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Reprint

1999 Im Unruhestand
Der Computer revolutioniert das Arbeitsleben weit über rein techni-
sche Konsequenzen hinaus. Die Digitalisierung sorgt für eine Verflüs-
sigung der starren Lebensphasen und ermöglicht allen Generationen
eine neue existentielle Beweglichkeit. Der Abschied von der industri-
ellen Rentner- und Ruhestandsmentalität steht an.

Von Gundolf S. Freyermuth

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M ike Lavers gründete Matrix-


cubed Internet Services vor drei
Jahren. Damals war der Sohn eines
Computerdienstleisters vierzehn
Jahre alt und besaß bereits elf Jahre
Erfahrung als Programmierer. Heute
betreut die Firma 200 Kunden und
erzielt knapp eine Million Dollar Um-
satz. Allzu ungewöhnlich ist Mikes
frühes Arbeitsleben nicht. Die Mehr-
heit der amerikanischen Schüler
und Studenten arbeitet. Teenager
geben pro Jahr 140 Milliarden Dollar
aus. Das Geld will verdient sein, und
immer mehr Jugendliche verdin-
gen sich nicht länger als schlecht-

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bezahlte Babysitter oder Burger-Brater. Sie arbeiten als High-Tech-Berater und


Programmierer oder machen gar eigene Firmen auf; wie etwa die fünfzehnjährige
Internet-Verlegerin Jasmin Jordan, der gleichjunge Austin Heap, Autor der interak-
tiven Musiksites PureNetworks und PureRadio, oder Angelo Sotira, der mit 16 Jah-
ren Dimension Music ins Netz stellte. Das große Vorbild dieser Erfolgs-Kids ist Justin
Frankel, der neunzehnjährig Nullsoft ins Leben rief und die Firma kürzlich für 400
Millionen Dollar an AOL verkaufte.

Mike Lavers gedenkt, innerhalb der nächsten sechs Monate den Umsatz von Matrix-
cubed zu verzehnfachen. Nicht das qualifizierte ihn freilich für den Rummel, den
er jüngst auslöste. In die Schlagzeilen brachte ihn sein Konflikt mit der Comdex-
Leitung. Die Teilnahme an der größten Computermesse der Welt war für den sieb-
zehnjährigen Mike und seinen vierzehnjährigen Bruder, den technischen Leiter
von Matrixcubed, eine Voraussetzung weiteren geschäftlichen Erfolgs. Doch die
Altersrestriktionen der Comdex orientieren sich an überkommenen Vorstellungen
von Kindheit und Jugend: Menschen unter achtzehn Jahren arbeiten nicht, sie spie-
len und erhalten deshalb keinen Zutritt. Der Entrüstungssturm, den Mikes Schicksal
weckte, ließ die Comdex-Leitung einlenken. Schließlich ist age discrimination, die

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Benachteiligung von Individuen aufgrund ihres Alters, in den USA genauso verboten
wie Diskriminierung aufgrund von Geschlecht oder Rasse.

In ihrer wachsenden Zahl künden die schulpflichtigen Internet-Unternehmer von


einem Trend zur Auflösung der starren sozialen Rollen, die sich im Gefolge der in-
dustriellen Revolution durchgesetzt haben. In der Agrarwirtschaft der vorherigen
Hochzivilisationen waren bürokratisch-gesetzliche Abtrennungen von Lebensphasen
nach numerischem Alter unbekannt. Fließender Übergang bestimmte das Zusam-
menleben und Zusammenarbeiten aller Altersgruppen, ein organisches Hineinwach-
sen in Rollen, die allmähliche Übernahme und dann wieder Aufgabe von Verantwor-
tungen. Die Industrialisierung trieb jedoch die Menschen aus ihren Häusern in die
Fabriken. Sie trennte Lebens- und Arbeitsraum, zerriss Familien- und Dorfgemein-
schaften und entflexibilisierte damit den Umgang der verschiedenen Lebensalter.

Erst diese wahrhaft unmenschlichen, weil am Bedürfnis von primitiven Maschi-


nen orientierten Produktionsbedingungen der industriellen Frühzeit ließen eine
strikte Definition von Lebensabschnitten notwendig erscheinen. Um wenigstens die

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Schwächsten von der physisch wie psychisch kaum erträglichen Last industrieller
Arbeit zu befreien, mussten Schutzzonen etabliert werden. Das Verbot der zuvor
in nahezu allen Kulturen üblichen Kinderarbeit (in Preußen ab 1839) und die Ein-
führung der allgemeinen Rentenversicherung (durch Bismarck 1889) gehören zu
den sozialen Errungenschaften der Zeit. Kindheit und Rentenalter als abgezirkelte
Lebensbereiche stellen insofern gelungene Anpassungsleistungen an die besonderen
Verhältnisse der industriellen Epoche dar.

Mit ihr freilich überleben sie sich; nun, da die Digitalisierung alle Lebensverhält-
nisse erfasst. Wie sich die schulpflichtigen High-Tech-Unternehmer nicht in die
Kindrolle fügen wollen, die unsere Zivilisation ihnen zugedacht hat, so auch immer
weniger ihre Groß- und Urgroßeltern in die komplementäre Rolle von ruhiggestell-
ten Greisen. Für jeden arbeitenden Teenager finden sich derweil Ausbrecher am
anderen Ende der Alterspyramide. Besondere Aufmerksamkeit erregen natürlich
prominente Alte – etwa Walter B. Wriston, einst Chef der Citicorp Bank und heute
mit weit über 80 Jahren als Berater zahlreicher Hightech-Neugründungen tätig,
der 92jährige Architekt Philip Johnson oder gar Senator Strong Thurmond, der mit
96 Jahren das Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Clinton leitete. Außeror-

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dentliche Männer und Frauen wie sie gab es natürlich zu allen Zeiten wie ja auch
geigende oder Schach spielende „Wunderkinder“. Doch gleich den jugendlichen
Unternehmern stellen die arbeitenden Alten keine seltenen Ausnahmen mehr dar.

