche paßt zur Personalausweisnummer?» Jakes Büro.
«Die in der Polizeiakte.» Als man in der Frühphase der Ermittlungen Jake an seine Stelle setz-
te, hatte Challis keinerlei Neigung erkennen lassen, je wieder etwas
Jake las interessiert die Warnung des Lombroso-Computers. Es war
mit dem Fall zu tun haben zu wollen. Aber seit der Pressekonferenz
das erste Mal, daß ihr im Laufe von Ermittlungen eine Lombroso-
hatte er sich angewöhnt, zu jeder Tagesund Nachtzeit in Jakes Büro
warnung begegnete.
aufzutauchen und Erfolgsberichte anzufordern. Sie fragte sich, ob
VORSICHT. DIE VON IHNEN IDENTIFIZIERTE PERSON HAT das plötzliche Wiedererwachen seines Interesses an dem Fall spon-
SICH BEI EINEM TEST ALS VMK-NEGATIV ERWIESEN UND tan entstanden war oder ob er von höher oben, vielleicht sogar aus
IST SOMATISCH ZU GEWALTAKTEN PRÄDISPONIERT. dem Innenministerium, angewiesen worden war, die Dinge im Auge
ÄUSSERSTE VORSICHT BEI DER KONTAKTAUFNAHME IST zu behalten. Worauf auch immer sie zurückgehen mochte, ihr ging
GEBOTEN. WEITERE INFORMATIONEN ÜBER VMK- seine Einmischung beinahe so sehr auf die Nerven wie der Gift-
NEGATIVE PERSONEN KÖNNEN SIE BEIM zwerg Challis selbst. Challis war einer von den altmodischen Polizi-
LOMBROSOPROGRAMM IM INSTITUT FÜR sten, die der Meinung waren, Frauen im Polizeidienst seien am be-
GEHIRNFORSCHUNG ABRUFEN. BITTE VERNICHTEN SIE sten dazu zu gebrauchen, den Familienangehörigen von Verkehrsop-
DIESE MITTEILUNG, WENN SIE SIE GELESEN HABEN. DIE fern die traurige Nachricht zu überbringen.
HERSTELLUNG EINER KOPIE DIESER MITTEILUNG ODER
«Habe ich etwas von einem Verdächtigen gehört, Jake?» rief er mit
VON AKTENNOTIZEN ÜBER DIE BETROFFENE
donnernder Stimme und rieb sich die Hände.
PERSON IST STRAFBAR. DIESE MITTEILUNG KANN BEI
Einen Augenblick spielte Jake mit dem Gedanken, ihn hinzuhalten.
EINEM GERICHTLICHEN VERFAHREN NICHT ALS
Dann entschied sie sich anders. Er war der Typ von Vorgesetztem,
BEWEISMATERIAL VERWENDET WERDEN.
der es einem nie verzeiht, wenn man ihn über irgend etwas im dun-
Jake steckte eine Haarsträhne in den Mund und lutschte nachdenk- keln läßt. Also forderte sie Chung auf, das zu wiederholen, was er
lich daran. ihr gerade erzählt hatte. Sie fügte ein warnendes Wort hinzu.
«Irgend etwas ist komisch dabei», sagte sie. «Wir wissen, daß je- «Ich möchte diesen Mann gerne eine Weile beobachten lassen», er-
mand mit dem Decknamen Wittgenstein seine Eintragung in der klärte sie. «Es handelt sich nur um eine Vorsichtsmaßnahme, aber
VMK-Datei gelöscht hat, oder etwa nicht?» «Richtig.» irgend etwas an der Geschichte stimmt nicht.»
«Wer ist dann aber dieser ausgesprochen gut qualifizierte Schweine- Giftzwerk Challis rümpfte die Nase. «Ich kann Ihnen sagen, was hier
hund? Man könnte ja kaum einen besseren Verdächtigen finden, seltsam ist», sagte er. «Dieser Martin John Baberton selber ist ver-
wenn man dem Besetzungsbüro für Kleindarsteller den Auftrag er- dammt seltsam. Sie haben es doch selbst gehört. Der Typ ist ein
teilte.» gottverdammter Irrer.»
Es klopfte an der Tür, und Kriminalhauptkommissar Challis betrat «Nein, Herr Hauptkommissar», insistierte Jake. «Ich meine eher, daß

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das alles ein bißchen zu...», sie zuckte die Achseln, «zu einfach ist.» wenn ich ihn sehe. Sie können jetzt entweder mitmachen oder hier-
bleiben und gekränkt spielen. Was haben Sie vor?»
«Was soll das heißen?» fragte Challis. «Was heißt hier <zu ein-
fach>?» Jake spürte, wie sich ihre Augen zusammenzogen. Sie dachte an den
elektronischen Schlagring aus Wolfram in ihrer Handtasche und hät-
Jake fragte sich, ob sie es sich nur einbildete oder ob er wirklich
te ihn Challis am liebsten ins Gesicht geschlagen. Sie konnte die
nach Alkohol roch.
Ironie in ihrer Stimme kaum verbergen, als sie Challis mitteilte, das
«Habt ihr denn alle kein Vertrauen zu eurer eigenen Ermittlungs- sei ein Ereignis, das sie auf keinen Fall verpassen wolle.
technik? Mein Gott, junge Frau, die ist doch dazu da, alles einfach
Aber bevor sie ihm aus dem Büro folgte, rief sie in Gilmours Büro
zu machen. Nicht jeder Erfolg muß die Frucht monatelanger müh-
an.
samer Detektivarbeit sein. Jedenfalls heutzutage nicht mehr. Oder ist
das schon wieder so ein Fall von dieser verfluchten weiblichen Intui- Der Einsatzwagen, in dem Challis, Jake und Stanley saßen, verließ
tion, über die hier ständig gelabert wird?» New Scotland Yard und fuhr in nördlicher Richtung über die Gros-
venor Street, Park Lane und den orientalischen Basar, zu dem die
«Nein, Herr Hauptkommissar», sagte Jake geduldig. «Ich möchte
Edgware Road geworden war, bevor der Fahrer nach Westen auf die
nur noch ein bißchen abwarten. Ich möchte...»
A 40 abbog. Der Zubringer führte in engen Kurven steil bergauf.
Aber Challis hatte schon zum Pictofon gegriffen. «Ich brauche sofort Dann erreichten sie zwischen zwei Tankwagen mit Wasser einge-
ein Mobiles Einsatzkommando», blaffte er das verblüffte Gesicht an, klemmt die achtspurige Hauptstraße. Es war fast acht Uhr, aber auf
das auf Jakes Bildschirm erschien. «Wie war noch mal die ver- der Westumgehung staute sich noch immer der heimkehrende Be-
dammte Adresse? Komm, geben Sie den Zettel schon her!» rufsverkehr. Die Fahrer in
Chung überreichte Challis den Ausdruck und blickte Jake fragend ihren zweitürigen Minihondas starrten auf die Schnellbahn, die über
an. Challis las dem Einsatzleiter die Adresse vor. Jake zuckte stumm ihnen vorbeirauschte, und hätten die Fahrgäste wohl beneidet, hätten
die Achseln, aber als Challis ausgeredet hatte, sagte sie: sie nicht gewußt, daß man da oben unter Bedingungen reiste, bei de-
nen selbst eine Legehenne Platzangst bekommen hätte. Jake schüt-
«Kriminalsekretär Chung! Bitte nehmen Sie zu Protokoll, daß sich
telte mitleidig den Kopf. Einer der wenigen Vorteile, die ihre asozia-
Kriminalhauptkommissar Challis gegen meinen Rat zu dieser Vor-
le Arbeitszeit mit sich brachte, war, daß die Straßen zu den Zeiten,
gehensweise entschlossen hat. Nach meiner Beurteilung. ..»
zu denen sie zum Yard oder wieder nach Hause fuhr, so gut wie leer
«Zum Teufel mit Ihrer Beurteilung», unterbrach sie Challis. « Für waren.
wen halten Sie sich eigentlich ? Ich bin der Chef der Mordabteilung
Der große Polizei-BMW ordnete sich mit aufröhrendem Motor in
und nicht Sie. Ich gebe die Anweisung, ob wir eine Verhaftung vor-
die gebührenpflichtige Spur ohne Geschwindigkeitsbegrenzung ein.
nehmen oder nicht. Vielleicht verstehen Sie ja etwas von Kriminal-
Eine einheitliche Gebühr von EG $ 100 pro Tag sorgte dafür, daß es
psychologie, Chefinspektorin Jakowicz, aber ich verstehe etwas von
hier kaum andere Fahrzeuge gab als die schnellsten und teuersten
Polizeiarbeit, und ich kann einen Fall zum Zuschlagen erkennen,
deutschen Wagen. Sie fuhren an einer Hochhaussiedlung vorbei,
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dann an noch einer: hoch aufragende Kaninchenställe, an deren «Und was tut er?» «Er steht einfach da.» «Haben Sie keine Infrarot-
schmutzigen Fenstern die Straße so dicht vorbeiführte, daß Jake bei- geräte mit?» «Natürlich haben wir welche, aber er steht im Schat-
nahe die bestrahlten Salatblätter auf den Plastiktellern sehen konnte. ten.» «Vielleicht ist er nur vor die Tür gegangen, um in Ruhe eine
Zigarette zu rauchen», meinte Kriminalinspektor Stanley. «Ich tue
In ein paar Minuten erreichten sie White City, die beiden weißen Be-
das auch manchmal. Vielleicht lebt er mit einem Nichtraucher zu-
tontürme des neuen europäischen Fernsehzentrums, die wie eine
sammen.»
Doppelpackung Toilettenpapier über der Landschaft aufragten und
Jake an die beruhigende Tatsache erinnerten, daß sie wohl nichts «Warten Sie einen Augenblick», sagte der Kommandant und drückte
Sehenswertes in der Nicamvision verpassen würde, egal wie spät sie den Kopfhörer enger ans Ohr. «Einer meiner Jungens sagt, er sei
nach Hause kam. Sekunden später fuhren sie am Untersuchungsge- bewaffnet, anscheinend mit einer Maschinenpistole. Sieht aus, als
fängnis Wormwood Scrubs vorüber, das sich neuerdings über das erwartete er uns.»
ehemalige Krankenhaus von Hammersmith ausgebreitet hatte und
Challis nickte grimmig. «Wahrscheinlich ist die Leiche im Garten so
von einem Niemandsland umgeben war, das aus Suchscheinwerfern
etwas wie ein Köder. Einer von uns soll zur Haustür gehen, um eine
und Stacheldraht bestand.
Verhaftung vorzunehmen, und dann eröffnet er das Feuer.» Challis
Hinter dem Verkehrskreisel an der Hangar Lane bogen sie südlich wandte sich Jake zu. «Na, was halten Sie jetzt von ihm? Ich nehme
nach Ealing ab, und Jake verlor in dem Gewirr ruhiger Vorstadtstra- an, der Armleuchter mit der Maschinenpistole steht da und paßt auf,
ßen neben dem Golfplatz der Honda AG schnell die Orientierung. daß die Gartenzwerge nicht geklaut werden.»
Am Ende einer Straße, die bereits von Sicherheitskräften abgesperrt
«Ich muß zugeben, daß ich das nicht erklären kann», sagte Jake,
war, erwartete sie der Kommandant des Mobilen Einsatzkommandos
«aber ich glaube immer noch, daß wir warten sollten.»
in seiner Flakjacke.
«Worauf?» grinste Challis hämisch und erwartete keine Antwort.
«Wir haben das Anwesen umstellt», sagte er und deutete auf ein
«Können Ihre Männer sich das Ganze etwas näher ansehen, Kom-
großes alleinstehendes Haus, das auf einem Grundstück von fast
mandant?»
1000 Quadratmeter stand. «Meine Jungens haben sich gerade mal
kurz vor Ort orientiert. Anscheinend liegt eine männliche Leiche im «Kein Problem.»
tiefen Gras neben dem Tennisplatz.»
«Wir könnten Scheinwerfer auf die Vorderseite des Hauses richten»,
«Volltreffer», murmelte Challis und warf Jake einen giftigen Blick schlug Jake vor. «Holen Sie einen Lautsprecher.»
zu. «Was hab ich gesagt?» Er nickte zum Haus hinüber. Hinter vor-
«Damit er uns hört und sich da drinnen verbarrikadiert? Auf keinen
gezogenen Vorhängen brannte Licht.
Fall!» sagte Challis. «Ich lasse es nicht auf eine Belagerung ankom-
«Wir haben uns dem Haus noch nicht genähert», sagte der MEK- men. Das letzte, was wir wollen, ist, daß hier auch noch die Presse
Kommandant, der Collingwood hieß. «Aber wir haben ein paar Mi- auftaucht.»
krofone an die Wand vorgeschoben, und anscheinend ist jemand zu
Also nahm Challis doch die Interessen des Innenministeriums wahr,
Hause. Das einzig Komische ist, daß ein Mann vor der Tür steht.»
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dachte Jake. der Wind rauschte in den Bäumen. Nach ein oder zwei Minuten hör-
te man Rufe irgendwo aus dem Garten, und der Kommandant preßte
Inzwischen hatte der MEK-Kommandant das kleine Mikrofon, das
in der affektierten Pose eines Popsängers die Finger an seinen Kopf-
an seinem Helm hing, zum Mund gedreht und den Einsatzbefehl ge-
hörer und stand auf.
geben.
«Alles vorbei», sagte er munter. «Der Mann im Haus wurde festge-
Ein paar Minuten lang war nichts zu hören als das, was in diesem
nommen.»
Teil Londons für Stille galt: Verkehr auf dem Nordkreisel, das über-
steuerte Stereosystem einer Nicamanlage, ein Hund, der das Grund- «Gott sei Dank», sagte Gilmour.
recht seines Besitzers ausübte, ihn so laut bellen zu lassen, wie er
wollte, die idiotische Erkennungsmelodie eines Eiswagens — 2K
«Und was ist mit dem Bewaffneten vor der Haustür geschehen?»
ZKDWDEHDXWLIXOPRUQLQJ²und das Rauschen des Windes im Rho-
fragte Jake.
dodendron. «Er hat das Feuer eröffnet und ist erschossen worden», erklärte der
Kommandant.
Jake atmete schwerer, aber sie konnte immer noch nicht genau sa-
gen, was an der ganzen Situation nicht stimmte. Ein langer schwar- «Tot?» erkundigte sich Gilmour.
zer Mercedes parkte neben den anderen Polizeiwagen ein. Gilmour
Der Kommandant verzog peinlich berührt das Gesicht. «In Fällen,
im Abendanzug stieg aus und streckte den Zeigefinger in Richtung
bei denen es sich um Terroristen handelt, ist der finale Rettungs-
auf Challis aus. Aber was immer es sein mochte, was er zu sagen
schuß üblich. Es sei denn, es sind andere Anweisungen erteilt wor-
hatte, geriet sofort in Vergessenheit.
den.» Er warf Challis einen flehenden Blick zu, als wolle er die Tat-
Das Geräusch einer Maschinenpistole ist gar nicht einfach zu erken- sache bestätigt hören, daß keine derartigen Anweisungen ergangen
nen, zumindest in einer westlichen Vorstadt Londons. Es gibt Leute, waren.
denen das Geräusch so wenig vertraut ist, daß sie es fast immer ei-
«Und wer hat die Operation angeordnet?» Die Miene des Komman-
nem verspäteten oder verfrühten Feuerwerk zuschreiben würden,
danten verfinsterte sich zunehmend. Er zeigte auf Challis.
und in neunundneunzig von hundert Fällen wird sich herausstellen,
daß sie recht hatten. Aber diesmal wußten Jake, Stanley, Challis und «Er da. Will sagen, Kriminalhauptkommissar Challis.» Er griff wie-
der MEK-Kommandant es besser. Instinktiv gingen sie in Deckung, der zum Kopfhörer und wandte sich um. Zwei seiner Beamten
und zwei von ihnen, der Kommandant und Challis, griffen zur Waf- schleppten einen Mann in Handschellen zwischen sich. Gilmour
fe. stellte sich genau vor Challis, als wolle er ihn wie ein französischer
General auf beide Wangen küssen. Aber der Glückwunsch, den er
«Was in Teufels Namen geht da vor sich?» brüllte der Kommandant
aussprach, triefte vor Sarkasmus.
in sein Mikrofon.
«Gut gemacht, Challis, gut gemacht», sagte er mit finsterer Miene.
Ein zweiter, länger andauernder Feuerstoß, und dann wieder Stille.
«Dafür haben Sie eine Medaille verdient. Dafür werde ich sorgen.
Die Nicamvivision grölte weiter, der Hund bellte lauter als je zuvor,
Und ich selbst werde sie Ihnen an die Brust heften. Und zwar mit ei-
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nem gottverdammten Bajonett. Wenn mich nicht alles täuscht, haben Da kommt ihm eine Idee. Er erfindet einen Polizeibericht mit dem
Sie es gerade geschafft, einen unserer eigenen Männer zu erschie- Namen des Mannes, den er umbringen will: eines VMK-Negativen,
ßen. Einen bewaffneten Leibwächter von der Sonderkommission.» Deckname Sokrates, wirklicher Name Martin John Baberton - der
Mann, dessen Leiche in Mr. Bedfords Garten aufgefunden wurde. Er
Challis fiel der Kiefer auf die Brust. «Was? Also das haben wir nicht
erfindet für Baberton die Art von Hintergrund, wie wir ihn suchen,
gewußt. Wen sollte er denn bewachen?»
und macht ihn zum idealen Verdächtigen, dem wir nicht widerstehen
«Ihn», sagte Gilmour. können. Und weil er ein Witzbold ist, fügt er ein paar Details hinzu,
z. B. Mr. Bedfords Privatadresse und sein Bild.»
Die zwei Beamten vom MEK führten den Mann vor, den sie verhaf-
tet hatten; einen fetten, wutschnaubenden Mann, dem nach einem «Was für ein Witzbold!» sagte Gilmour. «Aber wie ist er an Bed-
Schlag mit dem Maschinenpistolenkolben Blut aus Mund und Nase fords Adresse und Bild gekommen? Das möchte ich wissen.»
lief. Das blonde Haar stand zu Berge, und das Hemd war zerrissen,
Cormack kniff die Augen schmerzlich zusammen. «Anscheinend in
aber dennoch war die korpulente Gestalt unverkennbar: der Innen-
unseren eigenen Akten, Herr Polizeidirektor.» «Was?»
minister des Schattenkabinetts, der ehrenwerte Abgeordnete Tony
Bedford. «Sehen Sie, das Europäische Kriminalamt hat eine Datei mit einer
eigenen Personenakte angelegt. Offenbar hat Mr. Bedford ein unbe-
«Sie müssen verstehen, daß ich keine Beweise dafür habe, jedenfalls
deutendes Vorstrafenregister. Es handelt sich um zivilen Ungehor-
keine endgültigen. Einige davon sind nicht viel mehr als plausible
sam im Verlauf der Protestmärsche gegen das Strafkoma vor ein
Vermutungen, die Kriminalsekretär Chung und ich hegen. Es wird
paar Jahren. Er ist verhaftet worden, weil er einen Polizisten bei der
wohl auch ein wenig dauern, bis wir das alles in den offiziellen Be-
Ausübung seiner Dienstpflichten behindert hat.» Cormack zog ent-
richt einbauen können...»
schuldigend die Schultern hoch. «Wittgenstein brauchte nichts zu
Ein wenig später - Challis war bis zur Klärung der gegen ihn erho- tun, als unserem Computer die Anweisung zu geben, einige Details
benen Vorwürfe vom Dienst suspendiert - versuchte Inspektor Cor- über Mr. Bedford in die Akte Martin John Baberton zu kopieren, die
mack von der Abteilung für Computerverbrechen Gilmour, Jake und Akte des Toten.» «Das ist nicht der einzige, der erledigt ist», sagte
Stanley in Gilmours Büro die Ereignisse zu erklären. Gilmour mit unheilverkündender Stimme. «Wie bitte?»
«Machen Sie weiter, Cormack», knurrte Gilmour, «und versuchen «Nichts. Was hat er dann getan?»
Sie, sich einfach und verständlich auszudrücken.»
«Nun, nachdem er sein Opfer getötet und die Leiche in Mr. Bedfords
«Also, Herr Polizeidirektor, es geht um folgendes», erklärte Cor- Garten gelegt hat - wir nehmen jedenfalls an, daß er das zuerst getan
mack. «Wittgenstein muß sich zum Polizeicomputer in Kidlington hat -, mußte Wittgenstein Babertons Namenals VMK-Negativen im
durchgehackt haben. Vielleicht wollte er ja eine Nachricht für die Lombrosoprogramm aktivieren. Dazu brauchte er bloß Babertons
Frau Chefinspektor hinterlassen. Wo er schon einmal da ist, be- Namen und Telefonnummer verhältnismäßig weit vorn in Chungs
schließt er, sich das System von innen anzusehen, und entdeckt Zufallsprogramm einzufügen. Hätte es jemand überprüft, so hätte er
Chungs Programm mit seinen Zufallsnamen und Zufallsnummern. festgestellt, daß die verwendete Adresse nur mit der Adresse in der
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Lombrosodatei übereinstimmte und nicht mit der in dem gefälschten Zeitlang schweigend sitzen. Dann fragte Kriminalinspektor Stanley
Bericht im Polizeicomputer, der Mr. Bedfords Adresse enthielt. Er den Polizeidirektor, was Challis erwarte. Gilmours Zeigefinger gab
hätte wohl gedacht, die Adresse in der Lombrosodatei sei veraltet. die ausdrucksvolle Darstellung eines Messers zum besten, das über
Natürlich gab es auch keine Handakte über einen Martin John Ba- eine Kehle streicht. Schweigend schüttelte er den Kopf.
berton: noch eine Unstimmigkeit. Und wenn Baberton vorbestraft
«Mir bleibt keine Wahl», erklärte er. «Natürlich muß eine formelle
gewesen wäre, als er den Lombrosotest machte, hätte man das an
Untersuchung stattfinden. Aber von dem ausgehend, was Cormack
seinem Personalausweis ablesen können.»
mir gerade berichtet hat, steht der Ausgang fest. Schade um Challis,
Gilmour nickte mit ernster Miene. «Warum nehmen Sie an, Witt- er war ein guter Bulle.»
genstein habe sich mit der Absicht in unseren Computer eingeschal-
Jake nickte, auch wenn sie Gilmours Einschätzung der kriminalisti-
tet, eine Nachricht für die Chefinspektorin zu hinterlassen?»
schen Fähigkeiten von Challis nicht teilte.
«Nun, angesichts der bisherigen Ereignisse...», sagte Cormack. Da
«Diese Diskette da», sagte Gilmour, «haben Sie sie dabei?» «Ich ha-
Gilmour keine Reaktion zeigte, fuhr er fort: «Wie ich gehört habe,
be eine Kopie anfertigen lassen», sagte Jake. «Das Original ist noch
soll er eine Diskette für Chefinspektorin Jakowicz im Mund des To-
im Laboratorium. Sie untersuchen es auf alles, was die Wissenschaft
ten hinterlassen haben.»
je erfunden hat: Fingerabdrücke, Stimmbild, Akzentanalyse, Hinter-
«Wer hat Ihnen das erzählt?» grundgeräusche, atmosphärische Adhäsion. Bisher kein Ergebnis.
Die Diskette selbst gehört zu einem Satz von Leerdisketten der Fir-
«Kriminalsekretär Chung.»
ma Sony, die an einen Elektroeinzelhändler in der Tottenham Court
«Das hätte er nicht tun sollen. Die Presse ist so schon hinter uns her. Road ausgeliefert wurden. Er verkauft zehn Packungen dieser Marke
Wenn sie herauskriegen, daß der Mörder Kontakt mit uns aufge- pro Woche.»
nommen hat, finden wir nie wieder Ruhe. Also halten Sie den Mund,
«Und der Tote? Was ist mit dem?»
verstanden?»
«Sechs Schüsse in den Hinterkopf, wie gehabt. Nach dem Laborato-
«Jawohl!»
riumsbefund muß er in Bedfords Garten getötet worden sein. Er war
«Noch eine Frage, dann können Sie gehen. Auf der Grundlage Ihrer bis zum Hals voll Wodka, und wir nehmen an, daß Wittgenstein ihn
Annahme über die Entstehung dieses unerfreulichen Lecks in unse- getroffen und angesprochen hat. Er hat ihn wohl mit dem Verspre-
rem Datenschutzsystem, sind Sie zu dem Schluß gekommen, daß die chen in Bedfords Garten gelockt, daß es dort zum Geschlechtsver-
anschließende Operation voreilig war?» kehr kommen werde. Baberton war homosexuell. Es gibt eine be-
kannte Schwulenbar in Chiswick, in der er Stammgast war. Wir ver-
Cormack nickte. «Äußerst voreilig.»
suchen noch, jemanden zu finden, der Baberton am Abend seines
Gilmour lächelte bösartig. «Danke, Inspektor. Das genügt.» Todes gesehen hat und uns sagen kann, ob er allein oder in Beglei-
tung war.»
Nachdem Cormack gegangen war, blieben die anderen eine

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«Halten Sie mich diesbezüglich auf dem laufenden.» Er wies mit chung besteht. Hier bin ich nicht sicher vor der Liebe, die ihren Na-
dem Kinn auf das Abspielgerät, das Jake im Schoß hielt. men nicht zu nennen wagt.
Jake schob die Minidiskette in das Gerät. Nur Tatsachen können einen Sinn ausdrücken, eine Klasse von Na-
men kann es nicht.
«Das Material zerfällt in zwei Teile», sagte sie. «Jeweils ein Text
auf den beiden Plattenseiten. Der erste Teil ist so etwas wie eine Im Jahrmarkt in Chiswick...»
plumpe axiomatische Parodie auf Ludwig Wittgensteins philosophi-
sches Hauptwerk, den 7UDFWDWXVDie zweite Hälfte... nun, das müs-
Jake drückte auf den Pausenknopf. « Die Schwulenbar in Chiswick»,
sagte sie. «Sie heißt Jahrmarkt.» Sie drückte wieder auf den Knopf.
sen Sie selbst beurteilen.» Sie drückte auf den Startknopf.
«... gibt es ein Karussell, auf dem all die jungen Schwulen darauf
«Wie Moses und sein Bruder Aaron trage ich einen Stab. Ich trage
warten, daß man sie anspricht. Sie sitzen auf den Pferden und flirten
ihn, wohin auch immer ich gehe, und betrachte ihn als etwas Ähnli-
unverschämt mit den männlichen Zuschauern. Ein Junge warf mir
ches wie meinen Penis: ständig steif, bereit zur Liebe. Aber manch-
einen auffordernden Blick zu. Erfuhr immer im Kreis herum, und ich
mal stellt er auch mein Gewissen dar, denn gelegentlich kommt er
sah ihm zu. In gewisser Hinsicht waren sie alle einer.
mir abhanden.
Ich nahm ihn mit in mein Zimmer in Eahng. Ich gab ihm all mein
Zehn meiner Brüder sind tot. Und ich denke oft an den Tod. Ich ha-
Geld. Geld ist für mich kein Problem. Meine Verwandten, denen ich
be seit Jahren darüber nachgedacht.
all meinen Besitz übergeben habe, schicken mir Geld, wenn ich wel-
Der Tod ist die Gesamtheit des Nichts, das Gegenteil dessen, was ches brauche. Besitz ist für mich ein Gegenstand des Abscheus.
die Welt ist. Er wird von einer Verbindung von Gegenständen (Sa-
Hier entspricht der schwankende Gebrauch des Wortes <Gegen-
chen, Dingen) bestimmt. Das Grab ist ein gar feiner Ort, doch gibt es
stand> dem schwankenden Gebrauch der Worte <Besitz> und
keine Liebe dort. Nur die Jungens von Chiswick halten mich logico-
<Verwandter>.
hilosophicus.
Ich stellte mir vor, wie wir beide beieinanderlagen. Es war ein be-
Worüber wir nicht sprechen können, darüber müssen wir wie beim
eindruckendes Bild, auch wenn es schwer war, eine Form von der
Vorbeiziehen des Todesengels schweigen.
anderen zu unterscheiden. Die Form der Abbildung ist die Möglich-
Wir sprechen nie miteinander. Gespräche sind zu gefährlich. Die keit, daß sich die Dinge so zueinander verhalten wie die Elemente
Jungens sind zu rauh, zu plump. Ein paar davon sind praktisch An- des Bildes.
alphabeten. Wir kennen keine Namen, nur den brutalen selbstsüchti-
Einen glorreichen Augenblick lang konnte ich mein eigenes Sein
gen Genuß an einem Mitmenschen, der zum Gegenstand wird.
überschreiten. Ich war kein Teil der Welt mehr. Ich stand an den
Um einen Gegenstand zu kennen, muß ich zwar nicht seine H[WHUQHQ Grenzen der Welt, so daß ich fast etwas Metaphysisches war. Die
aber ich muß alle seine LQWHUQHQEigenschaften kennen. Sprache und ihre Grenzen hindern mich daran, mehr zu sagen.
Ich sollte fortgehen, irgendwohin, wo es ruhig ist und keine Versu- Diese Bemerkung gibt den Schlüssel zur Entscheidung der Frage,
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inwieweit der Solipsismus eine Wahrheit ist. mal vorstellen, daß ein Professor für Psychiatrie nützlicher wäre.
Was meinen Sie, Stanley?»
Mein eigenes verderbtes Verhalten, die Intimität, die ich mit diesem
jungen Fremden als Bestätigung meiner Einsamkeit teilte, ekelt mich Stanley lächelte und zuckte unentschieden die Achseln.
an. Aber ZLHdie Welt ist, ist für das Höhere vollkommen gleichgül-
tig. Gott offenbart sich nicht LQder Welt.
«Klingt so, als könne der Typ ein warmer Bruder sein?»
Jake zuckte bei dem Ausdruck «warmer Bruder» zusammen.
Ich ward in die tiefsten Tiefen der Hölle geschleudert. Ich stinke
nach meinen eigenen verworfenen Gedanken, und verzweifelt, wie «Ich habe nicht viel für diesen Ausdruck übrig, Herr Polizeidirek-
ich bin, will ich diesem ekelhaften Bild entrinnen. Also nehme ich tor», sagte sie. «Aber wo wir schon davon sprechen, er könnte gut
den Jungen mit in den Garten, um ihn zu töten. Als er die Pistole homosexuell sein. Der Mord an seinen Brüdern, wie er die anderen
sieht, scheint er etwas sagen zu wollen. Dann überlegt er es sich und VMK-Negativen nennt, könnte seine Art der Sublimierung homose-
lacht nur. xueller Neigungen sein. Vielleicht will er uns aber auch auf eine fal-
sche Fährte locken, damit wir unsere Zeit damit verschwenden,
Zu einer Antwort, die man nicht aussprechen kann, kann man auch
Nachforschungen in der Homoszene anzustellen. Wie in den anderen
die Frage nicht aussprechen.
Fällen auch liegen keinerlei Anzeichen für sexuelle Handlungen an
Und so spricht schweigend meine Pistole für mich.» dem Toten vor. Überhaupt keine.»
«Mein Gott», flüsterte Gilmour nach ein paar Sekunden. Und dann: «Übrigens hat es einige Diskussionen über die Einstellung des ech-
«Ist das alles?» ten Wittgenstein zur Sexualität gegeben. Zwar haben ein paar Bio-
graphen mehr oder weniger sensationslüsterne Theorien aufgestellt,
«Seite eins», sagte Jake, zog die Diskette aus dem Gerät und drehte
denen zufolge er ein aktiver Homosexueller gewesen sein soll, aber
sie um, um die andere Hälfte der Aufnahme des Mörders abzuspie-
auch dafür gibt es so gut wie keine Beweise.»
len.
Gilmour setzte ein ungemütliches Lächeln auf. «Wollen wir uns jetzt
«Mein Gott», wiederholte Gilmour. «Das ist ja wohl ein echter Fall
die zweite Seite anhören?» fragte Jake und stellte den Apparat wie-
für die Klapsmühle.» Er sah Kriminalinspektor Stanley an, als suche
der an.
er nach Bestätigung für seine Analyse.
«Seien Sie gegrüßt, Polizistin. Habe Ihre Fernsehschau letzten
«Das klingt allerdings so», stimmte der zu.
Abend mitgekriegt. Danke für die freundliche Anteilnahme an mei-
«Hat sich Professor Waring das angehört?» ner geistigen Gesundheit und meinen Chancen in einer Vorverhand-
lung. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.
«Ja, das hat er», sagte Jake. «Er hat mir vorgeschlagen, mich von ei-
nem Experten beraten zu lassen, einem Professor für Moralphiloso- Ich habe bereits sorgfältig über meine Verteidigung für den unwahr-
phie an der Universität Cambridge.» scheinlichen, aber dennoch logisch möglichen Fall nachgedacht, daß
ich verhaftet werden sollte.
«Wenn ich mir die Aufnahme anhöre, kann ich mir verdammt noch
183 184
Ich bin sicher, daß ich die Bedingungen über Schuldunfähigkeit er- daß für eine von Sparmaßnahmen besessene Verwaltung die Einker-
füllen und erfolgreich auf Freispruch wegen Unzurechnungsfähig- kerung von Gewaltverbrechern als ein Ziel allenfalls zweiter Ord-
keit plädieren könnte. Sie sollten daran denken, daß ich behaupten nung gilt. In Nachahmung dieses amtlichen Beispiels fühle ich mich
werde, es sei eben der Lombrosotest selbst gewesen, der mein ohne- aufgefordert, sie selbst auf humane und wirksame Weise zu töten
hin labiles geistiges Gleichgewicht endgültig gestört habe. Zugleich und dabei die Gesellschaft so wenig wie möglich zu belästigen.»
werde ich höchstwahrscheinlich eine zivilrechtliche Schadensersatz-
Wittgenstein gestattete sich ein leises Lachen.
klage mit der Begründung anstrengen, daß in meinem Falle die
Sorgfaltspflicht gröblich verletzt worden ist, da vernünftigerweise «Hören Sie, Polizistin, Sie sollten sich eigentlich nicht bemühen,
vorhersehbar war, daß ich als Ergebnis der Überprüfung einen mich zur Strecke zu bringen, sondern mir dankbar sein. Denken Sie
Schock erleiden würde. Wenn die ganze Geschichte vorbei ist und doch einmal daran, wie viele meiner Brüder zu Frauenmördern hät-
der Zusammenhang zwischen dem Lombrosoprogramm und diesen ten werden können. Zukünftige mordlustige Frauenjäger. Das ist
Morden öffentlich bekannt wird, werden vermutlich zahlreiche Fa- doch Ihr Ressort, oder etwa nicht, Polizistin? Senenmorde an Frau-
milien der Opfer auf die Idee kommen, eine gemeinsame Schadens- en? Jedenfalls steht es so in der Zeitung, und wir glauben doch im-
ersatzklage gegen das Institut für Gehirnforschung anzustrengen. mer alles, was wir da lesen, nicht wahr? So etwa an den verzweifel-
Aber das ist eine andere Frage.» ten Überlebenskampf des armen Mayhew im Krankenhaus?»
Die Stimme klang kühl und beherrscht und war völlig akzentfrei, so Er lachte wieder.
wie Tony Chen sie beschrieben hatte: «wie ein Nachrichtensprecher
«Jedenfalls sollten Sie sich fragen, wie viele Leben auf Kosten der
am Radio». Allerdings war sie fast zu gleichmäßig. Sie wies keine
wenigen, die bereits geopfert wurden, gerettet worden sind. Ist das
Modulation, keinen Ausdruck, keine rhythmische Betonung, keine
nicht einfach eine Form militaristischer Ethik?
phonetischen Idiosynkrasien auf, die auf einen regionalen Ursprung
hätten schließen lassen. Jake überfiel beim erneuten Zuhören ein Sie haben mich herausgefordert, Polizistin, mich aufgefordert, mit
leichter Schauder. Ihnen zu kommunizieren. Das habe ich nunmehr getan. Möglicher-
weise wird Ihnen die Botschaft oder doch ihr erster Teil sowohl in
«Ihre Andeutung, meine Brüder seien unschuldig gewesen, wurde,
semantischer wie in syntaktischer Hinsicht nicht besonders gefallen.
wie Sie es wohl erwartet haben, meinerseits als irritierend empfun-
Sicher hätten Sie es vorgezogen, wenn ich offensichtlich ein Verbre-
den. In Wirklichkeit versorge ich die Öffentlichkeit mit einer wert-
cher gewesen wäre. Und natürlich, wenn ich ein paar Spuren hinter-
vollen Dienstleistung. Sehen Sie, das sind doch alles potentiell ge-
lassen hätte, die es Ihnen erlauben würden, mich aufzustöbern. Tut
fährliche Männer, die man nicht einfach ihren eigenen Plänen über-
mir leid. Nächstes Mal werde ich mir mehr Mühe geben. Erwarten
lassen darf. Die logische Folgerung aus ihrer Identifizierung sollte
Sie meinen Anruf demnächst. Ich werde Ihnen mitteilen, wo Sie die
wohl zumindest eine Art von Schutzhaft sein. Aber seit sich auf sei-
nächste Leiche finden. Und vielen Dank. So macht das Ganze viel
len der Gesetzeshüter die offizielle Empfehlung des gezielten Todes-
mehr Spaß.
schusses durchgesetzt hat und die Verhängung des Strafkomas den
Grundpfeiler der Strafrechtstheorie ausmacht, hat sich herausgestellt, Ehrlich gesagt, es fing an langweilig zu werden, daß ich tagaus, tag-

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ein nichts anderes tat, als Brüder hinzurichten. per vorbei und ließ sich in ihren Stuhl fallen. Sie fühlte, wie ihr das
Blut ins Gesicht stieg.
Bis dahin empfehle ich Ihnen, Ihre Gedanken zu schärfen und sorg-
fältig auf die Grammatik dessen zu achten, was Sie mir sagen wer- «Und was für eine Rolle spiele ich dabei? Ich bin nicht Ihr ver-
den. Denken Sie daran, wenn es zu einer echten Kommunikation dammtes Kindermädchen!»
kommt, werde ich für die Philosophie zuständig sein. Seien Sie be-
Crawshaw trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. Jake seufz-
reit! Mit blutigen Grüßen Ihr Ludwig Wittgenstein.»
te und schloß die Augen.
Jake schaltete das Wiedergabegerät ab.
«Es tut mir leid, Ed», sagte sie. «Es geht um diesen anderen Fall. Ich
«Also», sagte Gilmour, «ich habe noch nie etwas Ähnliches gehört.» bin völlig erschöpft. Setzen Sie sich!» Sie zeigte auf den Stuhl auf
der anderen Seite des Schreibtischs.
«Es ist recht ungewöhnlich», gab Jake zu. «Aber die Allmachtphan-
tasien des Täters, das Gefühl, unbesiegbar zu sein, ist in Fällen, in Er setzte sich, öffnete den Mund und wollte anheben zu sprechen,
denen ein Serientäter Kontakt mit der Polizei aufnimmt, durchaus aber Jake unterbrach ihn.
typisch. Das ist etwas, womit ich mich auskenne. Selbst Jack the
«Nein», sagte sie, «sagen Sie einen Moment lang gar nichts. Lassen
Ripper neigte dazu, der Polizei mitzuteilen, er wisse genau, daß sie
Sie mich nur erst den Kopf klar bekommen.»
ihn nicht erwischen würde. In diesem Punkt entsprach er genau dem
Normaltyp.» Crawshaw nickte, lockerte den Gürtel und lehnte sich bequem in den
Sessel.
Gilmour nickte ihr zustimmend zu. «Ich bin sicher, daß Sie wissen,
was Sie tun, Jake», sagte er. Jake öffnete ihre Handtasche, holte einen kleinen Taschenspiegel
heraus und überprüfte ihr Make-up, als wolle sie sich selbst mensch-
Obwohl Jake wußte, daß das, was sie sagte, zutreffend war, hatte die
licher machen. Ihre Augen waren blutunterlaufen, und ihre Frisur
körperlose Stimme des Mörders ihr Selbstbewußtsein erschüttert. Sie
war eine Katastrophe. Die Haarspitzen waren gespalten wie Bam-
hatte eine gewisse Logik erkannt, wenn er von der Notwendigkeit
buszweige. Sie konnte sich kaum erinnern, wann sie das letzte Mal
sprach, die anderen VMK-Negativen auszuschalten. Hatte sie nicht
beim Friseur gewesen war. Zugleich beobachtete sie Crawshaw aus
selbst so etwas gesagt?
dem Augenwinkel und bemerkte, daß er zugenommen hatte. Sein
Als Jake ins Büro zurückkam, traf sie Ed Crawshaw, der an ihrem grauer Anzug saß ein wenig zu knapp, dachte sie. Er war immer ein
Schreibtisch saß und eine Notiz schrieb. Als Jake hereinkam, zer- kräftiger Mann gewesen, aber jetzt erkannte sie die Anlage, ein fetter
knüllte er den Zettel töricht lächelnd in der Hand und stand auf. Mann zu werden. Der ölige Teint des rothaarigen Beamten verstärk-
te den Eindruck. Er verbrachte zuviel Zeit im Büro und ernährte sich
«Ich weiß, daß Sie mit dem anderen Fall beschäftigt sind», sagte er,
wahrscheinlich nicht richtig: die falschen Nahrungsmittel zur fal-
«aber ich dachte, vielleicht wollten Sie wissen, daß wir im Fall Mary
schen Tageszeit. Im Yard konnte man leicht außer Fasson geraten.
Woolnoth eine Spur haben.»
Für Jake war es ein Glücksfall, daß Essen sie nicht sehr interessierte.
Jake schloß die Tür, zwängte sich an Ed Crawshaws massigem Kör-
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Sie fand ihren Lippenstift und dachte an die rote Inschrift auf dem «Das wird nicht einfach sein», sagte Crawshaw. «Das Zeug ist nichts
Bauch der toten Mary Woolnoth, während sie ihre Mundwinkel Besonderes. Schließlich ist ein Olivenöl wie das andere, oder etwa
nachzog. Schließlich fragte sie, immer noch auf das wachsrote Ende nicht?»
des Lippenstifts blickend: «Also, was für eine Spur haben wir, Ed?»
Jake lächelte. «Das mag schon sein, aber versuchen Sie es eben. Üb-
Crawshaw öffnete die Aktenmappe, die er auf dem Schoß hielt, zog rigens, wie läuft die Operation <Goldener Apfel>, die in der Buch-
ein Blatt gelbes Papier heraus und schob es über die Tischplatte. handlung?»
«Detaillierter Laboratoriumsbericht über die Kleidung der Toten.
«Bisher hat noch keiner angebissen.»
Am Jackenkragen wurden schwache Spuren von Olivenöl gefunden.
Ihre Mutter sagt, Mary habe immer sehr auf ihre Kleidung geachtet. «Ihr könntet euch einmal ihr Sortiment ansehen», schlug sie vor.
Sie gab eine Menge Geld dafür aus und brachte die Sachen regelmä- «Vielleicht hat ein Mörder mit Fettfingern ein paar Fingerabdrücke
ßig zur Reinigung. Also hat sie die Flecken wahrscheinlich nicht in einem Buch hinterlassen.» Crawshaw nickte. «Sonst noch etwas?»
selbst gemacht. Das Olivenöl auf den Kragenumschlägen könnte be-
«Ehm, nein.» Crawshaw blieb sitzen und schüttelte unsicher den
deuten, daß der Mörder sie festgehalten hat. Auf der Kleidung eines
Kopf. «Oder doch: Ein paar von den Jungens sind neugierig, was aus
anderen Opfers hat man Spuren vom gleichen Olivenöl gefunden.»
dem alten Giftzwerg wird. Entschuldigung, aus Hauptkommissar
Jake überflog das Blatt. Challis.»
«Kalt gepreßtes Olivenöl aus der Toskana», las sie. «Olio di Olivia « Hauptkommissar Challis ist für den Zeitraum der Untersuchung
Extra Vergine, sehr interessant. Also suchen wir möglicherweise...» bei vollem Gehalt vom Dienst suspendiert. Mehr darf ich Ihnen nicht
erzählen, Ed.»
«... nach einem Itaker», grinste Crawshaw. Er schüttelte den Kopf,
um zu zeigen, daß er einen Witz machte. «Wir suchen jemanden, der «Bei vollem Gehalt? Schade. Sie hätten ihn besser an einem Flei-
Pizza mit den Fingern ißt. Oder vielleicht jemanden, der Pizza scherhaken aufhängen sollen. Man sagt, der Giftzwerg sei durch sei-
backt.» ne Unfähigkeit daran schuld, daß ein Polizist umgekommen ist.»
«Oder irgend jemanden, der irgend etwas mit Lebensmittelzuberei- «Das muß die Untersuchung feststellen», sagte Jake energisch.
tung zu tun hat», sagte Jake. «Ich glaube, ich habe auch italienisches
«Wird wohl so sein.» Crawshaw schlug sich auf die Schenkel und
Olivenöl in der Küche.»
stand auf. «Wie läuft es denn sonst? Ich meine, in diesem anderen
Und das war wahrscheinlich alles, was in der Küche war, dachte sie. Fall. Machen Sie Fortschritte?»
In ihrer Küche fanden sich die modernsten Küchenmaschinen, aber
«Ein wenig.»
recht wenig Lebensmittel. Irgendwie war der Supermarkt am Abend
nie lange genug geöffnet. «Brauchen Sie Hilfe?»
Sie schob ihm das Papier wieder zu. «Probieren Sie doch mal, ob wir «Danke für das Angebot, Ed, aber nein. Was ich jetzt gerade brau-
einen bestimmten Händler für das Olivenöl finden können.» chen könnte, wäre ein zahmer Philosoph.»
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]RSKUHQHQ ,Q HLQHP $XJHQEOLFN NlPSIW HU JHJHQ GHQ :HKNRPPX JAKEFUHR ALLEIN NACH CAMBRIDGE und genoß die zwei-
QLVPXVLPQlFKVWHQLVWHUQLFKWVZHLWHUDOVHLQ7\SGHULPVFKPXW stündige Fahrt. Sie hörte sich unterwegs Rachmaninows zweites
]LJHQ6FKODIDQ]XJDXIHLQHPQDVVHQ%HWWOLHJW Klavierkonzert auf CD an und beschloß, sich die Software zum Mit-
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spielen für ihr Klavier zu Hause zu kaufen. Sie hatte das melancholi-
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sche Produkt einer Schlafkur des Komponisten schon immer als ein
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Hilfsmittel zum Verständnis depressiver Stimmungen empfunden.
JQJHQVFKLOGHUWHDP*HQIHU6HHDP)HQVWHU]XVLW]HQXQGGHQJDQ Später hielt sie vor einer kleinen Teestube in Grantchester an, nur
]HQ 7DJ ]X OHVHQ ©ZLH GDV %LOG HLQHV /HVHQGHQ DP )HQVWHUª :LH um festzustellen, daß sie geschlossen hatte. Also blieb sie im Auto
GDV%LOGHLQHV/HVHQGHQDP)HQVWHUGDVLVWHLQKHUUOLFKHUDOOHVRI sitzen, rauchte gedankenverloren eine Zigarette, sah zu, wie die
IHQEDUHQGHU6DW]XQGVHKUW\SLVFKIUGHQ9HUVXFKGHU5RPDQWLNHU Scheiben beschlugen, und hörte sich noch einmal die berühmten acht
VLFKVHOEVW]XHQWIOLHKHQ(UEHVFKZ|UWGDVEHUZlOWLJHQGH%LOGHLQHV Akkorde an, die das Moderato einleiten.
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VRQGHUQVLFKLQGDV(XFKYHUORUHQKDWQLFKWVPHKUYRQGHUSK\VLND
Es war seltsam, nach so vielen Jahren wieder heimzukehren, seltsa-
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mer, als sie je gedacht hätte.
QLFKWHLQPDOYRQGHP$XJHXQGGHP*HVLFKWVIHOGGDVGLHJHGUXFN Bis Jakes BMW in die Einfahrt des Parkhochhauses für Kurzparker
WHQ,QIRUPDWLRQHQDQGDV*HKLUQZHLWHUOHLWHW2KQH%XFKELQLFKDQ glitt, war es beinahe zwölf. Sie rollte die Sonnenblende an der
GLH(UGHJHIHVVHOW:HQQLFKOHVHELQLFKGHUBefreite Prometheus. Windschutzscheibe ein und überprüfte sorgfältig wie immer ihr

