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Geheimakte Deutschland

Vor 20 Jahren: Wie Europa Politiker die Einheit verhindern wollten


DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN - MAGAZIN

Hausmitteilung
27. September 2010 Betr.: Titel, SPIEGEL GESCHICHTE, SPIEGEL-Buch

R egierungen in aller Welt geben interne Schriftstücke und Protokolle nur ungern
preis. Umso bemerkenswerter war, dass das Auswärtige Amt dem Antrag des
SPIEGEL entsprach, bislang geheim gehaltene Dokumente über die Verhandlungen
zur deutschen Einheit freizugeben. SPIEGEL-Autor Klaus Wiegrefe, 45, sichtete
Tausende Papiere aus den Jahren 1989 und 1990, darunter Vermerke über die
Gespräche, die der damalige
Außenminister Hans-Dietrich
Genscher, heute 83, führte, und
Berichte der deutschen Bot-
schaften. Sein Fazit: „Um die
Einheit wurde deutlich härter
gerungen als bisher öffentlich

ROBYN TWOMEY / DER SPIEGEL


bekannt.“ Die SPIEGEL-Re-
dakteure Michael Sauga, 51,
und Stefan Simons, 59, gingen
zudem der Frage nach, ob
Frankreich der Einheit nur un-
ter der Bedingung zustimmte, Schmitz, Hujer, Rice in Palo Alto
dass die Deutschen die D-Mark
zugunsten des Euro aufgeben würden. Ihre Kollegen Marc Hujer, 41, und Gregor
Peter Schmitz, 35, sprachen im kalifornischen Palo Alto mit der früheren US-Au-
ßenministerin Condoleezza Rice, 55, über den „historischen Jackpot“, wie sie die
Einheit nennt. Zwei ehemalige DDR-Bürger in der SPIEGEL-Redaktion liefern
sehr persönliche Beiträge zur deutschen Einheit. Stefan Berg, 46, schildert, wie
seltsam ihm die neue Welt des Westens bis heute erscheint. Jochen-Martin Gutsch,
38, beschreibt die ehemalige DDR-Rockband Silly (Seiten 34, 39, 68, 184).

M
it großer Wucht betrat der Islam vor 1400 Jahren die
Bühne der Weltgeschichte – verkündet vom kämpferi-
schen Propheten Mohammed und verbreitet von Gläubigen,
die rasch ein riesiges Reich eroberten. Wenn heute vom
Islam die Rede ist, warnen manche vor dem Heiligen Krieg
der Muslime gegen Ungläubige, während sich andere über
eine wachsende Islamophobie empören. Nicht viele aber
kennen die Geschichte dieser Religion, die während ihres
„Goldenen Zeitalters“ die christliche Welt kulturell und wis-
senschaftlich weit in den Schatten gestellt hatte. Einen gründ-
lichen Überblick über die spirituellen Quellen, die glanzvolle
Vergangenheit und die konfliktreiche Gegenwart bietet die neue Ausgabe von
SPIEGEL GESCHICHTE, die unter dem Titel „Der Islam“ am Dienstag für 7,50
Euro in den Handel kommt.

S eine Reportagen aus Asien, die Tiziano Terzani für den


SPIEGEL schrieb, machten ihn weithin bekannt. Das Ge-
spräch über sein Leben und Sterben, das er kurz vor seinem
Tod im Jahr 2004 mit seinem Sohn Folco führte, wurde unter
dem Titel „Das Ende ist mein Anfang“ zum Bestseller, und es
wurde verfilmt, der Kinostart ist am 7. Oktober. Im neuen
SPIEGEL-Buch „Meine asiatische Reise“ werden nun neben
Terzani-Texten 300 faszinierende Schwarzweißfotos veröffent-
licht, die der Journalist in Indien, China, Thailand, Vietnam,
Japan und Tibet aufgenommen hat (DVA; 24,99 Euro).

Im Internet: www.spiegel.de D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0 5
In diesem Heft
Titel
Wurde die D-Mark der Einheit geopfert? ............. 34
Der Kampf der Diplomaten um
die Wiedervereinigung ....................................... 39 Hartz IV: Was hilft den Kindern? Seite 94
SPIEGEL-Gespräch mit der ehemaligen Armut trifft die
US-Außenministerin Condoleezza Rice über Jüngsten am härtes-
das Jahr 1989/90 .................................................. 53
ten. Wie Hartz-IV-
Deutschland Kindern zu helfen
Panorama: Brüssel hält an harten Auflagen für ist, darüber berät
deutsche Landesbanken fest / Union und FDP diese Woche die
auf Konfrontationskurs in der Sicherheitspolitik / Bundesregierung.
Millionen-Desaster am Nürburgring ................... 15 Doch es gehört zu
Grüne: Gute Umfragewerte machen aus dem den großen Lebens-
ewigen Juniorpartner eine gefühlte Volkspartei ... 20
Bundeskanzlerin: Angela Merkel nimmt
lügen des deutschen
den Kampf gegen die Bürger auf ........................ 24 Sozialsystems, dass
Geld alle Probleme

JENS WOLF / DPA


FDP: Interview mit Generalsekretär
Christian Lindner zur Krise der Liberalen .......... 26 löse. Vielen Kindern
Affären: Der Rücktritt von Brandenburgs fehlt es vor allem an
Innenminister Rainer Speer gefährdet Zuwendung und
Ministerpräsident Matthias Platzeck ................... 28 Von der Leyen Aufmerksamkeit.
Geheimdienste: Kryptologen der Stasi sind für
die Geheimcodes der Nato zuständig ................. 30
Stasi: Die schwierige Suche nach einem
Nachfolger für Marianne Birthler ....................... 32
Justiz: Im Verfahren gegen Verena Becker sind
weitere Geheimdokumente aufgetaucht ............. 33
Verbraucher: Die Deutschen sind Meister im
Die Grünen im Rausch der Umfragen Seite 20
Wassersparen – was teuer und sinnlos ist ........... 56 Erstmals haben die Grünen bundesweit mit der SPD gleichgezogen. Die CDU
Gesellschaft geht zum Angriff über, die SPD fürchtet um ihren Führungsanspruch im
Szene: Haarspende für den Kampf gegen linken Lager. Selbst ein grüner Bundeskanzler scheint plötzlich denkbar.
Krebs / Die Meisterwerke des
Kino-Fotografen Steve Shapiro .......................... 65
Eine Meldung und ihre Geschichte – Wie ein
Inder von Luft und Licht lebt ............................. 66
Musik: Die DDR-Rockband Silly will
gesamtdeutsch werden ....................................... 68
Bürokratie: Deutsche Waffenbehörden sind
unterbesetzt und überfordert ............................. 83
Integration: In der Uckermark sind sich
Das Wunder der Einheit Seiten 34, 39, 53
italienische Gastarbeiter und Einheimische Paris und London waren dagegen, auch Kreml-Chef Michail Gor-
fremd geblieben ................................................. 84 batschow – dennoch wurde Deutschland 1990 vereint. Neue Geheim-
Ortstermin: Im sächsischen Hammerbrücke akten zeigen den internationalen Machtkampf hinter den Kulissen.
demonstriert das Volk für große Schnitzel ......... 85 Ein Gesamtdeutschland in der Nato „lag im amerikanischen Interes-
Wirtschaft se“, sagt die ehemalige US-Außenministerin Condoleezza Rice im
SPIEGEL-Gespräch. Frankreich verlangte für sein Ja zur Einheit die
Trends: Verdacht gegen Telekom-Chef
Obermann weitet sich aus / IWF rechnet mit Einführung des Euro.
kräftigem Wachstum für Deutschland /
Neuer Übergriff der Pharmalobby ..................... 86
Finanzmärkte: Algorithmen sind die
neuesten Waffen an den Weltbörsen .................. 88
Staatsschulden: Weshalb Irlands Finanzprobleme
den ganzen Euro-Raum alarmieren .................... 91
Brüssel will mehr Überwachung ......................... 92
HSH Nordbank: Ein Ex-Regierungssprecher
lädierte den Ruf des früheren Leiters der
New Yorker Niederlassung ................................. 93
Sozialpolitik: Kindern aus Hartz-IV-Familien
fehlt es nicht nur an Geld ................................... 94
Autoindustrie: SPIEGEL-Gespräch mit VW-Chef
Martin Winterkorn über sein Ziel, Toyota
zu überholen, und das Erbe Ferdinand Piëchs ... 109
Bahn: Wie Konzernchef Rüdiger Grube
die Ziele der Regierung untergräbt ................... 112
Arbeitsmarkt: Jobsuchende sollen beim
SCHMITT / PICTURE-ALLIANCE / DPA

„Speed-Dating“ punkten .................................. 113


Ausland
Panorama: Iran attackiert Yukiya Amano, den
neuen Chef der Internationalen Atomenergie-
behörde in Wien / Rückschlag für Nato-Strategie
in Afghanistan .................................................. 114
Europa: Die Rechten gegen die Muslime ........... 116
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Russland: Machtkampf um Moskau ................ 120
Italien: Eine Taliban-Geisel berichtet .............. 122
Brasilien: Die Wanderarbeiter von Valadares ... 124
Global Village: Geburtstag bei der Opec .......... 128
Serie
Zentralasien (Teil I): Unregierbares Kirgisien ... 130

BAZIZ CHIBANE / SIPA (L.); LEIF R. JANSSON / SCANPIX / AP (M.); SUNSHINE / ACTION PRESS (R.)
Sport
Szene: Ein Film über Kolumbiens Fußball
im Griff der Drogenbosse / Gipfelschwindel
des Bergsteigers Christian Stangl am K2 .......... 141
Tennis: SPIEGEL-Gespräch mit Andrea Petkovic
über ihren Erfolg in der Weltspitze ................. 142
Fußball: Den Aufstieg in Spaniens erste Liga
hat sich Hércules Alicante wohl erkauft .......... 146
Wissenschaft · Technik
Prisma: Massenkastration für streunende
Das Europa der Islam-Feinde Seite 116 Hunde / Gute Noten für Biokraftstoff ............. 149
Frühgeschichte: Berliner Forscher kartieren
das alte Germanien ......................................... 152
Marine Le Pen in Frankreich, Jimmie Åkesson in Schweden, Geert Firmengründer: Immer mehr Rentner machen
Wilders in den Niederlanden – mit bürgerlicher Attitüde und einem sich selbständig ............................................... 158
neuen Feindbild stoßen junge Rechtspopulisten in die Mitte vor: Umwelt: Schadstoffe wirken schon auf
Sie beschwören die Bedrohung des Abendlands durch die Muslime. Ungeborene im Mutterleib .............................. 160
Computersicherheit: Wer steckt hinter
dem neuen Schadprogramm? .......................... 163
Verkehr: Russlands neue Eismeer-Flotte .......... 164
Le Pen Åkesson Wilders
Kultur
Szene: Hamburgs Sparkurs bei der Kultur / Die
Quadrate des Malers Ad Reinhardt in Bottrop ... 166
Kunstmarkt: Die Witwe und ein unehelicher
Sohn streiten um den Immendorff-Nachlass ..... 168
Umweltgifte im Mutterleib Seite 160 Kino: Regisseur Luc Besson baut im Pariser
Umland eines der größten Filmstudios Europas ... 172
Schadstoffe aus der Luft dringen bis ins Blut von Ungeborenen und können Debatte: Philosoph Richard David Precht über
das Unbehagen der bürgerlichen Mittelschicht ... 176
dort das Erbgut verändern. Eine internationale Studie warnt: Umweltgifte Autoren: Bret Easton Ellis legt Fortsetzung des
im Mutterleib schaden der geistigen Entwicklung. Achtziger-Jahre-Klassikers „Unter Null“ vor .... 178
Bestseller ......................................................... 182
Einheit: SPIEGEL-Redakteur Stefan Berg
über sein Leben in Ost und West ...................... 184
Buchkritik: Yann Martels Roman „Ein Hemd
Machtkampf bei WikiLeaks Seite 190
des 20. Jahrhunderts“ ....................................... 187
Medien
Der wichtigste Mitarbeiter von WikiLeaks-Gründer Julian Assange geht im Trends: Sibel Kekilli verbietet Verbreitung
Streit. Die Enthüllungsplattform sei „überfordert“, sagt der Deutsche Daniel alter Pornofilmausschnitte / „Zeit“-Chefredakteur
Schmitt im Interview: „Wir müssten dringend transparenter werden.“ Giovanni di Lorenzo über seine Pläne mit dem
„Rheinischen Merkur“ ...................................... 189
Online: Interview mit dem deutschen WikiLeaks-
Sprecher Daniel Schmitt über seinen Bruch mit
WikiLeaks-Gründer Julian Assange .................. 190

Erbstreit im Hause Immendorff Seite 168 Briefe ................................................................... 8


Impressum, Leserservice .................................. 192
Gut drei Jahre nach Register ............................................................ 194
dem Tod Jörg Immen- Personalien ....................................................... 196
dorffs, eines der be- Hohlspiegel / Rückspiegel ................................. 198
kanntesten deutschen Titelbild: Foto Reuters
Künstler, eskaliert die
Auseinandersetzung
um sein Erbe. Immen-
dorffs Witwe Oda
Auslese
Jaune und ein unehe- Manchmal kauft man ein
THOMAS RABSCH / LAIF

licher Sohn des Malers Buch nur deshalb, weil


streiten um den Nach- es so schön beginnt: Der
lass. Doch wie viel KulturSPIEGEL stellt die
sind die Werke des besten 25 Romane dieses
Maler-Stars eigentlich Literaturherbstes und ihre
noch wert? Oda Jaune, Immendorff 2003 Anfänge vor.

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Briefe

alle bisher gezahlten und folgenden Sub-


„Keiner merkt, dass wir mal wieder die ventionen für Treibstoffe, Brennstoffe so-
wie Kohle- und Atomstrom inklusive End-
Einzigen in Europa sind, die zu besseren lagerkosten auch genannt worden wären.
Menschen geprügelt werden sollen. Die ELMSHORN (SCHL.-HOLST.) SABINE PESCHKE
Öko-Tycoone und Alternativ-Lobbyisten
Die im Artikel gut aufgezeigten großen
ziehen am selben Tischtuch, nur in die Herausforderungen und Kosten des ver-
andere Richtung. Länger wird es dadurch gleichsweise konservativen und häufig als
nicht. Am Ende werden sie genauso nicht fortschrittlich genug gescholtenen
Energiekonzepts der Bundesregierung zei-
viel Umwelt zerstört haben wie die kon- gen deutlich, wie populistisch und nicht
ventionelle Energiewirtschaft.“ realisierbar dann die energetischen Forde-
Ralf Bierod aus Uetze in Niedersachsen zum Titel rungen der Oppositionsparteien sind.
SPIEGEL 38/2010 „Der teure Traum von der sauberen Energie“ BERLIN FELIX SCHNEIDER

von Wohngebäuden zu fördern, wären wir Hervorragendes Lehrstück


Noch haben wir die Wahl heute einen großen Schritt weiter.
MÜNCHEN ARIANE RÜDIGER
Nr. 37/2010, Religion: SPIEGEL-Gespräch mit dem
Nr. 38/2010, Titel: Politikwissenschaftler Hamed Abdel-Samad
Der teure Traum von der sauberen Energie über sein Werk „Der Untergang der islamischen Welt“
Endlich ein Beitrag, der ungeschminkt auf und Thilo Sarrazins Thesen
Die Fragestellung müsste sein: „Wie viel die komplexen Zusammenhänge hinweist.
Energie ist aufzuwenden, um hinterher Das Erneuerbare-Energien-Gesetz war Eine präzise und ergreifende Nachzeich-
wie viel Energie zu erhalten?“ Wenn man hilfreich beim Aufbau regenerativer Ener- nung, wie innere Not und ideologisierte
an der irreführenden Fragestellung fest- gien, erweist sich aber gleichzeitig als Mo- Religion zusammenhängen. Ersetzt man
halten will: „Wie viel kostet wie viel rege- gelpackung, gaukelt es doch der Bevölke- die islamistischen Begriffe durch christliche,
nerative Energie?“, dann muss man bitte rung vor, die Energieversorgung sei mal kommt man auf einen ganz normalen
schön mit diesen in naher Zukunft dras- so eben mit ein paar Windrädern oder So- Wahnsinn, der sich in Deutschland und der
tisch steigenden Energiekosten rechnen. larpanels umgestellt. Schweiz abspielt, wo es eine evangelisch-
TÜBINGEN DIETER BRUNO BAUMANN BONN WOLFGANG HEEDT evangelikale Szene gibt, die genauso ver-
krüppelte Seelen produziert.
Was hätten wir für eine entspannte Ener- BIEL (SCHWEIZ) CHRISTOPH WITZIG
giediskussion, wenn jeder, der ausschließ-
lich Solar- oder Windstrom nutzen will, tat- Das Gespräch hat mich bewegt wie selten
sächlich auch nur diesen – selbstverständ- eines. Eine muslimische Stimme, die die
lich zum Marktpreis – geliefert bekäme. Tragik dieser einstmals tolerantesten der
DOROTHEA SCHMID / LAIF

Die zwei Drittel des Tages, die dann im drei großen Religionen benennt. Der Is-
Dunkeln verbracht werden müssten, wür- lam, von der glorreichen Epoche des Ka-
den wahrscheinlich sehr zur Schärfung des lifats von Córdoba herabgesunken zu
Bewusstseins für die Realität beitragen. einer Religionsgemeinschaft, deren Ange-
GERA (THÜR.) PETER TRÄGNER hörige zwar wütend gegen die Zeichnun-
Biogasanlage in Bottrop gen eines Karikaturisten protestieren, je-
Dem SPIEGEL gebührt das Verdienst, eine Heilige Kuh geschlachtet doch kaum öffentlich Worte gegen die Per-
heilige Kuh geschlachtet zu haben: die Fol- version von angeblich Gläubigen finden,
gekosten der sauberen Energien! Kein Traum, sondern bittere Realität ist die sich inmitten ihrer Glaubensbrüder in
SYKE (NIEDERS.) DIPL.-ING. ECKHARD KUHLA es, dass wir es bald geschafft haben wer- die Luft sprengen.
den, die Erde für unsere Nachkommen HAMBURG RAINER TECHENTIN
Zu Recht stellen Sie fest, dass die Kosten unbewohnbar zu machen. Haben Sie die-
für die hundertprozentige Energiewende se Kosten mal zusammengerechnet? Das Interview ist ein hervorragendes Lehr-
„gewaltig“ sein werden. Erneuerbare Ener- BERLIN MARTIN HELLWIG stück – auch für Politiker – für den unauf-
gien kosten – das ist wahr. Aber was kostet geregten Umgang mit unseren Zeitfragen.
es, wenn wir die erneuerbaren Energien Sie tun so, als ob es eine Alternative zu Es hat mich aus meiner intellektuellen
und die Energieeffizienz nicht fördern? der Vollversorgung Deutschlands mit er- Hilflosigkeit herausgeführt und Mut ge-
Die Zukunft! Noch haben wir die Wahl. neuerbaren Energien gäbe; dies ist nicht macht, die Welt so zu sehen, wie sie ist.
BADEN-BADEN DR. FRANZ ALT der Fall. Es wäre interessant gewesen, wenn WUPPERTAL HANS KNOER

Das Lamentieren über den Ausbau des


Stromnetzes, damit es mit den fluktuieren- Diskutieren Sie auf SPIEGEL ONLINE
den Erneuerbaren fertig wird, ist unange-
bracht und geht am Thema vorbei. Der Um- ‣ Titel 20 Jahre deutsche Einheit – Anschluss oder
stieg auf Erneuerbare ist schließlich nicht Wiedervereinigung? www.spiegel.de/forum/Einheit
ein optionales Vergnügen, sondern ein
Muss, wenn die Menschheit auf der Erde ‣ Sozialpolitik Kinderarmut – eine Erfindung
noch längere Zeit unter zumutbaren Be- der Statistik? www.spiegel.de/forum/Armut
dingungen leben möchte. Im Übrigen:
Wenn man statt in rückwärtsgewandten ‣ Europa Rechte Parteien – welche Chancen haben
Unsinn wie die Abwrackprämie dasselbe sie in Deutschland? www.spiegel.de/forum/Rechte
Geld dafür investiert hätte, die Sanierung
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Briefe

das aus voller Überzeugung: Ich hatte die


Viel zu kurzsichtig erste Wirtschaftlichkeitsberechnung erstellt
Nr. 37/2010, Bahn: Endstation „Stuttgart 21“ – und war zu einem positiven Ergebnis ge-
Chronik eines verkehrspolitischen Irrwegs
kommen. Von Fachleuten mehrfach über-
prüft – die Berechnungen blieben positiv.
Beim Ausbau des Fernstraßennetzes wur- Sie waren erst die Basis für Herrn Dürr,
den wir bisher stiefmütterlich behandelt. auf die politischen Entscheidungsträger zu-
Auf den weiteren Ausbau des Flughafens zugehen. In vielen öffentlich geführten Dis-
haben wir bewusst verzichtet, weil wir kussionen habe ich das Projekt vertreten
mittels Bahn eine schnelle Anbindung an und fand eine breite Zustimmung.
die benachbarten Flughäfen Frankfurt und REICHELSHEIM (HESSEN) PROF. ULF HÄUSLER
München anstreben. Deshalb haben sich MITGLIED DES VORSTANDES DER DB AG A. D.
das Land Baden-Württemberg sowie Stadt
und Region Stuttgart bereits frühzeitig be-
reit erklärt, die neuen Eisenbahntrassen Nörgeln, maulen, verunglimpfen
mitzufinanzieren. Ein einmaliger Vorgang Nr. 37/2010, Debatte: SPD-Politiker
in der bundesdeutschen Geschichte. Hans-Peter Bartels über das gespannte Verhältnis
STUTTGART DR. MATTHIAS WERWIGK zwischen Politik und Bürgern
EHEMALIGER STADTRAT IN STUTTGART
MdB Bartels gibt uns einen Rat: Alle Bürger
„Stuttgart ist kein Durchgangsort“, das ist dürfen sich in der Politik engagieren, sofern
wahr, aber das liegt am Kopfbahnhof sie sich ins Politikermilieu einfügen, das
und daran, dass es zwischen dem Alpen- immer enger, versteinerter, notdürftiger
nordrand und Frankfurt am Main keine wirkt. Die Klugen, die Ehrlichen, die Ver-
vernünftigen Ost-West- antwortungsvollen wer-
Verbindungen auf der den von den Türstehern
Schiene gibt. Hier nur abgewiesen. Kein Wun-
national zu denken ist der, wenn wir Bürger
viel zu kurzsichtig. nach neuen Wegen su-
BUSSIGNY (SCHWEIZ) chen.
D. H. BAUER AUGGEN (BAD.-WÜRTT.)
ALFRED BREHM
Der SPIEGEL präsen-
tiert jene Fakten und Herr Bartels trifft den
Hintergrundinformatio- Nagel auf den Kopf!
nen, die in der hitzigen Anstatt dass viele nur
„Stuttgart 21“-Diskus- besserwisserisch nör-
sion unter Wahlkampf- geln, maulen und poli-
strategien und der Ab- tisch Aktive als gel-
rechnung der Bürger mit tungssüchtig und un-
UWE ANSPACH / DPA

„Betonkopfpolitikern“ fähig verunglimpfen,


auf der Strecke bleiben. sollten sie sich lieber
Leider haben es auch mal an die eigene Nase
die hiesigen Medien mit fassen und selbst poli-
Erfolg zu verhindern ge- Demonstration gegen „Stuttgart 21“ tisch aktiv werden.
wusst, über Sinn und Nach neuen Wegen suchen Und wenn ihr dazu zu
Unsinn eines solchen faul seid, dann erkennt
Projekts aufzuklären – bis die Schwaben wenigstens an, was Hunderttausende in
dem ganzen Treiben einen Streich spielten. ehrenamtlicher politischer Arbeit für das
STUTTGART FLORIAN MOSER Gemeinwesen leisten!
NITTEL (RHLD.-PF.) JÜRGEN BEILER
Noch nie habe ich eine so gute Zusam-
menfassung über „Stuttgart 21“ gelesen. Politik ist zu einem großen Teil Taktieren,
Sie hätten nur noch erwähnen sollen, dass Intrigieren und Instrumentalisieren. Die
die Genehmigungsinstanzen aufgrund fal- anderen, die einfach nur gute Arbeit se-
scher beziehungsweise verschwiegener hen wollen, widert es an, ihre guten Ideen
Informationen entschieden haben. zerredet zu sehen und am Ende zu erle-
LEINFELDEN-ECHTERDINGEN JOCHEM OBERREUTER ben, wie die dümmste Variante den Sieg
davonträgt. Es ist billig, solche Menschen
Sie kritisieren ein Projekt mit dem Argu- dann als Träumer zu diffamieren, die kei-
ment, die niedrige Auslastung der Bahn- nen Realitätstest aushalten.
strecken der Region Stuttgart würde „S 21“ MERDINGEN (BAD.-WÜRTT.) MICHAEL SCHAEFER
und die Kosten nicht rechtfertigen. Dabei
gehört es doch genau zu den Zielen, die Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit
Anschrift und Telefonnummer – gekürzt und auch elek-
Bahn dort attraktiver zu machen. tronisch zu veröffentlichen. Die E-Mail-Anschrift lautet:
LÖCHGAU (BAD.-WÜRTT.) MICHAEL STAMM leserbriefe@spiegel.de

In meiner Zeit als Vorstand habe ich das In dieser SPIEGEL-Ausgabe befindet sich im Mittelbund
Projekt in jeder Beziehung gefördert, und ein achtseitiger Beihefter der Firma SUBARU, Friedberg.

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Panorama Deutschland

HENNING SCHACHT (L.); SCHULZ / IMAGO (R.)


Schäuble Bayerische Landesbank in München

LANDESBANKEN ten Halbjahresergebnisse seien enttäuschend. „Gerade an-


gesichts der derzeit guten Rahmenbedingungen vermögen

Schlechtes Zeugnis aus die Zahlen in allen drei Fällen insgesamt nicht zu überzeu-
gen“, schreiben die Eurokraten. „Eine nachhaltige Steige-
rung der Erträge im Kreditgeschäft können wir in keinem

Brüssel Fall erkennen.“ Insbesondere bei der WestLB sehen die Be-
amten „derzeit im Hinblick auf einen möglichen Verkauf
wenig Anlass zu besonderem Optimismus“. Dem Wunsch

T rotz milliardenschwerer Eigenkapitalhilfen und Garan-


tien des Bundes und der Länder hat die EU-Kommission
weiterhin kein Vertrauen in die Überlebensfähigkeit von
des Bundes und der Länder, die Prüfungsverfahren zu lo-
ckern, könne man daher nicht entsprechen, heißt es. „Die
Kommission kann auf eine weitere Prüfung, ob die vorge-
WestLB, BayernLB und HSH Nordbank. „Für die Kommis- legten Restrukturierungspläne geeignet sind, die Lebensfä-
sion ist es unabdingbar, Gewissheit darüber zu erlangen, higkeit wiederherzustellen, nicht verzichten.“ Bundesfinanz-
dass die geretteten Institute tatsächlich nachhaltig lebensfä- minister Wolfgang Schäuble (CDU) hat die Finanzminister
hig sind und keine ständige Bedrohung für die Finanzmarkt- der Bundesländer mit Landesbanken sowie Vertreter der
stabilität darstellen“, heißt es in einem Schreiben der Brüs- Sparkassenverbände für Dienstag dieser Woche geladen, um
seler Wettbewerbshüter an Finanzstaatssekretär Jörg As- über die Zukunft der Institute zu beraten. „Die Kriterien
mussen. Die Generaldirektion Wettbewerb prüft derzeit, ob sind: betriebswirtschaftlich vernünftige Konzepte, die ferner
die Finanzhilfen an die drei Landesbanken mit Europarecht den EU-Auflagen entsprechen, politisch von den Minister-
vereinbar sind. Die Brüsseler Wettbewerbshüter stellen allen präsidenten und den Sparkassen akzeptiert werden und den
drei Banken ein denkbar schlechtes Zeugnis aus. Die jüngs- Steuerzahler maximal schonen“, sagt Schäuble.

INNERE SICHERHEIT den Streitthemen Vorratsdatenspeiche-


rung und Netzsperren scheinen die Po-
FDP lehnt de Maizières sitionen der Koalitionspartner unver-
söhnlich. Die Union will ihr konserva-
Gesetzespläne ab tives Profil stärken und hat offenbar
das Innenressort mit dem Schwer-
ARNO BURGI / PICTURE ALLIANCE / DPA

I n der Berliner Regierungskoalition


bahnt sich eine scharfe Konfronta-
tion in Fragen der Inneren Sicherheit
punkt Terrorabwehr als dafür taugli-
ches Feld ausgemacht. Die FDP wie-
derum setzt verstärkt auf die Verteidi-
an. Ein Papier der FDP-Fraktion, das gung der Bürgerrechte. Die innenpoli-
diese Woche ihren Bundestagsabgeord- tische Sprecherin der FDP-Fraktion
neten zugehen soll, positioniert sich in Gisela Piltz sieht für neue Anti-Terror-
allen wesentlichen Punkten gegen die Maßnahmen „keine fachliche Notwen-
Pläne von Bundesinnenminister Tho- digkeit“. Der Bundesinnenminister
mas de Maizière (CDU). So lehnt der De Maizière, Polizeibeamte müsse sich darum kümmern, Vollzugs-
Entwurf der Liberalen jede Auswei- defizite zu beseitigen. „Wer seine
tung von Online-Durchsuchungen ka- („Quellen-Telekommunikationsüber- Hausaufgaben macht, muss nicht stän-
tegorisch ab und bezeichnet das Abhö- wachung“) durch den Verfassungs- dig neue Gesetze fordern“, so die FDP-
ren verschlüsselter Internettelefonate schutz als unverhältnismäßig. Auch zu Abgeordnete.
D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0 15
SASCHA SCHUERMANN / DAPD (L.); WOLFGANG KUMM / DPA (R.)
Panorama

Nürburgring Beck

R H E I N L A N D - P FA L Z schaft gekostet – darunter der Einbau einer bis heute nicht


funktionsfähigen Achterbahn, für die erhebliche Änderungen

Millionen verschwendet? an bereits fertiggestellten Stützen, Wänden und Fundamenten


nötig wurden.
Weiteres Steuergeld wurde nach einem vertraulichen Bericht

B eim Bau des umstrittenen Freizeit- und Erlebniszentrums


am Nürburgring sind nach Einschätzung von Experten weit
über 30 Millionen Euro öffentlicher Mittel allein durch Fehlpla-
des rheinland-pfälzischen Landesrechnungshofs verschwendet,
weil Landesregierung und Nürburgring GmbH in der Öffent-
lichkeit den Eindruck erwecken wollten, das 330 Millionen Euro
nungen und unrealistische Zeitvorgaben verschwendet worden. teure Projekt sei weitgehend privat finanziert. Tatsächlich wur-
Nach Angaben des mit der Generalplanung und Bauüber- den zum Beispiel mehr als 85 Millionen Euro öffentlicher Mittel
wachung beauftragten Architekturbüros Tilke hat die Nür- über die Firma Mediinvest des Düsseldorfer Unternehmers Kai
burgring GmbH massiv auf einen Fertigstellungstermin im Juli Richter in den Ausbau geschleust. Richter habe Teile des Geldes
2009 gedrängt: Im Rahmen eines Formel-1-Rennens sollte Mi- aber mit Verzögerungen von bis zu 355 Tagen weitergeleitet,
nisterpräsident Kurt Beck die Anlage vor großer Medienöffent- Zinsaufschläge von bis zu 400 Prozent in Rechnung gestellt und
lichkeit eröffnen; die GmbH gehört überwiegend dem Land in einem Fall ohne nachvollziehbare Gründe ein weiteres Un-
Rheinland-Pfalz. In dem Zeitplan seien keine Puffer für Bau- ternehmen zwischengeschaltet – das dafür 175 000 Euro „Provi-
unterbrechungen durch Frost oder bereits geplante Großver- sion“ abgezweigt habe. Durch die Umwegfinanzierung erzielte
anstaltungen vorgesehen gewesen, sagt Tilke-Geschäftsführer Richter laut Rechnungshof Vorteile von „mindestens 1,9 Millio-
Peter Wahl. Allein für Winterbaumaßnahmen, Nacht- und nen Euro“. Richter wies die Vorwürfe gegenüber dem SPIEGEL
Wochenendarbeit, „Beschleunigungsprämien“ und Ähnliches zurück, die Geld-Weiterleitung sei „zwischen allen Beteiligten
seien sechs Millionen Euro angefallen. Zusätzliche elf Millionen abgesprochen“ gewesen und habe sich „stets im Rahmen der
Euro hätten verspätete Änderungswünsche der Landesgesell- vertraglich vereinbarten Fristen“ bewegt.