„Ich habe es 1990 mal mit dem Ruhestand probiert“, zitierte die Los Angeles Times
jüngst Thomas Sahms, einen 73jährigen Immobilienmakler: „Ich hatte wenig Talent
dafür.“ Joseph A. Mintz, mit 81 Jahren als Versicherungsagent in Texas tätig, ist
derselben Ansicht: „Es gibt viele Leute, die nicht in Rente gehen, weil sie nicht Golf
spielen oder fischen oder weil sie nicht genug Geld für solche Vergnügungen haben.
Sie können ja nicht ihre ganze Zeit vor dem Fernseher und mit Schundromanen
verschwenden.“ James Russell Wiggins, seit 1922 im Berufsleben und heute mit 95
Jahren Redakteur einer Wochenzeitung in Maine, beklagt die Massenverrentung als
Verschwendung von Talent und Ressourcen: „Wie kann eine Gesellschaft solchen
Müßiggang unterstützen?“ Und Pulitzer-Preisträger Stanley Kunitz, mit 93 fest ent-
schlossen, sich weder aus- noch abschalten zu lassen, erklärt Ruhestand schlicht
zum „schmutzigen Wort“.

Diese Beispiele als Sammelsurium widerspenstiger Einzelfälle abzutun, verbietet


die schiere Zahl der Menschen, die in anderen Teilen der Welt noch arbeiten oder

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gar neue Karrieren beginnen, nachdem sie ein Alter erreicht haben, das in den
europäischen Wohlfahrtsstaaten statistisch zu Vorruhestand oder gesetzlich verord-
neter Pensionierung führt. Inzwischen bezieht die Hälfte aller EG-Bürger über 55
eine Rente – während die Beschäftigungszahlen just derselben Altersgruppe in den
USA stärker als die aller anderen und sogar überproportional zum Anteil an der Ge-
samtbevölkerung wuchsen. Jeder zweite 60- bis 65jährige Amerikaner steht noch
im Berufsleben, ebenso jeder Dritte 65- bis 70jährige, jeder sechste der 70- bis
79jährigen. Und das nicht primär aus sozialer Not: Der Anteil an gut ausgebildeten
und vergleichsweise wohlhabenden Personen unter den älteren Arbeitnehmern ist
überdurchschnittlich hoch. Der offensichtlich freiwillige Trend zum Alter in Arbeit
setzt sich in die neunte und zehnte Dekade ungebrochen fort. Die über 85jährigen
sind Amerikas am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe, ihre Zahl wird sich
in den nächsten zwei Jahrzehnten auf 7 Millionen Menschen verdoppeln. Und selbst
von den 90- bis 100jährigen arbeiten heute bereits über 50 000 regelmäßig, darun-
ter allein 1200 zugelassene Ärzte.

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H elen Dennis, Altersforscherin an der University of California, interpretiert diese


wachsende Minderheit von radikalen Ruhestandsgegnern und Pensionierungsverwei-
gerern als soziale Avantgarde: „Was wir heute als außergewöhnlich ansehen, wird
immer normaler werden.“ Auch Joseph F. Quin, Ökonom der Boston University,
vermutet in der Verlängerung der Lebensarbeitszeit eine langfristige Trendwende
– bei der die Hightech-Heimat dem Rest der Welt nur um ein paar Jahre voraus ist.
Für beider Ansicht spricht, dass es in den USA keine offizielle Altersgrenze gibt und
Zwangspensionierungen verboten sind. Die aktuellen statistischen Zahlen drücken
insofern nicht primär Vorgaben staatlicher Politik aus, sondern recht unmittelbar
die psychischen (und natürlich auch finanziellen) Bedürfnisse sowie physischen
Fähigkeiten der Betroffenen. Sie offensichtlich lehnen, solange sie nur können, das
Alte-Eisen-Schicksal ab, das in der industriellen Epoche all denen zugedacht war,
die dem monoton-brutalen Arbeitsalltag nicht mehr standhielten.

Über das gesamte 20. Jahrhundert hinweg, die Reifephase der Industrialisierung,
sank das Rentenalter. 1950 setzte sich der durchschnittliche US-Erwerbstätige mit
67 Jahren zur Ruhe, Mitte der achtziger Jahre mit 60. Doch seitdem nimmt die Zahl

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der Arbeitsjahre auf auffällige Weise wieder zu. Diverse wissenschaftliche Studien
sehen für die kommenden Jahrzehnte ein Ansteigen des statistischen Rentenalters
auf mindestens 70 Jahre, für die zweite Hälfte des 21. Jahrhunderts gar auf 80
Jahre voraus (bei weiter gestiegener Lebenserwartung). Mögen solche Langzeit-
prognosen auch wenig zuverlässig sein, ein Ende des Trends zur Verlängerung der
Lebensarbeitszeit ist nicht in Sicht. Jüngste Umfragen ergaben, dass die heute
35- bis 54jährigen Amerikaner – die Angehörigen der geburtenstarken Jahrgänge –
mehr noch als die aktuellen Alten entschlossen sind, sich nicht in die Untätigkeit
abschieben zu lassen. Zwischen 66 und 80 Prozent der jeweils Befragten gaben an,
sie wollten über das 65. Lebensjahr hinaus ihren Beruf ausüben. Diese Aussagen
zeugen von einer dramatischen Veränderung in der Einstellung zur Arbeit, die sich
binnen nur eines einzigen Jahrzehnts vollzogen hat – Ende der achtziger Jahre er-
sehnte praktisch noch jeder Befragte, mit 55 „aufzuhören“.