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Make-up im Beifahrerspiegel. «Master», hörte sie ihn sagen, «es gibt da eine Dame, sie zu treffen.
Soll ich sie an Ihre Tür begleiten?» Er lauschte der Stimme am ande-
Vom Ausgang an der Corn Exchange Street hätte der Weg sie nach
ren Ende aufmerksam und nickte. «Klare Sache. Alles Paletti.»
Osten über Guildhall Place und Market Hill führen sollen, doch die
Macht der Gewohnheit lenkte ihre Schritte die Wheeler Street hinauf Dann kam er hinter seiner Theke hervor, begleitete Jake die Stufen
zur Kings Parade und den Türmchen und Zinnen der Kapelle ihres hinab in den Hof und deutete auf ein efeuüberwuchertes Gebäude
alten College. auf der anderen Seite.
Beim Anblick der magnesiumweißen Kalksteinwand erwachte die «Sehen Sie jenes Gebäude dort?»
Erinnerung an die andere Frau, die sie einmal gewesen war, wie ein
Jake sagte, sie sehe es.
Krake, der lange in der Tiefe geschlummert hat. Es regnete wie im-
mer, aber nach der Dürre von London fühlte sich das gut an. Der «Masters Haushälterin wird Sie an der Tür begrüßen», erklärte er.
rauhe Südwind, der aus den nahen «Kapiert, junge Dame?»
Fenns in die Stadt hinabwehte, kühlte die alte Marktstadt ab. Jake Jake sagte, sie habe kapiert, und der Mann kehrte in seine Loge zu-
hatte keine Lust, länger zu verweilen. Statt dessen wandte sie sich rück.
gegen den Wind und ließ mit energischen Schritten ihre Vergangen-
Als Jake den Hof überquerte, schlug die Turmuhr mit vertraut bise-
heit hinter sich, zusammen mit den Freunden, die sie einst gehabt
xuellem Klang zwölf. Jake war entschlossen, keine Sentimentalität
hatte, und den Bekannten, die sie für Freunde gehalten hatte.
aufkommen zu lassen, aber sie konnte die Erinnerungen an alte Zei-
Jake gab sich Mühe, den neogotischen rosa Granitturm des Yamaha ten nicht unterdrücken: damals, als sie das erste Mal versucht hatte,
College zu übersehen, der den Platz der alten Kirche von Great St. ihrer eigenen männlichen und zugleich weiblichen Stimme zu lau-
Marys eingenommen hatte. Die Kirche war um die Jahrhundertwen- schen; damals, als sie ihre ersten sexuellen Erfahrungen mit einer
de einem Brand zum Opfer gefallen. Frau namens Faith machte; damals, als Faith den Kopf zwischen Ja-
kes nackte Schenkel geschoben und den - erfolglosen - Versuch ge-
Sie eilte die Trinity Street entlang und betrat Trinity College durch
macht hatte, sie in den dreiundvierzig Sekunden zum Orgasmus zu
das Hauptportal. Dann meldete sie sich an der Portiersloge und in-
bringen, die die geschwätzige Uhr brauchte, um zwölf zu schlagen,
formierte einen Chinesen mit Melone, der sie an Charlie Chan erin-
während draußen auf dem Hof arme törichte Schuljungen voll von
nerte, daß sie mit dem College Master verabredet war.
Wichtigtuerei und Ehrgefühl spielten.
Der Mann überflog mit aufmerksamem Blick die Besucherliste,
Sie klopfte an die niedrige, verglaste Tür mit der eingelassenen Fen-
nickte kurz, griff zum Telefon, gab eine Nummer ein und meldete
sterscheibe und dem blankpolierten Briefkasten. Auch drinnen sah
Jakes Eintreffen mit einem Akzent, der Henry Higgins in Verwir-
die Wohnung des Masters adrett und blank geputzt aus, und die
rung gestürzt hätte: einer Mischung aus dem harten Dialekt des
Frau, die ihr die Tür öffnete, nahm sich kaum die Zeit, sie ins
Hochmoors, kultiviertem Eton-Englisch und dem Pidgin orientali-
Wohnzimmer zu führen und ihr mitzuteilen, daß der Herr des Hau-
scher Basare.
ses gerade telefonierte, bevor sie wieder davonstürmte, um irgendwo
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anders irgend etwas anderes blank zu putzen. führt und bei der Lösung des Falles auf mathematische Lehrsätze der
pythagoreischen Schule zurückgegriffen hatte. Unbeabsichtigt hatte
Jake trat an das Panoramafenster, und der Anblick des Flusses erin-
er dabei seinen jugendlichen Auftraggeber beleidigt, der ihn darauf-
nerte sie an einen üblen Streich, den ein Schurke ihr und ihrer
hin in die Sklaverei verkaufte.
Freundin Faith gespielt hatte, als sie ihr Boot unter der Brücke über
die Cam hindurchstakten. Der Schuft hatte einen Fußball so ange- Gut, daß die Londoner Polizei gewerkschaftlich organisiert war,
malt, daß er wie einer der steinernen Brückenknäufe aussah, und hat- dachte Jake. Wie zu Platons Zeiten waren es auch heute wenige, die
te das tödlich wirkende Geschoß mit großer vorgespielter Anstren- die Wahrheit wirklich zu schätzen wußten. Wahrheit bedeutete ein
gung in ihr Boot rollen lassen. Erschreckt waren Jake und Faith in Gerichtsverfahren, und das wußte niemand außer den Anwälten zu
den Fluß gesprungen und klatschnaß wieder aufgetaucht. Faith - schätzen; gewiß nicht der Mörder und auch nicht die Familien seiner
heute war sie Professorin für Englische Literatur an der Universität Opfer, die häufig dazu neigten, die Ermittlungen als einen unange-
Glasgow - war es gewesen, die der Angelegenheit eine humoristi- messenen Einbruch in ihr Privatleben zu betrachten. Man sagt, Ge-
sche Seite abgewinnen konnte. Faith konnte allem eine humoristi- rechtigkeit müsse nicht nur herrschen, man müsse sie auch herrschen
sche Seite abgewinnen, bis auf eine wichtige Ausnahme: Faith hatte sehen. Aber
es überhaupt nicht komisch gefunden, als Jake sich vom energisch
Jake hegte Zweifel daran. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, daß die
und schockierend proklamierten Lesbentum ihrer Freundin dazu an-
meisten Menschen es lieber sehen, wenn alles unter den Teppich ge-
regen ließ, ihrem Vater zu erzählen, sie selbst sei lesbisch.
kehrt wird. Niemanden regte es groß auf, wenn ein Unschuldiger ins
Es hatte sich um reinen Sadismus gehandelt, und Jake hatte zusätzli- Gefängnis kam oder ein Terrorist in dem Moment erschossen wurde,
che Befriedigung aus dem doppelten Wissen gewonnen, daß es nicht in dem er sich ergeben wollte. Niemand dankte es einem, wenn man
stimmte und daß ihr Vater im Sterben lag. Beweise gegen jemanden sammelte und dann auf einer Verhandlung
bestand. Wie Platon bei Jameson Lang zu Dionysios sagte: «Nicht
Jake verbannte diese und andere Erinnerungen aus dem Bewußtsein
jede Wahrheit ist wohltönend wie der Gesang der Vögel, nicht jede
und wärmte ihre Hände am lodernden Kaminfeuer. Dann warf sie
Entdeckung findet den Beifall der Uneingeweihten, nicht jedes Licht
einen Blick auf die Bücher in den Regalen des Masters. Ein paar hat-
wird im Reich der Schatten begrüßt.» Was immer man auch von sei-
te er selbst geschrieben, eines davon hatte Jake sogar gelesen.
nem Prosastil halten mochte, die Aussage war nicht falsch.
Sir Jameson Lang hatte zwar seit zehn Jahren in Cambridge Philoso-
Der College Master betrat den Raum und entschuldigte sich für die
phievorlesungen gehalten, aber einem breiteren Publikum war er
Verspätung: Der Verlagslektor hatte noch ein paar Fragen zu seinem
hauptsächlich als Autor einer höchst erfolgreichen Reihe von Krimi-
neuesten Buch gehabt, das soeben in Druck gehen sollte. Jake fragte
nalromanen bekannt. Den ersten in der Serie hatte Jake gelesen. Er
ihn, ob es wieder ein Roman über Platon sei, und er sagte, dem sei
erzählte davon, wie der Philosoph Platon während seines Sizilien-
so. Sie ließ einfließen, wieviel Freude ihr der erste Roman gemacht
aufenthalts im Jahre 388 v. Chr. den Mord an einem Höfling des Ty-
habe. Sir Jameson Lang, ein gutaussehender Mann in dreiteiligem
rannen Dionysios von Syrakus aufklärt. Jake erinnerte sich daran,
kariertem Anzug, schien geschmeichelt. Blond, blauäugig, mit eher
daß Platon die Ermittlungen auf persönliche Bitte des Tyrannen ge-
schüchtern verkniffenem Mund, der die Folgen eines leichten
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Schlaganfalls zu verraten schien, wies Lang alle Merkmale des typi- einmal darüber nachdenken.»
schen Engländers auf, obgleich er Schotte war.
Jake lächelte: «Warum geben Sie mir nicht einen kurzen Nachhilfe-
«Wie freundlich von Ihnen», murmelte er in einem Tonfall, der gut kurs?»
in einen altmodischen Herrenclub gepaßt hätte, und bot Jake einen
Lang runzelte die Stirn. Er schien unsicher, ob Jakes Bemerkung
Sherry an.
sarkastisch gemeint war.
Während er zwei Gläser aus einer Kristallkaraffe füllte, warf Jake
«Nein, ernsthaft», sagte Jake, «das interessiert mich.» Längs Mund
einen Blick auf das Gemälde über dem von zahlreichen Porzellanfi-
entspannte sich wieder, und er lächelte. Jake war bereits klargewor-
guren bevölkerten Kaminsims. Es stellte eine Szene in arkadischer
den, daß es ein Thema war, über das er intensiv nachgedacht hatte
Landschaft voll von vage allegorischer Bedeutung dar. Lang reichte
und über das er gerne sprach.
Jake ein Glas, beugte sich über die Kohlenschütte und warf ein paar
meteoritengroße Brocken ins Feuer. Er bemerkte, daß Jake sich für «Also», begann er, «der Detektivarbeit wie der Philosophie liegt die
das Gemälde interessierte, und sagte: «Veronese». Dann bot er ihr Vorstellung zugrunde, daß es etwas Wißbares gibt. Der Ort der Tä-
einen Platz an und setzte sich ihr gegenüber in einen Sessel. «Gehört tigkeit ist mit Indizien versehen, die wir richtig zusammenfügen
dem College.» müssen, um ein wahres Bild der Wirklichkeit zu schaffen. Ihrem wie
meinem Bestreben wohnt die Suche nach Bedeutung inne, die Suche
«Ihr Anruf hat mich neugierig gemacht, Frau Chefinspektor», sagte
nach einer Wahrheit, - die, aus was für Gründen auch immer, ver-
er und nippte an seinem Sherry, «in meiner Eigenschaft als Philo-
borgen ist, einer Wahrheit jenseits des Scheins. Wir versuchen, den
soph wie auch als Mensch, den die Form der Kriminalistik schon
Schein zu durchdringen, und dieses Durchdringen nennen wir Er-
immer fasziniert hat.»
kenntnis.
Er kniff die Augen zusammen, und einen Augenblick überlegte Jake,
Während es nun eine natürliche Handlung ist, ein Verbrechen zu be-
ob sein Interesse der Form der Kriminalistik oder den Formen der
gehen, ist die Tätigkeit des Detektivs wie die des Philosophen wi-
Kriminalistin galt.
dernatürlich und besteht aus der kritischen Analyse verschiedener
«Was kann ich denn nun wirklich für Sie tun?» «Es gibt eine Anzahl Annahmen und Meinungen sowie der Infragestellung gewisser Vor-
von Fragen, auf die ich mir Antworten erhoffe, Herr Professor», sag- aussetzungen und Wahrnehmungen. Sie werden ein Alibi ebenso zu
te sie. überprüfen versuchen, wie ich eine Aussage überprüfe. Es ist die
gleiche Tätigkeit, und sie beruht auf dem Streben nach Klarheit.
Längs verbissenes Lächeln entspannte sich allmählich. «Bertrand
Egal wie Sie es beschreiben, die gemeinsame Intention ist es, dem
Russell hat einmal gesagt, Philosophie bestehe aus den Fragen, die
Gott der Wirrnis so etwas wie Form zu entreißen. Natürlich ist es
wir nicht beantworten können.»
manchmal nicht angenehm, das zu tun, erst recht nicht, wenn es ei-
«Ich habe mich selbst nie als Philosophin betrachtet», gab sie zu. nem angetan wird. Die meisten Menschen fühlen sich dadurch ver-
unsichert und leisten oft starken Widerstand gegen das, was wir
«Das sollten Sie aber, Frau Chefinspektor. Ernsthaft, Sie sollten
tun.»
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Lang nahm noch einen Schluck von seinem ausgezeichneten Sherry «Auch Philosophen haben ihre intellektuellen Tricks», sagte Lang,
und lehnte den Kopf gegen den Sesselrücken. «aber ich verstehe, was Sie meinen.»
«Oft ist unsere Arbeit repetitiv und besteht darin, vertrauten Boden, «Jetzt verstehe ich, wie Sie es geschafft haben, Platon zum Detektiv
den man schon einmal vermessen hat, erneut zu vermessen und die zu machen», sagte Jake, «und warum das so gut funktioniert. Was
stereotypen Schlußfolgerungen zu zerstören, die andere oder wir hätte er wohl von uns gehalten?» «Wer, Platon?» Jake nickte.
selbst gezogen haben. Das Schicksal des Sisyphos ist es häufig, das
«Oh, ich bin sicher, er wäre mit Ihnen einverstanden, Frau Chefin-
zu zerstören, was bereits geschaffen ist, um dem Kern des Problems
spektor. Als zusätzliche Wächterin im Dienste des Staates sind Sie
näher zu kommen.» Er warf Jake einen Blick zu. «Wie klingt es bis-
dem recht nahe, was er vorgeschlagen hat.» «Bis auf die Tatsache,
her?» «Gut», sagte Jake.
daß ich eine Frau bin.» «Platon war im großen und ganzen für
Er nickte. «Nietzsches Vorbehalten gegen die dialektische Methode Gleichbehandlung der Geschlechter», sagte Lang. «Also nehme ich
zum Trotz, die er für nichts weiter als ein rhetorisches Spiel hielt, hat an, er hätte nichts dagegen gehabt, daß Sie eine Frau sind. Dagegen
unsere Suche nach Wahrheit mit ihrer von Frage und Antwort be- kann man wohl kaum bezweifeln, daß er etwas gegen mich gehabt
stimmten Struktur ihren Ursprung im sokratischen Dialog. Wenn hätte.»
Verwirrung auftritt, dann weil es dem unerfahrenen Auge so schei-
«Wirklich? Und warum das?»
nen mag, als suchten wir immer nach Antworten. Aber ebenso oft
suchen wir nach der Frage. Der Kern dessen, was Sie so gut tun wie «Ein Philosoph, der gleichzeitig Romane schreibt? Undenkbar. Pla-
ich, liegt darin, die Anomalie im anscheinend Vertrauten zu sehen ton war außerordentlich kunstfeindlich. Deshalb hat es ja so viel
und dann nützliche Fragen dazu zu formulieren. Spaß gemacht, einen Roman über ihn zu schreiben.»
In ihrer reinsten Form handelt es sich um eine geistige Tätigkeit, zu Lang stand auf und holte die Karaffe mit dem Sherry.
der der Dialog mit der Vergangenheit gehört. Und wenn wir schei-
«Noch ein bißchen?» fragte er.
tern, so am häufigsten wegen einer irrigen Annahme oder falschen
Begriffsbildung in dieser kognitiven Forschungsaktivität. Jake hielt ihm ihr Glas hin.
Natürlich ist Mangel an Beweisen ein immer wieder auftretendes «Aber ich lenke Sie von der Arbeit ab, Frau Chefinspektor. Sie sind
Problem bei unseren Tätigkeiten. Viele unserer besten Leistungen sicher nicht nur wegen eines philosophischen Nachhilfekurses zu
sind zum Scheitern verurteilt, weil wir die Gültigkeit unserer mir gekommen.»
Schlußfolgerungen nicht beweisen können.»
«Doch, genauso ist es, Herr Professor. Allerdings nicht über Platon.
Jake lächelte. «Wie wahr! Und mir scheint, daß ich einen großen Ich interessiere mich für Wittgenstein.»
Vorteil vor Ihnen habe, Herr Professor. Gelegentlich mögen mir die
«Tut das nicht jeder?» sagte er mit düsterer Stimme und setzte sich
Beweise für meine Theorien fehlen. Aber ich kann den Verdächtigen
wieder. «Natürlich sind Sie bei mir an der richtigen Adresse. Sicher
immer noch durch einen Trick zu einem Geständnis verleiten. Und
wissen Sie auch schon, daß Wittgenstein an diesem College gearbei-
manchmal greife ich zu schlimmeren Methoden.»
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tet hat. Also, was wollen Sie über ihn wissen? Daß er ein Genie war, Lang grinste bei einigen Argumenten hämisch, aber als auch diese
aber unrecht hatte? Nein, das ist keine faire Formulierung. Aber jetzt Seite abgespielt war, nickte er emphatisch.
wird es spannend. Ich lese genauso gern von Verschwörungen wie
«Faszinierend», murmelte er, «äußerst faszinierend. Und diese Dis-
andere auch, aber Sie wollen mir doch nicht erzählen, daß er ermor-
kette steckte im Mund seines jüngsten Opfers, Sokrates?»
det wurde, daß ihn vor mehr als sechzig Jahren irgend jemand um
die Ecke gebracht hat? Wissen Sie, nach allem, was ich über ihn ge- «Richtig.»
lesen habe, war er ein ziemlich pedantischer Typ, der einem gut auf
Lang spitzte die Lippen. «Das könnte in sich bereits symbolische
die Nerven gehen konnte, geradezu das ideale Mordopfer.»
Bedeutung haben.» Er schnaubte verwundert. «Der ganze Fall steckt
Jake lächelte und schüttelte den Kopf. «Nein, ganz so ist es nicht», voll von Symbolik. Aber das ist es wohl nicht, worüber Sie sich un-
sagte sie. «Aber bevor ich es Ihnen erzähle, muß ich Sie bitten, die terhalten wollten. Ich nehme an, Ihre Fragen beziehen sich auf den
Angelegenheit vertraulich zu behandeln. Es geht um Menschenle- Anspruch dieses Mannes, selbst ein Philosoph zu sein. Vielleicht
ben.» geht er ja wirklich so weit, sich für Wittgenstein zu halten. Habe ich
recht?»
«Dann betrachten Sie meine Verschwiegenheit als zugesagt; unter
einer Bedingung allerdings: daß Sie mir das Ganze beim Mittages- «Ja», gestand Jake. «Ich kann die offensichtliche Parodie auf Witt-
sen erzählen.» gensteins 7UDFWDWXV erkennen. Aber wenn es um den Inhalt geht,
brauche ich Hilfe.»
«Nun, wenn Sie sicher sind, daß es keine Umstände macht.»
«Gut», sagte er und warf einen Blick auf seine Notizen.
«Keinerlei Umstände. Mrs. Hindley kocht immer zuviel, nur so, für
den Fall, daß ich jemanden mit nach Hause bringe.» Jake dankte Dann stand er auf, öffnete eine Zigarrenkiste, die auf der Anrichte
dem Professor, und sie begaben sich ins Eßzimmer, wo Sir Jamesons lag, und zog eine Aluminiumhülle heraus. «Aber erst brauche ich ei-
Haushälterin sie mit Hühnerbrühe, gebratenem Frühstücksfleisch mit ne Zigarre. Mit vernebelter Lunge kann ich klarer denken.»
Bohnen und Reispudding mit Büchsenmandarinen bewirtete. Beim
Jake zog ihre Zigaretten aus der Tasche und steckte eine zwischen
Essen erzählte Jake dem Professor alles, was sie wußte: über das
die Lippen. Lang zog die Zigarre aus ihrer Hülse, hielt ein Sandel-
Lombrosoprogramm und darüber, daß jemand mit dem Decknamen
holzblatt an die Glut im Kamin und gab erst Jake, dann sich selbst
Wittgenstein damit beschäftigt war, alle anderen Männer umzubrin-
Feuer. Genüßlich nahm er ein paar Züge, während er auf dem dezent
gen, die sich als VMK-negativ erwiesen hatten. Zum Kaffee spielte
quietschenden Eichenboden auf und ab ging und gelegentlich in sei-
sie ihm die Diskette vor.
ne Notizen sah. Schließlich setzte er sich wieder, nahm die Havanna
Lang lauschte der Stimme des Mörders mit dem Ausdruck ange- aus dem Mund, nippte an seinem Kaffee und nickte dann.
spannter Konzentration. Gelegentlich machte er Notizen auf einem
«Zunächst einmal erwähnt er seine Brüder. Wittgenstein hatte Brü-
Block, den er aus der Jackentasche zog. Und manchmal schüttelte er
der, von denen einer Selbstmord beging. Das könnte bedeutsam
mit vor Schreck oder aus anderem Grund gerunzelter Stirn bedächtig
sein.»
den Kopf. Nach der ersten Seite spielte ihm Jake die zweite vor.
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«Dann ist da der verdeckte Bezug dessen, wovon man nicht spre- «Können Sie sich vorstellen, daß er früher einmal Philosophie stu-
chen kann, zu Wittgensteins angeblicher Homosexualität.» Lang diert hat?» fragte sie.
zuckte die Achseln. «Die Theorie, Wittgenstein sei ein aktiver Ho-
Lang lächelte. «Frau Chefinspektor, Sie können sich nicht vorstel-
mosexueller gewesen, wird von allen bis auf einen seiner Biogra-
len, was für merkwürdige Leute sich um ein Philosophiestudium
phen abgelehnt, und der war Amerikaner.» Er machte eine herablas-
bewerben, besonders bei uns in Cambridge. Keats hätte gesagt, das
sende Handbewegung. «Natürlich ist es möglich, daß er homosexu-
sind die Menschen, die versuchen, den Engeln die Flügel zu stutzen.
ell war, aber wahrscheinlich war er einfach asexuell.»
Die Antwort auf Ihre Frage lautet also: Ja, es ist denkbar. Und wenn
«Offensichtlich haben Sie recht damit, daß er mit Stil und Aufbau ein junger Philosoph auf der Suche nach einem Vorbild wäre, wäre
des 7UDFWDWXV vertraut ist. Ich würde sogar sagen, daß er den Text Wittgenstein gewiß der richtige Mann. Sein Werk hat etwas intensiv
recht gut kennt.» Aufgeladenes an sich, ähnlich wie bei Nietzsche, und das beein-
druckt Studenten immer. Der Vergleich mit Nietzsche ist nützlich,
« Er fordert Sie auf, auf Ihre Grammatik zu achten. Natürlich war
die 1969 postum veröffentlichte 3KLORVRSKLVFKH *UDPPDWLN das,
denn so wie Nietzsche wahnsinnig wurde, gibt es auch einen Wahn-
sinn, der in allen Schriften Wittgensteins zutage tritt. Sie kennen den
womit sich Wittgenstein zwischen 1931 und 1934 beschäftigt hat. Er
dummen alten Spruch über die dünne Linie, die Genie von Wahn-
unterzeichnet <mit blutigen Grüßen>. Das ist interessant, weil Witt-
sinn trennt? Nun, Wittgenstein, der sich seiner überragenden Fähig-
genstein selbst Briefe an Freunde und Kollegen so unterschrieben
keiten gewiß bewußt war, fürchtete sein ganzes Leben lang, er könne
hat.»
diese eingebildete Linie überschreiten und den Verstand verlieren.
Lang sog wieder an seiner Zigarre und betrachtete dann sinnend das Ich kann mir gut vorstellen, wie attraktiv eine Gestalt wie Wittgen-
dunklere Ende, das er im Mund gehabt hatte. stein für jemanden sein kann, dessen seelisches Gleichgewicht ge-
stört ist und der sich zugleich für Logik interessiert.
«Dann: Sie meinten, er wolle sich möglicherweise darauf konzen-
trieren, diejenigen anderen VMK-negativen Männer zu erledigen, Man sollte sich aber auch daran erinnern, daß Wittgenstein später
deren Decknamen die Namen von Philosophen sind. Ich glaube, da sein Frühwerk, wie es im 7UDFWDWXV enthalten ist, für grundlegend
könnten Sie recht haben. Wittgenstein selbst glaubte, die Probleme falsch gehalten hat. Vielleicht sollten Sie die Möglichkeit im Auge
der Philosophie im 7UDFWDWXV endgültig gelöst zu haben, alles, was behalten, auch den Mörder davon zu überzeugen, daß das, was er tut,
vorher gewesen war, erledigt zu haben. So glaubte er etwa, daß er falsch ist. Er hat doch versprochen, sich mit Ihnen in Verbindung zu
das meiste von dem widerlegt habe, was Bertrand Russell geschrie- setzen? Ja er schien sogar anzudeuten, daß so etwas wie ein Dialog
ben hatte. Es wäre also durchaus typisch für Ihren Mörder, Bertrand zwischen Ihnen und ihm denkbar sei. Das könnte eine Chance sein,
Russell zu erledigen.» gegen ihn zu argumentieren und jenseits aller utilitaristischen Erwä-
gungen einen logischen Standpunkt zu verteidigen, der dem seinen
Jake nickte und nahm einen tiefen Zug aus ihrer Zigarette. An Niko-
widerspricht. Wenn er auch nur ein wenig differenziert denkt, sollte
tinfreien war nicht viel befriedigend außer dem Gefühl des Rauchens
er auf so eine Herausforderung reagieren.»
selbst. Dennoch half ihr das Einsaugen und Ausstoßen von Rauch,
sich zu konzentrieren. Jake nickte nachdenklich.
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«Sie wären nicht zufällig bereit, mir auch dabei zu helfen?» fragte schickt war, verfüge ich über keinerlei praktische Begabung.»
sie.
«Sie brauchen nur auf einen Knopf zu drücken.»
«Ehrlich gesagt», antwortete er, «ich würde es mit Begeisterung tun.
«Also gut, ich bin gerne bereit dazu.»
Die Vorstellung, einen Mörder in einen philosophischen Dialog zu
verwickeln, ist faszinierend. Sozusagen zeitgenössische Philosophie «Ich werde es sofort in die Wege leiten. Je früher die Apparate in-
in der Praxis. Aber sagen Sie, Frau Chefinspektor, haben Sie irgend- stalliert sind, desto besser.»
eine Vorstellung davon, wie er Kontakt aufnehmen könnte?»
Jake fand, es sei Zeit, sich zu verabschieden.
Jake schüttelte unsicher den Kopf. «Wie immer er es auch anstellen
«Wenn Sie wollen, können Sie die Diskette hierlassen», schlug Lang
wird, er wird mit Sicherheit geschickt genug sein, daß wir ihm nicht
vor. «Ich würde sie mir gerne noch einmal anhören. Vielleicht ist
auf die Spur kommen können. Ich tippe darauf, daß er aus einem ge-
mir ja etwas entgangen. Übrigens, vielleicht interessiert es Sie, daß
stohlenen Auto mit einem mobilen Telefon anruft. Wenn er in einem
Wittgenstein für Kriminalromane schwärmte. Besonders für den har-
Parkhochhaus in der Mitte von London sitzt und uns anruft, kann es
ten amerikanischen Typ. Im Zuge Ihrer eigenen Ermittlungen wäre
ewig dauern, bis wir ihn finden.»
es vielleicht von Nutzen, wenn Sie daran dächten, daß er selbst we-
« Dann sollten wir uns vielleicht überlegen, wo Sie und ich sein nig Vertrauen zur sogenannten deduktiven Wissenschaft eines Sher-
werden, wenn er anruft. Wenn ich Ihnen helfen soll, sollte ich in Ih- lock Holmes hatte. Er zog intuitionsbegabte Detektive vor. Wenn
rer Nähe sein. Und unglücklicherweise kann ich mindestens im Lauf wir annehmen, daß Ihr Mörder ähnlich denkt, könnte es letzten En-
der nächsten Woche Cambridge nicht verlassen.» des sehr sinnreich sein, daß Sie sich auf Ihre Intuition verlassen. In
dem Zusammenhang hätte ich noch einen Vorschlag zu machen,
«Sie haben hier wahrscheinlich nicht die technische Ausrüstung für
wenn Sie schon einmal hier sind.»
eine Videokonferenz», fragte sie, «ein Pictofon zum Beispiel?»
«Vielleicht», fuhr er etwas zögernd fort, «vielleicht würden Sie sich,
Der Professor schüttelte den Kopf. «Nein, so etwas haben wir nicht.
wo Sie schon einmal hier sind, gerne Wittgensteins alte Wohnung
Die Collegefinanzen sind nicht mehr das, was sie einmal waren. Das
ansehen.»
gilt für die ganze Universität. So entstehen Monstrositäten wie Ya-
maha. Wir in Trinity waren bereits gezwungen, unseren einmaligen «Mit Begeisterung.»
Weinkeller zu verkaufen.»
«Ja, ich glaube schon, daß es Sie interessieren wird.» Er ließ seinen
«Wären Sie damit einverstanden, wenn wir hier ein Pictofon instal- Blick über sein eigenes Quartier schweifen und lächelte. «Die Woh-
lieren?» fragte Jake. «Ich kann meine Leute eine Standleitung zwi- nungen sind natürlich nicht alle gleich. Er hatte einen weitaus einfa-
schen uns einrichten lassen. Dann können Sie an dem Gespräch teil- cheren Geschmack. Als Professor hatte er ein Anrecht auf etwas
nehmen, wenn der Mörder anruft.» Großzügigeres. Sie wissen, daß er aus einer der reichsten Familien
Österreichs stammte und sich gegen alles zur Wehr setzte, das ihn an
Sir Jameson Lang zuckte die Achseln. «Solange ich dabei nichts
sein früheres privilegiertes Luxusleben erinnerte. Er hat sich sogar
Technisches tun muß. Im Gegensatz zu Wittgenstein, der recht ge-
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ganz kurz einmal mit den Kommunisten eingelassen. Ich werde Sie Kindern.> Bösartiger alter Knacker, was?» Der Portier lachte ver-
nicht begleiten. Sonst erzähle ich Ihnen wahrscheinlich noch seine ächtlich. «Philosophen! Was wissen die schon vom richtigen Le-
Biographie. Ich werde jemanden rufen, der Sie begleitet.» ben?»
Der Master griff zum Telefon und rief die Portiersloge an. Dann ver- Jake, die von ihrem eigenen Vater immer nur behindert worden war,
abschiedete er sich von Jake. meinte, es könne schon etwas dran sein. Der Aufstieg nach K 10 en-
dete vor einer einfachen schwarzen Tür mit dem Namen des Bewoh-
Als Jake den Hof wieder überquert hatte, stand ein Mann im Re-
ners: C. von Heissmeyer. Sie fragte sich, ob das ein österreichischer
genmantel, nicht der Chinese, sondern ein anderer, auf den Stufen
Name sein könne, und falls ja, ob es irgend etwas zu bedeuten habe.
vor der Portiersloge und übernahm die Führung.
Der Portier klopfte an die Tür und wartete. «Wenn der Student zu
«Also gut, gnädige Frau», sagte er. «K 10, hat der Master gesagt,
Hause ist, brauchen wir seine Genehmigung», sagte er und klopfte
wollen Sie sehen.» Er führte sie durch das Hauptportal hinaus und
noch einmal. Als niemand antwortete, zog er einen Schlüsselbund
zurück auf die Straße. «Das liegt in Whewell' s Court», erklärte er
hervor und öffnete die Tür.
und führte sie weiter durch einen alten Eingang neben dem Postamt.
«Und wer war der Typ? Der, der hier gewohnt hat?» Die einfach und spartanisch eingerichtete Wohnung bestand aus ei-
ner Küche, einem Wohnzimmer und einem Schlafzimmer. Das
«Ludwig Wittgenstein», sagte sie, «der größte Philosoph von Cam-
orangefarbene Sofa tat den Augen genauso weh wie der blaue Tep-
bridge.»
pichboden. Das schmale Bett mit der purpurfarbenen Bettdecke war
Der Portier nickte. sorgfältig gemacht. Die Küche war sauber und aufgeräumt. Drei Tel-
ler standen aufgereiht im Geschirrtrockner wie Computerdisketten in
«Haben Sie oft Besucher, die die Wohnung sehen wollen?» fragte
ihrer Box.
sie und überlegte, ob der Mörder sich wohl auf eine ähnliche Pilger-
fahrt begeben hatte. Jake ging an das dreiflügelige Fenster und setzte sich auf die
Schreibtischkante. Im Hintergrund sah man die zwei Teufelshörner
«Also», sagte er, «ich bin seit zehn Jahren hier, und Sie sind die er-
des Wolfson-Gebäudes. Ihr Blick fiel auf die Lektüreliste an der
Fensterscheibe und den dazu passenden Stapel von 3HQJXLQ &WDV
ste.»
Sie gelangten an ein kleines Treppenhaus mit rötlich ockerfarbenen VLFV
Wänden.
Es war ein seltsames Gefühl, daß etwas so Unschuldiges, so
«Es ist ganz oben», sagte er und ging voran. «Ich hab mal einen Phi-
Normales wie ein Stapel Taschenbücher einen so wilden Verdacht in
losophen in der Glotze gesehen. So ein alter Knacker von hundert
ihrem Kopf entstehen lassen konnte. Es hatte einen Anflug von Be-
Jahren. Und der Typ fragt ihn: <Sie haben doch so lange gelebt, ha-
sessenheit. Aber obgleich sie wußte, wie lächerlich das alles war,
erwischte sich Jake dabei, wie sie sorgfältig die Titel studierte: 'HU
ben Sie der Menschheit einen Rat zu geben?> Jedenfalls lacht der
0RQGGLDPDQW von Wilkie Collins; 'LH VDWDQLVFKHQ 9HUVH von Sal-
Philosoph und sagt, daß er einen guten Rat hat. Er sagt: <Helfen Sie
nie Ihren Kindern.> Was halten Sie davon? <Helfen Sie nie Ihren
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man Rushdie; 'LH'UHKXQJGHU6FKUDXEHvon Henry James; )XUFKW Natürlich entgingen ihr die Verknüpfungen oft, konnte sie «nichts
XQG =LWWHUQ von Sören Kierkegaard; und Platons 3KDLGRQ Reiner mit nichts» verbinden, gab es etwas, das man nicht wissen konnte.
Zufall, sagte sie sich. Das gleiche galt für die Reihe von Büchern Alles, was sie tun konnte, war, die Puzzlesteine aneinanderzupassen.
von Wittgenstein, die unter einem gerahmten Porträt des Autors auf
Anpassen. Ein Ausdruck, den kein Kriminalbeamter gerne hört. Er
dem Kaminsims standen. Und es gab auch viele junge Leute, die
riecht nach Korruption und schlampiger Arbeit, nach Verbindungen,
sich Poster von Humphrey Bogart mit der Pistole in der Hand an die
die geflissentlich übersehen werden, und anderen, die betont werden.
Wände hängten. Diesmal war es Howard Hawks'Verfilmung von
7RWHVFKODIHQIHVW«Der letzte Heuler des Gewaltfilms», lautete der
Er klingt nach zuviel Aktivität, zuviel Vorbedacht.
Werbespruch. «Bogey und Bacall erleben heiße Zeiten und den Ner- Aber das Leben ist hart, und Jake schrieb sich sicherheitshalber den
venkitzel eines eiskalten Verbrechens.» Namen des Studenten auf.
Hatte Professor Lang nicht erwähnt, daß sich Wittgenstein für ame- ,FKKDEHKHXWHQDFKWYRQPHLQHP9DWHUJHWUlXPW$OVLFKDXIZDFKWH
rikanische Kriminalromane interessierte? ODJPLUGDV:RUW©6KDNHVSHDUHªDXIGHU=XQJH
Aber was sollte schon dabeisein, daß sich ein Student, der in Witt- 'LH )HUQVHKXKU VXPPWH GUHL‰LJ 6HNXQGHQ ODQJ ODXW DXI LPPHU GHU
gensteins alter Wohnung im Trinity College wohnte, auch für ihn in- JOHLFKHQ1RWH*OHLFK]HLWLJVWHOOWHVLFKGHU$SSDUDWDQXQG]HLJWHGLH
teressierte? Und daß er, wie Wittgenstein, wie viele junge Männer, PRUJHQGOLFKH $HURELFVHQGXQJ (V ZDU VLHEHQ 8KU IQI]HKQ =HLW
Kriminalromane der harten Schule las? ]XP$XIVWHKHQIU%URDQJHVWHOOWH,FKKDWWHJHVWHUQ6RQQWDJVGLHQVW
JHPDFKW DEHU REZRKO LFK GHQ 0RQWDJ IUHL KDWWH ZROOWH LFK PHLQH
PRUJHQGOLFKHQ9HUUHQNXQJHQQLFKWYHUSDVVHQ$OVRZlO]WHLFKPLFK
Aber was war andererseits ungewöhnlich daran, daß sie sich für je-
DXV GHP %HWW XQG JULII QDFK HLQHP VFKPXW]LJHQ 76KLUW XQG HLQHP
den interessierte, der so etwas wie geistige Verwandtschaft mit
3DDU6KRUWVGLHDXIGHP6WXKOODJHQ
Wittgenstein verspüren mochte?

'LH0XVLNVHW]WHHLQXQGQDFKHLQHPVFKZHUHQ+XVWHQDQIDOOQDKP
Offenbar war Sir Jameson Lang der wichtigste Unterschied zwi-
LFK PHLQHQ 3ODW] YRUGHP%LOGVFKLUPHLQDXIGHPEHUHLWVGDV%LOG
schen dem Philosophen und dem Detektiv entgangen. Für den De-
HLQHUMQJHUHQKDJHUHQDEHUPXVNXO|VHQ)UDXLQOHXFKWHQGJUQHP
tektiv ist nichts einfach das, was es ist, und sonst nichts. Ein Zigaret-
7ULNRWHUVFKLHQHQZDU,P7DNWGHU0XVLNEHJDQQVLHDXIGHU6WHOOH
tenstummel war nie einfach ein Zigarettenstummel: Oft war er auch
]XWUHWHQXQGUL‰GDEHLGLH6FKHQNHOELVDQGLH%UXVW
ein Zeichen, ein Indiz, ein Stein aus einem Puzzle, der mit anderen
zusammengefügt sein wollte. Unter diesem Gesichtspunkt hatte ihre
Arbeit mehr mit Semiotik zu tun als mit Philosophie. ©$OVR ORV MHW]Wª JULQVWH VLH WXJHQGKDIW ©VWUHFNW GLH 0XVNHOQ JHEW
GHU/XQJH$UEHLW8QGHLQVXQG]ZHLXQGGUHLXQGYLHU8QGHLQV
XQG]ZHLXQGGUHLXQGYLHUª
Verknüpfungen schaffen. Etwas wirklich anerkennen heißt nichts
weiter als wissen, wie die Dinge miteinander verknüpft sind. Wie in
der Psychoanalyse mußte man die Vergangenheit mit der Gegenwart ,FKEHPKWHPLFKLKUHP7HPSR]XIROJHQ
©'HQNW GDUDQ LFK VHKH HXFKª ULHI VLH LP 6FKHU] ©QLFKW EHWUJHQ
verknüpfen und so eine kathartische Lösung finden.

211 212
8QGHLQVXQG]ZHLª IOVVLJ SHQHWUDQWHQ 1DKDXIQDKPHQ GHU (LQVFKX‰O|FKHU LQ LKUHQ
.|SIHQXQGLKUHQWRWHQ.|USHUQ
'LH UK\WKPLVFKH %HZHJXQJ UWWHOWH HLQ SDDU )UDJPHQWH PHLQHV
7UDXPV ORV $EHU HV ZDU PHKU JHZHVHQ DOV HLQIDFK HLQ 7UDXP (V 'DQQZDUHQGDQRFKHLQSDDUKEVFKH$XIQDKPHQGHU3ROL]LVWLQEHL
ZDUHLQHHFKWH(ULQQHUXQJDQPHLQHIUKH.LQGKHLWXQGDQPHLQHQ LKUHU UKUHQGHQ NOHLQHQ 3UHVVHNRQIHUHQ] 6LH ]HLJHQ HLQH ZDKUKDIW
9DWHU HLQH GHU HUVWHQ ZLUNOLFKHQ (ULQQHUXQJHQ LP *HJHQVDW] ]X VFK|QH )UDX HLQH 7DWVDFKH GLH PLU ELVKHU VHOEVW YRU HLQHP KRFK
DQQlKHUQGZLUNOLFKHQ(ULQQHUXQJHQ GLHLFK DXIO|VHQGHQ)HUQVHKVFKLUPQLFKWEHZX‰WJHZRUGHQZDU
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YHUVXFKWH LFK VLH IHVW]XKDOWHQ (V ZDU DX‰HUJHZ|KQOLFK VFKZLHULJ )HUQVHKHQ VHOEVW )HUQVHKHQ LQ KRFKDXIO|VHQGHU 7HFKQLN WXW GHQ
XQG QDFK HLQ SDDU 0LQXWHQ KLHOW GLH (ULQQHUXQJ QLFKW DQ VRQGHUQ 0HQVFKHQ VHOWVDPH 'LQJH DQ (V PDFKW LKUH .|SIH JU|‰HU HV Ol‰W
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VFKHQ&KHPLNDOLHQEHKDQGHOWZRUGHQLVW6RYLHOLFKDXFKDXIXQGDE DXVVHKHQDOVVLHLQGHUZLUNOLFKHQ:HOWVLQG'DVZDUDXFKEHLGHU
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PHQ DXVDWPHQª %UHLWHV /lFKHOQ ©8QG QDFK GHU :HUEXQJ GDV $XVVHKHQ EHVWlWLJW HV (LQH GXQNHOKDDULJH H[RWLVFKH 6FK|QKHLW PLW
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LPPHUDOV*HOHJHQKHLWIUHLQHQWKHUDSHXWLVFKHQ+D‰DXVEUXFK,FK
%OLFNLKUHU$XJHQGHUVRQVWOHLFKWYHUlFKWOLFKZLUNHQN|QQWHVDQIWHU
KDVVHHVZHQQPDQPLFKEHYRUPXQGHQZLOOXQG:HUEXQJVHW]WPHL
XQGPLOGHU]XVWLPPHQ'DV*HVLFKWHLQHU3ROL]LVWLQZHQQDXFKHL
QHVFKOLPPVWHQ6HLWHQIUHL'HVKDOEEHUKlXIWHLFKYROOH]ZHL0LQX
QHUEHVRQGHUHQ3ROL]LVWLQ0HLQHKRFKPWLJH+HUULQ
WHQ ODQJ GLH YHUVFKLHGHQHQ $Q]HLJHQNXQGHQ GHUHQ 'UHL‰LJVHNXQ
GHQVSRWV GHQ %LOGVFKLUPIOOWHQ PLW GHQ EHOVWHQ %HVFKLPSIXQJHQ ,FKQHKPHDQGD‰VLHLQLKUHU6FKXO]HLW6SRUWOHULQZDU$P)HUQVH
*OFNOLFKHUZHLVHZRKQWQLHPDQGPHKULQGHQ:RKQXQJHQEHUXQG KHQXQGDXIGHQ)RWRVLVWHVVFKZHUDXV]XPDFKHQDEHULFKJODXEH
XQWHUPLU VLHLVWKRFKJHZDFKVHQ:DKUVFKHLQOLFKZDUVLH.DSLWlQGHU9ROOH\
EDOOPDQQVFKDIWXQGPLWLKUHQODQJHQNUlIWLJHQ%HLQHQZDUVLHZRKO
1DFKGHP LFK DOOH PHLQH PRUJHQGOLFKHQ 5LWXDOH DEVROYLHUW KDWWH
DXFK LP +RFKVSUXQJ JXW 9HUPXWOLFK WUXJ VLH HLQ ZHQLJ ]X HQJH
GXVFKWHLFKIUKVWFNWHXQGVDKGLH6RQQWDJV]HLWXQJHQDXI0HOGXQ
6KRUWVXQGKDWHLQLJH+HU]HQJHEURFKHQ
JHQGXUFKGLHHWZDVPLWPHLQHP)DOO]XWXQKDWWHQ:LHEOLFKJDE
HVHWZDV:HQQPDQJHQXJ/HXWHXPEULQJWVWHKWPDQMHGHQ7DJLQ 6LH ZLUNW UHFKW HLQVFKFKWHUQG XQG HV VROOWH PLFK QLFKW ZXQGHUQ
GHU=HLWXQJ'LHVPDOZDUHQHV)DUEDXIQDKPHQGHU2SIHUPLWEHU ZHQQ HV HLQ SDDU XQEHIULHGLJHQGH %H]LHKXQJHQ ]X -XQJHQ JHJHEHQ
213 214
KlWWH GLH DX‰HUVWDQGH ZDUHQ VLFK LKUHU IRUWJHVFKULWWHQHQ 5HLIH ]X LQLKU,QQHUHVIUHL
VWHOOHQ 6LFKHU KDEHQ VLH GLH $QJVW YRU LKUHU EHUZlOWLJHQGHQ .|U
,Q HLQHU ZHLWHUHQ )RWRV]HQH IDQG LFK HLQ 0lGFKHQ GHUHQ .RSIKDO
SHUOLFKNHLWJHJHQVLHJHZDQGWXPVHOEVW7URVWXQG6FKXW]]XILQGHQ
WXQJJHQDXGHQ)RWRVHQWVSUDFKGLHLFKYRQGHU3ROL]LVWLQKDWWH6LH
+DEHQVLHVLHZRKOZHJHQLKUHU*U|‰HYHUVSRWWHW"
ZDU EHL GHU )HOODWLR XQG LP YROOHQ *HVFKOHFKWVYHUNHKU PLW HLQHP
'LH=HLWXQJHQWKLHOWQLFKWYLHO,QIRUPDWLRQHQEHUGLH3ROL]LVWLQDX 0DQQDEJHELOGHW1DFKGHPLFKGLHVHVQHXH0DWHULDOPLWGHU3ROL]L
‰HU GD‰ VLH VLHEHQXQGGUHL‰LJ ZDU LKU ([DPHQ LQ &DPEULGJH JH VWLQ YHUHLQW KDWWH NRQQWH LFK VHKHQ ZLH ZHQLJ VLH VLFK P|JOLFKHU
PDFKWKDWWHVHLWGUHL]HKQ-DKUHQEHLGHU/RQGRQHU3ROL]HLXQG6SH ZHLVH DXV KHWHURVH[XHOOHP 9HUNHKU PDFKWH 1DWUOLFK KDWWH GDV HL
]LDOLVWLQIUGLH$XINOlUXQJYRQ6]HQHQPRUGHQZDU*OFNOLFKHUZHL QLJHVPLWGHP*HVLFKWVDXVGUXFNDXIGHQ)RWRV]XWXQ$OVVLHDXIJH
VH KDWWH LFK PLU =XJDQJ ]X LKUHQ 'DWHQ LP 3ROL]HLFRPSXWHU YHU QRPPHQZXUGHQ VWDQGVLHYRUHLQHU3UHVVHNRQIHUHQ] QLFKWYRUHL
VFKDIIWGHUPLUDX‰HULKUHP1DPHQXQGLKUHU$GUHVVHDXFKYHUULHW QHPHULJLHUWHQ3HQLV'HQQRFKDKQWHLFKLQWXLWLYPHKURGHUZHQLJHU
GD‰VLHHLQHHKHPDOLJH/HVEHZDU NODUZLHVLHUHDJLHUHQZUGH
)DVWQHEHQEHLXQGRKQHPLFKGDUDXI]XNRQ]HQWULHUHQNRSLHUWHLFK $OV.RQWUDVWPDWHULDOIDQGLFKHLQSDDU$XIQDKPHQGHVVHOEHQ0lG
LKUH=HLWXQJVELOGHULQGHQ&RPSXWHUXQGGUHKWHXQGZHQGHWHVLHPLW FKHQV EHL OHVELVFKHU %HWlWLJXQJ 'LHVH $UW YRQ 6H[XDOYHUKDOWHQ
+LOIHGHUGUHLGLPHQVLRQDOHQ%LOGJHVWDOWXQJHLQPDOVRKHUXPHLQPDO VFKLHQEHVVHU]XGHQ=JHQGHU3ROL]LVWLQ]XSDVVHQXQGLFKEUDFKWH
VRKHUXPIDVWZLHHLQH.LQGHUSXSSH$EHUGDVODQJZHLOWHPLFKEDOG HLQHZLUNVDPH0RQWDJH]XVWDQGHDXIGHUVLHHPVLJDQGHUNDUDPHO
XQGLFKPDFKWHPLUHLQH7DVVH-ROW IDUEHQHQ.OLWRULVHLQHVDQGHUHQ0lGFKHQVVDXJWH
,FKEOlWWHUWHJHUDGHLQHLQHP3RUQRKHIWDOVPLUHLQILHOGD‰LFKGLH %HLDOOGHU$XIUHJXQJGLHXQWHUPHLQHU*UWHOOLQLHKHUUVFKWHPX‰WH
3ROL]LVWLQDXFKQDFNWVHKHQNRQQWH6FKQHOONHKUWHLFKDQGHQ&RP LFKHLQIDFKPLWLKURGHULKUHP(EHQELOGVFKODIHQ$OVRNRSLHUWHLFK
SXWHU ]XUFN NRSLHUWH HLQH $XVZDKO YRQ 3RUQRIRWRV LQV 3URJUDPP GLH%LOGGLVNHWWHDXIGHQ5$$SSDUDWXQGVWLHJLQPHLQHQ6SLHODQ]XJ
XQG ILQJ DQ HLQH 6DPPOXQJ YRQ )RWRPRQWDJHQ LKUHV .RSIHV PLW 'DQQ SDFNWH LFK HLQ 5$.RQGRP DXV XQG VWUHLIWH HV EHU PHLQH
YHUVFKLHGHQHQQDFNWHQ)UDXHQN|USHUQ]XHQWZHUIHQ (UHNWLRQ EHYRU LFK GHQ $Q]XJ DQ GHQ $SSDUDW DQVFKOR‰ $OV DOOHV
YRUEHUHLWHWZDUVHW]WHLFKGHQ+HOPDXIVWHOOWHGLH9HUELQGXQJ]XP
,FKEHVFKOR‰GD‰LKUH%UVWHZHGHU]XNOHLQQRFK]XJUR‰VHLQVROO
&RPSXWHUKHUXQGJLQJGLH.RQWUROOLVWHIU5$GXUFKZLHHLQ3LORW
WHQ XQG GD‰ GLH %UXVWZDU]HQ YHUPXWOLFK QRFK NHLQHQ 6FKZDQJHU
EHLP 3UREHIOXJ PLW GHU JXWHQ DOWHQ ; 'DV VROOWH DOOH 8QIlOOH
VFKDIWVKRI DXIZLHVHQ 'LH 6FKDPJHJHQG ZDU SUREOHPDWLVFKHU (UVW
DXVVFKDOWHQGLHDXVHLQHPSO|W]OLFKHQ$QVFKZHOOHQGHUVLPXOLHUWHQ
IDQG LFK HLQH 9XOYD PLW ]XZHQLJ +DDU GDQQ HLQH PLW ]XYLHO ,FK
:LUNOLFKNHLWLQGHQ2KUHQRGHUJDUDP3HQLVHQWVWHKHQN|QQHQ
PX‰WHQDFK]XVlW]OLFKHQ0DJD]LQHQVXFKHQ'LHQHXHQZDUHQEHVVHU
XQGH[SOL]LWHU1DFKGHPLFKGHQ&RPSXWHUGDPLWJHIWWHUWKDWWHVD‰ ©7H[WXU HLQJHVFKDOWHW '\QDPLN HLQJHVFKDOWHW 7RQ HLQJHVFKDOWHW
VLHQXUPLWHLQHP3DDUZHL‰HU6WUPSIHRKQH6WUXPSIKDOWHUEHNOHL .RSIZDKUQHKPXQJ HLQJHVFKDOWHW .|USHUJHIKOH HLQJHVFKDOWHW
GHWYRUPLUXQGKDWWHGLH%HLQHVRZHLWHPSRUJH]RJHQGD‰GLH.QLH 3KDOOXVVHQVRUHLQJHVFKDOWHWª'DQQOLH‰LFKGDV9LVLHUYRUV*HVLFKW
EHLQDKHGHQ0XQGYHUGHFNWHQ,KUHJXWPDQLNUWHQ)LQJHUVSUHL]WHQ IDOOHQ8QGGDZDUVLH:LH(YDVHOEVWVWDQGVLHLQHLQHUOLHEOLFKHQ
GLHPDNHOORVHQ6FKDPOLSSHQXQGJDEHQHLQH+HEDPPHQSHUVSHNWLYH :DOGODQGVFKDIW YRU PLU XQG QLFKW HLQPDO HLQ)HLJHQEODWW EHGHFNWH

215 216
LKUH 1DFNWKHLW$OVLFKPLFK LKUQlKHUWHYHUVFKZDPP GDV%LOG HLQ 1DFKGHPLFKLQGLH:LUNOLFKNHLW]XUFNJHNHKUWZDUVWXGLHUWHLFKLK
ZHQLJ XQG LFK NRUULJLHUWH GLH %LOGDXIO|VXQJ 'DQQ VWUHFNWH LFK HL UH$NWHZHLWHUXQGIDQG$XV]JHDXVHLQHP9RUWUDJGHQVLHYRUHL
QHQ$UPDXVXQGVWUHLFKHOWHLKUH%UXVWXPGHQ+DQGVFKXK]XEHU QHUHXURSlLVFKHQ3ROL]HLNRQIHUHQ]JHKDOWHQKDW6LHZlKOWH*HRUJH
SUIHQ ,FK IKOWH ZLH LKUH %UXVWZDU]H VWHLI ZXUGH DOV LFK VLH EH 2UZHOOVNiedergang des englischen Mordes DOV$XVJDQJVSXQNW :HU
UKUWH$OVQlFKVWHVVFKOXJLFKLKUNUlIWLJLQV*HVLFKWXPGLH7RQ WXW GDV VFKRQ QLFKW"  XQG VSUDFK EHU GLH DQVWHLJHQGH +lXILJNHLW
ZLHGHUJDEH]XSUIHQ$OOHVZDULQ2UGQXQJ'LH3ROL]LVWLQOLH‰VLFK YRQ0RUGHQLP+ROO\ZRRGVWLOMHQHDQVFKHLQHQGJUXQGORVHQ6HULHQ
PLWHLQHPVFKPHU]OLFKHQ$XIVFKUHLDEHURKQH9RUZXUIVFKODJHQ6LH PRUGHDQ
VWDQG ZLH YRUSURJUDPPLHUW HLQIDFK GD XQG ZDUWHWH ZDV LFK MHW]W
)UDXHQGLHGHU]HLW0RGH]XVHLQVFKHLQHQ6LHKDWMDQLFKWJDQ]XQ
WXQZUGH,FKOLH‰VLHDXIGLH.QLHJHKHQXPPHLQ5$.RQGRP]X
UHFKWDEHULFKJODXEHVLHXQWHUVFKlW]WGLHNXOWXUHOOH%HGHXWXQJGHV
EHUSUIHQ XQG VSUWH ZLH LKUH /LSSHQ VLFK XP PHLQHQ 3HQLV
0RUGHVIUXQVHUH*HVHOOVFKDIW
VFKO|VVHQ $OOHV IXQNWLRQLHUWH SHUIHNW 6RODQJH LFK GDV 9LVLHU JH
VFKORVVHQKLHOWZUGHGLH6RIWZDUHZHLWHUDUEHLWHQXQGPHLQHVLPX 9LHOOHLFKW VROOWH LFK PLU HLQ SDDU 1RWL]HQ ]XP 7KHPD PDFKHQ (V
OLHUWH:LUNOLFKNHLWZUGHVLFKVRJXWZLHJDUQLFKWYRQGHUZLUNOL N|QQWHMDHLQHQ$XIVDW]DEJHEHQ(LQSDDU%HLVSLHOHKlWWHLFKVFKRQ
FKHQ 5HDOLWlW XQWHUVFKHLGHQ 0DQFKPDO JODXEH LFK GD‰ LFK PHLQ EHL]XVWHXHUQ $EHU P‰WH GDQQ LKU 9HUVWlQGQLV QLFKW WLHIJHKHQGHU
ZLUNOLFKHV /HEHQ QXU DQQlKHUXQJVZHLVH OHEH 2GHU LVW HV LQ :LUN VHLQDOVDOOH%HLVSLHOHGLHLFKDQIKUHQN|QQWH"+DEHLFKQLFKWPHKU
OLFKNHLW XPJHNHKUW" ,QHLQHPEHUWULIIW GLH ILNWLYH:HOWGHU5$GLH ]XJHEHQDOVMHHLQH(UNOlUXQJYHUPLWWHOQN|QQWH".DQQPDQGHQQ
ZLUNOLFKH:HOW6LHNHQQWNHLQ*HVHW] HLQHP DQGHUHQ ZLUNOLFK GDV HUNOlUHQ ZDV PDQ VHOEVW YHUVWDQGHQ
KDW"6LHZUGHZRKOUDWHQPVVHQZDVLFKPHLQH$EHUGHQ9HUVXFK
'DQQKDEHLFKVLHODQJVDPJHILFNWYRQKLQWHQYRQYRUQHYRUQEHU
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JHQHLJWZLHHLQ.OHLGHUVDFNPLWJHVSUHL]WHQ%HLQHQZLHHLQH%DOOHWW
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-HGHQIDOOVELQLFKDP/HEHQ6RODQJHLFKDUEHLWHQXQGVLQQOLFKH(U
,FKVDJHQLFKWGD‰LFKHVLKUVROHLFKWHUPDFKHQZUGH6FKOLH‰OLFK
UHJXQJVSUHQNDQQZLUGHVZRKOQLFKW]XVFKOHFKWXPPLFKEHVWHOOW
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VHLQ
YRQ 3DSLHU XQG 7LQWH $EHU VR ZLH VLFK 0HQVFKHQ LP DOOJHPHLQHQ
1DWUOLFK JHQJW GLH VH[XHOOH (UUHJXQJ GLH LFK EHLP $QEOLFN GHU GDUDXI HLQLJHQ N|QQHQ ZHOFKH )DUEH HWZDV KDW N|QQWHQ YLHOOHLFKW
3ROL]LVWLQHPSILQGHXPMHGH)RUPYRQ/LHEHHUVWHUEHQ]XODVVHQGLH DXFKZLU]XVRHWZDVZLH(LQYHUVWlQGQLVNRPPHQ
LFKIUVLHKlWWHHPSILQGHQN|QQHQ
,FKKDEHYRUKLQDQJHIDQJHQ]XHU]lKOHQGD‰LFKDXIZDFKWHXQGDQ
/HLGHULVWGLH&RPSXWHUWHFKQRORJLHQRFKQLFKWVRZHLWIRUWJHVFKULW 6KDNHVSHDUH GDFKWH ,FK NHQQH QLFKW YLHO YRQ 6KDNHVSHDUH ]XPLQ
WHQGD‰LFKGDVZDVJHVFKHKHQZDURGHUGRFKDQQlKHUQGJHVFKH GHVWQLFKWYLHOH=LWDWH,FKKDWWHYRUHWZDVGDJHJHQ]XWXQVR]XVD
KHQ ZDU KlWWH ILOPHQ N|QQHQ $OVR PX‰WH LFK PLFK PLW GHQ )RWR JHQ EHL 6KDNHVSHDUH QDFK]XVFKODJHQ %HL 6KDNHVSHDUH QDFKVFKOD
PRQWDJHQPHLQHU&RPSXWHUNXQVWEHJQJHQ,FKVWHFNWHVLHLQHLQHQ JHQ"+HXWHPRUJHQKDWWHLFKHWZDV7|GOLFKHUHVLP6LQQ
8PVFKODJXQGVFKLFNWHVLHDQGLH3ULYDWDGUHVVHGHU3ROL]LVWLQ
,FKVWLHJLQGHQ=XJXQGIROJWHLKPYRQVHLQHU:RKQXQJLQ:DQGV
217 218
ZRUWK]XU9LFWRULD6WDWLRQ'DQQJLQJHUGLH9LFWRULD6WUHHWHQWODQJ ]HL%0:VWDQGRIIHQDEHUVLHVWLHJQLFKWHLQ6WDWWGHVVHQVWLHJLKU
XQG EHWUDW ]X PHLQHU hEHUUDVFKXQJ GDV ,QVWLWXW IU *HKLUQIRU )DKUHUDXVXQGVLHZHFKVHOWHQHLQSDDU:RUWH'DQQEHUTXHUWHVLH
VFKXQJ6RQDKHZDULFKGHP*HElXGHVHLWPHLQHUVFKLFNVDOVVFKZH ]XPHLQHP6FKUHFNHQGLH6WUD‰HXQGJLQJGLUHNWDXIGDV&DIH]X
UHQ (QWGHFNXQJ QLFKW JHNRPPHQ (V ZlUH PLU QLH LQ GHQ 6LQQ JH
,QVWLQNWLYZROOWHLFKGLH)OXFKWHUJUHLIHQDEHUGDQQZXUGHPLUNODU
NRPPHQGD‰LUJHQGMHPDQGDXIGDV$QJHERWHLQJHKHQZUGHVLFK
GD‰VLHZRKONDXPDQHWZDVDQGHUHVDOVHLQH7DVVH7HHGDFKWH$OVR
YRQ HLQHP 3V\FKRWKHUDSHXWHQ GHV /RPEURVRSURJUDPPV EHUDWHQ ]X
VFKLHQHVPLUNOJHUVLW]HQ]XEOHLEHQLQGHQ6WDGWSODQ]XVHKHQXQG
ODVVHQ,FKZDUWHWHLP&KHVWQXW7UHH&DIHDXIGHUDQGHUHQ6WUD‰HQ
VR]XWXQDKVHLLFKHLQGHXWVFKHU7RXULVWVRIHUQGDVQ|WLJZHUGHQ
VHLWH ZR LFK QDFK PHLQHU HLJHQHQ 8QWHUVXFKXQJ PLW GHP 3RVLWUR
VROOWH$EHUGHQQRFKPX‰WHLFKDQGDV
QHQ(PLVVLRQV7RPRJUDSKHQ JHVHVVHQ KDWWH DXI LKQ 9RQ GD DQV
NRQQWH LFK GLH (LQJDQJVWU GHV ,QVWLWXWV JXW LP $XJH EHKDOWHQ ,FK 3KDQWRPELOGGHQNHQGDVGLH3ROL]LVWLQDQGLH3UHVVHZHLWHUJHJHEHQ
EHVWHOOWH HLQH 7DVVH 7HH XQG EOLFNWH DXI GLH 8KU (V ZDU GUHL 8KU KDWWH XQG ZlKUHQG LFK GDUDXIZDUWHWH GD‰ VLH GDV &DIH EHWUDW
QDFKPLWWDJV VFKLHQ HV PLU PHKU ]X JOHLFKHQ DOV MH ]XYRU ,FK ZDU IURK GD‰ LFK
HLQHQ+XWDXIKDWWH
(V KDQGHOWH VLFK XP HLQH YRUOlXILJH hEHUZDFKXQJ ,FK KDWWH QLFKW
YRU LKQ EHUHLWV KHXWH QDFKPLWWDJ ]X W|WHQ 6LFKHUKHLWVKDOEHU KDWWH ,FKKDWWHPLFKLQGLH1lKHGHU7UJHVHW]WXP6KDNHVSHDUHVFKQHO
LFKDOOHUGLQJVPHLQH3LVWROHIUGHQ)DOOPLWJHEUDFKWGD‰VLFKHLQH OHUIROJHQ]XN|QQHQXQGKLHOWGLH$XJHQ]X%RGHQJHULFKWHWDOVVLH
JQVWLJH*HOHJHQKHLWHUJHEHQZUGH,PPHUKLQZDUHVPHLQDUEHLWV DXIGHP:HJDQGLH7KHNHDQPLUYRUEHLJLQJ6LHNDPPLUVRQDKH
IUHLHU7DJXQGHVZUGHHLQH=HLWODQJGDXHUQELVLFKZLHGHUVRXQ GD‰VLHPLFKKlWWHEHUKUHQN|QQHQVRQDKHGD‰LFKLKUHQ'XIWDXI
JHKHPPWRSHULHUHQNRQQWH IDQJHQXQGHLQVDXJHQNRQQWH'DUDXIZDULFKQLFKWYRUEHUHLWHW$XI
GHQ 'XIW PHLQH LFK *HUFKH NDQQ 5$ QLFKW VLPXOLHUHQ 8QG VLH
:lKUHQG LFK DQ PHLQHP 7HH QLSSWH VFKDXWH LFK LQ GHQ 6WDGWSODQ
URFK N|VWOLFK :LH HLQ VHOWHQHU XQG WHXUHU 6GZHLQ ,FK NRQQWH PLU
XQGEHUOHJWHZHOFKH5RXWHQVLFKIUHLQHQ0RUGYHUVXFKDQERWHQ
VHOEVW]XK|UHQZLH LFK GLH /XIW GLHVLH GXUFKVFKULWW LQ GLH 1DVHQ
9LHOOHLFKWHLQ6SD]LHUJDQJLP6W-DPHV3DUNRGHUGHU:HJEHUGLH
K|KOHVRJDOVEHVWQGHVLHDXVUHLQHP.RNDLQ(VZDUHLQREV]|QHV
:HVWPLQVWHU%ULGJH'DVZlUHQNHLQHVFKOHFKWHQ7DWRUWH
(UHLJQLV XQG HLQHQ $XJHQEOLFN ODQJ HNHOWH PLU YRU PLU VHOEVW ,FK
8QG GDQQ VDK LFK VLH DXV GHP ,QVWLWXW NRPPHQ 6LH GLH 3ROL]LVWLQ IKOWHZLHLFKURWZXUGHDOVLFKGDUDQGDFKWHZDVLFKHLQHU1DFK
*U|‰HUDOVLFKVLHPLUYRUJHVWHOOWKDWWHDEHUGDV)HUQVHKHQYHUlQ ELOGXQJLKUHV.|USHUVDQJHWDQKDWWHXQGNRQQWHQXUKRIIHQGD‰HV
GHUWGLH/HXWH8QGQDWUOLFKZLUNWHVLHMHW]WZRVLHDQJH]RJHQZDU LKUQLFKWDXIILHOZHQQHLQYROONRPPHQIUHPGHU0DQQVRSHLQOLFKEH
HKUIXUFKWJHELHWHQGHU DOV LKU VFKPLHJVDPHV (EHQELOG GDV LFK QRFK UKUW ZLUNWH QXU ZHLO VLH LQ VHLQH 1lKH NDP (LQ SDDU 6HNXQGHQ
YRUNXU]HPJHILFNWKDWWH,FKIUDJWHPLFKZLHVLHZRKODXIGLH)RWR ODQJNDPLFKPLUVRDXIIlOOLJYRUGD‰LFKPLUEHUOHJHQPX‰WHRE
PRQWDJHUHDJLHUHQZUGHGLHLFKLKUJHVFKLFNWKDWWHXQGZQVFKWH LFKZRKOEHUHLWVHLVLH]XHUVFKLH‰HQXPPLFKHLQHU)HVWQDKPH]X
LFKN|QQWH0lXVFKHQVSLHOHQZHQQVLHGHQ8PVFKODJ|IIQHWH HQW]LHKHQ$EHUOHW]WHQ(QGHVLVWHVPLU]XU]ZHLWHQ1DWXUJHZRUGHQ
HFKWHXQGVLPXOLHUWH'LQJH]XHUVFKLH‰HQXQGGHVKDOE]ZHLIHOWHLFK
)UHLQHQ$XJHQEOLFNVWDUUWHVLHGDV&DIHYRQGHUDQGHUHQ6WUD‰HQ
QLFKWGD‰LFKHVWXQZUGH
VHLWHKHUDQDOVEOLFNHVLHPLUGLUHNWLQGLH$XJHQ'LH7UGHV3ROL

