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Erinnerungsbild

Lydia Rabinowitsch-
Kempner
(22. August 1871, Kowno – 3. August 1935, Berlin)

LOTHAR JAENICKE, KÖLN

Von Wilhelm II zur ersten preußischen Professorin


ernannt, kämpft für die Gesundheit der Kinder, gegen
schlampige Milchhändler und mit Calmette für die Lydia Rabinowitsch-Kempner

BCG-Impfung.
den Botulinum-Toxin(Botox)-Vergiftung durch
Für Katharina von Dahl zum Achtzigsten; Dank für die Hilfe, mich vor 60 Jahren auf
verdorbene (Leber)Wurst- und stärkehaltige
eigne Füße zu stellen.
Fleischzubereitungen, der ihr Mann und Pala-
din wurde.
Noch im gleichen Jahr erhielt sie durch stra-
Des Rabinowitsch-Clade von Kowno durchsetzungs- und durchhaltefähiges Mädel, tegisch angeknüpfte Verbindungen ein Sti-
(Kaunas, Litauen) jüngster Spross das am Kownoer Mädchen-Gymnasium mit pendium an das Woman’s College in Phila-
ó Die Rabinowitsches aus Kowno am Nje- Latein und Griechisch Abitur gemacht, aber delphia, PA und wurde dort Lecturer, dann
men (= Memel) besaßen in Litauen gutge- weder in Russland noch in Deutschland eine rasch (aber vom Reinhaltungsritual der alt-
hende Brauereien. Sie gehörten zu den Begü- Möglichkeit zum Studium der sie interessie- weltlichen Academe nicht anerkannte) Assis-
terten und Angesehenen, unterlagen dennoch renden Naturwissenschaften hatte. Wie so tenzprofessorin für ihr aktuelles neues Fach,
den Juden-Diskriminierungen der orthodox- viele ihresgleichen, reiste deshalb die sehr lernte, sprachbegabt, zugleich das immer
zarischen Gesetze. Aber sie hatten sich von selbständige Höhere Tochter allein in die offe- nützlicher werdende und später zwangsweise
den orthodox-mosaischen entfernt, obgleich nere Schweiz, zunächst für drei Semester auch von den Kindern vielgenutzte Englisch
die Familie namhafte traditionelle Gelehrte nach Zürich, wechselte dann nach Bern, wo (nun, neben Russisch, Deutsch und Franzö-
nennen konnte. Der weltliche Lerndrang ging sie 1894 die Biologie-Ausbildung und Medi- sisch, die vierte Sprache, die sie auf ihren
sogar so weit, dass den Töchtern Bildung nicht zin-Promotion abschloss mit einer Disserta- zahlreichen Reisen trainierte). Sie querte oft
vorenthalten wurde und die Modernität, dass tion über die „Entwicklungsgeschichte der zu Heimat-, Kongress- und Arbeitsbesuchen
alle neun Kinder nicht nur überlebten, son- Fruchtkörper einiger Gastromyceten“, der den Atlantik und trug über wissenschaftli-
dern die möglichst beste Ausbildung erhiel- noch wenig untersuchten Boviste. Sie erwärm- che Ergebnisse, soziale und frauenbewegte
ten, um in einkömmliche Fernen oder schließ- te sich bei diesem Ausflug in die botanische Themen vor.
lich in akademische Höhen zu gelangen: Das Morphologie für die vielversprechendere neue Auf dem Medizinerkongress in Madrid
Ziel jeder „guten“ jüdischen Familie seit der botanische Nische Bakteriologie und suchte 1898 heiratete sie Walter Kempner, der dort
Aufklärung. Dies Ziel wurde im Auge behalten, sie als Postdoktorandin durch Sommerkurse über seine Erkenntnisse bei der bakteriellen
auch nachdem Vater Rabinowitsch im Eis des im Hygiene-Mekka der Berliner Klosterstraße Lebensmittelvergiftung mit dem kurz zuvor
Njemen eingebrochen und ertrunken war. Nun kennen zu lernen. Sie wurde eine Elevin von van Ermengem isolierten B. botulinum
leitete die umsichtige, energische Brauersfrau Kochs, die einzige Frau unter 59 Gleichge- berichtet hatte, behielt aber ihren Mädchen-
nicht nur die Betriebe, sondern auch die Erzie- sinnten, unter denen sie dann auch ihren namen mit Bindestrich bei (damals noch eher
hung der Heranwachsenden, wobei ein Stu- äquivalenten Partner fand. ungewöhnlich außerhalb der Künstlerkreise;
dium meist an der nahegelegenen Königs- auch Madame Curie wird erst in neuerer Zeit
berger Universität absolviert wurde. Lydia Rabinowitsch wird bekannt als durch Bindestrich ausgezeichnet) als Lydia
Ein Sohn wurde Frauenarzt mit großer Kli- Lydia Rabinowitsch-Kempner oder Rabinowitsch-Kempner, unter dem sie dann
nik in Kowno, ein anderer Zahnarzt mit gut- „Die Lydia“ im Bakteriologenfach und auf Versammlun-
gehender Praxis, ein dritter Kaufmann im 1894 war das Jahr ihrer Begegnung, nicht nur gen weiterhin firmierte.
Fernen Osten. Eine Tochter studierte Jura und mit Robert Koch, der ihr Vorbild blieb, und
heiratete einen Rechtsanwalt. Die Jüngste, mit Rudolf Virchow, den sie in Verlegenheit Die Gratisprofessur und andere Lehr-
„Die Lydia“, wie sie auch später in Freundes-, brachte, sondern auch mit Kochs Star-Mitar- und Forschungspassionen
Kollegen- und Ratsuchekreisen stets genannt beiter Walter Kempner (1870–1920), den Im gleichen Jahr kehrte sie nach Berlin an
wurde, war ein energisches, wissbegieriges, Beforscher der Ursache der muskellähmen- das Robert Koch-Institut für Infektions-