Eine Flut von verwunderten Artikeln, wissenschaftlichen Untersuchungen und


programmatischen Büchern analysiert inzwischen diesen Willen, bis ins hohe Alter
aktiv am Erwerbsleben teilzunehmen. Unübersehbar ist dabei der zeitliche Zusam-
menhang des Wandels mit der dritten industriellen Revolution, die in den USA so

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weit fortgeschritten ist wie nirgendwo sonst. Er legt es nahe, in der Digitalisierung
einen, wenn nicht den Auslöser der plötzlichen Abkehr von den sozialen Verhaltens-
weisen zu sehen, die sich – im Gegensatz zu früheren Phasen der Menschheitsge-
schichte – während der vergangenen rund 200 Jahre herausbildeten. Es dürfte die
erneute Veränderung der Arbeit selbst sein, das heraufziehende Ende ihrer indust-
riellen Organisationsform und fremdbestimmten Gewalt, die auch die Einstellung zu
ihr verändert.

In einem Essay für das Magazin Atlantic beschreibt der Sozialwissenschaftler und
Management-Guru Peter F. Drucker – selbst ein Beispiel für aktives Altern, er ver-
öffentlichte mit 90 Jahren gerade sein 31. Buch -, die auffälligen strukturellen
Parallelen zwischen der ersten industriellen Revolution und den Veränderungen,
deren Zeitgenossen wir heute sind. In beiden Fällen automatisierten technische Ba-
siserfindungen – die Dampfmaschine, der Computer – zunächst existierende Produk-
tionsabläufe. Jeweils vier bis fünf Jahrzehnte später, nachdem zwei Generationen
gelernt hatten, mit der jeweiligen Innovation umzugehen, entwickelten sich dann

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in einer zweiten Phase gänzlich neue Anwendungen: im historischen Fall Eisenbahn


und Fernverkehr; in der Gegenwart Internet und E-Commerce. Sie veränderten je-
weils radikal die Art und Weise, wie Geschäfte getätigt wurden, und lösten so einen
außergewöhnlichen Wirtschaftsboom aus.

Nicht weniger nachhaltig sind jedoch die sozialen Konsequenzen technischer Um-
bruchsperioden. Die Industrialisierung gebar zugleich mit den neuen Arbeitsverhält-
nissen neue Sozialcharaktere mit je eigenen Mentalitäten, Denk- und Arbeitswei-
sen: Unternehmer, Arbeiter, Techniker, Bürokraten. Diese „neuen Menschen“ präg-
ten Kultur und Konflikte der kommenden Epoche. Bei aller Verschiedenheit waren
den Zeitgenossen der Industrialisierung aber auch zentrale Erfahrungen gemeinsam
– der Alltag in den boomenden Großstädten mit ihren nie gekannten Menschenmas-
sen, Massentransportmitteln, Massenbürokratien und Massenvergnügungen, ebenso
ein von Eisenbahn und Telegraf bestimmtes neues Verständnis geografischer Räume,
dazu die Trennung zwischen Wohn- und Arbeitsplatz, die immer arbeitsteiligere
Anlage der meisten Berufe usw. Das alles führte zur Ausbildung einer neuen indust-
riellen Lebensform, die sich nachhaltig vom 18. Jahrhundert und seinen Verhaltens-
und Denkformen unterschied.

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Ähnlich radikale zivilisatorische Umwälzungen erleben wir nun im Gefolge des


Computers und des Internet, darauf deuten nicht nur die Parallelen im phasenarti-
gen Verlauf von Industrialisierung und Digitalisierung. Niemand natürlich kann die
digitale Zukunft im Detail vorhersagen. Der historische Vergleich weist allerdings im
Verein mit aktuellen statistischen Werten auf einige Entwicklungstendenzen.

Im Falle der industriellen Revolution prägte der Sozialtypus des Lohnarbeiters die
Epoche - ein als Einzelperson unbedeutendes, fremdbestimmtes Glied im mechani-
schen Produktionsprozess, dem das Ergebnis seiner Arbeit und damit diese selbst
fremd bleiben musste. Lange bevor Arbeiter zahlenmäßig die Mehrheit gewannen,
schreibt Drucker, wurden sie zur ideologisch zentralen Klasse. Denn ihr Schicksal
verkörperte gewissermaßen, was die Industrialisierung der gesamten Menschheit
antat. An den Verhältnissen und Bedürfnissen der Industriearbeiterschaft orien-
tierte sich daher die Arbeits- und Sozialgesetzgebung und in der Konsequenz auch
das durch staatliche Vorgaben gesteuerte Verhalten von Angehörigen vieler anderer
Berufe und sozialer Schichten.