219 220
,FKK|UWHZLHVLHEHLP:LUWHLQH7DVVH.DIIHH]XP0LWQHKPHQXQG ]X EHVWHLJHQ QDKP HU GLH 8%DKQ QDFK *UHHQ 3DUN XQG VSD]LHUWH
]ZDQ]LJ1LNRWLQIUHLHEHVWHOOWH'DVQlFKVWH*HUlXVFKGDVLFKK|UWH GDQQLQ|VWOLFKHU5LFKWXQJ3LFFDGLOO\HQWODQJ6KDNHVSHDUHZDUHLQ
ZDUGDV.OLQJHOQLKUHV.OHLQJHOGVGDVDXIGHQ/LQROHXPERGHQILHO XQJHVFKODFKWHUJUR‰HU.HUOPLWIHWWLJGXQNOHU+DXWZLHHLQ*ULHFKH
,QVWLQNWLYEFNWHLFKPLFKXQGHUZLVFKWHHLQSDDU0Q]HQEHYRUVLH 8P VR HUVWDXQWHU ZDU LFK DOV HU YRU HLQHU %XFKKDQGOXQJ VWHKHQ
]XU 7U KLQDXV UROOWHQ (V JHVFKDK LQ 6HNXQGHQVFKQHOOH JDQ] JH EOLHE XQG KLQHLQJLQJ +HXW]XWDJH OHVHQ ZRKO GLH VHOWVDPVWHQ /HXWH
GDQNHQORV HLQ 3DZORZVFKHU 5HIOH[ DXI HLQ DOOWlJOLFKHV (UHLJQLV %FKHU 0DQ HUZDUWHW HLJHQWOLFK NDXP GD‰ VR HLQ .HUO EHUKDXSW
(WZDV$XWRPDWLVFKHV*HGDQNHQORVHVXQGVHKU'XPPHV OHVHQNDQQ$EHUNDXPZDUHULQGHQ/DGHQJHJDQJHQGDYHUOLH‰HU
LKQ VFKRQ ZLHGHU EHUTXHUWH 3LFFDGLOO\ XQG EHWUDW GLH .LUFKH YRQ
©'DQNHªVDJWHGLH3ROL]LVWLQDOVVLHGHQ5HVWLKUHV.OHLQJHOGVHLQ
6W -DPHV DXI GHU 6GVHLWH ,QWHUHVVLHUWH HU VLFK HWZD IU $UFKLWHN
JHVDPPHOWKDWWHXQGZLHGHUDXIVWDQG6LHVWUHFNWHPLUGLH+DQGHQW
WXU",PPHUKLQKDQGHOWHVVLFKXPHLQHGHUZLFKWLJVWHQ%DXWHQ
JHJHQ
6LU &KULVWRSKHU :UHQV 2GHU KDWWH HU VHLQHQ 6FKDWWHQ EHPHUNW XQG
+DXWJOLWWOHLFKWEHU+DXWDOVLFKGLH0Q]HQLQLKUHDXVJHVWUHFNWH
ZROOWH GXUFK GHQ $XVJDQJ LQ GLH -HUP\D 6WUHHW YHUVFKZLQGHQ XP
+DQGIOlFKHOHJWHGHUHQ6LPLOHYRUKLQQRFKPHLQH(LHUJHKDOWHQKDW
PLFK DE]XVFKWWHOQ" ,Q HLQHP $EVWDQG GHU PLU VHOEVW ]X NOHLQ HU
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VFKLHQIROJWHLFKLKP
©%UDXFKHQ6LH+LOIH"ªIUDJWHVLH
'XUFKGLHVFKZHUH*ODVWU]ZLVFKHQGHP+DXSWVFKLIIXQGGHU9RU
©:LHELWWH"ª KDOOHNRQQWHLFKLKQLQHLQHU%DQNGLFKWYRUGHP$OWDUVLW]HQVHKHQ
6RQVWZDUGLH.LUFKHOHHU
6LHZLHVPLWGHP.LQQDXIGHQ6WDGWSODQGHUYRUPLUDXIGHP7LVFK
ODJ ,FK WUDW HLQ XQGVHW]WH PLFK HLQ SDDU 5HLKHQ KLQWHU 6KDNHVSHDUH LQ
HLQH%DQN(UKLHOWGHQ.RSIJHVHQNWXQGVFKLHQ]XEHWHQ%HTXHPHU
,FKVFKHQNWHLKUHLQKRIIHQWOLFK]XYHUVLFKWOLFKHV/lFKHOQ©1HLQ
KlWWH HU HV PLU QLFKW PDFKHQ N|QQHQ 6FKXW] ELHWHW QLFKW YRU 0RUG
DOOHVLQ2UGQXQJªVWDPPHOWHLFK©LFKZHL‰ZRLFKKLQZLOOª
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221 222
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223 224
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225 226
©:LH EHL -DPHV %RQG ZDV"ª NLFKHUWH HU XQG HQWIDOWHWH HLQH WHOOHU Nacht auf dem Kopf gestanden. Sie ging auf die Toilette und machte
JUR‰H 6DWHOOLWHQVFKVVHO ©(V DUEHLWHW EHU ,QMXSLWHUVDW (LQ IHVWJH sich dann an ein paar einfache Yogaübungen, um ein wenig Blut in
OHJWHU .DQDO PLW HLQHU %DQGEUHLWH GLH GHU IQIIDFKHQ :HLWH HLQHV die Großhirnrinde zu locken. Zehn Minuten später fühlte sie sich et-
QRUPDOHQ7HOHIRQVHQWVSULFKW'DPLWEHNRPPHQ6LHHLQH9HUELQGXQJ was besser, warf einen Morgenmantel über und fuhr mit dem Fahr-
K|FKVWHU4XDOLWlW'LH $XVULFKWXQJDXI GHQ6DWHOOLWHQHUIROJWGXUFK stuhl ins Erdgeschoß, um die Morgenpost zu holen. Sie sah sie ohne
GHQ HLQJHEDXWHQ .RPSD‰ LP &RPSXWHU 6LH EUDXFKHQ QLFKW PLW großes Interesse durch: die Rechnungen der Stadtwerke und eine
DVWURQRPLVFKHQ7DEHOOHQRGHUVRHLQHP6FKHL‰KHUXP]XVSLHOHQ6LH Reihe von Postwurfsendungen, die sie zu allem möglichen, von ei-
PVVHQ QXU GLH 1XPPHU GHV 6DWHOOLWHQ ZlKOHQ GLH DXI GHP +|UHU nem günstigen Hypothekendarlehen für eine Wohnung in Docklands
VWHKWXQGGDQQGLHQRUPDOHLQWHUQDWLRQDOH9RUZDKOQXPPHUXQGGLH bis zur Adoption eines russischen Waisenkindes, animieren sollten.
1XPPHUGLH6LHDQUXIHQZROOHQ'LHHLQ]LJH(LQVFKUlQNXQJLVWGD‰ Neben diesen und ähnlichen Poststücken aber lag eine Versandta-
6LH GHQ $SSDUDW QLFKW XQWHU %RGHQK|KH EHQXW]HQ N|QQHQ,P +DQV sche, die aussah, als könne ihr Inhalt interessant sein.
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In die Wohnung zurückgekehrt, legte Jake das Päckchen unter das
Spektroskop auf dem Tischchen im Flur und wartete auf das elektro-
©,FKQHKPHHVªVDJWHLFKXQG]lKOWHYLHU]LJ6FKHLQHDE©6LHZHU nische Signal, daß es keinen Sprengstoff enthielt. Inzwischen machte
GHQHVQLFKWEHUHXHQªVDJWHHU©'HU&,$EHQW]WGDVJOHLFKH0R sie sich in der Küche auf die Suche nach etwas, das ein Frühstück
GHOOHVPX‰HLQIDFKJXWVHLQª darstellen konnte. Sie fand schließlich gerade noch genug Kaffee,
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um einen kleinen Espresso aufzubrühen, und ein paar Haferkekse,
VWHOOW
die sie mit einem Rest Schokoladenaufstrich bedeckte.

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Draußen im Flur machte das Spektroskop ein Geräusch wie eine Be-
lüftungsanlage. Seit die IRA zu Beginn des Jahrhunderts eine Brief-
(U IDOWHWH GLH 6FKVVHO ]XVDPPHQ VFKOR‰ GHQ .RIIHU XQG KLHOW LKQ bombenkampagne gegen die englische Polizei und ihre Familien ge-
PLUKLQ startet hatte, gehörte der Apparat zur Standardausrüstung aller höhe-
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ren Dienstgrade. Meist waren es Finger und Hände gewesen, die ab-
GHQ .RIIHU QRFK HLQPDO PLW GHU +DQG ©8QG HV ZLHJW ZHQLJHU DOV
gerissen wurden, aber in einem Fall waren zwei Kinder zu Tode ge-
]ZHL.LOR.DQQLFKVRQVWQRFKPLWHWZDVGLHQHQ"ª
kommen. Ihr Tod hatte dazu beigetragen, daß die Regierung sich zur
Einführung des Strafkomas entschloß.
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Als die Maschine Entwarnung gab, wischte Jake den Schokoladen-
©1XUPLW,KUHP6FKZHLJHQª aufstrich von den Fingern, riß den gefütterten Umschlag auf und zog

den Inhalt heraus. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ihr klarwurde,
daß die vor der Kamera ausgebreiteten gynäkologischen Detailan-
JAKE HATTE NICHT BESONDERS gut geschlafen. Ihr T-Shirt sichten sie selbst darstellen sollten, und sie brauchte noch ein paar
war schweißgetränkt, und der Hals tat ihr weh, als hätte sie die ganze zusätzliche Sekunden, bevor sie aufhörte, darüber nachzudenken,
227 228
wie diese Aufnahmen denn ohne ihr Wissen entstanden sein konn- kaufte Lebensmittel ein, schaffte es nicht, einen Termin beim Friseur
ten, und zu dem Schluß kam, daß es sich um Fotomontagen handeln um die Ecke zu ergattern, und konsultierte Doktor Blackwell in ihrer
müsse. Automatisch legte sie die Bilder beiseite und zog Cellophan- Klinik in Chelsea.
handschuhe an, bevor sie etwas erneut berührte, das möglicherweise
Als sie mit geschlossenen Augen nackt und aufrecht vor der Thera-
verwertbares Beweismaterial sein konnte.
peutin stand, kehrten Jakes Gedanken wieder zu den Fotografien zu-
Nicht, daß sie es gern gesehen hätte, wenn die Aufnahmen bei Ge- rück, die jetzt in ihrer Handtasche ruhten. Ihr ursprünglicher Ärger
richt vorgelegt werden oder in ihrer Polizeiakte erscheinen sollten. war der Verwunderung darüber gewichen, daß Wittgenstein sexuell
Gefälscht oder nicht, eines war sicher: Es waren gute Fälschungen an ihr interessiert zu sein schien. Das war eine neue Erfahrung in ih-
von der Art, wie sie mit zunehmender Häufigkeit in der Massenpres- rem Polizistinnenleben. Fast ein Thema für einen Aufsatz. Sie fragte
se erschienen. sich, was sie wohl getan hätte, wenn das Gegenüber ihrer nackten
therapeutischen Begegnung nicht Doktor Blackwell, sondern Witt-
Vermutlich computergesteuert, dachte sie. Die Spielchen, mit denen
genstein gewesen wäre. Sie spürte, wie sie errötete, als sie sich auf
sich einige ihrer männlichen Kollegen amüsierten. Die Art von Be-
die Couch legte und darauf wartete, daß Doktor Blackwell mit der
weisstücken, bei denen es irgendeinem perversen Typ in den Sinn
Behandlung begann.
kam, Kopien herzustellen, um den Jungens im Umkleideraum von
New Scotland Yard eine Freude zu bereiten. Jake wußte, daß viele «Schlafen Sie gut?»
ihrer männlichen Kollegen neidisch auf ihren Erfolg waren und das
«Nicht besonders...»
Auftauchen von Fotografien begrüßen würden, die ihr peinlich sein
mußten. Fälschungen oder nicht, Aufnahmen von einer Chefinspek- «Alpträume?»
torin, die sich einen Vibrator in die Vagina schob oder die Vulva ei-
«Nein.»
ner anderen Frau leckte, waren explosiv.
«Schlafen Sie mit irgend jemand?»
Sie war überrascht, als sie entdeckte, daß der Absender Wittgenstein
war. Sie war sich ihrer Sache sicher, weil sich auf einem beigelegten «Nicht, daß ich mich entsinnen könnte.»
Zettel in Schreibmaschinenschrift die Worte «mit blutigen Grüßen»
«Feindseligkeit gegen Männer?»
fanden. Sicher war ihm bewußt, daß Jake als Polizeibeamtin ver-
pflichtet war, die Fotografien im Labor überprüfen zu lassen, und Jake schluckte. «Ich habe einen Penner auf der Westminster-Brücke
natürlich auch, daß ihr das äußerst peinlich sein mußte. Jake fluchte getroffen. Er hat mich angebettelt, aber ich hatte den
ein paar Minuten lang ohne Pause, und für einen Augenblick haßte
sie ihn. Irgendwie hatte sie gehofft, er werde anders sein. Eine Fliege Eindruck, er würde versuchen, mich zu berauben. Beinahe habe ich
summte auf der Fensterscheibe, und Jake erschlug sie mitleidlos, darauf gehofft, damit ich ihn erschießen konnte.»
ohne auch nur einen Blick an sie zu verschwenden. «Sie hatten eine Waffe dabei?»
Zum erstenmal seit Tagen hatte Jake einen freien Vormittag. Sie «Ich habe immer eine Waffe dabei.»

229 230
«Haben Sie sie je benützt?» Im Laboratorium von New Scotland Yard gab Jake eine Plastikhülle
ab, in der sich die Fotografien befanden.
«Ja, aber nur zur Selbstverteidigung.»
«Untersuche sie bitte, sobald du kannst», bat sie den Techniker, der
«Haben Sie schon einmal jemanden getötet?»
Maurice hieß. «Fingerabdrücke, Fiberreste, Haare, alles, was dir ein-
«Nein.» fällt.»
Doktor Blackwells Tonfall wurde etwas steifer. «Wissen Sie was», Maurice nickte kühl und zog ein Paar Handschuhe an. «Übrigens»,
sagte sie sorgfältig artikulierend, «vielleicht hätten Sie den Penner sagte er, «die Diskette, die du runtergeschickt hast, die war sauber.»
erschießen sollen.»
Jake nickte unbehaglich.
Jake richtete sich auf und stützte sich auf den Ellbogen. «Das kann
«Also, was haben wir denn da?» Maurice öffnete die Hülle und zog
doch nicht Ihr Ernst sein», sagte sie.
die Fotografien heraus. «Wird sicher ein paar Stunden dauern», sag-
«Warum nicht? Dies ist eine neoexistentielle Therapie, Jake, nicht te er.
irgendeine Verhaltenstherapie. Wir gehen an die Psychotherapie von
«Schon recht», sagte Jake, «ich bleibe trotzdem hier.»
dem Standpunkt aus heran, daß die vorherrschende Gemütskrankheit
unserer Zeit die Unfähigkeit ist, dem Leben Sinn zu verleihen. Kön- Maurice runzelte die Stirn und wollte ihr widersprechen, bis sein
nen Sie sich die Möglichkeit nicht vorstellen, daß Sie etwas für sich Blick auf das erste Foto fiel.
selbst getan hätten, wenn Sie ihn getötet hätten?»
«Ich lasse diese Fotografien nicht aus dem Auge», sagte sie ent-
Jake war schockiert. «Aber das geht doch nicht», sagte sie. «Es wäre schlossen, «nicht eine Sekunde.»
Mord gewesen.»
Maurice blätterte die übrigen Fotos durch. Dann grinste er.
«Sie haben früher einmal gesagt, Ihren eigenen Vater hätten Sie zur
«Hat dir schon mal jemand gesagt, daß du ausgesprochen fotogen
Strafe dafür, wie er Ihre Kindheit versaut hat, gerne umgebracht.»
bist?»
«Aber das war etwas anderes.» «War es das?» «Ja.»
«Komm, laß das, Maurice», sagte Jake. «Das sind Fälschungen, Fo-
«Wenn Sie diesen Penner erschossen hätten, hätten Sie vielleicht tomontagen.»
symbolisch Ihren Vater umgebracht und die Erinnerung an ihn aus-
«Wenn du es sagst, wird es wohl so sein.» Er nickte wohlwollend.
gelöscht. Ein nutzloser alter Mann. Wen hätte es gekümmert? Und
«Aber niedlich. Richtig niedlich.»
Sie sind Polizistin. Wer hätte Sie verdächtigt?» Jetzt runzelte Jake
ärgerlich die Stirn. «Nein», sagte sie entschieden, «das glaube ich Jake widerstand der Versuchung, ihm in seine schwarze Fresse zu
nicht.» schlagen.
Doktor Blackwell lächelte. «Nein», sagte sie, «ich auch nicht. Aber «Es sind insgesamt zehn», sagte sie. «Und ich will zehn wiederha-
ich wollte es von Ihnen hören.» ben. Hast du das kapiert?»
231 232
Maurice zuckte die Achseln. «Wenn du es sagst.» braucht.»
« Maurice, ich sage es. Ich sage es in ganz großen Buchstaben. So «Danke, Maurice, vielen Dank. Ich werde es dir nicht vergessen.»
groß wie deine lächerliche männliche Libido. O.K.?»
Er grinste wieder. «Also, ich werde es mit Sicherheit nicht verges-
«O.K.» Aber das Grinsen hielt an. sen.»
Zwei Stunden später zählte Maurice ihr die Fotos wieder hin. Ein paar Stunden später rief Jake die drei leitenden Beamten des
«Zehn», sagte er. Ermittlungsteams zu einer Besprechung in ihr Büro. Kriminalsekre-
tär Chung erschien als letzter und setzte sich etwas abseits von Kri-
Sie ließ sie rasch in der Handtasche verschwinden und schloß den
minalinspektor Stanley und Kriminalsekretär Jones hin. Jake saß auf
Reißverschluß. «Hast du irgendwas gefunden?»
der Schreibtischkante. In der Hand hielt sie einen dünnen Aktenord-
Maurice reckte sich und ließ den Kopf über seinen breiten Schultern ner mit dem Röntgenfilm, auf dem das Laboratorium ein Autoradio-
kreisen. «Ich habe das Ganze sehr interessant gefunden», sagte er gramm von Wittgenstein erstellt hatte.
und lachte, als ihn Jake vor die Brust boxte. «Also gut, also gut, reg
«Meine Herren», sagte sie, «ich habe Sie zu mir gebeten, um Sie
dich nicht auf. Keine Fingerabdrücke. Nicht ein einziger. Aber ich
über eine wichtige Neuentwicklung zu unterrichten.» Sie hielt ihnen
habe eine Augenwimper. Nicht von dir. Nicht deine Haarfarbe. Und
den Aktenordner vor die Augen. «Ein DNS-Typ.»
ein paar Samenspuren.» Jakes Gesicht zog sich angeekelt zusam-
men. Männer waren wie Tiere. «Ich habe heute morgen ein paar Fotografien erhalten. Es waren Fo-
tos, die mich darstellen sollen. In Wirklichkeit handelt es sich um
«Sieht aus, als hätte sich dein Bewunderer an seiner eigenen Arbeit
Fotomontagen. Wittgenstein hatte die Bilder von mir, die vor kur-
richtig aufgegeilt. Finde ich nicht überraschend. Mir ist es selber ein
zem in einer Wochenendbeilage erschienen waren, mit ein paar Por-
bißchen warm unter dem Kragen geworden. Jedenfalls habe ich eine
nobildern kombiniert.»
Elektrophorese durchgeführt, und du hast Glück: Was wir gefunden
haben, war hochgradig polymorph.» «Glauben Sie, er wollte Sie erpressen, gnädige Frau?» fragte Jones.
«Hast du einen DNS-Typ?» «Nein», sagte Jake. «Ich glaube, er wollte nur eine peinliche Situati-
on schaffen. Das ist ihm denn auch teilweise gelungen. Die Bilder
«Nicht ganz. Du wirst warten müssen, bis das Autoradiogramm es
befinden sich jetzt in meinem Safe, und da werden sie auch vorläufig
bestätigt. Aber es sieht fast so aus.»
bleiben. Aber das Laboratorium hat sie untersucht und Samenspuren
«Wenn du das hast, können wir ihn mit jedem vergleichen, den wir gefunden. Sie haben eine Reihe von Tests durchgeführt, um die Al-
festnehmen, richtig?» lelfrequenzen festzustellen, und den Genotyp des Mörders bestimmt.
Meine Herren, der Mann, nach dem wir suchen, ist höchstwahr-
«Aber sicher. Die Probe war allerdings zu klein für den Fall, daß
scheinlich Deutscher oder deutscher Abstammung.»
sich bei einer Berufung irgendwelche Unsicherheiten ergeben. Ich
habe den ganzen Samen, der da war, für das Autoradiogramm ver- «Wie der richtige Wittgenstein», sagte Jones.

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«Genaugenommen war Wittgenstein Österreicher», sagte Jake. gerkrieg illegal eingewandert sind.»
«Aber was den Genotyp angeht, kommt das mehr oder weniger auf
«Ja, das könnte sein», sagte Jake, «aber versuchen wir doch mal, ein
das gleiche heraus.»
bißchen optimistisch zu sein.»
Kriminalinspektor Stanley räusperte sich. «Entschuldigen Sie, gnä-
«Kriminalsekretär Chung, wie kommen Sie mit Ihrem Zufallspro-
dige Frau», sagte er. «Haben wir da nicht etwas vergessen? Der Eu-
gramm im Lombrosocomputer voran?»
ropäische Gerichtshof hat entschieden, daß genetische Bevölke-
rungsuntersuchungen auf Grund ihres offensichtlichen Rassismus «Gar nicht so schlecht. Bisher habe ich Lombroso dazu gebracht,
kein zulässiges Beweismaterial darstellen.» zwanzig Namen und Adressen auszuspucken.»
«Wir sind wohl kaum so weit, daß wir den Fall für eine Gerichtsver- «Wie viele Antworten auf unsere Annonce?»
handlung vorbereiten können», sagte Jake energisch. «Im Augen-
«Zehn», sagte Stanley. «Einer davon war ein Schwindler.»
blick versuchen wir, den Schweinehund zu erwischen, und machen
uns keine Sorgen um seine gottverdammten Menschenrechte, Stan- «Irgendwelche dabei, die Philosophennamen als Decknamen ha-
ley. Und wenn die Datei über Allelfrequenzen innerhalb von Bevöl- ben?»
kerungsstrukturen dem Computer dabei hilft, den DNS-Typ des
«Nein», sagte Stanley. «Aber wir lassen sie trotzdem alle überwa-
Mörders mit dem auf seinem Personalausweis zu vergleichen, dann
chen.»
möge es geschehen. Darüber, was für Beweismaterial im Prozeß zu-
lässig oder unzulässig ist, werden wir uns den Kopf zerbrechen, «Bleiben noch fünfzig. Wie viele davon sind Philosophen?»
wenn wir unseren Irren eingesperrt haben.»
Stanley schlug einen Aktenordner auf und sah nach. «Sechzehn,
Stanley zuckte die Achseln und nickte dann. «Kriminalsekretär gnädige Frau.»
Chung», sagte Jake. «Wie lange brauchen wir derzeit durchschnitt-
lich für einen Vergleich?» «Wie sieht es bei den Waffenhändlern aus?»

«Wie lang ist ein Stück Schnur? Also, als grobe Schätzung können «Nichts», sagte Stanley. «Wenn er seinen eigenen Gaszylinder hat,
wir davon ausgehen, daß der Computer vierundzwanzig Stunden für kann er so viel Munition herstellen, wie er will. Ich glaube kaum,
eine Million Vergleiche braucht. Nehmen wir an, der Mörder befin- daß wir in der Richtung Spuren finden werden.»
det sich in der letzten Million, dann macht das siebzig Millionen «Was ist mit dem Studenten in Cambridge, Mr. Heissmeyer?»
Vergleiche, also siebzig Tage.» Er zuckte die Achseln. «Anderer-
seits könnten wir auch Glück haben. Er könnte in der ersten Million Stanley schüttelte den Kopf. «Die örtliche Polizei überwacht ihn.
auftauchen. Anders geht es nicht, jedenfalls noch nicht.» Aber bisher tut er nichts, als seine Zeit auf dem Fluß zu verplem-
pern. Übrigens ist Heissmeyer Amerikaner, nicht Österreicher. Er
«Und das gilt nur, wenn wir annehmen, daß er einen echten Perso- hat ein Stipendium für die Rudermannschaft, oder so etwas. Wird
nalausweis hat», sagte Jones. «Er könnte ja auch einer von den wohl nächstes Jahr beim Wettkampf antreten.»
deutsch-russischen Flüchtlingen sein, die nach dem russischen Bür-
235 236
Jake zuckte die Achseln und wandte sich dann an Jones. «Das Picto- das?»
fon für Jameson Lang, ist das schon installiert?»
«Ja. Wir versuchen, einen passenden Personalausweis zu finden.»
«Jawohl, gnädige Frau. Ich habe vorhin erst mit dem Professor tele-
«Gut. Irgend jemand hat für morgen eine Anfrage zu der Mordserie
foniert.»
im Parlament vorgesehen. Ich möchte sagen können, daß eine Ver-
«Fangschaltung? Wie weit sind wir damit? Wenn der Schweinehund haftung unmittelbar bevorsteht.»
anruft, will ich bereit sein.»
«Unmittelbar bevorstehend könnte in diesem Fall bis zu siebzig Ta-
«Ich habe eine digitale Fangschaltung für den gesamten normalen ge bedeuten, Frau Staatssekretärin», sagte Jake. «Der Computer
Sprechverkehr organisiert und außerdem einen Satellitenmonitor, könnte so lange brauchen, bis alle Vergleiche angestellt sind.»
der landesweit auf Schlüsselwörter programmiert ist. Wenn unser
Jake sah, wie die Staatssekretärin die Stirn runzelte und nervös an
Mann die Worte <Lombroso> oder <Wittgenstein> bei einem Tele-
der Perlenkette um ihren Hals spielte. Jake fragte sich, ob es echte
fongespräch benutzt, sollte uns der Satellit sagen können, von wo
Perlen waren. Die Staatssekretärin war zum Ausgehen bereit. Das
das Signal ausgegangen ist.»
paillettenbestickte Abendkleid war so tief ausgeschnitten, daß es et-
«Aufnahmegeräte?» was freigab, das wie ein nackter Kinderpopo aussah, in Wirklichkeit
aber die Brust der Staatssekretärin war. Sie trug das lange schwarze
«Automatisch auf Ihren sämtlichen Leitungen, gnädige
Haar über der Stirn zurückgekämmt und frei über die Schultern fal-
Frau», sagte Jones, «hier, zu Hause und an Ihrem tragbaren Appa- lend, so daß sie aussah wie eine antike persische Prinzessin.
rat.» Er grinste. «Sie sollten aufpassen, daß Sie nichts Unhöfliches
«Es wäre besser, Sie sagten etwas wie <Die polizeilichen Ermittlun-
über den Polizeidirektor sagen. Es wäre schade, wenn Sie suspen-
gen haben Schlußfolgerungen gezeitigt, und eine Festnahme ist in
diert würden wie Challis.»
naher Zukunft zu erwarten>», schlug Jake vor. «Wenn wir dann in-
Jake lächelte Jones zu und überlegte dabei, ob das Kompliment wohl nerhalb der nächsten paar Tage eine Verhaftung vornehmen, wird es
ehrlich gemeint war. aussehen, als hätten Sie mehr gewußt, als Sie sagen wollten. Man
wird Ihre Äußerung für taktisch verschleiernd, nicht für absichtlich
Ehrlich und ernst zu nehmen. Grace Miles ließ keine Zweifel daran,
irreführend halten. Aber die Behauptung, eine Verhaftung stehe un-
wann sie etwas ernst nahm. Sie rief gegen Abend an, als Jake daran
mittelbar bevor, könnte auch danebengehen.»
dachte, nach Hause zu gehen.
Mrs. Miles'langsames Kopfnicken gewann an Tempo, als sie einsah,
Jake stellte auf dem Bildschirm fest, daß die Staatssekretärin bereits
wie gut Jakes Ratschlag war. Dennoch neigte sie nicht zu Dankbar-
zu Hause war. In einer Zimmerecke konnte sie einen Säugling er-
keit. Statt dessen nahm ihr Gesicht einen ärgerlichen Ausdruck an.
kennen, der rund um Mrs. Miles'feuerroten Aktenkoffer herum-
krabbelte. «Ja, ich nehme an, Sie haben recht», sagte sie und fügte dann hinzu:
«Ach, übrigens, was soll das eigentlich, daß Sie diesem Irren auf Ih-
«Gilmour sagt, Sie haben einen genetischen Fingerabdruck. Stimmt
rer Pressekonferenz medizinische Hilfe angeboten haben? Ich war zu
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der Zeit leider in Brüssel und habe jetzt erst nachgelesen, was Sie « Doch, und ein paar der Artikel habe ich selbst geschrieben », sagte
gesagt haben. Ich jedenfalls kann mich nicht erinnern, daß jemand Jake. «Dennoch sind wir es der Kriminologie schuldig, diesen Mann
diese lustige Idee mit dem Generalstaatsanwalt abgestimmt hätte.» in Haft zu nehmen. Was die Erstellung von Verbrecherprofilen an-
geht, könnte man aus diesem Fall viel lernen.»
«Ich wollte, daß er Kontakt zu uns aufnimmt», sagte Jake, «daß er
sich vielleicht sogar freiwillig stellt. Wenig Chancen dafür, solange «Ach, ja», sagte Mrs. Miles, «das ist ja Ihre Spezialität. Also noch
seine Aussichten nicht mehr sind als eine Injektionsnadel und ein einmal, Frau Chefinspektor, das einzige, das die Wähler über diesen
langes Strafkoma. Wie ich die Lage beurteile...» Wahnsinnigen erfahren wollen, ist, daß er nach seiner Mutter schreit,
wenn sie ihm die Nadel in die Vene jagen. Ich hoffe, das war deut-
«Wie Sie die Lage beurteilen...» Ihr Tonfall war verächtlich. «Muß
lich genug. Gute Nacht.»
ich Sie daran erinnern, Frau Chefinspektor, daß es Ihre Aufgabe ist,
diesen Wahnsinnigen zu fangen, nicht darüber zu entscheiden, ob er Flimmernd erlosch der Bildschirm. Ein paar Sekunden vergingen,
unzurechnungsfähig ist oder nicht. Überdies baut die Strafrechts- dann fragte der Apparat, ob die automatische Aufzeichnung des Ge-
theorie dieser Regierung, für die wir bei den letzten Wahlen ein sprächs gespeichert werden solle. Ärgerlich bediente Jake die Ja-
überwältigendes Mandat erhalten haben, auf dem Prinzip der Sühne Taste. Sie ahnte, daß es sich als nützlich erweisen konnte, alle zu-
auf. Die Gerechtigkeit läßt nicht mehr zu, daß einzelne Straftäter der künftigen Gespräche mit einer Frau wie der Staatssekretärin zu do-
vollen Strenge des Gesetzes entgehen, nur weil sie angeblich gei- kumentieren.
steskrank sind.
Jake drehte sich im Stuhl und starrte auf das dunkle Fenster, in dem
Die Öffentlichkeit will sich das einfach nicht mehr gefallen lassen. ihr Spiegelbild schwebte.
Sie will wissen, daß der Verbrecher bestraft wird. Wenn dieser
So war es wohl im Strafkoma, dachte sie. Man war da und doch
Mann einmal festgenommen worden ist, hoffe ich, daß er zu irrever-
nicht da. Eine Zwischenexistenz zwischen Leben und Tod.
siblem Koma verurteilt wird. Auf alle Fälle sollte ihm eine Mindest-
strafe von dreißig Jahren im Dämmerzustand sicher sein. Ich persön- Ein furchtbarer Gedanke! Sie wußte nur zu gut, daß Mrs. Miles nicht
lich bin der Meinung, daß es rundherum besser wäre, er würde nicht übertrieben hatte, als sie von Verbrechern sprach, die angesichts ei-
lebend gefangengenommen. Ich hoffe einfach, daß er bewaffnet ist, ner eiskalten Injektionsnadel voll von Schattenreich wie kleine Kin-
wenn Sie ihm auf die Spur kommen, so daß Ihnen nichts anderes üb- der nach ihren Müttern riefen. Die Strafe war schlimmer als eine
rigbleibt, als ihn zu erschießen.» noch so lange Gefängnisstrafe und fast so schlimm wie der Tod.
Aber das kam nun einmal davon, wenn eine Gesellschaft beim Ge-
Jake wollte eine abweichende Meinung äußern, aber erneut schnitt
danken an die Todesstrafe moralische Bedenken empfand und zu-
ihr die Staatssekretärin das Wort ab.
gleich die Gefängnisse zu teuer und zu überfüllt waren, um andere
«Das, Frau Chefinspektor, ist die Standardvorgehensweise: der To- als Bagatellvergehen darin zu sühnen.
desschuß für alle bewaffneten Verbrecher. Oder lesen Sie Ihre eige-
Jake kannte alle Gründe, die für das Strafkoma angeführt wurden.
nen Polizeizeitschriften nicht mehr?»
Im Vergleich zu den Kosten, die eine zehn- bis fünfzehnjährige Ge-

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fängnisstrafe verursachte, war es billig. Seit es «intelligente Betten», zum Mars und zur Venus gemeldet hatten; infolgedessen könne das
computergesteuerte selbstregulierende Kokons, billige Herz- Strafkoma nicht als grausam betrachtet werden.
Lungen-Maschinen und kostengünstige Möglichkeiten der intrave-
Das Argument, daß der Tod in subjektiver Hinsicht nur das Bewußt-
nösen Ernährung gab, konnte man einen Strafgefangenen für weni-
sein betreffe, wurde angesichts der Aussagen von Strafgefangenen
ger als ein Zehntel der Kosten, die eine Gefängnisstrafe verursacht
hinfällig, die wieder aus dem Koma zurückgekehrt waren und von
hätte, im Koma halten. Die Geräte waren ursprünglich für das öf-
ihren Träumen erzählten, Berichte, die durch die Beobachtung der
fentliche Gesundheitswesen entwickelt worden, dann aber hatte sie
elektroneuralen Gehirntätigkeit fast aller zum Koma Verurteilten be-
das Justizvollzugssystem annektiert. Das Koma verhinderte auch je-
stätigt wurden.
de Gelegenheit zu weiterer krimineller Aktivität, wie sie in Gefäng-
nissen üblich war. Über Nacht zerstörte die Einführung des Strafko- Aber wenn Jake ins Leere starrte und versuchte, sich das Koma vor-
mas eine Gesellschaft von Verbrechern und machte teure Gefängnis- zustellen, lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Sie wußte, daß
revolten zu einer Angelegenheit der Vergangenheit. Und je nach der ihre eigene Einstellung zum Strafkoma zwiespältig war. Die ge-
Wahl der angewandten Chemikalien konnte das Koma ohne größere samtgesellschaftlichen Vorteile waren unübersehbar. Aber vom
physische oder seelische Schäden rückgängig gemacht werden. In Standpunkt des Individuums aus konnte sie dem Leben nur insoweit
den Vereinigten Staaten, die das Strafkoma als erstes Land einge- einen Wert beimessen, als es die notwendige Voraussetzung für Be-
führt hatten, gab es sogar Hinweise auf eine Abnahme drogenmoti- wußtsein war. Was hatte Wittgenstein dazu zu sagen? Jake kramte
vierter Gewaltverbrechen. ihr zunehmend zerfleddertes Exemplar des 7UDFWDWXVhervor, schlug
eine der letzten Seiten auf und las:
Die Gründe, die gegen das Strafkoma sprachen, waren schwerer zu
vertreten. Wenn etwa vorgebracht wurde, einen Menschen seines «Der Tod ist kein Ereignis des Lebens. Den Tod erlebt man nicht.»
Bewußtseins zu berauben sei dasselbe wie ihm das Leben zu neh-
Das klang vollkommen logisch. Und die Aussageform selbst konnte
men, erwiderten die Befürworter des Strafkomas, ein komatöser Zu-
mühelos dahingehend umgeformt werden, daß Bewußtlosigkeit
stand sei eher mit dem Schlaf zu vergleichen; gewiß aber sei es hu-
zweifellos ein Ereignis des Lebens war. Angesichts des großen Teils
maner, einen Menschen zu einem lang andauernden Schlaf zu verur-
des menschlichen Lebens, der im Schlaf verbracht wurde, war es
teilen, als ihm bei vollem Bewußtsein über einen gleich langen Zeit-
auch durchaus denkbar, daß Lebende den Zustand der Bewußtlosig-
raum die Freiheit zu rauben und ihn so allerlei unangenehmen und
keit erlebten. Hatte Freud nicht nachgewiesen, daß Bewußtsein keine
entwürdigenden Umständen auszusetzen.
notwendige Bedingung für ein interessantes Leben war?
Gegen den vor dem Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten
Wo blieb dann der Sinn? Wo in der erschreckenden Majestät eines
und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vorgebrach-
unpersönlichen schwarzen Himmels, der das Universum war, lag die
ten Einwand, das Koma stelle eine grausame und ungewöhnliche
Bedeutung?
Bestrafung dar, wurde mit Erfolg dahingehend argumentiert, daß die
ganze Zukunft der bemannten Raumfahrt von in Tiefschlaf versetz- Jake starrte ihr eigenes Spiegelbild an, und allmählich führte sie die
ten Astronauten abhing, die sich freiwillig für ihre Fünfjahresreise Tiefe dessen, was dahinter lag, wieder zur Erfahrung der Wirklich-

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keit zurück. Das Gefühl für andere Realitäten, für die Trivialität des *XW]XJHJHEHQGDVLVW NHLQEHVRQGHUVRULJLQHOOHU*HGDQNHMHGHQ
Alltags, für etwas, das die tägliche Routine überschritt, all diese Ge- IDOOV KHXW]XWDJH QLFKW PHKU ,FK NDQQ LKQ QLFKW DOV PHLQHQ HLJHQHQ
fühle stiegen allmählich in ihr auf. Wer sich selbst sehen will, muß EHDQVSUXFKHQ$EHU6LHYHUVWHKHQZRUXPHVPLUJHKW1RFKHLQPDO
dahin blicken, wo er nicht ist. Wer nach Sinn sucht, braucht den 'LH%HKDXSWXQJLFKKlWWHJHW|WHWDOVGLH6WLPPHQ]XPLUVSUDFKHQ
Willen, sich von sich selbst abzuwenden. XQG GLH 6WLPPHQ KDEH *RWW JHVDQGW JHQJW HLQIDFK QLFKW 'DV LVW
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War das der Grund, daß Männer wie der, der sich Wittgenstein
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nannte, töteten? Um eines momentanen Aufblitzens von Identität
willen? Für ein paar Sekunden der Bedeutung? Um einem Leben
ohne Sinn zu entfliehen? :HQQ6LHHWZDVLQGHU5LFKWXQJYRUJHVFKODJHQKlWWHQGD‰LFKW|WH
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Vorhin hatte Jake ihn kurze Zeit gehaßt. Jetzt entdeckte sie ihre Fä-
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higkeit, echtes Mitleid zu empfinden.
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243 244
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245 246
MD 'HVFDUWHV 'HU 9DWHU GHU QHX]HLWOLFKHQ 3KLORVRSKLH ,FK ZUGH stigung einer jungen Frau verbüßt. Darüber hinaus war es eben jener
LKQ DXV WRWDOHU 6NHSVLV ]HUVW|UHQ (UOHEH QLFKW VLHK KHU HLQ 6WULFK Richards, der am Tag, an dem Mary Woolnoth ermordet wurde, eine
YHUGDPPWLKQ Lieferung in die Brewer Street gefahren hat.»
,FKW|WHDOVRELQLFK «Interessant», sagte Jake. «Ich nehme an, Sie brauchen meine Unter-

schrift unter den Antrag auf einen Durchsuchungsbefehl.»
«Jawohl, gnädige Frau», sagte Crawshaw, «wenn es Ihnen nichts
JAKE SASS ALLEIN IM BÜRO. Die Spitzen ihrer langen schlan-
ausmacht.» Er überreichte Jake ein Schriftstück, das sie durchlas und
ken Finger berührten sich vor der Stirn, als sei sie tief ins Gebet
schnell unterschrieb.
versunken oder in Gedanken verloren, vielleicht auch in beides.
«Danke, gnädige Frau.» Er stand auf und wollte gehen.
Ed Crawshaw steckte den Kopf durch die Tür, räusperte sich, und
als er sicher war, Jakes Aufmerksamkeit erregt zu haben, hob er bei- «Ach ja, Ed. Geben sie mir Bescheid, wenn Sie ihn festnehmen. Ich
de Augenbrauen, als wolle er eine Frage stellen. würde gerne selber mit ihm sprechen.»
«Ja, Ed», sagte sie gähnend, «was gibt's?» Sie rieb sich die Augen, «Jawohl, gnädige Frau.»
die das Kunstlicht tränen ließ, und knipste die Schreibtischlampe
«Ed!»
aus. Waren es Fluor- oder Halogenbirnen, von denen man angeblich
blind wurde? Vielleicht erschien ihr das eigene Leben ja weniger «Gnädige Frau?»
künstlich, wenn sie sich ein paar Blumen ins Büro stellte.
«Gute Arbeit!»
«Haben Sie einen Augenblick Zeit, Boss?» «Sicher, setzen Sie sich.»
Crawshaw war noch nicht lange weg, als die Zentrale anrief, um
Crawshaw setzte sich.
mitzuteilen, daß Wittgenstein am Telefon war. Jake drückte sofort
«Erinnern Sie sich an das Olivenöl, das wir an Mary Woolnoths auf den Schalter für die Pictofonleitung, die zu Sir Jameson Längs
Kleidern gefunden haben?» Jake nickte. Wohnung in Cambridge führte.
«Also, das kommt in Fässern aus Italien und wird hier im Vereinig- «Er ist dran, Herr Professor», verkündete sie dem überraschten
ten Königreich in Flaschen abgefüllt. Die Firma heißt Sacred Oil Lang. «Wittgenstein. Sind Sie bereit?»
Company und arbeitet in Ruislip. Das abgefüllte Öl wird dann im
«Ich glaube schon», sagte Lang und rückte seinen Schlips zurecht.
ganzen Land von einer Firma namens Gillards in Brent Cross ver-
trieben. Gillards liefern das Öl an mehrere Großhändler in London; Jakes Bildschirm teilte ihr mit, daß die Fangschaltung aufgebaut
einer davon hat sein Geschäft in der Brewer Street in Soho. Die Lie- war. Sie wies die Zentrale an, den Anruf durchzustellen.
ferung für Soho macht immer derselbe Fahrer, ein gewisser John
«Frau Chefinspektor?» meldete sich Wittgenstein mit ruhiger Stim-
George Richards. Zufällig hat nun dieser Richards vor acht Jahren
me.
eine Strafe von zwei Jahren unter der Nadel wegen sexueller Belä-

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«Ja. Es freut mich, daß Sie angerufen haben.» Sie hätte etwas darum Die Stimme klang unbeschwerter und scherzhafter als auf der Dis-
gegeben, bei einem Pictofonanruf sein Gesicht sehen zu können. kette. Aber Jake wußte, daß Kriminalsekretär Jones den Anruf be-
reits zu dem hauseigenen Gerichtspsychiater des Yard durchgestellt
«Oh, daran hege ich keine Zweifel. Wollen sie eine Mikrofonprobe
hatte, um eine exaktere psychologische Auswertung zu ermöglichen.
für ihr Aufnahmegerät? Achtung, Achtung, eins, zwei, drei. Wie war
Gleichzeitig war ein Toningenieur mit dem Versuch beschäftigt, alle
das?» Er lachte in sich hinein. «Wissen Sie, ich hoffe wirklich, daß
irgendwie erkennbaren Hintergrundgeräusche zu isolieren und zu
Sie das Gespräch aufzeichnen. Es könnte sich um ein historisches
identifizieren. Jake steckte eine Zigarette an. Zum Teufel mit den
Dokument handeln. Die Zeiten sind vorbei, als man Botschaften mit
Vorschriften, dachte sie, dies ist ein Notfall.
Kreide an eine Wand nahe dem Tatort kritzelte: <Es sind nicht die
Juden, die man umsonst beschuldigen wird.»> «Ich habe gehofft, ich könnte Sie dazu überreden, damit Schluß zu
machen», sagte sie. «Sie sollten niemand mehr töten. Es hat genug
«Jack die Ripper», sagte Jake, die das Zitat erkannte. «Die Botschaft
Tote gegeben.» Sie zog krampfhaft an ihrer Zigarette. «Vielleicht
neben dem Opfer. Wer war sie wieder? Catherine Eddowes?»
kann ich Sie sogar überreden, sich zu stellen. Ich würde Ihnen gerne
«Sehr gut», sagte die Stimme. «Ich bin beeindruckt, Frau Chefin- helfen, wenn Sie bereit sind, sich helfen zu lassen.»
spektor. Wenn es nicht abgedroschen klänge, würde ich sie als einen
«Haben Ihnen die Fotos gefallen, Jake?» fragte er.
würdigen Gegner bezeichnen.» Er hielt inne. «Darf ich Sie Jake
nennen? Ich habe bereits das Gefühl, Sie gut zu kennen.» Sie merkte, daß er sie provozieren wollte, daß er erkunden wollte,
wie weit ihre Hilfsbereitschaft wirklich ging.
«Wenn Sie wollen. Über was wollen Sie mit mir sprechen?» «Nicht
doch, Jake. Das ist Ihre Talkshow. Sie haben mich eingeladen. Jetzt «Sie waren sehr gut», sagte sie mit ruhiger Stimme.
müssen Sie dafür sorgen, daß ich mich entspanne, daß ich mich ge-
«Finden Sie?» Er stieß ein kurzes, unzufriedenes Geräusch aus. «Ich
löst genug fühle, etwas Interessantes über mich zu erzählen. So ist
war nicht sicher, ob ich die Schamlippen richtig hingekriegt habe.
das Ganze doch gedacht? Aber zweierlei will ich von Anfang an sa-
Und dann das Schamhaar. Ich kam nicht darauf, ob es mehr buschig
gen, Jake. Erstens: Sparen Sie sich die Mühe, den Anruf zurückzu-
oder eher glatt ist, ob das Haar direkt am Rand der Schamlippen an-
verfolgen. Ich rufe von einem Satellitentelefon aus an. Die Wunder
setzt oder am Schambein aufhört. Also, wie gut habe ich geraten?»
der Technik!»
Jake fühlte, wie sie rot wurde. «Kommen Sie schon», sagte sie. «Sie
«Und zweitens: Irgendwann werde ich auflegen müssen, um jeman-
wissen, daß dieser Anruf aufgezeichnet wird. Wollen Sie mich vor
den zu töten. Natürlich liegt die Überraschung darin, wer es sein
allen meinen Kollegen blamieren? Sprechen wir von etwas ande-
wird. Das spare ich mir bis zuletzt auf. Dann werde ich seinen
rem.»
Decknamen durchgeben. Aber machen Sie sich deshalb keine Sor-
gen. Betrachten Sie es einfach so, als sei ich dabei, Werbung für ein «Wie sieht Ihr Arschloch aus? Und was ist mit den Brustwarzen?»
neues Buch oder eine neue Platte zu machen. Bis dahin haben wir
«Wissen Sie», sagte Jake, «ich glaube, Sie spielen nur Theater. Ich
viel Zeit. Wenn mein Mann bei seiner normalen Routine bleibt, ha-
glaube überhaupt nicht, daß Sie so sind, wie Sie tun. Schließlich ha-
ben wir mindestens zwanzig Minuten.»
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be ich es im Lauf der Jahre mit ein paar echten Perversen zu tun ge- Legalität meines Handelns gemessen wird, und so ein Urteil über die
habt, und Sie haben so gut wie keine Ähnlichkeit mit denen. Ich Gültigkeit dessen, was ich tue, gefällt werden kann, aber der Kon-
glaube, Sie wollen Eindruck schinden und mir etwas vormachen, das sens über diese Kriterien ist nicht universell. Wenn wir darüber dis-
Sie gar nicht sind.» kutieren wollten, was ich tue oder getan habe, müßten wir uns zu-
nächst mit der Frage beschäftigen, wie man es beschreiben soll. Das
Wittgenstein lachte laut. «Also gut», sagte er.
wiederum könnte eine kritische Überprüfung der Begriffe <richtig>
Interessant, dachte sie. Man konnte ihm widersprechen, ohne ihn zu und <falsch> und aller moralischen Begriffe erforderlich machen.
provozieren. Das hieß, daß sie es zumindest auf einer Ebene mit ei- Wir könnten darüber sprechen, ob mein Handeln nachweisbar in hin-
ner rationalen Persönlichkeit zu tun hatte. reichendem Maße gegen das öffentliche Interesse verstößt, daß es
Strafe verdient, oder ob man zu Recht behaupten kann, es handle
«Würde es Sie interessieren, wenn ich Ihnen erzähle, daß ich Ihnen
sich um gerechtfertigte Tötung.»
nahe genug gekommen bin, um Sie zu riechen, Jake? Was für ein
Parfüm tragen sie? Rapture von Luther Levine?» «Aber das sind doch nur verbale...»
Jake fuhr zusammen. Woher konnte er das wissen? «Ich bin enttäuscht von Ihnen, Jake», sagte er. «Das wäre ein ver-
nünftiger Einwand, wenn die Bezeichnung dessen, was ich tue, als
«Es gibt Leute, die finden es ein wenig schwer, aber ich mag es. Um
legal oder illegal, als strafbar oder gerechtfertigt, keine weiteren
die Wahrheit zu sagen, ich habe einen Steifen davon bekommen. Ich
Konsequenzen hätte. Aber natürlich macht es dann einen Unter-
bin allerdings auch viel geruchsempfindlicher als die meisten.»
schied, wenn der Ausdruck <illegale Tötung> zugleich <Verurtei-
«Woher wissen Sie, was für ein Parfüm ich trage? Haben Sie mich lung zu Strafkoma> bedeutet.»
verfolgt?»
«Was Sie getan haben, ist offensichtlich illegal. Mord ist nach den
«Nein», sagte er. «Aber wir haben einander getroffen. Wovon spra- Grundsätzen jeder anständigen Gesellschaft verwerflich.»
chen wir gerade? Ach so, Sie haben irgendwelchen Scheiß darüber
«Da brauchte man wohl zunächst Hinweise darauf, wie die Aus-
erzählt, daß Sie mir helfen wollen.»
drücke <anständig> und <Mord> verwendet werden sollen. Ich
Jake mußte sich anstrengen, dem Gespräch aufmerksam zu folgen. kann, beispielsweise, leicht nachweisen, warum ein Mörder nicht in
Seine Behauptung, er habe sie getroffen, hatte sie durcheinanderge- jedem Fall bestraft werden sollte. Gehen wir von der Definition aus,
bracht. Wann wohl? «Das will ich aber», sagte sie. «Machen Sie sich der zufolge ein Mörder jemand ist, der einen anderen getötet hat,
nichts vor, Jake.» dies absichtlich getan hat und sich der Tatsache voll bewußt war,
und daß dies weder die Gesellschaft noch gar das Opfer gewollt ha-
«Also lassen Sie sich wenigstens überreden, niemanden mehr umzu-
ben. Wenn dann Herr Brown Herrn Green ermordet, eine Gefängnis-
bringen. Wozu soll das gut sein?»
oder Komastrafe absitzt und danach in die normale Gesellschaft zu-
«O doch, Jake, es ist zu etwas gut. Wir können uns zwar darüber ei- rückkehrt, ist er immer noch ein Mörder. Also ist es offenbar nicht
nigen, daß ich Menschen töte und daß es Kriterien gibt, an denen die immer wahr, daß ein Mörder bestraft werden sollte.»