U M W E LT hervorgeht, soll den Ländern nun aber


nur Spielraum im Rahmen von Plan-
Bundesländer gegen feststellungsverfahren gewährt werden.
Krischer wirft Röttgen Versagen vor:
CO -Lager „Wie schon beim Atom-Deal droht
² der Umweltminister auch bei diesem

S chleswig-Holstein und Niedersach-


sen wollen über den Bundesrat
die Pläne der schwarz-gelben Bundes-
großen energiepolitischen Projekt
der Verlierer zu werden.“ CO²-Spei-
cher sind für die Betreiber von Kohle-
regierung zur unterirdischen Kohlen- kraftwerken von großem Interesse,
dioxid-Speicherung abwehren. Der ent- weil sie das Treibhausgas tief im Bo-
sprechende Gesetzentwurf, den die den entsorgen können. Wer ab 2013
Koalition am Dienstag beschließen nämlich Kohlendioxid in die Luft bla-
will, verpflichtet die beiden unionsge- sen will, muss dafür Zertifikate kaufen.
führten Länder, CO²-Lager zuzulassen. Die wichtigsten geologischen Formatio-
HECHTENBERG / CARO

Ursprünglich hatte Bundesumweltmi- nen, in denen CO²-Speicher möglich


nister Norbert Röttgen (CDU) zuge- sind, liegen in Norddeutschland. Die
sagt, dass Länder den Bau der Gasspei- dortigen Landesregierungen sehen
cher grundsätzlich ablehnen können. sich mit massiven Bürgerprotesten
Wie aus einer Antwort des Bundesum- gegen die Gaslager konfrontiert.
weltministeriums an den Bundestags-
abgeordneten Oliver Krischer (Grüne) Demonstranten in Berlin
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Deutschland
ENERGIE dern an fehlenden Stromleitungen
scheitern, die etwa Windstrom von der
„Ökostrom kostet“ Nordsee nach Bayern bringen. Hier
muss die Regierung endlich handeln.
Hildegard Müller, 43, Hauptgeschäfts- Die Netzagentur muss höhere Rendi-
führerin des Bundesverbands der Ener- ten für den Leitungsbau genehmigen,
gie- und Wasserwirtschaft, über die damit das nötige Fremdkapital für die
Folgen des Energiekonzepts der Bun- Milliardeninvestitionen zusammen-
desregierung kommt. Ohne anständige Rendite
macht sich keiner den Ärger mit den
SPIEGEL: Sie waren früher enge Mitar- jahrelangen Genehmigungsverfahren.
beiterin von Angela Merkel im Kanz- SPIEGEL: Die Grünen wollen sich nicht
leramt. Ist Kernkraft für die Union ein für einen Netzausbau starkmachen,
Identitätsthema, wie die Laufzeitver- der mehr Atomstrom fließen lässt.
längerung vermuten lässt? Verstehen Sie deren Bedenken?
Müller: Niemand sollte eine isolierte Müller: Nein. Das ist doch das genau
Diskussion um die Laufzeitverlänge- falsche Herangehen. Zu den Laufzeit-
rung führen. Natürlich ist die verlängerungen kann man ste-
Debatte über die Kernenergie hen, wie man will. Die Netze
für viele eine emotionale Fra- müssen aber in jedem Fall aus-
ge. Sie betrifft aber lediglich 23 gebaut werden, damit die er-
PREUSS / CARO / ULLSTEIN BILD

Prozent der Stromerzeugung. neuerbare Energie weiter wach-


Das Identitätsthema für Politik sen kann. Es reicht nicht, sich
und Energiewirtschaft muss das Demo-Sweatshirt aus den
vielmehr sein, wie wir bis 2050 achtziger Jahren überzuziehen.
unser Energiesystem CO²-neu- In unserem Verband sind allein
tral umbauen können – bei 1000 Unternehmen im Bereich
weiterhin bezahlbaren Preisen der erneuerbaren Energien ver-
und einer sehr zuverlässigen Energie- treten. Der Kernenergiestreit ist keine
versorgung. Entschuldigung dafür, sich jetzt bei al-
SPIEGEL: Die neuen Laufzeiten nutzen len Fragen destruktiv zu verhalten.
den vier großen Stromerzeugern, klei- SPIEGEL: Die Regierung will langfristig
ne Stadtwerke haben das Nachsehen. auf erneuerbare Energie umsteigen.
Müller: Die Laufzeitverlängerung be- Wie berechtigt ist die Angst vor höhe-
günstigt natürlich erst einmal die Gro- ren Strompreisen?
ßen. Das muss ausgeglichen werden, Müller: Ökostrom kostet. Auch da
mit einer Förderung speziell für die könnten sich die Grünen endlich ein-
kleineren Stromerzeuger aus den abge- mal ehrlich machen. Schon bald könn-
schöpften Kernkraft-Gewinnen. Wir te der Zusatzbeitrag für erneuerbare
brauchen mehr Wettbewerb auf dem Energien um die 3,5 Cent pro Kilo-
Erzeugungsmarkt, nicht weniger. wattstunde liegen. Man kann das ja für
SPIEGEL: Vor allem fehlt es offenbar an vertretbar halten – auch wenn ich den-
Stromnetzen. ke, dass die Photovoltaik immer noch
Müller: Wenn, dann werden die Öko- zu stark gefördert wird. Aber weg-
Ziele nicht an der Kernenergie, son- reden kann man die Kosten eben nicht.

FDP in dem Papier. So habe das „ängstliche


Verzögern von Reformen aus falscher
Innerparteiliche Rücksichtnahme vor Interessengrup-
pen aller Art keineswegs den erhoff-
Opposition ten Popularitätszuwachs erbracht“,
analysiert der „Liberale Aufbruch“.

D ie Vertreter des „Liberalen Auf-


bruchs“, einer FDP-internen
Gruppe um den Finanzpolitiker Frank
„Im Gegenteil: Klartext ist erwünscht.“
Konkret fordern die Autoren Kurs-
änderungen in vier Politikfeldern: Als
Schäffler, verstärken ihre Kritik am Konsequenz aus der Euro-Krise soll
Kurs der Partei. In einem Manifest, der Ausschluss eines vertragsbrüchi-
das vorige Woche allen FDP-Kreisvor- gen Staates aus der EU möglich sein.
sitzenden zuging und Unterstützer an- In der Klimapolitik müsse das „rigide
werben soll, warnen die Autoren vor Festhalten an Emissionsminderungen“
einem weiteren Vertrauensverlust bei überprüft werden, im Gesundheitssys-
den Wählern. „Das liegt gewiss nicht tem mehr Wettbewerb herrschen. Zu-
daran, dass die liberale Agenda nicht dem fordern die Vertreter des „Libera-
mehr zeitgemäß wäre. Die Probleme len Aufbruchs“, das sogenannte Anti-
sind die gleichen geblieben“, heißt es diskriminierungsgesetz abzuschaffen.
D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0 17
Deutschland Panorama
NI EDERSACHSEN

Ex-Sprecher droht Klage


I n der Affäre um angebliche illegale
Wahlkampfhilfe für die CDU in Nie-
dersachsen droht dem Kronzeugen
eine Unterlassungsklage. Der inzwi-
schen vom Dienst freigestellte Presse-
sprecher der Stadtwerke Wolfsburg,
Maik Nahrstedt, hatte behauptet, auf
Kosten des kommunalen Unterneh-
mens während seiner Arbeitszeit für
die CDU tätig gewesen zu sein. Unter
anderem sei er 2002 im Landtagswahl-
kampf für den heutigen Bundespräsi-

THOMAS LOHNES / DAPD


denten Christian Wulff mit einem
Dienstwagen durch Niedersachsen ge-
fahren (SPIEGEL 38/2010). Mehrere
Medien zitierten in dem Zusammen-
hang eine Äußerung Nahrstedts, er sei
Eröffnungsgottesdienst der Bischofskonferenz in Fulda damals sogar von Mitarbeitern der
CDU-Geschäftsstelle in Hannover auf
KIRCHE das Stadtwerke-Auto angesprochen
worden. Nun verlangen der damalige

Individuelle Entschädigung Generalsekretär Hartwig Fischer und


der frühere Landesgeschäftsführer
Thomas Etzmuß,

Die katholische Kirche will ihre Missbrauchsopfer finanziell nicht durch eine
pauschale Summe entschädigen, sondern individuell je nach Schwere des Falls.
Diesen Vorschlag wollen die deutschen Bischöfe an diesem Donnerstag beim Runden
dass Nahrstedt die-
se Äußerung zu-
rücknimmt und

MANFRED HENSEL / PICTURE ALLIANCE / DPA


Tisch „Sexueller Kindesmissbrauch“ einbringen. Dabei gehe es um Summen, „die eine Unterlas-
der Schwere der Tat angemessen sind und die den Opfern wirklich helfen“, kündigt sungserklärung ab-
ein Vertreter der Bischofskonferenz an. Das könnten, wie es in ähnlichen Fällen gibt. Fischer, der
auch von deutschen Gerichten entschieden worden sei, zwischen 5000 und 10 000 inzwischen Bun-
Euro sein, jedoch nicht die von Opfervertretern pauschal geforderten 82 373 Euro. destagsabgeordne-
Allerdings sollen Kosten für Therapien und andere Hilfsleistungen auch in größerem ter ist, betont:
Umfang von der Kirche erbracht werden. Die höchste bisher bekanntgewordene „Von dem Dienst-
Summe betrug 25 000 Euro. Auch wenn die ersten Zahlungen noch in diesem Jahr wagen wusste ich
erfolgen könnten, kritisiert Christine Bergmann (SPD), die vom Bund berufene nichts. Ich glaube,
„Unabhängige Beauftragte zur Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs“, die Haltung mir war nicht ein- Nahrstedt
der Kirche als zu zögerlich: „Die Betroffenen wollen, dass Täter oder Institutionen mal bewusst, wo
für das Unrecht Verantwortung übernehmen. Die meisten, die sich bei uns melden, Nahrstedt beschäftigt ist.“ Der Ex-
wollen eine finanzielle Entschädigung, weil sie durch das Missbrauchsgeschehen Sprecher will die Erklärung aber
im beruflichen Leben oft nicht Fuß fassen konnten oder starke finanzielle Einbußen nicht unterzeichnen und bot der Par-
durch zum Teil langjährige Therapien hinnehmen mussten.“ Der Opfersprecher tei stattdessen an, sich künftig nicht
Matthias Katsch drängt darauf, dass es „kein bürokratisches Anerkennungsverfahren“ mehr zum damaligen Wulff-Wahl-
geben wird; außerdem sei es abwegig, wenn die Kirche mit der Opferentschädigung kampf zu äußern. Für Etzmuß ist
einen Klageverzicht verbinde: „Diese Koppelung darf es nicht geben.“ dagegen klar: „Was wahr ist, müssen
Gerichte klären.“

POLIZEI werden müssen“, erklärt Konrad Frei- nalmangel im Sonntags-Spätdienst ein-


berg, Bundesvorsitzender der Gewerk- gesetzt war, sowie ein sogenannter Poli-
Personalengpässe schaft der Polizei. Durch den Dauerein-
satz in Stuttgart werde „die Präsenz der
zeifreiwilliger, der ehrenamtlich in sei-
ner Freizeit den Polizeidienst unter-
wegen „Stuttgart 21“ Polizei in anderen Regionen des Flä-
chenlandes erheblich reduziert“, warnt
stützt und dafür eine kurze Ausbildung
durchlaufen hat. Keiner der beiden Män-

G roß-Demonstrationen gegen das


Bahnprojekt „Stuttgart 21“ führen
bei der baden-württembergischen Poli-
Freiberg, „das ist brandgefährlich“. Wel-
che Risiken die ausgedünnte Personalde-
cke birgt, hat sich etwa bei dem Amok-
ner hatte eine Amokschulung absolviert.
Die Polizeidirektion Lörrach bestätigte,
an besagtem Wochenende erneut rund
zei zu gefährlichen Personalengpässen lauf in Lörrach am vorletzten Wochen- 30 Beamte zur Sicherung des Stuttgarter
außerhalb der Landeshauptstadt. „Die ende gezeigt, bei dem vier Menschen Hauptbahnhofs entsandt zu haben.
Demonstrationen sind eine ungeheure starben: Die Polizisten, die zuerst am Der Beamte aus dem Innendienst erlitt
Belastung für die Beamten, die aus ganz Tatort eintrafen, waren ein Sachbearbei- bei dem Schusswechsel mit der Amok-
Baden-Württemberg zusammengezogen ter aus dem Innendienst, der aus Perso- täterin einen Kniedurchschuss.
18 D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0
Deutschland

Anschlagsopfer Trittin*: „Nicht durch eine Debatte über die Volkspartei aus dem Konzept bringen lassen“

PA R T E I E N

Gefühlte Größe
Die Grünen sind die kleinste Oppositionskraft im Bundestag, doch der Aufwärtstrend
in den Umfragen verändert den Blick auf die Partei. Die Union sieht
ihre Mehrheitsfähigkeit bedroht, die SPD ihre Führungsrolle im linken Lager.

A
m Dienstagnachmittag ging die Ein paar Stunden später landete eine Roth. „Wir liegen damit erstmals bundes-
Zahl als Gerücht durch die Partei, dringende E-Mail des Bundesvorstands weit gleichauf mit der SPD.“
am Mittwochmorgen gab es das in den elektronischen Postkästen Hunder- Das zweiseitige Schreiben schwankt
erste Krisengespräch. Die Vorsitzenden ter Abgeordneter, Kreisvorsitzender und zwischen Verschwörungstheorien und Mo-
und die Geschäftsführer von Partei und Arbeitsgruppenmitglieder im ganzen tivationsrhetorik: Die „Regierungspartei-
Fraktion berieten in einer spontanen Land. Schon die Betreffzeile in Großbuch- en und etliche Medien“ würden jetzt „mit
Schaltkonferenz am Telefon, wie sie mit staben klang wie eine Warnung: „UM- dem Hinweis auf den Gleichstand von
der neuen Lage umgehen sollten. Die FRAGEWERTE“. SPD und Grünen eine kontroverse Debat-
Grünen müssten sich auf Angriffe einrich- Für diesen Wirbel hatte eine Agentur- te innerhalb der Opposition anzuzetteln
ten, hieß es, man beschwor den Zusam- meldung gesorgt: Das Meinungsfor- versuchen“. Zudem solle dieses „Manö-
menhalt und war sich rasch einig: Wir schungsinstitut Forsa attestierte den Grü- ver“ die Grünen „durch eine Debatte, ob
müssen handeln. nen bundesweit eine Zustimmung von 24 wir uns zu einer neuen Volkspartei ent-
Prozent der Befragten. „Ein neues Re- wickeln, aus dem Konzept“ bringen.
* Bei einer Diskussion mit Atomkraftgegnern in Han- kordhoch“ sei das, schrieben die Partei- Gegen so viel Bosheit helfe nur eine
nover am 22. September. vorsitzenden Cem Özdemir und Claudia kompakte Defensive, so die Parteispitze:
20 D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0
nicht abheben, nicht nervös werden, Dreck unter den Fingernägeln von der
nichts ändern: „Wir sind programmatisch Arbeit kommen.“
gut aufgestellt und führen keine Selbst- Thomas Oppermann, Parlamentari-
verständnisdebatten.“ scher Geschäftsführer der SPD-Bundes-
Politiker warnen gern davor, Umfragen tagsfraktion, nennt die Grünen eine
allzu ernst zu nehmen; und tatsächlich „Wohlfühlpartei“ und erklärt die Umfra-
gehen Wahlen oft anders aus als von den gewerte so: „Man parkt mal eben bei den
Meinungsforschern vorhergesagt. Gerade Grünen, weil man dort keinerlei Unbill
Forsa hat einen schlechten Ruf in Politi- hinnehmen muss.“ Die Grünen seien „po-
kerkreisen. Die „24“ hat daher wenig mit litisch in fast allen Feldern unscharf, aber
der Wirklichkeit der nächsten Wahlen zu sehr kantig und wahrnehmbar bei ihren
tun, und trotzdem verändert diese Zahl Kernthemen Umwelt und Anti-Atom“,
eine Menge. Da auch andere Meinungs- sagt Oppermann. „Sie sind eine gefällige
forscher die Grünen bei fast 20 Prozent politische Erscheinung ohne Schrammen
sehen, entsteht der Eindruck, hier wachse und Kratzer. Aber ob sie für das harte
eine neue Volkspartei heran. Und dieses Regierungsgeschäft taugen, diesen Beweis
Wort wirkt sofort. SPD und Union fühlen müssen sie noch erbringen.“
sich bedrängt, und die Grünen schauen Der Grüne Robert Habeck wertet das
mit anderen Augen auf sich selbst. Aus als Ausweis von „Anspannung und Rat-
einem virtuellen Wert wird reale Politik. losigkeit“ bei der SPD. Deren Parteivor-
Plötzlich tauchen Fragen auf, die nie sitzender Sigmar Gabriel schwanke „zwi-
einer gestellt hat: Was ist, wenn die Grü- schen Umarmung und Attacke“. Jürgen
nen nicht mehr nur Beiwerk einer Regie- Trittin rät den Genossen sogar, sie sollten
rung sind, sondern Hauptsache, wenn sie sich einfach an den Grünen ein Beispiel
den Kurs bestimmen, wenn ein Jürgen nehmen. „Bei Mindestlöhnen und Rente
Trittin Bundeskanzler wäre? Wie grün haben wir heute schon Positionen, die
würde dann Deutschland? die SPD früher oder später auch einneh-
Nicht nur für die Grünen selbst wirkt men wird“, behauptet er.
die kleinste Oppositionspartei im Bundes- Im Frühsommer, nach der Wahl in
tag plötzlich riesengroß. Die Kanzlerin Nordrhein-Westfalen, sah es noch so aus,

DPA (L.); FABRIZIO BENSCH / REUTERS (R.)


attackiert sie frontal im Bundestag, als als würde das rot-grüne Bündnis neu be-
wäre die SPD als Gegner schon ausge- siegelt, auch im Bund. Nun zicken sich
schieden. Die CDU fürchtet, dass die zu- die beiden Parteien an, als seien sie ein-
sätzlichen Stimmen aus ihrem Lager stam- ander die größte Konkurrenz.
men, und bangt, dass sie ihre Mehrheits- Vorige Woche zeichnete ein Karikatu-
fähigkeit verliert. rist der „Berliner Zeitung“ Trittins Traum:
Die Sozialdemokraten warnen ihren er als Kanzler neben dem Außenminister
ehemals kleinen Partner, nicht einmal Gabriel am Kabinettstisch. Bundeskanz-
daran zu denken, einen eigenen Kanzler- SPD-Chef Gabriel ler Trittin – ist das eine neue Option in
kandidaten für die nächste Bundestags- Zwischen Umarmung und Attacke der unübersichtlichen Parteiendemokra-
wahl aufzustellen. Die SPD sorgt sich um tie oder einfach der helle Wahnsinn?
den Führungsanspruch im linken Lager stilisierte die Landtagswahl in Baden- Seit ihrer Gründung waren die Grünen
und damit den Anspruch, jederzeit über- Württemberg im März zur „Befragung nie viel mehr als eine ambitionierte Klein-
all den Regierungschef zu stellen. der Bürger“ über die Zukunftsfähigkeit partei. Sie fanden ihre Rolle als Korrektiv
So stellen die Zahlen die Machtfrage. Deutschlands (siehe Seite 24). der SPD, sie waren ökologischer, pazifis-
Besonders reizvoll sind die Zahlen, weil Merkels Rede sei „eine klare Kampf- tischer, liberaler und radikaler. Als die
sie plausibel klingen. Die Koalition steckt ansage“ an die Grünen gewesen, glaubt Grünen im Bundestagswahlkampf 1998
in der Krise, aber die SPD profitiert kaum Parteichefin Roth. „Merkel versucht, die verlangten, die Benzinpreise müssten
davon. Themen wie der Streit um den CDU im Kampf mit den Grünen zu pro- langfristig auf fünf Mark für den Liter
Atomausstieg im Bund, aber auch das filieren. Wir erleben jetzt Gegnerschaft steigen, konterte der SPD-Spitzenkandi-
Bahnhofsprojekt „Stuttgart 21“ im baden- auf Augenhöhe.“ Die Partei müsse fortan dat Gerhard Schröder, um mehr als sechs
württembergischen Landtagswahlkampf mit „Angriffen, Unterstellungen, falschen Pfennig pro Jahr werde die Mineralölsteu-
wirken wie gemacht für die Grünen. „Die Zuschreibungen“ rechnen. „Jetzt wird es er nicht angehoben. Basta. Mehr wurde
Gesellschaft hat sich hin zu den Grünen härter.“ es dann auch wirklich nicht.
verschoben“, behauptet der schleswig- Die Reaktion der Sozialdemokraten Was aber, wenn die Grünen die Ver-
holsteinische Fraktionsvorsitzende Ro- kann Roth getrost als Bestätigung werten. antwortung für alles haben, was in einem
bert Habeck. „Mit unseren Themen und Besonders genervt ist die SPD davon, Land oder im Bund passiert? Die alten
Methoden befinden wir uns deshalb mitt- dass sie sich noch immer mit dem Erbe Volksparteien SPD und CDU decken mit
lerweile im Zentrum der Gesellschaft.“ der rot-grünen Regierung herumschlagen ihren Themen und ihrem Personal fast
Im Bundestag merken die Grünen mit muss, während die Grünen mit dem The- das gesamte Spektrum des deutschen Vol-
gemischten Gefühlen, dass sie zum ma Hartz IV gar nicht mehr verbunden kes und seiner Sorgen und Wünsche ab,
Hauptgegner der Regierung avancieren. werden. „Die Grünen wollen uns den Sta- sie sind in allen Teilen des Landes präsent.
Kanzlerin Merkel warf dem Fraktions- tus der Volkspartei absprechen, aber sie Können die Grünen da mithalten?
vorsitzenden Jürgen Trittin in der Haus- sollten vielmehr froh sein, dass wir uns Im Bund haben sie versierte Spitzen-
haltsdebatte vor, die grüne Energie- und noch um die gesamte Bandbreite bemü- kräfte wie Trittin, Renate Künast und
Verkehrspolitik sei „verlogen“. Stromlei- hen, die eine Volkspartei braucht“, sagt Roth, dazu langgediente Talente wie
tungen, Kraftwerke, Bahntrassen, immer SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles. Roths Co-Vorsitzenden Özdemir und so
seien „die Grünen oder jedenfalls ihre „Die Grünen wollen sich doch gar nicht manch klugen Hinterbänkler im Bundes-
Sympathisanten als Erste dagegen“. Sie mehr um die Leute kümmern, die mit tag, der in anderen Fraktionen längst Kar-
D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0 21
Deutschland

riere gemacht hätte. Auch in einigen Län- chen weiter öffnen, sie würde das Heil
dern überstrahlen ihre Frontleute oft die der Wirtschaft stärker in der Ökologie
Konkurrenz von der SPD, obwohl diese suchen und eher die Polizei als die Bun-
nominell stärker ist. Die Fraktionschefs deswehr ins Ausland schicken.
Tarek Al-Wazir in Hessen und Robert Ha- Manches wäre anders als jetzt, aber
beck in Schleswig-Holstein haben ihren auch nicht so richtig. Die Grünen sind
SPD-Kollegen längst den Rang als Oppo- pragmatischer geworden und haben sich
sitionsführer abgelaufen. In Nordrhein- den Volksparteien ein bisschen an-
Westfalen war es die grüne Spitzenkan- verwandelt. Je stärker sie in den Um-
didatin Sylvia Löhrmann, die SPD-Chefin fragen stiegen, desto vorsichtiger wurden
Hannelore Kraft zum Wagnis einer Min- sie. Die Parteispitze gab den Kurs vor, in
derheitsregierung nötigte. der Mitte möglichst viele Stimmen zu
Doch noch sind die Grünen weit davon sammeln. Diese bürgerlichen Wähler will
entfernt, solche Kraft im ganzen Land zu man nicht mit Vorschlägen für höhere
entfalten. Im Osten Deutschlands sind sie Steuern oder weniger Subventionen ver-
immer noch Splitterpartei, und auch im prellen.
Westen sind sie nicht flächendeckend Die Beschlüsse der Grünen-Bundes-
stark. Bislang kommen sie nicht darüber tagsfraktion bei ihrer Klausurtagung An-
hinaus, eine urbane Partei zu sein, sie er- fang September lesen sich wie ein unver-
blühen erst in Städten mit mehr als 50 000 bindliches Sammelsurium von Ideen, de-
Einwohnern, die möglichst eine Univer- nen aber jede Konkretion fehlt. Das lässt
sität beherbergen sollten. auch Insider zweifeln: „Wie ambitionierte
Bei den über 60-Jährigen kommen die ökologische und soziale Investitionen un-
Grünen auf fünf Prozent der Wähler- ter den Vorzeichen der Schuldenbremse
stimmen, bei Arbeitern
sieht es ähnlich schlecht
aus. Ihre Wähler sind
überdurchschnittlich ge-
bildet und verdienen
oft sehr gut. Grünsein
muss man sich leisten
können, gegen diesen
Vorwurf wehren sich
die Grünen bis heute.

JOHANNES EISELE / AFP


Bei den jüngsten Da-
ten über die Mitglieder-
entwicklung der Grü-
nen ist das elitäre Ele-
ment zu erkennen. Die
Parteizentrale hat 3400 Grüne Atomkraftgegner*: „Im Zentrum der Gesellschaft“
Neumitglieder per Mail
befragt und herausgefunden, dass 65 Pro- finanziert werden können, ist noch of-
zent der Neuen einen Hochschulab- fen“, schrieb Ralf Fücks, Vorstand der
schluss haben – im Bundesschnitt sind es grünennahen Heinrich-Böll-Stiftung, vo-
15 Prozent der Deutschen. Drei Viertel rige Woche an seine Partei. „Wenn wir
der Befragten gaben an, wirtschaftlich vage werden, fallen wir auf die Nase“,
gehe es ihnen gut bis sehr gut. Hat eine warnt der Bundestagsabgeordnete Omid
solche Partei die Sensibilität für eine Nouripour. „Die Grünen werden vom
Wirtschafts- und Sozialpolitik, die die Wähler als Konzeptpartei goutiert, sonst
Bürger nicht überfordert? nicht.“
Die Grünen geben sich da selbstbe- Wie weit die Grünen damit kommen,
wusst. „Wir haben bereits ein Programm ist trotz der guten Umfragen ungewiss.
für die ganze Gesellschaft“, sagt Steffi Dafür ändert sich das politische Geschäft
Lemke, die Politische Geschäftsführerin zu schnell. Einen Vorgeschmack auf das,
der Partei. „Nur weil die Umfragen sich was er als Bundeskanzler auszuhalten hät-
geändert haben, müssen wir das nicht te, bekam Jürgen Trittin aber in der ver-
neu schreiben.“ gangenen Woche.
Eine grüne Republik würde ein biss- Bei einer Diskussion mit radikalen
chen sozialer und ein bisschen ökologi- Atomkraftgegnern in Hannover bewarf
scher werden. Grundstürzende Verände- ihn ein Unbekannter mit einer Torte, die
rungen würde auch ein Bundeskanzler Joghurt enthielt. Von oben bis unten be-
Trittin nicht wagen, es gäbe keine Ein- kleckert, musste Trittin sich auch noch
heitsschulen, keine Drogenfreigabe, kei- von einer jungen Frau anhören, der Tor-
nen kostenlosen Nahverkehr und keine tenwurf sei eine „angemessene Reaktion“
autofreien Innenstädte. Aber eine grüne darauf, dass die Grünen keinen Sofort-
Republik würde vermutlich die Tore für ausstieg aus der Atomkraft forderten. So
Ausländer und Asylbewerber ein biss- radikal sind sie schon seit vielen, vielen
Jahren nicht mehr. RALF BESTE,
* Bei einer Demonstration in Berlin am 18. September. CHRISTOPH HICKMANN

22 D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0
Deutschland

Sie kritisiert die Deutschen nicht direkt,


aber oft lobt sie Mut, Aufbruchsgeist, Be-
BUNDESREGIERUNG
weglichkeit anderer Völker. Es ist sicher
nicht falsch zu sagen, dass Merkel die

Aufbruch nach Bratislava Deutschen eher träge, unbeweglich und


ängstlich findet.
Als sie Oppositionsführerin war, kün-
digte sie an, den Aufbruchsgeist und den
Angela Merkel wagt den Widerstand. Sie will für „Stuttgart 21“ Mut der Bürger fördern zu wollen. Aber
kämpfen und gegen die Protestierer. Kanzlerin als Kanzlerin rüttelte sie nicht auf, son-
gegen Bürger – das ist die neue Kampflinie. Von Dirk Kurbjuweit dern beruhigte, mit Geschenken an Rent-
ner, Hartz-IV-Empfänger, Eltern, Auto-

A
ngela Merkel hat „Leidenschaft“ um, geht weiter. Die Touristen bleiben käufer. Sie hatte Angst vor den Ängst-
gesagt. Am vorvergangenen Sonn- auf Distanz, die Leibwächter schrecken lichen, vor einer Stimmung, die ihre
tag ist es passiert, gegen 20 Uhr, sie ab. „Hallo Frau Merkel.“ Sie hört dem Wiederwahl gefährden könnte. Umfragen
rund 10 000 Meter über dem Meeresspie- Vortrag noch intensiver zu. „Wir sind bestimmten ihr Handeln.
gel, bei Tempo 900. Sie war an Bord der aus Berlin.“ Merkel verschwindet in der Das Volk war machtvoller Mitregent,
Regierungsmaschine, Flug GAF 802 von nächsten Kirche. Merkel saß dem Kabinett der 80 Millio-
Berlin nach New York, gute Sicht, keine Schließlich, vor dem Schwarzhäupter- nen vor. Doch dann passierte etwas Selt-
Turbulenzen. Na gut, in Wahrheit hat die haus, wendet sie sich doch noch ihren sames. Merkel, die Volksregierte, zeigte
Bundeskanzlerin „ein bisschen Leiden- Deutschen zu, schüttelt ein paar Hände, sich als entschiedene Gegnerin der Volks-
schaft“ gesagt, aber immerhin, das Wort
ist gefallen. Zeugen: 20.
Gesprochen hat die Frau, die im Wahl-
kampf 2009 als führende Anästhesistin
des Landes auftrat und noch die letzten
Politikbegeisterten einschläferte. Gespro-
chen hat die Frau, die auch sonst Tempe-
rament nicht gerade zu ihrem Markenzei-
chen gemacht hat.
Und jetzt: Leidenschaft. Wer konnte
dieses Wort aus Merkel herauslocken? Es
waren jene Bürger, die gegen das Bahn-
hofsprojekt „Stuttgart 21“ protestieren.
Denen will Merkel leidenschaftlich ent-
gegentreten.
Bislang hat sie vor allem dafür gesorgt,
dass sich die Deutschen nicht aufregen
müssen, nicht über ihre Lebenslage, nicht
über ihre Regierungschefin. Nun zeigt
Merkel erstmals, dass ihr Volk sie auch
nerven kann.
Denn dieses Volk stellt gerade die Kom-
petenz der Politik massiv in Frage, mit
Protesten gegen „Stuttgart 21“, gegen die
Atompolitik der Bundesregierung, gegen
Windräder und Kraftwerke. Niemandem
geht das so an die Berufsehre wie Angela
Merkel. Ihr, dem Superprofi der Politik,
sollen die Amateure nicht reinpfuschen.
Es kriselt in einer der wichtigsten und Bundeskanzlerin Merkel: Führende Anästhesistin
heikelsten Beziehungen dieses Landes:
Bundeskanzlerin und Bürger, Regierende sagt „ah“, „schön“, „na dann viel Freu- regierung. Das war im Juni 2008, die Eu-
und Regierte. Aber es gibt da keine schar- de“. Fünf Minuten, dann ist es vorbei. ropäische Union steckte in einer Krise,
fe Trennung, es geht immer auch um die Die Bundeskanzlerin ist keine, die weil die Iren in einer Volksabstimmung
Frage, wie stark die Regierten mitregie- herzt oder mit Worten mühelos anban- den Vertrag von Lissabon abgelehnt hat-
ren dürfen. Dieser Verteilungskampf delt. Begegnungen zwischen Bürgern und ten und damit eine Reform blockierten.
flammt gerade neu auf. Politikern dauern meist nur Sekunden Merkel war auf einem Gipfel in Brüssel
Da kommen sie, die Bürger, sie eilen, oder Minuten, und Merkel ist sozial eher und kam nach Mitternacht zu einem Hin-
sie rennen. Sie haben Merkel erblickt, langsam. Beim Speed-Dating mit dem tergrundgespräch mit Journalisten in ein
und nun wollen sie ihre Hand schütteln. Volk bleibt sie eckig und mundfaul. Sie Hotel. Ihre Laune war gut, Deutschland
Dies ist Riga, die Hauptstadt Lettlands, sieht die Bürger lieber aus der Ferne als hatte Portugal bei der Europameister-
Dienstag vor drei Wochen. Merkel lässt aus der Nähe. Gleichwohl schätzen die schaft geschlagen, und sie hatte eben
sich durch die Altstadt führen, hat eben meisten Deutschen ihre Bundeskanzlerin. noch mit ihrem Lieblingsbürger telefo-
eine Kirche besichtigt, hört unterwegs ei- Die Zustimmung liegt bei 52 Prozent, An- niert, Bastian Schweinsteiger.
nen Vortrag zur Geschichte der Stadt. fang 2006 waren es allerdings 85 Prozent. Dann wurde sie gefragt, ob nicht eine
Ein Rudel Deutscher hastet ihr nach, Aber mag auch die Bundeskanzlerin Volksabstimmung auch in Deutschland
rüstige Rentner, Turnschuhe, Windjacken. ihr Volk? Wenn man ihr über viele Jahre sinnvoll sei. Merkel fixierte den Frager
„Frau Merkel, hallo.“ Sie sieht sich kurz zugehört hat, ergibt sich folgendes Bild: und rastete aus, sie hielt einen furiosen
24 D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0
Vortrag über die repräsentative Demo- Uno-Generalsekretär. Auch das ist Speed- Doch da pocht Merkel auf die Kompe-
kratie und die Vorzüge der Berufspolitik. Dating, aber man braucht hier nicht Wär- tenz der Politiker. Eine Volksabstimmung
Sie beschäftige sich tagein, tagaus 14 Stun- me, man braucht geistige Schnelligkeit, will sie nicht. Das Verfahren sei abge-
den lang mit politischen Fragen, sagte Elastizität, Wissen. Hier ist Merkel zu schlossen, die Entscheidung politisch le-
Merkel, da wisse sie schon, was zu tun Hause. gitimiert. Wenn legitime Entscheidungen
sei und was nicht. Es fiel das Wort „Lei- Ihr Leben ist die Politik, und sie hofft noch einmal legitimiert werden müssten,
denschaft“. Zeugen: 30. nicht auf ein anderes. Das hatte sie schon, würde das langsame Deutschland noch
Es war einer ihrer besten Auftritte. Sie als Physikerin in der DDR. langsamer. Die Landtagswahl im März
war scharf, klug, entschieden und, ja, tat- Ein Physiker würde sich nicht gern von 2011, sagte sie in ihrer Haushaltsrede,
sächlich, leidenschaftlich. Sie war nicht einem Laien erklären lassen, wie man werde „die Befragung der Bürger über
die öffentliche Merkel, nicht Deutsch- ein physikalisches Problem löst. Und die Zukunft Baden-Württembergs, über
lands regierende Eingeschlafenheit, da Merkel sieht sich jetzt als Spezialistin ‚Stuttgart 21‘ und viele andere Projekte
saß eine hellwache Kanzlerin. fürs Regieren, fürs Allgemeinwohl. Lei- sein, die für die Zukunft dieses Landes
Nun ist das Thema Volksabstimmung der hat sie das oft selbst vergessen, zu- gelten“. Damit hat sie diese Wahl zu ihrer
wieder aufgerufen. Unter dem Druck der letzt in den Monaten vor der Wahl in gemacht. Wird man sie also bald auf
Proteste will die SPD die Bürger Stutt- Nordrhein-Westfalen, als sie aus Angst Marktplätzen richtig kämpfen sehen, ge-
garts zum neuen Bahnhof befragen las- vor den Bürgern dort das Regieren un- gen die Protestbürger? Das wäre ja mal
sen. Und Merkel hat Leidenschaft immer- terließ. Bloß niemanden mit Entschei- was, eine neue Merkel.
hin schon mal angekündigt. Offenbar dungen verschrecken. Das Paradoxe an einer Demokratie ist,
bringt dieses Thema eine Saite in ihr zum Nun hat sie sich entschieden, für „Stutt- dass vor allem der Politiker Respekt ein-
Klingen. gart 21“. In der Haushaltsdebatte vorletz- heimst, der sich gegen starken Protest
TOBIAS SCHWARZ / REUTERS (L.); PHOTOWEB / ACTION PRESS (R.)