Mit der Digitalisierung verliert die Industriearbeiterschaft nun diese dominierende


Rolle; im statistischen wie ideologischen Sinne. Ins imaginäre Zentrum unserer Zeit

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rückt eine neue Schicht von Arbeitern. Drucker nennt sie knowledge worker, Wis-
sensarbeiter. Ihre Tätigkeiten haben mit industrieller Handlangerei nichts mehr zu
tun. Die Wissensarbeiter als zentrale Schicht der Digitalisierung –Programmierer, IT-
Techniker, Webdesigner, Hightech-Dienstleister et al. - sind nicht Befehlsempfänger,
sondern hochqualifizierte, weitgehend autonom entscheidende Mitarbeiter. Ihre
Ausbildung und ihr Einsatz ähneln dem von traditionell akademischen und selbstän-
digen Berufen wie Ärzten oder Anwälten und in vielerlei Hinsicht auch dem von
Musikern, Malern und anderen Künstlern. Wie Anfang des 19. Jahrhunderts der In-
dustriearbeiter beginnen diese Wissensarbeiter als historisch aufstrebende Schicht
unsere Epoche weit über das Maß ihrer reinen Zahl hinaus zu prägen. Ihr Weltbild
färbt gewissermaßen auf den Rest der arbeitenden Menschheit ab.

Gegenwärtig lässt sich so das Entstehen eines neuen Sozialcharakters beobachten.


Ihn prägt die Erfahrung, dass eine vollständige Trennung zwischen (Privat-)Leben
und Arbeit, zwischen der Weise, wie einer sein Geld verdient, und dem, was er als
Privatperson sein will, schlicht nicht durchzuhalten ist. Die Vorstellung, man könne
seinen Beruf in 30, 35 oder 40 Wochenstunden einsperren, wie es Industriearbei-
tern und anderen entfremdet Tätigen möglich war und ist, wird unter digitalen, von

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angeeigneten Informationen bestimmten Bedingungen zunehmend absurd. Wissen


muss nicht nur stets neu erworben und aufgefrischt werden; es muss, um effektiv
einsetzbar zu sein, integraler Teil der Persönlichkeit werden. Was dem einzelnen
aber nicht mehr äußerlich und fremd gegenübersteht, kann er kaum auf Knopfdruck
an- und abschalten – weder zu bestimmten Uhrzeiten noch mit Beginn irgendeines
beliebigen Lebensjahres.

Die Digitalisierung hebt damit nicht nur tendenziell die Trennung zwischen Wohn-
und Arbeitsplatz auf, sie bringt auch massenhaft den mit der industriellen Produk-
tion verlorengegangenen Zusammenhang zwischen Leben und Beruf zurück. Von
einer fremdbestimmten Last wandelt sich Arbeit zu einem wesentlichen und befrie-
digenden Element der eigenen Existenz. Wie ein Bauer stets rund um die Uhr und
sein Leben lang Bauer blieb oder wie Schachgroßmeister und Forscher das Denken
nicht um 17 Uhr einstellen, so wird der Alltag digitaler Wissensarbeiter von ihrer
Arbeit und der steten Notwendigkeit zu geistiger Beweglichkeit erfüllt.

Neue Erwartungen an die eigene Biografie formen sich dabei. Die letzten Jahre wie
die Kleinkinder primär unter Gleichaltrigen, vor dem Fernsehen, mit Spielchen,
Bastelarbeiten oder dem Jammern über körperliche Beschwerden zu verplempern,

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scheint weniger verlockend. Die wachsende Minderheit arbeitender Alter von


heute, wesentlich Angehörige von Wissensberufen, stellt insofern eine historische
Vorhut dar. Ohne Arbeit, meint etwa Dr. James R. Dumpson, ein vielbeschäftigter
Gutachter, „säße ich nur zu Hause rum und überlegte, was mir heute gerade wehtut
und welche Medizin ich dagegen nehmen könnte.“ Die Konsequenz des 90jährigen:
„Ruhestand steht nicht in meinem Terminkalender.“

E ine solch weitgehende Integration der beruflichen in die private Existenz ist na-
türlich nur möglich und erträglich, weil sich in der digitalen Epoche der Charakter
der Arbeit selbst verändert. Fremdbestimmung und Zermürbung durch unflexible
Maschinensysteme, symbolisiert vom Fließband; das Eingesperrtsein in autoritär-
bürokratische Befehlshierarchien, verkörpert von der lebenslänglichen Festanstel-
lung; dazu die Trennung von Lebens- und Arbeitsraum: Das alles nähert sich seinem
historischen Ende. Die Vernichtung industrieller Arbeitsplätze, von vielen mit dem
Verschwinden von Arbeit selbst verwechselt, verändert das Arbeitsleben. In den
USA etwa gingen in den 500 größten Konzernen seit 1980 fünf Millionen Arbeits-

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plätze verloren – während in


Kleinfirmen 34 Millionen neue
Jobs entstanden.

Die Mehrzahl dieser neuen


Tätigkeiten unterscheidet sich
freilich so dramatisch von in-
dustrieller Arbeit, dass nicht
einmal mehr die Bezeichnung
„Arbeitsplatz“ auf sie zutrifft.
Der 1999er California Work and
Health Survey dokumentierte
im amerikanischen Westen eine
radikale Reorganisation des
Arbeitslebens. Nur ein Drittel
aller Erwerbstätigen in Silicon
Valley und Umgebung ist noch
festangestellt. 40 Prozent wech-

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selten während der vergangenen drei Jahre wenigstens einmal den Arbeitgeber, ein
Viertel arbeitet lediglich saisonal, 12 Prozent halten mehrere Jobs, acht Prozent
verdienen ihr Geld komplett aus dem eigenen Heim. „Wir haben alle geglaubt, dass
wir auf dem Weg zu dieser Sorte von Wandel waren“, kommentiert Ed Yelin von der
University of California die Überraschung der Experten. „Aber aus den Daten wird
nun klar, dass wir bereits bei den neuen Verhältnissen angekommen sind.“