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Jake blickte auf den Bildschirm und nickte Jameson Lang zu. «Ich übernehmen. Sehen Sie, Ihre Beurteilung meiner Taten hat das glei-
möchte Sie jemandem vorstellen», sagte sie. «Sir Jameson Lang, che Recht auf Anerkennung wie die hohlen ausgestopften Männer
Philosophieprofessor an der Universität Cambridge. Ich habe ihn aus dem toten Land, dem Kaktusland von Clapham. Sie müßten also,
aufgefordert, an unserem Gespräch teilzunehmen. Ich hoffe, Sie ha- um dem Vorwurf der Einseitigkeit zu entgehen, leugnen, daß es eine
ben nichts dagegen.» alleingültige Beurteilungsbasis für meine Taten gibt.»
«Offen gestanden, Jake», sagte Wittgenstein kühl, «ich bin ein we- «Aber genau darum geht es ja, wenn wir von Gesellschaft reden»,
nig überrascht, daß Sie sich nicht an die Regeln halten. sagte Lang, «um die einseitige Anerkennung eines gemeinsamen
Maßstabs für das, was richtig und falsch ist.»
Einen Souffleur mitzubringen ist schon ein starkes Stück. Aber na-
türlich ist es mir eine Ehre, mich mit dem Professor zu unterhalten. «Das führt aber nicht zur Wahrheit über mein Handeln. Allenfalls zu
Ich kenne seine Werke gut. Die Romane, genauer gesagt. » Er ki- einem Anschein von Wahrheit. Jahrtausendelang nannte man es
cherte. «Ich kann mich nicht erinnern, daß er irgendwelche philoso- Diebstahl, wenn ein Mann das Eigentum eines anderen an sich
phischen Arbeiten veröffentlicht hätte.» nahm. Aber genau das gleiche galt fast ein Jahrhundert lang in ge-
wissen Teilen der Welt unter dem Aspekt des Marxismus als legitim.
« Guten Tag», sagte der Professor zögernd. «Das Beispiel, das Sie
Die politische Philosophie von morgen könnte den Mord ebenso zu-
soeben angeführt haben, beruht auf inkorrekter philosophischer
lassen, wie der Marxismus den Diebstahl zugelassen hat. Sie spre-
Grammatik, besonders in der Verwendung des Wortes <sollte>.
chen von den Maßstäben einer anständigen Gesellschaft, Professor
Aber abgesehen von der semantischen Frage hat die Chefinspektorin
Lang. Aber was für eine Gesellschaft ist das, die den Präsidenten der
völlig recht: Es gibt einen allgemeingültigen Maßstab zur Beurtei-
Vereinigten Staaten, der den Einsatz von Atomwaffen zur Tötung
lung von Handlungen.»
Tausender von Menschen befiehlt, für einen großen Mann hält und
«Jetzt muß ich von Semantik sprechen, Herr Professor. Es hängt einen anderen, der einen einzigen Präsidenten ermordet, für einen
doch wohl davon ab, was Sie mit dem Wort <allgemeingültig> sa- Verbrecher?»
gen wollen. Wenn Sie von der Beurteilung meines Handelns spre-
«Wenn Sie von Harry Truman sprechen», sagte Lang, «der hat es
chen, meinen Sie seine Beurteilung nach normalen Maßstäben unter
getan, um den Krieg zu beenden, um Leben zu retten. Der Abwurf
normalen Untersuchungsbedingungen, so als ob Sie den berühmt-
der Atombombe war die einzige Möglichkeit, den Verlust von noch
berüchtigten Mann im Omnibus nach Clapham fragten, falls es noch
mehr Leben zu verhindern.»
einen Omnibus nach Clapham gibt. Aber sehen Sie, Herr Professor,
ich könnte mich ja gegen diesen Maßstab entschieden haben. Ich «Was ich tue, entspringt dem gleichen Motiv: den Verlust von noch
könnte die Maßstäbe eines südamerikanischen Kopfjägers oder eines mehr Leben zu verhindern.»
existentialistischen Romanhelden bei Camus, vielleicht sogar eines
«Aber Sie sind es nicht, der die Entscheidung zu treffen hat. Sie ge-
rechtsradikalen Schlägers, einer extremistischen Feministin oder ei-
ben der Gesellschaft ein schlechtes Beispiel.»
nes Maldoror der Gegenwart übernommen haben. Vielleicht habe
ich mich ja sogar entschlossen, all diese Maßstäbe auf einmal zu «Sie reden wie ein konservativer Moralist, Herr Professor.»

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«Vielleicht. Aber natürlich müssen Sie die Tatsache akzeptieren, daß «Nehmen wir an, ein Mensch dieses Typs gefährdet das Leben ande-
Sie nach dem Urteil eben der Gesellschaft, die Sie anscheinend ab- rer, indem er hartnäckig an dem seinen festhält. Wäre es dann nicht
lehnen, festgenommen und bestraft werden müssen.» nachweisbar?»
«Müssen?» Er lachte. «Nein, ich akzeptiere allenfalls die Möglich- «Möglicherweise ja.»
keit.»
«Würden Sie nicht das Recht empfinden, eine derartige Person aus-
«Sie behaupten, Sie handelten, um Menschenleben zu retten. Dann zuschalten?»
müssen Sie doch wohl akzeptieren, daß die Ehrfurcht vor dem
«Das hinge von den Umständen ab», sagte Lang, «etwa davon, wie
menschlichen Leben die Grundlage jeder Moral ist.»
offensichtlich die Gefahr für andere wäre. Ich weiß, worauf Sie hin-
«Nein, das gilt nur für lebenswertes Leben.» auswollen, aber ich bin nicht bereit einzugestehen, daß Ihr eigener
Fall so klar und selbstverständlich ist wie der, den Sie soeben be-
«Und was ist das Kriterium dafür?»
schrieben haben.»
«In den meisten Fällen das subjektive Gefühl, daß das Leben weiter-
«Was wären Ihres Erachtens akzeptable Kriterien, um zu einer Ent-
hin lebenswert ist.»
scheidung dieser Art zu gelangen?»
«Und meinen Sie nicht, daß die Männer, die Sie getötet haben, das
«Ich nehme an, es müßte sich um einen objektiven Maßstab handeln,
Gefühl hatten, ihr Leben sei weiterhin lebenswert?»
um eine Einschätzung dessen, was ein vernünftiger Mensch unter
«Höchstwahrscheinlich hatten sie das.» Seine Stimme verfinsterte vergleichbaren Umständen täte.»
sich ein wenig. «Aber natürlich könnten sie sich geirrt haben. Stellen
«Eine subjektive Einschätzung eines objektiven Maßstabs?» Witt-
Sie sich vor, Einstein hätte erfahren, daß es schlecht um seine Frau
genstein kicherte leise. «Das klingt interessant. Glauben Sie nicht,
stand, und hätte den Willen zu leben verloren. Hätte man nicht so
daß ich mir Mühe gegeben habe, den Fall meiner VMK-negativen
etwas wie eine Verpflichtung empfunden, ihn daran zu erinnern, wie
Brüder objektiv zu betrachten? Und daß ich zu dem Schluß gekom-
lebenswert ein Leben wie das seine war? Hätte man seine eigene
men bin, daß eine nachweisbare Gefahr für andere Personen be-
Einschätzung des Werts seiner Existenz als allgemeinen Maßstab he-
steht?»
ranziehen können?»
«Ich bestreite diese Nachweisbarkeit.»
«Ja, da haben Sie recht», gab Lang zu. «Man hätte eine derartige
Verpflichtung empfunden.» «Aber Herr Professor, der Nachweis war doch bereits erbracht, als
ich mein erstes Opfer getötet hatte. Von diesem Augenblick an be-
«Dann werden Sie aber wohl auch zugeben, daß es Menschen gibt,
stand die klare und offensichtliche Gefahr, daß andere meiner Art
die den Wert ihrer eigenen Existenz überschätzen?»
meinem Beispiel folgen könnten.»
«Logischerweise muß ich das wohl. Aber mir ist nicht klar, wie man
«Nein, nein, nein», sagte Lang verärgert. «Sie wollen die Ursache
das einfach und einleuchtend nachweisen könnte.»
aus der Wirkung ableiten. Sie wollen mir erzählen, ein Mord, den
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Sie begangen haben, beweise, daß andere, die Ihnen gleichen, einen «Ja, Sie werden ihnen Straffreiheit zusichern müssen. Das sollte ich
Mord begehen können. Ich bin nicht bereit, Ihrem DUJXPHQWXPDSR wohl erst mit der Staatsanwaltschaft klären.»
VWHULRULzuzustimmen.»
«Übrigens», fragte Jones vorsichtig, «hat er mit Ihrem Parfüm recht
Wittgenstein lachte verhalten. «Ich fürchte, das müssen Sie, Herr gehabt?»
Professor, mindestens vorläufig. Ich muß jetzt gehen.»
«O ja», sagte Jake, «er hatte recht. Aber ich kann mir beim besten
«Bitte, warten Sie einen Augenblick», sagte Jake. Willen nicht vorstellen, wo ich ihn getroffen haben sollte.»
«Tut mir leid, das kann ich nicht. Wir werden unsere kleine Diskus- «Sind Sie sicher, daß Ihr Parfüm in dem Illustriertenartikel nicht er-
sion ein andermal fortsetzen müssen. Ach ja, ich habe ja verspro- wähnt wurde?»
chen, Ihnen seinen Decknamen aus dem Lombrosoprogramm zu ver-
«Hundertprozentig sicher.»
raten. Also gut, es ist Rene Descartes. Jetzt muß ich mich aber wirk-
lich darum kümmern, einen Gott aus seiner Maschine zu vertrei- «Vielleicht will er Sie ja nur nervös machen.»
ben.»
«Ja, vielleicht.» Jake lächelte verbissen. Irgendwie kam es ihr nicht
«Warten Sie...» wiederholten Jake und der Professor einstimmig. so vor.
Aber Wittgenstein hatte aufgehängt.
«Soll ich eine Leibwache organisieren? Nur für den Fall, daß er Sie
«Das war kein Bluff», sagte Kriminalsekretär Jones. «Wir haben den erwischen will.»
Anruf bis zum Injupitersat zurückverfolgt und von da in die Gegend
Jake dachte einen Augenblick nach. Sie glaubte nicht, daß einer ihrer
von London. Genauer geht es bei einem Satellitentelefon nicht.»
männlichen Kollegen eine Leibwache beantragt hätte. Allenfalls,
Jake schüttelte ärgerlich den Kopf. «Wir hätten darauf kommen wenn seine Familie bedroht worden wäre. Sie schüttelte den Kopf.
können, daß er so etwas benutzen würde.»
«Nein, ich glaube kaum. Schließlich hat er mich nicht direkt be-
«Satellitentelefone sind teuer, gnädige Frau. Ganz davon abgesehen, droht. Und für den Ernstfall habe ich immer noch meine Dienstwaf-
daß sie auch noch verboten sind.» fe.»
«Ja. Aber das könnte auch bedeuten, daß wir mit viel Glück heraus- (VZLUGMHGHVPDOHLQIDFKHU
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bekommen könnten, wo er sich eins besorgt hat. Wenn Sie ein Satel-
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litentelefon kaufen wollten, wo würden Sie es probieren?»
Jones spitzte nachdenklich die Lippen. «Dafür gibt es nur eine Quel- 6WUHHW
9RP 6W GLHV &LUFXV ELV ]XU %RQG 6WUHHW HUKRE VLFK HLQ JOlVHUQHU
le: Tottenham Court Road.» Er schüttelte den Kopf. «Wird eine Sau-
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arbeit, die Typen zum Sprechen zu bringen, wenn er es wirklich da
6WRFNZHUNHYROOYRQ*HVFKlIWHQ5HVWDXUDQWV:HFKVHOVWXEHQ.LQRV
gekauft hat.»

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XQGZHUWORV perfekte Karikatur eines schlafenden Gorillas dar. Der Nacken war
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schmerzlich gerötet, als habe er einen schlimmen Sonnenbrand, aber
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das war bloß verkrustetes Blut.

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Jake betrachtete die Leiche aufmerksam. Es war kein besonders
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schlimmer Anblick. Ein toter Mann wirkt meistens aufgeräumter als
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eine tote Frau. Normalerweise ist er bekleidet und weist keine Ver-
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stümmelungen auf, keine fehlende Brustwarze, keine in den Ge-
schlechtsteilen versteckten Geschenke. Es gibt schlimmere Todesar-
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ten als sechs Schüsse in den Hinterkopf. Er erinnerte sie an Fotos von dem Mörder entfernt gewesen sein, als er abdrückte. So wie die
von Mafiaopfern in Palermo. Es hatte sie überrascht, wie sauber die Scheinwerfer stehen, muß sie sein Gesicht gesehen haben.»
Hinrichtungen im Bandenkrieg durchgeführt wurden. Das Geschäft
«Anscheinend hatte sie während des größten Teils der Vorstellung
am Tatort (meist war es ein Restaurant) wurde möglichst wenig ge-
den Rücken zum Publikum gewandt», erklärte er unbehaglich. «Und
stört. Ein paar Schüsse in den Kopf, ein schneller Abgang, und das
außerdem war sie auf allen vieren.» «Und tat was genau?»
Opfer blieb mit offenen Augen sitzen und betrachtete seine Hemd-
brust oder seinen Nabel oder seine Minestrone. Stanley seufzte und richtete seinen Hemdkragen. «Ich nehme an, sie
nahm eine Flasche Sekt zu sich, gnädige Frau», sagte er mit trübem
Lächeln. ©$EDQRª
Dieser Mörder arbeitete genauso. Jake wußte, daß es sich um einen
pedantisch ordentlichen Mann handeln mußte. Aber sie fragte sich,
ob ihm das Töten selbst Freude bereitete, öder ob es für ihn wie für «Ich verstehe», sagte Jake angeekelt. Sie hatte nie aufgehört, sich
einen bezahlten Killer nur ein Job war, der erledigt werden mußte, darüber zu wundern, was Männer amüsieren konnte.
so wie man seine Steuererklärung macht oder zum Zahnarzt geht.
«Ungefähr wie viele Zuschauer waren bei dieser Obszönität anwe-
Etwas rein Geschäftliches. Nichts Persönliches. Einfach ein Ge-
send?»
schäft.
«Grubb sagt, er habe in den zwei Stunden vor Armfields Tod etwa
Sie setzte sich neben Inspektor Stanley, der schon länger am Tatort
zehn bis fünfzehn Karten verkauft. Wir haben den Inhalt der Regi-
war, in den Sitz hinter dem Toten. Er sagte nichts. Man brauchte
strierkasse für den Fall, daß es Fingerabdrücke gibt, ins Labor ge-
nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, was geschehen war.
schickt.»
Schließlich nickte sie und fragte: «Gibt es Zeugen?»
Jake zeigte auf die blutbefleckte Sessellehne vor sich. «Sieht
Stanley zog den Hemdkragen vom Adamsapfel und spannte die
Halsmuskeln an, bevor er antwortete. so aus, als habe er sich ein bißchen bekleckert. Es können ja nicht
allzu viele Männer mit Blutflecken auf dem Anzug hier herausge-
«Die meisten haben sich sofort verzogen, als jemand gemerkt hat,
kommen sein.»
daß Mr. Armfield, Deckname Rene Descartes, erschossen worden
war.» Er lachte verächtlich. «Wahrscheinlich haben sie Angst, ihre Stanley zuckte die Achseln. «Grubb sagt, er kann sich nicht erin-
Frauen könnten rauskriegen, wo sie sich rumtreiben.» nern.»
«Was ist mit den Leuten, die diesen Flohzirkus betreiben?» «Wir «Vielleicht mag er bloß keine Polizisten. Irgendwelche Vorstrafen?»
haben das Mädchen, das zur Tatzeit auf der Bühne stand, und den
«Ein paar wegen Zuhälterei. Alles ältere Geschichten.» Jake sah sich
Besitzer, einen gewissen Mr. Grubb. Er hat oben hinter der Kasse
in dem schäbigen Lokal um. «Sagen Sie diesem Grubb, daß jemand
gesessen. Aber sie behaupten beide, sie könnten sich nicht erinnern,
von der Gewerbeaufsicht und der Feuerpolizei sich seinen Laden an-
etwas gesehen zu haben.»
sehen wird. Daß wir nach kaputten Feuermeldern, verstellten Not-
Jake zeigte auf die Bühne. «Das Mädchen kann keine sechs Meter ausgängen und dergleichen suchen werden. Vielleicht hilft das sei-

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nem Gedächtnis auf die Sprünge. Dann sollen ein paar von unseren Die Garderobe war kaum größer als ein begehbarer Kleiderschrank
Leuten alle in der Straße befragen: Bauarbeiter, Politessen, Kurier- und enthielt nichts als ein paar Kleiderstangen, an denen leere
boten, Prostituierte, Ladenbesitzer, einfach alle. Ich will wissen, ob Drahtbügel hingen, und einen Wandspiegel, der den Raum größer
sich irgend jemand daran erinnern kann, einen Mann mit Blutflecken erscheinen ließ. Unter einer nackten Glühbirne saß ein zwanzigjäh-
gesehen zu haben. Klar?» «Jawohl!» riges Mädchen, das nur einen Morgenrock aus rotem Flanell anhatte,
ähnlich wie der, den Jake selbst trug, wenn sie Doktor Blackwell
«Gut. Wo ist das Mädchen, das auf der Bühne war?» «Ich habe ihr
konsultierte. Jakes unwillige Zeugin saß auf einem speckigen Futon,
gesagt, sie soll in der Garderobe warten», sagte Stanley. «Ich nahm
rauchte eine Zigarette und murmelte zornig vor sich hin.
an, Sie würden sie vernehmen wollen.» Er deutete auf einen Vor-
hang neben der Bühne. «Dahinten.» «Wer sind Sie?» kreischte sie, als Jake den Raum betrat. «Was wol-
len Sie?»
Jake stand auf und ging vor den Sitzreihen vorbei. Sie stieg auf die
Bühne und versuchte sich, während sie den Männern von der Spu- «Ich bin Chefinspektorin Jakowicz.»
rensicherung zusah, vorzustellen, was für ein Bild sich von hier aus
«Kann ich jetzt gehen?» fragte das Mädchen wie ein quengelndes
geboten haben mochte. Jake fand die Szene nahezu unvorstellbar.
Kind.
Die Sitze sahen aus, als stammten sie aus einem ausrangierten Om-
nibus. In einer der staubbedeckten Wände klaffte ein großes Loch. «Wollen Sie sich nicht zuerst etwas anziehen?»
Billiges Linoleum bedeckte den schiefen Bühnenboden. Aus den
Das Mädchen drückte die Zigarette auf dem Umschlag einer alten
Toiletten stank es nach Desinfektionsmittel. Es war schwer, sich je-
Illustrierten aus und sprang von dem Futon auf.
manden vorzustellen, der dies Purgatorium besuchte, um sich zu
amüsieren. Aber die Männer waren offenen Auges gekommen, um «Ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen stellen», sagte Jake.
zuzusehen, wie eine Frau das letzte bißchen Würde verlor. Männer,
«Ich habe schon mit dem anderen Bullen gesprochen. Ich hab ihm
wie Ratten in einem Keller, die darauf warten, sich auf eine weibli-
alles gesagt, was ich zu sagen habe.»
che Leiche zu stürzen.
«Ja. Nun, ich kann es verstehen, wenn Sie ihm nicht allzuviel erzählt
Wie fühlt man sich dabei, fragte sie sich, wenn man nackt vor einem
haben», sagte Jake. «So gerne unterhalte ich mich selber nicht mit
Haufen Fremder steht? Schlimmer als nackt: wenn man vor ihnen
ihm, und schon gar nicht in einem Laden wie dem hier. Hier kann
auftritt, seine Körperfunktionen demonstriert, zu einer lebendigen
man sehen, wie Männer wirklich sind.»
Anatomiestunde für Amateurmediziner wird. Sie schlang die Arme
um den Körper und schüttelte sich vor Ekel. Das Mädchen schnaufte durch die Nase. « Darauf können Sie wet-
ten.» Sie schüttelte den Kopf. «Also gut, fragen Sie nur, wenn es Ih-
«Zeigen Sie uns was, Frau Chefinspektor», johlte jemand im Saal.
nen Spaß macht. Aber schließen Sie bitte die Tür. Ich hab keine Lust
Von irgendwo hörte sie wieherndes Gelächter.
darauf, daß Ihre Kumpel hier reinmarschieren, um sich die Show
Jake blickte ihre Kollegen mit kühler Abneigung an. Sie waren alle umsonst anzusehen.»
gleich. «Macht ihr nur so weiter», grinste sie bösartig.
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Jake drehte den Schlüssel um und lehnte sich an die Tür. «Würden Sie ihn wiedererkennen?» Sie nickte und zog den Rock
hoch.
«Wie heißen Sie?» fragte sie und suchte in ihrer Handtasche nach
einer Zigarette. «Warum haben Sie dann dem Inspektor erzählt, Sie hätten nichts ge-
sehen? Sie müssen eigentlich sogar den Mann gesehen haben, der es
«Clare», sagte das Mädchen und schlüpfte aus dem Morgenrock.
getan hat.»
Jake steckte sich eine Nikotinfreie an und betrachtete das nackte
Cläre zuckte die Achseln. «Keine Ahnung. Hab wohl Angst gehabt.
Mädchen mit nahezu kritischer Aufmerksamkeit, als sei sie Malerin
In unserem Geschäft kann man Ärger bekommen, wenn man mit der
oder Bildhauerin. Das Gesicht war nicht attraktiv, nicht einmal
Polizei redet. Die Leute mögen keine Leute, die mit den Bullen re-
hübsch. Die Nase war gebrochen, aber man sah nicht viel davon. Die
den, verstehen Sie?» «Sie sprechen von Mr. Grubb?»
Lippen waren zu üppig, und die Zähne standen etwas vor. Man sah
wenig Anzeichen von Intellekt, aber die abgebrühte Schlauheit in «Ja. Der kann manchmal ein bißchen gewalttätig werden.» «Schlägt
ihrem Gesicht war unverkennbar. Ihre Haut war glatt und wirkte ge- er Sie?»
schmeidig. Sie schien zu jung für das, was sie tat. Aber Jake, die
«Ja, aber nie ins Gesicht. Aber das ist nicht alles. Wenn er raus-
nicht bevormundend klingen wollte, verkniff sich die Bemerkung.
kriegt, daß ich Ihnen jetzt etwas erzähle, könnte er annehmen, daß
Cläre stöberte in einem Kleiderbeutel mit Schottenmuster herum und ich Ihnen ein andermal etwas anderes erzähle. Das könnte mich
fand ihre Unterwäsche. Sie zog erst den Büstenhalter an, dann ließ meinen Job kosten. Grubb sagt, es gibt haufenweise Chinesinnen,
sie den Schlüpfer auf dem ausgestreckten Zeigefinger kreisen, als die meine Nummer für das halbe Geld bringen würden.»
stehe sie noch auf der Bühne, blickte auf ihr kleines Schamdreieck
«Ich verspreche, daß ich die Angelegenheit mit Grubb in Ordnung
herab, strich das Haar mit der Handfläche glatt und sah Jake mit
bringe. Werden Sie sich jetzt ein paar Phantombilder anschauen und
provozierendem Grinsen an.
sehen, ob Sie sie nicht verbessern können?»
«Also», sagte sie spöttisch, «auf was schauen Sie?»
Cläre nickte noch einmal und streifte einen nicht allzu sauberen Pul-
Das harte kleine Gesicht nahm einen ausschweifend lüsternen Aus- lover über.
druck an, der all seine offensichtlichen Mängel verdeckte. Jetzt
«Sie versprechen, daß er mir nichts tut?»
verstand Jake, wieso Männer sie attraktiv finden konnten.
«Versprochen. Einer meiner Leute wird sie zum Yard fahren.»
«Sie haben alles gesehen, nicht wahr?» fragte sie. «In einem Laden
wie dem hier sieht man alles», sagte das Mädchen und stieg in die Auf dem Weg zurück nach oben blieb Jake einen Augenblick stehen
Unterhosen. «Das habe ich nicht gemeint.» «Nein? Was haben Sie und atmete tief und ungewiß ein. Sie wurde wütend, wenn sie an die
denn gemeint?» «Den Toten. Haben Sie ihn je zuvor gesehen?» «Ich Männer dachte, die in diesen schmutzigen Keller kamen, um zuzu-
habe guten Tag gesagt, als er die Treppe runterkam und sich hinge- sehen, wie ein nacktes Mädchen sich wie ein aufgespießter Schmet-
setzt hat.» terling auf dem Bühnenboden wand. Sie wurde wütend, wenn sie
daran dachte, daß ein Mädchen wie Cläre sich selbst zu einer Ware
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machte, an der der Mann oben hinter der Kasse profitierte. Sie spür- Grubb schnitt eine Grimasse. «Was ist los mit Ihnen? Sind Sie taub,
te, wie sie angeekelt die Stirn runzelte. oder was? Ich habe gesagt, daß ich nirgends nichts gesehen habe.»
Er lachte und zündete seine Zigarre wieder an. «Wenn Sie nirgends
Jake suchte in der Handtasche nach dem elektronischen Schlagring,
nichts gesehen haben», sagte Jake, «dann heißt das wohl, daß Sie ir-
den sie immer mit sich führte. Er hatte einen Gummigriff, so daß der
gendwo etwas gesehen haben.» «Ha? Was soll das heißen?»
Benutzer ihn ungefährdet halten konnte, aber wenn das Metall in
Kontakt mit dem menschlichen Körper kam, gab er einen Stromstoß «Verstehen Sie nicht? Zwei Verneinungen heben einander auf. Wis-
von sich. So konnten weibliche Polizeibeamte genauso hart zuschla- sen Sie, ich bin froh, daß Sie uns helfen wollen, denn wenn Sie ge-
gen wie ihre männlichen Kollegen, wenn nicht noch härter. Gott sei sagt hätten, Sie hätten nichts gesehen, hätte ich Angst gehabt, daß
Dank, dachte Jake, bei all den Schlägertypen, mit denen sie es zu tun Ihnen etwas passiert.»
hatten, und die meist bereit waren, auf eine Polizistin genauso brutal
«Wollen Sie mir drohen, Schätzchen?» Er sah sie nicht einmal an,
einzudreschen wie auf einen Polizisten.
wenn er mit ihr sprach, als sei sie seiner Aufmerksamkeit nicht wür-
Jake fand Mr. Grubb in seinem Büro. Inspektor Stanley saß auf sei- dig.
ner Schreibtischkante. Sie empfand nahezu instinktiv Widerwillen.
«Ja», sagte Jake einfach.
Grubb war groß und fett, und trotz seines teuren Anzugs, seiner gol-
denen Uhr und der dicken Zigarre konnte man immer noch den «Ich habe nichts angestellt. Sie können mir keine Angst machen,
schmierigen kleinen Jungen hinter dem Mann erkennen. Er sah so Herzchen.»
schäbig aus, wie sein Name klang.
«Nein? Wetten, daß ich Ihnen angst machen kann, Mr. Grubb? Jede
«Sind Sie die Chefinspektorin?» knurrte er. Wette, daß ich Sie dazu bringen kann, um Gnade zu winseln.»
Jake hielt die Hand mit dem Schlagring vorläufig verborgen. Grubb lächelte. « Es gibt nur eine Art, wie ein Mädchen mich dazu
bringen kann, um etwas zu winseln», sagte er anzüglich grinsend.
«Richtig», sagte sie munter.
«Ach? Und wie?»
«Dann sagen Sie dem Arsch da, er soll mich in Ruhe lassen. Mir
kann er lange mit der Feuerpolizei drohen. Ich habe nirgends nichts Er lachte. «Strengen Sie ihre Phantasie an, mein Schatz.» Dann
gesehen, klar?» schüttelte er den Kopf, stand vom Schreibtisch auf und ging auf Jake
zu. «Wissen Sie was? Ich habe den Eindruck, Sie wollen bei mir die
Jake blickte Stanley an. «Lassen Sie uns einen Augenblick allein»,
harte Tour abziehen. Hab ich recht?» Jake wich nicht zurück und
sagte sie.
nickte.
Stanley nickte verunsichert und verließ dann das Zimmer.
Grubb schob ihr sein fettes Schuljungengesicht entgegen, bis sie den
«Entschuldigung, aber was haben Sie gesagt, daß Sie gesehen ha- Tabakrauch in seinem Atem riechen konnte. «Bringen Sie mich
ben?» nicht zum Lachen. Sie werden...» Jake drückte auf die Fassung des
Schlagrings und zog die
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Faust in einem kurzen Bogen hoch. Der Schlagring gab ein schwa- zum Streifenwagen.
ches elektronisches Summen von sich, während er durch die Luft
Jake stellte den Schlagring ab und ließ ihn wieder in die Handtasche
schwang, aber das Summen ging in Grubbs überraschten Schmer-
fallen. Ihr gehobener Posten hatte sie oft auf das glatte Eis intellek-
zensschrei unter, als ihn die Faust mit einem kleinen blauen Funken
tueller Kriminalistik geführt, wo sie bei geringer Bodenhaftung nach
in die Magengrube traf. Er knickte zusammen und fiel beinahe auf
kausalen Theorien suchte. Sie genoß die akademische Atmosphäre,
sie. Noch konnte er mit einer Faust nach ihr schlagen. Jake wich mit
in der sie arbeitete. Aber es war ein gutes Gefühl, wieder den rauhen
einem eleganten Schritt dem ungeschickten Schlag aus und schlug
Boden der Wirklichkeit unter den Füßen zu spüren.
Grubb seitlich auf das Kinn. Er ging zu Boden. Jake stand über ihm,
packte ihn beim Schlips, hob seinen Kopf vom Boden und ließ ihn Als Jake den BMW auf dem kleinen Parkplatz vor dem Hochhaus
ein paarmal fallen. parkte, war es dunkel. Bevor sie aus dem Wagen stieg, hängte sie
den Tragriemen der Handtasche über die Schulter, öffnete den Reiß-
«Wie steht es jetzt um Ihr Gedächtnis?» fragte sie. «Irgend etwas
verschluß und legte die linke Hand in der Tasche auf den Plastikgriff
Neues?»
der Beretta. Jetzt, wo Wittgenstein ihre Adresse kannte, war sie um
«Schon gut, schon gut», stöhnte Grubb und rieb sich das Kinn. «Ich so vorsichtiger. War es vielleicht sogar denkbar, daß er sie in ihrem
hab ihn gesehen. Sie brauchen nicht gleich verrückt zu spielen.» eigenen Wohnhaus getroffen hatte? Mit diesem Gedanken im Kopf
überquerte Jake den Parkplatz und gelangte ohne Zwischenfälle bis
«Gut», sagte Jake. «Ich freue mich, daß Sie mit uns zusammenarbei-
zur Haustür. Der Portier blickte von der Abendzeitung auf. Er hatte
ten wollen.» Sie drehte ihm den Schlips enger um die Kehle. «Ich
Lippenstift auf der Wange. «Guten Abend», sagte er.
habe nicht viel für Ihr Geschäft übrig, und ich mag Armleuchter wie
Sie nicht, die es betreiben. Sie können froh sein, daß ich heute etwas Jake ließ die Pistole los und schloß ihre Handtasche. «Guten Abend,
anderes zu tun habe, sonst würde ich mich bei ein paar von den Phil», sagte sie. Jetzt konnte sie die Schlagzeile der Zeitung erken-
Mädchen, die hier arbeiten, nach Ihnen erkundigen. Und wenn sich nen. Noch ein Toter aufgefunden.
dabei herausstellen sollte, daß Sie ein Typ sind, der prügelt, dann
«Dieser Serienmörder, Frau Jakowicz. Warum tut jemand so et-
würde ich richtig wütend. Also hoffen Sie, daß ich nie wieder hier-
was?» sagte Phil. «Meine Frau meint, er müsse schwul sein oder so,
herkommen muß. Verstanden?»
aber er hat doch keinen von den Männern, die er umgebracht hat,
Jake rief Stanley. Der kam wieder ins Zimmer und lächelte, als er angerührt, oder?»
Grubb zu Jakes Füßen liegen sah.
Jake drückte den Fahrstuhlknopf und schüttelte den Kopf. «Keinen»,
«Nehmen Sie diesen Mann mit zum Yard, Stanley», sagte sie. «An- sagte sie, «stimmt genau.»
scheinend erinnert er sich doch an etwas. Und das Mädchen auch.»
« Also, ich glaube ja, es ist eine Frau, die eine Wut auf Männer hat.
«Jawohl, gnädige Frau.» Stanley half einem verblüfften Grubb auf Vielleicht hat sie jemand vergewaltigt, als sie klein war. Sie wissen
die Füße. «Was ist denn passiert? Sind Sie gestolpert? Also los, ste- ja, was ich meine.» Jake sagte, sie wisse es. «Also, Ihnen kann ich es
hen Sie auf.» Stanley nickte Jake anerkennend zu und brachte Grubb ja sagen. Ich bin inzwischen vorsichtig, wenn ich nach Hause gehe.

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Früher bin ich ja bei Ebbe am Fluß entlanggegangen, aber jetzt nicht sie sich mit Ludwig Wittgensteins 3KLORVRSKLVFKHQ8QWHUVXFKXQJHQ
mehr. Kommt nicht in Frage.» dem Spätwerk, in dem der große Philosoph sich darangemacht hatte,
die Irrtümer seines ersten Werks, des 7UDFWDWXVzu korrigieren.
«Ich würde mir an Ihrer Stelle nicht zu viele Sorgen machen», sagte
Jake. Wittgenstein sprach über den Begriff der Bedeutung, des
Aber dann sagte sie sich, daß sie nicht wissen konnte, ob Phil als Verstehens, des Satzes, der Logik und über Bewußtseinszustände.
Opfer in Frage kam oder nicht. Alle möglichen Leute waren VMK- Das war keine leichte Lektüre, und Jake mußte sich Notizen machen,
negativ. Chung hatte ihr erzählt, es gingen sogar Gerüchte über je- um dem Gedankengang des Philosophen zu folgen. Dennoch schien
manden im Innenministerium um. Warum also sollte ihr eigener Por- ihr das Buch für die kriminalistische Arbeit mehr herzugeben als der
tier nicht VMK-negativ sein? 7UDFWDWXVVielleicht, dachte sie, sollte sie sich ein paar Merksprüche
an die Wand ihres Büros im Yard heften.
«Aber es kann nie etwas schaden, vorsichtig zu sein», fügte sie hin-
zu. « Bedeutung ist Physiognomie.» Das leuchtete ihr ein. Eigentlich
war die Rede davon, wie es kommt, daß ein Wort eine Bedeutung
hat, aber zugleich schien es ihr bedeutsam für die Arbeit der De-
Der Fahrstuhl kam, doch Jake blieb stehen.
«Phil, Sie wissen doch, wenn man bei der Polizei ist, gibt es immer tektivin. Und hinter dem Gedanken, daß selbst die klarste Evidenz
ein paar Spinner, die glauben, sie müßten sich für irgend etwas rä- für eine Absicht in sich ein unzureichender Beweis für die Absicht
chen.» ist, verbarg sich die Warnung davor, einen Fall ausschließlich auf
Indizienbeweisen aufzubauen. Und war nicht für jeden Kriminalisten
«Kann ich mir vorstellen.»
die Antwort auf Wittgensteins Frage bedeutsam? «Was ist dein Ziel
«Wenn Sie jemals jemanden sehen, der sich hier herumtreibt, einen in der Philosophie? - Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas
Fremden, meine ich, dann würden Sie es mir doch erzählen? Ich zeigen.» Wie oft war sie sich genau wie diese Fliege vorgekommen.
meine, Sie brauchen keine Angst zu haben, daß Sie mich erschrek- Professor Jameson Lang hatte recht gehabt: Der Detektiv und der
ken. Ich würde es schon wissen wollen.» Philosoph hatten vieles gemeinsam, mehr, als sie je geahnt hatte.
«Natürlich.» Eine wichtige Nebenwirkung ihres zunehmenden Interesses an phi-
losophischen Fragen war, daß der Mann sie immer mehr faszinierte,
«Es hat sich aber niemand hier herumgetrieben, oder?»
der, wenn auch ungewollt, dieses Interesse geweckt hatte: der Lom-
«Nein, jedenfalls nicht so, daß ich es gesehen hätte.» broso-Mörder. Sie wußte, daß Massenmörder, Verrückte und einsa-
me Täter, die eine Persönlichkeit der Zeitgeschichte umbringen, um
Jake lächelte ihm zu. «Gute Nacht, Phil.» selbst in die Geschichte einzugehen, sich häufig mit intellektuellem
In ihrer Wohnung machte sich Jake eine Tasse Kaffee und kuschelte Gepäck ausstatten, das beweisen soll, daß sie etwas anderes, etwas
sich mit einem Buch in ihren Lieblingssessel. Normalerweise hätte Besseres sind als gemeine Verbrecher. Häufig gab das ihrem Vertei-
sie einen Kriminalroman gelesen, aber seit einer Woche beschäftigte diger die Gelegenheit, die moralische Verantwortung für ihre Taten

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auf einen unglücklichen Autor abzuwälzen, manchmal sogar, wenn Computer und schaltete ihn ein.
es sich um einen lebenden Autor handelte, eine Klage gegen ihn an-
Wenn sie die Antwort auf die Frage «Wo?» fand, würde sie sich
zustrengen. Bücher schmücken ein Zimmer, hatte Anthony Powell
vielleicht auch erinnern «Wer?». Sie gab «Wo?» ein und wartete auf
geschrieben. Heute, nach der Apokalypse, dachte Jake, dienten sie
eine Eingebung. Als die Eingebung nach ein paar
auch dazu, das Leben des gebildeten Massenmörders zu schmücken.
Minuten immer noch ausblieb, löschte sie die Eingabe und dachte
Jerry Sherrif, der Mann, der den EG-Präsidenten Pierre Delafons
ermordete, hatte ihm T. S. Eliots :VWHV/DQGvollständig vorgele-
wieder nach.
sen, bevor er ihn mit einem Kopfschuß tötete. Der Freizeitmörder Eine weitere Frage auf dem Weg nach dem «Wo»: «Wann?» Wann
Greg Harrison hatte sich eine Platte mit John Betjemans Gedichten hatte er sie getroffen? Als sie das Wort «Wann» eingab, war sich Ja-
angehört, bevor er mit ein paar Handgranaten ausgerüstet auf den ke plötzlich sicher, daß er ihr die Antwort schon gegeben hatte. Er-
Straßen von Slough Amok lief und einundvierzig Menschen tötete. regt dachte sie darüber nach, wie die Antwort lautete. Etwas Kleines,
Der amerikanische Serienmörder Lyndon Topham behauptete, er ein Detail. Ein Detail, das in der Luft lag. In der Luft, die sie um-
habe siebenundzwanzig Reiter in verschiedenen texanischen Städten gab... Ihr Parfüm! Rapture von Luther Levine. Er hatte ihr Kompli-
getötet, weil er sie für den Schwarzen Reiter aus Tolkiens +HUUGHU mente darüber gemacht.
5LQJH hielt. Und Jake wußte schon gar nicht mehr, wie viele Mas-
Jake sprang auf, griff nach ihrer Handtasche und schüttete sie auf
senmörder sich auf Nietzsche als Vorbild für ihre Taten berufen hat-
dem Fußboden aus. Rapture war eine Neuerwerbung. Aber wo und
ten. Aber etwas war an diesem Mörder anders. Jake brachte ihm Ge-
wann hatte sie das Parfüm gekauft? Sie kramte in den verschiedenen
fühle entgegen, die weibliche Kriminalbeamte Serienmördern nicht
Kassenbons und Kreditkartenbelegen der letzten Monate und dankte
entgegenbringen sollten. Bewunderung war ein zu starkes Wort.
Gott dafür, daß sie zu schlampig war, ihre Handtasche regelmäßig
Eher empfand sie ihn als faszinierend. Er hatte ihre Phantasie ange-
aufzuräumen.
regt. Durch ihn hatte sie gewisse Dinge über die Welt gelernt. Und
über sich selbst. Schließlich fand sie den Zettel, nach dem sie gesucht hatte. Flugha-
fen Frankfurt. Dort hatte sie das Parfüm gekauft. Bis zum Europäi-
Der Versuch, ihn zu verstehen, der Versuch, ihn zur Strecke zu brin-
schen Strafvollzugssymposion hatte sie immer Lolita von Federico
gen, war das Anregendste, das Jake je getan hatte.
D'Atri getragen. Sie hatte das Fläschchen Rapture spontan gekauft.
Als Jake nach vier Stunden Schlaf im Dunkeln aufwachte, bohrte ei- Sie war sogar unzufrieden mit sich selbst gewesen und hatte sich
ne Frage in ihrem Gedächtnis, wie ein Hund an einem Knochen vorgeworfen, sie sei nur dem Reiz eines Plakats, einer modernen
nagt. Wo in Teufels Namen hatte er sie getroffen? Version von Fragonards «Schaukel», erlegen. Sie hatte sich schuldig
gefühlt, darauf hereingefallen zu sein, und es hatte einige Zeit ge-
Sie wälzte sich aus dem Bett, warf einen Morgenrock über und ging
dauert, bis sie sich entschlossen hatte, das neue Parfüm auch zu tra-
in die Küche. Sie warf einen Eiswürfel und eine Zitronenscheibe in
gen. Sie erinnerte sich, auf der Pressekonferenz, auf der sie die Per-
ein Glas, füllte mit Mineralwasser auf und trank gierig wie ein klei-
sonenbeschreibung verteilt hatte, Lolita getragen zu haben; und das
nes Kind nach einem bösen Traum. Dann setzte sie sich vor ihren
Fläschchen war erst einige Tage später endgültig leer gewesen. Sie
277 278
hatte zum erstenmal an dem Tag Rapture getragen, an dem sie zu Sir HULQQHUWH PLFK GD‰ LFK HLQ (URWLNSURJUDPP HLQJHVFKDOWHW KDWWH
Jameson Lang gefahren war. Wer immer Wittgenstein sein mochte, DEHU GDULQ NDP VLFKHU NHLQ 1DVKRUQ YRU )DOOV LFK WDWVlFKOLFK LQ
er hatte sie danach getroffen. Er hatte einen Fehler gemacht, dessen PHLQHP 5$$Q]XJ VWHFNWH ZDU DOOHQIDOOV GHQNEDU GD‰ LFK HLQJH
war sie gewiß. VFKODIHQZDUGD‰HVHLQHQ6WURPDXVIDOOJHJHEHQKDWWHXQGGD‰GHU
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Wenn sie sich jetzt an jeden erinnern könnte, den sie seit ihrer Reise
nach Cambridge getroffen hatte...
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279 280
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JAKE STAND ALLEIN IN DEM dunklen Raum und beobachtete
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den Mann hinter der getönten Glasscheibe. Auch er war allein. Er
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saß reglos auf einem Stuhl, zu ermüdet, um Nervosität zu zeigen,
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und starrte in die Richtung, wo Jake stand, ohne sie zu sehen. Er sah
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nur sich selbst, aber das Spiegelbild, das ihm in den langen Verhör-
stunden vertraut geworden war, interessierte ihn nicht mehr. Er
7DWVlFKOLFK KDEHQ VLFK HLQLJH PHLQHU ,GHHQ VR JUXQGOHJHQG JHlQ rauchte langsam, wie jemand, der seit langem auf einen verspäteten
GHUWGD‰LFKPLFKIUDJHRELFKGDV%UDXQH%XFKEHUKDXSWZHLWHU Flug wartet.
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Sie beneidete ihn um die Zigarette. Auf ihrer Seite des Einwegspie-
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gels war das Rauchen auch dann strikt verboten, wenn es sich um
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nikotinfreie Zigaretten handelte. Das Glimmen einer Zigarette war
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das einzige, das ein Verdächtiger auf der anderen Seite des Spiegels
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sehen konnte. Die Tür zum Beobachtungsraum öffnete sich, und
Crawshaw betrat das Zimmer. Er stellte sich neben sie an das Fen-
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«John George Richards», sagte er. «Seine Geschichte scheint leider
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zu stimmen. Er hat an dem Tag, an dem Mary Woolnoth ermordet
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wurde, eine Lieferung in die Brewer Street gefahren. Aber er hat das
Öl um drei Uhr dreißig ausgeliefert, und um diese Zeit wurde Marys
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Leiche gefunden. Eine Stunde davor hat er eine Lieferung nach hier im College durchzuführen.»
Wimbledon gefahren. Die Zeit ist in dem Computer gespeichert, der
Der Bericht kam zu dem Schluß, daß außer den Morden selbst keine
den Lieferschein ausgedruckt hat. Unter keinen Umständen hätte er
Anzeichen von Geisteskrankheit feststellbar seien. Der Mörder mor-
in weniger als ein paar Stunden die ganze Strecke von Wimbledon
dete, weil er gerne mordete. Er genoß das Machtgefühl, das seine
herfahren, sich Mary aussuchen, sie ermorden und dann die nächste
Taten ihm verliehen. Er spielte Gott.
Lieferung machen können.
«Das ist etwas anderes», hatte Lang dazu angemerkt. «Jetzt haben
Und außerdem gibt es noch die vorherigen Opfer: Als Alison Brad-
wir es mit dem typischen Schriftsteller zu tun.»
shaw getötet wurde, war Richards im Urlaub auf Mallorca; und an
dem Tag, an dem Stella Forsythe ermordet wurde, war er im Kran- Jake hatte ihn gefragt, wie er sich ein zweites Gespräch vorstellte,
kenhaus und hat sich die Weisheitszähne ziehen lassen. Alles in al- falls Wittgenstein noch einmal anrufen sollte.
lem hat er ein gutes Alibi.»
«Die moralphilosophischen Argumente waren ja wohl nicht sehr
«Scheint so», sagte sie zögernd. «Wir müssen ihn wohl laufenlassen. wirksam», hatte Lang gesagt. «Ich glaube, ich sollte das nächste Mal
Schade. Sah wie ein guter Tip aus.» vom phänomenologischen Standpunkt aus argumentieren, ein paar
Wesenheiten und Bedeutungen überprüfen, die er sonst für gegeben
Crawshaw nickte müde und wollte gehen.
halten könnte. Ich werde mich auf die objektiv logischen Elemente
«Ach ja, Ed», sagte Jake, «lassen Sie die Buchhandlung wieder des Denkens konzentrieren. Das ist ein recht nützlicher Ansatzpunkt
überwachen.» zur Erforschung derartig extremer Geisteszustände, genau das Rich-
tige, falls sich herausstellt, daß er Existentialist ist, was mich nicht
Wieder in ihrem Büro angelangt, versuchte Jake, sich auf Wittgen-
weiter überraschen würde.»
stein zu konzentrieren. Noch einmal las sie das Protokoll ihres Ge-
sprächs durch und legte den Bericht eines Polizeipsychologen Aber sie saß noch nicht lange wieder am Schreibtisch, als Wittgen-
daneben, der ähnlich wie Jake zu dem Schluß gekommen war, es stein zum zweitenmal anrief; und wie der Zufall es so wollte, bekam
handele sich um eine wohlorganisierte, nichtsoziale Persönlichkeit, Sir Jameson Lang keine zweite Gelegenheit, mit Wittgenstein zu
um einen Egozentriker, der generell keine Menschen mochte. Äußer- diskutieren.
lich war er höchstwahrscheinlich durchaus imstande, mit seinen
Unmittelbar zu Beginn des Gesprächs erklärte Wittgenstein, als
Mitmenschen auszukommen, aber er hegte einen tiefen Groll gegen
Antwort auf Jakes Vortrag vor dem Europäischen Symposion wolle
die Gesellschaft als solche.
er nun einen eigenen Vortrag zu Gehör bringen, von dem er behaup-
Jake hatte lächeln müssen, als Sir Jameson Lang sie gestern abend tete, er habe ihn vor kurzem auf Einladung der Gesellschaft der
zu Hause angerufen hatte, um ihr seine Einschätzung des psycholo- Connoisseure des Mordes unter dem Titel «Der perfekte Mord»
gischen Befundes mitzuteilen: «Nach der Schilderung der Psychiater gehalten.
klingt er wie der typische Akademiker. Bei dieser Persönlichkeits-
Als Jake ihn in ein Gespräch verwickeln wollte, erklärte Wittgen-
einschätzung würde ich Ihnen empfehlen, die weiteren Ermittlungen
stein, man könne ihm entweder zuhören, oder er werde auflegen und
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sofort jemanden ermorden. In der Hoffnung, so einen weiteren Mord rem Vortrag diskutieren», sagte Jake.
zu verhindern, und in der vagen Erwartung, mehr über Wittgenstein
«Was für eine Angelegenheit?»
selbst zu erfahren, stimmte Jake widerwillig zu.
«Das, was Sie über einen neuen Mord gesagt haben. Entweder Sie
Insgesamt dauerte Wittgensteins Vortrag achtzehn Minuten. Er
versprechen, daß wir nachher darüber diskutieren, oder ich lege so-
sprach, als richteten sich seine Worte an ein Publikum, das aus allem
fort auf. Haben Sie das verstanden?»
anderen als Kriminalbeamten von Scotland Yard bestand, als habe
man sich soeben von einem festlichen Diner in Guildhall erhoben, Wieder eine Pause. «Also gut», seufzte er. «Kann ich jetzt fortfah-
und Wittgenstein werde nunmehr vor fünfhundert Gästen in Abend- ren?»
kleidung den Festvortrag halten.
«Wir werden darüber sprechen?»
Nach ein paar Minuten warf Jake einen Blick auf ihre Armbanduhr.
«Das habe ich doch gesagt.»
Sie hörte sich ungern belehrende Vorträge an und schon gar nicht
von einem Mörder, der über den perfekten Mord sprach. Ein- oder «Gut. Fahren Sie fort.»
zweimal dachte sie daran, ihn zu unterbrechen, die eine oder andere
«Wenden wir uns nun den Morden selbst zu...»
seiner Behauptungen anzugreifen. Aber sie wollte das Risiko nicht
eingehen, ihn zu verärgern und zum Auflegen zu provozieren. Also «Bitte schön», sagte Jake.
schwieg sie und lauschte fasziniert den Gedankengängen eines Mas-
senmörders. Gelegentlich warf sie Stanley einen Blick zu, der sich Aber diesmal ignorierte Wittgenstein sie.
bedeutsam an die Stirn klopfte. Jake lehnte sich im Sessel zurück und steckte eine Zigarette an. Von
Erst als Wittgenstein ankündigte, er werde nach Beendigung seines Zeit zu Zeit warf sie einen Blick auf den Bildschirm des
Vertrags wieder einen Mord begehen, fühlte sich Jake aufgerufen, Pictofons, um zu sehen, wie Sir Jameson Lang auf dieses bizarre
Protest einzulegen. Beispiel eines öffentlichen Vertrags ohne Publikum reagierte. Aber
«Nein», sagte sie, «das verbiete ich Ihnen.» der Cambridge-Philosoph und Master von Trinity College ließ nur
gespannte Aufmerksamkeit erkennen.
Die Stimme am Telefon lachte kurz auf. «Was sagen Sie da?»
Sie nahm an, er denke darüber nach, wie sein eigener Romanheld
«Ich verbiete Ihnen, jemanden zu töten», wiederholte Jake ener- Platon mit der Situation umgegangen wäre. Wahrscheinlich ge-
gisch. schickter, als sie es tat. Sie bewunderte Lang und empfand Respekt
vor ihm, aber, sie fand das Interesse, das er an Verbrechen hatte, ein
Ein Moment der Stille. Dann sagte Wittgenstein: «Darf ich bitte in
wenig seltsam. Sie wußte, daß er damit nicht allein stand. Die engli-
meinem Vortrag fortfahren?» Seine Stimme war staubtrocken und
sche Begeisterung für Kriminalromane war, wie Wittgenstein soeben
professoral.
angedeutet hatte, verbreiteter denn je zuvor. Die einzige Erklärung,
«Nur wenn Sie versprechen, daß wir diese Angelegenheit nach Ih- die ihr für dieses Phänomen einfiel, war soziologischer Natur: Es