Protestierende Bürger: Machtvolle Mitregenten

Wohl niemand in Deutschland ist so te Woche bekannte sie sich zum Wider- durchsetzt, also gegen einen größeren
konsequent Berufspolitiker wie Angela stand gegen den Widerstand der Bürger. Teil des Volkes regiert. Bei Willy Brandt
Merkel. Sie hat ihr Privatleben auf ein Sie sagt, dass es um Deutschlands „Zu- war es die Ostpolitik, bei Helmut Schmidt
Minimum reduziert, sie redet nie über kunftsfähigkeit“ gehe. Den Fall Stuttgart die Nachrüstung, bei Helmut Kohl der
die Wonnen eines anderen Daseins, sie sieht sie als Symbol für allgemeinen Trotz Euro, bei Gerhard Schröder die Agenda
redet nie über Rücktrittsgedanken wie gegenüber Neubauten im Verkehrs- und 2010.
zuletzt angeblich Guido Westerwelle. Energiebereich. „Stuttgart 21“ ist da zwei Nummern
Merkel genießt Politik, so wie vergan- Merkel sieht es so: Die Bürger lebten kleiner. Aber man wird eine Ahnung da-
gene Woche in New York. Im Rahmen vor allem im Jetzt und sähen die Unan- von bekommen, welches Format diese
des Uno-Millenniumstreffens gab sie ei- nehmlichkeiten einer Baustelle, eines Kanzlerin wirklich hat.
nen Empfang im Hotel Palace. Ein ovaler Windparks, eines Kraftwerks für das ei- Die Pointe für Merkel ist, dass sie den
Saal, große Idyllen an den Wänden, 200 gene Leben. Die Politikprofis dagegen neuen Bahnhof gut findet, weil Stuttgart
Leute, es ist laut, eng, warm. Merkel wird lebten halb im Morgen und müssten die damit an die Magistrale Paris–Bratislava
belagert, Merkel trifft Afrika, Merkel trifft Zukunft für alle sichern. Wobei die Geg- angeschlossen würde. Als sie in der DDR
Asien, Merkel trifft Amerika, Merkel trifft ner von „Stuttgart 21“ bestreiten würden, lebte, fuhr sie jedes Jahr einmal nach Bra-
Europa, Merkel trifft die Welt, schnelle dass der neue Bahnhof einen Beitrag zur tislava. Wenn sie irgendwo nicht mehr
Dialoge mit Regierungschefs oder dem Zukunft leisten könne. hin muss, dann nach Bratislava. 
D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0 25
Deutschland

Nachwuchspolitiker Lindner
„Mein Ehrgeiz ist gestillt“

Lindner: Er hat seine staatspolitische Ver-


antwortung bereits bewiesen, als er in
der Euro-Krise die europäische Integra-
tion verteidigt hat. Hier hätte man Popu-
larität durch oppositionelle Reflexe ge-
winnen können. Sigmar Gabriel hat ja so
gehandelt, als er das Rettungspaket im
Bundestag nicht unterstützt hat.
SPIEGEL: Das Wort von der „spätrömi-
schen Dekadenz“ ist doch ein Opposi-
tionswort.
Lindner: Dazu hat jeder seine Meinung.
Entscheidend ist, dass ein Regierungs-
politiker auch das ansprechen muss, was
Sache ist: Wir haben einen Sozialstaat,
der sich viel zu lange darauf konzentriert
hat, Menschen mit Transferleistungen ru-
higzustellen. Wir wollen, dass er zu Ar-
beit, Bildung und Selbstverantwortung ak-
tiviert wird. Da mag man sich über Worte
streiten, aber uns geht es um die Sache.
SPIEGEL: Und deshalb haben Sie Wester-
welle einen Maulkorb zu innenpoliti-
schen Themen verpasst?
Lindner: Eine abwegige Vorstellung. Gui-

CHRISTIAN THIEL / DER SPIEGEL


do Westerwelle äußert sich zu allen Fra-
gen. Aber Parteivorsitzende beteiligen
sich doch nicht am tagespolitischen Bo-
denturnen. Sie treffen die Leitentschei-
dungen.
SPIEGEL: Wie die Senkung des Mehrwert-
steuersatzes für Hotels? Das ist doch der
zweite Grund, warum so viele Wähler
FDP
von der FDP enttäuscht sind: Sie machen
Klientelpolitik.

„Wir wollen einen Lindner: Gilt das auch für die Erhöhung
des Kindergelds? Oder für benachteiligte
Kinder, die wir besser fördern? Die Hotel-

starken Staat“ Frage hätten wir im Zuge einer Mehr-


wertsteuerreform diskutieren sollen, ja.
Den Vorwurf der Klientelpolitik reiche
ich aber an die SPD weiter. Deren Klien-
FDP-Generalsekretär Christian Lindner, 31, über den tel heißt Linkspartei, der Sigmar Gabriel
Absturz seiner Partei, ein neues Gesellschaftsbild überall nachläuft. Wir arbeiten dagegen
für Menschen, die ihr Leben selbst in die
der Liberalen und seine Rolle als Westerwelles Thronfolger Hand nehmen wollen, die Freude an der
Verantwortung für sich und andere ha-
SPIEGEL: Herr Lindner, vor genau einem spät wahrgenommen, dass die Euro-Krise ben und die faire Rahmenbedingungen
Jahr erreichte die FDP das beste Bundes- die Erwartungen der Menschen verändert. wollen.
tagswahlergebnis ihrer Geschichte. Was Wir haben Reformvorhaben nicht schon SPIEGEL: Bislang wurden Sie vor allem als
ist Ihrer Partei seitdem geglückt? vor der Wahl in Nordrhein-Westfalen auf Partei der Steuersenkung verstanden. Die
Lindner: An vielen Stellen eine Änderung den Weg gebracht. Diese Fehler haben ist jetzt vom Tisch, und Sie sind praktisch
der politischen Richtung. Wir machen wir aufgearbeitet. blank. Der dritte Grund für den Nieder-
zum Beispiel weniger Schulden, ohne SPIEGEL: Wir sehen noch drei andere Grün- gang der FDP: Sie hat keine Inhalte.
dafür breitflächig die Steuern zu erhöhen. de für den Absturz. Grund eins: Die FDP Lindner: Wir haben uns so nicht verstan-
Zum Vergleich: Rot-Grün in Nordrhein- hat den falschen Parteichef. den. Wir wollen faire Finanzbeziehungen
Westfalen steigert massiv die Verschul- Lindner: Nein, die FDP hat mit Guido Wes- zwischen Bürger und Staat. Das reicht
dung. Und obendrauf wollen die 15 Mil- terwelle das erfolgreichste Jahrzehnt ih- über die verschobenen Entlastungen hin-
liarden Euro mehr Steuerlast im Mittel- rer Geschichte erlebt. Wir stehen durch aus. Dazu gehört, die öffentlichen Haus-
stand. Die gute Lage am Arbeitsmarkt ihn in Regierungsverantwortung. Bis zur halte zu entschulden, für Wachstum zu
hängt auch davon ab, dass die FDP solche nächsten Wahl können wir noch drei Jah- sorgen, das Steuerrecht einfacher zu ma-
Manöver verhindert. re durch gute Ergebnisse neues Vertrauen chen und dem Gebot der Generationen-
SPIEGEL: Warum ist die FDP dann in Um- erarbeiten. gerechtigkeit zu genügen.
fragen auf fünf Prozent abgestürzt? SPIEGEL: Kann es sein, dass Westerwelle SPIEGEL: Heißt das, die FDP hat sich
Lindner: Nach der Wahl haben uns Über- Opposition gut kann, Regierung aber von ihrer alten Staatsfeindlichkeit verab-
blick und Demut gefehlt. Wir haben zu nicht? schiedet?
26 D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0
Lindner: Der Liberalismus war nie prinzi-
piell gegen den Staat. Wir wollen einen
starken Staat, der als Ordnungskraft die
Regeln des wirtschaftlichen und sozialen
Lebens setzt. An Ordnungspolitik hat es
in der Finanzkrise gefehlt. Stattdessen
waren staatliche Landesbanken Mitspie-
ler im Casino. Es braucht auch einen star-
ken Staat, der Lebenschancen durch Bil-
dung und Aufstiegschancen für Benach-
teiligte eröffnet. Manche missverstehen
den Staat aber als Umverteilungsagentur,
die private Initiativen ersetzt.
SPIEGEL: Folgt daraus nicht auch, dass die-
ser starke Staat finanziell gut ausgestattet
sein muss, um seine Aufgaben erfüllen
zu können?
Lindner: Der Staat muss ausreichende Mit-
tel für seine Aufgaben haben, er darf aber
andererseits nicht jede Aufgabe über-
nehmen. Die Extrempositionen „Weniger
Staat, mehr Freiheit“ oder „Mehr Staat,
mehr soziale Gerechtigkeit“ sind unter-
komplex. Für jeden Bereich muss man
die richtige Balance zwischen Privat und
Staat suchen.
SPIEGEL: Nicht alle in Ihrer Partei sind für
ein neues Staatsverständnis. Die Vertre-
ter der neuen Plattform „Liberaler Auf-

HANNIBAL HANSCHKE / DPA


bruch“ fordern den Minimalstaat, Sie und
andere wollen die alte FDP behalten.
Droht die Partei durch diese Fliehkräfte
auseinanderzubrechen?
Lindner: Im Gegenteil lebt eine liberale
Partei von nichts anderem als dem Dis- FDP-Chef Westerwelle in New York: „Machen Sie sich keine Sorgen“
kurs. Ich begrüße also, dass es Libertäre
in der FDP gibt, die sich an der Debatte auch die Eigenverantwortung der Eltern Lindner: Es geht aber nicht um mich. Ich
über unser neues Grundsatzprogramm durch Integrationskurse, Rat und Erzie- bin mit 30 Jahren Generalsekretär einer
beteiligen möchten. hungshilfe stärken. Regierungspartei geworden. In der histo-
SPIEGEL: Was soll denn neu sein am neuen SPIEGEL: Die nächste große Hürde für die risch privilegierten Situation, ein neues
Grundsatzprogramm? FDP ist die Landtagswahl im März in Grundsatzprogramm entwerfen zu dür-
Lindner: Die Fragen, die sich der Politik Ihrem Stammland Baden-Württemberg. fen. Mein diesbezüglicher Ehrgeiz ist da-
bis 2030 stellen. Das Leben wird bürokra- Dort könnte die FDP aus der Regierung mit auf lange Sicht gestillt. Mein Ehrgeiz
tisiert. Natürliche Ressourcen sind knapp. fliegen. bezieht sich ausschließlich auf die Sache,
Das sind Risiken. Neue Technologien und Lindner: Wir wären schlechte Wahlkämp- die Programmarbeit und den Erfolg der
Bildung entscheiden über Wohlstand. Di- fer, wenn wir diese Landtagswahl aufge- FDP. War das klar genug?
gitale Medien durchdringen den Alltag. ben würden. Im Gegenteil, wir zeigen SPIEGEL: Noch nicht ganz. Es könnte sein,
Der demografische Wandel fordert eine jetzt die Alternativen auf. Gerade die dass die FDP gar keine Rücksicht nimmt
neue Identität der bunten Republik. Da Grünen profitieren ja davon, dass sie ge- auf Ihren gestillten Ehrgeiz, sondern dass
sind Chancen. gen alles Mögliche sind, aber niemand Ihre Partei sagt: Christian Lindner muss
SPIEGEL: Für Sie steht der selbstbestimmte genau weiß, was sie eigentlich wollen. uns aus dieser Situation retten. Würden
einzelne Mensch im Mittelpunkt, gerade SPIEGEL: Sie gelten in Ihrer Partei als Mann Sie dann etwa darauf antworten: Mein
in der Sozialpolitik. Arbeitsministerin Ur- der Zukunft. Falls es zu einer Wahlnie- Ehrgeiz ist gestillt, ich kann euch nicht
sula von der Leyen sieht das offenbar an- derlage kommen sollte und Westerwelle helfen?
ders. Mit der Bildungscard für bedürftige stürzt, werden Sie die Partei dann über- Lindner: Sie beweisen Phantasie, aber das
Kinder versucht sie, manchen Eltern ei- nehmen? ist doch wirklich eine irreale Diskussion.
nen Teil ihrer Selbstbestimmung zu neh- Lindner: Ich arbeite als Generalsekretär Wir wollen durch Taten überzeugen und
men. Was halten Sie von ihren Plänen? dafür, dass die FDP unter Führung von die Leute nicht länger mit selbstreferen-
Lindner: Die Förderung kommt bei den Guido Westerwelle bei den nächsten zieller Nabelschau nerven.
Kindern an, die Eltern behalten Wahlfrei- Wahlen erfolgreich ist. SPIEGEL: Vielleicht haben Sie auch noch
heit. Ich halte das für pragmatisch, solan- SPIEGEL: Wenn es schiefgeht in Baden- etwas Zeit. Manche in Ihrer Partei hoffen
ge ich keine bessere Alternative kenne. Württemberg, kann sich Westerwelle auf ein Bündnis zwischen Ihnen und Wirt-
Das alles reicht in den Familien, wo der dann noch als Parteivorsitzender halten? schaftsminister Rainer Brüderle: Er wür-
Fernseher die Erziehungsarbeit ersetzt, Lindner: Die Parteibasis hat ihm bei den de bald Übergangsvorsitzender, und in
aber nicht aus. Da brauchen wir mehr Regionalkonferenzen in Siegburg und zwei Jahren, wenn Ihr Ehrgeiz wieder
Qualität. Wir sollten nach britischem Vor- Ulm den Rücken gestärkt. Machen Sie aufflammen sollte, übernehmen Sie das
bild in sozialen Brennpunkten Kinder- sich also keine Sorgen. Amt. Was sagen Sie dazu?
und Familienzentren einrichten, die nicht SPIEGEL: Sie könnten auch sagen: „Nein, Lindner: Siehe oben.
nur die Kinder intensiv fördern, sondern ich werde den Vorsitz nicht übernehmen.“ INTERVIEW: DIRK KURBJUWEIT, MERLIND THEILE

D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0 27
Parteifreunde Platzeck, Speer
Eine Art Familienbetrieb

war schnell per du und kam sich näher.


1997 bekam eine Mitarbeiterin jenes
Landeskind, dessen ungeklärte Vater-
schaft nun Jahre später zum Politikum
wurde. Speer, der die Vaterschaft nie
einräumte, zahlte offenbar nach Gusto.
Die Mutter soll schwer enttäuscht über
dessen Verhalten gewesen sein, hatte
Gesundheits- und Geldprobleme und
wechselte in die Staatskanzlei, in der
Speer Chef geworden war. Sie wurde

KAI HORSTMANN / IMAGO


verbeamtet.
Hat Platzeck von den unschönen De-
tails schon damals oder tatsächlich erst
jetzt erfahren, wie er gegenüber Jour-
nalisten beteuerte? Ein möglicher Pro-
zess gegen die Beamtin birgt auch Risi-
ße Ware, zahllose private E-Mails gehör- ken für den Landesvater, der die Frau
A F FÄ R E N
ten dazu, von 20 000 Euro ist die Rede, persönlich kennt. Niemand kann vorher-

Landesvater und die Verkäufer für das belastende Material sehen, ob und, wenn ja, was sie über das
verlangt haben sollen. Irgendwann kam Wissen des heutigen Regierungschefs aus-
es in die Hände der Medien. Inzwischen sagen würde.

Landeskind liegen die Mails auf DVD auch Fahndern Die Regierungsarbeit ist ohnehin be-
vor – ein Anonymus hat sie verschickt. lastet. Denn Platzeck ohne Speer, das
Die Beamten halten das Material für echt. schien bislang undenkbar. Ohne seinen
Es belastet Speer und dessen Ex-Geliebte, Vertrauten wäre seine Polit-Karriere wohl
Nach dem Rücktritt von
sie womöglich juristisch, ihn zumindest kaum so glatt verlaufen. 2002 hatte Speer
Innenminister Rainer Speer ist die politisch. für ihn diskret den Machtwechsel orga-
Zukunft von Ministerpräsident Mit seinem Rücktritt wolle er Schaden nisiert. Auf seinem Laptop gab es dazu
Matthias Platzeck (SPD) ungewiss. vom Land und seiner Partei abwenden, eine Datei. Titel: „Wachwechsel“. Kein
Gibt er vorzeitig die Macht ab? sagte Speer. Doch dafür ist es wohl längst Wort über den geplanten Rücktritt von
zu spät. Die Untersuchungen laufen auf Manfred Stolpe (SPD) drang damals an

A
m Dienstagabend der vergange- Hochtouren und könnten weitere Über- die Öffentlichkeit.
nen Woche kamen die Durch- raschungen bringen – für Speer, die SPD Machtmensch Speer stand bis zuletzt
halteparolen vom Fußballplatz. und die Landesregierung. In der politi- fest an Platzecks Seite. Er kannte dessen
Während Drittligist SV Babelsberg 03 im schen Debatte rückt der- Krisen, gesundheitliche
Potsdamer Karl-Liebknecht-Stadion die weil Ministerpräsident Probleme, auch seine
zweite Mannschaft von Werder Bremen Platzeck in den Mittel- Sehnsucht nach einem
mit 2:0 überzeugend schlug, demonstrier- punkt. Was wusste er Leben ohne Termin-
te auch der Vereinsvorsitzende Rainer wann über die unschöne druck. In diesem Jahr ist
Speer seinen unbedingten Siegeswillen. Geschichte? Gibt es auch Platzeck fast 20 Jahre
Nein, er habe sich nichts vorzuwerfen, Belastendes gegen ihn im Brandenburger Kabi-
JULIA ZIMMERMANN / LAIF

beteuerte der Sozialdemokrat, im Haupt- auf dem Laptop? Und: nett. Ein richtiger Zeit-
beruf Innenminister von Brandenburg. Er Wie lange hält er noch punkt, um aufzuhören?
stehe das durch, und aus dem Amt lasse durch? Solche Gedankenspiele
er sich schon gar nicht schießen. Auf dem Spiel steht alarmierten Speer, der
Zwei Tage später hatte er ausgespielt. sein Image als fürsorgli- nichts dem Zufall über-
Am Donnerstag musste der engste Ver- cher Landesvater. Denn Brandenburger Politiker Steinmeier lassen wollte. Er selbst
traute von Ministerpräsident Matthias das Drama um die Vater- Kandidat fürs Spitzenamt? sei wohl nicht der Typ
Platzeck zurücktreten – nicht ohne hin- schaft spielte sich in sei- für Reihe eins, ließ er ge-
zuzufügen, dass dies kein Schuldeinge- nem engsten Umfeld ab. 1997 wurde legentlich durchblicken. Landesvater, das
ständnis sei. Am gleichen Tag erschienen Platzeck, damals Brandenburger Umwelt- wäre nicht seine Rolle.
Polizisten im Potsdamer Wirtschaftsmi- minister, bundesweit als „Deichgraf“ be- Vieles spricht dafür, dass Speer in aller
nisterium. Sie durchsuchten den Arbeits- kannt, der beim Oderhochwasser optimis- Stille bereits am nächsten Wachwechsel
platz einer Beamtin, die verdächtigt wird, tisch über Sandsäcke sprang. Seinen Inti- bastelte. Ein Name fiel im engsten Kreis
zur Vaterschaft ihres Kindes eine falsche mus und Staatssekretär Speer hingegen immer wieder: Frank-Walter Steinmeier,
eidesstattliche Versicherung abgegeben kannten nur Eingeweihte. Ex-Außenminister, gescheiterter Kanzler-
zu haben. Der richtige Vater heißt wo- Der sensible Chef und sein politischer kandidat mit Wahlkreis in Brandenburg.
möglich Rainer Speer. Bulldozer mit dem Machtinstinkt vertrau- Das sei doch ein Mann für das Spitzenamt.
Es war der vorläufige Höhepunkt einer ten sich so gut wie blind. Beide saßen Steinmeier und Platzeck schätzen einan-
bizarren Affäre. Der Stoff dieses Polit- gern beim Rotwein zusammen, Speer ist der, beide sind politische Pragmatiker.
Krimis stammt offenbar von einem Lap- ein guter Koch, Spezialität Lammbraten, Vor kurzem erst hat Platzeck beteuert,
top, der dem Minister im Oktober 2009 gemeinsam heckten sie dann wichtige er wolle bis zum Ende der Legislatur re-
abhandenkam. Sein Inhalt landete Ende Entscheidungen der Landesregierung aus. gieren. „Das ist jedenfalls mein Plan“, er-
Juni 2010 bei Rockern am Treffpunkt Ihr Ministerium war in den neunziger klärte er. Aber der ist nun durcheinan-
„Alte Tankstelle“ in Potsdam. Es war hei- Jahren eine Art Familienbetrieb, man dergeraten. STEFAN BERG

28 D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0
Deutschland

gen rangierten weit oben: Wer gute


Codes entwickeln kann, kann sie auch
GEHEIMDIENSTE
brechen. Die Stasi-Leute waren für beides
ausgewiesene Spezialisten.

Von Mielke zu Merkel Aus Dokumenten der Stasi-Unterlagen-


Behörde geht hervor, dass die Kryp-
tologen unter anderem die bis in die
achtziger Jahre hinein gebräuchlichen
In einer Geheimoperation überführte die Kohl-Regierung einstige Vericrypt- und Cryptophon-Standards ge-
Stasi-Kryptologen in den Westen. Sie entwickeln brochen hatten – und damit verschlüssel-
heute geheime Chiffriertechnik für Bundesregierung und Nato. te Funksprüche von Verfassungsschutz,
BND und Bundesgrenzschutz dechiffrie-

W
enn Ralph W. in Berlin-Adlers- Fachleute wie Ralph W. zum Beispiel. ren konnten. Sogar BND-Befehle an die
hof zu seinem Arbeitsplatz geht, Am 1. September 1982 hatte der promo- Untergrundtruppe „Gladio“, die im Ernst-
kommt er jeden Morgen an sei- vierte Mathematiker seine Verpflichtungs- fall unter feindlicher Besetzung operie-
ner eigenen Vergangenheit vorbei. Der erklärung unterzeichnet, zuletzt zahlte ren sollte, kamen in Ost-Berlin im Klar-
kleine Museumsraum im Erdgeschoss ihm das Ministerium für Staatssicherheit text an.
wirkt wie die Kommandozentrale des 22 550 Ostmark jährlich für seine Dienste. So ein Fachpersonal durfte keinesfalls
Klassenfeindes in alten James-Bond-Fil- Bei seiner Beförderung zum Hauptmann auf den freien Markt kommen, das war
men. Dort stehen Verschlüsselungsgeräte im Juni 1987 urteilte sein Vorgesetzter, W. die Direktive aus Bonn. Die Vorstellung,
aus mehreren Jahrzehnten, ein grünes gehöre zu den „leistungsfähigsten Genos- dass Spezialisten, die sich über Jahrzehn-
Blechungetüm in der Größe eines Kühl- sen des Kollektivs“. Seine Stasi-Abteilung te mit bundesdeutschen Chiffriertechni-
schranks etwa, die T-310, mit
der DDR-Behörden ihre Fern-
schreiben verschlüsselten.
Das Gerät war der Stolz
der Stasi, für die W. einst ge-
arbeitet hat. Heute ist W.
Kryptologe bei der Rohde &
Schwarz SIT GmbH (SIT). Er
und seine Kollegen beschäf-
tigen sich damit, sensible In-
formationen so zu verschlüs-
seln, dass nur Befugte sie
JENS RAED / NVA MUSEUM HARNEKOP

lesen oder hören können.


Ihre wichtigsten Kunden sind
die Nato und die Bundesre-
publik.
Rohde & Schwarz ist so
etwas wie ein inoffizieller
Hoflieferant des Bundes. Das
Unternehmen entwickelt un-
ter anderem abhörsichere DDR-Verschlüsselungsmaschine T-310, Verpflichtungserklärung des Kryptologen W.: Stolz der Stasi
Mobiltelefone für den Amts-
gebrauch. Seit 2004 ist die Tochterfirma XI nannte sich selbstbewusst auch „Zen- ken befasst und die Codes entschlüsselt
SIT „Sicherheitspartner“ des Bundes- trales Chiffrierorgan“ (ZCO). hatten, in Länder des Nahen Ostens wie
innenministeriums, das erst unlängst ei- Die Geschichte führt in die aufregen- Syrien überlaufen könnten, war ein Alp-
nige tausend Verschlüsselungseinheiten den Tage der ostdeutschen Revolution zu- traum. Dort konnte der BND größten-
für Handys orderte, zu rund 1250 Euro rück, ins Jahr 1990. Offiziell hatte die teils problemlos mitlauschen; das sollte
das Stück. Auch die Bundeskanzlerin te- DDR-Regierung unter Hans Modrow ein sich durch mögliche Stasi-Überläufer
lefonierte schon mit Krypto-Handys von staatliches Komitee zur Auflösung des nicht ändern. Zudem hoffte man auf
SIT. Aus Mielkes Chiffrierern sind Mer- Ministeriums für Staatssicherheit ein- Durchbrüche in Regionen, in denen man
kels Chiffrierer geworden. gesetzt, das dann dem neuen Innenminis- selbst nicht weiterkam. Die Stasi-Ex-
Der Wechsel von der Stasi in die Bun- ter Peter-Michael Diestel unterstellt wur- perten mussten deshalb gebunden wer-
desrepublik lief so zügig wie diskret – de. Tatsächlich mischte die Bundesrepu- den, notfalls auch mit unkonventionellen
niemand sollte von der Integration der blik aber in besonders sensiblen Fragen Methoden.
besten DDR-Kryptologen in den Westen entscheidend mit. Bundesinnenminister Die Bonner Ministerialen holten sich
erfahren. Die Geheimoperation der Bun- Wolfgang Schäuble (CDU) hatte seinen Rat bei einem Experten. Otto Leiberich,
desregierung blieb bis heute unbekannt. Staatssekretär Hans Neusel und den da- ein promovierter Mathematiker und
An der Aktion, die im Bundesinnen- maligen stellvertretenden Abteilungslei- Kryptologe, der seit Mitte der Siebziger
ministerium in Bonn geplant wurde, war ter Eckart Werthebach beauftragt, sich die entsprechende Abteilung beim BND
nur eine Handvoll Beamter beteiligt. Am um die besonders brisanten Altlasten aus leitete, das Gegenstück zum ZCO der Sta-
Ende entstand im Januar 1991 die Rohde 40 Jahren deutsch-deutschem Geheim- si. Leiberich wurde Teil der Geheimope-
& Schwarz SIT GmbH, gegründet vor al- dienstkrieg zu kümmern. ration, er sollte die MfS-Experten fachlich
lem aus einem Grund: als Auffanggesell- Der Kohl-Regierung ging es nicht nur beurteilen.
schaft für besonders versierte Stasi-Kryp- um den politischen Sprengstoff, den man- Leiberich erinnert sich noch lebhaft an
tologen, die nach dem Willen der Bonner che Akten der Stasi enthielten, sondern seine erste Dienstreise nach Hoppegarten
Regierung in Schlüsselpositionen bleiben auch um interessante Persönlichkeiten bei Berlin. Einer der vortragenden Ost-
sollten. des Mielke-Ministeriums. Die Kryptolo- Kryptologen habe die West-Delegation
30 D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0
als „Genossen“ begrüßt, amüsiert er sich musste her, und dafür war niemand so Brandenburg, in einem ehemaligen Kin-
noch heute. Er sei vom Können der Ex- geeignet, wie Hermann Schwarz, einer derheim des Ministeriums für Staats-
perten beeindruckt gewesen: „Das waren der beiden Gründer von Rohde & sicherheit.
herausragende Mathematiker, die sich Schwarz. Wie konspirativ selbst innerhalb der
persönlich nichts haben zuschulden kom- Das 1933 gegründete Unternehmen für westdeutschen Sicherheitsgemeinde die
men lassen.“ Funk-, Mess-, und Sicherheitstechnik war Operation abgewickelt wurde, zeigt eine
Am liebsten hätte Leiberich sie einge- abhängig von öffentlichen Aufträgen und Episode aus den neunziger Jahren. Der
stellt, allen voran den bisherigen „Chef- ein zuverlässiger Lieferant für westdeut- BND brauchte einen „D-Kanal-Filter“, ei-
Entzifferer“ der Stasi, den ZCO-Abtei- sche Sicherheitsbehörden. Zudem hatte nen Vorläufer einer Firewall, der Kom-
lungsleiter und Kettenraucher Horst M. Schwarz ein Herz für den Osten. Er hatte munikationsnetze schützen sollte, das zu-
Der 1937 geborene, hagere Mann mit der 1931 in Jena promoviert und dort auch ständige BSI von Leiberich sollte sich
Hornbrille hatte einst die Ost-Berliner seinen späteren Firmenkompagnon Lo- kümmern. Doch die Arbeiten übernahm
Humboldt-Universität besucht und sie als thar Rohde kennengelernt. SIT, und die Pullacher wurden hellhörig.
Diplom-Mathematiker verlassen. Ansons- Doch mit dem eigenen Firmennamen Eine Privatfirma sollte die Computer des
ten interessierte sich der Westen vor al- als Tarnung für eine Stasi-Connection deutschen Auslandsgeheimdienstes schüt-
lem für jüngere Leute, von denen man herzuhalten – das schien dem damals zen? Das sei „schon okay“, bekamen die
sich für das anbrechende Computerzeit- schon hochbetagten und inzwischen ver- BND-Leute als Antwort. Das BSI trage
alter viel erhoffte. storbenen Schwarz zu heiß. Man habe für SIT die Verantwortung.
Leiberich hätte die Verstärkung gebrau- den Unternehmer regelrecht bearbeiten Für Rohde & Schwarz wurde aus dem
chen können, denn 1990 war die west- müssen, sagt ein Kenner des Vorgangs: Sorgenkind im Brandenburgischen bald
deutsche Zentralstelle für Chiffrierwesen „Schwarz hatte eine Riesenangst, dass das eine Erfolgsgeschichte. Unter anderem
aus dem BND herausgeschnitten und per eines Tages publik wird.“ übernahm SIT die Krypto-Sparte von Sie-

STEFFEN KUGLER / PICTURE-ALLIANCE / DPA (R.)


MARCO-URBAN.DE (L.)