Bürokratische Befehls- und Gehorsamsstrukturen, wie sie in den großen industri-


ellen Apparaten dominieren, werden in der Wissensökonomie durch Mobilität und
eigenständiges, kreatives Handeln abgelöst. Jeder wandelt sich, wie Ulrich Beck
es als Leitbild formulierte, zum „Unternehmer seiner Arbeitskraft und Daseins-
vorsorge“. Der Geldberuf kann unter diesen Bedingungen werden, was er in der
industriellen Epoche außerhalb von privilegierten Nischen kaum war: Quelle von
Befriedigung und Lebenssinn. Je weiter die Digitalisierung fortschreitet, desto
weniger vermag den Menschen daher das heute typische Rentnerdasein als segens-
reiche Erlösung erscheinen. Am Ruhestand tritt vielmehr der Stillstand hervor - als
Schreckensbild. Die (Früh-)Rentner von heute dürften insofern eine Spezies sein,

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die zusammen mit anderen industriellen Erscheinungen ausstirbt; zum Guten jedes
Einzelnen und zum Besseren der Volkswirtschaften.

D as 21. Jahrhundert wird, das scheint gewiss, die erste historische Epoche sein,
in der die Alterspyramide auf dem Kopf steht. Während 95 Prozent der Mensch-
heitsgeschichte erlebte das durchschnittliche Individuum sein achtzehntes Lebens-
jahr nicht. Allenfalls drei Prozent wurden bis zur industriellen Revolution 65, und
noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts lag die durchschnittliche Lebenserwartung
erheblich unter 50 Jahren. Insofern war Bismarcks Sozialrente nicht als Breitenleis-
tung angelegt, sondern als humanitäre Offerte an eine Minderheit von Bedürftigen.
Von der Ausnahme ist der Ruhestand jedoch längst zur Norm geworden. Anfang
dieses Jahrhunderts waren lediglich drei Millionen Amerikaner über 65, heute sind
es 33 Millionen, 2035 wird die Zahl auf 70 Millionen gestiegen sein. In Deutschland
wird 2006 jeder Fünfte über 65 Jahre alt sein, in den USA 2023. Der Zeitpunkt ist
absehbar, zu dem mehr Großeltern als Enkel leben. Die technische Revolution der
Digitalisierung wird so von einer sozialen Langlebigkeits-Revolution begleitet.

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Dass eine statistisch relevante Minderheit oder gar Mehrheit von Menschen, die
im Prinzip in der Lage wäre, für ihren Lebensunterhalt selbst zu sorgen, sich von
dem Rest der Bevölkerung auf Dauer alimentieren lässt, ist allerdings unter demo-
kratischen Verhältnissen schwer vorstellbar. Paul Wallace beschreibt in Age Quake
(1999) die drohenden Konsequenzen als ein von der Alterswelle ausgelöstes sozia-
les Beben. Auch Peter Peterson, in jüngeren Jahren Vorstandsvorsitzender der In-
vestmentbank Lehman Bros., warnt in seinem Buch Gray Dawn (1999) davor, auf die
globale Überalterung weiterhin mit Rezepten der industriellen Epoche zu reagie-
ren: „Wir stehen vor demographischen Veränderungen, die so substantiell sind, dass
sie im Laufe der nächsten Generation die ökonomischen und politischen Systeme
der entwickelten Länder umdefinieren könnten.“

Noch 1960 arbeitete der durchschnittliche Mann in den entwickelten Länden von
seinen 68 Lebensjahren 50. Heute lebt er 76 und arbeitet knapp 38. Dieses Er-
gebnis einer anachronistischen Arbeitsmarktpolitik wird rapide unbezahlbar. Mag
die Mehrheit noch den Ruhestand, eine soziale Einrichtung, die gerade einmal
100 Jahre alt ist, für ein selbstverständliches Menschenrecht halten, das in immer
jüngeren Jahren genossen werden sollte - bei den meisten Experten wächst die Ein-

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sicht, dass hier eine Fehlentwicklung zu korrigieren ist: „Unsere aktuellen Renten-
programme, die als menschliche Anstrengung begangen, alten Menschen zu helfen,
die nicht mehr arbeiten konnten und unabänderlich abhängig waren, ermuntert sie
nun, mit dem Arbeiten aufzuhören, obwohl sie es noch könnten“, schreibt Robert
J. Samuelson, Autor von The Good Life and Its Discontents: The American Dream
in the Age of Entitlement. Und die Wirtschaftswissenschaftlerin Dora L. Costa resü-
miert in ihrer Studie The Evolution of Retirement: An American Economic History,
1880-1990: „Die Ruheständler sind zur wahren leisured class geworden“, zu einer
Klasse von Leuten also, die sich zu fein zur Arbeit sind.