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handelte sich um ein Produkt gesellschaftlicher Dekadenz. Davon «Vor ein paar Tagen», sagte der Mann, dessen Akzent seine griechi-
war in Wittgensteins verworrenem Vortrag mehr denn genug zu spü- sche Herkunft ebenso verriet wie sein Name, «ich glaube, es war
ren, und langsam wich ihr Ärger der Verwunderung der Kriminali- Montag... Also jedenfalls ich habe mich auf den Weg zur Arbeit ge-
sten über die perverse Argumentation eines Mörders. macht. Ich arbeite im Restaurant meines Vetters in Piccadilly. Ich
fange immer gegen sechs Uhr an. Aber unterwegs sehe ich, wie die-
Die Verwunderung wich angespannter Aufmerksamkeit, und nach
ser Mann mir folgt. Ich habe ihn zuerst im Zug von Wandsworth - da
ihrer ersten Unterbrechung widersprach sie ihm nicht mehr. Später
wohne ich - zur Victoria Station gesehen. Dann sehe ich ihn wieder,
warf sie sich selbst Naivität vor, weil sie seinem Versprechen getraut
als ich aus dem Institut für Gehirnforschung komme.»
hatte, denn kaum hatte Wittgenstein die letzten Sätze seiner Rede,
die dem Andenken einer Reihe berühmter Mörder galten, ausgespro- Parmenidis warf Jones einen unsicheren Blick zu. «Sicher, daß ich
chen, da hängte er ein und überließ es Jake, ihn als Lügner zu be- es ihr sagen kann?»
schimpfen.
«Kein Problem», sagte Jones. «Die Chefinspektorin wird nieman-
Schlimmer aber als die Wut darüber, daß sie sich hatte betrügen las- dem etwas erzählen. Mein Wort darauf.»
sen, war das nahezu sichere Wissen darum, daß er in eben diesem
Anscheinend beruhigte das den Griechen. «O.K. Ich will's glauben.
Augenblick dabei war, irgendwo seinen zwölften Mord zu begehen.
Also, Frau Chefinspektor, es ist nämlich so, daß ich VMK-negativ
Später wurde Jake in die Londoner City gerufen, wo in der Nähe ei- bin. Sie wissen da wohl Bescheid.» Jake nickte.
ner Bar an der Lower Thames Street die Leiche eines bisher nicht
«Ich gehe einmal die Woche ins Institut, und der Berater sagt mir,
identifizierten männlichen Weißen mit sechs Einschüssen im Hin-
was ich tun soll, wenn mir nach Gewalt zumute ist, beim Fußball
terkopf aufgefunden worden war. Es gab nicht viel zu sehen, außer
zum Beispiel, oder wenn es um Türken geht. Ich weiß ja nicht, wie
der einfachen Tatsache, daß Wittgenstein wieder zugeschlagen hatte.
das weitergehen soll, aber...» Er zuckte nervös die Achseln.
Also überließ Jake den Tatort der Spurensicherung und kehrte in den
Yard zurück. «Fahren Sie bitte fort», sagte Jake, die jetzt gespannt zuhörte.
In ihrem Büro erwarteten sie Kriminalinspektor Jones und ein gro- «Also, sehen Sie, dieser Mann folgt mir. Ich nehme in Victoria die
ßer, dunkelhaariger, unrasierter Mann, der Kartoffelchips aus der U-Bahn, und als ich in Green Park aussteige, ist er wieder da. Dann
Tüte aß. Beide Männer standen auf, als Jake den Raum betrat und gehe ich Piccadilly entlang zum Restaurant meines Vetters, und ich
ihren Mantel aufhängte. «Und wer ist das?» erkundigte sie sich. sage zu mir selbst: <Kyriakos>, sage ich zu mir selbst, <warum folgt
«Das», erklärte Jones, «ist Mr. Parmenidis. Ich habe seine Aussage dir dieser Typ?> Also gehe ich in die Kirche da, ich weiß nicht
zu Protokoll genommen, aber ich glaube, es wird sich lohnen, wenn mehr, wie sie heißt...»
Sie selbst anhören, was er zu sagen hat.»
«Er meint St. James, gnädige Frau», sagte Jones.
Jake setzte sich hinter den Schreibtisch und schenkte sich ein Glas
«Ich kenne die Kirche», sagte Jake.
Mineralwasser ein. «Ich höre», sagte sie müde. Jones nickte dem
Mann zu. «Ja, genau die. Und der Mann folgt mir in die Kirche. Jetzt bin ich
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sicher, daß er hinter mir her ist. Er setzt sich hinter mich, ein paar Jedenfalls lese ich, was da steht, und dann erinnere ich mich an den
Bänke weiter hinten. Also habe ich nach ein, zwei Minuten eine Stadtplan und denke, vielleicht hat das etwas miteinander zu tun.
richtige Wut auf ihn. Also stehe ich auf, packe ihn an der Kehle und Und vielleicht ist der Mann, der hinter mir her war, der Typ, der
sage: <Warum läufst du hinter mir her, du Arsch?>» Parmenidis lä- Leute in den Kopf geschossen hat, und vielleicht waren das ja Leute
chelte verlegen. «Wissen Sie, ich habe Angst, daß er etwas mit dem wie ich. Also bin ich heute hergekommen.»
Lombrosoprogramm zu tun hat. Daß er vielleicht ein Geheimpolizist
«Haben Sie den Stadtplan mitgebracht?» Jones überreichte ihr den
oder so was ist.»
Plan in einer durchsichtigen Plastikhülle.
«Hat er etwas gesagt?» fragte Jake.
Jake nickte. «Das haben Sie ganz richtig gemacht, Mr. Parmenidis»,
«Er sagt, er ist ein Tourist. Also schüttle ich ihn mal kräftig durch erklärte sie. «Macht es Ihnen etwas aus, mir Ihren VMK-Decknamen
und sage, daß ich nichts davon glaube. Ich sage, er soll mir sagen, zu verraten?»
warum er hinter mir herläuft. Dann kommen zwei Leute in die Kir-
Der Grieche grinste verlegen. «Das ist William Shakespeare», ant-
che, und erst denke ich, sie gehören zu dem Mann dazu, und dann
wortete er. «Eine große Ehre, was?»
merke ich, wie ich mich benehme, und das auch noch in einer Kir-
che. Ich versuche, mich zu erinnern, was mein Berater gesagt hat, «Also, Mr. Parmenidis, ich glaube, Sie haben viel Glück gehabt»,
von wegen ruhig bleiben und entspannen und so. Ich laß ihn los, und sagte Jake. «Und Sie haben völlig recht. Es ist der Mann, nach dem
er rennt weg. Dann denke ich, vielleicht ist er bloß ein Schwuler wir suchen. Der, der die anderen Männer getötet hat. Und er hätte
oder so was und hat was von mir gewollt.» Sie sicher auch umgebracht, wenn Sie das, was Sie getan haben,
nicht getan hätten. Aber ich muß Sie bitten, mit niemandem darüber
Jake zuckte unmerklich zusammen. «Und was hat Sie davon über-
zu sprechen. Sehen Sie, unsere einzige Chance, ihn zu erwischen,
zeugt, daß es um etwas anderes ging?»
ist, daß wir ihn nicht nervös machen. Wenn er Verdacht schöpft, ei-
«Dieser Mann, der mir gefolgt ist, läßt in der Kirche etwas liegen, nes seiner zukünftigen Opfer könne ihn erwarten, versteckt er sich,
und als ich es aufhebe, ist es ein Stadtplan von London. Und richtige und vielleicht erwischen wir ihn nie. Verstehen Sie?»
Angst habe ich gekriegt, als ich ihn nachher bei meinem Vetter im
Parmenidis nickte. «Klare Sache. Ich verstehe. Kein Problem.»
Restaurant ansehe. Die Straße in Wandsworth - also eigentlich Bal-
ham -, wo ich wohne, ist hinten im Register dick unterstrichen. Und «Ich möchte Sie um noch einen Gefallen bitten. Würden Sie bitte
meine Hausnummer steht daneben. Ein paar andere auch. Also, jetzt mit Krimimalsekretär Jones mitgehen und sich ein paar Computer-
ist es gestern. Und endlich habe ich den Mut, den Brief aufzuma- zeichnungen ansehen, die wir hier haben. Vielleicht können Sie sie
chen, den mein Berater mir gegeben hat. Der, den die Polizei ge- ja verbessern. Schließlich hat ihn bisher noch niemand so genau ge-
schrieben hat, ich soll mich im eigenen Interesse melden. Der sehen wie Sie.»
Grund, warum ich ihn vorher nicht aufgemacht habe, ist, ich habe
«Wie in der Glotze, im Krimi. Ich verstehe. Klar, O.K.»
Angst, daß es vielleicht ein Abschiebungsbescheid ist oder so etwas.
Vielleicht will man Leute wie mich ja sogar in ein Lager stecken. Jake nickte Jones zu. «Und wenn Mr. Parmenidis fertig ist, bestellen

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Sie einen Wagen und lassen ihn nach Hause fahren, Jones. Ich will, «Wo haben Sie denn gesteckt?»
daß er rund um die Uhr bewacht wird.» Sie lächelte dem Griechen
Stanley machte ein gekränktes Gesicht. «In der Cafeteria», sagte er.
zu.
«Ich hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben, daß ich heute doch
«Nur eine Vorsichtsmaßnahme», erklärte sie. «Wahrscheinlich ha- noch dazu komme, etwas zu essen.»
ben Sie ihm ein für allemal einen Schrecken eingejagt. Aber man
«Das Abendessen können Sie vergessen», sagte Jake. «Es gibt Ar-
kann nicht vorsichtig genug sein.»
beit für uns beide.» Sie erzählte von Parmenidis, der Wittgensteins
Der Grieche stand auf. «Danke», sagte er, «vielen, vielen Dank.» Stadtplan gefunden hatte. «Außer denen, wo er schon zugeschlagen
hat, müssen alle diese Adressen rund um die Uhr überwacht werden.
«Wir haben Ihnen zu danken, Mr. Parmenidis.»
Sagen Sie den Bewohnern nichts. Wozu sollen wir sie unnötig ner-
«Bitteschön», sagte Jones und begleitete ihn zur Tür hinaus. «Hier vös machen? Aber wenn Wittgenstein noch einen Mord in London
entlang, bitte.» versucht, haben wir ihn.» Jake gestattete sich ein zufriedenes Lä-
cheln.
«Und noch etwas, Jones.»
«Hoffen wir bloß, daß er es nicht überdrüssig wird, in London zu ar-
«Gnädige Frau?»
beiten», sagte Stanley.
«Wissen Sie, wo Inspektor Stanley ist?»
Jake lächelte. «Sie wissen doch, was Dr. Johnson über den Mann ge-
«Nicht genau, gnädige Frau, nein.» sagt hat, der Londons überdrüssig wird... ?»
«Suchen Sie ihn bitte. Sagen Sie ihm, er soll sich bei mir melden.» '(53(5)(.7(025'
«Natürlich. Übrigens, eine Liste aller unterstrichenen Adressen hegt DIETRADITION WILL, daß ein Vortrag vor der Gesellschaft der
auf Ihrem Schreibtisch, gnädige Frau. Soll ich den Stadtplan ins La- Connoisseure des Mordes John Williams und der schönen Kunst des
bor bringen, wegen der Fingerabdrücke?» Mordes gewidmet ist, und ich bin mir der Ehre bewußt, ihn halten zu
dürfen.
«Schon gut, das erledige ich. Gute Arbeit, Jones.»
John Williams, einer der ersten britischen Vertreter der modernen
«Danke, gnädige Frau.»
Bewegung des ästhetischen Mordes, war ein hervorragender Reprä-
Nachdem Jones und der Grieche gegangen waren, überflog sentant jener kulturellen Werte, die auch mir am Herzen liegen. Fest
steht, daß auch Morde, ähnlich wie Gemälde oder Skulpturen, ihre
Jake die Adressenliste, die er ihr gegeben hatte. Ein paar Adressen jeweils eigenen Merkmale und Vorzüge besitzen, und wenn man die
kannte sie: Es waren die Adressen einiger früherer Opfer. äußeren Umstände betrachtet, unter denen Williams im Dezember
Zehn Minuten später meldete sich ein schlecht gelaunter Stanley bei 1812 seine beiden Morde beging, müssen wir eingestehen, daß er in
ihr. der Tat ein großer Künstler war. Er hatte keine Ausbildung zum
Mörder genossen; und er war sich seines Talents wohl auch kaum
291 292
bewußt. Aber er wäre gewiß der erste gewesen, der anerkannt hätte, Ende fand, sondern daß auch Bischof Berkeley seinen Rivalen, den
daß die Kunst nie stillsteht, daß das, was heute als heimtückischer Pater Malebranche, mit Hilfe eines Arguments ermordet hat, das
Mord gilt, morgen ein Kunstwerk sein kann. Das ist auch mein diesem auf die Leber schlug.
Grundsatz. Meine ganze Lebensphilosophie beruht auf dem Prinzip,
Heute liegt es noch weitaus offensichtlicher zutage, wieviel Gutes
daß ein Mord sich unter ästhetischen Gesichtspunkten qualitativ von
dem Mord an einem einzigen verstaubten, trockenen, alten Philoso-
einem anderen unterscheidet.
phen entspringen kann. Jaspers hat Marx und Freud umgebracht.
Wie mein Vorgänger in dieser erlauchten Gesellschaft, Thomas De- Wittgenstein hätte Bertrand Russell und G. E. Moore ebenso ermor-
Quincey, im ersten seiner beiden Vorträge zu Ehren von Williams den sollen, wie er gewiß Frank Ramsey ums Leben gebracht hat.
gesagt hat: «Den Mord... kann man an seiner moralischen Seite pak- Heidegger fand einen angemessenen Tod unter den Händen A. H.
ken, wie dies üblicherweise von der Kanzel aus und in Old Bailey Ayers. Man kann behaupten, daß Quine wirklich Strawson ermordet
geschieht; und dies, ich muß es gestehen, ist seine schwache Seite. habe, aber wenn dem so ist, dann nur unter Mithilfe Skinners. Und
Oder man kann ihn, wie das die Deutschen nennen, ästhetisch be- Chomsky? Nun, möglicherweise hat Chomsky fast jeden umge-
trachten, also in seiner Beziehung zum guten Geschmack.» bracht, mit dem er zusammenkam.
Die moralische Frage wird von De Quincey elegant erledigt. Wenn Aber das ist eine andere Frage, und ich werde bei dieser Gelegenheit
ein Mord noch nicht geschehen ist, so sein Argument, wenn nur die nicht mehr darauf zurückkommen. Doch bevor ich zum eigentlichen
Absicht besteht, einen Mord zu begehen, dann ist uns aufgegeben, Thema meines Vortrags, dem perfekten Mord, komme, sollte ich
moralisch an ihn heranzugehen. Aber wenn ein Mord einmal began- mein Publikum darauf aufmerksam machen, daß Ansichten, wie sie
gen und erledigt ist, von welchem Nutzen ist dann die Tugend? In hier zum Ausdruck kommen, in gewissen Kreisen der Öffentlichkeit
der Tat, was nützt sie? Aber über Moral ist damit schon genug ge- nicht mit Zustimmung rechnen können. Die Lücke, die zwischen den
sagt. Jetzt sind guter Geschmack und die schönen Künste an der ästhetischen Idealen dieser Gesellschaft und dem toten Buchstaben
Reihe. des Gesetzes klafft, wird, wie ich wohl sagen darf, durch meine Ab-
wesenheit unterstrichen. Dafür muß ich um Entschuldigung bitten.
Ich will mich nicht allzu lange damit aufhalten, auf De Quincey zu-
Ich habe mir die Frage gestellt, ob ich das Risiko eingehen solle,
rückzugreifen. Aber ich machte mich einer Unterlassung schuldig,
meinen Vortrag persönlich zu halten. Die Antwort lag in der Frage:
wenn ich nicht eingestände, was ich persönlich dem verdanke, was
«Wie groß wäre die Wahrscheinlichkeit, daß ich verhaftet und an der
er schon 1827 vor dieser Gesellschaft über die Notwendigkeit gesagt
Beendigung meines Vortrags gehindert würde?» Meine Entschei-
hat, Philosophen zu ermorden.
dung habe ich mit großem Bedauern und im Geiste des Respekts vor
Wäre Descartes doch rechtzeitig ermordet worden, sagt De Quincey. dem Gedächtnis von John Williams gefällt.
Hobbes war ein ideales Mordopfer. Sicher hätte man erwarten kön-
Aus diesem Grunde sehe ich mich gezwungen, meinen Vortrag auf
nen, daß Leibniz ermordet wird. Kant entging dem Mord nur um
dem Umweg über die Umlaufbahn des Injupitersatelliten um die Er-
Haaresbreite. Und entgegen der herrschenden Meinung enthüllt De
de zu halten. Vielleicht kann man infolgedessen diese Veranstaltung
Quincey, daß nicht nur Spinoza ein wohlverdientes gewaltsames
als eine Form außerirdischer Kommunikation betrachten, wenn Sie,
293 294
die Bewohner der Erde, auf geheimnisvollem Wege eine Botschaft Gesellschaft geworden. Eine wachsende Anzahl von Videospielen
von den Sternen empfangen. Was könnte ein metaphysischeres Er- für RA-Maschinen vermittelt dem Spieler den Eindruck, er töte
eignis sein? Menschen, manchmal Hunderte von Menschen.
Vor zweihundert Jahren hat De Quincey das siebzehnte und acht- Anderswo werden ständig die Nachrichtenteams des Fernsehens
zehnte Jahrhundert als das augusteische Zeitalter des Mordes be- mobilisiert, um über Mordtaten zu berichten, noch während sie ent-
schrieben, als ein Zeitalter, in dem die schöne Kunst des Mordes deckt und aufgeklärt werden, und später werden die Täter zu den
blühte, als ein Goldenes Zeitalter des Mordes. Aber was kann man Stars ihrer eigenen Verurteilung und Bestrafung. Oft werden ihre
über unsere Zeit sagen ? Gewiß haben die vergangenen hundert Jah- Geschichten in Buchform publiziert und dann verfilmt. So überholt
re eine größere Anzahl von Morden erlebt als je zuvor. Aber gibt es das wirkliche Leben die Kunst, und alles fängt wieder von vorn an.
auch eine merkliche Qualitätssteigerung? Können wir behaupten,
Daran können wir ablesen, welche fundamentale Bedeutung der
wir seien Zeugen einer Renaissance der Kunst des Mordes in unserer
Mord für unsere Gesellschaft hat. Ein Leben ohne Mord ist ebenso-
Zeit?
wenig vorstellbar wie ein Leben ohne Lüge. Und darin liegt die
Vielleicht lassen Sie mich zunächst auf den gewaltigen Einfluß hin- künstlerische Bedeutung des Mordes. Wenn der Mord zu einer Quel-
weisen, den der Mord auf alle anderen schönen Künste ausgeübt hat. le künstlerischer Eingebung für das zwanzigste
Das Kino, das heutzutage als die beherrschende Kunstform des Jahrhundert geworden ist, lassen sich gewiß auch Beispiele dafür
zwanzigsten Jahrhunderts anerkannt wird, ist zur Bühne ausgeklü- finden, daß der Mord selbst nach künstlerischen Kriterien beurteilt
gelter und choreographisch gestalteter, wenn auch fiktiver Morde werden kann.
geworden. Wenigen von uns verlangt es auch nur ein Wimpernzuk-
Daß der Begriff eines künstlerischen Ideals den Mord mit einschlie-
ken ab, einen Mord auf der Leinwand zu verfolgen, wie realistisch
ßen kann, ist allgemeiner akzeptiert, als man zunächst denken wür-
die Darstellung auch sein mag.
de. Man spricht viel häufiger von der Idee des perfekten Mordes als
Der Abenteuer- und Kriminalroman, ebenfalls eine Form, die im von vollkommenen Gemälden, vollkommenen Gedichten oder der
wesentlichen dem zwanzigsten Jahrhundert entstammt, war noch nie vollkommenen Symphonie. Allein auf dieser Grundlage könnte man
so beliebt wie heute. Gemälde- und Fotoausstellungen enthalten fast die Behauptung vertreten, die schöne Kunst des Mordes sei die ein-
immer Abbildungen des Mordes und seiner Opfer. zige, in der künstlerische Perfektion erreichbar ist.
Auch auf der Bühne haben Shows wie :HVW 6LGH 6WRU\ 6ZHHQH\ Aber was ist die Substanz dieser Perfektion? Nicht nur, daß der
7RGG 'DV3KDQWRPGHU2SHU-DFNODQXQG0\UDund 'HU<RUN Mörder ungestraft entkommt, obgleich das zweifellos wichtig ist. Es
VKLUH5LSSHUihr mörderisches Thema in Musik verwandelt. mag schwer zu beweisen sein, daß man in einer düsteren und stürmi-
schen Nacht jemanden von einer Klippe gestürzt hat, aber das ist
Aber nicht allein die Kunst findet ihre wichtigste Quelle und ihr in-
nicht die Vorstellung, in der sich der Begriff des perfekten Mordes
spirierendes Motiv im Mord. Die Nachahmung oder Vortäuschung
verwirklicht. Letztlich beruht die Perfektion des Mordes ebenso auf
von Morden ist zur beliebtesten Freizeitbeschäftigung der heutigen
der Schwierigkeit, jemanden zu töten, ohne erwischt zu werden, wie
295 296
auf dem Scharfsinn, der an die Lösung dieser Frage gewandt wurde. belebten Straße zu töten und nicht entdeckt zu werden. Aber am
wichtigsten, so De Quincey, ist das Opfer selbst: Es sollte sich um
Es sind natürlich die vollkommenen Morde, selten wie sie sein mö-
einen guten Menschen handeln, denn nur so kann die letztlich künst-
gen, die das künstlerische Paradigma perfekter Tötungsdelikte dar-
lerische Zielsetzung des Mordes demonstriert werden. Es ist die
stellen. Die Ironie des vollkommenen Mordes liegt darin, daß seine
gleiche Zielsetzung, wie sie nach Aristoteles die Tragödie verfolgt:
Perfektion nicht anerkannt werden kann, solange sie andauert, so-
«das Herz des Menschen durch Mitleid und Schrecken zu reinigen».
lange also der Mordfall nicht gelöst ist. Nur die Morde, denen es in
Zu Recht fragt DeQuincey: «Wie kann man Mitleid mit einem Tiger
irgendeiner Hinsicht an Perfektion gebricht, können rühmend er-
empfinden, den ein anderer Tiger vernichtet?»
wähnt werden.
De Quincey scheut sich, selbst Beispiele zu bringen, wie man dies
Auch dies ist ein Grund, den Mord als eine der schönen Künste an-
von einem Mann erwarten kann, der dem Mord nie näher gekommen
zusehen. Denn fast jeder Fall von vorbedachtem Mord strebt das
ist als beim Versuch, einen Kater zu ertränken.
Ideal der Vollkommenheit an. Beim Mord gibt es keine Kompromis-
se. Ich hingegen hege keine derartigen Skrupel. Zwar kann ich nicht be-
haupten, gute Menschen getötet zu haben, deren Tod mitleiderre-
Wie ich schon gesagt habe, war das zwanzigste Jahrhundert das
gend wäre. Die Männer, die ich getötet habe, hätten zweifellos viele
Zeitalter mörderischer Taten einer bis dahin unvorstellbaren Grö-
andere getötet. Aber jeder sucht seine Berufung, wo er kann, und
ßenordnung. Zwei Weltkriege haben dazu beigetragen, dem mensch-
mein persönliches Mordregister übertrifft gewiß den Anschlag auf
lichen Leben seinen Wert zu rauben. Daher mag es unwahrschein-
das Leben einer Katze. Natürlich werde ich nach Beendigung meines
lich erscheinen, daß dieses unser Jahrhundert eine Renaissance der
Vertrags wieder auf die gleiche Weise töten.
Kunst des Mordes erleben sollte. Man könnte auch einwenden, daß
es in den letzten Jahren zu so vielen Morden gekommen ist, daß man Ich meine daher durchaus berechtigt zu sein, den künstlerischen
leicht Gefahr läuft Quantität mit Qualität zu verwechseln. Aber an Wert anderer Morde zu beurteilen. Aber bevor ich mich den Mord-
den meisten dieser Morde findet sich nichts Bewundernswertes, und opfern und ihren Mördern zuwende, muß ich einige Worte über die
die meisten Leser der 1HZV RI WKH :RUOG sind mit allem zufrieden, Mittel sagen, mit denen Morde verübt werden.
wenn es nur blutrünstig genug ist. Der gute Geschmack aber ver-
Das erhabenste Werk des neunzehnten Jahrhunderts, Morde, die so
langt mehr.
spät in ihrem Jahrhundert geschahen, daß man in Versuchung kom-
Wenn wir nach Beispielen für Mordfälle suchen, die unser Jahrhun- men kann, sie dem zwanzigsten Jahrhundert zuzurechnen, sind zwei-
dert vor anderen auszeichnen, müssen wir nach einem Maßstab su- fellos die Whitechapel-Morde des Jahres 1888. Dennoch bin ich der
chen, an Hand dessen sie beurteilt werden können. Hier, glaube ich, Meinung, daß der größte Künstler des neunzehnten Jahrhunderts den
kann man nicht besser fahren, als wenn man DeQuinceys eigene Besten des nächsten Jahrhunderts nicht gewachsen war. Jack the
Faustregel übernimmt. Kühnheit, so sagt er, ist entscheidend, und Ripper mag zur Legende geworden sein, aber ich kann ihm nicht den
der Wagemut des Mörders kann an Ort und Zeit der Tat gemessen gleichen Rang zuerkennen wie Ramon Mercader - schon der Name
werden. Es ist eine Kunst, einen Mann am hellichten Tag auf einer klingt nach Mord -, dem Mann, der 1940 Trotzki ermordete.

297 298
Sie werden sich erinnern, daß Trotzki nach seiner Niederlage gegen Blakely und Ellis waren seit zwei Jahren ein Liebespaar. Es war eine
Stalin im Kampf um die Parteiführung aus der Kommunistischen turbulente, eifersuchtsgeplagte Beziehung, die von mancherlei Un-
Partei der Sowjetunion ausgestoßen wurde. Trotzki floh aus Rußland treue auf beiden Seiten gekennzeichnet war. Eines Abends verließ
und ließ sich in Mexico City nieder, von wo aus er den Kampf gegen Blakely die Wirtschaft «Zur Magnolie» in Hampstead und entdeck-
Stalin fortsetzte. Aber all das wäre nicht hinreichend, um den Mord te, daß Ellis ihn mit einem Revolver in der Hand erwartete. Sie
an Trotzki zu dem Kunstwerk zu machen, als das wir ihn heute er- schoß, ohne Zögern, mehrmals aus minimalem Abstand auf Blakely.
kennen. Unsere Hochschätzung für diesen einen Mord beruht auf ei- Zum künstlerischen Wert dieses Mordes tragen mehrere Faktoren
ner und nur einer Tatsache: der einzigartigen Wahl der Tatwaffe. bei: die nicht frauentypische Wahl der Waffe, die ungewöhnliche
Was Paganini für die Geige war, war Mercader für den Eispickel. Entschlossenheit der Mörderin und, natürlich, die Tatsache selbst,
Eine begnadete Wahl, durch die Mercader unsere Kunst auf den daß weibliche Künstler selten sind. Ebenso wie man nur schwer
Gipfel des Erhabenen geführt hat. Denken Sie einen Augenblick an weibliche Komponisten vom Range eines Mozart oder Beethoven
die schneidende Symbolik seiner Wahl: ein einfaches proletarisches oder eine weibliche Malerin finden kann, die imstande wäre, sich
Werkzeug, dem Hammer und der Sichel ähnlich, die emblematisch neben Tizian und Goya zu behaupten, zeichnet sich auch die
die bolschewikische Revolution darstellen; das Eis, das in Rußland
Kunst des Mords durch einen Mangel an Talent beim schwachen
so verbreitet ist und in Mexiko ein Privileg der Reichen darstellt. Es
Geschlecht aus.
war fast, als wolle Mercader einen behaglich in Mexico City leben-
den Trotzki an seine proletarischen Ursprünge erinnern. Und denken Gewiß, die neuere neurologische Forschung hat den wahren Grund
Sie an den physischen Bereich, der Mercaders Angriff ausgesetzt für den geringen Mordinstinkt des weiblichen Geschlechts entdeckt;
war: Trotzkis Gehirn, das letzte Refugium der Opposition gegen Sta- und es mag nur eine Frage der Zeit sein, bis ähnliche Erklärungen
lin. Vermittelt durch die Person Mercaders, weist Stalin nahezu für andere Aspekte kreativen Gestaltens gefunden werden. Aber las-
buchstäblich darauf hin, daß er jedes konterrevolutionäre Denken sen Sie uns dem echten Beitrag einer Frau, wenn er einmal auftritt,
zerstören wird. Der harte und unnachgiebige Schnabel des Tyrannen Anerkennung zollen und ihn entsprechend rühmen.
schlägt auf die Schale, die das Ei der Opposition birgt. Brillant! Sta-
Sie werden sich entsinnen, daß ich zu Beginn meines Vortrags die
lin hat diesem Meisterwerk des Mordes zu Recht Ehre erwiesen, in-
Frage gestellt habe: Hat es im zwanzigsten Jahrhundert eine Renais-
dem er Mercader zum Helden der Sowjetunion ernannte. Können
sance der Kunst des Mordes gegeben? Lassen Sie mich jetzt versu-
wir dahinter zurückbleiben? Müssen wir Mercader nicht den größten
chen, die Frage zu beantworten.
Vertreter der schönen Kunst des Mordes im vergangenen Jahrhun-
dert nennen? Es gibt eine solche Renaissance, aber eher in dem Sinne, wie Walter
Pater sie beschrieben hat. Ich spreche von einem Temperament, ei-
Aber mir scheint, daß es noch einen weiteren Mord gibt, der um sei-
ner Innerlichkeit des Reagierens, die in sich eine neue Form der
ner künstlerischen Verdienste willen erwähnt werden sollte: den
Wahrnehmung ist. Sie spricht von der Gesichtslosigkeit des moder-
Mord an David Blakely im Jahre 1955. Er war der Liebhaber von
nen Menschen und der Ungewißheit seiner Vorurteile. Sie weiß, daß
Ruth Ellis, die ihn ermordet hat und die letzte Frau war, die in Eng-
alles Wissen nur vorläufig ist und daß es außer dem Tod selbst keine
land gehängt wurde.
299 300
tiefere Wahrheit gibt. Alles, was dazu dient, die Seele des Künstlers GDV GHQ(LQJDQJ ]X :LQVWRQ 0DQVLRQV VFKPFNWPHOGHWHQ )LUPHQ
zu offenbaren, ist erlaubt, auch der Mord. ZLH GLH GLH 2FHDQ :KDUI JHSODQW KDWWH GHQ .RQNXUV DQ ,P /DXI
GHU=HLWZXUGHHLQ6WDGWHQWZLFNOXQJVSURMHNWQDFKGHPDQGHUHQHLQ
JHVWHOOW GDV 6R]LDODPW ZLHV LPPHU PHKU REGDFKORVH )DPLOLHQ LQ
Diese Renaissance, diese Eruption des Mordes als Kunstform, er-
:RKQXQJHQ HLQ GLH QRFK YRU NXU]HP IU +XQGHUWWDXVHQGH YRQ
klärt nicht die Früchte der Erfahrung, sondern angesichts der er-
3IXQG VSlWHU 'ROODU DQJHERWHQ ZRUGHQ ZDUHQ XQG GLH *HElXGH
schreckenden Kürze der Erfahrung diese selbst zum Ziel. Sie ver-
YHUILHOHQIDVWVRVFKQHOOZLHGDV3UHLVQLYHDX
strömt die Atmosphäre absoluter Ungewißheit, beständigen Wan-
dels, neuer Meinungen, der Weigerung, sich mit einer oberflächli-
chen Orthodoxie abzufinden. Wie Victor Hugo sagte, sind wir alle 8PGLH-DKUWDXVHQGZHQGHZDUHQGLH'RFNODQGVZLHGHUHEHQVRYHU
zum Tode verurteilt und genießen Strafaufschub auf unbestimmte IDOOHQZLHYRUGHU6DQLHUXQJ'RFKGLHVPDOZLUNWHGHU9HUIDOOXPVR
Zeit. Was wir daher in dieser Renaissance erkennen, ist das Verlan- GUDPDWLVFKHU DOV HU YRU GHP +LQWHUJUXQG JHZDOWLJHU $XVJDEHQ
gen nach einem beschleunigten Lebensgefühl, nach einem differen- VWDQG GLH PDQ LQ GHP HUIROJORVHQ 9HUVXFK JHPDFKW KDWWH HLQHQ
zierten Bewußtsein. 6WDGWWHLO IU GHQ :RKOVWDQG ZLHGHU]XHUREHUQ $OV GDV HUVWH -DKU
]HKQW GHV QHXHQ -DKUWDXVHQGV GHP ]ZHLWHQ ZLFK EHKDXSWHWHQ VLFK
QXUQRFKZHQLJHXQGLVROLHUWH,QVHOQUHODWLYHQ:RKOVWDQGVZLH2FH
1891 hat Oscar Wilde die Durchschnittlichkeit der Literatur
auf den Niedergang der Kunst der Lüge zurückgeführt. Ein gutes DQ :KDUI LQ HLQHP 0HHU XUEDQHQ 1LHGHUJDQJV YRQ RUZHOOVFKHP
Jahrhundert später glaube ich, ein Jahrhundert literarischer und $XVPD‰
6LH ZHUGHQ YLHOOHLFKW IUDJHQ ZDUXP LFK PLFK WURW] PHLQHV
künstlerischer Blüte feiern und diese Blüte auf die Renaissance des
:RKOVWDQGV HQWVFKORVVHQ KDEH KLHUKHU ]X ]LHKHQ XQG XQWHU %HGLQ
Mordes als Kunst, als Wissenschaft und als geselliges Vergnügen
JXQJHQ ]X OHEHQ GLH HLQHP VWlQGLJHQ %HODJHUXQJV]XVWDQG JOHLFK
zurückführen zu können.
Und nun, meine Damen und Herren, lassen Sie mich auf die übli- NRPPHQ*HZL‰KlWWHQVLFKGLH$UFKLWHNWHQGHV3URMHNWV QLHWUlXPHQ
chen Trinksprüche verzichten, die wir sonst dem Alten vom Berge, ODVVHQGD‰2FHDQ:KDUIHLQHV7DJHVYRQHLQHPHOHNWULVFKHQ=DXQ
Karl Martell, den jüdischen Zeloten, Burke und Hare und der Mör- HLQJHVFKORVVHQ VHLQ ZUGH 6LH KDEHQ DXFK QLFKW JHDKQW GD‰ GLH
dersekte der Thugs gewidmet haben. Trinken wir statt dessen auf .ULPLQDOLWlWUXQGXPLKU/LHEOLQJVSURMHNWDXIHLQ$XVPD‰DQVWHLJHQ
mein nächstes Opfer. Denn nun ist es unterwegs, und mich ruft mein ZUGHGDVGHQ9HUJOHLFKPLWGHU1HZ<RUNHU6RXWK%URQ[QLFKW]X
Geschäft. VFKHXHQEUDXFKW
$OV PDQ 2FHDQ :KDUI XQG DQGHUH 6WDGWWHLOVDQLHUXQJVSURMHNWH LQ ,FK VWHKH YRQ 6WUD‰HQJHUlXVFK XQG VFKPXW]LJHU *UR‰VWDGWOXIW LVR
$QJULIIQDKPVFKLHQVLFKHLQHQHXH&KDQFHIUGLH'RFNODQGVDQ]X OLHUW DP )HQVWHU PHLQHU :RKQXQJ LP VLHEWHQ 6WRFN YRQ :LQVWRQ
NQGLJHQHLQHQ6WDGWWHLOGHUVHLW]ZDQ]LJ-DKUHQLQUDSLGHP9HUIDOO 0DQVLRQVXQGNDQQQLFKWPHKUQDFKYROO]LHKHQZDVVLHIU9RUVWHO
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301 302
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EHU GHQ )OX‰ EOLFNH NDQQ LFK PLU OHLFKW YRUVWHOOHQ LFK VHL DXVHU KOMMT NICHT IN FRAGE!» Jake sah Mark Woodford und Pro-
ZlKOW XQG HLQVDP ,FK KDEH HLQHQ QDWUOLFKHQ +DQJ ]XP 6ROLSVLV fessor Waring unverwandt an. Ihre Miene zeigte Erstaunen und Ver-
PXV)UPLFKLVWHUNHLQHLQWHOOHNWXHOOH3RVHVRQGHUQHLQHVRVWDUNH achtung. «Auf keinen Fall! Tut mir leid!»
PRUDOLVFKH XQG P\VWLVFKH (LQVWHOOXQJ GD‰ PHLQH *HGDQNHQ HUODK
PHQ ZUGHQ ZHQQ LFK PHLQ %HLQ YHUOHW]WH 'HQQ 6FKPHU] NHQQHQ
«Die Staatssekretärin hielt es für eine gute Idee», sagte Woodford
KHL‰W GXUFK HLQ 0HUNPDO XQVHUHV 6FKPHU]HV EHU VHLQHQ 2UW EH
beruhigend.
QDFKULFKWLJWZHUGHQXQGLKQEHVFKUHLEHQN|QQHQ$XIGLHJOHLFKH$UW Jake schüttelte entschieden den Kopf. «Die Staatssekretärin ermittelt
XQWHUULFKWHQPLFKPHLQHNLQlVWKHWLVFKHQ(PSILQGXQJHQEHU%HZH nicht in diesem Fall. Das tue ich, und ich finde die Idee beschissen.»
JXQJXQG/DJHPHLQHU*OLHGHU
Die Besprechung fand einige Tage nachdem Mr. Parmenidis mit
,FKODVVHPHLQHQ=HLJHILQJHUHLQHOHLFKWHNUHLVHQGH%HZHJXQJYROO Wittgensteins Stadtplan im Yard gewesen war, in den Amtsräumen
IKUHQ(QWZHGHUVSUHLFKVLHNDXPRGHUEHUKDXSWQLFKWYLHOOHLFKW der Staatssekretärin im Innenministerium am St.-James-Park statt.
DXFK QXU DOV VFKZDFKH 6SDQQXQJ LQ GHU )LQJHUVSLW]H 8QWHUULFKWHW Grace Miles selbst war an der Teilnahme verhindert. Sie weihte ein
PLFKGLHVHV*HIKOEHUGLH%HZHJXQJ",FKNDQQGLH%HZHJXQJJH neues Polizeirevier in ihrem Wahlkreis in Birmingham ein.
303 304
Jake lehnte sich im Sessel zurück und sah sich beunruhigt um. Sie gegen haben. Professor Warings Vorschlag könnte alle unsere Pro-
wunderte sich über die uneinheitliche Ausstattung des Raums: die bleme lösen.»
stromlinienförmigen modernen Möbel, das billige grüne Porzellan
«Alle, außer Wittgensteins Problemen.»
und die Elefantenstoßzähne, die an einer der beigefarbenen Wände
hingen. Das Elfenbein kam ihr angesichts der Tatsache, daß Elefan- Woodford zuckte die Achseln. «Ehrlich gesagt», sagte er, «seine
ten bis auf wenige Exemplare in Zoos und Safariparks so gut wie Probleme kümmern mich wenig. Mit dem neuesten Opfer, Hegel,
ausgestorben waren, eher geschmacklos vor. Der Elefant war ihr sind es jetzt zwölf Menschen, die er getötet hat.»
Lieblingstier. Weil Elefanten nie etwas vergessen, meinte sie, müsse
«Mag sein», sagte Jake. «Aber deshalb hat er immer noch ein paar
er das Lieblingstier jeder Polizistin sein. Und das war es, was diese
Rechte. Es gibt eine richtige Art, die Dinge zu erledigen. Und selbst
Armleuchter von ihr wollten: Sie sollte vergessen, daß sie den Auf-
wenn er funktionieren sollte, was ich bezweifle, würde ihr Vorschlag
trag hatte, Wittgenstein zu verhaften.
nur dazu dienen, alles unter den Teppich zu kehren. Und was wich-
Mark Woodford seufzte. Er vermied es sorgfältig, Jake in die Augen tiger ist: Wenn er nicht funktioniert, könnte Wittgenstein den Kon-
zu sehen, und spitzte nachdenklich die Lippen. takt zu uns ganz abbrechen, sich eine Zeitlang ruhig verhalten und in
zwei Jahren mit der ganzen Geschichte von vorn anfangen. Und, was
«Normalerweise», sagte er, mühsam überwundene Bedenken vortäu-
am schlimmsten ist: Sie sind dabei, diesen Mann zur Legende zu
schend, «respektieren wir im großen ganzen die verfassungsmäßige
machen, so wie Jack the Ripper zur Legende wurde, als er ver-
Gewaltenteilung: Legislative, Exekutive...»
schwand.»
«Ersparen Sie mir die Vorlesung über Verfassungstheorie», sagte
«Hören Sie», sagte Woodford. «Lassen Sie doch einfach den Profes-
Jake. «Ich weiß, was die drei Gewalten sind.»
sor seinen Vorschlag selbst erläutern. Bitte, hören Sie ihn an.»
Unbeirrt fuhr er fort: «Aber es gibt Umstände, unter denen sich die
Jake zuckte die Achseln. «Fahren Sie fort. Aber ich kann mir nicht
Legislative verpflichtet fühlen könnte, sich in die Aufgaben einer der
vorstellen, daß es einen großen Unterschied machen wird. Und wenn
anderen Gewalten einzumischen.»
der heilige Franziskus mir so einen Vorschlag machte, würde er im-
«Ich nehme an», sagte Jake, «Sie wollen sagen, daß Sie mir den Fall mer noch nach Scheiße riechen.»
entziehen werden. Geht es darum?»
Professor Waring warf Mark Woodford einen fragenden Blick zu.
«Ja», sagte Waring. Der nickte, als wollte er sagen, den Versuch sei es immer noch wert.
Woodford schlug einen Aktendeckel auf und blätterte darin.
«Versuchen Sie es nur», sagte Jake. «Ich wollte mich schon immer
einmal als Journalistin versuchen.» «Aus der Lektüre sämtlicher Mitschriften Ihrer Telefongespräche
mit Wittgenstein und aus allem, was wir sonst über ihn wissen, habe
Woodford lächelte begütigend. «So weit wird es wohl kaum kom-
ich ein sehr klares Bild von dem Charakter des Mannes gewonnen,
men, Frau Chefinspektor.» Er lehnte sich über den Tisch und faltete
mit dem wir es hier zu tun haben.
ungeduldig die Hände. «Hören Sie! Ich verstehe nicht, was Sie da-

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In vielen Punkten gleicht er anderen Patienten, die ich in Haftanstal- und harten dabei einen bestimmten Abschluß im Sinn. Und jetzt
ten interviewt habe. Meine eigenen klinischen Forschungen haben kommen wir und schlagen eine andere Zielsetzung vor. Ich kann mir
ergeben, daß dieser Typ üblicherweise zum Selbstmord neigt. Da er vorstellen, wie frustrierend das sein muß. Niemand hat erwartet, daß
dem Leben anderer Menschen keinen Wert beimißt, ist es wahr- Sie begeistert sind.»
scheinlich, daß er auch keinen allzu großen Wert auf sein eigenes
«Sie haben verdammt recht: Ich bin nicht begeistert. Sie und Ihre
Leben legt.»
Kumpane können meinetwegen tun, was Sie wollen, aber ich werde
Er räusperte sich, bevor er zu dem kam, wovon Jake wußte, daß es Wittgenstein weiterhin auf meine Art verfolgen.» Zu diesem Zweck
der angreifbare Teil seiner These war. hatte Jake bereits beschlossen, nicht zu erwähnen, daß Parmenidis
ihr Wittgensteins Opferliste gebracht hatte und daß die potentiellen
«In diesem Falle bin ich dessen gewiß. Und wenn wir die Identifika-
Opfer Tag und Nacht überwacht wurden.
tion des Mörders mit Wittgenstein oder seinen Wahn in Rechnung
stellen, er sei Wittgenstein, sehe ich keinen Grund, warum er seine Woodford zuckte die Achseln. «Wir können Sie wohl kaum daran
antisozialen Aggressionen nicht gegen sich selbst kehren sollte. hindern, Ihre Pflicht zu tun», sagte er.
Schließlich hat einer der Brüder Wittgensteins Selbstmord begangen,
«Und was ist mit Sir Jameson Lang?» fragte sie. «Was sagt der denn
und er selbst war suizidgefährdet. Natürlich habe ich als Arzt gewis-
zu Ihrem netten kleinen Plan? Er kommt mir nicht wie jemand vor,
se Vorbehalte, wenn ich diese Vorgehensweise empfehle. Man
der da so einfach mitmacht. Technisch gesehen handelt es sich um
könnte behaupten, der Vorschlag verstoße gegen den hippokrati-
eine Verschwörung zum Zwecke gesetzwidriger Tötung.»
schen Eid. Aber der Eid ist wertlos, wenn er noch größeren Verlust
an Leben zuläßt. Und letzten Endes, Frau Chefinspektor, meinen Sie «Ist das nicht ein bißchen melodramatisch?» fragte Woodford.
nicht, es wäre besser, sich selbst zu töten, als zu lebenslänglichem
«Und was Sir Jameson Lang angeht», sagte Waring, «den überlassen
Strafkoma verurteilt zu werden? Ich weiß, welche Wahl ich treffen
Sie ruhig uns.» Er wandte sich an Woodford. «Ich rufe ihn heute
würde.»
nachmittag an.»
«Das ist die Höhe!» Jake verzog wütend das Gesicht. «Schließlich
Jake stand auf und schob den Stuhl mit den Füßen von sich.
waren Sie Mitglied des Sonderausschusses im Innenministerium, der
die Verhängung von Koma als anwendbare Form der Bestrafung «Mord», sagte sie, «und bilden Sie sich nicht ein, es sei etwas ande-
empfohlen hat.» res. Nicht einmal Wittgenstein bildet sich das ein.»
Waring runzelte die Stirn und sah Woodford an. «Vielleicht macht Der Fahrstuhl vom obersten Stockwerk war langsam, und bis Jake
sich die Chefinspektorin Sorgen, weil eine Ermittlung ohne Verhaf- im Erdgeschoß ankam, hatte sie sich wieder einigermaßen beruhigt.
tung schlecht für ihre Karriere sein könnte.» «Das hat nichts damit Eine Angestellte des Sicherheitsdienstes durchsuchte sie und über-
zu tun», sagte sie rasch. Woodford lächelte verbissen und griff nach prüfte dann mit einem Blick auf den Bildschirm des Computers, daß
einem Stück Kuchen. «Hören Sie», sagte er, «ich weiß, was das für Jake keine unidentifizierten Gepäckstücke zurückgelassen hatte.
Sie bedeuten muß. Sie haben sich dem Fall mit Hingabe gewidmet
Während sie auf das O. K. der Sicherheitszentrale wartete, sah sie
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den zahlreichen Russen und Osteuropäern zu, die geduldig in der «Soll das heißen, Sie haben es nicht bekommen?» Allmählich kam
Eingangshalle darauf warteten, von irgendeinem subalternen Beam- es Jake so vor, als ob da etwas faul sei. «Maurice, würden Sie bitte
ten des Innenministeriums wegen ihrer Aufenthaltsgenehmigung be- nach dem Memorandum suchen und es mir bringen? Sofort, bitte.»
fragt zu werden. Sie wußte, daß einige von ihnen mit Sicherheit
Sie wartete ein paar Minuten und rief dann wieder an. Selbst auf
schon seit Tagen darauf warteten, beweisen zu dürfen, daß sie sich
dem Bildschirm des Pictofons war zu erkennen, daß Maurice sich
legal in Großbritannien aufhielten. Niemand machte sich viel Ge-
Sorgen machte.
danken um ihr Wohlergehen oder ihre Bequemlichkeit. Niemand
versuchte, den ganzen Vorgang weniger unpersönlich zu gestalten, «Soll das ein Witz sein?» fragte er. «Ich habe was Besseres zu tun,
als er war. Kein Wunder, dachte Jake, daß Menschen manchmal ge- als mich um dumme Scherze zu kümmern.»
walttätig werden.
«Das ist kein Witz», sagte Jake. «Also? Haben Sie das Memoran-
Als ihre Sicherheitsüberprüfung abgeschlossen war, verließ Jake das dum gefunden?»
tankstellenähnliche Gebäude in Richtung Tothill Street und bog
«Komisch», antwortete er, «ich habe überall nachgesehen und kann
dann gleich nach rechts in Richtung auf New Scotland Yard und den
es nicht finden.»
berühmten drehbaren Käse auf einer Fahnenstange ein, den das Pu-
blikum aus Hunderten von Fernsehserien kannte. Der Silberkäse fing «Und das Memorandum ist gestern nachmittag auf Ihrem Monitor
die heißen Strahlen der Mittagssonne ein und warf sie ihr in regel- angekommen?»
mäßigen Abständen wie ein Stroboskoplicht entgegen. Sie fragte
«Ja», sagte er. «Ich habe es in die Tagesdatei kopiert und einen Aus-
sich, warum ihr dieser Anblick bedeutsam vorkam. Wieder in ihrem
druck gemacht, um ihn zusammen mit dem Autoradiogramm zu-
Büro angelangt, rief Jake im Labor an.
rückzuschicken.»
«Maunce? Wie weit sind wir mit dem Autoradiogramm?» fragte sie.
«Das heißt also, daß jemand in Ihrem Büro war und das Memoran-
«Hat der Computer schon einen Personalausweis gefunden, der zu
dum aus dem Speicher Ihrer Tagesdatei gelöscht hat?»
dem Spezimen paßt?»
Maurice zuckte unangenehm berührt die Achseln. «Sieht so aus»,
«Könnten Sie sich endlich mal entschließen, was Sie wollen?»
sagte er. «Aber wer würde so etwas tun?»
knurrte er zurück. «Soll ich denn das Computervergleichsprogramm
wieder anlaufen lassen?» «Da habe ich eine dunkle Ahnung», sagte Jake.
«Was heißt wieder?» fragte sie. «Wer hat gesagt, daß Sie aufhören «Vielleicht sollte ich einen Bericht darüber machen.»
sollen?»
Jake dachte einen Moment nach. Zwar konnte sie sich nicht vorstel-
«Sie selbst. Ich habe erst gestern ein eigenhändig unterschriebenes len, daß Woodford oder Waring im Labor herumschnüffelten und
Memorandum von Ihnen gekriegt. Sie haben mich auch aufgefor- Dateien im PC eines Technikers löschten, aber sie konnte sich vor-
dert, Ihnen das Autoradiogramm zu schicken.» «Und haben Sie es stellen, daß sie dahintersteckten. Gewiß gab es Leute genug, die be-
getan?» reit waren, ihre Anordnungen zu befolgen: Polizisten etwa, die nicht
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wollten, daß das Lombrosoprogramm und in seinem Gefolge die viel Sie setzte sich an den Computer und rief ihre sämtlichen Notizen zu
beschworene Recht-und-Gesetz-Parole der Regierung nicht wieder- dem Fall auf, um zu überprüfen, ob etwas fehlte. Die Datei enthielt
gutzumachenden Schaden nahmen. Das aber würde mit Sicherheit nicht viel, aber alles, an das sie sich erinnern konnte, war noch da.
geschehen, wenn bekannt wurde, wie Wittgenstein eben das System Nachdem sie die Aufzeichnungen schon einmal auf dem Bildschirm
ausgenutzt hatte, das dazu dienen sollte, ihn zu kontrollieren. hatte, beschloß sie, sie noch einmal durchzulesen, und machte sich
daran, die Datei Seite um Seite durchzusehen. Sie hoffte auf einen
Die gleichen Personen würden es sicher auch vorziehen, sich des
Einfall zu einer völlig neuen Ermittlungsstrategie. Dunkel erinnerte
Falles Wittgenstein auf unauffälligere Weise zu entledigen, als es
sie sich, daß Sir Jameson Lang gesagt hatte, der echte Wittgenstein
eine Verhaftung und die anschließende Gerichtsverhandlung zulie-
habe intuitiv arbeitende Detektive vorgezogen. Vielleicht konnte sie
ßen. Schlimm genug, dachte sie, daß Woodford und Waring es dar-
ja mehr Intuition entwickeln. Aus früheren Fällen hatte sie gelernt,
auf anlegen wollten, Wittgenstein sich selbst aus der Gleichung eli-
wie man am Ende einer Ermittlung seine eigenen Notizen durchle-
minieren zu lassen. Viel schlimmer aber war die Vorstellung, daß es
sen und etwas entdecken konnte, von dem man hätte wissen müssen,
Polizisten gab, die bereit waren, bei diesem Spiel mitzuspielen. Ei-
daß es wichtig war, etwas, das die ganze Zeit dagewesen war und
nes war klar: Wenn sie die Ermittlungen fortführen wollte, mußte sie
nur darauf gewartet hatte, bemerkt zu werden. Sie ließ die Seiten
sich unauffälliger verhalten, als die Suche nach verschwundenem
vorüberrollen. Etwas, das so klein war, daß sie es hätte übersehen
Beweismaterial es zuließ.
können, vielleicht etwas, das mit dem Gebrauch von Worten zu tun
«Nein, Maurice», sagte sie. «Überlassen Sie die Angelegenheit vor- hatte und das sie hätte mißverstehen können. Bis zu einem gewissen
läufig mir. Einverstanden?» Grade war die Arbeit der Kriminalistin eine grammatische Aufgabe.
Es ging darum, Licht auf ein Problem zu werfen, indem sie Mißver-
Er schien erleichtert und dankbar, was ihn zu ungewohnter Höflich-
ständnisse und Mehrdeutigkeiten, vielleicht auch Lügen, aus dem
keit animierte. «Selbstverständlich, Frau Chefinspektor. Wie Sie
Weg räumte. Es kam ihr beinahe vor, als beschäftige sie sich nicht
wollen. Ich habe genug zu tun, auch ohne einen Haufen dummer
mit Phänomenen, sondern sozusagen mit der Möglichkeit von Phä-
Fragen zu beantworten.»
nomenen.
Jake drückte auf den Pictofonknopf und beendete das Gespräch. Der
Jake mußte lachen. Langsam fing sie an zu reden wie Sir Jameson
genetische Fingerabdruck auf Wittgensteins Personalausweis würde
Lang. Nun schön, vielleicht hatte er ja recht. Vielleicht war eine De-
ihr also nicht helfen, den Täter zu finden. Aber einfach am Schreib-
tektivin so etwas wie ein Philosoph, und ihre kriminalistischen Er-
tisch sitzen und abwarten, ob einer der Beamten, die die potentiellen
mittlungen waren in Wirklichkeit eine philosophische Untersuchung.
Opfer überwachten, mehr Glück haben würde, konnte sie auch nicht.
Vielleicht war es die ganze Zeit so gewesen.
Die Arbeit der Kriminalistin, sagte sie sich, besteht darin, sich nie
mit dem zufriedenzugeben, was man hat. Der Ermittlungsprozeß ist Erneut las sie die Berichte der Spurensicherung, die Zeugenaussa-
seiner Natur nach etwas kontinuierlich Fortlaufendes. Es geht dar- gen, die Laborberichte und die Personenbeschreibungen. Cläre, dem
um, das, was man weiß, ständig neu zu bewerten, auch wenn es dazu Mädchen aus dem Sexclub, war es gelungen, das Phantombild des
keinerlei logischen Grund gibt. Gesuchten so zu verbessern, daß er menschlicher aussah als zuvor.