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krankheiten zurück und verfolgte verschie- tuberkulösen Kühe mehr. Der Erleichterung all diese Leute waren doch keine vaterlandslo-
dene eigne Themen, darunter auch die Pest, folgte der Skandal des „Berliner Milchkriegs“! sen Gesellen. Sie waren politisch interessiert
zu deren Studium sie sich 1902 in Odessa auf- Lydia beriet sich mit ihrem Mann, und sie für den Fortschritt. Es gab sogar eine Fort-
hielt. Danach übernahm sie, wohl weil sie am kamen zu dem Schluss, dass Bolle, zur schrittspartei.“…
Robert Koch-Institut keine Entfaltungsmög- geschäftsfördernden Glättung der Wogen, „Die Familie stand immer freundschaftlich
lichkeit mehr sah, eine Stelle am Orthschen gekochte Milch als Proben gegeben und damit zur SPD, die Fortschrittspartei war ein bisschen
Pathologie-Institut der Charité, wo ihr 1912 die Gefahr der Verseuchung der Verbraucher, klein….. Die SPD war interessiert an sozialen
als anerkannte Tuberkuloseforscherin der vor allem der Säuglinge, heraufbeschworen Einrichtungen, am Schutz der Arbeiter…Irgend-
Titularprofessor verliehen wurde – die erste hatte. Es gab einen aufsehenerregenden wo auf dem Papier stand, dass die Partei den
preußische Professorin – nicht ohne antise- Betrugs-Prozess, den hauptsächlich Walter wirtschaftlichen Sozialismus anstrebe…(Ich
mitische Agitationen; die zweite im ganzen Kempner führte – und gewann. weiß nicht, ob sie selbst es geglaubt hat. Die
Deutschen Reich! Sie durfte sich aber als Frau Diese mit Applomb gekrönten Labor- und Menschen glauben sehr viele Dinge, von denen
trotzdem nicht habilitieren. Das wurde erst Heimversuche forderten ihr Opfer: Walter sie wissen, dass sie nicht verwirklicht werden
in der Weimarer Republik möglich, und da Kempner starb mit fünfzig an Kehlhopf-Tbc., können.) Unsere Familie glaubte nicht an Bebel,
war sie bald fünfzig. Aber sie durfte im Insti- die Tochter Nadeschda Kempner mit etwas glaubte nicht an politicians, wir glaubten
tutsrahmen in eigner Regie honorierte Kurse über dreißig an Lungen-Tbc., und auch Lydia Robert Koch.., an Wassermann.., an eine bes-
abhalten, bakteriologische Untersuchungen Rabinowitsch-Kempner ist nicht alt gewor- sere Zukunft durch Wissenschaft und For-
ausführen – und Kochs „Zeitschrift für Tuber- den, war die letzten Jahre sehr krank. Aber schung, das war uns wichtiger….. Wir glaub-
kulose“ redigieren. Er hatte eine prima Hilfe. das kann seelischere Ursachen gehabt haben. ten an gesündere Menschen, nicht an einen
Nach dessen Tod hat sie ab 1914 „ihre“ Zeit- gesünderen oder ungesünderen Kaiser….“
schrift dann tatsächlich in eigner Regie gelei- Idyll einer Forscherfamilie nach „Man hat Koch angehimmelt….“.. „Damals
tet und zu dem gemacht, das der Titel aus- Robert M. W. Kempner lernte die Medizin noch von Deutschland, spä-
sagt. (Ankläger einer Epoche, Lebenserinnerungen. ter war es umgekehrt…. Seinerzeit wurden wis-
Ihre Gastprofessur in Philadelphia ruhte Ullstein, Berlin 1983) senschaftliche Erkenntnisse ausgetauscht; klei-
nicht ungenutzt. Man blieb sich auf beiden Wer könnte die Situation, die Seelenlage der ne Röhrchen mit Kulturen wanderten von Ber-
Seiten des Großen Wassers in Freundschaft Belle Époque in Deutschland besser beschrei- lin nach New York…“
und Streben verbunden, auch über den Krieg ben als der mit Witz, Urteilsvermögen, „Robert Koch wohnte in Oranienburg und
hinweg. Sprachtalent, Stil – und Liebe begabte Öffent- später an Sonntagen gingen wir oft zu ihm raus,
liche Anwalt, der Sohn von Lydia Rabino- und er lehrte mich das Drachensteigen.“…
„Der Berliner Milchkrieg“ von 1904 witsch-Kempner und Walter Kempner? Er sei „Meine Mutter gehörte zu dem kleinen Kreis