Wie die Statistiken freilich zeigen, ist die ökonomische Passivität dieser postmo-
dernen leisured class nicht unbedingt gewollt. Die immer frühere und ökonomisch
ruinöse Verrentung stellt weitgehend das Ergebnis von Zwangsmaßnahmen gegen
die Betroffenen selbst dar. Gerade in den europäischen Wohlfahrtsstaaten werden
Menschen über Fünfzig durch staatliche Vorgaben in die Untätigkeit gedrängt.
Hinzukommt ein enges Netz von Vorschriften, das den gleichzeitigen Bezug von
Renten- und Arbeitseinkommen verbietet oder steuerlich bestraft. Auf sehr ähn-
liche Weise, wie der Start von Jungunternehmern behindert wird, machen es so

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staatliche Regelungen im Verein mit gewerkschaftlichen Abkommen, beides Relikte


der industriellen Epoche, älteren Arbeitnehmern fast unmöglich, wenigstens teil-
zeitlich oder saisonal weiterzuarbeiten. Der vermeintlich fürsorgliche Umgang mit
den Alten zeigt sich so als undemokratisch und von obrigkeitsstaatlichem Denken
bestimmt. Denn Hunderttausenden wird ab einem bestimmten Alter die Freiheit
genommen, ihren Lebensstil selbst zu bestimmen. Der britische Economist forderte
daher jüngst: „Lasst die alten Leute arbeiten“ und nannte die existierenden Sozi-
alstaatszwänge ein „perverses öffentliches Vorgehen“: „Alte Leute zu verfrühtem
Ruhestand zu zwingen ist sowohl illiberal wie idiotisch.“

Letzteres, weil hinter der repressiven Vergoldung der Frührente in Ländern wie
Frankreich und Deutschland ein Denken steht, dass die meisten angelsächsischen
Experten für ökonomischen Analphabetismus halten: eine von bürokratischer
Mentalität gezeichnete Mengentheorie der Arbeit. Deren Anhänger scheinen allen
Ernstes zu glauben, es gäbe ein festes, vorgegebenes Volumen an möglichen Tätig-
keiten, das sich nun verteilend verwalten ließe. Zu diesem Zwecke soll dann nicht
nur die Wochenarbeitszeit verringert werden – in Frankreich schickt man gar die
Polizei, um zu kontrollieren, dass selbst Manager nicht zu lange am Schreibtisch sit-

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zen; zu diesem Zwecke will man auch Älteren die Arbeit nehmen, um sie Jüngeren
zu geben.

Das beste Beispiel für den Unsinn solcher Anstrengungen – weil das zu historischen
Zeiten mögliche Arbeitsvolumen eben keine feste Menge darstellt, sondern mit
jeder technischen Innovation potentiell wächst – bietet gegenwärtig die entschie-
dene Nutzung von Computer und Internet in den USA. Sie produziert Wachstum,
Arbeit und Wohlstand in einem nie gekannten Maße. Sowohl die Produktivität pro
Arbeitnehmer wie die Arbeitszeit sind hier mit jährlich 2000 Stunden am höchsten
– in Deutschland arbeitet man 20 Prozent weniger, lediglich 1600 Stunden. Gleich-
zeitig liegt die amerikanische Arbeitslosigkeit bei nur 4,1 Prozent – und das nicht,
weil durch staatliche Eingriffe oder Tarifvereinbarungen vorhandene Arbeitsplätze
„erhalten“ worden wären, sondern im Gegenteil, weil der Staat die kreative Zerstö-
rung der industriellen Strukturen nicht behindert hat.

Der bedrohliche Arbeitsmangel in den europäischen Wohlfahrtsstaaten ist daher


hausgemacht, mit viel Anstrengung und gegen den historischen Trend. Er ist das
Resultat einer auf Umverteilung des Vorhandenen statt auf neues Wachstum ausge-
richteten Wirtschaftspolitik. Dieselbe Mentalität, die den Mangel produziert, muss

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dann natürlich jenes Wachstum, das sie nicht kontrollieren kann – die Zunahme
an alten Menschen – als Bedrohung empfinden, als Gefährdung der Sozialstaatszu-
kunft. Unschwer erinnert solch wirtschaftliches Denken an die Vorurteile früherer,
stagnativer Epochen; etwa an John Malthus‘ berühmten Essay on the Principle of
Population (1798) mit seiner Warnung vor einer kommenden Bevölkerungskatastro-
phe, weil die Menschheit schneller wachse, als Nahrung produziert werden könnte.
Malthus‘ Prognose lag bekanntlich daneben, weil er das Wachstum nicht vorhersah,
das die Industrialisierung der Landwirtschaft brachte. Heute erzeugen zum Beispiel
in den USA die drei Prozent der Bevölkerung, die noch in der Landwirtschaft tätig
sind, weitaus mehr Lebensmittel als vor 100 Jahren die 80 Prozent aller Amerika-
ner, die Farmberufe ausübten. Genauso wenig aber wie der gewaltige Bevölkerungs-
zuwachs während des 19. und 20. Jahrhunderts in Europa ein unüberwindliches
Ernährungsproblem bot, muss auch der künftige Zuwachs an älteren Menschen eine
ökonomische oder soziale Krise auslösen.

H ohes Alter als Massenerscheinung ist ein Produkt des 20. Jahrhunderts. Im 21.

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müssen daraus die sozialen Konsequenzen gezogen werden – und dank der digitalen
Revolution können es positive sein. Das Alter, unter industriellen Bedingungen zu
wenig gut, wandelt sich zu einer Chance, für das Individuum wie für die Gesell-
schaft. Dazu trägt wesentlich der simple Umstand bei, dass die meisten, die gegen-
wärtig nach Lebensjahren als alt gelten, es physisch wie geistig keineswegs sind.
Jeder Vergleich von Familienfotos zeigt es: Die Sechzigjährigen von heute wirken
jünger als ihre Eltern einst mit fünfzig. Und sie sind es auch, wie die Gesundheits-
daten beweisen. Neun von zehn Menschen zwischen 65 und 74 leben ohne jede
physische Behinderung. Der OECD-Report „Maintaining Prosperity in an Ageing
Society“ legt dar, dass bis ins achte Lebensjahrzehnt hinein die Gesundheitsunter-
schiede zwischen den Altersgruppen gering sind. Wie in allen Lebensaltern gibt es
Gesunde und Kranke, der gesunde 70jährige ist jedoch in der Regel kaum weniger
leistungsfähig als der gesunde 55jährige. Die Konsequenz, die der Report zieht:
Eine biologische Basis für einen generellen Ruhestand zwischen 60 und 70 existiert
nicht (mehr).