Firmensitz der Rohde & Schwarz SIT GmbH, Kryptologe Leiberich, Handy-Nutzerin Merkel: Ein Bundesverdienstkreuz zum Dank

Bundesgesetz das neue „Bundesamt für Der Unternehmer ließ sich schließlich mens, mittlerweile arbeiten rund 150 Ma-
Sicherheit in der Informationstechnik“ doch noch überzeugen, wobei auch die thematiker, Ingenieure und Informatiker
(BSI) ausgegründet worden. Leiberich Aussicht auf zusätzliche Forschungs- und an drei Standorten für die Firma, die sich
wurde der erste Präsident, seine Mann- Bundesaufträge geholfen haben dürfte, stolz „bevorzugter Lieferant von Hoch-
schaft bestand zum Großteil aus ehema- die dann auch in Fülle eintrafen. sicherheits-Kryptografie“ für die Nato
ligen Geheimdienstkollegen. Die Frage, wer in die Tarnfirma über- nennt und Geräte bis zur höchsten
Staatssekretär Neusel verwarf die Idee nommen werden sollte, entschieden am Geheimhaltungsstufe „Cosmic Top Se-
als zu heikel. Zum einen hatte die Regie- Ende BSI-Präsident Leiberich und eine cret“ im Sortiment hat. Die SIT-Lösung
rung beschlossen, belastete Funktionäre Oberregierungsrätin aus dem Bundes- Elcrodat ist Nato-Standardausrüstung in
der Staatssicherheit nicht in den Beamten- innenministerium. Der ehemalige MfS- U-Booten, Fregatten und Militärhub-
apparat der Bundesrepublik zu überneh- Abteilungsleiter Horst M. wechselte naht- schraubern und sichert dem Unterneh-
men. Zum anderen galt für die Geheim- los zu SIT in die Marktwirtschaft, seine men seit Jahren Millionenaufträge. Rohde
dienste ein „heiliger Grundsatz“, wie sich Frau fing als Sekretärin an. Ralph W., & Schwarz möchte sich zu diesem, dem
ein Beteiligter erinnert: „Kein Mann vom damals in seinen Dreißigern und acht unbekannten Teil seiner Unternehmens-
MfS in die westdeutschen Geheimdienste.“ Jahre bei der „Firma“, passte genauso geschichte nicht äußern.
Zu groß war die Angst vor Verrätern. in dieses Wunschprofil, wie seine alten Die Bundesregierung zeigte sich für die
Es half auch nichts, dass das Zentral- und neuen Kollegen Wolfgang K. und Unterstützung bei der Operation nicht
organ für Chiffrierwesen formal noch Volker S. Insgesamt bekamen rund ein nur mit Aufträgen erkenntlich. Werthe-
schnell ins Innenministerium der DDR Dutzend ehemalige Stasi-Kollegen die bach verlieh dem früheren Geschäftsfüh-
ausgegliedert worden war. Das Bundes- Chance auf eine zweite Krypto-Karriere rer von SIT, einem leitenden Angestellten
kabinett hatte entschieden, auch keine in der Bundesrepublik, vorwiegend Ma- von Rohde & Schwarz aus dem Westen,
Innenministerialen der DDR in Bundes- thematiker. für seinen Einsatz in einer feierlichen
behörden zu übernehmen. Der Bund half, wo er konnte, nur un- Zeremonie in der Villa Hammerschmidt
Aber die freie Wirtschaft hatte keinen auffällig sollte es sein. Den Unterneh- das Bundesverdienstkreuz.
solchen Beschluss, eine kreative Lösung menssitz hatte SIT einst in Grünheide in MARCEL ROSENBACH, HOLGER STARK

D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0 31
Deutschland

ten und nicht kurzfristig ans Bundes- Auch der brandenburgische Landtags-
S TA S I
archiv anzuschließen. Außerdem soll der abgeordnete Dieter Dombrowski, 59,

Heikle Staatsminister eine Person auftreiben, die


repräsentabel und der Bürgerrechtsbewe-
gung verbunden ist. Als Maßstab gilt im-
wurde ins Spiel gebracht. Am 13. August
1974 war der damalige DDR-Bürger vom
Bezirksgericht Schwerin wegen Republik-

Kaderfrage mer noch Gründer Joachim Gauck, der


sich mit seiner glanzvollen Kandidatur
für das Amt des Staatsoberhaupts aus der
flucht und staatsfeindlicher Verbindungs-
aufnahme zu vier Jahren Gefängnis ver-
urteilt worden. Später wurde er vom Wes-
ten freigekauft. Bundesweite Bekanntheit
Im Auftrag der Kanzlerin soll Kultur- Vergessenheit katapultiert hat. Am Ende
will Merkel selbst entscheiden. erlangte der CDU-Mann, als er im ver-
staatsminister Bernd Neumann Unversehens ist Medienexperte Neu- gangenen Jahr im Sträflingsanzug im
einen Nachfolger für Marianne mann nun Hauptfigur in einem Film ge- Potsdamer Landtag erschien, um gegen
Birthler finden – und verläuft sich worden, dessen übrige Darsteller ihm die Bildung der rot-roten Landesregie-
im Dissidentendickicht. nicht ganz vertraut sind. Leicht orientie- rung zu protestieren. In Neumanns Kan-
rungslos tappt der Bremer derzeit durchs didatenpool gilt er deshalb als eine eher

K
ulturstaatsminister Bernd Neu- östliche Dissidentendickicht; eine Welt, unberechenbare Größe.
mann (CDU) liebt seinen Job. 68 die nur in einem Punkt der Film- und Im harten Kern der Dissidentenszene
Jahre ist er nun schon alt, und Fernsehschickeria ähnelt. Sie ist voll wiederum wird auf stillen Wegen für Ro-
dennoch mag der einstige Vertraute Hel- Tratsch und Eifersucht. land Jahn, 57, geworben, einer der mu-
mut Kohls nicht ans Aufhören denken. Staunend registriert Neumann, wer al- tigsten Regimegegner überhaupt. Jahn
Besonders gern fährt er zu Filmfest- les mit wem über Kreuz ist: Was hat nur, stammt aus Jena, wurde mehrfach inhaf-
spielen, Küsschen hier, Sternchen da wundert er sich, der CDU-Mann Arnold tiert und am Ende abgeschoben, von den
und er mitten drin im Scheinwerferlicht. Vaatz aus Sachsen gegen Frau Birthler? Schergen einfach in einen Zug gen Bun-
desrepublik gesetzt. Von
dort aus unterstützte er
tapfer weiter jenen Prozess
in der DDR, in dem die
Staatssicherheit die „Kon-
terrevolution“ sah. Heute
arbeitet er als ARD-Jour-
nalist. Diskret wurde sein
Name im Kanzleramt hin-
terlegt. Aber reichen Mut
und Tapferkeit, um eine
Behörde zu leiten, in der
es gelegentlich drunter und
drüber geht?
Deshalb ist nicht aus-
geschlossen, dass am Ende
TIM BRAKEMEIER / PICTURE ALLIANCE / DPA
David Gill, 44, das Rennen
macht. 1990 war er Sprecher
des Bürgerkomitees zur Sta-
si-Auflösung, später Presse-
chef von Behörden-Leiter
Gauck, danach studierte er
CHRISTIAN THIEL

Jura und wurde Oberkir-


chenrat bei der Evangeli-
schen Kirche Deutschlands,
CDU-Politiker Nooke, Behördenchefin Birthler, Vorgänger Gauck: Personalentscheidung mit Symbolkraft er verfügt also über aus-
reichend Verwaltungserfah-
So schön hat es nicht jeder Herr seines Und was führt eigentlich der DDR-Ex- rungen, in Kombination mit einer passen-
Alters. perte mit West-Herkunft Hubertus Knabe den Vita.
Aber Neumann ist nicht nur für die im Schilde? „Alles ehrenwerte Leute“, Neumann ist derzeit dabei, seine Liste
Glamourwelt, sondern auch für die düs- findet Neumann, dem – passend zur Ma- abzuarbeiten. Am liebsten wäre ihm ein
tere Hinterlassenschaft der Staatssicher- terie – konspirativ Namen zugetragen Vorschlag, der breite Zustimmung im
heit zuständig. Und da steht eine Perso- werden. Auch Birthler hat angeblich ih- Bundestag findet. Gauck und Birthler
nalentscheidung mit Symbolkraft an. Im ren Vorschlag vorgetragen. wurden jeweils mit großer Mehrheit ge-
zwanzigsten Jahr der deutschen Einheit Günter Nooke, 51, war einer der ersten wählt. Anderseits dürfe ein CDU-Partei-
soll er im höchsten Auftrag einen Nach- Namen, der fiel. Doch kaum sprach sich buch nun auch kein Ausschlusskriterium
folger für die Bundesbeauftragte für die an Berlins Dissidentenstammtischen her- sein.
Unterlagen der Staatssicherheit finden. um, dass man im Kanzleramt den Afrika- Etwas Zeit hat der altgediente Staats-
Marianne Birthler scheidet im kommen- Beauftragten auf dem Zettel hat, wurden minister noch, der sich so gern wieder
den März aus. Zehn Jahre hat sie die Ak- Einwände lanciert. Nooke sei zwar der der Filmbranche zuwenden möchte. Dem-
ten-Behörde geführt. Eine dritte Amtszeit Bürgerrechtsbewegung verbunden, zum nächst muss er bei Merkel vortragen, da-
erlaubt das Stasi-Unterlagen-Gesetz nicht. harten Oppositionskern habe er aber nie nach eine Kabinettsvorlage schreiben. In
Die Vorgaben für die heikle Kaderfrage gehört. Als weiterer Makel gilt Nookes diesem Herbst soll entschieden werden,
kommen von Kanzlerin Angela Merkel CDU-Parteibuch. Das stehe der nötigen was zukünftig mit den Verdächtigen des
(CDU). So hat sie sich dafür ausgespro- Unabhängigkeit der Behörde im Wege, Landes geschieht: Ob sie ge-nookt, ge-
chen, die Behörde noch länger zu erhal- monieren die Kritiker. gillt oder ge-jahnt werden. STEFAN BERG
32 D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0
teten darauf hin, dass sich Mohnhaupt
JUSTIZ
zum Zeitpunkt des Anschlags nicht in

Ratte und Geier Bagdad, sondern in Amsterdam aufgehal-


ten habe. Und auf den Briefkuverts, in
denen die RAF etwa eine Woche nach
dem Fanal ihre Bekennerschreiben ver-
Neu aufgetauchte Geheimakten
schickte, wurde Beckers DNA entdeckt.
könnten die einstige RAF- Den Verfasser des jetzt aufgetauchten Do-
Frau Verena Becker entlasten. Die kuments kann das Gericht nicht mehr be-
Bundesanwaltschaft kennt die fragen, er ist tot; die Tonbänder sind ge-
Papiere seit langem, schwieg aber. löscht, die Originalabschriften und wei-
tere Teile der Akte verschwunden.

D
ie Männer vom Geheimdienst Für das Verfahren gegen die einstige
trafen Verena Becker mal inkogni- Untergrundkämpferin, die heute als Heil-
to im Knast, mal verlegten sie die praktikerin und Frührentnerin in Berlin
RAF-Frau in eine konspirative Wohnung, lebt, sind die beiden Geheimvermerke
um in aller Ruhe reden zu können. Die dennoch Gift. Sie verstärken nicht nur
Terroristin und die Geheimen – das sollte die Verschwörungstheorie des Buback-
kein Schließer und kein Mitgefangener Sohns Michael, der als Nebenkläger auf-
mitbekommen. „Zauber“ taufte das Bun- tritt und vermutet, dass Becker seinen Va-
desamt für Verfassungsschutz die Opera- ter erschossen hat und bis heute vom Ver-
tion, offenkundig überwältigt vom eige- fassungsschutz gedeckt wird.

THOMAS LOHNES / DDP


nen Erfolg. Die Ergebnisse legten die Be- Die Dokumente werfen auch die Frage
amten in zwei langen Vermerken nieder. auf, ob in dem Verfahren alles mit rechten
Die geheimen Befragungen von 1981 Dingen zugeht. Denn die Ankläger ken-
werden wohl eine weitaus wichtigere Rol- nen die Irak-Episode schon seit einem
le spielen als bislang gedacht, wenn diese Jahr. Im September 2009 konnte der er-
Woche vor dem Oberlandesgericht Stutt- Angeklagte Becker mittelnde Bundesanwalt Walter Hember-
gart der Prozess gegen Verena Becker be- Zum Zeitpunkt des Anschlags im Irak? ger beim Verfassungsschutz in Köln alle
ginnt. Es geht um die bis heute ungeklärte Dokumente der mehrbändigen „Zauber“-
Frage, wer Generalbundesanwalt Sieg- Akte lesen, inklusive des nun aufgetauch-
fried Buback und seine zwei Begleiter am ten Bagdad-Vermerks.
7. April 1977 in Karlsruhe erschoss und Laut Gesetz muss die Anklagebehörde
ob Becker an dem Attentat beteiligt war, be- wie entlastende Indizien zusammen-
wie die Bundesanwaltschaft in ihrer An- tragen. Doch in der Anklageschrift taucht
klage behauptet. die angebliche Irak-Reise mit keinem
Überraschend sind nun aus den Archi- Wort auf. Zwar hatte die Bundesanwalt-
ven des Verfassungsschutzes zwei weitere, schaft um die Freigabe sämtlicher Becker-
bislang unbekannte Geheimvermerke auf- Akten des Verfassungsschutzes gebeten.
HEINZ WIESELER / DPA

getaucht, die die Zweifel daran verstär- Doch als das zuständige Bundesinnen-
ken, dass die Angeklagte direkt an dem ministerium für den Prozess nur die 227
Anschlag beteiligt war. Die Dokumente und 82 Seiten starken Zusammenfassun-
stammen aus der frühen Phase von „Zau- gen der „Zauber“-Vermerke entsperrte,
ber“ und beziehen sich auf die ersten Ge- Tatort des Buback-Attentats 1977 schwiegen die Bundesanwälte und behiel-
sprächsrunden zwischen der damals psy- Exklusives Wissen ten das exklusive Wissen über die weite-
chisch angeschlagenen Gefangenen und ren Papiere für sich.
den Beamten aus Köln. War Verena Becker also nicht in Hätte der Verfassungsschutz in diesem
In den Vermerken vom 8. Oktober Deutschland, als die tödlichen Schüsse Sommer auf Antrag des Gerichts nicht
1981 und vom 16. November 1981 geht es am 7. April 1977 fielen? noch einmal sämtliche Akten durchgese-
um die internen Diskussionen in der RAF Die Behauptung in dem Verfassungs- hen, wäre das Material wohl auf ewig un-
Anfang 1977. Becker zufolge soll Brigitte schutzpapier steht in eklatantem Wider- ter Verschluss geblieben. So fiel den Ge-
Mohnhaupt für eigenständige Anschläge spruch zu der Version des Tathergangs, wie heimdienstlern die Brisanz auf, und sie
in Deutschland plädiert haben, während sie von der Bundesanwaltschaft in der An- entschieden, dass die beiden Vermerke
Stefan Wisniewski und Günter Sonnen- klageschrift geschildert wird. Danach soll von 1981 für die Wahrheitsfindung unver-
berg dazu die Nähe zu palästinensischen Becker am 6. April – einen Tag vor den zichtbar seien. Die Verteidiger von Be-
Gruppen suchten. Mohnhaupt habe sich Schüssen – entweder den Tatort ausgespäht cker wollen jetzt erfahren, welche Papie-
gefügt und der zwischen ihr und Becker oder aber zwei andere RAF-Mitglieder dort re es sonst noch gibt – und was die Bun-
ausgetragene Streit sei begraben worden, mit einem Auto abgeholt haben. Bagdad desanwälte noch alles wissen.
heißt es in dem bis heute als geheime oder Baden-Württemberg? Nur eine der Die historische Wahrheit kennt am bes-
Verschlusssache eingestuften Dokument amtlichen Versionen kann stimmen. ten Verena Becker, aber für das Gericht
vom 16. November 1981. Und weiter: Be- Welche die richtige ist, müssen nun die wird sie wohl keine Hilfe sein. Im April
cker und Mohnhaupt, die sich unterei- Richter klären. Der Verfassungsschutz hat 2007, 30 Jahre nach dem Attentat, fuhr
nander mit den Namen „Ratte“ und „Gei- dem Gericht Ende August neben den Do- sie nach Mannheim, um mit früheren Ge-
er“ angeredet hätten, seien „im April kumenten auch seine eigenen Zweifel sinnungsgenossen eine gemeinsame Linie
1977 (zum Zeitpunkt des Buback-An- übermittelt. Aus dem Vermerk von 1981 festzulegen. An der Zusammenkunft
schlags waren sie abwesend)“ nach Bag- gehe nicht hervor, unter welchen Umstän- nahm auch Brigitte Mohnhaupt teil, und
dad geflogen. Dort habe man Mohnhaupt den die Bagdad-Story aktenkundig wur- für einen Moment war es wie 1977: „Rat-
unter ihrem Kampfnamen „Hinda“ ge- de, und ob es Belege für die Reise in den te“ und „Geier“ einigten sich – zu schwei-
kannt. Irak gebe. Andere Zeugenaussagen deu- gen. JÜRGEN DAHLKAMP, HOLGER STARK

D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0 33
Titel

SPIEGEL TV
Berliner Grenzposten am 9. November 1989: Die Teilung schien betoniert für die Ewigkeit

Allein gegen alle


Als 1989 die Mauer fällt, jubeln die Deutschen in Ost und West. Doch die Großmächte sind alarmiert,
wollen die Einheit verhindern oder zumindest hinauszögern. Bislang unbekannte
Dokumente ermöglichen die Rekonstruktion des dramatischen Ringens hinter den Kulissen.

S
echs Wochen vor dem Fall der Mau- tikerin und ist nun britische Premiermi- Was die zwei Politiker biografisch eint,
er sitzen im Kreml zwei Menschen nisterin. ist die Erinnerung an den Krieg der Deut-
zusammen, die das Leben kennen. Ihr Gastgeber Michail Gorbatschow, schen. Knapp zwei Dutzend Mal bombar-
Die 63-jährige Margaret Thatcher, Toch- knapp sechs Jahre jünger, kommt aus einer dierte die Luftwaffe Thatchers Heimat-
ter eines Kolonialwarenhändlers aus südrussischen Bauernfamilie. Er hat einst stadt, und während die Sirenen heulten,
dem mittelenglischen Grantham, zählte als Mähdreschermechaniker gearbeitet, verkroch sich das Mädchen mit den Haus-
einst als junge Chemikerin zu jener Trup- sich politisch engagiert und ist peu à peu aufgaben unter dem Esstisch. Auch Gor-
pe, die das Softeis erfand. Nach ihrer in der Kommunistischen Partei aufgestie- batschow hat das Grauen nie vergessen,
Hochzeit studierte sie Jura, wurde Poli- gen. Jetzt herrscht er als Chef im Kreml. das Verhör der Großmutter durch die Be-
D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0 39
Titel

satzer, die Gerüchte von Massenerschie- likaten Angelegenheit“ kennen würden. Deutschland einig Vaterland? Frühes-
ßungen, den Viehverschlag, in dem er Er wolle die deutsche Einheit „genauso tens 1995, eher später, wenn überhaupt.
sich versteckte. wenig wie die Briten“. Und wie soll das überhaupt gehen?
In diesem Herbst 1989 ziehen zwei Zeit- Deutlicher geht es nicht. Es ist eine Al- Bundesrepublik und DDR sind die wich-
zonen weiter westlich jeden Montag Tau- lianz gegen Deutschland. tigsten Frontstaaten von Nato und War-
sende Menschen durch die Leipziger In- Je weiter der Zusammenbruch der schauer Pakt im Kalten Krieg. Rund 1,5
nenstadt, während in Prag und Warschau DDR in den folgenden Wochen fortschrei- Millionen Soldaten aus neun Ländern ste-
über 6000 DDR-Bürger in den Botschaf- tet, desto mehr scheint sich das Bündnis hen hier einander gegenüber, ausgerüstet
ten der Bundesrepublik campieren, um der Wiedervereinigungsgegner zu festi- mit Atomwaffen.
so die Ausreise in den Westen zu erzwin- gen. Politiker wie Diplomaten, und nicht Der Zweite Weltkrieg ist offiziell nicht
gen. Die Bilder gehen um die Welt, und nur jene der vier Siegermächte des Zwei- wirklich beendet, es fehlt ein Friedens-
so ist auch den Staatslenkern Thatcher ten Weltkriegs, beunruhigt das Gesche- vertrag, und die Uno-Charta erlaubt je-
und Gorbatschow klar, dass die beiden hen an der Nahtstelle einer in Ost und dem Mitglied der Vereinten Nationen,
Deutschlands vor einem Umbruch stehen. West geteilten Welt. zwischen Rhein und Oder einzumarschie-
Doch wer von beiden hat als Erster das Nur selten geschieht das in der Öffent- ren, sollten die Deutschen eine „aggres-
heikle Thema deutsche Einheit angespro- lichkeit wie im Fall des israelischen Mi- sive Politik“ verfolgen.
chen? Darüber werden sich ihre Mitar- nisterpräsidenten Jizchak Schamir, der Die Deutschen in Ost und West dürfen
nicht ohne Zustimmung der vier Sieger-
mächte über ihre Grenzen entscheiden,
nicht gegen alliierten Willen einen ein-
heitlichen Staat begründen, nicht ohne
Placet der Sieger Berlin zur Hauptstadt
machen. Die Sowjets behalten sich sogar
das Recht vor, bei Bedarf die Vertretung
der DDR sowohl international als auch
gegenüber der Bundesrepublik zu über-
nehmen. Wie bei einem Vasallen.
Und will ein Bundeskanzler einem
amerikanischen Präsidenten das geteilte
Berlin zeigen, kann er gern mit dem US-
Staatsoberhaupt in den Westteil reisen –
aber als Gast des Amerikaners. Und na-
türlich fliegen Westdeutsche nur in Flug-
zeugen der Westmächte, also mit Pan Am,
British Airways und Air France. Die Al-
liierten verbieten der Lufthansa, von Ham-
AP / SUEDDEUTSCHER VERLAG

burg, Köln oder München an die Spree


zu steuern.
So ist die Lage.
Aber nicht mehr lange, und für das,
was in den dann folgenden gut 300 Tagen
geschieht, haben die Deutschen bald nur
Unterzeichnung des Zwei-plus-Vier-Vertrags in Moskau im September 1990 ein Wort: „Wahnsinn“.
Die Teilung schien betoniert für die
Die Deutschen in Ost und West dürfen nicht ohne Zustimmung Ewigkeit, nun löst sie sich im Wochen-
der vier Siegermächte über ihre Grenzen entscheiden. rhythmus auf. Nie zuvor hat es in der
deutschen Geschichte Vergleichbares ge-
beiter später mit Hingabe streiten. Un- sich in einem Interview zu der Aussa- geben: eine Änderung der Grenzen ohne
strittig ist hingegen, dass sich der Kom- ge versteigt, ein geeintes Deutschland einen einzigen Schuss und von (fast) allen
munist und die Konservative treuherzig werde möglicherweise „erneut Millionen Deutschen begrüßt.
versichern, auf Notizen zu verzichten. Juden umbringen“. Aber hinter den Tü- Seitdem die Idee des Nationalstaats mit
Aber natürlich hält keiner der beiden sein ren der Konferenzen von Nato und EG Napoleon über den Rhein kam, träumten
Wort. lassen die Verbündeten der Bundesregie- hier Menschen davon, das traditionell
Und daher wissen wir heute, dass That- rung keinen Zweifel daran, wie wenig sie in Hunderte von Einzelstaaten zerfalle-
cher zuerst sagt: „Ich bin entschieden ge- davon halten, die DDR untergehen zu ne Land zu einen und zudem noch die
gen ein vereinigtes Deutschland.“ lassen. Demokratie zu verankern. 1990 ist es ge-
In Anspielung auf Frankreichs Präsi- Italiens Giulio Andreotti, Mitglied in lungen.
denten François Mitterrand fügt sie hinzu, 33 Regierungen und zum sechsten Mal Das Wunder namens Einheit.
sie wisse sich darin mit einem „westlichen Regierungschef, warnt vor einem neuen In diesem Herbst liegt das Finale der
Führer“ einig. Laut sowjetischer Mit- „Pangermanismus“, der Ministerpräsident deutschen Revolution 20 Jahre zurück,
schrift erklärt sie sogar, ganz Westeuropa der Niederlande Ruud Lubbers stellt so- und immer noch ist eine Frage nicht rest-
stehe auf ihrer Seite. Die Nato würde gar das Selbstbestimmungsrecht der Deut- los beantwortet: Wie konnte es dazu kom-
zwar in ihren veröffentlichten Kommuni- schen in Frage, Frankreichs Mitterrand men? Was geschah da auf der internatio-
qués das Gegenteil behaupten, aber das hält Europa nicht reif für eine Wiederver- nalen Bühne, als aus zwei deutschen Staa-
möge der Gastgeber bitte „nicht ernst einigung. Die Atmosphäre bei den Kolle- ten einer wurde?
nehmen“. gen sei „eisig“ gewesen, berichtet später An Dokumenten besteht kein Mangel.
Gorbatschow stimmt zu. Es sei gut, Kanzler Helmut Kohl, der das nie verges- Zahlreiche Beteiligte – von US-Präsident
dass sie gesprochen hätten und jetzt beide sen hat. Und natürlich sind auch die Polen George Bush senior über Kohl bis zu
die Ansichten des anderen in dieser „de- nicht glücklich. Genscher und sogar dessen Büroleiter
40 D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0
Frank Elbe – haben Erinnerungen veröf- die eine Neutralität ihres Landes befür- Londons Außenminister Hurd hat nach-
fentlicht oder sich in Interviews ausführ- worteten. gezählt: Er sah Genscher wie Dumas in
lich geäußert. Es liegen zudem umfang- Freilich tricksten auch die Diplomaten der ersten Hälfte 1990 im Schnitt einmal
reiche offizielle und halboffizielle Akten- des Auswärtigen Amtes. Am 9. April pro Woche.
editionen vor, darunter die vor einigen 1990 erklärte ein Bonner Vertreter in Der deutsche Außenminister riskierte
Monaten erschienene, spektakuläre Do- Moskau, man strebe Sicherheit nicht zu sogar sein Leben für die Einheit, auch
kumentenauswahl des britischen Außen- Lasten der Sowjetunion an und „eine das geht aus den Akten hervor. Schon
ministeriums*. wichtige Konsequenz sei – mit Zustim- vor dem Mauerfall hatte Kohl den Ame-
Doch nie hat einer der Big Player seine mung aller Nato-Partner – bereits gezo- rikanern erzählt, er fürchte, der herzkran-
Papiere ungefiltert zugänglich gemacht, gen worden, nämlich keine ,Grenzver- ke Liberale werde vor der nächsten Bun-
nicht die Briten, nicht die Amerikaner, schiebung‘ der Nato nach Osten“. Von destagswahl sterben. Tatsächlich hatte
nicht die Franzosen, nicht die Sowjets. einem solchen Konsens konnte im west- Genscher bei Reisen mit Herzrhythmus-
Umso ungewöhnlicher ist das Vorgehen lichen Bündnis keine Rede sein. störungen zu kämpfen. Einmal musste er
des Auswärtigen Amtes, das im vergan- Beteiligt waren an dem „Großen Spiel“ sogar Verhandlungen unterbrechen, eine
genen Jahr noch unter dem damaligen Hunderte Politiker, Diplomaten, Mili- Bundeswehrärztin behandelte ihn in ei-
Außenminister Frank-Walter Steinmeier tärs, Völkerrechtler, Geheimdienstler, nem Nebenzimmer. Es waren dramati-
(SPD) begonnen hat, seine Unterlagen Beamte, allen voran die Chefs und ihre sche Tage.
zur deutschen Einheit 1989/90 zu öffnen.
Der SPIEGEL hatte den entsprechenden
Antrag gestellt und konnte die vorliegen-
den Dokumente sichten.
Es sind Zigtausende Seiten bislang un-
bekannter Quellen: Vermerke der Ge-
spräche, die der seinerzeitige Amtschef
Hans-Dietrich Genscher mit den Großen
dieser Welt geführt hat, Analysen der
Botschaften in Washington, Paris, Lon-
don oder Moskau, Aufzeichnungen ge-
heimer Nato-Beratungen, Protokolle der
Zwei-plus-Vier-Verhandlungen, bei de-
nen Bonn und Ost-Berlin mit den Sieger-
mächten des Zweiten Weltkriegs über die
Souveränität des neuen Deutschlands
verhandelten.
Mancher Zeitzeuge gewährte zudem

JAN-PETER BOENING / ZENIT / LAIF


dem SPIEGEL Einblick in private Unter-
lagen, die sich nicht im offiziellen Archiv
des Berliner Außenamts befinden.
Mit Hilfe dieser Dokumente und Ge-
spräche mit vielen Beteiligten, lässt sich
das diplomatische Ringen nach dem Mau-
erfall präziser denn je analysieren. Es war
ein dramatisches Tauziehen, ganz in der Jubelnde Menge beim Kanzler-Besuch in Dresden am 19. Dezember 1989
Tradition europäischer Diplomatie, über
die einst der britische Premier Lord Pal- Bessere Verbündete als die friedfertigen Ostdeutschen können
merston urteilte, Staaten hätten keine sich Kohl und Genscher nicht wünschen.
Freunde, sondern nur Interessen.
Frankreichs Mitterrand warnte die Außenminister: Kohl und Genscher, Bush Der große Poker um Deutschland be-
Deutschen vor Thatcher, und er warnte und James Baker, Gorbatschow und ginnt am Morgen des 21. November 1989,
Thatcher vor den Deutschen. Die kon- Eduard Schewardnadse, Thatcher und einem nasskalten Dienstag mit einem
servative Britin wiederum verabscheute Douglas Hurd, Mitterrand und Roland Spielzug der Sowjets. Nikolai Portugalow
die sowjetische Diktatur, doch Moskaus Dumas, für einige Zeit zudem der letzte hat an diesem Tag einen Termin im Kanz-
Truppen sollten möglichst lange in Ost- DDR-Ministerpräsident Lothar de Mai- leramt bei Kohls außenpolitischem Bera-
deutschland bleiben – „vielleicht brau- zière und sein Außenminister Markus ter Horst Teltschik. Portugalow berät das
chen wir eines Tages die Sowjetunion, Meckel. sowjetische Zentralkomitee in deutsch-
um ein vereintes Deutschland in Schach Zugleich tauchten auch junge Diploma- landpolitischen Fragen und überbringt
zu halten“. ten auf, die dann Karriere machten wie immer wieder diskret Botschaften des
Auch die Amerikaner verfolgten mit die Sowjetunion-Expertin Condoleezza Kreml.
kaltem Blick ihre Interessen und favori- Rice, später US-Außenministerin, oder Der Kettenraucher mit der großen Bril-
sierten dafür ein geeintes Deutschland in der US-Experte Robert Zoellick, heute le trägt auch dieses Mal einen Vermerk
der Nato, was sie offen aussprachen. Als Präsident der Weltbank. bei sich, sieben Seiten lang und handge-
der Bonner Nato-Botschafter nachfragte, Man muss sich das Geschehen wie schrieben. Portugalow hat darauf „Tipps“
wie das zu deuten sei, entgegnete ein US- eine mehrmonatige, weltumspannende für Kanzler Kohl notiert, verbunden mit
Kollege, die Forderung enthalte „ein Ele- Deutschland-Konferenz vorstellen. Es gab dem Zusatz „vor sich laut gedacht und
ment der Warnung“ an alle Deutschen, Tage wie den 13. Februar 1990, an dem völlig unverbindlich, versteht sich“.
der amerikanische Chefdiplomat Baker Die Mauer ist bereits gefallen. Aber
* „Documents on British Policy Overseas, Series III,
je fünfmal mit Genscher und Scheward- noch regiert in Ost-Berlin Egon Krenz,
Volume VII. German Unification 1989–1990“. Routledge nadse verhandelte, dazu noch mit dem ein Apparatschik aus der Honecker-
Verlag, London; 522 Seiten. britischen und französischen Kollegen. Riege, noch steht in der DDR-Verfas-
D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0 41
Titel

16. Dezember 14. März


Der Weg zur Einheit Die SED gibt sich den Namenszusatz PDS. Erstes von insgesamt acht Beamtentreffen der
Von den einst 2,3 Millionen Mitgliedern Zwei-plus-Vier-Verhandlungen. Von Mai bis Sep-
9. November 1989 verlässt bis Ende Januar 1990 mehr als die tember tagen zudem viermal die Außenminister.
Fall der Mauer Hälfte die Partei. 18. März
13. November 19. Dezember Erste freie Volkskammerwahl: Die CDU-geführte
Hans Modrow wird DDR-Ministerpräsident Kohl spricht in Dresden vor Zehntausenden, „Allianz für Deutschland“ gewinnt mit 48 Prozent
und löst bald Egon Krenz als einflussreichsten die schwarz-rot-goldene Fahnen schwenken der Stimmen. Die PDS kommt nur auf 16 Prozent
Politiker ab. und „Wir sind ein Volk“ rufen. – ein Votum für eine Wiedervereinigung.
28. November 13. Februar 1990 12. April
Bundeskanzler Helmut Kohl präsentiert Der DDR droht der Kollaps, im Februar verlassen Lothar de Maizière (CDU) bildet eine Große
im Bundestag das „Zehn-Punkte-Programm 73 000 Menschen das Land. Kohl und Modrow Koalition und wird DDR-Ministerpräsident. Er will
zur Überwindung der Teilung Deutschlands verabreden Verhandlungen über eine mit Bonn über einen zügigen Beitritt nach Artikel
und Europas“. Wirtschafts- und Währungsunion. 23 des Grundgesetzes verhandeln.

sung, dass allein die SED das Sagen Die Stimmung ist schlecht, denn gut Im großen Deutschland-Spiel bringt
hat, noch fordern Demonstranten eine ein Jahr vor den Bundestagswahlen sind Kohls Vorstoß allerdings nur Ärger, und
Reform der DDR – und nicht ihre Ab- die Umfrageergebnisse im Keller. Da zwar mit fast allen Spielern. Gerade ein-
schaffung. schlägt Teltschik mit Verweis auf Portu- mal drei Wochen liegt der Mauerfall zu-
Portugalow behauptet später, es sei dar- galow vor, der Kanzler möge mit einem rück. Hatte der Kanzler nicht danach ver-
um gegangen, „den unvermeidlichen Pro- Deutschland-Plan „die Meinungsführer- sichert, Stabilität sei oberste Politiker-
zess zu unseren Gunsten zu kanalisieren“. schaft im Hinblick auf die Wiederverei- pflicht, nie werde Bonn einen Alleingang
Vielleicht will er auch nur in bester KGB- nigung“ übernehmen. wagen?
Tradition ein wenig Zwietracht im Wes- Eine gute Idee, findet Kohl. Von wegen. Keiner wird konsultiert,
ten säen. So lesen sich zumindest seine Teltschik erzählt später seinem briti- keiner rechtzeitig informiert.
Aufzeichnungen, und Portugalow steht schen Kollegen, dass es vor allem darum Die Deutschen benähmen sich „mit
als Offizier im besonderen Einsatz auf ging, Genscher auszustechen. Kohl und wachsender Arroganz“, schimpft Frank-
der Gehaltsliste des KGB. Genscher, beides 1,90-Meter-Männer, du- reichs Außenminister Roland Dumas, des-
Die Bundesregierung habe ja eine zen sich und galten einmal als Freunde. sen Vater den Widerstand gegen die Na-
„sehr langfristige Planung zur Lösung der Inzwischen belauern sie einander, und zis einst mit dem Tode bezahlte.
deutschen Frage“, da möge sie doch über Kohl fürchtet, der beliebte Genscher kön- Anfang Dezember sitzen die europäi-
einen Austritt aus der Nato nachdenken, ne ihn beim Kampf um den Platz in den schen Staats- und Regierungschefs beim
am liebsten öffentlich. Und natürlich Geschichtsbüchern abhängen, wenn jetzt EG-Gipfel im Straßburger Kongresspalast
müssten alle westlichen Atomwaffen aus das Thema Einheit Fahrt aufnimmt. zusammen, einem Betonkasten aus den
der Bundesrepublik abgezogen werden. Der Außenminister wird denn auch siebziger Jahren, und wie Kohl in seinen
Sonst sei eine „wie immer geartete deut- nicht informiert, als Kohl am Wochenen- Erinnerungen berichtet, habe er diesen
sche Konföderation“ nicht drin. de aus diversen Vorlagen den berühmten Kreis nie zuvor oder danach in „einer so
Pech für Portugalow, dass Horst Telt- Zehn-Punkte-Plan zur „Wiedergewin- angespannten und unfreundlichen Atmo-
schik den Besuch fehldeutet. Kohls au- nung der staatlichen Einheit Deutsch- sphäre“ erlebt.
ßenpolitischer Berater ist „elektrisiert“ lands“ zusammendiktiert. Ehefrau Han- Eine bemerkenswerte Runde: mit An-
und glaubt, gut zwei Wochen nach dem nelore tippt den Text auf ihrer Olympia- dreotti, dessen Verbindungen zur Mafia
Mauerfall denke die sowjetische Führung Reiseschreibmaschine, auf der sie schon ungeklärt sind, mit Lubbers, der später
schon über die Einheit nach. So erzählt die Doktorarbeit des Gatten geschrieben nach Vorwürfen sexueller Belästigung
es Teltschik auch dem Kanzler. hat. Kohl will den Plan im Bundestag vor-

UL LSTEI N BI LD - AD N -BI LDA RC H IV


Damit die Abende in dem ungemüt- tragen.
lichen Kanzler-Bungalow nicht zu ein- Das Kalkül geht auf. Die Rede, gehal-
sam werden, versammelt Helmut Kohl ten am 28. November, erzeugt ein gewal-
gern Mitarbeiter und Minister um den tiges Echo; seit Jahrzehnten hat sich kein
großen runden Tisch im Speisezimmer. Kanzler getraut, auch nur den Eindruck
So auch einige Tage nach Portugalows zu erwecken, die Einheit komme noch
Besuch. im laufenden Jahrtausend.