Ihr Hauptinteresse galt nach wie vor der zitiert (l. c. S. 16/17): von Frauen, die man heute emanzipiert nennt,
Tuberkulose und der Frage, wie gefährdend „Mein Vater war ein strenger Liberaler – ich die ersten Doktorinnen, die ersten Professo-
die bovine Form für den Menschen ist. Auf weiß nicht, ob er freisinnig oder sozialdemo- rinnen und Schuldirektorinnen erschienen
Grund ihrer Infektions-Versuche, die sie nicht kratisch gewählt hat – ebenso meine Mutter, sonntags zum Kaffee. Meine Mutter wurde von
nur im Institutsmilieu ausführte, sondern mehr links- als nationalliberal, bürgerlich-sozial den Frauenrechtlerinnen sehr angeregt, die gro-
auch mit geimpften Kaninchen auf dem Bal- denkend. Mit dem Kaiserreich hatte man nicht ßen Wert darauf legten, nicht nur Suffragetten
kon ihrer Wohnung, kam sie zum Schluss, viel im Sinn, wenn überhaupt, dann mit dem und Blaustrümpfe zu sein, sondern auch For-
dass Rindertuberkulose durchaus vermieden König von Preußen, ….“ scherinnen vorweisen zu können, die dazu noch
werde sollte und vermeidbar ist, wenn die „Wir steckten völlig im Staat drin, haben aber Kinder hatten. Aus unserem Haus in Lichter-
Kuhmilch auf >60° pasteurisiert wird, wozu an SM nie geglaubt, auch nicht an Bismarck. felde kamen -zig Aufrufe und Resolutionen,
die Milchsammelstellen – in Berlin die stadt- Diese Blut-und-Eisen-Sache .. diesen Schwindel scharfe Angriffe gegen Professoren, die Frauen
bekannte „Milchverwertungsfabrik“, gegrün- hat man verachtet.“… nicht zum Studium zuließen … Die Frauen-
det 1881 von Carl Bolle (1832 – 1910) mit dem … „Man glaubte an wissenschaftlichen Fort- rechtlerinnen waren schon damals ziemlich
„Bollewagen“ und der Ausrufer-Glocke – dann schritt, an die Entwicklung der Arbeiterschaft wild und energisch und hatten mit männlichen
behördlich verpflichtet wurden. und auch an die des Bürgertums. Aber man Kollegen oft großen Ärger…Man versuchte, das
Lydia Rabinowitsch-Kempner wurde schlag- hing nicht am Obrigkeitsstaat; gegen den führ- Wahlrecht durchzusetzen, was nie gelang, hat-
artig bekannt durch den denkwürdigen Ber- te mein Vater Prozesse. Auf der anderen Seite te aber den Erfolg, dass Frauen studieren durf-
liner Milchskandal von 1904. Nachdem sich fühlte man sich nicht als Outsider, sondern ten. Meine Mutter wurde Vorsitzende einer Stif-
bei der Meierei Bolle Tuberkelbazillen in der innerhalb dieser Gemeinschaft in einer gewis- tung zur Unterstützung weiblicher Studenten,
Milch gefunden hatten, begriff man zum sen Opposition. Dass etwas faul da oben war, die aus eignen Mitteln nicht studieren konn-
ersten Mal, dass Menschen durch die Milch wusste man doch! Man tat seine Militärpflicht, ten, denn Studieren kostete damals viel Geld…“
tuberkulöser Kühe angesteckt werden könn- denn man wollte keinesfalls, dass der Staat (l. c., S. 20) „Wir waren drei Kinder…..Wir
ten. Um die quälende Frage zu klären, ord- besiegt wird. lernten durch unsere Mutter bereits zu Hause
nete der Chef des Gesundheitsamts, Robert Es gab im Mittelstand und unter den Wis- Englisch. Sie war Wissenschaftlerin, aber nicht
Koch, seine Assistentin zur regelmäßigen senschaftlern eine ganz breite Schicht von Men- rund um die Uhr. Wenn sie um vier Uhr...nach
Stichprobenahme bei der Sammelstelle ab. schen, die diesen Standpunkt teilten. Keine Hause kam, hat sie sich um ihre Kinder geküm-
Plötzlich aber waren die Tuberkulosebazillen vaterlandslosen Gesellen, aber auch keine mert, die neben den geimpften Kaninchen unter
verschwunden, und es gab in Berlin keine Vaterlands-Jubilanten. Einstein.., Liebermann.., der Veranda größer wurden….“