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Dann verglich sie Cläres Porträt mit dem, das Grubb, der Clubbesit- «Sie meinen also », grinste Chen, « mit meinem Englisch stimmt
zer, gezeichnet hatte, dann beide mit den ursprünglichen verbalen etwas nicht.»
Beschreibungen. Dann las sie noch einmal die Beschreibung, die
Jake lächelte ihm zu und schüttelte den Kopf. «Nein. Sehen Sie, Sie
Wittgensteins psychotherapeutischer Berater, Dr. Chen, unter Hyp-
haben doch Englisch gelernt?»
nose gegeben hatte. Sie erinnerte sich an Professor Gleitmanns Mei-
nung, Chen könne unbewußt gelogen haben, und las die Beschrei- Er nickte.
bung noch einmal durch. Aber wenn es nicht so wahr? fragte sie
«Aber Ihre Muttersprache ist Chinesisch?»
sich. Und was könnte ihr das sagen? Daß der Mörder Wittgenstein
tatsächlich ähnlich sah? Jedenfalls waren die Phantombilder, die «Ja.»
nach den Anweisungen von Cläre und Grubb angefertigt worden wa-
«Also zwei sehr unterschiedliche Sprachen.»
ren, demjenigen ähnlich, das auf Chens Beschreibung zurückging.
«Nur oberflächlich», sagte er. «Der Mensch ist nun einmal ein syn-
Sie fragte sich, ob sie sich gründlich genug mit Chen beschäftigt hat-
taktisches Wesen, und alle Sprachen haben die gleiche Tiefenstruk-
te. Schließlich war er der einzige, der persönlich mit dem Mörder
tur, so etwas wie eine genetische Universalgrammatik. Das ist die
gesprochen hatte. Zweifellos war seine Hypnose professionell
Blaupause für den Spracherwerb, mit der jeder Säugling auf die
durchgeführt worden. Aber hatte man die Sprachbarriere hinreichend
Welt kommt. Daß ich in der Kindheit Chinesisch statt Englisch ge-
berücksichtigt? Chen sprach ausgezeichnet Englisch, aber war es
lernt habe, ist reiner Zufall.»
seine Muttersprache? Dachte sein Unterbewußtsein englisch oder
chinesisch? Könnte das einen Einfluß auf seine Antworten gehabt «Einverstanden», sagte Jake. «Aber meine Ermittlungen beziehen
haben? Ihre Fragen waren an sein Unterbewußtsein gerichtet, damit sich auf Sprachgebrauch, also auf eine Tatsachenfrage. Ich muß he-
aber auch an den Kern der Sprache. Könnten die Fragen in diesem rausfinden, wie Form und Funktion zusammenwirken. Ich muß ver-
Kern nur etwas gesehen haben, das für den Betrachter offen zutage suchen, Ihre Intentionen zu verstehen, die Beziehung zwischen dem,
lag, das durch angemessene Neuordnung überschaubar wurde? Aber was Sie sagen, und dem, was Sie als Realität wahrgenommen ha-
was war mit dem, was unter der Oberfläche seiner Antworten lag? ben.»
Gab es da etwas, das sichtbar wurde, wenn man es betrachtete, und
das man bei weiterer Analyse offenlegen konnte? Sie saßen in Chens Büro im Institut. Chung, der Jake begleitet hatte,
war damit beschäftigt, das Stroboskoplicht auf dem Schreibtisch zu
Vielleicht waren ihr die stroboskopischen Lichteffekte auf dem sil- installieren.
bernen Käse vor dem Yard deshalb bedeutsam erschienen.
«Ich möchte mit Ihrem Unterbewußtsein in seiner Muttersprache re-
Jake rief im Institut für Gehirnforschung an und ließ sich mit Dr. den», fügte sie hinzu. «Auf der bewußten Ebene wird Kriminalse-
Chen verbinden. Sie fragte ihn, ob er etwas dagegen habe, sich noch kretär Chung übersetzen.»
einmal hypnotisieren zu lassen, nur daß diesmal Fragen wie Antwor-
ten chinesisch formuliert sein sollten. Chen zuckte die Achseln. «In Ordnung», sagte er. «Wenn Sie glau-
ben, daß es etwas nützt, bin ich gerne bereit, es zu probieren.» Er lä-

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chelte fragend. «Wollen Sie selbst versuchen, mich in Trance zu ver- geben sollte, und sei es auch nur auf der Ebene der genetischen Pro-
setzen?» grammierung.
«Ja», sagte Jake. «Ich habe Psychologie studiert. Seien Sie versi- «Fragen Sie ihn, ob er sich an irgend etwas erinnern kann, das Witt-
chert, daß dies nicht mein erster Versuch ist. Aber wir werden dies- genstein gesagt hat.»
mal auf intravenöse Injektionen verzichten. Ich habe nicht viel dafür
Vielleicht war das alles Zeitverschwendung. Sie versuchte herauszu-
übrig, und außerdem können Sie sich so, sobald wir fertig sind, wie-
bekommen, wie die Sprache die Realität darstellt, und hatte sich
der Ihren eigenen Angelegenheiten widmen.»
noch nicht einmal überlegt, wie irgend etwas irgend etwas anderes
Chen nickte und lehnte sich im Sessel zurück. Jake knipste die Lam- darstellen kann. So etwas lernte man nicht auf der Polizeiakademie
pe an. in Hendon. So etwas unterrichtete niemand außer vielleicht jemand
wie Sir Jameson Lang. Wie weit konnte eine Ermittlung eigentlich
Viele Leute glauben, daß willensschwache, zur Zustimmung neigen-
gehen? War sie nicht bereits zu weit gegangen?
de und unterwürfige Personen besonders leicht zu hypnotisieren sei-
en. Das Gegenteil ist wahr. Intelligente Menschen sind der Hypnose «Bitten Sie ihn, Wittgenstein noch einmal zu beschreiben», forderte
leichter zugänglich, weil sie sich besser konzentrieren können als sie Chung auf. «Vielleicht haben wir ja irgend etwas übersehen.»
weniger intelligente. Chen war leicht hypnotisierbar und aufnahme-
Wieder übersetzte Chung mit gerunzelter Stirn ihre Frage. Warum
fähig. Jake wußte, daß dies ein Zeichen für eine hochentwickelte
sahen Leute, die Chinesisch sprachen, eigentlich immer ärgerlich
Vorstellungskraft ist.
aus, fragte sich Jake. Chen seufzte. Ein wenig Speichel lief ihm aus
Als sie sicher war, daß er sich in Trance befand, erklärte sie, sie wol- dem Mundwinkel, und er schien über die Antwort nachzudenken. Er
le ihm ein paar Fragen auf chinesisch stellen, und er werde jetzt eine sprach langsam und zögernd, fügte ein Wort ans andere, als wisse er
andere Stimme hören. Sie forderte ihn auf, chinesisch zu antworten von Moment zu Moment nicht weiter.
und mit dem Kopf zu nicken, falls er sie verstand.
«Brauner Regenmantel», übersetzte Chung. «Und braune Schuhe,
Chen nickte bedächtig, und dann fingen sie an. gute Qualität. Braune Tweedjacke mit Lederstücken auf den Ellbo-
gen. Er weiß nicht, wie sie heißen. Ein besonderes Wort. So ähnlich
«Würden Sie ihn bitte fragen, ob er sich an den Patienten mit dem
wie Flecken. Nicht Flecken.»
Decknamen Wittgenstein erinnert», wies sie Chung an.
«Flicken?» fragte Jake.
Chung übersetzte die Frage in seine eigene Sprache.
«Möglicherweise, ja.» Chung beugte den Kopf vor, um sich nichts
Die schnell aufeinanderfolgenden hohen und tiefen Töne des Chine-
von Chens Aussage entgehen zu lassen. «Weißes Hemd. Nein, kein
sischen erinnerten Jake an den Versuch, auf einem altmodischen Ra-
Hemd. Wie ein Pullover, aber nicht wie ein Pullover. Ein Pullover
dio einen Sender zu finden. Sie lauschte dem
mit Rollkragen. Aber nicht aus Wolle. Aus dem gleichen Material
Gespräch der beiden und konnte sich kaum vorstellen, daß es ir- wie ein Hemd.»
gendwelche Gemeinsamkeiten zwischen Englisch und Chinesisch
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Chung zuckte die Achseln. «Ein weißes Rollkragenhemd oder so «Haben Sie etwas Nützliches gefunden?» fragte er freundlich.
etwas.»
Jake erzählte von ihrer Idee, daß Wittgenstein in einem Krankenhaus
Jake hatte eine Idee. arbeiten könne.
«Fragen Sie ihn, ob es die Art Rollkragenhemd ist, wie es Zahnärzte «Freut mich», sagte er, stand auf und streckte sich.
tragen.»
«Gut», sagte Jake, «ich fürchte, wir haben Sie schon viel zu lange
Chung übersetzte und nickte Jake dann zu, als er Chens Antwort aufgehalten, Dr. Chen. Ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet.» Im Ge-
hörte. «Möglich. Aber er glaubt nicht, daß der Mann ein Zahnarzt sundheitsministerium würde wahrscheinlich niemand mehr zu finden
war.» sein.
«Warum nicht?» «Kein Problem», sagte er. «Das nächste Mal können Sie mir ja bei
dem Versuch helfen, das Rauchen aufzugeben.»
Chung grinste, als er Chens Antwort hörte. «Er sagt, weil Wittgen-
stein faulige Zähne hat. Er sagt, er hat noch nie einen Zahnarzt mit Jake und Chung zogen sich in ihr Büro im Institut zurück, und Jake
fauligen Zähnen gesehen.» versuchte, im Ministerium anzurufen. Auf dem Bildschirm erschien
ein unglaublich gesund und durchtrainiert aussehendes Mädchen im
Jake nickte. «Yat, Sie haben doch gesagt, der Mörder habe nur in
Sporttrikot, und dazu ließ sich eine hervorragend unpassende, un-
das Lombrososystem eindringen können, wenn er einen Computer
freundliche Männerstimme vernehmen, die mitteilte, das Ministeri-
benützte, der bereits an das Datennetz der EG angeschlossen war?»
um sei bis morgen früh um neun geschlossen.
«Klar. So ist es.»
«Das war' s dann wohl für heute», sagte Jake. «Vielen Dank für Ihre
«Fragen Sie Dr. Chen, ob er glaubt, Wittgenstein könne Kranken- Hilfe, Yat. Ich glaube, Sie haben mir sehr geholfen.»
pfleger oder sonst etwas in einem Krankenhaus sein.»
«Keine Ursache», sagte er. «Übersetzen ist eine hübsche Abwechs-
Chung stellte die Frage, und Chen antwortete, wahrscheinlich sei es lung. Mal was anderes als Computer.»
so.
Sie gingen zu Fuß zurück zum Yard.
«Genau wie der richtige Wittgenstein», sagte Jake. «Er hat während
«Sie müssen doch den Zug nach Paddington nehmen?» fragte Jake.
des Zweiten Weltkriegs eine Zeitlang in einem Krankenhaus gear-
«Kann ich Sie ein Stück mitnehmen?»
beitet, um nicht als feindlicher Ausländer interniert zu werden.»
«Danke», sagte er, «unter einer Bedingung: Ich darf Sie vorher ins
Chung schüttelte den Kopf. «Das ist der Ärger mit euch Briten»,
beste chinesische Restaurant in Soho einladen. Es gehört einem Vet-
sagte er. «Genau das gleiche wie bei den Boat People in Hongkong.
ter von mir.»
Ihr sperrt ständig Leute ein, die gar nicht imstande wären, euch ir-
gend etwas zu tun.» Jake holte Chen aus der Trance. Jake grinste. «Abgemacht. Aber wartet Ihre Frau nicht auf Sie?»

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Chung lächelte sie an. «Zur Zeit wohnt ihre Mutter bei uns. Die 1DFKEDUQ]XVSUHFKHQPDQFKPDOPLWELV]X1DFKEDU]HOOHQ
meint, ihre Tochter hätte auf keinen Fall einen Mann aus Hongkong ]XJOHLFK 8QG EHL DOO GHQ JHLVWLJHQ (PSILQGXQJHQ GLH HLQ XQYHU
heiraten dürfen.» PHLGOLFKHV .RUROODULXP GHV 0DVVHQPRUGHV VLQG PX‰ GDV HOHNWUL
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«Sie ist engstirnig und verbohrt», meinte Jake.

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«Nein», lachte Chung, «sie hat nur noch nie im Restaurant meines
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Vetters gegessen.»
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319 320
PHQVFKOLFKHQ *HVFKOHFKW LP DOOJHPHLQHQ ]X ZLGPHQ (LQH $UW YRQ Jake schüttelte sinnend den Kopf. «Nichts», sagte sie. Aber dann
3URJUDPPIUHLQH*HVFKlIWVHUZHLWHUXQJ,FKKDOWHGLHVHQ7UHQGIU ging sie doch langsam zurück und auf die seltsam theatralische Kir-
EHGHQNOLFK XQG HU EHXQUXKLJW PLFK LQ EHWUlFKWOLFKHP 0D‰H ,FK chentür zu. «Ich weiß nicht, aber ich glaube, es ist nichts.»
KDWWHJHKRIIWGLH'LQJHHLQZHQLJXQWHU.RQWUROOH]XKDOWHQDEHULQ
(UPDQJHOXQJHLQHV90.HUQVN|QQWHVLFKGDVDOVXQP|JOLFKHUZHL
Vor der Kirche, die hinter dem schwarzen Brett mit den Ankündi-
VHQ'DVN|QQWHKHL‰HQGD‰LFKLUJHQGZDQQGLH)LUPDJDQ]]XPD
gungen von Gastvorträgen kaum mehr wie eine Kirche aussah, ver-
FKHQPX‰
suchte Jake, sich ihrem Problem syllogistisch, als Kombination
zweier unabhängiger Prämissen, zu nähern. Aber sie vermochte
 nicht einzusehen, wie die Konklusion, um die es ihr ging, logisch
aus den Prämissen folgen sollte. Ein ungültiger Umkehrschluß, sagte
SIE FUHREN NACH SOHO und fanden schließlich einen Parkplatz
sie sich, kann nur zu einer ungültigen Aussage führen. Dennoch war
am St. James Square. Chung bat um Entschuldigung für den weiten
sie weiterhin davon überzeugt, daß ihre Schlußfolgerung empirisch
Weg zum Restaurant seines Vetters.
überprüfbar sei. Die Frage war nur, wie.
«Mir macht es nichts aus, ein Stück zu Fuß zu gehen», sagte Jake.
Chung respektierte ihr Schweigen und folgte ihr stumm. Sie durch-
«Ehrlich gesagt, ich kann ein bißchen Bewegung brauchen.»
querte die Kirche, trat auf den gepflasterten Hof hinaus und über-
«Ich auch», stimmte Chung zu. «Ich trainiere ein bißchen zu Hause. querte Piccadilly. Dann führte sie ihn durch die Sackville Street und
Ich habe in der Garage einen Sandsack aufgehängt. Daran tobe ich blieb vor dem Mystery Book Shop stehen, der auch um diese späte
mich jeden Morgen richtig aus. In letzter Zeit stelle ich mir dabei Stunde noch voll von Kunden war. Ihm fiel auf, daß sie jetzt ver-
vor, es sei meine Schwiegermutter.» stohlen lächelte, und als sie endlich den Mund aufmachte, strahlte
ihr Gesicht das Gefühl ruhigen Triumphs aus.
Sie gingen den kleinen Hügel zur Jermyn Street hoch und bogen
dann in Richtung Regent Street und Piccadilly Circus nach Osten «Verbrechen sind häufig», sagte sie, «Logik ist selten.»
ein.
«Verraten Sie mir jetzt, was hier vor sich geht?» fragte er. «Oder soll
Gegenüber von Simpson' s blieb Jake vor einem roten Backsteinge- ich den Notarzt rufen?»
bäude stehen und wies mit einem Kopfnicken auf die dunkle Glas-
«Man sollte sich mehr mit der Logik als mit dem Verbrechen be-
tür.
schäftigen.» Sie zeigte nicht auf die Buchhandlung, die nach Chungs
«Da drin ist vor ein, zwei Monaten ein Mädchen ermordet worden», Eindruck besser zu ihrer kryptischen Bemerkung gepaßt hätte, son-
sagte sie. «Kaum zu glauben, nicht wahr?» Sie warf einen langen dern auf das Gyroslokal daneben. Hinter der Fensterscheibe war ein
Blick auf die Straße. «Es sieht alles so friedlich aus, so zivilisiert, Mann dabei, die Tagespreise mit etwas anzuschreiben, das wie ein
so...» Ihre Augen fielen auf die schwarze Wand der Kirche von St. Stück rote Kreide aussah. Der Name an der Tür war Parmenidis.
James.
«Macht es Ihnen viel aus, griechisch statt chinesisch zu essen.'
'
»
«Was ist los?» fragte Chung.
«Gar nichts, sofern Sie sich endlich entschließen, mir zu erzählen,
321 322
was hier verdammt noch mal vorgeht.» beweisen, aber ich bin überzeugt davon, daß sie auch ein Buch in
dem Laden gekauft hat. Und dort hat er sie gesehen. Ich möchte dar-
«Gerne. Aber wir sollten nicht hier stehenbleiben. Er braucht uns
auf wetten, daß all die anderen ermordeten Frauen irgendwann, be-
noch nicht zu sehen.» Sie zog ihn in den Eingang einer Maßschnei-
vor sie starben, diese Straße entlanggegangen sind.»
derei. «Der Mann hinter dem Restaurantfenster heißt Kyriakos Par-
menidis», sagte sie. «Aber das Lombrosoprogramm kennt ihn unter «Eine interessante Hypothese», stimmte Chung ihr zu. «Aber es
dem Decknamen William Shakespeare,» klingt arg nach Indizienbeweisen.»
«Ein VMK-Negativer?» «Wenn ich recht habe, kann es nicht so schwer sein, ihn dazu zu
bringen, daß er sich selbst entlarvt.»
Jake nickte. «Vor ein paar Tagen hat ihn Wittgenstein bis St. James
verfolgt. Er hatte vor, ihn zu erschießen. Aber Parmenidis hat ihn «An was denken Sie?»
verjagt, und auf der Flucht hat Wittgenstein einen Stadtplan von
«Tragen Sie eine Waffe?»
London verloren. Der enthielt die Adressen sämtlicher potentieller
Opfer in der Stadt. Parmenidis hat ihn in der Kirchenbank gefunden, «Klar. Schließlich bin ich Bulle.»
in der Wittgenstein gesessen hatte. Nach einiger Zeit wurde ihm
«Also gut, passen Sie auf. Gehen Sie da rein, und bestellen Sie etwas
klar, was das zu bedeuten hatte, und als guter Bürger hat er ihn bei
zu essen. Ich komme in ein paar Minuten nach. Aber tun Sie, als hät-
der Polizei abgeliefert.
ten Sie mich noch nie gesehen.»
Aber überlegen Sie jetzt einmal, Yat: Parmenidis arbeitet unmittel-
Chung ging über die Straße und betrat das Restaurant. Jake ging auf
bar neben der Buchhandlung, in der Mary Woolnoth eine Stunde be-
den Mystery Book Shop zu.
vor sie auf scheußliche Weise ermordet wurde, ein Taschenbuch ge-
kauft hat. Als Wittgenstein Parmenidis erschießen wollte, saß er in Ein Plakat im Fenster wies darauf hin, daß sich vier führende Krimi-
einer Kirche, die keine zwanzig Meter von dem Bürohaus entfernt nalromanautoren im Laden befanden und bereit waren, Autogramme
ist, in dem Marys nackte Leiche aufgefunden wurde. Der Mörder hat zu geben. Beim Betreten der Buchhandlung warf Jake einen raschen
die Leiche mit rotem Lippenstift beschmiert, und er war Linkshän- Blick auf die Namen und die dazu passenden Damen und Herren, die
der.» an einem langen Tisch hinter großen Stapeln ihrer neuesten Werke
saßen. Sie erkannte niemanden. Jeder einzelne Autor starrte Jake
Jake neigte sich vor und wies auf das Restaurantfenster.
hoffnungsvoll an, als sie an dem Tisch vorüberrauschte. Doch sie
«Da steht er, ist Linkshänder und schreibt das Tagesmenü mit etwas hatte nicht vor, ein Buch zu kaufen. Sie hatte nicht einmal vor, sich
an die Fensterscheibe, das aussieht wie ein roter Lippenstift.» auch nur ein Buch anzusehen.
Chung nickte. «Ich verstehe», sagte er. Jake lächelte bei der Vorstellung, daß die vier wichtigtuerischen
Krimiautoren wie Fernsehexperten in der Talkshow dasaßen und von
«Jessie Weston, das Mädchen, das er vor Mary Woolnoth umge-
den meisten Kunden der Buchhandlung ebenso ignoriert wurden wie
bracht hat, las auch begeistert Kriminalromane. Ich kann es nicht
von einer breiteren literarischen Öffentlichkeit, während sie vorhat-
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te, gleich nebenan einen echten Massenmörder dazu zu bringen, daß «Haben Sie einen roten Lippenstift dabei?»
er sich selbst verriet.
WPW Edwards nickte, kramte in ihrer Handtasche und übergab den
Was sie suchte, fand sie vor einem der wenigen Regale, in denen Lippenstift.
postmoderne Kriminalerzählungen ein vorläufiges Heim gefunden
«Frau Edwards und ich gehen jetzt nach nebenan», erklärte Jake ih-
hatten.
rem unsichtbaren Publikum. «Kriminalsekretär Chung ist schon drü-
Sie war eine große, kräftig wirkende Brünette und trug ein enganlie- ben. Ihr Einsatzbefehl: Seien Sie bereit, wenn er einen Fluchtversuch
gendes Drillichhemd und einen kurzen Rock. Jake konnte den An- macht.»
satz einer nackten Brust zwischen den Perlmutterknöpfen erspähen.
«Was haben Sie vor, gnädige Frau?»
Der leuchtendrote Lippenstift verlieh ihr ein billiges, ein wenig
schlüpfriges Aussehen. «Das werden Sie schon sehen.»
«Erkennen Sie mich?» fragte Jake mit gesenkter Stimme. Jake marschierte an dem Tisch mit den unsignierten Büchern und
ihren gekränkten Verfassern vorbei und verließ den Laden. Sie blieb
Die Beamtin blickte Jake unsicher an, warf einen Blick nach drau-
stehen, als sie den blauen Überwachungswagen sah, und wie auf ein
ßen und nickte dann.
Stichwort öffnete sich ein Fenster und gab den Blick auf Inspektor
«Ihr Name?» Crawshaws Gesicht frei. Er winkte ihr zu. Jake nickte zurück und
betrat gemeinsam mit der Wachtmeisterin das Lokal.
«WPW 548 Edwards», sagte die Frau.
Das erste, was ihr auffiel, war der Geruch von Olivenöl.
«Wo ist Ihre Observierungsgruppe?»
Dann sah sie Chung, der ruhig in einer Ecke saß und an einem wohl-
«Draußen, gnädige Frau, in einem blauen Lieferwagen.»
gefüllten Stück Pitta kaute.
«Tragen Sie ein Mikro?»
Parmenidis'einladendes Gesicht verzog sich ein wenig, als ihm
Sie nickte. klarwurde, daß eine der beiden Kundinnen vor der Edelstahltheke
Jake war. Auf dem Regal hinter ihm stand eine große Flasche Oli-
« Gut. Dann können mich jetzt alle hören. Hier spricht Chefinspek-
venöl Extra Vergine der Sacred Oil Company.
torin Jakowicz. Ich habe Grund zu der Annahme, daß der Mann, den
wir suchen, der Lippenstiftmörder, in dem griechischen Lokal ne- «Hallo, Frau Chefinspektor», sagte er nervös. «Was kann ich für Sie
benan arbeitet.» tun?» Er warf einen Blick auf Edwards, schluckte nervös und fragte:
«Haben Sie den Typ schon erwischt? Den, der hinter mir her war?»
Polizeiwachtmeisterin Edwards runzelte die Stirn. «Dachte ich mir,
gnädige Frau», sagte sie leise. «Ich hab mir da neulich einen Kaffee «Nein, noch nicht», sagte Jake. Sie neigte den Kopf in Richtung auf
geholt, und der Typ hinter der Theke hat mich so komisch ange- ihre Begleiterin. «Ich habe nur gerade drüben in der Buchhandlung
guckt.» eine alte Freundin getroffen, und wir wollten einen Kaffee trinken.»

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Parmenidis schien sich zu entspannen. Er deutete auf einen der Pla- Er stürzte vornüber aufs Pflaster und griff nach seinem blutenden
stiktische vor der Spiegelwand. «Bitte schön», sagte er. «Ich bringe Oberschenkel. Crawshaw ging schnell auf ihn zu, um mit dem Fuß
ihn gleich rüber. Cappuccino? Espresso?» das Messer fortzuschleudern. Aber darauf kam es nicht mehr an.
©=ZHLCappuccino, bitte», sagte Jake.
Noch bevor Jake Parmenidis erreichte, der blutend auf dem Pflaster
lag, noch bevor sie die Wunde sah, wußte sie, daß die Kugel die
Der Grieche verneigte sich leicht und fing an, die Maschine zu be- Oberschenkelarterie des Mannes durchschlagen hatte. Allein die
dienen. Blutmenge verriet ihr das.
Die beiden Frauen setzten sich an den Tisch. Jake schenkte Chung Unter den Bartstoppeln war das Gesicht des Griechen tödlich weiß.
keine Beachtung. Statt dessen hob sie ein Exemplar des (YHQLQJ Er sah nicht aus, als litte er Schmerzen, er wirkte eher betäubt. Seine
6WDQGDUG auf, das auf einem Stuhl lag, und legte es auf den Tisch. Augen richteten sich kurz auf Jake, zwinkerten, schlössen sich und
Sobald Parmenidis ihnen den Rücken zugewandt hatte, zog Jake den öffneten sich dann wieder. Einen Augenblick lang sah es aus, als
Lippenstift aus der Tasche und schrieb in großen roten Buchstaben lächle er ihr zu. Es war ein Lächeln, das sie schon einmal gesehen
den Namen «MARY» auf die cremefarbene Tischplatte. Dann ver- hatte, als ihr Vater an einem Gehirntumor starb. Ein Lächeln voll
deckte sie ihn mit der Zeitung. stummer Verachtung.
Nach ein paar Minuten kam der Grieche mit zwei Kaffeetassen an Crawshaw riß sich das Halstuch vom Körper, benützte seinen
den Tisch. Lächelnd beugte er sich vor, und im gleichen Augenblick Schlagstock als Winde und legte schnell eine Aderpresse um den
zog Jake die Zeitung weg und enthüllte Marys Namen. verwundeten Schenkel. Er versuchte, den Blutstrom aufzuhalten,
aber der Mann war zu schwer verletzt und starb, noch bevor WPW
Belsazer hätte kein erschreckteres Gesicht machen können. Aus
Edwards einen Krankenwagen gerufen hatte.
Parmenidis'Gesicht wich jegliche Farbe. Erst fiel sein Unterkiefer
herab, dann die beiden Tassen Kaffee. Er wandte sich um, rannte zur Jake ging zu dem getarnten Polizeiwagen und überreichte vor-
Tür und riß im Laufen ein langes Messer von der Theke. Jake, WPW schriftsmäßig Chung ihre Pistole. «Für die Untersuchung», sagte sie.
Edwards und Chung blieben ihm dicht auf den Fersen.
Chung nickte und steckte die Waffe ein.
Draußen auf der Straße zog Jake ihre Waffe und rief ihm zu, er solle
«Ich wollte ihn nur verwunden», hörte sie sich selbst sagen. «Er hat-
sich ergeben. Er rannte weiter, und als er den Weg von zwei weite-
te ein Messer. Als er die beiden anderen Beamten sah, dachte ich, er
ren Männern versperrt sah, die Pistolen und Dienstausweise zückten,
werde es benutzen.»
hob er das Messer.
«Sie haben sich korrekt verhalten», sagte Chung. «Sie haben ihn
Jake blieb stehen, hielt den Arm ruhig und zielte tief. Sie sah, wie
gewarnt und dann tief gezielt. So soll man es machen. Es war ein-
sich Crawshaw und der zweite Beamte rasch aus der Schußlinie zu-
fach Pech, daß Sie ihn da getroffen haben. Einen Zentimeter höher
rückzogen. Sie fühlte den kalten Druck des Abzugs unter ihrem Fin-
oder tiefer, und er würde hier auf dem Pflaster sitzen und Sie be-
ger, hielt eine tausendstel Sekunde den Atem an und drückte dann
schimpfen.»
ab.
327 328
Jake lehnte sich an das Auto und versuchte, ihre Reaktionen darauf deutete, daß das Spätprogramm im wesentlichen aus Pornofilmen
zu beobachten, daß sie einen Menschen getötet hatte. Sie hatte das bestand. Jake hatte nicht gewußt, daß die gleiche Freiheit für Nach-
Gefühl, sie solle sich eigentlich schlechter fühlen, als sie es tat, auch richtensendungen galt.
wenn Parmenidis sechs Frauen ermordet hatte. Außerdem war es
Das Fernsehteam war weniger als eine Viertelstunde nachdem Jake
ungünstig, daß er tot war. Ein Geständnis hätte alles einfacher ge-
den Tatort verlassen hatte, in der Sackville Street angekommen. Sie
macht. Wie die Dinge standen, mußte sie darauf hoffen, die Spuren-
gingen chronologisch vor und zeigten erst das Gyroslokal und dann
sicherung werde genug Beweisstücke finden, um einen Untersu-
den Bürgersteig, den Parmenidis entlanggelaufen war. Dann filmten
chungsausschuß davon zu überzeugen, daß sie sich vorschriftsmäßig
sie sein Messer und darauf eine Pistole, nicht Jakes automatische
verhalten hatte.
Beretta, die im Revier an der Vine Street lag, sondern ein anderes
Inzwischen war die mittlerweile auf beiden Seiten abgesperrte Stra- Exemplar der gleichen Waffe, die einer der vielen anwesenden Poli-
ße voll von Polizisten, die damit beschäftigt waren, die Stalltür zu zisten vorführte. Zum Schluß machte die Handkamera einen
verriegeln, nachdem das Pferd gestohlen war. Jake fragte sich, wie Schwenk auf die Straße, wo der Grieche tot in einer nierenförmigen
sie es geschafft hatten, so schnell dazusein. Dann erinnerte sie sich, Blutpfütze lag. In Nahaufnahme erschienen sein nackter Oberschen-
daß das Revier in der Vine Street direkt um die Ecke lag. Dahin kel, die blutige Aderpresse, die Crawshaw angelegt hatte, und das
mußte sie jetzt gehen, um ihre Aussage zu machen. Loch, so groß wie eine Münze, das die Kugel vom Kaliber .45 hin-
terlassen hatte. Zuletzt, und das war für Jake das eigentlich schockie-
«Geht es Ihnen gut?» fragte Chung besorgt. Jake blickte ihn an und
rende Erlebnis, zog der Reporter den Kopf des Toten an den Haaren
runzelte verwirrt die Stirn.
hoch, um seine leblosen Züge besser ins Bild zu bekommen.
«Mir? Mir geht es gut.»
Der Kommentar war genauso sensationslüstern wie die Aufnahmen.
Bis sie aus der Vine Street wieder nach Hause kam, war es kurz vor
«Dieser widerliche Kriminelle», stieß der Reporter zähnefletschend
Mitternacht. Die Wohnung kam ihr kalt und einsam vor, aber bald
hervor und schüttelte Parmenidis'Kopf an den Haaren, «war mit an
funktionierte die Zentralheizung, und sie war froh, daß sie nieman-
Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit für den brutalen Mord an
dem zu erklären brauchte, was sie getan hatte. Das Pictofon klingelte
sechs jungen Frauen verantwortlich.» Er beugte sich vornüber und
ein paarmal, aber sie hob nicht ab.
brüllte dem Toten in das blutige Ohr.
Statt dessen schaltete sie das Fernsehen ein, schenkte sich ein großes
«Du warst der letzte Abschaum», schrie er, «ein dreckiges Tier. Daß
Glas Whisky ein und versuchte, auf andere Gedanken zu kommen.
man dich so erschossen hat, war viel zuwenig, du Scheißkerl. Du
Sie hätte wissen können, daß sich die Mitternachtsnachrichten des hättest leiden sollen wie die Frauen, die du umgebracht hast, du
Falls annehmen würden. Aber sie hatte nicht geahnt, daß die Ge- Arschloch. Ich hoffe, die Polizistin, die dich umgelegt hat, kriegt ei-
schichte dermaßen brutal und voyeuristisch behandelt werden wür- nen Orden dafür. Falls deine fetttriefende schmutzige Seele mich hö-
de. Sie wußte, daß Programme, die nach Mitternacht ausgestrahlt ren kann, du Schwein: Wir alle hoffen, daß du in der Hölle brätst.
wurden, sich nicht an irgendwelche Regeln halten mußten. Das be- Für das, was du getan hast, sollte man...»

329 330
Jake griff nach der Fernbedienung und schaltete den Apparat ab. 'LH DOWPRGLVFKH PDU[LVWLVFKH 9HUVLRQ LQWHUSUHWLHUW GDV 9HUKDOWHQ
Dann trank sie ihr Glas auf einen Zug leer. Sie ekelte sich vor dem, GHV 0DVVHQP|UGHUV XQWHU GHP $VSHNW GHV KLVWRULVFKHQ 0DWHULDOLV
was sie gesehen hatte. Offenbar hatte sie das Ganze erst im Fernse- PXV'DV2SIHUGHU*HVHOOVFKDIWYHUZDQGHOWVLFKLQGHQ8QWHUGUN
hen sehen müssen, um sich darüber klarzuwerden, daß sie einen NHUGHU*HVHOOVFKDIW'HPJHJHQEHUOlXIWGLHPRGHUQHLP.HUQDO
Menschen getötet hatte. OHUGLQJV DXI 1LHW]VFKH ]XUFNJHKHQGH $QVLFKW GDUDXI KLQDXV GD‰
GHU0DVVHQP|UGHUHLQHQRUPHV%HGUIQLVKDWGLH*HVHOOVFKDIWQLFKW
DE]XOHKQHQVRQGHUQLKUDQ]XJHK|UHQHLQHU*HVHOOVFKDIWLQGHUGHU
Nach ein, zwei Minuten empfand sie ein leeres Gefühl in der Ma-
5XKP GDV .ULWHULXP GHV (UIROJV LVW XQG 0RUG QXU HLQH $ENU]XQJ
gengrube, und ihre Hände fingen an zu zittern. Dann wurde ihre
DXIGHP:HJ]XP5XKPGDUVWHOOW
Haut abwechselnd heiß und kalt. Unvermutet erinnerte sie sich an
das, was sie im Psychologiestudium gelernt hatte. Jetzt versuchte ihr
Hypothalamus wie ein kleiner Thermostat die autonomen Reflexe .HLQH GLHVHU EHLGHQ 9XOJlULQWHUSUHWDWLRQHQ GHV *HZDOWYHUEUHFKHQV
ihres Körpers auf das, was geschehen war, unter Kontrolle zu brin- LVWEHVRQGHUVEHU]HXJHQG9LHOOHLFKWNDQQLFKHVEHVVHUHUNOlUHQ
,Q Die Blutbuchen HUNOlUW 6KHUORFN +ROPHV VHLQH GHWHNWLYLVFKH
gen. Sie dachte an Rene Descartes'Bild vom Menschen als einer
.XQVW ]X HLQHP ©XQSHUV|QOLFKHQ 'LQJ HWZDV GDV MHQVHLWV PHLQHU
Maschine, die auf äußere Reize reagiert. Es war seltsam, wie eines
VHOEVWOLHJWª
sie ans andere erinnern konnte. Das Lächeln auf Parmenidis'Ge-
sicht. Das sardonische Lächeln ihres Vaters. Die Erinnerung war er-
schütternd. 'DVJOHLFKHJLOWIUGLH.XQVWGHV0RUGHV
Tränen stiegen ihr in die Augen, und als sie ins Badezimmer ging, ©9HUEUHFKHQVLQGKlXILJ/RJLNLVWVHOWHQªWHLOWHU'U:DWVRQPLW
schlotterten ihr die Knie. Sie mußte sich übergeben, noch bevor sie ©'HVKDOE VROOWH PDQ VLFK PHKU PLW GHU /RJLN DOV PLW GHP 9HUEUH
nur halbwegs durch die Tür war. FKHQEHVFKlIWLJHQª
1LHPDQGYHUVWHKWPLFK ,QGHU7DWPHLQH'DPHQXQG+HUUHQHVJHKWXP/RJLN8P/RJLN
LQGHUQLFKWV]XIlOOLJLVW8P/RJLNGLHDOOH0|JOLFKNHLWHQPLWHLQ
1DWUOLFK JODXEHQ YLHOH /HXWH GD‰ VLH PLFK YHUVWHKHQ1HXOLFK ELQ
EH]LHKWXQGGHUHQ7DWVDFKHQDOOH0|JOLFKNHLWHQVLQG
LFKLP0\VWHU\%RRN6KRSYRUHLQHP5HJDOVWHKHQJHEOLHEHQXQGHV
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HUKHEWGLH6HHOH1lKHUPHLQ*RWW]XGLU
ODVVHQVLFKDXIHLQHYRQ]ZHL7KHRULHQ]XUFNIKUHQ

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 hen.»
VERMUTLICH LAG ES JA AN dem Scotch. Jedenfalls wachte Ja- Crawshaw nickte verständnisvoll. «Ich habe mich heute nacht in der
ke spät auf und stellte fest, daß sie seit Jahren nicht mehr so gut ge- Wohnung des Griechen in Balham umgesehen», erklärte er. «Viel-
schlafen hatte. Sie fühlte sich wohl, wohler, als sie je gedacht hätte, leicht würden Sie sich ja wohler fühlen, wenn Sie gesehen hätten,
vielleicht wohler, als es ihr zustand. Als sei sie gereinigt und gene- was wir da gefunden haben.» «Was haben Sie gefunden?» fragte sie
sen. Ja, sie hatte sich übergeben, aber jetzt hatte sie einen Bärenhun- ruhig. Er hielt einen Moment inne und holte tief Luft. «Die Hölle»,
ger, einen Hunger, der nicht von der Stimme eines strengen Gewis- sagte er schließlich. Dann schüttelte er den Kopf: «Ich kann es nicht
sens sprach. Es ging nicht: allein darum, daß sie keinerlei Schuldge- beschreiben.»
fühl empfand. Schließlich hatte sie Parmenidis ja nur verwunden und
«Dann sagen Sie mir bloß, daß ich den richtigen Mann erschossen
an der Flucht hindern wollen. Es ging um etwas anderes, um das Ge-
habe, Ed.»
fühl, als sei ein schweres Gewicht von ihr genommen, als sei es jetzt
Zeit, gewisse Dinge endgültig hinter sich zu lassen und neu anzu- «Zweifellos. Parmemdis war der Lippenstiftmörder. Wir haben ein
fangen. paar Bandaufnahmen gefunden, eine Art von Tagebuch. Ganz schön
krankhaftes Zeug, jedenfalls der größte Teil. Anscheinend war er bei
Ausnahmsweise war etwas im Kühlschrank. Sie machte sich ein üp-
Ihnen? Und er war VMK-negativ?» Jake nickte.
piges Frühstück mit frischem Orangensaft, griechischem Joghurt,
Bananen, Erdbeeren, kernlosen Weintrauben, Toast, Honig und star- «Und der Lombrosomörder war auch hinter ihm her?» «Richtig.»
kem Kaffee und schlang alles heißhungrig in sich hinein.
«Ja, also Parmemdis muß gedacht haben, die Tatsache, daß er selbst
Sie wußte, daß die Annahme falsch war, irgend so etwas wie eine beinahe zum Opfer eines Massenmörders geworden war, verleihe
Rechnung sei nun bezahlt, aber so kam es ihr vor. Und sosehr sie ihm so etwas wie Immunität. Er kam zu dem Entschluß, wenn er
sich dagegen sträubte, Jake mußte sich selbst gestehen, daß Frau Dr. sich benähme, wie dies ein normaler Bürger unter den obwaltenden
Blackwell recht gehabt hatte, daß das Entsetzen darüber, daß sie ei- Umständen getan hätte, und uns den Stadtplan des Lombrosomör-
nen Mann erschossen hatte, etwas wie eine Fischgräte in ihrem Hals ders bringe, könne er damit beweisen, daß er genau das war: ein
freigesetzt hatte. Es gab keine einfache Erklärung für das, was ge- normaler Bürger. Nur so auf alle Fälle, falls jemand anderer Mei-
schehen war, aber zum erstenmal in ihrem erwachsenen Leben fühlte nung sein sollte. So sah es jedenfalls in seinem Tagebuch aus.»
Jake sich eins mit sich selbst.
«Ich habe geahnt, daß es so etwas sein könnte», sagte Jake. Craws-
Als sie im Yard ankam, war ihr erster Besucher Ed Crawshaw, und haw zuckte die Achseln. «Wer weiß? Vielleicht hat er sich ja auch
es gelang ihm, Jakes Selbstvertrauen weiter zu festigen. überlegt, daß sein Bekenntnis im Rahmen der Lombrosoermittlun-
gen, VMK-negativ zu sein, wenn sein psychischer Zustand im Rah-
«Ich habe letzte Nacht bei Ihnen angerufen», sagte er. «Wo waren
men der Ermittlungen über den Lippenstiftmörder bekannt geworden
Sie?»
wäre, die Wirkung dieser Erkenntnis wiederaufgehoben hätte.»
Sie zuckte die Achseln. «Ich hatte keine Lust, ans Telefon zu ge-
Jake hob die Brauen. «Ich habe ihn kennengelernt, und ich glaube
333 334
nicht, daß er zu so komplizierten Gedankengängen fähig gewesen Jake bestätigte, so sei es.
wäre, Ed. Ich glaube, ich ziehe die erste Version vor.»
«Sind Sie sicher, daß Sie keine genaueren Angaben machen können,
Crawshaw nickte. «Ja, ja. Sie werden wohl recht haben.» Er lächelte Frau Chefinspektor?»
und ging zur Tür. «Übrigens», sagte er, «er hat sie in der Buchhand-
Jake wandte ein, wenn sie über genauere Angaben verfügte, stünde
lung ausgesucht. Wir haben in seiner Wohnung Hunderte von Kri-
sie vermutlich kurz vor einer Verhaftung. «Alles, was ich habe, ist
minalromanen gefunden. Komischerweise hat er sie anscheinend nie
der rassische Genotyp eines Verdächtigen und die Wahrscheinlich-
gelesen. Die meisten Bücher steckten noch in ihren Papiertüten.»
keit, daß er irgendwo in der Krankenpflege tätig ist.»
Er nickte müde und zufrieden.
«Ich will keine Schwierigkeiten machen», sagte Mrs. Porter, «aber
«Ich glaube, Sie sollten jetzt endlich mal nach Hause gehen und sich seit wir in der Europäischen Föderation sind, arbeiten eine ganze
ausschlafen», sagte Jake. Menge Deutsche in britischen Krankenhäusern. Es wäre hilfreich,
wenn wir die Auswahl einschränken könnten, wenn Sie mir bei-
Crawshaw gähnte. «Ich glaube, Sie haben recht.»
spielsweise die Namen von ein paar örtlichen Gesundheitsbehörden
«Noch etwas, Ed.» geben könnten.»
«Ja?» «Tut mir leid, aber das kann ich nicht. Könnten Sie die Überprüfung
nicht am Computer vornehmen?»
«Danke.»
Mrs. Porters Stimme klang ein wenig ermüdet. «Ja nun, ich hatte
Später am Tage, nach einem Glückwunschanruf von Gilmour, ver-
nicht vor, es von Hand zu versuchen», sagte sie. «Also passen Sie
suchte es Jake wieder im Gesundheitsministerium.
auf, ich werde sehen, was ich für Sie tun kann. O.K.?»
Mehrere Minuten lang wurde sie wie eine Lieferung Pferdemist von
«Danke. Ich weiß Ihre Hilfe zu schätzen.»
einem Bürokraten zum anderen weitergereicht. Schließlich durfte sie
ihr Anliegen einer Beamtin namens Porter vortragen. Mrs. Porters «Aber es dauert ein bißchen, bis man so etwas in die Wege geleitet
Doppelkinn und ihr Raucherhusten kamen Jake nicht gerade wie ei- hat. Viel länger, als man nachher braucht, um es durchzuführen.»
ne gute Reklame vor, wo es um Fragen der Volksgesundheit ging.
War das nicht immer so? überlegte Jake. Zweifellos hatte die männ-
Mrs. Porter war nicht begeistert von Jakes Bitte.
liche Begeisterung für Mathematik dazu beigetragen, die Welt zu ei-
«Also noch einmal», keuchte sie. «Sie wollen, daß jemand in unserer nem gefährlichen Ort zu machen. Aber hatte die Technologie, die ihr
Abteilung die Personalakten aller männlichen Krankenpfleger und entsprang, das Leben eigentlich einfacher gemacht? Daran zweifelte
des sonstigen männlichen Hilfspersonals im medizinischen Dienst in Jake.
London und im Südosten durchgeht, um zu sehen, ob sich männliche
«Wie lange?»
Deutsche oder Männer deutscher Abstammung darunter befinden.
Stimmt das?» «Ein paar Tage.»

335 336
Deprimierend, dachte Jake. Aber sie schaffte es, ein Lächeln aufzu- SKDUPD]HXWLVFKWHFKQLVFKHU$VVLVWHQWLP/DERU9LHOOHLFKWZHUGHLFK
setzen. HLQHV 7DJHV HLQIDFK EHU GLH %UFNH VSD]LHUHQ XQG GHQ 7RZHU EH
VLFKWLJHQDEHUELVKHUKDWWHLFKLPPHU:LFKWLJHUHV]XWXQ
«Je früher es geht, desto besser», sagte sie. «Aber ein paar Tage sind
in Ordnung.» Es hatte keinen Sinn, die Frau zu hetzen. Keinerlei 1LFKW GD‰ KHXW]XWDJH YLHOH /HXWH /XVW KDEHQ VLFK OlQJHUH =HLW LQ
Sinn. Es sei denn, sie wollte überhaupt kein Resultat. 8IHUQlKHDXI]XKDOWHQ:HJHQGHUYLHOHQLOOHJDOHQ(LQZDQGHUHUGLH
LQ%RRWHQDXIGHP)OX‰OHEHQLVWGLH*HJHQGUXQGXPGDV.UDQNHQ
KDXV HEHQVR JHIlKUOLFK ZLH XQK\JLHQLVFK JHZRUGHQ ,P +RFKVRP
Sie begann darüber nachzudenken, inwieweit ihre Abhängigkeit von
PHU LVW GHU *HVWDQN GHU XQJHNOlUWHQ $EZlVVHU GLH GLUHNW LQ GLH
männlicher Technologie ihre Fähigkeit beeinträchtigte, wie eine
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Frau zu denken. Jake hatte viel mehr für die Vorstellung von weibli-
FNHQV VLH KlWWH EHVFKUHLEHQ N|QQHQ HLQH :HOW YROO YRQ 5lXEHUQ
cher Intuition übrig als für den Ausdruck selbst mit seinem herablas-
3URVWLWXLHUWHQ 'URJHQKlQGOHUQ *DXQHUQ /HLFKHQIOHGGHUHUQ %HWW
send patriarchalischen Klang. Sie zog eine wissenschaftlichere Er-
OHUQ 7DVFKHQGLHEHQ XQG =XKlOWHUQ 9RQ GHU 3ROL]HL LVW DX‰HU LP
klärung sexuell bedingter Unterschiede kognitiver Fähigkeiten vor.
.UDQNHQKDXV ZHQLJ ]X VHKHQ +LHU LVW ]XP 6FKXW] GHU .UDQNHQ
Aber sie zweifelte nicht daran, daß dieser besondere Fall bei seiner
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Lösung so etwas wie weibliche Intuition erforderlich machte; eben
6FKXW]WUXSSHYRQQ|WHQ
die Art veränderten Zugangs und veränderter Einstellung, über die
sie in Frankfurt gesprochen hatte.
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Männer neigten dazu, die Dinge komplizierter zu gestalten als nötig,
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nach Problemen zu suchen, bevor sie sich auf die Suche nach Lö-
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sungen machten. Sie waren von ihrer eigenen Bedeutung besessen,
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und soweit Jake das beurteilen konnte, versuchten sie diese Bedeu-
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tung durch überflüssige Unklarheiten zu bewahren.
Frauen dachten geradliniger, weniger romantisch. Was jetzt ge- KDXVGLH'URJHQDQGDV*HIlQJQLV:DSSLQJ HKHPDOVGDV9HUODJV
braucht wurde, war ein einfacherer Gedankengang, als ihn alle EUR GHU Times,) JHOLHIHUW PLW GHQHQ GDV 8UWHLO YROOVWUHFNW ZXUGH
Computer und jegliche lasergesteuerte Technologie vorsahen. ,FK VHOEVW KDEH GDPDOV GLH EHLGHQ ,QVXOLQVSULW]HQ DXIJH]RJHQ PLW
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Anscheinend konnte man das Loch nicht tiefer graben, aber viel-
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leicht konnte sie das gleiche Loch an einem anderen Ort graben.
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337 338
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339 340
GHQ'DUDQNDQQPDQHUNHQQHQGD‰GLH=HLWZHQLJPHKULVWDOVHLQ dentlichen Gerichtsverfahren? Was ist mit dem Leben dieses Man-
$VSHNWGHVPHQVFKOLFKHQ:LOOHQV nes? Denken Sie vielleicht einmal einen Moment darüber nach! Sie
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sprechen davon, daß Sie einen Mitmenschen überreden wollen, sich
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selbst das Leben zu nehmen. Wie paßt das in Ihre Moralphilosophie,
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Herr Professor?»
QHVHLJHQHQ/HEHQV*HZL‰GHU6HOEVWPRUGLVWHLQHVHKUDOWH/|VXQJ «Sie haben recht, wenn Sie die Frage so formulieren», sagte er. «Es
IUHLQVHKUDOWHV3UREOHPDEHUYLHOOHLFKWLVWHUOHW]WOLFKGLHHLQ]LJH handelt sich so gut wie sicher um eine Situation, in der die Moral-
/|VXQJ$XIDOOH)lOOHLVWHUGLHHQGJOWLJH/|VXQJ philosophie ihren Beitrag zur Lösung eines praktischen Dilemmas

leisten kann. Ich habe sorgfältig nachgedacht und bin zu dem Schluß
gekommen, daß ich der Gesellschaft einen Dienst erweise, wenn ich
AM NÄCHSTEN MORGEN RIEF JAKE Sir Jameson Lang an, um diesen Wahnsinnigen überrede, nicht andere Menschen, sondern sich
herauszufinden, ob er vorhatte, an Professor Warings Plan mitzuar- selbst zu töten.»
beiten.
«Das klingt, als wollten Sie sich lieber auf Nützlichkeitserwägungen
«Ich habe Ihren Anruf erwartet», sagte er. «Waring sagt, Sie seien verlassen als auf Ihre Intuition, auf Ihr Gefühl.»
gegen seinen Vorschlag. Aber mir bleibt keine Wahl. Ich muß tun,
«Es bringt nichts, wenn man ethische Überzeugungen auf Intuition
was sie verlangen. Trinity College ist nicht mehr so reich, wie es
aufbaut, überhaupt nichts. Die Intuition sagt nicht allen Menschen
einmal war. Genauer gesagt: Die Finanzlage der Universität ist aus-
das gleiche.»
gesprochen angespannt. Die Universität versucht seit längerem, bei
der Regierung eine größere Summe lockerzumachen. Ich glaube, «Sie wollen doch wohl die Idee intuitiver Erkenntnis nicht in Bausch
man wäre nicht gerade begeistert, wenn ich ausgerechnet jetzt darauf und Bogen ablehnen?»
bestände, die Regierung vor den Kopf zu stoßen. Eigentlich weiß ich
«Selbstverständlich nicht. Ich bin für intuitives Vorgehen. Aber wel-
nicht einmal genau, ob ich mit Ihnen sprechen sollte, Frau Chefin-
chen Intuitionen soll man folgen? Wir müssen unsere Intuitionen
spektor. Man hat mir gesagt, Sie würden versuchen, mich davon ab-
kritisch beurteilen, um herauszufinden, welches die sinnvollen sind.
zubringen.» Das Gesicht auf Jakes Pictofonschirm wirkte unbehol-
Und das kann man am besten von einer höheren Ebene des moralkri-
fen.
tischen Denkens aus.»
«Heißt das, man hat damit gedroht, die Mittel zu stornieren?»
«Und wie erreicht man die?»
«Darauf kommt es hinaus. Und lassen Sie mich eines sagen: Ich wä-
«Unser moralisches Denken muß in der Welt, wie sie ist, stattfin-
re froh, wenn ich nie einen von euch getroffen hätte. Die ganze Ge-
den», sagte er. «Zugleich aber setzt die Logik der Begriffe unserem
schichte macht mich verrückt. Wenn das jemals herauskommt, ist
Denken Grenzen. Wir beobachten Tatsachen. Wir wählen Werte.
mein wissenschaftlicher Ruf keinen Pfifferling mehr wert.»
Die Intuitionen, die wir pflegen sollten, sind diejenigen, die den
«Und das ist alles, worüber Sie sich aufregen? Was ist mit einem or- höchsten Akzeptanzwert besitzen. Nun kann ich mir außer Ihnen,
341 342
Frau Chefinspektor, wenige Menschen vorstellen, die Einwände da- ihr Büro zu bringen.
gegen hätten, um eines höheren Gutes willen einen Mann, der bereits
Es war ein einfaches, ein wenig kindisches Spiel, mit dem man eine
ein Dutzend unschuldige Menschen getötet hat, dazu zu überreden,
Freundin in Verlegenheit bringen konnte. Man mußte ihr nur einen
sich selbst auszuschalten. Mir scheint, Sie argumentieren von einer
Roman von D. H. Lawrence oder sonst einem moralisch gewagten
rigide legalistischen Position aus und weigern sich, den Tatsachen
Autor aus der Schultasche ziehen und versuchen festzustellen, ob
ins Gesicht zu sehen. Betrachten Sie erst die Tatsachen, und ent-
das Buch als Folge häufigen Nachschlagens dazu neigte, sich von
scheiden Sie dann, an welche Prinzipien Sie sich halten wollen.»
selbst an einer der gewagteren Stellen zu öffnen. Wie um ihre Theo-
«Und warum sagt mir meine Intuition, daß Ihnen nicht wohl ist bei rie zu bestätigen, öffnete
dem, was Sie vorhaben? Oder ziehen Sie es vor, moralische Dilem-
Jake jetzt die Schreibtischschublade und zog ihren eigenen Stadtplan
mata von der sicheren Warte Ihrer Wohnung im Trinity College aus
von London heraus. Sie ließ den perfekt gebundenen Buchrücken
zu entscheiden? Utilitarismus ist ein zu scharfes Schwert, als daß der
auf der Handfläche balancieren und ließ das Buch dann in zwei Teile
Philosoph gezwungen sein sollte, es zu führen.»
auseinanderfallen. Der Band öffnete sich auf den Seiten, die den
«Ich bin nicht zimperlich», erklärte Lang, «aber ich bezweifle, daß Londoner Südwesten rund um New Scotland Yard darstellten.
eine philosophische Diskussion genügt, um der Aufgabe gerecht zu
Stanley trug den Stadtplan in einer Plastiktüte für Beweismaterial,
werden. Ich war dafür, einen Polizeipsychologen auf den Kerl anzu-
als sei es ein Goldfisch, den er gerade auf dem Jahrmarkt gewonnen
setzen, aber Waring ist anderer Meinung. Er glaubt, Wittgenstein
hatte.
werde lieber mit mir sprechen, der Gedanke, mit einem Cambridge-
Professor die Klingen zu kreuzen, werde ihm schmeicheln. Waring Jake warf ihr eigenes Exemplar beiseite und riß Stanley die Tüte aus
sagt, es gehe ohnehin um Philosophie.» der ausgestreckten Hand. Der Unterkiefer fiel ihm fast auf die Brust,
als sie den Verschluß aufriß.
Und damit hatte er recht, dachte Jake.
«Die Idee ist so einfach, daß ich nicht kapiere, wieso ich nicht früher
Der Bildschirm des Pictofons wurde dunkel, und sie trommelte wü-
darauf gekommen bin», sagte Jake und ergriff den Stadtplan.
tend mit den Fäusten auf die Schreibtischplatte. Sie hatte das Gefühl,
Warings Plan könne funktionieren, und wenn ihr nicht bald etwas «Was machen Sie da?» zischte Stanley verstört. «Das ist Beweisma-
einfiel, würde Wittgenstein ihren Händen entgleiten. Vielleicht auch terial. Das dürfen Sie nicht anfassen. Da sind Fingerabdrücke drauf.
seinen eigenen. Sie werden sie verderben.»
Später am Tag stand Jake immer noch das Bild all der Dinge vor «Ruhe», sagte Jake und wiederholte ihr einfaches Manöver. Das
Augen, die ihren Händen entglitten. Irgend etwas erinnerte sie an Buch öffnete sich langsam und blieb dann offen auf ihrer Handflä-
den Stadtplan, den Wittgenstein verloren hatte. Zugleich fiel ihr ein che liegen wie ein erschöpfter Vogel.
«Genau wie /DG\&KDWWHUOH\V/LHEKDEHUªsagte sie. «Es öffnet sich
Spiel aus Ihrer Schulzeit wieder ein.
Sie rief Inspektor Stanley an und forderte ihn auf, den Stadtplan in da, wo es am häufigsten gelesen worden ist.»