Die Fortschritte, die unsere Spezies gemacht hat, erfordern eine Umdefinition
der Lebensalter: Die Jugend reicht heute bis weit in das vierte Lebensjahrzehnt,

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das mittlere Alter bis in das siebte Jahrzehnt. Erst dann kommt es generell zu
biologischen Abnutzungserscheinungen, die früher in der Regel zwischen Fünfzig
und Sechzig auftraten. Die stete Reduzierung der Lebensarbeitszeit, die aus Ver-
hältnissen rührte, deren Ende erreicht oder zumindest absehbar ist, kann daher
rückgängig gemacht werden. In der Vergangenheit haben die Volkswirtschaften eine
Vielzahl sozialer Gruppen integriert, die zuvor von Erwerbstätigkeit weitgehend
ausgeschlossen waren, etwa Frauen und Behinderte. Jetzt steht eine ähnliche
Integrationsleistung für ältere Menschen an. Denn der abrupte Übergang in den
Ruhestand macht keinen Sinn mehr. Das Alter als Lebens- und Arbeitsform muss
neuerfunden werden – und das nicht zuletzt, weil ein Mangel an qualifizierten Ar-
beitskräften absehbar ist; gerade in den digitalen Wachstumsbranchen.

In den USA ist bereits ein gutes Drittel der Arbeitskräfte, die über Zeitagenturen
vermittelt werden, fünfzig und mehr Jahre alt. Untersuchungen zeigen, dass sich
ältere Menschen nicht schwerer für neue Aufgaben anlernen lassen als Teenager,
dann jedoch eher zuverlässiger arbeiten. Die über 55jährigen zählen ohnehin zu
den stärksten Computernutzern, sie verbringen mehr Zeit online als jede andere
Altersgruppe. Ihre Umschulung auf Hightech-Berufe bietet sich an – und findet ver-

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stärkt statt. Internet-Ausbildungszentren wie ThirdAge.com machen daraus ein er-


folgreiches Geschäft. „Das ist das besondere an Computern“, zitiert Business Week
die 62jährige Ex-Sekretärin und Selfmade-Webmasterin Sonia Brock: „Es ist denen
egal, wie alt du bist.“

Das Potential für die noch erheblich „älteren“ und von Nachwuchsproblemen ge-
plagten europäischen Nationen liegt auf der Hand. In Deutschland wird die Bevöl-
kerung in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts um 10 Prozent sinken, in Italien
um gar 25 Prozent. Schon heute sind in den IT-Branchen kaum Kräfte zu finden. In
einer solchen Situation Hunderttausende von 50- bis 70jährigen gezielt zu Mündeln
des Wohlfahrtsstaates zu machen, ist ein ökonomischer Wahnsinn, der sich nur als
anachronistische Fortschreibung überkommener Gewissheiten verstehen lässt.

Industrielle Arbeit brannte die Menschen aus, verwandelte sie in „altes Eisen“.
Berufserfahrung, das über ein Leben angesammelte Wissen, wie es in der Mensch-
heitsgeschichte zuvor einen unschätzbaren Wert darstellte, bedeutete unter diesen
Bedingungen schon allein deshalb wenig, weil sich weder am Fließband noch bei
üblichen Verwaltungstätigkeiten zukunftsträchtige Erfahrungen machen ließen.
Wissensarbeiter hingegen akkumulieren verwertbare Fähigkeiten. Informationen

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mögen veralten, nicht aber das strukturelle Können, sie zu finden, auszuwerten
und zu Problemlösungen aufzuarbeiten. Erfahrene Wissensarbeiter haben wie einst
die vorindustriellen Alten etwas weiterzugeben; die nachfolgenden Generationen
können von ihnen lernen.

Die Welle der Pensionierungen, die mit den geburtenstarken Jahrgängen heranrollt,
verglich Business Week daher mit der Gefahr eines „Brain Drain“: dem Verlust an
Erfahrungswissen, an Firmengeschichte. Während bis vor kurzem stets ältere Mit-
arbeiter zuerst entlassen wurden, fürchtet man nun in Konzernen wie DaimlerCh-
rysler oder Chevron den Massenabgang von Kräften, deren Erfahrung sich auf die
Schnelle kaum ersetzen lässt - zumal sich die Jobs für qualifizierte Angestellte bis
2010 um 21 Prozent vermehren werden, während die Zahl der Menschen zwischen
35 und 50, die für sie in Frage kämen, um fünf Prozent fallen wird.

Unter dem größten Mangel an Berufserfahrung leiden gegenwärtig Tausende


junger High-Tech-Firmen in Silicon Valley und Umgebung. Ihre Gründer mögen
wissenschaftlich und technisch auf dem letzten Stand sein, allein ihnen fehlt die
Geschäftserfahrung. Es ist daher zur üblichen Praxis unter Venture-Kapitalisten
geworden, den Jungunternehmern jene älteren Manager zur Seite zu stellen, die

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im Zuge des Personalabbaus in den traditionellen Branchen freigesetzt wurden. Ex-


Geschäftsführer von Flug- und Telefongesellschaften, Ex-Finanzchefs von Banken
oder Autokonzernen, auch pensionierte Generäle und Admiräle – zu Hunderten
helfen Männer und Frauen zwischen Fünfzig und Achtzig beim Aufbau von Hightech-
Startups. „Das stellt eine enorme Gelegenheit für kleinere Firmen dar, diese ver-
schwendeten Ressourcen der Konzerne zu nutzen“, sagt Thomas J. Neff von der
Personalberatungsfirma Spencer Stuart. Auch Roger M. Kenny, Unternehmensbera-
ter bei Boardroom Consultants, hält „reifere Manager als Mentor für jüngere CEOs
für ideal“. Bestätigt wird diese Ansicht von einer Studie der Warwick University:
Während in Großbritannien nur 19 Prozent der Neugründungen überleben, schaffen
es aber 70 Prozent der Firmen, die von Leuten geleitet werden, die 55 Jahre und
älter sind.