4. Dezember 11. Dezember


Die Antwort US-Präsident George Bush sen. Die Botschafter der
der Nachbarn unterstützt das Selbstbestimmungs-
recht der Deutschen unter der Maß-
Siegermächte tagen
demonstrativ im Alli-
DDR-Ministerpräsident Modrow empfängt Frankreichs
Präsidenten Mitterrand in Ost-Berlin
gabe, dass ein geeintes Deutschland ierten Kontrollratsge-
18. November 1989 Nato-Mitglied bleibt. bäude in Berlin. 10. Februar 1990
Die britische Premierministerin Kreml-Chef Michail Gorbatschow
Margaret Thatcher erklärt beim 8./9. Dezember 20. bis 22. Dezember erklärt gegenüber Kohl in Moskau,
Sondergipfel der EG-Staats- und Beim Europäischen Rat in Straßburg Frankreichs Präsident François die Deutschen „müssen selbst
Regierungschefs, die Frage der kritisiert Thatcher das Zehn-Punkte- Mitterrand besucht erstmals die DDR wissen, welchen Weg sie gehen
Grenzen stehe nicht auf der Programm. Die meisten und will „den gleichen Typ Bezie- wollen“. Ähnlich hatte er sich zuvor
Tagesordnung. Verbündeten fürchten die Einheit. hungen“ wie zu Bonn etablieren. gegenüber Modrow geäußert.

44 D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0
1. Juli Deutschlands“, der die bundesdeutsche
Die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion tritt Rechtsordnung auf das Beitrittsgebiet
in Kraft, die D-Mark wird Zahlungsmittel in der überträgt.

WO L F G A N G KU M M / P I CT U R E - A L L I A N C E / D PA
DDR. Infolgedessen bricht die Industrieprodukti- 12. September
on ein. Die Zahl der Arbeitslosen und Kurzarbeiter
übersteigt bald die Zwei-Millionen-Grenze. Unterzeichnung des Zwei-plus-Vier-
Vertrags in Moskau. Da er erst nach
22./23. August Ratifizierung durch alle Beteiligten in
Die Volkskammer beschließt in einer Nacht- Kraft tritt, suspendieren die Siegermäch-
sitzung den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik te ihre Rechte, so dass Deutschland be-
zum 3. Oktober. reits am 3. Oktober souverän ist.
31. August 3. Oktober
Unterzeichnung des Einheitsvertrags:
Bonns Innenminister Wolfgang Schäuble und Ost- Innenminister Schäuble (BRD) und Staatssekretär Krause (DDR) „Tag der Deutschen Einheit“
Berlins Staatssekretär Günther Krause unterzeich-
nen den „Vertrag über die Herstellung der Einheit

aus der Uno ausscheidet, mit dem un- Kommuniqué. Dabei wird deutlich, dass Park in West-Berlin. Bis der Kalte Krieg
durchsichtigen Mitterrand, der politische Kohl die erste Runde verloren hat. Bonn die Alliierten auseinandertrieb, tagte hier
Gegner vom Geheimdienst bespitzeln steht allein. der Alliierte Kontrollrat, der 1945 die
lässt. Thatcher und Mitterrand treffen sich oberste Regierungsgewalt in Deutschland
Natürlich fürchten sie alle eine Wieder- in Straßburg sogar heimlich. Es geht um übernahm.
kehr der Geschichte. Aber sie sorgen sich die Deutschen, ein Volk, dem der fran- Am 11. Dezember 1989 kommen Briten,
auch um die Wirtschaftskraft eines geein- zösische Staatspräsident bescheinigt, es Franzosen, Sowjets und Amerikaner nun
ten Deutschlands, weil sie wie viele Be- habe „niemals seine wahren Grenzen ge- wieder zusammen, zwar nur auf Botschaf-
obachter glauben, die ostdeutsche Wirt- funden“. Thatcher zieht aus ihrer schwar- terebene, und angeblich wollen sie nur
schaft sei ein Rohdiamant, der bei west- zen Ferragamo-Handtasche eine Land- die Lage in Berlin besprechen. Natürlich
licher Pflege bald hell strahlen werde. karte, auf der die deutschen Grenzen im geht das Foto der vier Männer um die
Gleich in der ersten Sitzung startet Laufe der Jahrhunderte eingezeichnet Welt, und alle verstehen: Die Hitler-Be-
Thatcher die Attacke. „Zweimal haben sind. sieger können auch anders.
wir die Deutschen geschlagen! Jetzt sind Die beiden sind sich einig: „Es ist Zeit, Verärgert stellt Genscher wenige Tage
sie wieder da!“, faucht sie. etwas zu unternehmen.“ später die westlichen Kollegen zur Rede.
Zwar hatten Bonns westliche Verbün- Aber was? Ist die DDR überhaupt zu Über Berlin-Probleme könnten sie gern
dete über Jahrzehnte hinweg erklärt, sie retten? Können Mitterrand und Thatcher mit den Russen diskutieren, aber nicht
würden eine Wiedervereinigung begrü- den Lauf der Geschichte aufhalten oder über die Einheit: „Eine solche Entwick-
ßen. Das habe man aber nur getan, argu- zumindest verzögern? lung werden wir auf keinen Fall akzep-
mentiert Thatcher, weil man geglaubt In Ost-Berlin regiert inzwischen Hans tieren.“
habe, dazu werde es nie kommen. Diese Modrow, ein Reformer, dessen SED frei- US-Kollege Baker legt Genscher die
Position ist nicht zu halten. lich die Mitglieder davonlaufen. Denn Hand auf den Arm: „Hans-Dietrich, wir
Allerdings hat sich auch Kohl angreif- die Ostdeutschen entdecken nach und haben dich verstanden.“
bar gemacht. Er will die Vertriebenen- nach die Wahrheit: Dass die SED-Greise Wirklich?
Lobby nicht verprellen und hat im Zehn- kargen Sozialismus predigten und selbst Kurz vor Weihnachten vereinbart Kohl
Punkte-Plan das Thema deutsche Ost- im Westen Miele-Waschmaschinen or- mit Modrow den Ausbau des deutsch-
grenze ausgeklammert. Thatcher verlangt derten; dass die Stasi vor keiner Skrupel- deutschen Flugverkehrs. Da interveniert
– unterstützt von den anderen – ein Be- losigkeit haltmachte, dass die Kassen leer ein US-Gesandter offiziell im Kanzleramt;
kenntnis Bonns zu den bestehenden sind. innerdeutscher Luftverkehr sei Sache der
Grenzen, und Kohl vermutet zu Recht, Ende November 1989 demonstrieren Alliierten. Der gescholtene deutsche Be-
dass sie damit auch die Mauer meint. die Ersten für die Einheit („Wir sind ein amte notiert, die Ansprache des großen
„Nein, ich garantiere nichts, ich erkenne Volk“). Bruders sei „quite tough“, also ziemlich
die gegenwärtigen Grenzen nicht an“, gif- Da wollen die Siegermächte auch de- hart gewesen: „Rüge wegen fehlender
tet er nach dem Abendessen. monstrieren – und zwar ihre Macht. Konsultationen“.
Die ganze Nacht feilschen Genscher Am besten geht das im Kammergericht Wenig später knallt es dann richtig.
und Dumas um Formulierungen für ein im romantischen Heinrich-von-Kleist- In Washington treffen sich hohe Beamte

12. bis 14. Februar 30. Mai bis 3. Juni 15./16. Juli 14. November
Am Rande einer Konferenz in Ottawa Bei einem Besuch in Washington Beim deutsch-sowjetischen Gipfel Der deutsch-polnische Grenz-
akzeptieren die vier Siegermächte erklärt Gorbatschow, die in Moskau und im Kaukasus sagt vertrag schreibt die
den Vorstoß von Bundesrepublik und Deutschen könnten ihr Bündnis Gorbatschow einen baldigen Abzug Oder-Neiße-Linie fest.
DDR, die äußeren Aspekte der Ein- selbst wählen. der sowjetischen Truppen aus der
heit zu sechst zu verhandeln. Andere DDR zu.
Teilnehmerstaaten sind empört. 5./6. Juli
Nato-Gipfel in London: 9. und 12. Oktober
4. Mai Das Bündnis kündigt eine Revision Zwei Verträge mit der Sowjetunion
Der sowjetische Außenminister seiner Militärstrategie an und regeln den Abzug der sowjetischen
Schewardnadse bittet erstmals Bonn schlägt umfangreiche Abrüstungs- Truppen aus der DDR und die Über-
um Kreditbürgschaften – der Sowjet- verhandlungen vor. nahme der Kosten durch Bonn.
union droht die Zahlungsunfähigkeit.

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Titel

der Außenministerien von Bonn, Paris, der SED hervorgehende Linkspartei kön- gar gefechtsbereit, als Demonstranten we-
Washington und London. Von deutscher ne die DDR retten. nige Kilometer entfernt die Stasi-Zentrale
Seite nimmt der Westfale Dieter Kastrup So steht es also Anfang 1990: Die Eu- stürmen.
teil. ropäer sind dagegen, die Amerikaner ver- Doch niemand von ihnen schießt, nie-
Der Karrierediplomat empört sich noch langen (beinahe) Unmögliches, die So- mand baut Barrikaden, niemand wirft ei-
heute über die „erheblichen Tendenzen“ wjets blockieren. nen Stein. Kommen die Volkspolizisten,
der Siegermächte, ohne die Deutschen „Wir haben damals pausenlos überlegt, rufen die Demonstranten: „Keine Ge-
über die Deutschen zu sprechen. mit welchen Maßnahmen, Vorschlägen walt.“ Und ein bisschen drängeln wird
Kastrup verfasst nach dem Treffen ei- wir Gorbatschow über die Hürden brin- man ja wohl dürfen.
nen Vermerk, der „geheim“ gestempelt gen können“, sagt Teltschik heute. Die Bessere Verbündete als die friedferti-
wird. Dem Papier zufolge plädiert der Suche nach Kompromissen gestaltet sich gen Ostdeutschen können sich Kohl und
US-Vertreter genauso wie Briten und auch deshalb schwierig, weil der sowjeti- Genscher nicht wünschen. Es sind die
Franzosen „für Erhaltung der Vier-Mäch- sche Generalsekretär Kohl dessen Zehn- kleinen Leute aus Cottbus, Güstrow oder
te-Verantwortung“, denn man wisse nicht, Punkte-Plan übelnimmt. Leipzig, die die Mächtigen dieser Welt
was in der DDR passiere, und da sei der Ausgerechnet Genscher bekommt den unter Druck setzen.
Vier-Mächte-Mechanismus „potentiell po- Ärger zu spüren, bei einem Moskau-Be- Ende Januar 1990 verlassen täglich
litisch nützlich“. such noch im Dezember 1989. Kohl be- 2000 Ostdeutsche den Arbeiter-und-Bau-
Kastrup hält dagegen: „Es ern-Staat, vor allem die Jun-
geht nicht an, dass im Jahr gen, die Klugen, die Leis-
1990 die Alliierten sich zu- tungsstarken. Sie haben ge-
sammensetzen und für uns nug von den halbherzigen
entscheiden. Wir besitzen Reformen Modrows, seinem
ein legitimes Recht, am Spiel Gekungel mit der Stasi, dem
teilzunehmen.“ Getrickse, um der zur SED-
Immerhin sind den Ame- PDS gewandelten ehemali-
rikanern die historisch be- gen Staatspartei zumindest
dingten Ängste der euro- Teile der Macht zu sichern.
päischen Nachbarn fremd. Und da in der Planwirt-
US-Präsident Bush gilt als schaft auch sonst niemand
Pragmatiker und sagt selbst, mehr macht, was geplant ist,
er habe damals keinen festen sondern alle, was sie wollen,
Standpunkt gehabt, sondern droht der DDR der Kollaps.
sei seinen Beratern gefolgt. Ein willkommener Trumpf

WOLFGANG KUMM / PICTURE-ALLIANCE/ DPA


Der wichtigste – Sicherheits- für Bonn, denn die anderen
berater Brent Scowcroft – Big Player fürchten nichts so
gibt sich mit dem Status quo sehr wie Unruhen in Deutsch-
zunächst zufrieden: „Was land. Seit 1933 weiß jeder,
lässt sich gegen die Teilung was daraus werden kann.
Deutschlands sagen, solange Genscher vermag auf die-
die Situation stabil ist?“ ser Klaviatur glänzend zu
Bush stellt Anfang Dezem- spielen. Stets schildet er sei-
ber 1989 die höchste Hürde nen Kollegen die Lage in Ost-
auf. Amerika werde der Ein- Gorbatschow und Honecker 1989 deutschland als „äußerst in-
heit nur zustimmen, wenn stabil“, immer steht mindes-
Gesamtdeutschland zur Nato Manche Hardliner im Kreml und in der SED tens das „Chaos“ bevor. Und
komme. Britische Diploma- hoffen wohl wirklich auf eine Eskalation. immer kennt er nur einen
ten rätseln, ob das ein Trick Ausweg: die Einheit.
sei, um „Deutschland einig Vaterland“ treibe „Politik ohne Kopf“, benehme sich Düster raunt dann der Hallenser, noch
ins 21. Jahrhundert zu verschieben. „wie ein Elefant im Porzellanladen“, der sei „keine nationalistische Stimmung auf-
Dennoch stimmt Kohl zu. Er ist An- Zehn-Punkte-Plan sei „waschechter Re- gekommen“, wenn jedoch „der Eindruck
hänger einer Dominotheorie: Wird vanchismus“. So schimpft Gorbatschow entsteht, dass über unsere Köpfe hinweg
Deutschland neutral, zerfällt die Nato. laut Gesprächsvermerk. das deutsche Schicksal verhandelt wird,
Ohne den Nordatlantikpakt würden die Danach herrscht wochenlang Funk- kann es rasch zu einem Stimmungsum-
Amerikaner aus Europa verschwinden, stille. schwung kommen“.
und die Atommächte Frankreich und Teltschik berichtet, er habe später mit So etwas will niemand, und es hilft,
Großbritannien sich daraufhin enger zu- Schewardnadse über diese Wochen ge- dass im Ausland die bescheidenen Wahl-
sammenschließen. Das kann kein Kanzler sprochen. Was denn da in Moskau los- erfolge der rechten Republikaner bei den
wünschen. gewesen sei? Antwort Schewardnadses: Europawahlen 1989 durch eine ganz dicke
Doch wenn Kohl die Nato-Mitglied- Gorbatschow sei bedrängt worden, mit Lupe betrachtet werden.
schaft liefert, wird Bush zu seinem Wort den sowjetischen Truppen in der DDR Selbstverständlich könnte der Kanzler
stehen. Und der amerikanische Einfluss einzugreifen. mit einer kräftigen Dosis D-Mark die Si-
in Europa zunehmen. Das wäre das Ende des Spiels gewesen. tuation in der DDR zumindest vorüber-
Nur: Wie kann man Gorbatschow dazu Manche Hardliner im Kreml und in der gehend stabilisieren, aber warum sollte
bekommen, die Einheit zu akzeptieren SED hoffen wohl wirklich auf eine Eska- er? Modrow muss schließlich Verhandlun-
und dann auch noch die Nato-Mitglied- lation der Lage, was eine Intervention gen über eine Wirtschafts- und Währungs-
schaft zu schlucken? Noch stehen seine der sowjetischen Truppen rechtfertigen union zustimmen.
Truppen in der DDR, die nach wie vor würde. Nach Recherchen des Politologen Nun werden auch die bis dahin so coo-
dem Warschauer Pakt angehört, noch Rafael Biermann macht sich ein sowjeti- len Amerikaner unruhig. Die Deutschen
glaubt Gorbatschow ernsthaft, eine aus sches Panzerregiment im Januar 1990 so- wollten die Einheit am liebsten unter sich
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ausmachen, sagt Außenminister Baker, Zeit zu gewinnen. Das Wichtigste wäre Eine Strategie für das Deutschland-
„das läuft nicht“. jetzt, wie auch immer das Endziel heißen Spiel haben die Sowjets im Winter 1990
Eine Nachricht wühlt Washington in mag – meinetwegen auch Wiedervereini- jedenfalls nicht. Und Genscher nutzt das
diesen Tagen zusätzlich auf: Ausgerech- gung –, dass der Vorgang zeitlich in die Vakuum. Noch sind die wesentlichen Fra-
net der Nato-Kritiker Oskar Lafontaine Länge gezogen wird.“ gen offen: Wer darf beim Endspiel um
ist auf dem Weg, SPD-Kanzlerkandidat Damit geht die Runde auseinander. die Einheit mitmachen? Wer darf über
zu werden. O-Ton Bush: „Alles, was ich Mitte Februar fliegt Kohl zum ersten die Grenzen des geeinten Deutschlands
über Herrn Lafontaine höre, macht mir Moskau-Besuch nach dem Mauerfall, entscheiden, über die Mitgliedschaft in
Sorge.“ und Gorbatschow gibt seinen größten der Nato, über die Frage, ob und wann
Nicht einmal jeder fünfte Westdeutsche Trumpf gleich in der ersten Gesprächs- das Land souverän wird?
befürwortet die Nato-Mitgliedschaft eines runde aus der Hand. Einfach so. „Die Die große Option: Eine Friedenskon-
geeinten Deutschlands, und die Ameri- Deutschen müssen selbst wissen, wel- ferenz mit allen 53 Kriegsgegnern von
kaner fürchten einen Prozess, an dessen chen Weg sie gehen wollen“, erklärt er 1945, also auch Uruguay, Saudi-Arabien,
Ende der Rückzug der USA aus Europa dem Kanzler. dem Libanon. Für die Deutschen ein Alp-
stehen könnte. Dann lieber den treuen Protokollant Teltschik „fliegt die Hand, traum, denn viele Teilnehmer würden Re-
Kohl mit allen Mitteln unterstützen. um jedes Wort präzise aufzuschreiben“. parationen verlangen. Sehr teuer und
Und es ist ja auch die unbestrittene Innerlich jubelt er. sehr langwierig.
Leistung Kohls, dass er Kurs hält, dass Zum Glück sind die Alliierten dagegen,
er sich von Gorbatschows Blockade weil in einer solchen Runde selbst sie
nicht beeindrucken lässt, dass er Wa- Alliierter Vorbehalt nicht mehr so wichtig wären.
shingtons Unterstützung gegen die Eu- Deutschland und Berlin 1989/1990 Dann die kleine Option: eine Vier-
ropäer sichert. mächtekonferenz mit den Deutschen als
Bald notiert Genschers Mann Kastrup: Berliner Sektoren Juniorpartner am Katzentisch. So etwas
„Die USA nehmen eine außerordentlich amerikanisch hat schon einmal im Jahr 1955 statt-
hilfreiche und konstruktive Haltung ein. britisch BERLIN gefunden. Doch Genscher droht: „Ich
französisch
Sie messen bei Entwicklung ihrer eigenen werde als deutscher Außenminister bei
sowjetisch
Positionen unseren Auffassungen große einer solchen Konferenz nicht erschei-
Bedeutung zu.“ nen“, schließlich habe „jedes Volk seine
Die Pokerpartie nimmt ihre erste Wen- Würde“.
dung. DEUTSCHE Er dreht die Formel um, nicht vier Sie-
Als sich Thatcher und Mitterrand am DEMOKRATISCHE ger plus zwei Besiegte, sondern Bonn und
20. Januar beraten, jammern sie zwar, ein BUNDES- REPUBLIK Ost-Berlin plus die vier Siegermächte des
geeintes Deutschland werde sicher Un- REPUBLIK Zweiten Weltkriegs. Und zwar so schnell
garn, Polen und die Tschechoslowakei do- DEUTSCHLAND es geht: „Eile ist geboten, weil der Kreis
minieren, und „für uns bleiben nur noch derer, die mitreden wollen, ständig
Rumänien und Bulgarien übrig“. wächst.“
Doch auch sie räumen ein, dass nur Luftkorridore Der Zufall will es, dass eine große
noch Gewalt die Einheit aufhalten könne, West-Berlin – Ost-West-Konferenz im kanadischen Otta-
und das wollen nicht einmal die beiden Westdeutschland wa ansteht, und alle 23 Außenminister
Anti-Germanen: „Niemand von uns wird der Nato und des Warschauer Pakts flie-
Deutschland den Krieg erklären.“ gen hin.
Mitterrand weiß immerhin, was er für Genscher lädt die Westkollegen zum
Frankreich herausholen will. Er verlangt Frühstück in die tiefverschneite deutsche
von Kohl, den Euro früher und zu ande- Botschaft. Sie sind sich einig: baldige Ver-
ren Konditionen einzuführen, als es der handlungen in einer gleichberechtigten
Kanzler wünscht. Wenn Gorbatschow damals 100 Mil- Sechser-Runde.
Die europakritische Thatcher verfügt liarden Mark von uns für die Einheit ver- Genscher und Baker übernehmen es,
nicht über diese Option. Außer schlechter langt hätte, hätten wir die natürlich ge- Schewardnadse zu bearbeiten. Der
Stimmung trägt sie fortan wenig zum zahlt, sagt Teltschik heute. Georgier ist übermüdet und „nicht so be-
Spiel bei. Und warum verlangt Gorbatschow das geistert, dass wir an dieser Stelle Druck
Nun ist Gorbatschow am Zug. Am 25. nicht? machen, dem ging das alles zu schnell“,
Januar versammelt der Generalsekretär Weil er Moralist ist und von einer bes- erinnert Genschers Büroleiter Elbe. Im-
in seinem Arbeitszimmer im sechsten seren Welt träumt, in der man den Deut- mer wieder telefoniert Schewardnadse
Stock des ZK-Gebäudes die Entscheider schen nicht verkauft, was ihnen zusteht? mit Moskau, sogar in Anwesenheit der
aus Partei und Außenministerium, dem Oder naiv, wie ihm heute viele in Russ- Deutschen, was diesen freilich nichts
KGB, den Streitkräften, der Regierung. land vorwerfen? Oder hat er einfach den nutzt, weil sie kein Russisch verstehen.
Sie sitzen ziemlich ratlos beieinander. „Es Kopf nicht frei? Schließlich stimmt er zu, wohl in der An-
gibt keine einflussreichen Kräfte mehr in Gorbatschow, beobachtet Genscher sei- nahme, dass die Verhandlungen sich jah-
der DDR“, klagt Gorbatschow. nerzeit, „kümmert sich immer nur um relang hinziehen werden.
Er müsste der DDR mit Devisen helfen, das, was gerade aktuell ist“. Er ahnt nicht, dass Genscher darauf
aber die fehlen ihm ja selbst, weil die Und aktuell brodelt es überall in der setzt, die Einheit bis zum Herbst 1990
Wirtschaftsreformen der Perestroika kei- Sowjetunion, deren Völker nach Unabhän- vollenden zu können.
ne Resultate zeigen. In der Vorwoche hat gigkeit streben. O-Ton Gorbatschow aus Gemeinsam treten die Außenminister
die sowjetische Außenhandelsbank die jenen Tagen: „Was soll ich nur tun? Aser- der Zwei-plus-Vier-Länder, darunter auch
Zahlungen an Westfirmen für Importe baidschan und Litauen, Radikalreformer Modrows DDR-Vertreter, für ein Foto vor
teilweise einstellen müssen. einerseits, Sozialdemokraten andererseits, die Presse.
Wie alle Politiker schiebt Gorbatschow und die Schläge werden immer schmerz- Da bekommt Elbe den Anruf eines
unangenehme Entscheidungen lieber auf. hafter, die Wirtschaft treibt vor sich hin, amerikanischen Kollegen, Genscher
„Ich würde darauf setzen, möglichst viel das Volk ist an der Grenze seiner Kraft.“ möge sofort kommen, es gebe Ärger im
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Titel

Nato-Caucus, wie der Kreis der Nato-Ver- und manche in der CDU/CSU verbreiten schik damals vorenthaltenen und jetzt
treter genannt wird. den Verdacht. Sogar Kohl überkommen zugänglichen Papiere belegen, deutet
Die Verbündeten haben brav auf der nach Angaben eines engen Mitarbeiters Genscher gegenüber Schewardnadse im-
Konferenz herumgesessen und erfahren Zweifel. mer wieder Kompromissbereitschaft an,
nun, dass hinter ihrem Rücken Zwei-plus- Die US-Dienste haben den 1952 aus auch in der Architektur der Nato. Die
Vier-Verhandlungen beschlossen worden Halle geflohenen Genscher schon länger Bündnisse könnten „unter Umständen in
sind. Sie sind außer sich. im Visier, weil dieser seine Heimat be- neuen Strukturen aufgehen“, lockt Gen-
Vorneweg der niederländische Au- suchte, obwohl er einst als Innenminister scher.
ßenminister Hans van den Broek, dann für den Verfassungsschutz zuständig war. Ist die Mitgliedschaft eines geeinten
auch die Italiener, die Belgier, die Lu- Genscher sei der einzige Sicherheitsmi- Deutschlands in der Nato für die Sowjets
xemburger. nister aus dem Westen gewesen, der re- unannehmbar? Dann müsse man darauf
Man kann sie verstehen. Das Nato-Ge- gelmäßig privat in den Osten fuhr, be- verzichten, die „Nato auf das Territorium
biet, das zu schützen sich die Allianz-Mit- gründet ein ehemaliger US-Geheim- der DDR“ auszudehnen.
glieder verpflichtet haben, wird mögli- dienstchef das Misstrauen. Ist die Bundeswehr trotz geplanter
cherweise infolge der Einheit größer, aber Und so richtig verdächtig finden man- Reduzierungen zu groß? Dann gehen
niemand fragt sie um ihre Meinung. Die che Amerikaner die teils stundenlangen eben einige zehntausend Soldaten zu-
Spanier behaupten später sogar, es sei Treffen Genschers mit Schewardnadse im sätzlich in Pension.
eine Zustimmung der ande- Im Rückblick wird deut-
ren Nato-Mitglieder zur Er- lich, dass Genscher die Härte
weiterung des Nato-Territo- Gorbatschows in den Ver-
riums erforderlich. handlungen überschätzt; am
Zudem wissen alle: Ist Ende gibt Moskau in wesent-
Deutschland erst geeint, ver- lichen Fragen nach. Und
lieren sie an Bedeutung. ganz sicher hätte sich der
Italiens Gianni De Miche- FDP-Mann in keiner dieser
lis, ein fülliger Venezianer, Fragen gegen Kohl durchset-
der später wegen Korruption zen können.
verurteilt wird, mosert: Es Von Gekungel mit dem
„geht um die Sicherheit Osten oder gar Verrat ist das
Deutschlands und Europas, weit entfernt.
und das sind Fragen, die in Das Spiel wird eben auch
der Allianz behandelt wer- mit schmutzigen Tricks ge-
den müssen“. Dem Vermerk führt, und Rufmord gehört
zufolge behauptet er sogar, dazu. Diplomatie gilt nicht
Italiens Sicherheit werde be- umsonst als die Kunst, dem