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„Die Kontakte meiner Mutter witsch-Kempners Aufbauwerk


nach Amerika sind nie abgebro- zerstört. Sie wurde 1934 zwang-
chen, sie wurde sehr häufig zu Ver- spensioniert, ihre in der interna-
anstaltungen und Vorträgen ein- tionalen Ärztewelt renommierte,
geladen. Ich erinnere mich, wie sie deshalb florierende „Zeitschrift
uns ihre Vorträge, die sie nieder- für Tuberkulose“, in der sie einen
geschrieben hatte, Englisch vorlas Großteil ihrer Forschung doku-
und manchmal eine amerikani- mentiert und diskutiert hatte,
sche Studentin dabei saß, die die zwangsarisiert. Sie sah noch ihre
Sätze korrigieren musste, damit Tochter an Schwindsucht sterben
das in New York oder Philadelphia und ihre Söhne auswandern,
auch gut ankam.“ wurde sehr krank und starb nach
schwerem Krankenlager am 3.
Spät am fliehenden Ziel August 1935. Auf dem Parkfried-
1920 endlich wurde Professor hof in Lichterfelde befindet sich
Lydia Rabinowitsch-Kempner das Grab. Es ist heute ein Ehren-
beamtete Abteilungsdirektorin grab für die Familie, das auch den
und Chefbakteriologin am Städ- Ankläger und Mahner dieser
tischen Krankenhaus Berlin- miserablen Epoche aufgenom-
Moabit (-Tiergarten) mit festem men hat, und auf dessen unauf-
Gehalt und Etat – und einem fälligem Stein Mann und Kinder
Sturm der fach- und allgemein- genannt sind, denen „Die Lydia“
männischen Entrüstung. Davon so viel Vorbildliches gegeben hat.
äußerlich wenig beeindruckt, Am Moabiter Krankenhaus
machte sie diese Adresse zu wurde eine Tafel angebracht zum
einem renommierten Zentrum Gedächtnis an seine jüdischen,
der Tuberkuloseforschung und - in Un-Leben, Exil oder Tod getrie-
aufklärung, -beratung und - benen Ärzte, zu deren erinne-
behandlung; zugleich aber auch rungswürdigsten Lydia Rabino-
zu einer Stätte der geschlecht- witsch-Kempner gehört. ó
sunabhängigen Fortbildung und
Schulung von spezialisiertem
akademischem und Pflege-Per-
sonal, verbunden mit sozial- und Korrespondenzadresse:
schulreformerischen Ansätzen Prof. Dr. Lothar Jaenicke
zur Sicherung der Schulhygiene Institut für Biochemie
und des Gesundheitsunterrichts, Universität zu Köln
Zülpicher Straße 47
die allesamt im Argen lagen, aber D-50674 Köln
von einigen verantwortlich Nach- Tel.: 0221-4706425
denklichen, zu denen, unter Fax: 0221-4706431
wenigen in Berlin, auch Hertha
Nathorff (1905–1990, Albert Ein-
steins Nichte) in Charlottenburg
und Alice Salomon (1872–1948)
in Schöneberg zu zählen sind,
unterstützt wurde.

Der übliche Abgesang teu-


tonischer Dankbarkeit
1933, nach NS-“Machtergrei-
fung“ Ende Januar, -“Reichstags-
brandstiftung“ vier Wochen, -
“Ermächtigung“ sechs Wochen,
-“Judenboykott“ acht Wochen spä-
ter, dazwischen „Tag von Pots-
dam“ mit dem republik-
eidbrüchigen Herrn Reichspräsi-
denten, wurde Lydia Rabino-

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