D iese wichtige Rolle, die erfahrene Wissensarbeiter an der vordersten Front der
digitalen Revolution spielen, weist auf die kommende Bedeutung der „neuen Alten“
voraus, wie sie der Psychologe und Gerontologe Ken Dychtwald in Age Power: How

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the 21st Century Will Be Ruled by the New Old (1999) entwirft. Für seine These
einer kulturellen Dominanz spricht allein die schiere Zahl der alternden Babyboo-
mer. In den USA werden die 76 Millionen Menschen, die zwischen Ende des Zweiten
Weltkriegs und Pillenknick geboren wurden, in den nächsten Jahren das traditio-
nelle Rentenalter erreichen - in relativen wie absoluten Zahlen die größte Gruppe
von Alten in der Geschichte des Landes.

Es ist dieselbe Gruppe von Menschen, die in den sechziger Jahren Jugendkult und
sexuelle Revolution und in den siebziger Jahren die Computerrevolution trug. Der
kalifornische Historiker Theodore Roszak, der 1969 mit seiner Studie The Making of
a Counter Culture: Reflections on the Technocratic Society and Its Youthful Oppo-
sition den Begriff Gegenkultur prägte, sieht nun – selbst 65 Jahre alt - wieder eine
Revolution von seiner Generation ausgehen: die Langlebigkeitsrevolution. „Noch
nie gab es in der menschlichen Geschichte eine Gesellschaft, die sich aus mehr
Menschen über als unter 50 zusammensetzte“, schreibt er in America the Wise:
The Longevity Revolution and the True Wealth of Nations (1999). „Dieses Ereignis
markiert eine langfristige Wende zum Alter, die nicht umkehrbar ist; wir gehen in

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Richtung einer permanenten Dominanz der Älteren in unserem politischen, kultu-


rellen und sozialen Leben.“

Die Massen-Alterung der Gesellschaft versteht er als Chance für einen sozialen
Wandel. Er könnte die Überwindung des industriellen Erbes bewirken und Alter von
einer finalen Beschädigung der menschlichen Existenz umwerten zu einer neuen
Chance, „einer kulturellen und spirituellen Ressource, die durch Fortschritte in der
öffentlichen Gesundheitsfürsorge und medizinischen Wissenschaft vom Tod zurück
gewonnen wurde, wie die Holländer fruchtbares Land aus der Weite des Meeres
zurückgewinnen“.

Notwendig für die Überwindung der industriellen Ressentiments gegen das Alter, meint
Roszak, sei ein Kampf für Gleichberechtigung, eine neue Bürgerrechtsbewegung, dies-
mal nicht gegen Rassen-, sondern gegen Altersdiskriminierung. Derselben Ansicht ist
Ken Dychtwald: „Ältere Menschen werden in unserer Kultur aggressiv und andauernd
am Arbeitsplatz diskriminiert.“ Auch Peter Peterson vergleicht racism mit ageism: „Ein
komplettes Stereotyp muss rückgängig gemacht werden, zusammen mit den institutio-
nellen Regeln und Denkgewohnheiten, die es am Leben erhalten.“

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Beim Aufbrechen dieser verkrusteten Strukturen, das zeigen die Erfahrungen in


vielen jungen Hightech-Firmen, kommt es in den USA zum Schulterschluss zwischen
der Großeltern- und Enkelgeneration – den beiden Altersgruppen, die nach den
Gewohnheiten der industriellen Epoche vom ökonomischen Leben ausgeschlossen
werden sollen. Die Jungen hält es immer weniger in einem Schul- und Ausbildungs-
system, das nach dem Prinzip der Fabrik Monotonie und überholte Standards ver-
breitet, und die Alten verlangt es schlicht nach dem Gegenteil des überkommenen
Rentnerdaseins – nach einem neuen Unruhestand.

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Dieses Werk ist unter ei- Impressum
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Namensnennung-Keine Druckgeschichte
kommerzielle Nutzung- Im Unruhestand. In: C’T - MAGAZIN FÜR COMPUTERTECHNIK
Keine Bearbeitung 2.0 (25/99), 6. Dezember 1999, S. 90-95.
Deutschland Lizenzver- Nachdruck in: Zeitschrift für Personalführung 06/2002.
trag lizenziert. Um die
Auszugsweiser Nachdruck als: Neuer Trend: Arbeiten bis 100.
Lizenz anzusehen, ge-
In: SÜD-WESTPRESSE, 8. März 2000.
hen Sie bitte zu http://
Auszugsweiser Nachdruck als: Unruhestand. In: FINANCIAL TIMES DEUTSCHLAND, 31. März 2000, Week-
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Über den Autor


Gundolf S. Freyermuth ist Professor für Angewandte Medienwissenschaften an der ifs internationale filmschule
köln (www.filmschule.de). Weitere Angaben finden sich auf www.freyermuth.com.

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