BERNARD BISSON / SYGMA / CORBIS


rührt – als ob ein Marsch Nachbarn die Kehle durchzu-
deutscher Truppen über die schneiden, ohne ein Messer
Alpen bevorsteht. zu benutzen.
Die größte Gefahr droht Der Georgier Scheward-
von dem Vorstoß des Nieder- nadse hat in jenen Tagen
länders van den Broek, der dunkle Ringe unter den Au-
am liebsten die Vereinba- gen. Er erzählt Genscher,
rung „Zwei-plus-Vier“ neu Frankreichs Staatspräsident Mitterrand 1990 wenn das geeinte Deutsch-
verhandeln will, damit auch land zur Nato komme, drohe
Den Haag mitreden darf. Mitterrand verlangt von Kohl, den Euro früher in Moskau „Anarchie oder
Gerade rechtzeitig trifft und zu anderen Konditionen einzuführen. Diktatur“. Muss man das
Genscher im Caucus ein. Als ernst nehmen, oder will
de Michelis erneut ansetzt, weist der Frühjahr 1990, einmal im März, zweimal Schewardnadse Zugeständnisse heraus-
Deutsche ihn zurecht: „You are not part im Mai, viermal im Juni. holen?
of the game.“ Ihr seid nicht Teil des Er habe immer wieder um Gesprächs- Das Endspiel läuft bereits. Seit Mitte
Spiels. vermerke gebeten, sagt Teltschik, doch März treffen sich die sechs Delegationen
So steht es wörtlich im Vermerk des Genscher habe ausrichten lassen, er wer- zu den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen.
Auswärtigen Amts. de Kohl direkt informieren, was nie in Mal konferieren sie im Schloss Nieder-
„Das ist das einzige Mal, dass ich erlebt gewünschtem Umfang erfolgt sei. Gen- schönhausen in Ost-Berlin, mal in Bonn.
habe, dass Genscher jemanden offen an- schers Bürochef Elbe fängt an zu lachen, 19 Männer und Frau Rice versammeln
gegangen ist“, sagt Elbe heute. wenn er darauf angesprochen wird. Na- sich im Auswärtigen Amt in einem
Immerhin ist danach Ruhe. türlich habe er Teltschik die Papiere nicht schlauchförmigen Raum mit Fensterfront,
Und US-Außenminister Baker blickt gegeben. der etwas großsprecherisch „Weltsaal“
voll Sorge in die Zukunft. Wenn schon Im Auswärtigen Amt nennen sie Gen- heißt, weil eine Weltkarte an der Wand
die Frage, wer verhandeln darf, solchen scher „den Alten“, und Elbe vergleicht hängt.
Ärger aufwirft, wie soll es erst werden, den Alten mit einem „Rieseninsekt“, das Es sind die Spitzendiplomaten aller Sei-
wenn es um wirklich Wichtiges geht. mit vielen Fühlern das Umfeld abtastet. ten, auf westdeutscher Seite Kastrup und
Baker will darüber mit Genscher spre- Wo geht es weiter, wo muss man zurück- Elbe. Sie sollen Kompromisse ausloten
chen. Aber kann man dem Hallenser weichen? Und beim Tasten will sich Gen- und an Vertragstexten basteln. Die Au-
trauen? scher weder von Kohl noch von Baker ßenminister treffen sich später in eigenen
Es geht das Gerücht um, der FDP- stören lassen. Runden, um offene Fragen zu klären.
Mann sei ein Mann des Ostens, mit An- Der deutsche Außenminister fürchtet, Kastrup will den Eindruck eines Ost-
bindung an KGB oder Stasi. Konservative die Einheit könne an westlichen Ma- West-Gegensatzes vermeiden und schlägt
US-Politiker und Diplomaten streuen es, ximalforderungen scheitern. Wie die Telt- eine Sitzordnung nach deutschem Alpha-
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Titel

bet vor. Die drei sowjetischen Delegierten als zwei Drittel der Stimmen erhielten, sident Bush und die britische Premier-
nehmen Platz zwischen ihren Kollegen sitzen dort ausreichend Abgeordnete, die ministerin Thatcher wollen kein Geld in
aus F wie Frankreich und V wie Vereinig- den Beitritt anstreben. Es laufen bereits die marode Sowjetwirtschaft stecken, und
te Staaten. Kleine Nettigkeiten, die große vorbereitende Verhandlungen mit Bonn; die Franzosen sind finanziell zu schwach.
Gegensätze mildern sollen. Anfang Juli wird in der DDR die D-Mark Bleibt nur Bonn als Finanzier.
Die Sowjets wollen über vieles pala- eingeführt, danach starten Gespräche zur Gorbatschow lässt Kohl ausrichten, das
vern, nicht nur über Grenzen oder Vier- Übernahme der westdeutschen Rechts- Kremlreich befinde sich in einer „Phase
mächte-Status, sondern auch über das ordnung. der Krankheit“ und brauche „Sauerstoff“,
Verbot von Neonazis oder die Entschädi- Moskau kann das Spiel nicht ewig auf- so etwa 20 Milliarden Mark.
gung sowjetischer Zwangsarbeiter. Julij halten. Kohl und Genscher ermöglichen den
Kwizinski ist der führende Kopf auf Sei- Ein hoher US-Diplomat erörtert mit ei- Kredit, wenn auch nur ein Viertel des Ge-
ten Moskaus. „Ein in der Wolle gefärbter nem Bonner Kollegen die Lage. Blockie- wünschten. Und natürlich geben sie das
Kommunist, ein absoluter Überzeugungs- ren die Sowjets über den DDR-Beitritt Geld nicht umsonst.
täter“, sagt Kastrup heute über sein da- hinaus, könnten die Westmächte ihre Sie- Die Deutschen wollten die Wiederver-
maliges Gegenüber. gerrechte einseitig aufgeben. Das ist so- einigung, die Sowjets wollten ihre wirt-
Kastrup und US-Verhandlungsfüh- zusagen der Plan für den Notfall. Die schaftlichen Reformen, sagt Genscher zu
rer Zoellick drücken hingegen aufs Tem- Sowjetunion wäre dann im geeinten Schewardnadse, daraus ergebe sich eine
po: kurze Tagesordnung, Lage, in der man sich helfen
schnelle Gespräche, rasche oder einander Schwierigkei-
Einheit. ten bereiten könne.
Laut Verhandlungsproto- Allerdings sucht man den
koll versucht Moskau immer Eindruck eines Deals zu ver-
wieder, einen (rangniederen) bergen, was misslingt. Bitter
Sonderstatus für das geeinte klagt Schewardnadse, die
Deutschlands festzuschrei- Öffentlichkeit glaube, „die
ben. Etwa als die Runde Sowjetunion werde gegen ei-
über einen Verzicht von nen großen Kredit ja zur
Atomwaffen spricht. In der Mitgliedschaft des vereinig-
Sache ist dieser Verzicht un- ten Deutschlands in der
umstritten. Nato sagen“. Genscher heu-
Nur: Erfolgt er als souve- chelt Erstaunen: „Dies ist un-
räner Akt der Deutschen, glaublich und unerhört. Es
die das dann öffentlich erklä- gibt eben unverantwortliche
ren? Oder soll es eine ge- Schwätzer, denen der Mund
meinsame Stellungnahme gestopft gehört.“
aller Verhandlungspartner Intern sprechen beide Sei-
geben, aus der sich ein Mit- ten Klartext. Mit Krediten
spracherecht der Alliierten wolle man „die sowjetische
ableiten lässt? Zustimmung (zur Nato-Mit-
GETTY IMAGES

Nach einigen Monaten hat gliedschaft –Red.) kaufen“,


sich die Runde gerade ein- sagt Teltschik. Und Jewgenij
mal auf eine Liste mit jenen Primakow, sowjetischer Spit-
20 Punkten geeinigt, bei de- Britische Premierministerin Thatcher 1989 zenfunktionär und später
nen man nicht einig ist. russischer Premierminister,
Nun sind Moskaus Diplo- „Zweimal haben wir die Deutschen geschlagen! erklärt offen, die Nato-Mit-
maten Meister im Pokern. Jetzt sind sie wieder da!“ gliedschaft des geeinten
Sie können eindrucksvoll die Deutschlands „geht in Ord-
Stirn in drohende Falten legen, die Stim- Deutschland die einzig verbliebene Be- nung, wenn sich dieses der wirtschaft-
me senken, „njet“ dröhnen. satzungsmacht von 1945 – politisch kaum lichen Nöte der Sowjetunion annehmen
Eine solche Strategie setzt allerdings durchzuhalten. wird“.
voraus, dass der Spieler bis zum Schluss Auch kämen die rund 350 000 Soldaten Jetzt geht es Zug um Zug. Ende Mai
durchhält. Gorbatschow und Scheward- der Sowjetarmee in der DDR in eine fliegt Gorbatschow nach Washington,
nadse scheinen zu glauben, dass sie das schwierige Situation. Um sie herum be- und zur Überraschung der Gastgeber, die
schaffen. zahlten alle mit harter D-Mark, sie selbst nicht mit einem derart frühen Einknicken
Sie übersehen dabei Artikel 23 des Bon- hätten nur wertlose Rubel, das würde rechnen, erklärt er plötzlich mitten in ei-
ner Grundgesetzes. Den hat seit 40 Jah- „die Moral dieser Truppen untergraben“, ner ziemlich wirren Diskussion mit Bush,
ren niemand beachtet, aber jetzt studie- so das amerikanische Kalkül. Und mit die Deutschen hätten das Recht, über die
ren ihn alle mit großer Aufmerksamkeit. westdeutscher Finanzhilfe könnte Mos- Mitgliedschaft in einem Bündnis selbst
Denn Artikel 23 erweist sich als ein gro- kau nicht rechnen. zu entscheiden. Die Amerikaner glauben,
ßer Joker. Da mögen die Sowjets auf Zeit Der Notfallplan bleibt in der Schubla- sich verhört zu haben. Wie Zeitzeugin
spielen, die Briten sich aufplustern, die de. Die Wirtschaftskrise der Sowjetunion Rice berichtet, drängen einige Berater
Franzosen intrigieren – gegen Artikel 23 verschärft sich im Frühjahr 1990. In der den Präsidenten, er solle Gorbatschow
haben sie keine Chance. Not verkauft Gorbatschow Gold und so- das wiederholen lassen (siehe SPIEGEL-
Denn er sieht vor, dass die Ostdeut- gar die Abbaurechte für Diamanten. Es Gespräch Seite 53).
schen jederzeit der Bundesrepublik bei- hilft nicht. Die internationale Zahlungs- Bush fragt nach, Gorbatschow wieder-
treten können. Ein Beschluss der Volks- unfähigkeit droht. holt.
kammer genügt. Und seit den freien Wah- Anfang Mai muss Gorbatschow Kredi- Das Hauptproblem ist gelöst.
len in der DDR am 18. März, bei der die te beschaffen – zu einem für die Deut- Die Amerikaner können es kaum fas-
einheitsbefürwortenden Parteien mehr schen perfekten Zeitpunkt. Denn US-Prä- sen, und Kohl ergeht es ähnlich. Dreimal
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wiederholt Bush am Telefon die Nach- auf 8, Gorbatschow zeigt sich empört. Er Genscher ist bester Laune und diniert
richt vom Durchbruch, doch der Kanzler komme sich vor, als sei er „in eine Falle mit seinem Kollegen Douglas Hurd in der
lässt sich in seinem Redeschwall über den geraten“. Kohl entgegnet, „so könne Residenz des deutschen Botschafters. Der
Stand der sowjetischen Wirtschaft nicht und wolle man nicht miteinander reden“. Diplomat lässt Kaviar servieren, denn
bremsen. Sie wollen beide nachdenken. Drei Thatchers Außenminister erklärt sich be-
Bush schickt schließlich einen Brief. Tage später bietet Kohl maximal 12 Mil- reit, ein letztes Problem aus der Welt zu
Sechs Wochen später klären Kohl und liarden. Gorbatschow droht, dann „müs- schaffen. Die Briten wollen unbedingt für
Genscher während eines Besuchs bei Gor- se praktisch alles noch einmal von An- die Westmächte das Recht festschreiben,
batschow die anderen großen Fragen: fang an erörtert werden“. Da legt Kohl in der ehemaligen DDR Manöver abzu-
Wann wird Deutschland souverän? Zeit- einen zinslosen Kredit über 3 Milliarden halten, die Sowjets wollen das unbedingt
gleich mit der Einheit. Wann ziehen die Mark obendrauf, und Gorbatschow verhindern. Ein absurder Streit.
sowjetischen Truppen ab? In maximal stimmt zu. Man werde keine Schwierigkeiten ma-
vier Jahren. Welchen militärischen Status Der Moralist weiß, dass dies keine chen, erklärt nun Hurd und instruiert ei-
bekommen die neuen Bundesländer? Glanzstunde ist. Er sei „kein Händler und nen Mitarbeiter, die britische Verhand-
Normales Nato-Gebiet, nur dürfen dort schon gar kein Erpresser“, sucht er sich lungsdelegtion anzurufen.
keine ausländischen Nato-Truppen und gegenüber Genscher zu rechtfertigen, wie Glücklich fährt Genscher kurz vor Mit-
keine Atomwaffen stationiert werden. ein deutscher Diplomat protokolliert. ternacht zurück ins Hotel. Da kommt ihm
Im Gegenzug verzichtet auf dem Flur Kastrup entge-
Bonn mit viel Tamtam auf gen. „Ihre Fröhlichkeit wird
Dinge, an denen den meisten Ihnen gleich vergehen“, sagt
Deutschen in Ost und West er, die Briten seien trotz
nichts liegt. Bundeswehr und Hurds Zusage hart geblieben,
Nationale Volksarmee sind und soeben hätten die So-
viel zu groß, da fällt die Ver- wjets die Vertragsunterzeich-
pflichtung leicht, die Streit- nung für den nächsten Tag
kräfte des geeinten Deutsch- abgesagt. Hat Thatcher von
lands zu reduzieren. Gern London aus eingegriffen?
sagt Kohl zu, auf ABC-Waf- Unglaublich. Deutschland
fen zu verzichten. Die Oder- wird nicht souverän, weil die
Neiße-Linie akzeptiert er öf- Tommys bei Magdeburg Pan-
fentlich als Ostgrenze, ob- zerfahren üben wollen.
wohl manche Vertriebene Genscher erbleicht und
murren. verlangt sofort, Baker zu
Und selbstverständlich set- sprechen. Der Amerikaner
zen sich die Deutschen be- soll die Briten zur Ordnung
sonders dafür ein, dass die rufen, doch der US-Minister
Nato ihre Militärstrategie re- hat eine Schlaftablette ge-
PAUL LANGROCK / ZENIT
vidiert und vom Kalten nommen, und seine Leute
Krieg Abschied nimmt. weigern sich, ihn zu stören.
Da ein Teil der Verhand- Genscher lässt ausrichten, er
lungen in Gorbatschows Hei- werde sich jetzt auf den Weg
mat stattfinden, verbreiten machen und notfalls persön-
Kohls Helfer hinterher die et- Einheitsfeier vor dem Reichstag am 3. Oktober 1990 lich Baker wecken.
was übertriebene Version In einem Taxi fährt der in-
vom „Wunder im Kaukasus“. Der 40 Jahre lang unbeachtete Artikel 23 des zwischen wieder von Herz-
Die Zwei-plus-Vier-Ver- Grundgesetzes erweist sich als großer Joker. beschwerden geplagte Deut-
handler kommen nach die- sche morgens um ein Uhr
sen Durchbrüchen allerdings ganz schnell Alle Finanzleistungen an die Sowjet- mit Elbe und Kastrup ins Hotel der Ame-
voran. union, die im Zuge der Wiedervereini- rikaner. Der übermüdete Texaner emp-
Bleibt die Frage des Geldes. Erstaunli- gung anfallen, belaufen sich zusammen fängt im graubraunen Bademantel aus
cherweise tritt Gorbatschow ständig in auf rund 55 Milliarden Mark, dafür müs- Hotelbeständen. Zum Glück versteht er
Vorleistung, auch wenn er keinen Zweifel sen die Westdeutschen 1990 gerade ein- sofort.
daran lässt, dass es bei dem ersten Kredit mal acht Tage arbeiten. Am nächsten Morgen rudern die Briten
nicht bleiben kann. Die letzte Stunde im Deutschland-Spiel zurück.
Vielleicht ist ihm die Situation peinlich. gehört den Briten. Um 12.45 Uhr Moskauer Zeit ist es
Wohl nie in der Geschichte haben Besat- Sie waren gegen die Einheit, als die dann so weit. Wie ursprünglich vorgese-
zer von Besetzten verlangt, die Unter- Mauer noch stand, und sie sind es immer hen, unterzeichnen die Außenminister
künfte für die Truppen der Okkupations- noch, als die Sowjets bereits zugestimmt der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs
armee in deren Heimat zu bezahlen, weil haben. sowie Genscher und DDR-Ministerpräsi-
sie dazu selbst nicht in der Lage sind. Am 11. September 1990 scheint zu- dent de Maizière, der zugleich als Außen-
Dazu die Kosten für den Abtransport und nächst noch alles auf gutem Wege. Die minister amtiert, den „Vertrag über die
eine Umschulung der Militärs. Volkskammer hat den Beitritt gemäß Ar- abschließende Regelung in Bezug auf
Im August beginnt das Zocken. Die tikel 23 für den 3. Oktober beschlossen. Deutschland“.
Russen verlangen über 36 Milliarden Vorher soll in Moskau der Zwei-plus-Vier- Die Zeremonie ist denkbar nüchtern.
Mark, die Deutschen bieten 3. Beim Vertrag über die äußere Einheit unter- Sie findet in einem schmucklosen Neben-
Stand von 18,5 Milliarden Mark Forde- zeichnet werden. Die Außenminister der raum des Hotels Oktober statt. Nicht ein-
rung zu 6 Milliarden Angebot schalten sechs Staaten sind schon angereist oder mal Blumen hat man aufgestellt.
sich die Chefs ein. Am 7. September te- auf dem Weg in die sowjetische Haupt- Wozu auch. Außer den Deutschen hat
lefonieren sie miteinander: Kohl erhöht stadt. sich ja niemand gefreut. KLAUS WIEGREFE
52 D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0
SPI EGEL-GESPRÄCH

„Es ging um den Jackpot“


Die ehemalige US-Außenministerin Condoleezza Rice
über Amerikas Kampf um die deutsche Einheit, Michail Gorbatschows Nöte,
Helmut Kohls Verdienste und Gerhard Schröders Fehler
Condoleezza Rice, 55, war ten, dass dieser Niedergang
während der Verhandlungen bald Ostdeutschland erreichen
zur deutschen Einheit Osteu- würde.
ropa-Beraterin von US-Präsi- SPIEGEL: So früh dachten nicht
dent George H. W. Bush. Unter einmal viele Deutsche an eine
dessen Sohn George W. Bush mögliche Wiedervereinigung.
diente sie von 2001 bis 2005 als Rice: Kurz vor dem Fall der
Nationale Sicherheitsberaterin, Mauer war ich auf einer Trans-
danach als Außenministerin. atlantikkonferenz in Deutsch-
Die promovierte Politologin un- land. Eigentlich sollte das eine
terrichtet nun an der Stanford dieser langweiligen Veranstal-
University und stellt im Okto- tungen werden, bei denen man
ber ein Buch über ihre Kindheit endlos über nukleare Kurzstre-
in Alabama vor. ckenraketen diskutiert. Aber
auf einmal war alles anders.
SPIEGEL: Madam Secretary, als Die deutschen Teilnehmer dis-
die Berliner Mauer 1989 fiel, kutierten untereinander über
machte die Aussicht auf die Deutschlands Zukunft – man
deutsche Einheit Briten und konnte einfach spüren, dass
Franzosen Angst. Nur Amerika etwas in der Luft lag. Das war
schien unbesorgt. Warum? ungefähr drei Wochen bevor
Rice: Deutschland war ein guter die Menschen in Berlin auf der
Freund, ein wichtiger Nato- Mauer tanzten.
Verbündeter. Die Probleme SPIEGEL: Verklären Sie nicht im
von 1945 spielten keine Rolle Rückblick die frühe US-Begeis-
mehr. Wir stellten uns gar nicht terung für die Einheit? Präsi-
die Frage, ob Deutschland ver- dent Bush hat immer zu ver-
einigt werden sollte. Wir frag- stehen gegeben, dass ihm die
ten nur: unter welchen Be- Wiedervereinigung ziemlich
dingungen? Die Sorgen der Bri- gleichgültig war.
ten und Franzosen, dass die Rice: Wir Berater wollten ihn
Deutschen wieder zu mächtig dazu bringen, endlich öffent-
ROBYN TWOMEY

werden könnten, teilten wir lich etwas zur deutschen Ein-


nicht. heit zu sagen. Schließlich war
SPIEGEL: Weil ein vereinigtes klar, dass bald Dramatisches in
Deutschland im strategischen Zeitzeugin Rice: „Es gab keinen Plan B“ Osteuropa passieren würde.
Interesse Amerikas lag? SPIEGEL: Aber Bush schwieg.
Rice: Wer ein vereinigtes und Rice: Er war und ist ein vorsich-
freies Europa wollte, konnte tiger Mann.
kein geteiltes Deutschland dul- SPIEGEL: Doch selbst als die Ber-
den. Es lag also nahe, die Frage liner Mauer fiel, hörte man von
der deutschen Einheit anzu- ihm offiziell kein Wort zur
sprechen, als der russische Ein- möglichen deutschen Einheit.
fluss zurückging. War der Präsident im kleinen
GEORGE BUSH PRESIDENTIAL LIBRARY AND MUSEUM

SPIEGEL: Wann haben Sie selbst Kreis offener?


zum ersten Mal gedacht: Die Rice: Als er nach dem Mauerfall
deutsche Einheit kommt? im Oval Office mit Reportern
Rice: Wir sind im Juli 1989 sprach, wollte er kein Triumph-
nach Polen und Ungarn gereist geschrei anstimmen. Er wollte
– und es war ziemlich klar, die Sowjetunion nicht provozie-
dass der Kommunismus vor ren. Deswegen war er vorsich-
dem Kollaps stand. Wir spür- tig – nicht, weil er die deutsche
Wiedervereinigung ablehnte.
Das Gespräch führten die Redakteure
Er ließ nie einen Zweifel daran,
Marc Hujer und Gregor Peter Schmitz in dass wir die Einheit unterstüt-
Palo Alto, Kalifornien. Beraterin Rice, US-Verhandlungsteam 1990: „Kein Triumphgeheul“ zen würden.
D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0 53
Titel

SPIEGEL: Aber Amerika hatte eine Bedin- rikanischen Interesse, dass ein vereinigtes sich jedes Land seine Verbündeten selbst
gung: Das vereinte Deutschland musste Deutschland Teil der Nato sein würde. aussuchen könne. Kaum hatte er es gesagt,
volles Nato-Mitglied werden. Damals SPIEGEL: Nationale Interessen sind also schoben wir Berater eine Notiz zu Präsi-
glaubte kaum jemand, dass der Präsident wichtiger als das Selbstbestimmungsrecht dent Bush. Darauf stand: Lassen Sie es ihn
der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, der Völker? noch einmal sagen. Also sagte Bush – und
das akzeptieren würde. War das nicht in- Rice: Nein. Wenn die Deutschen gesagt ich zitiere aus meiner Erinnerung: „Nur
direkt ein Versuch der USA, die Einheit hätten: Wir wollen kein Nato-Mitglied um sicherzugehen, dass wir uns richtig ver-
auf die lange Bank zu schieben? sein, hätten wir das natürlich akzeptieren stehen. Sie haben gerade gesagt, dass nach
Rice: Nein. Aber in der Endphase des müssen. der Schlussakte von Helsinki Länder selbst
Kalten Krieges konnten wir uns keinen SPIEGEL: Und was wäre dann passiert? über ihre Allianzen bestimmen können.“
Fehltritt leisten. Deutschland aus der Nato Rice: Zum Glück ist das nicht eingetreten. Und Gorbatschow sagte wieder ja.
zu reißen wäre ein schwerwiegender Feh- SPIEGEL: Aber Sie müssen doch einen Plan SPIEGEL: Woher kam der Sinneswandel?
ler gewesen. Es hätte das Ende der Allianz B gehabt haben. Rice: Für mich ist das immer noch ein Rät-
bedeutet, des wichtigsten Vehikels für Rice: Es gab keinen Plan B. Plan B war, sel. Wir waren uns nicht sicher, ob Gor-
amerikanischen Einfluss in Europa. Plan A zum Erfolg zu führen. Wir sahen batschow auf die Helsinki-Diskussion
SPIEGEL: Doch für die Russen war den auch als einen Weg, um britische und nicht vorbereitet war und ihm nicht klar
die Nato-Mitgliedschaft des vereinten französische Bedenken gegen die Einheit war, was seine Bemerkung für die deut-
Deutschlands ein rotes sche Frage bedeutete. Oder
Tuch. ob er eingesehen hatte, dass
Rice: Selbst US-Außenpoli- er den Prozess ohnehin nicht
tiker spielten zu der Zeit aufhalten konnte. Selbst sei-
alle möglichen Alternativen ne Berater waren perplex.
durch – bis hin zur gleichzei- SPIEGEL: Hatten Sie Angst, er
tigen Auflösung des War- würde seinen Satz wieder zu-
schauer Pakts und der Nato. rücknehmen?
Aber uns im Weißen Haus Rice: Und ob. Abends habe
war immer klar, dass ein ver- ich zum sowjetischen Bot-
eintes Deutschland Nato-Mit- schafter in Washington ge-
glied sein muss. Alles andere sagt: „Morgen früh wird Prä-
wäre einer Kapitulation sident Bush in der Pressekon-
Amerikas gleichgekommen – ferenz sagen, er und Präsi-
ausgerechnet in einer Phase, dent Gorbatschow stimmten
da sonst alles für uns zu lau- überein, dass Länder selbst

PETER TURNLEY / CORBIS


fen schien. über ihre Bündnisse bestim-
SPIEGEL: Haben Sie sich Sor- men können. Rufen Sie uns
gen gemacht, dass Kanzler an, wenn Sie damit ein Pro-
Kohl gegen eine deutsche blem haben.“ Und ich habe
Nato-Mitgliedschaft stimmen die ganze Nacht darauf ge-
könnte? Präsidenten Gorbatschow, Bush 1990 im Weißen Haus wartet, dass sie anrufen und
Rice: Präsident Bush wusste, sagen: „Nein, so haben wir
dass er eine wichtige Aufga- „Gorbatschows größter Fehler war, dass er das nicht gemeint.“ Aber sie
be hatte: den Kanzler dazu wirklich an die Sowjetunion glaubte.“ haben nicht angerufen. Prä-
zu bringen, der deutschen sident Bush sagte schließlich
Nato-Mitgliedschaft zuzustimmen. Kohl auszuräumen. Was war schließlich der ei- den Satz in der Pressekonferenz, und
sicherte ihm das zu, als Bush ihn im Fe- gentliche Zweck der Nato? Die Verteidi- Gorbatschow stand einfach daneben.
bruar 1990 in Camp David traf. Danach gung gegen die Sowjetunion, aber auch SPIEGEL: War er innenpolitisch so unter
wusste der Präsident, dass er in dieser ein Sicherheitsschirm für Europas Demo- Druck, dass er einfach aufgab?
Frage auf Kohl zählen konnte. kratien. Im Weißen Haus hat nie jemand Rice: Alles schien ja gegen ihn zu laufen.
SPIEGEL: Hatte der Kanzler denn über- über die Option einer deutschen Wieder- Ich bin auf das Protokoll eines Gesprächs
haupt eine Wahl? Die Amerikaner mach- vereinigung ohne deutsche Nato-Mitglied- zwischen Egon Krenz und Gorbatschow
ten ja deutlich Druck. schaft nachgedacht. aus dem Jahr 1989 gestoßen. Krenz sagt
Rice: Es gab kein klares Quidproquo – SPIEGEL: Wie konnten Sie so sicher sein, darin etwa: Wann verteidigen Sie endlich
nach dem Motto: Die USA unterstützen dass Gorbatschow dem am Ende zustim- die DDR? Und er teilt Gorbatschow mit,
die deutsche Einheit nicht mehr, wenn das men würde? dass sein Land dem Westen Milliarden
vereinte Deutschland kein Nato-Mitglied Rice: Waren wir ja nicht. Wir mussten schulde, er bettelt Gorbatschow regel-
wird. Aber es stimmt: Wir ließen keinen einfach einen Weg finden, um es ihm recht um Hilfe an. Aber der sagt ihm im
Zweifel daran, was wir uns wünschten. schmackhaft zu machen. Als er im Mai Prinzip: Ich muss mich jetzt um die So-
SPIEGEL: Warum musste man den Deut- 1990 nach Washington kam, verwiesen wjetunion kümmern.
schen so die Pistole auf die Brust setzen? wir sogar auf das Prinzip des Selbstbe- SPIEGEL: Kohl glaubte, dass russischer Wi-
Hätten sie nicht einfach entscheiden kön- stimmungsrechts der Völker. Nur diesmal derstand mit Geld zu überwinden sei.
nen, neutral zu bleiben? andersrum: Wir sagten ihm, dass sich die Rice: Das habe ich nie geglaubt. Gorba-
Rice: Wir glaubten, dass Helmut Kohl Deutschen für die Nato-Mitgliedschaft tschow ist eine komplexe Persönlichkeit.
nicht neutral bleiben wollte. Wir waren entschieden hätten. Ob er dem im Wege Aber sein größter Fehler war, dass er
sicher: Helmut Kohl wollte Mitglied der stehen wolle. wirklich an die Sowjetunion glaubte. Er
Nato sein. SPIEGEL: Dann lenkte er auf einmal ein. war überzeugt, dass ein moderner kom-
SPIEGEL: Aber Sie haben ihm keine Wahl Hat Sie das überrascht? munistischer Staat entstehen könne –
gelassen. Rice: Ich konnte es gar nicht glauben. Beim wenn man nur den Stalinismus und den
Rice: Als Außenpolitiker muss man seine Treffen im Weißen Haus sagte er plötzlich, Zwang der Sowjetjahre abschüttelte.
Interessen klar definieren. Es lag im ame- dass nach der Schlussakte von Helsinki Nein, kaufen konnte man ihn nicht.
54 D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0
SPIEGEL: Verfolgte Moskau während der Deutschen behaupteten, dass sie es ir- Rice: Ich weiß, er war zu dem Zeitpunkt
Verhandlungen über die Einigung über- gendwie abgestimmt hätten – aber ich in Deutschland umstritten. Aber manch-
haupt irgendeine Strategie? kenne keinen, der auf unserer Seite ein- mal ist man ein starker Kanzler, wenn
Rice: Die Sowjets waren so durcheinander, gebunden war. man wie ein starker Kanzler agiert. Und
dass sie gar nicht mehr wussten, was ihre SPIEGEL: War das die einzige Abstim- Helmut Kohl hat damals sehr entschlos-
Interessen waren. Einen Monat nach Gor- mungspanne im Einigungsprozess? sen gehandelt.
batschows Besuch hielten wir eine Dis- Rice: Ja. So was ist nicht noch mal passiert. SPIEGEL: Wie würden Sie insgesamt seine
kussion über Rüstungskontrollen mit den SPIEGEL: Hatten Sie Angst, dass Kanzler Rolle beurteilen?
Russen ab. Und die russischen Generäle Kohl bei der ersten gesamtdeutschen Bun- Rice: Dynamisch. Visionär. Das gilt sogar
verbissen sich in Detailfragen zur Reich- destagswahl 1990 nicht wiedergewählt für die deutsche Währungsunion. Viele
weite von Mittelstreckenraketen. Ich er- würde? Wirtschaftsexperten haben heftig kriti-
tappte mich bei dem Gedanken: Eure Rice: Wir wollten auf jeden Fall, dass Kohl siert, dass die Währung 1:1 angepasst wur-
Machtbasis in Europa ist komplett zer- gewinnt. de. Aber Kohl war klar, dass die „Allianz
stört. Der Warschauer Pakt kollabiert. SPIEGEL: Weil Ihnen der Gedanke an einen für Deutschland“ im Osten die ersten frei-
Deutschland wird wiedervereinigt. Und Kanzler Oskar Lafontaine Angst machte? en Wahlen zur Volkskammer gewinnen
ihr macht euch Sorgen um die Reichweite Rice: Wir wussten ziemlich genau, wofür musste, um mit der CDU/CSU die Wei-
von Mittelstreckenraketen? Helmut Kohl stand. Das war wichtig. Im- chen für die Wiedervereinigung stellen
SPIEGEL: Aber Sie wollten die zu können. Politisch war die
Russen nicht provozieren. Einführung der D-Mark eine
Rice: Auf keinen Fall. Wir ha- der brillantesten Maßnah-
ben jedes Triumphgeheul men überhaupt.
vermieden. Wir wollten Gor- SPIEGEL: Was hätten Sie im
batschow nicht in eine Lage Rückblick bei den Verhand-
bringen, in der er nein sagen lungen über den Einigungs-
muss, nur um sein Gesicht prozess anders gemacht?
zu wahren. Rice: Einige taktische Ent-
SPIEGEL: Kohl wollte mit einer scheidungen hätte man si-
Wirtschafts- und Sozialunion cher anders fällen können.
schnell Fakten schaffen. Aber hätte es insgesamt bes-
Ende 1989 reiste der damali- ser laufen können? Ein wie-
ge US-Außenminister James dervereinigtes Deutschland
Baker auch nach Ost-Berlin mit demokratischen Struktu-
und schien vor einer übereil- ren – eingebettet in Europa
ten Wiedervereinigung zu und die Nato? Amerikas Ein-
warnen. Machte Ihnen Kohls fluss in Europa war gesi-

WHITE HOUSE
Tempo Angst? chert.
Rice: Nein. Eigentlich dachte SPIEGEL: Hätte man die Bezie-
ich schon seit dem Mauerfall, hung zu den Russen anders
dass alles so schnell wie mög- Politiker Kohl, Bush, Baker 1990 in Camp David gestalten können? 20 Jahre
lich laufen muss. Das Zeit- nach der Wiedervereinigung
fenster war so eng – die Rus- „Wir wollten auf jeden Fall, scheint Moskau die Folgen
sen mussten stark genug sein, dass Kohl gewinnt.“ immer noch nicht verdaut zu
um ihre Rechte abtreten zu haben.
können. Aber sie durften auch nicht so merhin ging es um den historischen Rice: Dieser Frust hat mehr mit dem
stark sein, dass sie den Prozess aufhalten Jackpot – die deutsche Einheit. Da sollte Kollaps der Sowjetunion zu tun als mit
konnten. Ob das alles ein Jahr später nicht auf einmal etwas schieflaufen, der deutschen Wiedervereinigung. Die
möglich gewesen wäre, als die Sowjet- weil ein neuer deutscher Kanzler ent- wilde Privatisierung unter Boris Jelzin
union bröckelte? Wohl nicht. scheidet, dass die Vereinigung langsamer Anfang der neunziger Jahre haben
SPIEGEL: Trotzdem: Sie waren sauer, dass ablaufen soll. Die Details waren wichtig. viele Russen als chaotisch und demüti-
Kohl im November 1989 seinen Zehn- Deutsche Nato-Mitgliedschaft war wich- gend empfunden. Heute ist Russland ein
Punkte-Plan ohne jede Absprache im tig. Dass es schnell geht, war wichtig. Land mit vielen Problemen – seine post-
Bundestag präsentierte. SPIEGEL: Und unter einem Kanzler Lafon- imperiale Rolle hat es noch nicht ge-
Rice: Wir hatten keine Ahnung, dass der taine wäre all das in Gefahr gewesen. funden.
Plan kommen würde. Rice: Es ist unvorstellbar, dass ein deut- SPIEGEL: Als Sicherheitsberaterin von
SPIEGEL: Nicht einmal Präsident Bush? scher Kanzler sagt: „Ich will die deutsche George W. Bush waren Sie frustriert, dass
Rice: Niemand wusste etwas. Einheit nicht.“ Aber es wäre vorstellbar Kanzler Gerhard Schröder gegen den
SPIEGEL: Wie haben Sie reagiert, als Sie gewesen, dass es eine lange Übergangs- Irak-Krieg mobilmachte. Fanden Sie die
von Kohls Plan erfuhren? phase gibt. Oder dass am Ende nicht nur Deutschen da undankbar?
Rice: Der Inhalt störte mich nicht beson- ein Staat nach westdeutschem Zuschnitt Rice: Partner können auch mal verschie-
ders. Aber darüber, dass wir nicht infor- übrig bleibt, wie wir uns die Einheit dener Meinung sein. Mich hat enttäuscht,
miert worden waren, waren wir nicht vorstellten. Ähnliche Bedenken hatten den Kanzler neben dem französischen
glücklich. wir über die Pläne von Bundesaußen- und dem russischen Präsidenten gegen
SPIEGEL: Rief das Weiße Haus den Kanzler minister Hans-Dietrich Genscher. Dem den Krieg protestieren zu sehen. Die
danach zur Räson? schwebte wohl auch eine Art Zusammen- Deutschen mögen anderer Meinung sein,
Rice: Ich glaube, dass Bushs Sicherheits- schluss der beiden deutschen Staaten vor. aber sie sollten aufgrund unserer Ge-
berater Brent Scowcroft seinen deutschen Ich sah die Einheit eher wie eine Über- schichte in so einer Situation nicht neben
Amtskollegen Horst Teltschik anrief und nahme. dem russischen Präsidenten stehen.
sagte: „Wie konnte das publik werden, SPIEGEL: Hielten Sie Helmut Kohl damals SPIEGEL: Madam Secretary, wir danken Ih-
ohne dass wir was davon wussten?“ Die für einen schwachen Kanzler? nen für dieses Gespräch.
D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0 55
Deutschland

Jugendliche beim Duschen


Wassersparen eine Überlebensfrage?

gen drohender Dürre und Wasserknapp-


heit in den südlichen Mitgliedstaaten
plant Brüssel, auch die Verbraucher aus
dem Norden, in dem es Wasser in Hülle
und Fülle gibt, zu größeren Sparanstren-
gungen zu drängen.
Damit wäre allerdings keinem gehol-
fen. Den Spaniern und Portugiesen nicht,
der Umwelt nicht, den Deutschen nicht.
Auf die heimischen Kunden könnten
Preiserhöhungen von bis zu 25 Prozent
zukommen, hat der Verband kommuna-
ler Unternehmen (VKU) berechnet.
Schon jetzt kostet es die Versorger Mil-
lionen, dass die deutschen Verbraucher
so zurückhaltend sind. In vielen Regionen
fließt das Trinkwasser wegen der gerin-
gen Nachfrage bereits so langsam durch

CARSTEN REHDER / DPA


die Rohre, dass es ohne Gegenwehr un-
genießbar würde. Fett und Essensreste
pappen in den Kanälen fest, weil zu we-
nig Spülwasser durchrauscht. Vielerorts
wabert daher in regenarmen Monaten
fauliger Gestank aus der Kanalisation
durch die Straßen und plagt die Anwoh-
V E R B RAUC H E R
ner. So müssen teure Gel-Matten in die
Kanalisation gehängt werden, die wie

Schwacher Strahl eine Art Deo fürs Stadtviertel wirken.