343 344
Sie studierte die zwei Seiten mit all den Straßen, U-Bahn-Stationen, ihrem Beruf natürlich wirkte. «Ein Mr. Hesse und ein Mr. Deussen,
Parkgeländen, Schnellstraßen, Feuerwachen und Krankenhäusern so aber das sind beides Chirurgen. Und dann gibt es noch einen Mr.
aufmerksam, als lese sie im Buch des Lebens. Esterhazy in der Krankenhausapotheke.»
«Seite achtundsiebzig/neunundsiebzig», murmelte sie, «von Water- «Der klingt interessant», sagte Jake. «Können Sie mir alles schicken,
loo östlich bis Rotherhithe, Tower Bridge bis Peckham Road. Mal was Sie über ihn haben?»
sehen. Es gibt ein, zwei, drei, vier Krankenhäuser in dem Bereich.
«Also eigentlich müßte ich das von der Leitung genehmigen las-
Und eins davon ist Guy's.»
sen...»
Stanley rückte seinen Hemdkragen zurecht. «Tut mir leid, aber ich
«Mrs. Porter», sagte Jake. «Ich kann Ihnen nicht viel verraten, aber
verstehe nicht ganz...» sagte er.
es geht um Menschenleben.»
«Nein?» sagte Jake, die nach dem Pictofon griff und Mrs.
«Dann kann ich mich wohl nicht weigern», sagte Mrs. Porter. «Es ist
Porters Nummer im Gesundheitsministerium wählte. «Guy' s ist das nicht viel, aber was wir in den Akten haben, kann ich Ihnen schik-
Krankenhaus, in dem der richtige Wittgenstein während des Kriegs ken.»
gearbeitet hat. In der Krankenhausapotheke.»
«Haben Sie eine Handschriftprobe?»
«Das ist aber eine knappe Chance.»
«Ja, aber eine sehr kurze.»
«Haben Sie eine bessere zu bieten?»
«Dann schicken Sie mir die bitte auch, und ein Foto, falls Sie eins
Stanley schüttelte den Kopf. haben. Vielen Dank. Mrs. Porter, Sie haben mir sehr geholfen.»
Als Jake Mrs. Porter erreicht hatte, bat sie sie, nach einem Deut- Jake gab Mrs. Porter ihre Datenübermittlungsnummer und sah dann
schen oder einem Mann deutscher Abstammung zu suchen, der in zu, wie die Informationen sich auf dem Bildschirm sammelten.
Guy's arbeitete.
«O. K.», sagte sie zu Stanley, «machen wir ein MAP.» Jake schob
«Mein Gott, jetzt haben Sie das Feld aber eingeengt», sagte Mrs. die Daten aus dem Gesundheitsministerium auf die eine Seite des
Porter. « Also dann. Kein Problem. Geben Sie mir ein paar Minuten Monitors und rief auf der anderen ein Ermittlungsmenü auf. Unter
Zeit.» Sie wandte sich von der Kamera des Pictofons ab und widme- den zwanzig in Frage kommenden Dateien wählte sie eine mit dem
te sich ihrem Computer. Titel «Datenbank Verbrecherinformationen» aus. Der Computer gab
ein paar Sekunden lang gurgelnde Geräusche von sich und lieferte
Jake wartete in gespannter Hoffnung, als lege ihr Madame Sosostris,
dann eine weitere Liste. Sie fand die Datei «Mehrfacher Mord» un-
die berühmte Hellseherin, die Karten. Stanley sah mit mildem Wi-
ter der Ablagenummer 15, gab die Nummer ein und wartete. Das
derwillen zu. Schließlich blickte Mrs. Porter wieder in die Kamera.
System war hoffnungslos veraltet und hatte eine Reaktionsge-
«In Guy's Krankenhaus arbeiten drei männliche Personen des von schwindigkeit, die auch den Geduldigsten zur Weißglut treiben
Ihnen benannten Rassetyps», sagte sie in der sentenziösen Art, die in konnte. Manchmal mußte Jake ganze dreißig Sekunden warten, bis
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der Computer eine bestimmte Datei gefunden hatte. Noch einmal net.
gurgelte der Apparat, und wieder erschien eine Auswahl an Mög-
«Was in Teufels Namen ist ein Manichäer?» knurrte Stanley. «Ma-
lichkeiten vor ihren Augen. Schließlich gelang es Jake, das Mehr-
nichäer? Eigentlich gar keine richtige Religion», erklärte Jake. «Eher
fachanalyseprogramm (MAP) aufzurufen.
ein Standpunkt, der davon ausgeht, daß Satan ebenso ewig ist wie
Das MAP-Programm, das im Europäischen Kriminalamt entwickelt Gott. =ZHLSeiten der gleichen Münze, sozusagen. Der heilige Augu-
worden war, stellte die neueste Version eines Expertenberatungssy- stinus war eine Zeitlang Manichäer, bis er es sich anders überlegte.
stem dar, um Persönlichkeitseinschätzungen denkbarer Serienmörder Später wurde der Manichäismus als Häresie verdammt.»
zu erstellen. Aus einer internationalen Datenbank von mehr als 5000
Sie warf einen Blick auf die besonderen Kennzeichen Esterhazys.
Massenmördern, die im Lauf von fünfzehn Jahren zusammengestellt
«Großartig», murmelte sie. «Der Typ hat drei Tätowierungen.»
worden war, faßte MAP bis zu 300 gemeinsame Merkmale bekann-
ter Mehrfachtäter zusammen. Das Europäische Kriminalamt ging davon aus, daß Tätowierungen
eines der häufigsten gemeinsamen körperlichen Merkmale von Seri-
Die Kriminalistin fütterte den Computer mit Informationen über ei-
enmördern waren. Die Untersuchung der lebenden oder toten Körper
nen Verdächtigen. Dann bewertete MAP jede Information, die mit
von 300 Serienmördern hatte ergeben, daß beinahe 70 Prozent von
beobachtetem Verhalten von Mehrfachtätern korrespondierten, mit
ihnen derartige Markierungen aufwiesen. In der Gerichtspsychiatrie
einer bestimmten Punktzahl. MAP gab zum Beispiel die höchstmög-
ging man davon aus, daß Selbstverstümmelung eine Frühwarnung
liche Punktzahl, wenn der Verdächtige weiß war, denn zufälliger-
vor aggressiv kriminellem Verhalten ist. Je größer der Prozentsatz
weise waren die meisten Massenmörder Weiße. Schwarze konnten
der mit Tätowierungen bedeckten Körperoberfläche war, desto mehr
die höchste Punktzahl nur erreichen, wenn das Opfer ein Weißer hö-
Punkte gab MAP dem Verdächtigen.
heren Alters war, denn aus der Datenbank ging hervor, daß Morde
an älteren Weißen am häufigsten von Schwarzen verübt wurden. Sie warf einen Blick auf den Laserdrucker, der plötzlich ansprang.
Waren alle verfügbaren Informationen eingegeben, zählte MAP die
«Schicken Sie die Handschriftprobe?» fragte sie Stanley.
erteilten Punkte zusammen und errechnete die statistische Wahr-
scheinlichkeit, daß der Verdächtigte wirklich ein Serienmörder war. Stanley beugte sich über den Apparat und überflog den Ausdruck.
Aus der Einschätzung, die das Programm lieferte, konnten allerdings Dann riß er das Blatt ab und gab es an Jake weiter.
keine automatischen Folgerungen gezogen werden. Die Verantwor-
Sie öffnete die Schreibtischschublade und holte eine Lupe heraus,
tung für die Verwendung der Computerresultate lag ausschließlich
mit der sie die Schriftprobe so genau inspizierte, als suche sie nach
beim ermittelnden Beamten. Für Jake war es das einzige computer-
einem Fingerabdruck. Graphologie war eines ihrer Hauptarbeitsge-
gesteuerte Ermittlungsprogramm, das sie gern benützte.
biete im Europäischen Kriminalamt gewesen.
Stanley blickte Jake über die Schulter, als sie die Informationen über
«Sieh mal einer an», murmelte sie. «Die Buchstaben sind kaum ver-
Esterhazy aus den Akten des Gesundheitsministeriums eingab. Als
bunden. Überwiegend Großbuchstaben, aber die sehr klein.»
die Frage nach der Religionszugehörigkeit des Verdächtigen an der
Reihe war, stutzte Jake. Esterhazy hatte sich als Manichäer bezeich- Stanley beugte sich über das Blatt, um es noch einmal in Augen-
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schein zu nehmen. fickt hat. Sie hieß übrigens Jokaste. Aber wichtiger ist, daß er seinen
Vater Laios, den König von Theben, erschlagen hat.»
«Aber ordentlich», sagte er.
«Und was hat das zu bedeuten?»
«Zu ordentlich», sagte Jake. «Da schreibt jemand, der sich wirklich
Mühe gibt, alles unter Kontrolle zu halten. Es ist, als könne er jeden «Das bedeutet, daß unser Freund ein wenig paranoid sein könnte,
Augenblick explodieren. Wann er das wohl geschrieben hat?» hauptsächlich aber, daß er gegen väterliche Autorität und damit ge-
gen jede Autorität rebelliert. Glauben Sie mir», fügte sie hinzu, «ich
«Vermutlich, als sie ihn im Krankenhaus angestellt haben», meinte
weiß, wovon ich rede. Das habe ich mit Esterhazy gemein.»
Stanley.
Sie lächelte versonnen und warf einen verstohlenen Blick auf Stan-
Jake gab eine Beschreibung von Esterhazys Handschrift in das Pro-
leys Mienenspiel, aber der ließ sich kein Erstaunen anmerken. Sie
gramm ein.
dagegen meinte fast, es müßten Fanfaren des Triumphs erklingen.
«Weitere besondere Kennzeichen?» Sie griff wieder zur Lupe und
«Ganz hübsch kriminell», sagte Stanley und ging wieder an den
suchte ein paar Minuten stumm. Schließlich gab sie Stanley die Lu-
Drucker, der sich noch einmal meldete. «Fahndungsfoto», sagte er,
pe.
riß das Blatt ab und gab es an Jake weiter.
«Sehen Sie sich einmal an, wie er den Buchstaben W schreibt», sag-
Jake betrachtete das unscharfe Schwarzweißbild. Der Mann saß mit
te sie und deutete auf die Kopie. «Da, und da noch einmal.»
leicht geneigtem Kopf da. Das gewellte Haar fiel ungebärdig in die
«Es sieht mehr wie ein V mit einem Strich in der Mitte aus. Wie die Richtung, in die der Kopf sich neigte. Ein wenig sah die gesträubte
Spitze einer Schreibfeder», meinte Stanley. Locke nach einem vulkanischen Gedankenausbruch aus. Das schma-
le Gesicht war fast ausdruckslos, aber als Jake genauer hinsah, ent-
«Finden Sie nicht, daß es ziemlich vaginal wirkt?»
deckte sie einen Zug von Unzufriedenheit und launischer Gekränkt-
Stanley sah noch einmal hin. heit, als habe Esterhazy in dem Augenblick, in dem der Kameraver-
schluß sich öffnete und wieder schloß, einen zutiefst gelangweilten
«Jetzt, wo Sie es sagen», murmelte er peinlich berührt. «Ja, Sie ha-
Seufzer ausgestoßen. Es waren die Augen, die Jake faszinierten. Sie
ben wohl recht.»
blickten starr aus den tiefen Schattenhöhlen des Gesichts, aus der
Jake gab ihre Schriftanalyse in den Computer ein und dachte dabei Maske eines Nachtgeschöpfs hervor. Sie erinnerten an die Augen der
über deren mögliche Bedeutung nach. Überlebenden deutscher Konzentrationslager.
«Wissen Sie, daß das möglicherweise auf einen Ödipuskomplex «Wo wohnt der Schweinehund?» fragte Stanley.
hindeuten könnte?»
Jake warf einen Blick auf die Seite des Bildschirms, auf der noch
«Ödipus? War das nicht der Typ, der seine Mutter gefickt hat?» Einzelheiten aus Esterhazys Personalakte zu sehen waren. Sie be-
wegte den Kursor auf die gesuchte Information zu.
«Ja, Stanley», sagte sie sehr ruhig, «der Typ, der seine Mutter ge-

349 350
«Im Schwesternheim in Guy'
s Krankenhaus», sagte sie. Vorstrafen Keine
«Im Schwesternheim?» Stanleys Stimme klang schockiert. Zivilstand Ledig
«Ich nehme an, es handelt sich um ein Heim für männliche Kran- Sexuelle Neigungen Heterosexuell
kenpfleger», erklärte Jake geduldig.
Religion / Weltanschauung Manichäer
«Was immer es sein mag, mir kommt er vor wie ein Außenseiter»,
Bankauskunft Positiv
sagte Stanley, «jedenfalls wie jemand, der auf dieser Welt nicht sehr
zu Hause ist.» KÖRPERLICHES Größe 1,72m Gewicht 59 kg Augenfarbe Blau
Haarfarbe Braun HIV Negativ Tätowierungen 3 Psychische Erkran-
«Da könnten Sie recht haben», sagte Jake. «Aber warten wir erst
kungen Nicht bekannt Körperliche Erkrankungen Schlaflosigkeit
einmal, was das Programm sagt.»
Frühere Geschlechtskrankheiten Ja/Gonorrhöe Drogenmißbrauch Ja
Sie gab den Rest der Informationen ein und warf einen Blick auf das
BERUFLICHE TÄTIGKEIT
Resultat.
Beschreibung PTA
VERDÄCHTIGER Paul Joseph Esterhazy
Schichtarbeit Ja
Alter 35
Überdurchschnittliche
Rassentyp Weißer
Leistungen Nein
KINDHEIT
Unterdurchschnittliche
Geschwister Keine
Leistungen Ja
Von 2 Elternteilen erzogen
Anstellungsdauer 5 Jahre
Von l Elternteil erzogen Ja
Einschätzung des Hochintelligent, sehr
Von Pflegeeltern erzogen
Arbeitgebers zuverlässig, zurückgezogen,
Im Heim aufgewachsen
ruhig, eher introvertiert, zurückhaltend
Straffällig Nein
HANDSCHRIFT
ERWACHSENES LEBEN
Gesamteindruck Sorgfältig, Großbuchstaben
Schulabbrecher Nein
Besondere Kennzeichen Vaginaler Charakter des
Studienabbrecher Ja

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Buchstaben W [ y ] «Nicht viel mehr als eine Eins-zu-eins-Chance», sagte Stanley.
Analyse Möglicher Ödipuskomplex, Jake stieß einen Grunzlaut aus. Dann griff sie auf das ursprüngliche
MAP-Programm zurück und ließ sich die dreihundert Merkmale der
eventuell paranoid, denkbare Rebellion gegen väterliche und gene-
Datenbank vorlegen. Sie brauchte ein paar Minuten, um die Liste
rell männliche Autorität, daher denkbare Kriminalität
durchzulesen.
OPFER UND VORGEHENSWEISE Geschlecht der (des)
«Wissen Sie was?» sagte Jake schließlich. «Hier ist keine Rede von
Opfer(s) Männlich Beförderungsmitteln. Was ist das üblichste Beförderungsmittel für
einen Massenmörder?»
Rassentyp Weiße
«Lastwagen», sagte Stanley ohne Zögern, «kleiner Lieferwagen oder
Alter der (des) Opfer(s) Verschieden
Kombi.»
Bevorzugte Tatwaffe Gasdruckpistole
«Richtig», sagte Jake. Sie räumte den Bildschirm und wählte das
Verstümmelungen Nein Hauptmenü an. Diesmal rief sie die Datei der Kraftfahrzeugzulas-
sungsstelle auf, um zu überprüfen, ob ein Fahrzeug auf den Namen
Kannibalismus Nein
Esterhazy zugelassen war. Nach kurzer Wartezeit lieferte der Com-
Fetischismus Nicht bekannt puter die Information.
Sexueller Mißbrauch Nein «Mitten ins Schwarze», sagte Jake. «Er hat einen blauen Lieferwa-
gen, Toyota Tardis, Kennzeichen GVB 7837 R. Wenn wir jetzt an-
Tageszeit Wechselnd nehmen, daß der Lieferwagen noch einmal drei Punkte wert ist,
Monatstag Wechselnd kommen wir auf beinahe 60 Prozent.»
Geographische Faktoren Im wesentlichen im Bereich «Das ist schon besser», meinte Stanley zustimmend.
London Jake fing wieder an zu tippen.
Sie vergewisserte sich, daß es nichts weiter gab, das sie sinnvoller- «Noch etwas», sagte sie. «Die rassische Zuordnung, die wir aus der
weise eingeben konnte, und gab dann den Befehl, den Wahrschein- DNS-Analyse gewonnen haben...»
lichkeitsgrad zu berechnen. Die Maschine gurgelte, löschte den hal- «Ein Deutscher. Na und?»
ben Bildschirm, glitzerte in wechselnden Farben und blieb dann fast
eine Minute still. Schließlich leuchtete auf dem Schirm eine Zahl «Esterhazy ist kein englischer Name.»
auf.
«Nein?»
«Eine 56,6prozentige Wahrscheinlichkeit», sagte Jake.
Jake gab Esterhazys Namen und Ausweisnummer in den Computer

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ein. «Also gut. Rufen Sie die Luftüberwachung an. Sie sollen einen blau-
en Lieferwagen, Marke Toyota Tardis, amtliches Kennzeichen GVB
«Ungarisch oder österreichisch, glaube ich. Sehen wir mal nach, was
7837 R, suchen.»
auf seiner Geburtsurkunde steht.»
Kriminalsekretär Jones beugte sich über Jakes Schreibtisch und no-
Eine Kopie der Urkunde erschien auf dem Bildschirm.
tierte die Nummer.
«Geburtsort der Eltern: Leipzig», sagte Jake. Sie sah Stanley trium-
«Kommen Sie, Stanley», rief Jake auf dem Weg aus der Tür. «Die
phierend an. «Das genügt.»
Aufzeichnung hören wir uns im Auto an.»
Fünf Minuten nachdem Jake mit dem Mehrfachanalyseprogramm
«Wohin wollen Sie?» rief Jones ihnen nach.
fertig war, betrat Kriminalinspektor Jones das Büro. Er trug eine
Diskette in der Hand und einen wütenden Ausdruck im Gesicht. «Ins .Krankenhaus», antwortete Jake. «Ich will meinen verdammten
Kopf untersuchen lassen. Vielleicht könnten die mir sagen, warum
«Ja?» sagte Jake. «Was gibt es?»
ich mir überhaupt noch die Mühe mache, hierherzukommen.»
«Ich hatte meine Anweisungen», sagte er. «Von Gilmour. Ich hatte
«Sonst hat uns nichts gefehlt», schrie Jake, als der Wagen sich ge-
keine andere Wahl.»
räuschvoll seinen Weg in die Victoria Street bahnte, «als daß dieser
Jake ahnte, wovon er sprach. «Wittgenstein hat angerufen, oder?» Irre aus dem Fenster springt, wenn wir gerade dabei sind, ihn zu
verhaften. Ich könnte die Vollidioten im Innenministerium umbrin-
Jones atmete tief ein. «Vor etwa einer halben Stunde. Gilmour hat
gen.»
gesagt, Sie dürften nicht mit ihm sprechen.» Er blickte unsicher auf
seine Fußspitzen. «Er sagte, ich solle das Gespräch Professor Lang «Stellen Sie das Martinshorn an», rief sie dem Fahrer zu. «Wir ha-
überlassen.» ben es eilig.»
Jake nickte stumpf. «Und was ist dabei herausgekommen?» Jake stellte das Abspielgerät an und schob die Aufnahme ein.
«Ich habe Ihnen die Aufzeichnung mitgebracht», sagte Jones und «Ich fürchte, Sie werden heute mit mir vorliebnehmen müssen», er-
gab ihr die Diskette. «Tut mir leid.» klärte Lang dem Anrufer, als wolle er sich dafür entschuldigen, daß
ein Kollege nicht an einer Lehrveranstaltung teilnehmen konnte.
Jake lächelte ein bitteres Lächeln. «Sie können nichts dazu. Hat er
«Chefinspektorin Jakowicz kann im Moment nicht ans Telefon
gesagt, daß er noch jemanden umbringen will?»
kommen.»
«Ich glaube, nein.»
«Der verlogene Scheißkerl», sagte Jake. «Von wegen Moralphiloso-
«Was ist mit Längs nettem kleinem Vorschlag? Meinen Sie, er hat phie!»
die gewünschte Wirkung gezeitigt?»
«Hoffentlich ist sie nicht krank», sagte Wittgenstein. «Ich hoffe, das,
Jones zuckte die Achseln. «Schwer zu sagen, gnädige Frau.» was das letzte Mal geschehen ist, hat sie nicht verärgert. Ich hatte ihr

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versprochen, nach meinem Vortrag mit ihr zu sprechen, über ein «Ich stimme Ihnen völlig zu», sagte Wittgenstein. «Das ist mensch-
paar Dinge zu diskutieren.» liche Natur und letzte menschliche Bestimmung zugleich.»
«Nein, nein», sagte Lang beruhigend, «darum geht es nicht.» «Um so mehr gilt das in Ihrem Falle.»
«Dann wird es wohl etwas Wichtigeres sein», antwortete Wittgen- «Wieso?»
stein ein wenig beleidigt. «Für heute werden wir wohl auch ohne
«Nun», sagte Lang, «mir kommt es so vor, als ob Sie all diese ande-
Chefinspektorin Jakowicz zurechtkommen.»
ren Männer, die sich wie Sie selbst als VMK-negativ erwiesen ha-
Sobald sie Wittgensteins Stimme hörte, fiel ihr auf, daß sie anders ben, nur töten wollten, um den wahren Wunsch, Ihr eigenes Leben
klang als sonst: ohne Selbstvertrauen, müde, deprimiert. Und im auszulöschen, zu verdrängen oder seine Erfüllung hinauszuzögern.»
Verlauf des Gesprächs überließ er dem Professor die Initiative, ließ
«Da könnte etwas dran sein.»
ihn die Themen bestimmen. Anscheinend wußte er nicht einmal
mehr genau, warum er eigentlich angerufen hatte. Er sprach leise, Jake trommelte mit den Fäusten auf die Nackenstütze des Fahrers.
gedämpft und monoton und ließ lange, schwere Pausen aufkommen.
«Können wir nicht schneller fahren?» schrie sie. Aus dem Augen-
Jake wurde klar, wie verwundbar er war, wie tief ihn die phänome-
winkel sah sie, wie sich beim nächsten Spurt des Wagens Stanleys
nologische Diskussion treffen konnte, die Lang plante.
Adamsapfel aus dem Hemdkragen schob. Das hagere Gesicht des
«Der Mensch ist ein vergängliches Wesen», sagte Lang. Fahrers, der einen kleinen Schnurrbart trug, zeigte keine Gefühle. Er
war aufgeregte Befehle vom Rücksitz gewohnt. Er ließ das Lenkrad
«Ja», sagte Wittgenstein dumpf.
so ruhig und sicher durch die starken Hände gleiten, als forme er ei-
«Ein Wesen, das sich selbst schafft und sein eigenes Schicksal nen vollkommen runden Pizzaboden. Der Verkehr vor dem Wagen
wählt, oder sind Sie anderer Meinung?» öffnete sich wie ein Reißverschluß. Als sie an Waterloo Station vor-
beirasten und die dreistöckige Slumsiedlung aus Sperrholz und
«Oh, nein, ich bin ganz Ihrer Meinung.»
Wellblech umfuhren, hätten sie fast einen Obdachlosen überfahren,
«Und weil er sich aus freiem und eigenem Willen seiner eigenen der reglos wie ein Poller in der Straßenmitte stand. Sie verfehlten ihn
Vergänglichkeit bewußt ist, bleibt ihm als einzige reale Zukunftser- um Zentimeter.
wartung ...»
«Blöder Trottel», murmelte Stanley und drehte sich um, um die
«.,. der Tod», führte Wittgenstein den Satz zu Ende. rasch kleiner werdende Gestalt durchs Rückfenster anzusehen. «Ir-
gend jemand sollte die alle wegschaffen.»
Jake klammerte sich an die Autotür, als der Wagen sich in die Kurve
legte. «Ich glaube mich nicht zu irren, Professor Wittgenstein», hörte sie
Lang sagen, «wenn ich davon ausgehe, daß Selbstmord in Ihrer Fa-
«Um gut zu leben», hörte sie Längs Stimme, «um das Leben wirk-
milie nicht ungewöhnlich ist. Ganz davon abgesehen, daß der Held
lich voll zu erleben, muß man im unbarmherzigen Licht dieser Tat-
Ihrer Jugend, Otto Weininger, sich das Leben genommen hat.»
sache leben.»
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« Sie haben natürlich recht. Mein Bruder Rudolf hat sich umge- ist. Und das entgeht dem Atheisten. Was ich sagen will, ist, ich
bracht, eine dramatische Geste, sonst nichts. Weiningers Tod war nehme an, Sie haben die ganze Zeit gedacht, wenn Sie diese Männer
ganz etwas anderes, die ethische Zustimmung zu einem intellektuell töten, töten Sie Gott.»
vorherbestimmten Schicksal. Eine edle Tat.»
«Das kommt mir wie eine vernünftige Annahme vor.»
«Wenn ich mich richtig erinnere, sind damals in Wien viele Männer
«Ich werde Sie nicht fragen, warum. Das Warum interessiert mich
dem Beispiel Weiningers gefolgt, nicht aber Sie. Hatten Sie einfach
nicht. Sie werden schon Ihre Gründe haben. Was immer sie sein
nicht den Mut zum Selbstmord? War es Entschlossenheit, die Ihnen
mögen, ich bin bereit, sie zu respektieren. Ich bin sicher, daß Sie
fehlte?»
gründlich darüber nachgedacht haben. Aber wenn Sie Gott wirklich
Wittgenstein ließ ein langes, tiefes und amüsiertes Schnauben durch an der Nase zupfen wollen, dann ist Ihnen etwas entgangen. So geht
die Nase vernehmen. «Sie sind gut, Herr Professor. Ich kenne Ihr es nicht. Erst die eigene Flucht aus der Existenz ist die entscheiden-
Spiel. Vielleicht würden Sie es ja wirklich ein Spiel nennen. Natür- de Sünde, die letzte Auflehnung gegen den Schöpfer. Was Ihnen
lich ist es kein perfektes Spiel. Es weist... Verunreinigungen auf. aufgegeben ist, ist die intensivste Auflehnung, der Höhepunkt der
Meinen Glückwunsch. Also werde ich es auch als Spiel bezeichnen. Verzweiflung.
So etwas wie ein existentielles <Fang den Hut>. Aber nur, weil ich
Als wir uns das letzte Mal unterhielten, haben Sie sich als Künstler
von Ihrem Ideal geblendet bin.» Er sprach langsam und genußvoll,
bezeichnet. Ich hege keinen Zweifel daran. Aber als Künstler leben
als wolle er die Implikationen von Sir Jameson Längs Plan voll aus-
Sie in einem Dilemma, in der Sünde, die dann besteht, in der Welt
kosten. «Wirklich, bewundernswert.»
der Phantasie statt der Welt der Wirklichkeit, in der Kunst und nicht
«Es freut mich, daß Sie es so empfinden», sagte Lang, den im Sein zu leben. Natürlich spielt Gott in Ihrer zunehmenden Ver-
zweiflung die entscheidende Rolle. In Ihren geheimen Qualen ist
Wittgensteins volles Verständnis für das, was er zu erreichen suchte,
Gott die einzige Hoffnung, aber Sie lieben Ihre Qual und wollen
offenbar überhaupt nicht störte. «Ich möchte aber noch eines hinzu-
nicht von ihr lassen. Irgendwo wissen Sie, was Sie tun müssen. Sie
fügen...»
müssen von Ihrer Qual ablassen und Ihr Schicksal gläubig hinneh-
«Ich bitte darum.» men, und das können Sie nicht. Ihre Auflehnung gegen Gott wächst,
und Sie töten andere, um sie zu beweisen. Aber wirkliche Aufleh-
«Gehe ich irre in der Annahme, daß Sie an Gott glauben?»
nung kann nur der beweisen, der sich selbst tötet.»
«Nein, Sie haben recht.»
Wittgenstein seufzte. «Vielleicht haben Sie recht», sagte er müde.
«Dann verfügen Sie über die richtige Perspektive, wenn es um «Was Sie über das Leben des Künstlers sagen, klingt vernünftig.»
Selbstmord geht: die Beziehung zwischen Gott und Selbst. Das ist
«Was halten Sie davon, sich selbst zu töten?»
äußerst wichtig, verstehen Sie. Jeder dahergelaufene Atheist kann
Selbstmord begehen. Die haben keinen Sinn für den Geist. Das We- Lang anhaltendes Schweigen.
sentliche am Selbstmord ist, daß er ein Verbrechen gegen Gott selbst
Der Wagen raste von der Southwark Street über Southwark Bridge
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Road, Borough und St. Thomas Street zu Guy’s Krankenhaus. Die «Dann eben den Klinikleiter», sagte sie, «den Direktor, den, der die
Wachleute am Tor öffneten die Schranke und sprangen beiseite. Das Leitung hat.»
Auto donnerte vorbei.
Die beiden blickten sie weiterhin verwirrt an.
«Haben Sie Angst davor?»
«Wer hat hier die Leitung?» fragte der erste Polizist den zweiten.
Jake verfluchte Lang laut. «Ich hab keine Ahnung.»
«Glauben Sie an das ewige Leben?» «Frag sie doch», sagte der andere und zeigte auf eine Kranken-
schwester.
«Der lebt ewig, der in der Gegenwart lebt», flüsterte Wittgenstein.
«Wir suchen nach dem, der hier die Leitung hat», sagte der erste Po-
Jake glaubte, das leise Lächeln zu hören, mit dem er fortfuhr:
lizist zur Schwester, «dem, der das Sagen hat.»
«Wird denn dadurch ein Rätsel gelöst, daß ich ewig fortlebe? Ist
Die Schwester setzte ein unfreundliches Lächeln auf, als wolle sie
denn dieses ewige Leben dann nicht ebenso rätselhaft wie das ge-
ein besonders übel schmeckendes Medikament ausgeben.
genwärtige? Zu einer Antwort, die man nicht aussprechen kann,
kann man auch die Frage nicht aussprechen. Das Rätsel gibt es nicht. «Entschließen Sie sich bitte», sagte sie. «Wer soll es denn nun sein?
Und die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Ver- Der Leiter oder der, der hier das Sagen hat? Das ist nicht das glei-
schwinden dieses Problems.» Dann legte er auf. che.»
Jake kurbelte das Fenster herunter und lehnte sich heraus, um den Jake widerstand energisch der Versuchung, die Waffe zu ziehen und
Torhüter zu fragen: «Wo ist das Schwesternheim?» sie der Schwester an den Kopf zu halten.
«Schwesternheim? Ein bißchen hinter der Zeit zurück, oder was? «Wir suchen jemanden, der sich mit dem Personal auskennt, das hier
Das ist vor zwei Jahren geschlossen worden.» arbeitet», sagte sie geduldig.
«Weiterfahren», rief Jake dem Fahrer zu. «Wir probieren es drin- «Warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Sie suchen gar nicht
nen.» den, der hier das Sagen hat. Sie suchen einen Personalchef. Aber-
weichen? Studentisches Personal, Ärzte, Pflegepersonal, Verwal-
Der Wagen sprang vorwärts und blieb mit quietschenden Reifen vor
tung, technisches Personal...»
den Stufen zum Haupteingang stehen. Jake sprang aus dem Auto
und stürzte zur Eingangstür, wo sie zwei von ihrem Tempo über- «Techniker», brüllte Jake. «Ich suche einen PTA.»
raschte Polizisten mit gezogenen Pistolen empfingen. Sie hielt ihnen
«Den Gang entlang, zweiter Flur rechts, vierte Tür links», sagte die
ihren Ausweis vor die Kuhgesichter und verlangte, zum Verwal-
Schwester und entfernte sich eilig.
tungschef des Krankenhauses gebracht zu werden.
Jake sah sich nach Inspektor Stanley um und entdeckte, daß er mit
Der eine Polizist nahm die Mütze ab, kratzte sich am Kopf und sag-
stark grünlicher Gesichtsfarbe an einer der beschmierten Wände
te: «So was haben wir hier nicht, gnädige Frau.»
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lehnte. Sie gab sich kaum Mühe, ihre Verachtung zu verbergen, als aufgegessener Hamburger. Auf dem Fernsehschirm führten ein paar
sie ihn ansprach: «Ach ja, ich habe schon wieder Ihren schwachen Mädchen in Kostümen, die zwei Nummern zu klein waren, Aerobic-
Magen vergessen. Warten Sie besser draußen.» übungen vor. Die bewußt lüsternen Kameraeinstellungen ließen das
Ganze nicht nach der Art von Übungen aussehen, bei denen der Zu-
Stanley nickte matt und taumelte ins Freie.
schauer zum Mitmachen aufgefordert wird.
«Ich komme mit, gnädige Frau», sagte einer der Polizisten. «Besser
Vor Jake stand ein Walliser in Nadelstreifen und Strickjacke mit
so, ehrlich gesagt. Man weiß nie, wer sich in diesem Laden herum-
Reißverschluß, der stark nach Schweiß und Fritten roch. Sie über-
treibt. Ich kann Ihnen sagen, durch diese Tür marschieren ein paar
reichte ihren Dienstausweis.
sehr seltsame Typen. Hier geht es nicht zu wie im Polizeikranken-
haus in Hendon.» «Chefinspektorin Jakowicz», stellte sie sich vor. «Ich dachte, ich
könnte einen ihrer Angestellten, einen gewissen Paul Esterhazy, im
«Danke», sagte Jake. «Machen wir uns auf den Weg.»
Wohnheim finden. Aber der Torwächter sagt, das gebe es nicht
Sie liefen mit energischen Schritten den übelriechenden Flur ent- mehr. Befindet sich Mr. Esterhazy derzeit im Hause?»
lang, den die Krankenschwester ihnen gezeigt hatte. Etwas weiter
«Der hat seinen freien Tag», sagte der Direktor und betrachtete den
vom Eingang entfernt war der Korridor voll von Patienten, die auf
Dienstausweis mit beachtlichem Interesse. «Mordkommission? Hat
dem Boden lagen. Ein paar von ihnen erhoben sich von ihren
Paul was angestellt?»
schmutzigen Matratzen und bettelten um ein paar Dollar für die
Krankenhausrechnung. Der Polizist schob sie rauh beiseite. «Ich muß ihn dringend sprechen», sagte Jake. «Haben Sie seine Pri-
vatadresse?»
Das Büro des technischen Personaldirektors lag einem Raum gegen-
über, der wie der Tresorraum einer Bank aussah, in Wirklichkeit «Er hat nur ganz kurz im Wohnheim gewohnt», sagte der Direktor.
aber die Krankenhausapotheke war. Zwei zusätzliche bewaffnete «Nur vorübergehend, sozusagen. Bis er eine Wohnung gefunden hat-
Wachleute standen rechts und links vor dem vergitterten Fenster ei- te.»
ner Stahltür. Die Tür zum Personalbüro war aus Panzerglas. Jakes
«Gut. Könnten Sie mir bitte sagen, wo er wohnt.»
Begleiter drückte auf eine Klingel und hielt das Gesicht vor die Vi-
deokamera, die sie beide überwachte. Die Schweinchenaugen des Mannes wurden noch kleiner. «Paul
könnte keiner Fliege etwas zuleide tun. Ich kenne ihn seit Jahren.
«Besuch für den TPD», sagte er.
Sanft wie ein Lämmchen.»
Ein Summer ertönte, und die Tür sprang auf.
Jake, die gerne einen Dollar für jedes Mal gehabt hätte, das sie die-
Das Büro des Personaldirektors war klein und kaum möbliert. Die sen Spruch gehört hatte, sagte, sie brauche Esterhazys Hilfe bei ihren
Telefonapparate sahen aus, als stünden sie seit Erbauung des Kran- Ermittlungen.
kenhauses da. Der Computer war der billigste Typ, etwas, wie es ein
«Aber das sagt ihr doch immer, wenn ihr jemanden verhaften wollt.
armer Student besitzen könnte. Auf dem Schreibtisch lag ein halb
Wollen Sie Paul verhaften? Wenn Sie das vorhaben, muß ich näm-
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lich mit einem Anwalt sprechen, bevor ich Ihnen seine Adresse ge- «Hören Sie, ich weigere mich ja gar nicht, Ihnen seine Adresse zu
ben kann.» geben. Ich sage nur, daß ich erst mit dem Anwalt sprechen sollte.»
Jake seufzte und fragte, warum. «Dafür habe ich keine Zeit», sagte Jake kurz angebunden. «Die
Adresse, und zwar ein bißchen plötzlich, bitte!»
Der Mann setzte ein überhebliches Lächeln auf. «Glauben Sie mir,
Frau Chefinspektor», sagte er, «wir tun hier nicht viel, ohne vorher Mit angeekelter Miene wandte sich der Mann dem Bildschirm seines
mit einem Anwalt zu sprechen. Ohne Anwälte läuft bei uns gar Computers zu, bediente ein paarmal die Tastatur und stand dann auf,
nichts. Wenn Sie bloß wüßten, mit wie vielen Klagen wegen ärztli- ging an den winzigen Drucker, der schon vor sich hin klapperte, riß
cher Kunstfehler wir uns hier beschäftigen müssen.» ein Stück Papier ab und gab es Jake.
«Hören Sie», zischte Jake wütend, «ich bin nicht einer von Ihren «Danke», sagte sie trocken.
gottverdammten Patienten, und ich habe es eilig. Also, wenn es Ih-
«Vielleicht erzählen Sie mir jetzt, was hier eigentlich los ist?»
nen nichts ausmacht...»
Aber Jake war schon auf dem Weg aus dem Zimmer. «Wenn Sie den
Der Personaldirektor sah sie erstaunt an und schüttelte den Kopf.
Fernseher lange genug anlassen, werden Sie es schon erfahren », rief
«Nehmen wir einmal an, ich gäbe Ihnen Paul Esterhazys Adresse.
sie ihm über die Schulter zu.
Nicht daß ich gesagt hätte, ich würde das tun. Und nehmen wir an,
Sie gingen dahin, um ihn zu verhaften. Und nehmen wir weiter an, Draußen warteten Stanley und der Fahrer geduldig neben dem
während Sie ihn verhaften wollen, schießt einer Ihrer Leute auf BMW.
Esterhazy. Und nehmen wir dann noch an, weil sie keine gesetzliche
«Docklands», sagte sie und sprang in den Rücksitz. «Ocean Wharf,
Möglichkeit haben, die Polizei zu verklagen, kämen er oder seine
so schnell Sie können.»
Familienangehörigen auf die Idee, statt dessen das Krankenhaus we-
gen Mißachtung des Datenschutzes zu verklagen.» Stanley öffnete den Kofferraum und schloß ihn wieder.
Jake nickte grimmig. «Also gut, Sie lassen mir keine andere Wahl. «Los schon», rief sie ihm zu. «Wir müssen weiter.»
Entweder Sie geben mir sofort Paul Esterhazys Adresse, oder ich
Er setzte sich neben sie, und sie sah, daß er ein Repetiergewehr auf
muß Sie verhaften.»
dem Schoß hielt.
«Mit welcher Begründung?»
«Nur so, für alle Fälle», sagte er und streichelte die Waffe wie ein
«Parken in der zweiten Reihe. Unzucht mit Abhängigen. Trunken- Schoßtier. «Das ist eine üble Gegend hier.»
heit in der Öffentlichkeit. Hören Sie schon auf! An was für eine An-
Der Wagen sprang vorwärts und fuhr wieder nach Osten über Druid
klage haben Sie denn gedacht? Ich bin Polizeibeamtin, und Sie be-
Street und Jamaica Road zum Rotherhithe Tunnel unter der Themse,
hindern mich in der Ausübung meiner Dienstpflichten. Also was?
wo die Luft kühl und abgestanden war. Dann wieder Sonnenlicht,
Adresse oder Zelle?»
und der Wagen rollte im Schatten der Docklandsbahn über die Li-

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mehouse Road. gend ihrem schlechten Ruf gerecht werden, schlug ein Stein gegen
die Windschutzscheibe des BMW, und Stanley spielte erwartungs-
Sie bogen nach Süden in die West Ferry Road ein, warfen einen
voll mit seinem Gewehr.
Blick auf die Isle of Dogs, und dann war das Auto in eine Wolke
von klebrigem Staub gehüllt, der wie ein Miniaturtaifun von einem «Beruhigen Sie sich», sagte Jake. Der Wagen näherte sich der Fe-
verlassenen Baugrundstück herüberwehte. Verkommene Häuser aus stung aus Stacheldraht, die sich Ocean Wharf nannte. Sie selbst war
dem neunzehnten Jahrhundert, deren Wände mit Holzbalken abge- alles andere als ruhig. Die Wächter winkten sie durch die Schranke.
stützt und deren Dächer mit Wellblech geflickt waren, machten mo- Auf dem Parkplatz hinter dem Eingangstor stand ein blauer Toyota-
dernen Hochhäusern Platz, die sich wie gigantische Kakteen über die Lieferwagen. Sie überprüften das Kennzeichen.
staubige, schuttübersäte Landschaft erhoben. Ein Helikopter um-
«Sieht aus, als ob unser Mann zu Hause ist», sagte Jake. Wenn Witt-
schwirrte das pyramidenförmige Dach von Canary Wharf wie eine
genstein jetzt Sir Jameson Längs Vorschlag folgte und Selbstmord
Schmeißfliege. Die Luftüberwachung galt dem Schutz eines Gebäu-
plante, hätte er als Fußgänger in den Docklands die besten Aussich-
des, das einst der Stolz von Docklands gewesen war, vor Überfällen
ten auf Erfolg.
der Barbaren aus den schäbigen Bretterbuden, die es von allen Sei-
ten umgaben. In Ocean Wharf gab es vier Wohnblocks, und Jake sah auf dem
Computerausdruck nach, in welchem Wittgenstein wohnte.
Canary Wharf Tower hob sich auffällig von seiner Umgebung ab.
Eine gewaltige Konstruktion aus dunklem Stahl und getöntem Glas «Winston Mansions», sagte sie, als sie aus dem Auto stiegen. «Sieb-
trug ein leerstehendes Stockwerk über dem anderen dreihundert Me- ter Stock. Hoffentlich kommen wir nicht zu spät.
ter hoch in die Luft. Man konnte den Turm noch von Battersea aus
Stanley blickte am Hochhaus empor. «Hoffentlich funktioniert der
sehen. Durch das Autofenster sah Jake in stilisierter grüner Neon-
Fahrstuhl», fügte er hinzu.
schrift vor leuchtendweißem Hintergrund die Werbesprüche der letz-
ten drei Firmen, die noch in dem verlassenen Gebäude ausharrten. Hinter den Glastüren von Winston Mansions schilderte ein Sprecher
im zweideutigen Tonfall die Vorteile eines neuen Hundefutters, das
Sie fuhren unter der kleinen Spielzeugeisenbahn her, als verfolgten
angeblich weniger Häufchen produzierte als jede andere Marke. Die
sie einen Dealer, der da oben einen verzweifelten Fluchtversuch un-
Stimme gehörte zu einem Fernsehschirm in der Portiersloge. Als der
ternahm. Links von ihnen lagen Canary Wharf, Heran Quays und
Portier Jake und Stanley kommen sah, drehte er am Regler, und die
South Quay, das ganze Geschäftsviertel der Docklands hinter Sta-
Stimme wurde etwas leiser, obwohl man den Text immer noch ver-
cheldraht und Überwachungskameras. Selbst auf den Straßen, die zu
stehen konnte. Die wenigsten Menschen stellten einen Fernsehappa-
den äußeren Schranken führten, patrouillierten private Wachleute in
rat ganz ab.
schwarzen Uniformen mit schweren Schlagstöcken.
«Ist Paul Esterhazy zu Hause?» fragte Jake und hielt dem Portier ih-
Das Auto bog in eine Nebenstraße ein, in der sich eine Bande von
ren Dienstausweis vors Gesicht, obgleich das überflüssig war. Er
Jugendlichen um ein Lagerfeuer versammelt hatte und sich damit
hatte den Polizeiwagen schon gesehen.
beschäftigte, einen streunenden Hund zu quälen. Als müsse die Ge-

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«Ist vor etwa dreißig Minuten raufgegangen», sagte er. Seine Augen Eine Minute verging.
blieben wie gebannt am Fernsehschirm haften. «Soll ich ihn anru-
«Sind Sie sicher, daß er da ist?» fragte Stanley mit gerunzelter Stirn.
fen?»
«Es gibt nur einen Weg rauf und einen Weg runter. Wenn er nicht
«Metaslim. Steigern Sie Ihren Stoffwechsel. Die einzig wirksame
gesprungen ist, natürlich.»
Methode abzunehmen», sagte das Fernsehen.
«Vielleicht waren Sie abgelenkt», meinte Stanley, «durch das Fern-
«Nein», sagte Jake und ging zum Fahrstuhl. «Wir werden uns selbst
sehen.»
anmelden.»
Der Portier blickte den Polizisten verächtlich an. «Sowieso nichts
Stanley drückte auf den Fahrstuhlknopf.
Sehenswertes», sagte er. «Nein, der ist da oben. Hat er was ange-
«Funktioniert nicht», sagte der Portier. «Die Wartungsfirma hat Plei- stellt?»
te gemacht.»
Aber dann war Esterhazy der erste, der antwortete. «Ja, Joe, was gibt
Jake sah sich in der Eingangshalle um. «Wo ist die Treppe?» fragte es? Ich bin momentan beschäftigt.»
sie.
«Nicht ich», sagte der Portier, «die Polizei.»
Der Portier deutete auf einen hell erleuchteten Gang hinter seinem
Jake erkannte die Stimme sofort. Es war Wittgenstein. Die Stimme
Rücken. Er führte auf eine graue Stahltür. Jake ging auf sie zu.
war unverwechselbar. Sie schob den Portier vorsichtig beiseite und
«Sparen Sie sich die Mühe», sagte der Portier. «Lohnt nicht, in den sah in das Pictofon.
siebten Stock zu klettern. Mr. Esterhazy ist der einzige Mieter, der
«Ich bin es», sagte sie. «Chefinspektorin Jakowicz.»
da oben wohnt. Aus Sicherheitsgründen schließt er die Feuertür hin-
ter sich ab, wenn ich nicht da bin. Eine Stahltür, genau wie die vor Esterhazy setzte ein breites Lächeln auf. Er wirkte überhaupt nicht
Ihnen, junge Dame. Sie könnten den halben Tag dagegenhämmern, suizidgefährdet.
und er würde Sie nicht hören.»
«Meine liebe Frau Chefinspektor», sagte er betont ruhig. «Ist dies
Die ganze Zeit ließ er das Fernsehbild nicht aus den Augen. Er glich ein Privatbesuch, oder sind Sie dienstlich hier?»
einem kleinen Beuteltier, das hypnotisiert auf eine Schlange starrt.
Jakes Herz schlug wie eine Trommel. Sie hatte ihn. Jetzt konnte er
«Soll ich ihn jetzt anrufen?» ihr nicht mehr entkommen. Beinahe tat es ihr leid.
Jake lächelte höflich und nickte geduldig. «Ich bin hier, um Sie zu verhaften.»
Der Portier drückte eine Nummer auf dem Hauspictofon und wandte «Wie erleichternd. Ich dachte, Sie würden versuchen, mich so zu
sich wieder dem Fernseher zu. langweilen, daß ich mich selbst umbringe, so wie Professor Lang.»
Er lachte. «Allein die Vorstellung! Einfach lächerlich!»
«Dauert meistens ein bißchen, bis er antwortet», erklärte er.