Die EU zeigt sich von den deutschen
Folgen des Wassersparens bisher wenig
beeindruckt. Um nebenbei auch Energie
Die Deutschen verbrauchen zu wenig Wasser und richten damit für die Warmwasserbereitung zu sparen,
Schäden an. Trotzdem erwägt die EU, sie zu noch mehr Spar- wird in Brüssel unter anderem erwogen,
samkeit zu drängen. Es drohen Preiserhöhungen um 25 Prozent. künftig nur noch Duschköpfe mit Durch-
flussbegrenzer auf den Markt zu lassen.

E
s ist schon wieder einer dieser Tage, Zahlenreihen wie diese kennen fast alle Die begnügen sich mit weniger Wasser,
an denen der Nachschub stunden- deutschen Wasserversorger. Im Jahr 2000 pusten dafür aber wie ein Föhn mehr Luft
lang vom Himmel fällt. Friedrich leitete das Werk noch etwa 110 Millionen durch die Brause. Der deutsche Verbrau-
Reh, 48, Chef des Wasserwerks Haltern, Kubikmeter ins Netz. Voriges Jahr waren cher, der auf Druck der EU gerade Ab-
sitzt in seinem Büro und fährt den Com- es nur noch 90 Millionen, Tendenz weiter schied von der alten Glühbirne nehmen
puter hoch. Draußen prasselt der Regen sinkend. Die Industrie setzt zunehmend muss, wird sich womöglich bald auf das
in schrägen Strichen auf den benachbar- auf Wasseraufbereitung, Städte verlieren morgendliche Duschen mit schwachem
ten Stausee, läuft über die abschüssigen Einwohner, die Landwirtschaft wird meist Strahl einstellen müssen.
Wege vor dem Verwaltungsgebäude, vom Regen verwöhnt. Doch auch die pri- Ließe sich dabei gespartes Wasser nach
pitscht auf die Rohre, durch die jeden Tag vaten Kunden fragen weniger Wasser nach. Spanien oder Portugal transportieren,
250 Millionen Liter Trinkwasser in die Die Deutschen scheiterten in den ver- würde sich eine derartige Reform im Bad
Städte und Gemeinden des nördlichen gangenen 20 Jahren daran, alle Einspar- vielleicht noch auszahlen. Doch eine lan-
Ruhrgebiets gepumpt werden. möglichkeiten für Sprit und Strom zu nut- ge Reise durchs Rohr nach Andalusien
Reh und sein Arbeitgeber Gelsenwas- zen. Beim Wasser waren sie dafür umso oder an die Algarve ist weder geplant,
ser könnten in diesem feuchten Spätsom- gründlicher. Sie statteten ihre Klos mit noch würde es das Wasser vertragen; spä-
mer, in dem es in Haltern so viel regnet Spartasten fürs kleine Geschäft aus, trenn- testens im Elsass wäre es so toxisch, dass
wie noch nie seit Beginn der Wetterauf- ten sich von verbrauchsintensiven Wasch- man es teuer aufbereiten müsste.
zeichnung, mehr und besseres Wasser ver- maschinen, bauten sich Regenwasser- Wer den Deutschen wassersparende
kaufen als jemals zuvor. Es sickert fast zisternen in den Garten. Viele dieser mitt- Brausen aufzwingen will, könnte nach der
70 Meter tief durch sandige Filterböden lerweile weit über eine Million Anlagen gleichen absurden Logik auch den Süd-
auf dem Werksgelände und wird im La- werden sich nie amortisieren, weil mit spaniern vorschreiben, nachmittags im In-
bor jeden Tag von Mitarbeitern mit dem eingefangenen Wasser oft nur ein teresse Nordfinnlands kein Sonnenlicht
Mundschutz auf Sauberkeit und Optik paar Stiefmütterchen gegossen werden. mehr ins Haus zu lassen. „Solche Pläne
kontrolliert. Vor einigen Wochen setzte Doch beim Wassersparen verzichten viele machen für Deutschland also keinen
es sich bei einem Geschmackstest sogar Bürger auf Kosten-Nutzen-Rechnungen. Sinn“, sagt VKU-Hauptgeschäftsführer
gegen teure Flaschen-Konkurrenz aus Ka- So schafften es die Deutschen, ihren Hans-Joachim Reck, ehemals Bundesge-
nada und Italien durch. Dennoch schei- Pro-Kopf-Verbrauch seit 1990 von 147 auf schäftsführer der CDU. „Vorschriften die-
nen die etwa eine Million Kunden mit 122 Liter zu senken. Sie waren damit spar- ser Art sind für die Deutschen teuer und
dem Wasser aus Haltern zu hadern. samer als fast alle anderen Europäer. für die Umwelt sinnlos“, sekundiert Gun-
Der Werksleiter öffnet eine Datei mit Doch waren sie sparsam genug? Die EU- da Röstel, ehemaliges Mitglied des grünen
den Statistiken der vergangenen Jahre. Kommission hat da offenbar Zweifel. We- Bundesvorstands und jetzige kaufmän-
56 D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0
Deutschland

147
Ebbe beim Verbrauch
Personenbezogener Wasser-
140 konsum pro Einwohner
in Deutschland, in Litern pro Tag

130 129
122
120 WASSERRESSOURCEN
in Deutschland 2007
188 Mrd.
110
Kubikmeter davon 14,5%
nichtöffentliche
Wasserversorgung
GERALD HAENEL / LAIF

davon
100 2,7 % öffentliche Quelle:
Wasserversorgung BDEW

1990 2000 09
Wasserwerk am Bodensee: Fauliger Gestank aus der Kanalisation

nische Chefin der Dresdner Stadtentwäs- zent der sich jährlich erneuernden Was- gar nichts anderes übrig, als die alten di-
serung. Eigentlich, sagt Martin Weyand servorkommen verbraucht. cken Rohre durch neue, dünnere zu er-
aus der Hauptgeschäftsführung des Bun- Dennoch lernen deutschen Schulkinder setzen und dadurch die Fließgeschwindig-
desverbandes der Energie- und Wasser- noch immer im Unterricht, dass Wasser- keit zu erhöhen. Wenn der Verbrauch
wirtschaft, müsste man den Spieß umdre- sparen auch hierzulande eine Art Überle- noch einmal um 25 Prozent sinkt, müsste
hen. „Eigentlich wäre es nämlich besser, bensfrage ist. Außerdem helfe man dür- allein Gelsenwasser nach eigenen Anga-
die Deutschen würden etwas mehr statt regeplagten afrikanischen Hirsebauern, ben noch einmal etwa 400 Millionen Euro
weniger Wasser verbrauchen.“ wenn man der Mama zu Hause das wö- investieren, um die Infrastruktur der sin-
Das Verhältnis der Deutschen zu ihrem chentliche Vollbad ausrede. Organisatio- kenden Nachfrage anzupassen.
Wasser ist ein Verhältnis voller Missver- nen wie der Bund für Umwelt und Natur- Das alles hat VKU-Hauptgeschäftsfüh-
ständnisse. Seit Jahren glauben viele Ver- schutz (BUND) halten dem Verbraucher rer Reck kürzlich Vertretern der EU-Kom-
braucher, es diene langfristig ihrem Porte- vor, dass er Tag für Tag den Inhalt von mission in Brüssel erzählt. „Die scheinen
monnaie, beim Zähneputzen das Wasser umgerechnet dreieinhalb Putzeimern ein- dort aber bisher noch nicht zu verstehen,
auszustellen. Die Fixkosten der Versorger fach so das Klo hinunterspüle. Er putze dass man zum Beispiel Spanien nicht mit
für Werke, Rohre und Kanäle liegen al- sein Gemüse unter fließendem Wasser und Deutschland vergleichen kann“, glaubt
lerdings bei weit über 80 Prozent. Sin- stecke Kleidung in die Maschine, obwohl Reck. Joe Hennon, Sprecher des EU-Um-
kende Nachfrage kontern sie daher regel- sie eigentlich nur gelüftet werden müsse. weltkommissars Janez Potocnik, lässt mit-
mäßig mit höheren Kubikmeterpreisen. Der Deutsche Verbraucher, suggeriert teilen, dass die Überlegungen in Sachen
Wie groß die Informationsdefizite deut- der BUND auf einer Internetseite, müsse Duschkopf ja auch noch am Anfang stün-
scher Wasser-Kunden sind, merkt Jörg sich mehr anstrengen, wenn er sich öko- den. Man überprüfe zurzeit mit Hilfe
Rechenberg vom Umweltbundesamt in logisch korrekt verhalten wolle. Dabei mehrerer Studien, was die richtige Was-
Dessau besonders im Hochsommer. ginge es auch einfacher: mehr Leitungs- sersparstrategie für Europa sei.
Wenn die Temperaturen auf über 40 Grad wasser trinken. Das tun die Deutschen UBA-Mitarbeiter Rechenberg hat da
klettern, klingelt in seinem Büro regel- weniger als andere Europäer. Stattdessen schon einige Ideen. Statt irgendeinen
mäßig das Telefon, und ein besorgter Bür- kaufen sie lieber Wässer in Flaschen, die „Duschkopf-Pipifax“ zu befördern, könn-
ger ist dran. Ob man noch sorglos du- über Tausende Kilometer mit Lkw ins ten die Brüsseler Bürokraten überlegen,
schen könne? Ob man den Kindern das Land transportiert werden. Diese Wässer wie sinnvoll der Gemüseanbau in kno-
Planschbecken vollmachen dürfe? Re- haben eine katastrophale CO2-Bilanz, chentrockenen Landstrichen wie Anda-
chenberg, zuständig für das Thema Was- sind bis zu 500-mal so teuer und keines- lusien ist. Sie könnten den Bau von durs-
serwirtschaft, mahnt dann immer zu wegs von besserer Qualität. tigen Golfplätzen in wüstenähnlichen ibe-
mehr Gelassenheit. „Duschen Sie“, sagt Weil die Deutschen ihr Wasser ver- rischen Landstrichen hinterfragen. Sie
er, „planschen Sie, Sie brauchen dabei schmähen, rücken zum Beispiel Gelsen- könnten auch nachschauen, was in Spa-
kein schlechtes Gewissen bekommen.“ wasser-Mitarbeiter jeden Tag in ihren niens, Italiens oder Bulgariens Unterwelt
Im Flur vor Rechenbergs Büro hängt weiß-blauen Bullis aus, um einen unge- vor sich geht, schlägt Rechenberg vor.
eine Deutschlandkarte, die er den Anru- wöhnlichen Job zu erledigen: Sie steuern Während im deutschen Versorgungs-
fern dann gern zeigen würde. Sie ist fast Hydranten in Gelsenkirchen und Umge- system nur etwa acht Prozent des Trink-
vollständig blau. Sie zeigt ein Land, in bung an und lassen dabei etwa 800 000 Li- wassers auf dem Weg zum Kunden verlo-
dem es von Flüssen, Bächen und Kanälen ter Trinkwasser ab. Das provoziert zwar rengeht, gleichen die Rohre vieler euro-
nur so wimmelt. Ein Land, in dem es so regelmäßig Proteststürme von Spaziergän- päischer Nachbarn einem Schweizer
viele Seen und Grundwasservorkommen gern, doch nur so kann Gelsenwasser die Käse. Was aus den Wasserwerken heraus-
gibt, dass seine Bewohner gar nicht dage- Trinkwasserqualität garantieren. gepumpt wird, kommt manchmal nur zu
gen anprassen könnten. Was aus deut- Fließt nicht genügend durch die Rohre, etwa 60 Prozent beim Kunden an. Der
schen Hähnen gezapft wird, regnet allein droht das Wasser zu verkeimen; außer- Rest dringt durch Löcher und Risse und
fünffach wieder herunter. So wurden im dem lagern sich Kupfer, Nickel und Blei versickert einfach im Erdreich.
vergangenen Jahr gerade einmal 2,7 Pro- ab. So bleibt den Versorgern mancherorts GUIDO KLEINHUBBERT

62 D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0
Szene Gesellschaft
Was war da los,
Frau Robertson?
Die Amerikanerin Sammi Robertson, 17, über ihren
Einsatz für krebskranke Kinder
„Zweieinhalb Jahre habe ich meine Haare wachsen
lassen. Fast bis zur Taille. Und fünf Minuten hat’s
gedauert, bis mein Kopf kahlrasiert war. Es war auf-
regend, das Surren des Rasierers, das Adrenalin in
meinem Blut. Und fast 50 andere Frauen, die sich
eine Glatze scheren lassen – aus Solidarität mit den
Kindern, die keine Wahl haben. Ich selbst war zehn
Jahre alt, als Ärzte einen Gehirntumor entdeckten.
Sie haben mich 38-mal operiert – und die Ärzte
konnten den Tumor entfernen. Ich habe es damals
nicht begriffen, aber heute weiß ich: Die Lage war
ernst. Deshalb unterstütze ich zusammen mit mei-
ner Mutter die Aktion ,46 Mommas‘. Das sind Müt-

MARK RALSTON / AFP


ter krebskranker Kinder aus dem ganzen Land, die
eine Million Dollar für die Krebsforschung sammeln
wollen. Mein Haar habe ich einer Organisation ge-
Sammi Robertson, Mutter Ellen in Hollywood spendet, die Perücken für Krebspatienten herstellt.“

FOTOBÄNDE absolut präzise zu planen und den- ka entstehen, sind mir zu laut, zu
noch zu improvisieren. Zum Beispiel platt, Explosionskino, eine Computer-
„Ich bin der Typ, die Sache mit der Katze …
SPIEGEL: Katze?
Animation folgt der nächsten.
SPIEGEL: Warum ist das so?
der weint“ Schapiro: Beim ersten Teil vom „Paten“
gibt es diese Szene, in der Marlon Bran-
Schapiro: Weiß ich nicht, angeblich ist
die Aufmerksamkeitsspanne so ge-
SPIEGEL: Herr Schapiro, do als Vito Corleone in seinem Büro schrumpft. Wenn nicht alle fünf Se-
Ihre Ausstellung mit sitzt. Das drehte Francis, und irgendwie kunden eine Riesenwelle kommt, hat
Aufnahmen aus dem war eine Katze ständig am Set, schlich der Film keine Chance, heißt es.
Film „Der Pate“ haben da herum, vielleicht war sie auf Mäuse- SPIEGEL: Sie gehen aber noch ins Kino?
Sie soeben in Stock- jagd, jedenfalls sagte jemand halblaut: Schapiro: Klar! Aber wissen Sie, früher
holm eröffnet, ein Buch „Scheuch mal einer dieses verflixte ging ich ins Kino, weil ich mich berüh-
mit Bildern aus „Taxi Viech weg!“, und Francis hörte das – er ren lassen wollte von der Story, ich
Schapiro Driver“ erscheint in ließ sich die Katze bringen und gab sie bin der Typ, der im dunklen Saal
diesen Tagen – Sie wa- Marlon Brando, und die Szene, in der weint. Heute passiert das seltener.
ren oft als „Special Photographer“ bei der mächtige Don Vito die Katze strei-
Dreharbeiten zugegen, als berühmte chelt, während er sein Reich regiert, Steve Schapiro, Paul Duncan (Hg.): „The Godfather
Filme entstanden. Wie ist es, wenn war viel intensiver. Zu solchen Beob- Family Album“. Taschen-Verlag, Köln; 528 Seiten;
49,99 Euro. Steve Schapiro, Paul Duncan (Hg.):
solch ein Meisterwerk entsteht? achtungen hatte ich Zeit, ich durfte ja „Taxi Driver“. Taschen-Verlag, Köln; 328 Seiten;
Schapiro: Man spürt eine eigenartige nur zu gewissen Zeiten knipsen. limitierte und signierte Ausgabe, 500 Euro.
Konzentration und Intensität. Wissen SPIEGEL: Wie viele Bilder
Sie, ein Film ist Zusammenarbeit, und machten Sie von einem
irgendwie wurden alle davon ange- Film?
steckt, für mich war das eine tolle Er- Schapiro: Ich drückte wäh-
fahrung, eine Ehre. rend der Dreharbeiten
FOTOS: STEVE SCHAPIRO © 2008 PARAMOUNT PICTURES

SPIEGEL: Wie kamen Sie dazu? ungefähr 2000-mal den


Schapiro: Ich war ursprünglich Repor- Auslöser, davon waren
tage-Fotograf, ganz gut vernetzt mit etwa 350 Bilder gut. Und
Blättern wie „Life“ und „Look“. Mein von denen waren viel-
Job: das Cover. Und so kam ich zu leicht 50 oder 100 ikono-
den Dreharbeiten von „Chinatown“ grafisch. Es war eben
oder „Der Pate“, begegnete Genies auch die große Zeit des
wie Francis Coppola. amerikanischen Kinos.
SPIEGEL: Woran erkannten Sie sein Ge- SPIEGEL: Sie sprechen von
nie? der Vergangenheit?
Schapiro: Tausend Faktoren! Aber ent- Schapiro: Die meisten Fil-
scheidend war vielleicht die Fähigkeit, me, die heute in Ameri- Schapiro-Foto aus „Taxi Driver“
D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0 65
Gesellschaft Szene

EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE durfte genau drei Jahre zur Gujarati
Primary School, Prahlad Jani lernte

Meister des Nichts


dort seinen Namen schreiben, sein Da-
sein schien vorgezeichnet.
Bis ihn eine Göttin besuchte.
Anzunehmen, dass Prahlad Jani ei-
Wie ein Inder nur von Luft und Licht lebt nes Tages mehr wollte als ein Dasein
knapp am Existenzminimum. Anzu-

A
ls Mr. Gupta erfuhr, dass der konferenz erfuhr, war er entsetzt. Der nehmen, dass er sich Beistand herbei-
heilige Mann in der Stadt sei, Fall habe durchaus nationale Bedeu- phantasierte. Jedenfalls habe er an
war er erst erschrocken, dann tung, so hatten es die Ärzte zu Proto- seinem 16. Geburtstag göttlichen Be-
aber war er wütend und entschlossen, koll gegeben – wenn man nämlich das such bekommen, so seine Legende.
gegen ihn zu kämpfen. Er griff zum Geheimnis lüfte, wie ein Mensch ohne Die indische Götterwelt ist, bei al-
Telefon. Er würde Mitstreiter brau- Flüssigkeit und Nahrung überleben lem Respekt, unübersichtlich. 330 Mil-
chen. könne, jahrelang, könne man wahr- lionen Gottheiten, Semi-Götter, Ex-
Sunil Gupta, 47 Jahre alt, ist zentriker, Dämonen, Avatare,
Geschäftsmann, in Ahmedabad, Büffel, Ratten, Elefanten, Zau-
einer Millionenstadt im Nordwes- bertränke, kosmische Tänze. Die
ten Indiens. Er ist ein Gentleman, Theologie ist ein Supermarkt der
sanftmütig, er hat gern einen Ku- Mythen, und man weiß nicht,
gelschreiber in der Hemdtasche wer Verkäufer ist, Kunde, Ware.
und Prinzipien in seinem Leben. Die Göttin Durga erschien
Die Gurus seiner Heimat, ihre Le- Prahlad Jani in einem weißen
genden, der Aberglaube, den sie Licht und berührte seine Zunge.
verbreiten – das alles findet er wi- Von da an habe er keinen Hunger
derlich, rückständig. Gupta, Ver- mehr verspürt. Bald gründete er
nunftmensch, kämpft für ein mo- seine Sekte, holte die Familie ins
dernes Indien, für Wissenschaft Geschäft; Jahrzehnte später ist
und Wahrheit, ja, sie haben sogar daraus ein florierendes Unterneh-
einen Verein, die Gujarat Mumbai men geworden. Er spendet als
Rationalist Association, deren Guru Segen, Kranke und Bedürf-
Ortspräsident er ist. tige kommen und zahlen; es gibt
Gupta recherchierte: Der heili- inzwischen einen Tempel mit viel
ge Mann, Prahlad Jani, war gegen Marmor, Goldfarbe, Klimaanlage.
neun Uhr morgens eingetroffen, Für Gupta ist klar, warum Prahlad
seine Anhänger hatten gemeint, Jani solch eine Story erfand: Der
er werde sich aus einer leuchten- Mann wurde reich und berühmt.
den Wolke materialisieren, aber Die Ärzte kamen zu dem Er-
das stimmte nicht, er kam mit gebnis, dass Prahlad Jani 14 Tage
dem Auto. Vorm Haupteingang und Nächte hindurch nichts zu
des Sterling-Krankenhauses war- sich genommen, nicht uriniert
teten seine Anhänger, hysterisch- habe. Gupta und seine Mitstreiter
verzückt, eine Delegation der von der Association schlugen vor,
AFP

Ärzte kam herunter und empfing den Test zu wiederholen, unter


mit Verneigungen und Namaste- Prahlad Jani eigener Aufsicht, mit eigenen
Grüßen den ehrwürdigen Mann – Ärzten. Die Ärzte des Kranken-
Prahlad Jani, 81-jährig, klein, zart, 42 hauses gaben Interviews, was das
Kilo, gewandet in ein rotes Hemd, das Zeug hielt, und ließen gern durchbli-
kosmische Zeichen auf der Stirn. cken, dass an der Sache „irgendwie
Prahlad Jani wurde dann aufs Zim- etwas Wunderbares“ dran sei.
mer geführt, zwei Videokameras wa- So ist Indien, sagt Gupta, er klingt
ren in Raum 712 installiert, ein Metall- Aus der „Berliner Kinderpost“ erschöpft.
bett, eine geblümte Decke, alles war Er und seine Mitstreiter hatten am
bereit, hieß es, bereit für die strengen scheinlich den Welthunger besiegen, Ende sogar ein paar Augenzeugen auf-
ärztlichen Tests, die 14 Tage lang an Kriege gewinnen; Regierungsstellen getrieben, die Prahlad Jani in der Ver-
Prahlad Jani durchgeführt werden soll- seien hoch interessiert. gangenheit beim Trinken und Rauchen
ten – weil er ein menschliches Welt- Die Leute hier, sagt Mr. Gupta, sind ertappt hatten – aber niemand wollte
wunder sei, möglicherweise. Denn verrückt nach Märchen. Und jeder davon hören, selbst wenn es die Wahr-
Prahlad isst nichts, trinkt nichts, er pin- kann sein eigenes Märchen entwerfen, heit war, sie war glanzlos. So ging die
kelt nicht, er hat keinen Stuhlgang, seit kann es bunt ausmalen und leben. Geschichte von Prahlad Jani als exoti-
65 Jahren. Das behauptet er, das glau- Prahlad Jani wurde unweit von Ah- sche Sensation um die Welt, zu Guptas
ben seine Anhänger. Und Tests sollten medabad geboren, im Dorf Charada. Kummer. Und die kleinen Leute aus
das Rätsel oder Wunder klären. Die Familie war arm, der Vater arbei- den Slums, den Dörfern hielten fest
Als Mr. Gupta, Kämpfer für Wissen- tete als Koch, die Mutter schuftete auf an dem tröstlichen Märchen und am
schaft und Wahrheit, von der Presse- dem Feld. Sechs Kinder, jedes Kind Meister des Nichts. RALF HOPPE

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Gesellschaft

MUSIK

Die erste deutsche Band


Silly waren in der DDR eine Legende, nun soll der Gruppe das gelingen,
was noch kein Ost-Rocker geschafft hat: Die Musiker wollen auch die Fans im Westen erobern –
und ihre Vergangenheit hinter sich lassen. Von Jochen-Martin Gutsch

CARSTEN KOALL / VISUM

Silly-Sängerin Loos in Schwerin am 18. September: Sie haben sich entschieden, keine Ost-Rock-Konzerte mehr zu spielen

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Wahrscheinlich ist es genau gehen und zwei neue Songs zu spielen. Die Frage ist, ob der Westen schon
dieser Septemberabend in Super, Mensch!“ weich genug ist. Ein durchlässiges, erober-
Berlin-Wuhlheide, an dem Uwe Hassbecker, der Silly-Gitarrist, bares Gebiet für eine Band mit Vergan-
sich die Band endgültig sagt später, dass man mit dem MDR über genheit.
JAHRE aus der Vergangenheit löst. die neuen Songs verhandeln musste. Der Vor ein paar Tagen saßen Silly bei Ste-
Wahrscheinlich passiert es in MDR zeichnet den Abend auf, irgend- fan Raab im Studio. Sie stellten ihre neue
einem kurzen Moment zwischen zwei wann wird er im Fernsehen laufen, es Single vor, mit der sie Anfang Oktober
Songs, nach „Mont Klamott“ von 1983 wird wohl auch eine DVD geben, und der auch beim Bundesvision Song Contest
und „Warum ich?“ von 2010. MDR hätte lieber drei alte Songs gehabt, antreten werden, den Raab organisiert.
„Mont Klamott / auf’m Dach von Ber- DDR-Liedgut. Weil es besser zur Ziel- „Was war denn euer erfolgreichster
lin. Mont Klamott / sind die Wiesen so gruppe passe. „Wir haben dann gesagt, Song vor der Wende?“, fragte Raab jetzt.
grün“, hatte Anna Loos gerade gesungen, wir spielen nur einen alten und zwei neue „Das, was jeder kennt im Osten? So wie
die Leute vor der Bühne hatten die Hän- Songs. Oder wir spielen gar nicht“, sagt ,Alt wie ein Baum‘ von den Puhdys?“
de gereckt und waren in der Zeit zurück- Hassbecker. Ritchie Barton, der Silly-Keyboarder,
geflogen. Zurück ins morsche Ost-Berlin Die Band kann es sich leisten. Wieder lächelte. Es war, als moderiere Dagmar
mit seinen Kohleöfen und Zweitaktmo- leisten, muss man sagen. Silly haben ein Frederic noch den „Kessel Buntes“ im
toren, hinauf auf den Mont Klamott, den neues Album draußen, das auf Platz drei DDR-Fernsehen und würde Marius Mül-
alten Trümmerberg in Friedrichshain. in die Charts schoss und sich auch im ler-Westernhagen plötzlich fragen: Sag
„Dort hängen wir zum Weekend die Lun- Westen gut verkauft. Vor ein paar Wo- mal, was ist denn eigentlich dein größter
gen in den Wind / bis ihre schlappen Flü- chen bekam die Band eine „Goldene Hit da drüben? „Na ja“, sagte Barton
gel so richtig durchgelüftet sind.“ Schallplatte“ überreicht für über 100 000 jetzt. „Unser Ost-Hit, sozusagen, war ,Ba-
Es war immer noch ein guter Song, und verkaufte Alben. Eine Marke, die keine taillon d’amour‘.“
er passte gut hierher, zu „Ostrock in Klas- der alten Ost-Bands in den vergangenen „O-ho-ho!“, sagte Raab, als hätte Bar-
sik“ am 11. September, einer Art All- 20 Jahren erreicht hat. Nicht mit einem ton einen schweinischen Witz erzählt.
Stars-Konzert. Ein paar alte Bands treten „Das war erlaubt? Ein französisches, ka-
auf, singen zwei, drei Songs, ummalt vom pitalistisches Wort?“
Babelsberger Filmorchester. Das ist, mehr „Offensichtlich“, sagte Barton und starr-
oder weniger, das Konzept. Vor allem te durch Raab hindurch.
aber geht es um eine Art Deal: Die Leute Silly gibt es seit 1978. Von der Urbe-
im Publikum können einen Abend lang setzung ist heute niemand mehr dabei,
durch ihre ostdeutsche musikalische Ver- aber Ritchie Barton, Uwe Hassbecker und
gangenheit spazieren wie durch eine Wes- Jäcki Reznicek, der Bassist, spielen seit
ternkulisse. Die alten Bands auf der Büh- den achtziger Jahren in der Band. Die
ne sind noch einmal gefeierte Helden. Sängerin hieß Tamara Danz, und sie sang
Man wärmt sich aneinander, man hält lakonisch, herb, teils ordinär, oft kühl,
sich aneinander fest, man belügt sich ein aber was sie sang, schien irgendwie zu
UTE MAHLER / OSTKREUZ

bisschen. Dann geht man nach Hause. stimmen. Die Texte schrieb ihr der Rock-
Aber jetzt steht Anna Loos am Büh- Dichter Werner Karma auf den Leib.
nenrand, das Mikro zwischen den Fin- Silly und andere DDR-Bands hatten es
gern, und erklärt dem Publikum, dass nicht leicht im Osten, weil sie genauso
Silly den Deal platzen lassen. „Wir leben, am Westen gemessen wurden wie Jeans,
wie ihr ja auch, im Hier und Heute. Im Silly-Sängerin Danz 1985 Kassettenrecorder oder Kaffee. Es gab
Jahr 2010. Deshalb spielen wir jetzt zwei „So einen Scheiß singe ich nicht“ noch keinen „Ost-Rock“ damals. Der Be-
neue Songs von unserem neuen Album“, griff entstand erst nach der Wende. Man
sagt sie und schaut ins Publikum. Die Leu- neuen Album. Es war, wenn man so will, sagte „Ost-Musik“, und es war nicht nett
ten wirken nicht unzufrieden. Eher über- ein musikhistorischer deutsch-deutscher gemeint.
rascht. Es sind die einzigen neuen Songs, Moment. Ost-Musik spielte ein Discjockey besser
die an diesem Abend in Berlin gespielt Vor allem aber haben sich Silly ent- nicht in einem Jugendclub in Ost-Berlin
werden. Sie schwimmen wie frisches schieden, zukünftig keine Ost-Rock-Kon- Mitte der achtziger Jahre, wenn er Ärger
Fleisch in einem Kessel kalter Suppe. zerte mehr zu spielen. Dieser Abend in vermeiden wollte. Nicht Karat, die nach
Anschließend gehen Silly von der Büh- Berlin ist ihre Abschiedsvorstellung. Sie Schlager klangen, nach den siebziger Jah-
ne, beifallumtost. Vorbei an Dieter „Ma- machen noch mal mit aus alter Verbun- ren. Und auch nicht die Puhdys, damals
schine“ Birr, dem Sänger der Puhdys, der denheit und wahrscheinlich auch, damit schon alt, mit dem grauhaarigen Peter
immer mehr aussieht wie ein altgewor- nicht der Eindruck entsteht, die Band Meyer an den Keyboards, der aussah wie
dener Berliner Taxifahrer, vorbei an Jür- würde vergessen, woher sie kommt. Wur- ein Schulhausmeister. Aber es gab eine
gen Karney, dem Moderator des Abends, zeln sind wichtig, der Osten ist wichtig, Handvoll Bands, die es in die jungen Her-
der früher im DDR-Fernsehen durch die aber Silly setzen gerade an zum Sprung zen schafften. Pankow waren darunter
Schlagersendung „Bong“ führte, vorbei über die alte Zonengrenze. Sie wollen und eben auch Silly. Sie wirkten nicht
an André Herzberg, dem Sänger der schaffen, was die Puhdys, Karat oder „ostig“ – ein größeres Kompliment konn-
Band Pankow, einer der besten, die es im City zuvor nicht schafften. Silly wollen te eine DDR-Band nicht bekommen.
Osten gab. gesamtdeutsch sein. Oder einfach nur Die Szene war klein, überschaubar, so
Backstage, in der engen Band-Gardero- deutsch. Eine Band jedenfalls, an der wie das Land. Im Jahr erschienen in der
be, steht dann die Zukunft. Sie heißt Mi- nicht ständig das Wort „Ost“ klebt wie DDR vielleicht zehn Rock-Alben. Die
chael Schacke, kommt aus Braunschweig altes Papier. Bands tourten von Rostock bis nach Suhl
und zieht jeden aus der Gruppe erst mal „Ost-Band“. „Ost-Rock“. „Ost-Stars“. und wieder zurück. So verdienten sie
an seine Brust. Schacke ist ein junger, an- „Ost-Hit“. Geld. An den eigenen Plattenumsätzen
genehmer Typ und seit gut einem Jahr „Es gibt eine Riesenchance für uns“, waren nur die wenigsten Bands beteiligt.
einer der Manager von Silly. „Super!“, sagt Hassbecker. „Die Zeichen stehen bes- Der größte Mangel, den es in der DDR
sagt Schacke. „So rotzfrech. Da rauszu- ser als je zuvor.“ gab, wenn man jung war, waren nicht die
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Gesellschaft