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Das Gesicht auf dem kleinen Bildschirm wirkte sanfter, als sie es gesagt habe, kam es mir ganz einfach vor.»
sich vorgestellt hatte. Er trug Hemd und Pullover und sah einem Po-
Esterhazy spitzte besorgt die Lippen. «Ausgerechnet Sie sollten
litiker in der Freizeit ähnlicher als einem Massenmörder. Jake lä-
wirklich wissen, daß Wünsche sich wie ein Schleier zwischen uns
chelte.
und das erwünschte Objekt legen. Ich weiß, daß es für eine Frau wie
«Wissen Sie, ich habe Sie erwartet», sagte er. «Damit meine ich, daß Sie nicht leicht ist, mit jemandem wie mir in etwas so Grobem wie
ich geglaubt habe, Sie würden kommen, obwohl meine Gedanken normaler Umgangssprache zu sprechen.»
nicht mit Ihrem Kommen beschäftigt waren. Ich meine nicht, daß ich
«Ich glaube, wir begeben uns in eine Sackgasse», sagte Jake. «Das
Sie sehnsüchtig erwartet hätte, Frau Chefinspektor. Was ich meine,
passiert leicht, in der Philosophie wie im Leben. Aber Sie haben
ist, daß es mich überrascht hätte, wenn Sie nicht gekommen wären.»
recht. Wir sind in einer Sackgasse, am Ende aller Straßen, Sie und
Aus dem Augenwinkel sah Jake, wie Stanley stumm die Lippen ich, Ihre philosophische Untersuchung und die meine.»
spitzte und den Zeigefinger bedeutungsvoll vor der Stirn drehte.
Er lächelte. Jake erschien sein Lächeln traurig. «Einverstanden.
«Nun, jetzt bin ich da. Kann ich raufkommen und mich mit Ihnen Warum hören Sie dann nicht auf, Zeit zu verschwenden, und lassen
unterhalten?» mich statt dessen raufkommen, damit wir alles ins reine bringen
können.»
«Aber wir unterhalten uns ja schon, oder etwa nicht?»
«Ich fürchte, das kann ich nicht zulassen. Sehen Sie, ich habe nicht
«Ich meinte, persönlich.»
die Absicht, zu den Dingen zu gehören, die Sie <ins reine bringen>,
«Ich spreche persönlich. Wenn nicht, wäre ich bereits tot.» wie Sie es nennen. Das hieße, daß ich die nächsten dreißig Jahre
meines Lebens im Strafkoma verbringen müßte. Und das wäre wirk-
«Ich habe den Wunsch, mich mit Ihnen über eine Reihe von Morden
lich verschwendete Zeit.»
zu unterhalten», sagte Jake steif und offiziell. Die Beamtin in ihr
hatte die Oberhand gewonnen, und sie zuckte zusammen, als sie ihre «Sie wissen doch, daß es keinen Ausweg gibt», sagte Jake. «O doch,
eigene Stimme hörte. Sanfter fuhr sie fort: «Hielten Sie es nicht für den gibt es», sagte Esterhazy. «Bis Sie es geschafft haben, hier he-
besser...» Aber es war schon zu spät. reinzukommen, werde ich sozusagen die Quadratur des Kreises
vollbracht haben.»
«Dieses Ihr despotisches Verlangen», sagte er. «Dieser Wunsch...
Seltsam, daß Sie gerade dieses Wort benutzen. Es enthält die Erwar- Stanley runzelte die Stirn. «Was soll das heißen?» Er sah den Portier
tung ausbleibender Befriedigung. Ich frage mich, was für Sie der In- streitlustig an. «Sind Sie sicher, daß es keinen anderen Ausgang
begriff mangelnder Befriedigung ist. Seltsam, nicht wahr? Daß ein gibt?»
Wunsch immer schon zu wissen scheint, was ihn befriedigen würde,
Jake sagte zu Stanley: «Er spricht von der Unendlichkeit. Er will
selbst wenn es dieses Etwas gar nicht gibt, selbst wenn es überhaupt
Selbstmord begehen.»
nicht existieren könnte.»
«Aber nicht auf Grund irgendeines der Argumente, die dieser Narr
Jake versuchte, das Gespräch nicht abbrechen zu lassen. «Als ich es
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Jameson Lang vorgebracht hat», sagte Esterhazy. Aber Jake war schon durch die Tür und die Treppe hinaufgelaufen.
Stanley folgte ihr dicht auf den Fersen.
«Sondern warum?»
Er sagte nichts, bis sie auf dem Dach standen und versuchten, wieder
«Wie gesagt, ich beabsichtige nicht, meine Zeit im Koma zu ver-
zu Atem zu kommen.
schwenden. In dem Augenblick, in dem Sie hier ankamen, wußte
ich, daß das Spiel aus war. Sie sind der Grund, warum ich Selbst- «Hören Sie», keuchte er, «warum überlassen wir das Ganze nicht
mord begehen muß, Jake. Sie sind der Grund.» dem Einsatzkommando? Die sind schließlich dafür ausgebildet.» Er
half Jake, den Ausleger der Winde über die Dachkante zu hieven.
«Bitte», sagte sie, «tun Sie es nicht.»
«Wie bitte? Damit die ihn erschießen? Nein. Ich will eine Verhaf-
«Sie brauchen sich keine Vorwürfe zu machen, Jake. Ich hatte es
tung, und ich will eine Verhandlung. Außerdem kann er sich längst
immer eingeplant.»
umgebracht haben, bis die da sind.»
Jake bedeckte das Mikrofon mit der Hand und fragte den Portier, ob
Sie kletterte in den Lift und sah, daß man die Winde nur zu zweit
es einen Weg auf das Dach gebe.
bedienen konnte. Stanley blickte nervös über die Dachkante.
«Versuchen Sie nicht, mich zurückzuhalten!» sagte Esterhazy.
«Ist doch besser für ihn und besser für uns. Spart uns die Mühe.»
«Ich kann Sie nicht so einfach entkommen lassen», sagte Jake. «Ha-
«Sie reden wie die Schweinehunde im Innenministerium», sagte sie.
ben Sie keine Angst?»
«Steigen Sie jetzt ein oder nicht? Ich kann das Ding nicht allein be-
Der Portier übergab Stanley einen Schlüsselbund. dienen.»
«Ich bin gerührt», sagte Esterhazy. «Wirklich.» «Aber es sind zehn Stockwerke», beschwerte sich Stanley. Mit dü-
sterer Miene schüttelte er den Kopf und stieg ein. «Ich weiß nicht,
«Bilden Sie sich bloß nicht ein, daß ich mit Ihnen bis da oben rauf-
warum ich das tue. Der Kerl spinnt doch.» Er griff nach dem Bedie-
klettere», sagte der Portier.
nungshebel und nickte Jake am anderen Ende der Plattform zu.
«Aber Jake, Sie verstehen mich nicht. Die Welt als ein begrenztes «Was kümmert es mich, ob er sich umbringt.»
Ganzes zu empfinden - das ist etwas Furchteinflößendes.»
Der Lift stieg ruckartig nach oben und fiel dann einen halben Meter.
Der Schirm wurde dunkel. Jake wandte sich an den Portier.
«Langsam», schrie Jake.
«Bei den meisten Hochhäusern gibt es auf dem Dach eine Seilwinde
«Was in Teufels Namen haben wir eigentlich vor, wenn wir vor sei-
für die Fensterputzer. Hier auch?»
nem Fenster sind? Nehmen wir mal an, er beschließt, sich nicht um-
«Klar», sagte er. «Aber sie ist seit zwölf Monaten nicht mehr benützt zubringen? Was ist, wenn er beschließt, statt dessen uns umzulegen?
worden. Ich weiß nicht, ob ich dem Ding mein Leben anvertrauen Was machen wir dann?» Stanley griff nach der Dienstwaffe. Jake
würde.» hatte die ihre schon gezogen. Der Lift bewegte sich jetzt gleichmä-

373 374
ßig. XQEHNDQQW$EHUQDFKGHUVFKUHFNOLFKHQ7DWKDWLKU:HUNQLFKWQXU
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«Wenn wir im siebten Stock sind, schießen wir das Glas aus den
Fenstern», sagte Jake. «Dann klettern wir rein.»
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«Mein Gott», murmelte Stanley und zitterte sichtlich.
Jake sah nach oben, von wo sie gekommen waren. Die Sonne spie- DEJHVFKORVVHQHQ 'LDORJ PLW 3URIHVVRU -DPHVRQ /DQJ ]XUFN]XIK
gelte sich als gewaltiger Feuerball in den getönten Fenstern der bei- UHQ6HLQH$UJXPHQWHVLHHULQQHUQVWDUNDQ'LQJHGLH.LHUNHJDDUG
den obersten Stockwerke. Einen Augenblick sah Jake Stanley und LUJHQGZDQQHLQPDOJHVFKULHEHQKDWZDUHQPLUZRKOYHUWUDXW,QGHU
sich als Sprengstoffspezialisten, die versuchten, eine riesige Atom- 7DWKDOWHLFKGLHVH:DKUKHLWHQIUYRQVHOEVWHYLGHQW
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bombe zu entschärfen. Die Bombe explodierte unter ihren Händen.
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Ein Windstoß wehte ihr Kühlung zu und ließ die Plattform schwan-
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ken. Stanley stöhnte. Sie erreichten den siebten Stock. Sie kniff die
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Augen zusammen und versuchte, durch das erleuchtete Fenster zu
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sehen, und als sie ihn endlich sah, war es, als werde ein Röntgenbild
vor ihren Augen entwickelt.
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6FKOLQJHVWHFNHQZHUGHPX‰DXFKHUGLH/HLWHUZHJZHUIHQQDFKGHP und Elastoplast bedeckt. Kaum hatte sich die Tür hinter Wittgen-
HU DXI LKU KLQDXIJHVWLHJHQ LVW (U PX‰ GLH 6lW]H GLHVHU (U]lKOXQJ steins Körper geschlossen, schaltete sich das blaue Laserlicht auf
EHUZLQGHQGDQQVLHKWHUGLH:HOWULFKWLJ dem Dach ein und begann seine Blitze in alle Himmelsrichtungen zu
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schleudern.
JHQ DEHU ZRYRQ PDQ QLFKW VSUHFKHQ NDQQ GDUEHU PX‰ PDQ Die Sanitäterinnen warfen vorsichtige Blicke auf Jake und das Mes-
VFKZHLJHQ ser, das sie noch immer in der Hand hielt. Eine von ihnen setzte an,

etwas zu sagen, aber dann warf ihre Kollegin ihr mit einem leichten
Kopfschütteln einen warnenden Blick zu, als wolle sie sagen, es sei
DAS SPRINGMESSER LAG NOCH offen in ihrer Hand. Die schar- wohl kaum angebracht, zu viele Fragen zu stellen. Ihre Aufgabe war
fe Klinge ragte wie ein silbern glänzender Daumennagel aus der es, den Patienten abzuholen und ins Krankenhaus zu bringen, sonst
Faust hervor. Sie hielt es mit ausgestrecktem Arm seitlich vor die nichts. Aber die Frau mit dem Messer sprach sie an.
Hüfte, so wie die Jets und Sharks der :HVW 6LGH 6WRU\ bevor der
«Wohin bringen Sie ihn?» fragte sie. «In welches Krankenhaus?»
Kampf beginnt. Aber dieser Kampf war vorüber. Zwei Sanitäterin-
nen hoben den leblosen Körper auf die Tragbahre und schnallten ihn Die eine Sanitäterin - sie war schwarz - zuckte die Achseln und griff
fest, als hätten sie Angst, er könne einfach aufstehen und fortgehen. nach dem Personalausweis des Mannes.
Nicht sehr wahrscheinlich, dachte Jake; nicht mit einer schweren
« Kommt auf seine Personalnummer an », sagte sie. «Ich habe sie
Quetschung der Luftröhre.
noch nicht durch den Computer gejagt. Der Strichcode verrät uns,
Sie war zufrieden mit ihrem Messer und hob es vor das Gesicht, um wo er gemeldet ist, und da bringen wir ihn dann hm.» Sie stieg auf
es näher zu betrachten. Es war ein spontaner Kauf gewesen, als sie den Fahrersitz.
letztes Jahr in Italien Urlaub machte. Einfach etwas, das sie in die
Jake deutete auf die zwei Männer, die nebenan im Polizeiwagen
Handtasche stecken konnte, um sich ein wenig sicherer zu fühlen,
warteten.
wenn sie keine Waffe trug. Fast war sie überrascht, daß sie es zu ei-
nem so gänzlich anderen Zweck gebraucht hatte. «Sehen Sie die beiden Polizisten da?» fragte sie die zweite Sanitäte-
rin.
Unten in der Eingangshalle waltete der Portier seines Amtes und
hielt die Tür für die Sanitäterinnen und ihren Patienten auf. Eine von «Ich sehe sie.»
ihnen löste die Bremse, schaltete die Fernsteuerung ein und ließ die
«Sie werden Ihnen folgen. Versuchen Sie, den Streifenwagen nicht
Bahre mit ihrer Fracht über den Flur zum Parkplatz rollen.
zu verlieren.»
Die Bahre prallte ein wenig heftiger als geplant auf die Hecktür des
«O. K. Wenn Sie es sagen.»
Krankenwagens auf und löste die elektrische Hebevorrichtung aus.
Ein Greifer packte den Patienten und zog ihn wie einen Müllsack in Jake sah zu, wie sie abfuhren. Stanley folgte ihnen im Streifenwa-
den Wagen. Die Karosserie war mit Werbesprüchen für Lucozade gen, und die Warnsirenen beider Autos heulten auf und pfiffen wie

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sexbesessene Bauarbeiter. Als sie sie aus dem Blick verloren hatte, Es war nicht das erste Mal, daß Jake diese Erfahrung machte. Sie
betrat Jake Winston Mansions wieder und stieg in den siebten Stock. wußte, daß ein Massenmörder ein Leben führen kann, das nach au-
Dort war bereits ein Motorradpolizist, der den Tatort zugleich mit ßen vollkommen unauffällig ist. Über die Gedanken in seinem Kop-
dem Krankenwagen erreicht hatte, damit beschäftigt, wißbegierige fe mußte man sich Sorgen machen, nicht über die
Mitbewohner zurückzuhalten. Esterhazys Wohnungstür stand offen.
Bilder an den Wänden oder die Trophäen in den Vitrinen. Das Böse
Jake betrat die Wohnung, setzte die Füße vorsichtig zwischen die
dekorierte sein Heim nicht immer mit schwarzen Samtvorhängen
Glasscherben der zertrümmerten Fensterscheibe und betrachtete den
und Aschenbechern aus Totenschädeln. Das Ungewöhnlichste in der
Anblick, der sich ihr bot.
ganzen Wohnung waren der durchschnittene Strick, an dem Esterha-
Die Wohnung war einfach und spartanisch eingerichtet und wies zy versucht hatte, sich aufzuhängen, und die Trittleiter, mit der er zu
keines der sensationellen Merkmale auf, die es einer Boulevardzei- der Schlinge hinaufgestiegen und die er dann mit einem Fußtritt um-
tung gestattet hätten, ihren Lesern das Seelenleben eines Massen- geworfen hatte; die Trittleiter, die nur ein oder zwei Minuten später
mörders unter dem Aspekt der Innendekoration zu präsentieren. Jake benutzt hatte, um hinaufzusteigen und ihn abzuschneiden. Es
Keine abgeschlagenen Köpfe kochten auf der Gasflamme vor sich war Jake, die Esterhazy künstlich beatmet, ihm den Kuß des Lebens
hin, es gab keine Folterkammer, keine Gemälde oder Fotografien gegeben hatte. Sein Geschmack lag noch auf ihren Lippen. Es war
von Leichen, keine Sammlung von Damenunterwäsche, keine abge- ein seltsamer Geschmack, vielleicht, weil er gefährlich war, weil er
zogene Menschenhaut, die auf einer Schneiderpuppe auf Nadel und ihr fremd war, aber zugleich hatte sie es genossen, ihm neuen Atem
Faden wartete, keine Vitrine, in der Pistolen und Messer wie Insek- zu schenken, als sei er ein ertrunkener Seemann oder Don Juan, den
ten und Spinnen ausgestellt waren. Es gab nur ein Bild, ein Porträt die Wellen ans Ufer ihrer Insel gespült hatten.
von Sir Winston Churchill. Da es genau zu dem Wandgemälde unten
Und wofür hatte sie ihn gerettet? Gut, daß ich nicht sentimental bin,
in der Eingangshalle paßte, nahm Jake an, daß es da gehangen hatte,
sagte sie sich. Denn sie wußte nur allzugut, welcher Zukunft sie ihn
seit Winston Mansions erbaut worden war. Esterhazys Spezialpistole
ausgeliefert hatte. Jake zündete sich eine Zigarette an und rauchte
hing noch in ihrem Schulterhalfter über einer Stuhllehne.
verärgert, denn nichts kann so unendlich irritierend sein wie die ei-
Gewiß, die farbliche Gestaltung von Esterhazys Wohnung war nicht genen Gedanken. Sie versuchte sich einzureden, das, was mit Witt-
nach Jakes Geschmack: ein königsblauer Teppich, schwarze Dek- genstein, nein, mit Esterhazy geschehen werde, gehe sie nichts an.
kenbalken und gelbe Wände. Blau und Gelb waren klassisch oppo- Sie hatte ihre Pflicht getan, wie das Gesetz es befahl, und sich dabei
nierende Farben, die einander als neuronale Sinneseindrücke entge- gegen die bemühten Anstrengungen fast aller, die sie umgaben,
gengesetzt waren, aber das deutete kaum auf die Manie eines geistig durchsetzen müssen.
gestörten Mörders hin. Die einfache und unwiderlegbare Tatsache
Was aus ihm wurde, dafür waren jetzt andere zuständig: Anwälte,
war, daß Esterhazys Wohnung genauso wenig darüber verriet, was
Richter, Psychotherapeuten und vermutlich auch Politiker. Vielleicht
ihn zum Massenmörder gemacht hatte, wie das der Kaffeesatz oder
würde es ihm gelingen, wegen Geisteskrankheit für schuldunfähig
die Tarotkarten getan hätten. Wie normal das alles aussah, und wie
erklärt zu werden. Sie erinnerte sich, ihm medizinische Betreuung
anormal es durch den Mann wurde, der hier gewohnt hatte!
versprochen zu haben. Also würde sie sich darum kümmern müssen,
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daß ein anderer Gerichtspsychiater als Professor Waring ihn unter- ließen die Masse ständig anwachsen. Die Stimmung war ruhig, aber
suchte. Vielleicht konnte man ja für das Plädoyer auf Unzurech- eine kleine Einheit der Bereitschaftspolizei hielt sich für alle Fälle
nungsfähigkeit die Tatsache benutzen, daß in der medizinischen und bereit.
psychiatrischen Fachpresse mehrere Artikel erschienen waren, die
Jake hatte den Verkehr falsch eingeschätzt und war zu früh gekom-
allein auf Grund seiner Schriften zu dem Schluß gekommen waren,
men. Sie parkte ihren Wagen in einem nahe gelegenen Gartenzen-
der richtige Wittgenstein habe unter einer bipolaren Affektstörung
trum und kaufte, weil sie ohnehin warten mußte, ein paar Geranien
gelitten, dem, was man früher eine manisch-depressive Psychose ge-
für die Fensterbank. Während sie darauf wartete, daß der Verkäufer
nannt hätte.
ihre Kreditkarte belastete, fiel ihr ein, daß sie ein paar Blumen für
Es war ganz einfach: Jetzt, wo sie ihre Pflicht erfüllt hatte, war Jakes Esterhazy kaufen könne, daß er vielleicht für etwas Farbe in den
aufrichtigste Hoffnung nicht, der Staatsanwaltschaft zu einer was- letzten Stunden seines bewußten Lebens dankbar wäre. Sie sah sich
serdichten Anklage gegen Esterhazy zu verhelfen, sondern daß es um, und da sie nichts sah, das nicht im Boden verwurzelt gewesen
ein besseres Ende für ihn geben möge als eine eiskalte Nadel in einer wäre, fragte sie den Verkäufer nach Blumen. Er kicherte und zeigte
Vene. Das Gefühl war ihr neu. Normalerweise war es ihr recht auf den Hof, wo Hunderte von Pflanzen in voller Blüte standen.
gleichgültig, was aus den Männern wurde, die sie festnahm. Aber
«Für was halten Sie das da?» fragte er höhnisch.
Esterhazy glich auch keinem anderen Mann, den sie je gekannt hatte.
«Nein, ich meine Schnittblumen.»
Das war es, was sie hoffte. Aber im tiefsten Herzen wußte Jake, daß
es anders enden würde. Im tiefsten Herzen hatte sie immer gewußt, Das Grinsen des Mannes wurde bösartig. «Das hier ist ein Garten-
daß es anders enden würde. zentrum», sagte er. «In Gärten wachsen Dinge. Verstehen Sie?
Wenn Sie Schnittblumen suchen, würde ich vorschlagen, daß Sie an
Sie setzte sich an Esterhazys Schreibtisch. Sie warf einen Blick auf
den Friedhof in der Magdalen Road gehen. Da werden Sie Schnitt-
die komplizierte Computerausrüstung und dann auf den RA-Anzug
blumen finden. Obwohl ich persönlich ja nicht verstehen kann, wie
aus schwarzem Gummi, der wie ein abgelegter Schatten auf einer
jemand etwas abschneiden kann, das wächst.»
Spezialliege lag. Wenn er sich mit dieser Art von Scheiße beschäf-
tigt hat, sagte sie sich, kann man überhaupt nicht mehr wissen, was «Ersparen Sie mir die Botanikvorlesung», sagte Jake und wählte ei-
in Esterhazys Kopf vor sich gegangen ist. Manche Forscher behaup- ne Hyazinthe, eine rotblühende Neuzüchtung, aus einem nahe ste-
teten, bei lang andauerndem Gebrauch sei RA genauso gefährlich henden Kasten aus.
wie LSD. Dann bemerkte sie zwei Notizbücher auf dem Schreib-
«Nehmen Sie die nicht», riet ihr der Verkäufer. «Die steht schon voll
tisch, ein braunes und ein blaues. Ihre Neugierde erwachte, und sie
in Blüte. Sie wird in ein oder zwei Tagen welken. Nehmen Sie lieber
schlug das Braune Buch auf.
eine, die noch Knospen hat.»
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Jake schüttelte den Kopf. Noch ein Tag, und für Esterhazy würde es
Vor dem Gefängnis in Wandsworth hatte sich eine Menschenmenge zu spät sein. «Nein, die hier ist schon in Ordnung.»
gesammelt. Es war früher Abend, und Menschen auf dem Heimweg
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«Wie Sie wollen», sagte der Mann. Der Wärter zuckte die Achseln. «Wie die Dinge stehen, nehme ich
an, ja. Ich werde einen meiner Leute rufen, damit er Sie in den neuen
Sie legte die Geranien in den Kofferraum und ging weiter zum Ge-
Flügel führt.»
fängnistor. Ihr Auto war da, wo es stand, wahrscheinlich besser auf-
gehoben als vor dem Gefängnis. Es könnte ja sein, daß jemand auf «Machen Sie sich keine Mühe. Ich kenne den Weg.»
«Auch gut», sagte der Wärter und kehrte zur Lektüre der 1HZVRIWKH
die Idee kam, sie gehöre zum Gefängnispersonal, und die Reifen
:RUOGvon gestern zurück. Auf der Titelseite prangte das Bild eines
aufschlitzte. Die Sonne ging unter, aber sie behielt die Sonnenbrille
auf, weil sie nicht erkannt werden wollte. Das Fernsehen hatte aus-
verwirrt wirkenden Esterhazy unter der Schlagzeile: MORGEN:
giebig über die Verhandlung gegen Esterhazy und ihre Rolle bei sei-
HEISSE NADEL FÜR DEN PSYCHOMÖRDER.
ner Verhaftung berichtet. Aber von der roten Blume getäuscht, die
sie in der Hand hielt, schenkte ihr die Menge keine Beachtung. Nicht Jake verzog das Gesicht und ging schnell weiter. Wie in den meisten
viele Polizeibeamte oder Angehörige des Innenministeriums kamen Gefängnissen war auch in Wandsworth der Strafkomaflügel ein
mit Blumen in der Hand zum Wandsworth-Gefängnis. Sie hatte ih- Neubau. Er hatte sogar einen Preis des Europäischen Architekten-
ren Personalausweis vorgezeigt und das Tor passiert, bevor die De- vereins gewonnen. Der SK-Flügel trug eine große Kuppel aus dem
monstranten merkten, daß es sich geöffnet und wieder geschlossen gleichen roten Backstein wie die viktorianischen Mauern, die ihn
hatte. umgaben, und sah von außen aus wie eine Sternwarte, von innen wie
eine Bibliothek. Stahlbetonträger stützten eine Fensterecke, die von
«Sind Sie gekommen, um beim Nadelstich zuzusehen?» fragte der
unten wie das Auge Gottes aussah. Rund um die kreisförmigen In-
Wärter, der ihren Personalausweis immer noch in den behandschuh-
nenwände verteilt waren große Schubladen. Wie im Leichenschau-
ten Händen hielt.
haus lagen in den meisten davon die Körper von Strafgefangenen im
Sie bejahte, und der Wärter griff zum Computer. Koma.
«Einen Augenblick, bis ich Sie auf der Gästeliste gefunden habe», Die Luft in dem künstlich belüfteten Strafkomaflügel war kälter als
sagte er. Er grinste in sich hinein, als sein Finger eine der Tasten draußen. Jake, die ein leichtes Sommerkostüm aus Leinen trug, frö-
drückte. Der Computer tickte wie ein Geigerzähler und warf eine stelte. Sie beschleunigte den Schritt, als sie den Boden unter dem
lange Namensliste aus. «Schließlich wollen wir keine ungeladenen Kuppelauge überquerte und auf die Vorbereitungszellen zuging.
Gäste haben. Jawohl, Sie stehen drauf, gnädige Frau.» Er warf einen
Beim Anblick einer halb geöffneten Schublade - sie war nur wenig
Ungewissen Blick auf die Topfpflanze.
größer als ein Sarg - hielt sie inne. Neugierig blieb sie stehen und
Jake fragte sich, ob er sie nach Drogen oder dergleichen durchsu- sah sich die Schublade genauer an. Um Durchliegen zu vermeiden,
chen werde. war der Boden mit weichem schwarzem Kalbsleder ausgeschlagen.
An den Seiten waren eine Reihe von Röhren und Kathetern ange-
«Ist die für ihn?» fragte er.
bracht, die an den Körper des Strafgefangenen angeschlossen wer-
«Ja. Geht das in Ordnung?» den sollten. Auf der Stirnseite der Schublade waren ein flacher klei-
ner Schirm zur Kontrolle der Körperfunktionen und ein Magnet-
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schloß angebracht, damit niemand an den Bewohner der Schublade anders als damals, als es die Todesstrafe noch gab. Heutzutage hofft
herankonnte. Jakes Frösteln stieg zur Kinnlade auf. Sie rieb sich die niemand mehr auf eine Begnadigung im letzten Augenblick. Der
nackten Arme und ging schnell weiter. Anruf aus dem Innenministerium, der ein Todesurteil in lebensläng-
liche Haft umwandelt, gehört der Vergangenheit an, denn selbstver-
In einem Vorraum vor der Zelle, in der Esterhazy die wenigen
ständlich gibt es so etwas wie lebenslängliche Gefängnisstrafe nicht
verbleibenden Stunden seines bewußten Lebens verbrachte, hatte
mehr. Ich habe vorhin mit dem Gefängnisdirektor gesprochen, und
sich eine kleine Besuchergruppe versammelt. Die meisten Gesichter
er hat mir erzählt, daß Paul Esterhazy gegen fünf Uhr eine leichte
kannte sie aus dem Innenministerium und dem Institut für Gehirn-
Mahlzeit zu sich genommen hat. Ein Gespräch mit dem Gefängnis-
forschung: Mark Woodford, Professor Waring, Grace Miles. Zum
seelsorger hat er abgelehnt. Seitdem vertreibt er sich, soweit das be-
erstenmal waren auch Fernsehkameras zur Berichterstattung zuge-
kannt ist, seine letzten Stunden vor dem Fernseher.»
lassen. Eine erfolgreiche Eingabe an den Obersten Gerichtshof hatte
damit argumentiert, daß den anderen Medien dieselben Rechte zu- «Vielleicht verfolgt er dann ja unsere Sendung, Anna. Bisher wissen
stehen sollten wie den Tageszeitungen. wir immer noch recht wenig über die Gründe, die Esterhazy zu sei-
nen entsetzlichen Verbrechen getrieben haben. In der Verhandlung
Jake hielt inne, um zu sehen, was ITN vorhatte, und ihr Interesse
war andeutungsweise die Rede von geistiger Verwirrung durch ge-
wuchs, als sie feststellte, daß Anna Kreisler das Programm mode-
wohnheitsmäßigen Gebrauch von RA-Programmen. Hat Esterhazy
rierte. Anna war die Frau gewesen, von der der Massenmörder Da-
selbst irgend etwas darüber gesagt, was es war, das ihn zum Mas-
vid Boysfield besessen war; und über diesen Fall hatte Jake ihren
senmörder gemacht hat? Zeigt er irgendwelche Anzeichen von
Vortrag im Europäischen Kriminalamt gehalten, als ihr die Ermitt-
Reue?»
lungen im Fall Wittgenstein übertragen worden waren. Das alles
kam ihr vor, als sei es vor langer Zeit geschehen. «Nein, er bereut nichts, Peter. Natürlich wissen wir jetzt, daß diese
Morde vor dem Hintergrund des Lombrosoprogramms begangen
Anna Kreisler stellte ein elegantes Chanel-Kostüm und die ein we-
worden sind und daß Esterhazy ebenso wie viele seiner Opfer den
nig künstlich wirkende Schönheit und Munterkeit der idealen Ste-
Namen eines berühmten Philosophen als Decknamen trug. Esterhazy
wardess zur Schau und beantwortete die Fragen eines unsichtbaren
selbst hat in Oxford studiert und wurde wegen Drogenmißbrauchs
Redakteurs im Studio. Die Tatsache, daß sie sich hier im Gefängnis
relegiert. Einige Kommentatoren sind der Ansicht, das könne bei
und nicht wie üblich hinter ihrem Schreibtisch im Studio befand, un-
ihm einen Haß auf Intellektuelle im allgemeinen und auf Philoso-
terstrich die Bedeutung, die ITN dem Bericht beimaß.
phen im besonderen geweckt haben. Ein bizarres Zusammentreffen
«Wie ist die Stimmung bei Ihnen in Wandsworth, Anna?» hegt auch darin, daß Esterhazy wie der richtige Ludwig Wittgen-
stein, dessen Name sein Deckname war, aus einer reichen deutsch-
«Nun, Peter, Sie werden sich wohl vorstellen können, daß die Stim-
österreichischen Familie stammt und eine Zeitlang in der Kranken-
mung gespannt ist. Eine beträchtliche Menschenmenge hat sich vor
hausapotheke in Guy' s gearbeitet hat. Das soll eines der Argumente
dem Gefängnis versammelt, um gegen die Strafvollstreckung an
gewesen sein, die in dem erfolglosen Antrag, ihn wegen Schizo-
Paul Esterhazy zu protestieren. Zwar steht eine Polizeieinheit in Be-
phrenie für unzurechnungsfähig zu erklären, angeführt wurden.»
reitschaft, aber es werden keine Unruhen erwartet. Das ist alles ganz
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«Anna, Sie haben mit einer Menge Leute gesprochen, die Esterhazy werte Abgeordnete Tony Bedford, haben behauptet, das Lombroso-
kennen. Was für ein Mensch ist er?» programm stelle einen Eingriff in die Privatsphäre dar und solle des-
halb gestoppt werden. Aber ich glaube kaum, daß das geschehen
«Alle, die ihn kennen, sind sich darüber einig, daß er hochintelligent
wird, Peter. Schließlich hat der Europäische Gerichtshof bereits fest-
ist, Peter. Belesen, gebildet, geschickt im Umgang mit Computern.
gestellt, das Programm, dessen Schwerpunkt auf der Betreuung und
Er war auch an seiner Arbeitsstätte beliebt. Viele Leute, die ihn in
Beratung von Personen liegt, die eine angeborene Neigung haben,
Guy' s kennengelernt haben, sagen, er sei ein netter Mensch und sehr
aggressive Störungen zu entwickeln, stelle keine Verletzung der
höflich, der stille Gelehrtentyp, der keiner Fliege etwas zu leide tun
Menschenrechte dar. Dennoch werden tiefgreifende Veränderungen
kann. Aber zugleich scheint er eher einsam und verloren gewesen zu
notwendig werden, und dies nicht zuletzt, wo es um Vorschriften des
sein. Wir wissen, daß er sich mit seinen Eltern überwerfen hatte, und
Datenschutzes geht, und man hört, daß Köpfe rollen werden. Aber
bisher gibt es auch keine Anzeichen dafür, daß sie sich in letzter Mi-
bis die Ergebnisse der offiziellen Untersuchung vorliegen, wissen
nute wieder versöhnen wollen. Nach Aktenlage war er auch eine
wir nicht, wie die Sicherheitsvorkehrungen umgangen worden sind
Zeitlang verheiratet, aber seine Frau hat sich scheiden lassen und ih-
und wen man dafür verantwortlich machen wird. Natürlich ist das
ren Namen geändert. Bisher ist es uns nicht gelungen, sie aufzufin-
Programm bis zur Klärung aller Fragen suspendiert.
den.»
Ich begrüße jetzt die Staatssekretärin für Polizeifragen, Mrs. Grace
« Also bleibt Esterhazy selbst jetzt, wo er sich in Haft befindet und
Miles. Mrs. Miles, was sagen Sie zu den Vorwürfen gegen das
auf den Strafvollzug wartet, in vieler Hinsicht rätselhaft?»
Strafkomaprogramm? Es wird ja behauptet, es handle sich dabei um
«In der Tat, Peter. Für viele Leute ist es einfach frustrierend, daß wir eine grausame und ungewöhnliche Strafe, die nicht in eine zivilisier-
nicht mehr über ihn herauskriegen können, wenn die Strafe heute te Gesellschaft passe.»
vollzogen wird. Aber fairerweise muß man auch sagen, daß Esterha-
Mrs. Miles lächelte ein wenig gequält.
zy sich wohl auch selbst ein Rätsel ist. Besonders während des Pro-
zesses hat es Gelegenheiten gegeben, wo es so aussah, als sei er un- «Zunächst, Mrs. Kreisler, möchte ich einer Bemerkung widerspre-
fähig, zwischen Realität und angenäherter Realität zu unterscheiden. chen, die vorhin über das Lombrosoprogramm gemacht wurde. Das
Sie haben das ja wohl schon erwähnt. Deshalb glauben viele Leute, Lombrosoprogramm ist nicht nur ein Teil der Politik dieser Regie-
der richtige Ort für Paul Esterhazy sei nicht eine Schublade im rung. Es ist ein Teil der Verbrechensverhütungspolitik der Europäi-
Strafvollzug, sondern ein Krankenhaus für gemeingefährliche Gei- schen Gemeinschaft, wie sie von allen Mitgliedsstaaten des Europäi-
steskranke.» schen Parlaments beschlossen worden ist. Es ist der reine Zufall, daß
es in Großbritannien zuerst eingeführt wurde.
« Sie haben das Lombrosoprogramm der Regierung erwähnt, Anna.
Was für eine Bedeutung, meinen Sie, wird das alles für das Pro- Was nun Ihre Frage zum Strafkoma angeht, möchte ich das folgende
gramm und für andere Bereiche der staatlichen Ordnungspolitik ha- sagen: Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, daß es weder
ben?» grausam noch ungewöhnlich ist. Diese Strafform existiert in den
Vereinigten Staaten seit mehreren Jahren und hat sich in mancherlei
«Kritiker der gegenwärtigen Strafpolitik, insbesondere der ehren-
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Hinsicht bewährt und als vorteilhaft erwiesen. Auf Einzelheiten er. «Jedenfalls: Gut gemacht, meine ich, daß Sie den armen Typ er-
möchte ich jetzt nicht eingehen. Ich halte dies nicht für die richtige wischt haben. Sie nehmen mir doch nichts übel?»
Gelegenheit. Aber soviel möchte ich doch über seine Gegner sagen:
Jake schüttelte den Kopf. «Ich habe nur meine Pflicht getan.»
Sie versetzen mich immer wieder in Erstaunen dadurch, daß sie in
dieser Debatte genau die gleichen Argumente verwenden, die sie «Richtig. Wir haben ja alle nur das Beste gewollt, nicht wahr? Übri-
schon gegen die Wiedereinführung der Todesstrafe vorgebracht ha- gens, Glückwunsch zu Ihrer Beförderung. Wie ich höre, sind Sie
ben. Ich war und bin weiterhin eine Gegnerin der Todesstrafe. Aber jetzt Chefin der Mordkommission.»
jedermann hatte das Gefühl, in einigen Fällen, so wie etwa diesem,
«Nur vorübergehend», sagte Jake, «bis sich ein Nachfolger für Chal-
sei eine härtere Bestrafung als Haft erforderlich. Ich glaube, daß das
lis findet.»
Strafkoma diese Anforderung hervorragend erfüllt. Und das beste
Argument für das Strafkoma als äußerste Sanktion ist, daß da, wo Woodford senkte die Stimme. «Ach, mich würde es nicht überra-
Fehler gemacht werden - und wir müssen uns der Tatsache stellen, schen, wenn Sie den Posten auf Dauer hätten», sagte er. «Der Staats-
daß jedem System Fehler unterlaufen können -, ein Urteil wieder- sekretärin gefällt Ihre Art.»
aufgehoben werden kann. Hier möchte ich nur noch sagen, daß in
Jake warf einen Blick über die Schulter auf Mrs. Miles, die sich im-
diesem Fall wohl kein Zweifel bestehen kann.
mer noch mit Anna Kreisler unterhielt.
Ich meinerseits begrüße übrigens die Anwesenheit von Kameras,
«Ich kann nicht behaupten, daß mir ihre Art besonders sympathisch
wie wir sie hier und heute erleben. Die Öffentlichkeit hat ein Recht,
ist.» Sie schüttelte den Kopf. «Eigentlich mag ich auch meine eigene
über die Strafen informiert zu werden, die in ihrem Namen verhängt
Art nicht besonders. Jedenfalls nicht, wenn ich einem Zirkus wie
und auf Kosten des Steuerzahlers vollzogen werden, solange die Ge-
dem hier beiwohnen muß.» Jake ging auf den Gefängnisdirektor zu.
sichter derjenigen, die bei der Vollstreckung mitwirken, unkenntlich
gemacht werden können. Meiner Meinung nach handelt es sich bei «Vergessen Sie eins nicht: Sie haben die Zugnummer entdeckt.»
dieser Form von Berichterstattung um einen wertvollen Dienst, der
der Öffentlichkeit erwiesen wird.» «Wie gesagt, Woodford, ich habe nur meine Pflicht getan.»

Allmählich konnte Jake nicht mehr zuhören, wie geschickt und ma- «Haben Sie schon gehört, daß Dr. St. Pierre zurückgetreten ist?»
nipulativ Mrs. Miles die Pressefreiheit verteidigte. Langsam verließ Jake verneinte.
sie den Bereich, der im Kameralicht stand. Sie war überrascht, als
Mark Woodford ihr folgte. Sie hatte ihn seit «Aber ja doch. Es ist noch nicht öffentlich bekannt. Aber irgendein
Kopf mußte rollen, nach allem, was geschehen war, und ich fürchte,
dem Tag nicht mehr gesehen, an dem Waring und er versucht hatten, St. Pierre war das ideale Opfer. Es gibt jetzt einen neuen Sicher-
ihre Zustimmung zu Sir Jameson Längs Versuch zu finden, Wittgen- heitschef. Er will die gesamte Vorgehensweise ändern, bevor das
stein zum Selbstmord zu überreden. Programm in der Europäischen Gemeinschaft eingeführt wird, damit
«Bin noch gar nicht dazu gekommen, mit Ihnen zu sprechen», sagte es keine Probleme mit nicht-autorisiertem Zugang mehr gibt. Und
wenn das Ganze endlich funktioniert, wird es ja wohl auch Ihren Be-
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ruf viel leichter machen.» haften. Sie sagte nichts. Er stand auf, nahm ihr den Blumentopf aus
den zitternden Händen und stellte ihn auf den Tisch neben dem
Jake schenkte ihm ein sardonisches Lächeln. «Das frage ich mich»,
Fernseher.
sagte sie. «Bitte, entschuldigen Sie mich jetzt.»
«Wie freundlich von Ihnen, mir eine rote Blume zu bringen», sagte
Sie ging zum Gefängnisdirektor und fragte, ob sie Esterhazy ein paar
er. Mit weit geöffneten Nüstern schob er sein ganzes Gesicht in die
Minuten allein sprechen könne.
Blüte und schloß die Augen.
Der Direktor blickte erst die Blume, dann Jake an.
Jake hörte, wie er tief durch die Nase einatmete und den süßen Duft
«Was soll die Pflanze?» fragte er mißtrauisch. der Blume genoß. Er wiederholte den Akt mehrmals, bevor sich sei-
ne Augen wieder öffneten. Er blickte Jake an, und ein neckischer
«Die ist für Esterhazy», erklärte sie. «Er soll etwas Schönes sehen
Ausdruck lief wie eine Schweißperle über seine Stirn.
und riechen, bevor er ins Koma fällt.»
«Würden Sie den Befehl <Bringen Sie mir eine rote Blume!> so aus-
«Wahrscheinlich ist das gegen die Vorschriften. Aber unter den Um-
führen, daß Sie die Farbe Rot in einer Farbentabelle aufsuchen und
ständen ist es wohl in Ordnung. Hier entlang bitte.»
dann eine Blume bringen von der Farbe, die Sie in der Tabelle fin-
Als Jake die Zelle betrat, saß Esterhazy, von zwei Wärtern aufmerk- den?»
sam beobachtet, vor dem Fernseher. Mit gefesselten Händen saß er
Jake schüttelte den Kopf. «Nein», sagte sie.
aufrecht auf einem Stuhl und war in die Berichterstattung über seine
eigene Bestrafung versunken. Als er Jake sah, wandte er sich ihr zu «Aber wenn es sich darum handelt, einen bestimmten Ton von Rot
und lächelte. zu wählen oder zu mischen, dann geschieht es, daß wir uns des Mu-
sters oder einer Tabelle bedienen?»
«Ah, das Hyazinthenmädchen», sagte er. «Wissen Sie, Farbe ist das,
was mir am meisten fehlen wird. Meiner Erfahrung nach träumt man «Ja, manchmal tun wir das», stimmte sie zu.
nur schwarzweiß.»
«Nun», sagte Esterhazy und steckte seine leicht geschwungene Nase
Esterhazy wirkte älter und distinguierter, als Jake ihn aus der Ver- wieder in die Blüte, «dann kann man sagen, daß Erinnerung und As-
handlung in Erinnerung hatte. Nahezu erhaben. Wie jemand, den die soziation im Kontext eines Sprachspiels zusammenwirken.»
trivialen Gedanken seiner Mitmenschen leicht ermüden. Seine kör-
«Sie spielen immer noch Spiele? Auch jetzt noch?»
perliche Ähnlichkeit mit dem richtigen Wittgenstein war überra-
schend. Nur daß er sportlicher, ja sogar kräftiger wirkte, als sie es «Warum nicht?» Er spitzte den Mund und sah auf das Fernsehbild.
sich vorgestellt hatte. Überdies umgab ihn eine Aura elektrischer In- «Da ich es doch bin, der zum Gegenstand von etwas gemacht wird,
telligenz, wie sie Dr. Frankenstein angestrebt haben könnte, als er das man als Spiel begreifen kann, wenn der Begriff auch an den
sein berühmtes Geschöpf schuf. Er sprach ein wenig theatralisch, Rändern etwas vage ist. Ja, ich weiß, was Sie denken. Sie fragen
wie eine Figur aus einem viktorianischen Drama. Seine ruhelosen sich, ob ein vager Begriff überhaupt ein Begriff ist. Ist eine unschar-
Augen blieben ein paar Sekunden an der Blume in Jakes Händen fe Fotografie überhaupt das Bild eines Menschen? Ist ein Mensch,
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der weder ganz tot noch ganz am Leben ist, überhaupt ein Mensch?» «Überraschung», sagte er. «Lesen Sie in ein paar Stunden auf meiner
Schublade nach.»
«Ich weiß nicht», sagte Jake. «Vielleicht.»
«Es tut mir leid, das alles... wirklich.»
Er grinste. «Und vielleicht auch wieder nicht. Mir kommt es vor, als
werde ich eher einer Pflanze ähneln. Haare und Fingernägel werden Er schüttelte abwehrend den Kopf. «Werden Sie mir einen Gefallen
gelegentlich gestutzt. Man wird mich gießen und das Unkraut rup- tun?»
fen. In regelmäßigen Abständen werde ich auf Ungezieferbefall
«Wenn ich kann.»
überprüft. Aber ich werde im wesentlichen jeder Bedeutung beraubt
sein, die über das Symbolische hinausgeht.» «Wie ich höre, darf man jemanden, der im Koma liegt, besuchen.
Die Gärtner sagen, wenn man mit einer Pflanze spricht, gedeiht sie.
«Sie haben Menschen getötet.»
Werden Sie gelegentlich kommen und mit mir sprechen?»
Er zuckte schnell die Achseln. «Ich beneide Sie.» Sein Grinsen wur-
Jake zuckte die Achseln. «Was soll ich sagen?»
de breiter. «Ich nehme an, ich verdanke Ihnen mein Leben. Aber sa-
gen Sie mir eins, für was haben Sie es gerettet?» «Nennen Sie Dinge. Sprechen Sie über sie. Beziehen Sie sich
sprachlich auf sie. Als gäbe es nur ein Ding mit dem Namen <Über
«In meinem Spiel gibt es auch Spielregeln», sagte Jake. «Wenn die
ein Ding reden>. Sprechen Sie mit mir wie ein kleines Mädchen, das
Regeln vage sind, ist es kein richtiges Spiel. Ausgerechnet Sie soll-
mit seiner Puppe spricht. Das sind Sie mir dafür schuldig, daß Sie
ten das wissen.»
mein Leben gerettet haben. Werden Sie es tun?»
Er seufzte und nickte mit dem Kopf. «Ja, ich glaube, Sie haben
«Ich habe Puppen nie besonders gemocht», sagte Jake, «aber für Sie
recht.» Das Lächeln kehrte wieder. «Wissen Sie, damit, daß Sie mir
bin ich bereit, eine Ausnahme zu machen.»
diese kleine Hyazinthe gebracht haben, haben Sie mir einen großen
Gefallen erwiesen. Ich habe verzweifelt nach einem Schlußvers von Ihr Versprechen schien ihn zu erleichtern.
weniger als 200 Anschlägen für den Bildschirm auf meiner Schubla-
Schließlich fragte sie ihn, warum er es getan habe. Was hatte ihn da-
de gesucht. Eines der letzten Privilegien, die der Verurteilte genießt.
zu veranlaßt, all diese Männer zu töten?
Sehr großzügig. Die Herren hier haben mir die Texte einiger anderer
Verurteilter vorgelesen und gehofft, ich werde mich für etwas Pas- Die hellen Augen blickten zum Himmel auf. Plötzlich sprach er mit
sendes entscheiden.» Er stöhnte und rollte mit den Augen. «Natür- amerikanischem Akzent.
lich sind die meisten davon unmöglich sentimental. Der durch-
«Meine Motivation?» Er lächelte lakonisch. «Also wirklich, das kam
schnittliche Kriminelle zeichnet sich durch schlechten Stil aus, be-
alles aus meiner inneren emotionellen Erfahrung, denke ich mir, die
sonders wenn es darum geht, wie man seiner gedenken soll. Aber
ich durch das Medium der Improvisation entdeckt habe.» Er schüt-
Sie und Ihre Blume waren mir eine Inspiration. Ich danke Ihnen.»
telte den Kopf. «Motivation... mein Gott, das klingt nach Lee Stras-
«Was für einen Text haben Sie gewählt?» berg und der New Yorker Schauspielschule. Diese Frage stellen die
Leute einem Mörder immer, Jake. <Sagen Sie, Coady, warum haben
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Sie das getan? Was hat Sie dazu gebracht, diese ganzen Frauen um- man nur noch der Logik verantwortlich. Und wenn ein anderer be-
zubringen?) Man wird es müde, ständig die gleiche Frage gestellt zu hauptet haben könnte, Gott habe ihn dazu veranlaßt, kaltblütig zwölf
kriegen und keine rechte Antwort zu wissen. Peinlich für den Mör- Menschen zu töten, dann sage ich, daß ich nicht der Stimme Gottes
der. Man ruiniert sein Leben und hat nicht einmal eine vernünftige gehorcht habe, sondern der Stimme der Logik. Ich vernahm die
Erklärung dafür. Also denkt man sich nach einiger Zeit eine Erklä- Stimme der Logik und der Diener der Vernunft und unterlag dem
rung aus, nur um die Leute loszuwerden. Und was sagen die Mörder Zwang zu töten.» Er lächelte verkniffen. «Es ist nur eine andere Art
dann? <Ich hatte eine Vision Christi und all seiner Engel, die es mir von Wahnsinn, sonst nichts.
befahlen.> Oder: <Die Stimme Allahs hat zu mir gesprochen und
Aber Sie haben doch die Notizbücher gelesen, nicht wahr?» Er zuck-
mir befohlen, die Ungläubigen zu erschlagene Aber wissen Sie, das
te ausdrucksvoll die Achseln. «Was meinen Sie? Sie sind die Detek-
ist eine Erklärung, die bis in die Anfänge der Menschheitsgeschichte
tivin. Es waren Ihre Ermittlungen. Sie haben mich erwischt. Sie
zurückgeht. Als erster hat sich Abraham darauf berufen: <Gott hat
müssen die Antworten kennen. Sie haben einer Welt die moralische
mir befohlen, meinen Sohn Isaak zu töten, und ich wollte es gerade
Ordnung wiedergegeben, die durch meine Verbrechen vorüberge-
tun.> Abraham hat Glück gehabt, daß er seine Stimme rechtzeitig
hend gestört war. Wie ungemein shakespearisch von Ihnen, Jake.
noch einmal gehört hat und nicht zum Mörder geworden ist.
Vielleicht sollte ich es sein, der die Fragen stellt. Also, was halten
Wenn wir heute davon ausgehen, daß ein Mörder das, was er sagt, Sie davon, Frau Chefinspektor?»
für wahr hält, dann wird diese religiöse Verteidigung zum Beweis
Jake zuckte die Achseln. «Meines Erachtens wäre jede Wiederher-
für seine Unzurechnungsfähigkeit. Und wenn wir ihn für einen
stellung der Weltordnung, wie Sie sie beschreiben, illusorisch», sag-
Schwindler halten und glauben, daß seine Stimme eine Lüge ist,
te sie. «Und mit Illusionen sollten Sie sich auskennen, Paul. Sie ha-
dann kommt er an die Nadel. Aber wie wir sie auch beurteilen, eine
ben Ihr halbes Leben mit dieser Reality-Approximation-Maschine
derartige Erklärung dafür, daß jemand so abscheuliche Verbrechen
verbracht. Selbst jetzt könnten Sie sich vorstellen, daß Sie immer
begeht, ist für uns generell verständlich. Es ist keine besonders ori-
noch in ihrem RA-Anzug stecken. Wenn ich überhaupt eine Erklä-
ginelle Erklärung, aber wir können uns leicht vorstellen, daß es eine
rung habe, dann die, daß Sie nicht mehr zwischen dem Wirklichen
außerordentliche Erklärung geben muß, wenn jemand etwas so Ab-
und dem Unwirklichen unterscheiden können. Aber darin sind Sie
scheuliches tut wie seine Mutter und seinen Vater und sein eigenes
gar nicht so anders als eine Menge von Menschen. Niemand mehr ist
Schoßhündchen umzubringen. In einem Sinne ist das wohl über-
sehr an Wirklichkeit interessiert. Vielleicht war das schon immer so.
haupt die einzige Erklärung, die Menschen verstehen können.»
Würden Sie das eine moralische Weltordnung nennen? Wenn Sie
Esterhazy lächelte versonnen und schien einen Augenblick abwe-
mich fragen, ich kann nicht viel entdecken, das im Lot wäre. Und
send.
diese Ermittlung war nichts als der Versuch, Aufschub zu erwirken.
«Aber wenn Sie nach einer Erklärung suchen, die unserer modernen Bis zum nächsten Mal.»
Zeit angemessener ist, Jake, dann kann ich Ihnen eine liefern. Wenn
Danach sagten sie nicht mehr viel. Eine kurze Zeit saß sie schwei-
das Charakteristikum des Glaubens das Fehlen von Logik ist, dann
gend neben ihm und erlaubte ihm, ihre Hand zu halten. Sie versuchte
gilt auch das Gegenteil. Wenn man an nichts mehr glaubt, dann ist
sich zu erinnern, wann das letzte Mal ein Mann ihre Hand gehalten
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hatte. Ihr Vater hatte versucht, ihre Hand zu halten, als er im Kran- /DQGSie folgen unmittelbar auf das Hyazinthenmädchen.
kenhaus im Sterben lag, und sie hatte sie weggezogen. Heute lagen
Voll deine Arme, dein Haar naß, mir versagte
die Dinge anders. Sie hatte aufgehört zu hassen. Jetzt war die Zeit,
Mitleid zu empfinden, mitzufühlen, vielleicht sogar zu lieben. Die Stimme, meine Augen trübten sich, ich starb nicht
Für die wenigen verbleibenden Minuten ließ sie ihn allein. Sie hätte Und konnte auch nicht leben, war fassungslos
das Gefängnis verlassen, wenn sie es gekonnt hätte. Sie verabscheu-
Und sah in das Lichtherz, die Stille.
te das, was nun folgen sollte. Aber die gesetzlichen Regelungen aus
dem Jahre 2005 verlangten im Mordfall, daß sie als Leiterin der Er- Öd und leer das Meer.
mittlungen bei der Vollstreckung des Urteils anwesend zu sein hatte.
Jake wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel, nahm die Hya-
Unter den Augen von fast zwanzig Anwesenden, von den Millionen, zinthe an sich und trat hinaus in die Sonne.
die im Fernsehen zusahen, ganz zu schweigen, ging Esterhazy seiner
Bestrafung so mutig entgegen, wie dies möglich war, wenn man da-
von ausgeht, daß er bereits angeschnallt auf einer Krankenhausbahre
lag, als der Komatechniker die Injektionsspritze aufzog. Ein oder
zwei Zuschauer schnappten hörbar nach Luft, als die Nadel im Licht
der Glaskugel erstrahlte wie ein Schwert. Esterhazy wandte das Ge-
sicht von der Kamera ab und wartete stumm. Der Techniker fuhr mit
einem Wattebausch über seine Halsschlagader, und der Geruch eines
Desinfektionsmittels erfüllte die Luft.
Die Gefängnisuhr schlug Mitternacht, als die Nadel in die Hals-
schlagader eindrang und der Kolben herabgedrückt wurde. Das Ko-
ma trat praktisch sofort ein.
Dann wurde der Körper in die Hauptaufbewahrungshalle gefahren
und unter dem gewaltigen Auge in die Schublade gelegt, die ihn er-
wartete. Elektrokabel und Infusionsröhren wurden an Esterhazys
nacktem Oberkörper angebracht, und als alles an Ort und Stelle war
und der Komatechniker sich vom Funktionieren der Anlage über-
zeugt hatte, schloß sich die Schublade glatt und ruhig.
Jake wartete, bis die Fernsehteams abgezogen waren, bevor sie nä-
her herantrat und las, was der Techniker auf den Bildschirm eingab:
Esterhazys Grabspruch. Sie erkannte die Zeilen aus 'DV :VWH
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:DV NDQQ LFK ,KQHQ GDUEHU VDJHQ ZLH HV ZDU HLQ /HEHQ ODQJ LQ
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