CARSTEN KOALL / VISUM


Silly-Frontfrau Loos mit Bassist Reznicek*: Die Identität bewahren, das Neue wagen, ein Bein im Osten, eins im Westen

West-Reisen. Es war der Mangel an Enter- sie ließen uns machen. Nur bei der Plat- Herz. Aber man machte auch nicht wei-
tainment. tenfirma war man unzufrieden. Sie sag- ter. Die Band ruhte.
Am Ende wurden Silly zur erfolgreichs- ten, unsere Texte würde in Deutschland „Alles lief auseinander“, sagt Hassbe-
ten DDR-Band der achtziger Jahre. Drei- niemand verstehen. Gemeint war natür- cker. Er und Ritchie Barton starteten ei-
mal „LP des Jahres“, rund 1,25 Millionen lich Westdeutschland. Deutschland war ne Karriere als Produzenten und Studio-
verkaufte Platten, und die Cover für den Westdeutschland. Ich meine, die saßen musiker, Jäcki Reznicek spielte eine Zeit-
Westen fotografierte Jim Rakete. dort in München, der Osten, der war so lang Bass bei einem Soloprojekt des Ärz-
Als die DDR verschwand, verschwan- weit weg für die. Tamara hat dann bei te-Sängers Farin Urlaub und kümmerte
den auch erst mal die Bands. Im Westen der BMG angerufen und gesagt: ,Okay, sich um seine Dozentur an der Musik-
kannte sie niemand. Im Osten wollte sie dann schickt uns doch mal ein paar Texte.‘ hochschule Dresden. Manchmal spielten
niemand. „Im Osten lief gar nichts mehr“, Na ja, die Texte, die kamen, waren dann sie noch alle drei zusammen in der Live-
sagt Gitarrist Hassbecker. „Die Auftritts- grausam, ganz furchtbares Zeugs. Schla- Band von Joachim Witt.
möglichkeiten, die Veranstalter, die Ver- gertexte. Damit hätten wir die letzten ver- 14 Jahre lang erschien kein neues Al-
anstaltungsorte, wir spielten oft in Kreis- bliebenen Silly-Fans auch noch verprellt. bum. Silly lagen eingefroren unter dem
kulturhäusern – alles verschwand. Und Tamara sagte nur: ,So einen Scheiß singe ewigen Eis wie ein ostdeutscher Mam-
auch das Publikum. Die Leute liefen los, mutknochen. Dort würde die
um sich Tina Turner anzuschauen oder Im Westen kannte sie niemand, Band vermutlich auch immer
Genesis oder die Stones.“ noch liegen, gäbe es nicht
Silly fuhren für ein paar Konzerte nach im Osten wollte sie niemand. Anna Loos, die neue Sängerin.
Dänemark und in die USA, die Verträge Das neue Herz. Sie ist schön,
waren zu DDR-Zeiten geschlossen wor- ich nicht.‘ Und das war’s dann mit dem talentiert und, was vielleicht noch wich-
den, vielleicht noch gedacht als sozialis- Plattenvertrag.“ tiger ist für die Zukunft, in einer Weise
tisch-kapitalistischer Musikaustausch, wer Das nächste Silly-Album erschien 1993, ostdeutsch, die man im Westen kaum be-
weiß? 1990 saß die Band dann im Produk- beim Label Deutsche Schallplatten Berlin, merkt.
tionsstudio von Peter Maffay am ruhigen dem Nachfolger des alten DDR-Musik- Anna Loos steht backstage am Fenster
Starnberger See, um neue Songs aufzu- verlags. Das Album verkaufte sich nicht der Garderobe und raucht. Von draußen
nehmen. Die Plattenfirma BMG hatte ih- schlecht, aber auch nicht gut. Mit dem fliegen Musikfetzen herein, das „Ostrock“-
nen zwei Produzenten aus der Band von nächsten Album, „Paradies“, wollte die Publikum summt, Dirk Michaelis singt
Udo Lindenberg zur Seite gestellt. Es lief Band durchstarten. Aber im Juli 1996, „Als ich fortging“, auch ein großer DDR-
auch ganz gut. „Die Produzenten waren kurz nach der Veröffentlichung, starb Ta- Hit, den man manchmal noch in Wende-
völlig in Ordnung, wir verstanden uns so- mara Danz an Krebs; mit 43 Jahren. Ta- Dokumentationen im Fernsehen hört,
fort“, sagt Ritchie Barton. „Später haben mara Danz war nicht nur die Sängerin. weil der Titel so gut zu passen scheint in
sie uns dann erzählt, dass sie uns eigent- Sie war das Gesicht von Silly. Der Motor, den Herbst 89.
lich in eine glattere, poppigere Richtung die Frontfrau, das Herz. Tamara Danz Es muss seltsam sein, wenn man wie
lenken sollten. Vielleicht wie Pur. Aber war vielleicht der einzige Rockstar, den Anna Loos von außen kommt und plötz-
die DDR je hervorgebracht hat. lich diese Welt betritt, in der die Bands
* Vor dem „Ostrock in Klassik“-Konzert in Berlin am Die Band löste sich anschließend nicht vor allem als Ausstellungsstücke funktio-
11. September. auf. Das brachten die Männer nicht übers nieren. Als tourendes Wandermuseum
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Gesellschaft

für DDR-Musik. Karat haben auch eine nichts. Zu Hause legte ich die Platte auf, sind jetzt so als Edelkomparsen mit da-
neue Platte draußen, aber sie spielen heu- und es haute mich völlig um.“ bei“, sagt Bassist Reznicek.
te keine neuen Songs, sondern nur die Die Platte hieß „Bataillon d’Amour“. Wahrscheinlich ist das der einzige Weg.
guten alten. Sie sitzen in der Ost-Rock- Die Band hieß Silly. Gut 20 Jahre später Das Loch in der Mauer.
Welt wie in einem Indianerreservat. ist Anna Loos vom Fan zur Frontfrau auf- Jochen Schuster, der Plattenboss, der
Ost-Rock ist eine Marke, ein fester Be- gestiegen. Die Band hatte Anna Loos eine die Band für zwei Alben zu Universal
griff, aber weder Anna Loos noch Ritchie Weile beobachtet, getestet. Barton, Hass- holte, dem größten Musikkonzern der
Barton oder die anderen aus der Band becker und Reznicek, alle herausragende Welt, glaubt, „dass der Act irgendwann
können genau erklären, woher der Be- Live-Musiker, waren erst misstrauisch und wiedervereinigt sein wird“.
griff eigentlich stammt. Wer ihn erfunden dann überzeugt. Es ist jetzt eigentlich Michael Schacke, der junge Band-Mana-
hat. Uwe Hassbecker glaubt, es waren genauso wie in dem Film „Rock Star“, in ger aus Braunschweig, glaubt, dass Silly
Journalisten. Gehässige Ost-Journalisten, dem Mark Wahlberg den Fan einer Me- im Westen noch „drei, vier Jahre“ brau-
um genau zu sein. tal-Band spielt, deren Sänger er plötzlich chen werden. „Nur damit erst mal allen
Man muss sich Ost-Rock wie einen wird. Eine Hollywood-Geschichte. klar ist: Die gibt es. Allein dieser Transfer.“
Sack vorstellen, in den alles gestopft wird, Anders als Mark Wahlberg in „Rock Er kannte die Band selbst kaum, als er das
was musikalisch und stilistisch eigent- Star“ kann Anna Loos aber nicht nur Management übernahm. „Ich hatte sie nach
lich nicht zusammengehört. Es geht bei singen. Sie kann auch Türen öffnen. Sie der Wende zufällig bei einem Konzert in
Ost-Rock auch gar nicht um die Musik. kann Silly in Fernsehshows, Radiosender, der Lüneburger Heide gesehen. Fand ich
Es geht um die Herkunft. in die wichtigen Magazine und Zeitungen beeindruckend damals, die waren so düs-
An diesem Abend in Berlin spielen die schleusen, die der Band ansonsten ver- ter-atmosphärisch und dabei progressiv.“
Puhdys, Electra, Silly, City, Rockhaus, schlossen blieben, weil sie dort niemand Axel Horn, der zweite Band-Manager,
Günther Fischer, Angelika Mann, Pan- kennt. Kein Chefredakteur, kein Mode- auch aus Braunschweig, kannte von Silly
kow, Renft und auch Michael Hirte, das rator, kein West-Publikum. Silly sind im nur den Namen und schloss sich erst mal
„Supertalent 2008“ vielleicht, weil Hirte Osten eine Legende. Im Westen sind sie für ein Wochenende zu Hause ein, um
aus der Lausitz kommt. Das ist Silly-Platten zu hören, DVDs
ungefähr so, als würden im zu sehen, in die Band-Ge-
Westen Kraftwerk, BAP, Trio, schichte einzutauchen. Als er
Boney M., die Fantastischen das Zimmer wieder verließ,
Vier, Heinz Rudolf Kunze und war er überzeugt, einen ver-
Hansi Hinterseer zusammen sunkenen Schatz gefunden zu
Konzerte geben, weil sie West- haben. „Die Band ist ja Kul-
Rock sind. turgeschichte. Zumindest in ei-
Anna Loos hat, als sie bei nem Teil des Landes.“ Später
Silly einstieg, klargemacht, ist Axel Horn dann aufgefal-
dass sie etwas anderes will. len, dass er der Band viel näher
Neue Songs, neue Zeiten. Sie war als angenommen. „Das
riss so lange die Fenster auf, Basslehrbuch, dass ich im Wes-
bis die Band ordentlich durch- ten hatte und mit dem ich ab
gelüftet schien und bereit für und zu übte, hatte Jäcki Rez-
eine zweite Karriere. nicek geschrieben. Ich wusste
PRO 7

Anna Loos ist eigentlich nur lange nicht, wer das ist.“
Schauspielerin. Sie spielte im Rock-Band Silly in Raabs Sendung „TV-total“: „Das war erlaubt?“ Der Plan von Schacke und
„Tatort“, in Fernseh- und Ki- Horn sieht jetzt so aus, dass
nofilmen, im Moment ist sie in der ARD- fast noch No-Names. Eine späte New- sie die Identität der Band bewahren und
Fernsehserie „Weissensee“ zu sehen, wo comer-Band mit drei Männern zwischen gleichzeitig das Neue wagen wollen. Ein
sie die alkoholkranke Frau eines Stasi-Of- 49 und 56 Jahren an den Instrumenten. Spagat also. Ein Bein im Osten. Eins im
fiziers spielt. Dabei lag der Osten bereits Hassbecker sagt: „Im Westen sind alle un- Westen. Aber warum sollte sich der Wes-
weit hinter ihr. Sie verließ die DDR 1988, sere Songs neu. Auch die alten.“ ten plötzlich, nach 20 Jahren, für Silly in-
floh über die Tschechoslowakei und Un- Besser kann man es nicht formulieren. teressieren?
garn in die Bundesrepublik. Sie spricht Im SPIEGEL wurde die Band in den Jochen Schuster, der Plattenboss, sieht
nicht über die Umstände der Flucht, weil vergangenen 20 Jahren nur ein paar Mal für Silly einen Platz zwischen den Grup-
sie ihre Geschichte nicht herausstellen kurz erwähnt: etwa in der Meldung über pen Silbermond, Ich+Ich, Klee und Ro-
möchte und vermutlich auch, weil sie den Tod von Tamara Danz und in einem senstolz. Michael Schacke sagt: „Silly ist
weiß, wie schnell daraus Folklore werden Artikel über das Soloprogramm des Schau- eine musikalische Alternative. Biokost
kann. Wie aus so vielen Wende-Geschich- spielers Jan Josef Liefers, das „Soundtrack sozusagen. Sehr gute Musiker machen
ten. Am Ende sitzt man in irgendeiner meiner Kindheit“ heißt und in dem er glaubwürdige Kunst, mit relevanten Tex-
Jubiläumssendung. Als Ost-Beispiel, als Songs von DDR-Bands spielt. Liefers ten. Deshalb war auch die Rückkehr von
Ost-Farbe. wuchs in Dresden auf und ist der Ehe- Werner Karma so wichtig. Eine große
Anna Loos wuchs auf in der Stadt Bran- mann von Anna Loos. Sie sind beide Ost- Band muss was zu sagen haben. Sie
denburg. „Dort gab es in den achtziger und-West-Stars, sie bewegen sich spielend braucht eine Botschaft.“
Jahren in der Hauptstraße einen Platten- zwischen den Welten, und wenn Anna Werner Karma hat eine kleine Schreib-
laden, und vor dem Plattenladen standen Loos heute in eine Talkshow geht, dann wohnung in einem viergeschossigen Neu-
eines Tages Leute an. Also stellte ich mich meist nur unter der Bedingung, dass sie bau in Berlin-Adlershof, nicht weit ent-
dazu, schwänzte die Schule, weil ich auch die Band mitbringen kann. So schaff- fernt von den alten Studios des DDR-
dachte, sie verkaufen dort eine Lizenz- ten es Silly zu Giovanni di Lorenzo in die Fernsehens. Er sitzt auf der Couch, er
platte aus dem Westen. Aber es gab dann „3 nach 9“-Talkshow, zum „Quiz der Deut- trägt Hausschuhe, es ist still hier, es gibt
nur eine Ost-Platte, und ich war total schen“ im Ersten und auch zum Mode- viele Bücher, Nietzsche, Volker Braun,
enttäuscht. Nur das Cover gefiel mir. Shooting der „Brigitte“. „Eigentlich woll- Bukowski, Heiner Müller, Puschkin, und
Ein Frauengesicht war vorn drauf, sonst ten sie das mit Anna machen. Aber wir man kann sich vorstellen, wie Karma je-
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Gesellschaft

CARSTEN KOALL / VISUM


Silly-Fans bei einem Konzert in Zwickau: „Dort hängen wir zum Weekend die Lungen in den Wind“

den Tag ein paar Stunden in den Büchern aber das Silly-Comeback ist natürlich leicht klang das in den Ohren der Uni-
versinkt, um einen Gedanken zu finden, auch sein eigenes. versal-Leute so, als stünden die Russen
der sich in einen Song-Text gießen lässt. „Komischerweise fahren plötzlich viele in 15 Minuten am Kurfürstendamm.
Karma ist 58 Jahre alt und vermutlich Westler auf Silly und die Texte ab.“ Im Flur von Karmas Schreibwohnung
der bekannteste Rock-Dichter der DDR. Wegen der Botschaft? hängt die „Goldene Schallplatte“, die er
In den achtziger Jahren schrieb er fast Vielleicht, sagt Karma. für „Alles Rot“ bekam. Wie eine Trophäe,
alle Silly-Texte. Er beschrieb die Enge, Als Utopie, als Idee habe er an der die Karma dem Westen entrissen hat.
die Tristesse, die Ausbrüche, die Sehn- DDR gehangen, sagt Karma. Wahrschein- In Berlin-Wuhlheide, beim „Ostrock“,
süchte. „Die Ferne ist ein schöner Ort / lich werde er das auch nie ablegen kön- singen die Puhdys ihren letzten Song. Es
Doch wenn ich da bin, ist sie fort / Die nen. Und er wolle das auch gar nicht. „Ichist fast Mitternacht, Geisterstunde. Die
Ferne ist, wo ich nicht bin / Ich geh und habe mein Wertesystem, und ich glaube, Leute klatschen noch mal im Takt des
geh und komm nicht hin.“ das schimmert in meinen Texten überall Rock’n’Roll. Das Konzert war nicht aus-
Es ging immer nur um die Texte im durch.“ Karma reibt sich jetzt nicht mehr verkauft wie in den Jahren zuvor. Nicht
Rock-Land DDR. Den Fans wie der Zensur. an der DDR. Er reibt sich an Deutschland. mal fast ausverkauft. Womöglich stirbt
Ende der achtziger Jahre zerstritt sich Das eine Land war klein. Das andere ist der Ost-Rock auch im Osten.
Karma mit Silly. Oder die Band mit Kar- In die enge Garderobe von
ma. Erst Anna Loos holte ihn zurück. Sie wirkten nicht „ostig“ – ein Silly drängen sich die alten
Werner Karma ist jetzt zuständig für Weggefährten wie in einer
die Botschaft von Silly. Die Frage ist, was größeres Kompliment gab es nicht. Wärmestube, die neues Leben
die Botschaft sein könnte? schenkt. Jürgen Ehle von Pan-
Karma lehnt sich zurück in die Couch groß. Aber die Problemlagen scheinen kow, Thomas „Monster“ Schoppe von
und überlegt. „Ich mach eigentlich das ähnlich zu sein. Systemübergreifend, so- Renft und Toni Krahl, der City-Sänger.
Gleiche wie in der DDR“, sagt er schließ- zusagen. City haben den Hit „Am Fenster“ ge-
lich. „Ich benenne die Defizite.“ „Ich hatte mir im Osten mal einen Ci- schrieben, einen der erfolgreichsten Pop-
Karma hat nach der Wende Texte für troën gekauft“, sagt Karma. „Schickes Songs der DDR-Geschichte neben „Über
Veronika Fischer, Edo Zanki, Joachim Auto. Brauchte ich gar nicht, aber ich sieben Brücken musst du geh’n“ von Ka-
Witt und City geschrieben. Sein Schreib- wollte wohl sehen, was mit mir passiert.“ rat, von dem im Westen immer noch alle
geschäft lief weiter, aber es war auch Und, was passierte? denken, es sei ein Peter-Maffay-Song.
so, dass ihn der Westen genauso wenig „Na ja, nichts. Es hat mich auch nicht Krahl sagt, dass er mit City kaum im Wes-
zu brauchen schien wie Silly, Karmas glücklicher gemacht.“ ten spielt. Vielleicht zwei, drei Shows im
alte Liebe. Udo Lindenberg ließ sich ein Womöglich ist das ja die Botschaft. Jahr. „Im Westen läuft es nur als Ost-
paar Mal Texte schicken, aber am Ende Das neue Silly-Album heißt „Alles Paket. Puhdys, Karat und City zusam-
hat er nie einen genommen. „Udo sagte: Rot“, so wie der erste Song auf der CD, men. Na ja, is’ eben so“, sagt Krahl.
,Super Texte, Werner. Aber wir sind ge- deren Text Werner Karma geschrieben Einen Moment lang steht er neben
rade auf einem anderen Trip. Vielleicht hat. Bei Universal gab es Diskussionen, Uwe Hassbecker und Ritchie Barton. Je-
auf der nächsten Platte.‘“ ob man das Album wirklich so nennen mand schießt ein Erinnerungsfoto. So als
Ähnlich lief es mit Purple Schulz und sollte. Alles Rot – ausgerechnet für das gingen die einen auf eine weite Reise.
einigen anderen. Karma sagt es nicht so, Comeback einer alten DDR-Band. Viel- Und der andere bleibt zurück. 
74 D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0
Gesellschaft

Zuständigkeitsbezirk über-
B Ü R O K R AT I E
haupt gibt. An genaue Zahlen

Dienst nach für ganz Deutschland ist schon


gar nicht zu denken. Einige
Experten schätzen, dass es

Vorschrift etwa sieben Millionen Schieß-


eisen sind, die legal in deut-
schen Privathaushalten lagern,
andere tippen auf weit über
Der Amoklauf von Lörrach

STEFAN BONESS / IPON


zehn Millionen. Deutschland
zeigt, dass die deutschen Waffen- wisse, wie viel Tonnen Bana-
behörden völlig unterbesetzt nen jährlich importiert wür-
sind. Für gründliche Kontrollen den, sagt Konrad Freiberg,
bleibt keine Zeit. Chef der Gewerkschaft der
Sportschützen in Berlin: Verwaltung auf Karteikarten Polizei (GdP). Doch was den

E
in Fall für die Behörde war Sabine Waffenbesitz angehe, tappe es
R. schon lange. Die Amtsleute der „total im Dunkeln“.
Unteren Waffenbehörde im Lörra- Dass sie sich selbst auf das
cher Landratsamt wussten, dass die 41- spärliche Wissen der Waffen-
Jährige eine Walther-Sportpistole, zwei behörden nicht verlassen kön-
Repetierbüchsen und eine Doppelflinte nen, merken deutsche Polizis-
besaß. 2009 wurde sie zuletzt schriftlich ten regelmäßig nach 17 Uhr.
aufgefordert, die sichere Aufbewahrung Bevor sie zu gemeldeten Ehe-
ihrer Waffen nachzuweisen. Man habe streitigkeiten ausrücken, die
„keine Beanstandungen“ gehabt, teilt das oft eskalieren, würden sie
Amt nun mit. gern klären, ob sich eine Pis-
Das Interesse an Frau R. war allerdings tole im Haus befindet. Doch
nicht groß genug, um ihr auch die ganz häufig erreichen die Beamten
einfachen Fragen zu stellen: Gehen Sie in der Waffenbehörde dann
eigentlich noch auf den Schießplatz? nur den Anrufbeantworter,
Brauchen Sie Ihre Waffen also noch? der ihnen mitteilt, sie riefen
Dann wäre womöglich herausgekom- außerhalb der Dienstzeiten an
men, dass Sabine R. schon seit Jahren und sollten es morgen wieder
keinen aktiven Schießsport mehr betrieb versuchen.

CHRISTIAN HARTMANN / REUTERS


und für ihre Waffen gar keine Ver- Die GdP fordert schon seit
wendung mehr hatte – bis zum vergan- Jahren ein nationales Waffen-
genen Sonntag. Da erstickte sie erst register, auf das alle Beamten
ihren fünfjährigen Sohn, tötete dann ih- innerhalb kürzester Zeit auch
ren Mann und lief anschließend mit ihrer im Dienstwagen zugreifen
Walther-Pistole und 300 Schuss Munition können. Nach dem Willen der
in das benachbarte St. Elisabethen- Innenministerkonferenz soll
Krankenhaus. Dort brachte sie einen Tatort in Lörrach: Flinten in falschen Händen die zentrale Datei bis Ende
Pfleger um. 2012 eingerichtet sein. Doch
Das Verbrechen von Lörrach wirft, Karteikarten“ arbeiten müssten, die nun das bleibt womöglich ein frommer
wieder einmal, ein Schlaglicht auf die nach und nach digital erfasst würden. Bei Wunsch. Ein neuer Standard für den Da-
rund 570 deutschen Waffenbehörden. Es solchen Arbeitsbedingungen kommt es tenaustausch sei schon entwickelt, teilt
sind Ämter, die oft nur Dienst nach Vor- schon mal vor, dass die Behörden erst das Ministerium mit. Jetzt gelte es, die
schrift leisten können. Sie sind personell nach vielen Monaten auf den Tod eines Daten der einzelnen Länder zusammen-
schlecht besetzt und nicht annähernd in ihrer Klienten reagieren. In der Zwischen- zuführen, was bei den „heterogen struk-
der Lage, den Überblick über ihre Klien- zeit kann Großvaters Flinte schon längst turierten“ Behörden nicht einfach sei.
ten zu behalten. Für die regelmäßige Prü- in den Händen eines Enkels sein, der kei- Der Waffenrechtsexperte Dietmar Heu-
fung des „Fortbestehens des Bedürfnis- ne Ahnung von Waffen hat, dafür aber brock von der Universität Bremen, der
ses“, wie Waffenrechtsexperten es seit zweifelhafte Bedürfnisse. die Politik seit Jahren berät, ist „sehr
Jahren fordern und das Waffengesetz es Hans-Jörg Longin vom Ordnungsamt skeptisch“, ob das im angepeilten Zeit-
erlaubt, bleibt kaum Zeit. Dabei gilt jeder Stuttgart schätzt, dass es allein bei ihm raum gelingt.
zehnte Waffenbesitzer unter den Jägern in der Stadt wohl „etwa 500 Personen“ Um die Personalsituation zu verbes-
und Sportschützen als „inaktiv“. mit legalen Gewehren und Pistolen gibt, sern, hoffte der Stuttgarter Amtmann
Beispiel Landkreis Lörrach. Dort muss die der Behörde unbekannt sind. Was Longin darauf, dass die Stadt eine Waf-
die Waffenbehörde mit nur 3,45 Planstellen auch daran liege, dass sich Waffenbehör- fensteuer einführen würde. Auch andere
gut 4500 Waffenbesitzer und ihre gut 18000 den und Einwohnermeldeämter noch deutsche Kommunen denken darüber
Schusswaffen überwachen. Zeit für umfas- nicht genügend austauschten. So sei es angesichts leerer Kassen nach. In Stutt-
sende verdachtsunabhängige Hausbesuche in den vergangenen Jahren immer wieder gart ist der Plan vergangene Woche wie-
und Kontrollen, wie sie nach dem Amok- vorgekommen, dass ein Waffennarr mit der beerdigt worden. Unter anderem,
lauf von Winnenden vom Gesetzgeber er- seinem Arsenal in die Stadt zog, ohne weil es Longins Behörde aus daten-
möglicht wurden, haben die Beamten so dass Longins Behörde davon überhaupt schutzrechtlichen Gründen verboten ge-
gut wie gar nicht. erfuhr. wesen wäre, ihre Daten über Besitzer
In Niedersachsen muss das Innenmi- Die meisten deutschen Waffenbehör- und deren Waffen an die Steuerbehörde
nisterium zugeben, dass einige Waffen- den können deshalb nur spekulieren, wie zu mailen.
behörden noch immer mit „speckigen viele Besitzer legaler Waffen es in ihrem SIMONE KAISER, GUIDO KLEINHUBBERT

D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0 83
Pipeline-Verlegung in Brandenburg
„Nicht offen für Neues, Unbekanntes“

heimischen die Kultur der Fremden zu


vermitteln und sie mit den Gastarbeitern
zusammenzubringen. Ein italienischer
Koch zeigte, wie man Auberginen und
Zucchini zu Antipasti verarbeitet. Ein
Tanzlehrer versuchte, den Uckermärkern
die Tarantella nahezubringen, einen feu-
rigen Volkstanz aus Süditalien.
Gefruchtet hat das alles kaum – nicht

PATRICK PLEUL / PICTURE-ALLIANCE / DPA


nur, weil kaum Italiener zur „Tarantella-
Party“ erschienen. „Die Leute hier schei-
nen wahnsinnig festgefahren zu sein“,
sagt Antonio Epifania, Mitbewohner auf
dem Bauernhof Knie.
Die Missverständnisse fangen im Stra-
ßenverkehr an, wo nun preußischer und
italienischer Fahrstil aufeinandertreffen.
Auch in den Supermärkten herrschen jetzt
wunder – und eine ganz eigene Debatte andere Sitten, abends sprechen die meisten
I N T E G R AT I O N
um Migranten und Integration. Wie Kunden Italienisch: schnell und viel und

Einmarsch der uckermärkisch, könnte die Leitfrage hei- nicht wie sonst in der Region Deutsch, lang-
ßen, müssen Italiener sein, selbst wenn sam und wenig. Viele von ihnen decken
sie nur ein paar Monate bleiben? sich als Selbstversorger mit Pasta und Moz-

Italiener Die Einheimischen sehen die Entwick- zarella ein, weil sie der Brandenburger Kost
lungshilfe von jenseits der Alpen mit ge- nicht trauen, sie ist ihnen zu schwer.
mischten Gefühlen. Einerseits sind sie Womöglich hat die Distanz zueinander
froh über den Aufschwung durch die vie- auch mit der Rollenverteilung im Arbeits-
Rund tausend Gastarbeiter bauen
len Gastarbeiter, fast alle Ferienunter- alltag zu tun. Die qualifizierten Jobs wer-
seit Monaten eine Pipeline künfte sind ausgebucht. „Für die Region den von Italienern besetzt. Sie dirigieren
entlang der Oder. Doch von Völker- ist es ein kleiner Hauptgewinn“, sagt Ra- die 18 Meter langen Rohre, fügen sie mit
verständigung keine Spur: mona Fischer von der Kreisverwaltung. speziellen Schweißautomaten zu mehre-
Der Uckermärker wahrt Distanz. Andererseits wollen die Fremden nicht ren hundert Meter langen Leitungen zu-
so recht zur uckermärkischen Leitkultur sammen, die dann drei Meter tief in der

Z
u Beginn war sich Elke Knie nicht passen, die zu nahezu 100 Prozent von Erde versenkt werden. Die Uckermärker
sicher, ob sie das überhaupt ma- deutschen Einwohnern geprägt ist. stellen oft nur ein paar Hilfskräfte. Ein-
chen sollte. Bekannte hatten abge- Disanto, einer der Mieter von Elke heimische Facharbeiter sind rar, eine Ent-
raten. Ihre schönen Ferienwohnungen an Knie, stammt aus der süditalienischen wicklung, die Demografen mittelfristig in
Fremde vergeben, an Ausländer? Mitten Hafenstadt Bari und kam im vergangenen ganz Deutschland erwarten.
in ihrer schönen Uckermark? Nur zö- Herbst als einer der ersten So bleiben die Italiener auch
gernd unterschrieb die Bauersfrau den Pipeline-Verleger ins Land. Er nach Feierabend unter sich, tref-
Mietvertrag, Laufzeit: eineinhalb Jahre. hat ein wenig Deutsch gelernt, Wie ucker- fen sich in ihren Unterkünften,
Nun wohnen die drei Italiener schon aber so richtig warm ist der märkisch oft auf dem Bauernhof von Fa-
seit sechs Monaten in Knies Unterkünften 31-Jährige mit der Region und müssen milie Knie. Dann sitzen sie zu-
und sorgen noch immer für Aufsehen in ihren Bewohnern nicht gewor- Italiener sein, sammen und diskutieren über
Kerkow, einem Angerdorf am Rande der den. „Wie kann man in einem selbst wenn die Deutschen.
Schorfheide. Denn Antonio Disanto und Ort leben, wo die Menschen Im Westen, in Kaiserslautern
seine beiden Kollegen kamen nicht zur nur zu Hause hocken und selbst
sie nur kurz etwa, sei alles anders, sagt Epi-
Erholung in die Hügel der Uckermark, im Sommer abends um sieben bleiben? fania, 53, er hat dort schon ein-
von Tourismuswerbern auch als „Toskana niemand mehr auf der Straße mal vor 20 Jahren gearbeitet.
des Ostens“ vermarktet. Sondern um zu ist?“, fragt er und gestikuliert wild mit „Das war viel offener und lebendiger als
arbeiten und so ein bisschen Aufschwung seinen Händen. in der Uckermark.“ Allerdings seien Ita-
in die Region zu bringen. Auch Kontakt zu Einheimischen zu fin- liener und Türken dort schon seit fast ei-
So wie Kerkow ergeht es derzeit etli- den sei schwierig. Sie seien freundlich, nem halben Jahrhundert heimisch.
chen der entlegenen, schwach besiedelten aber distanziert, dazu komme die Sprach- „Hier sind die Menschen einfach nicht
Landstriche im Osten, die normalerweise barriere. „Hat hier eigentlich keiner, auch an Ausländer gewöhnt“, sagt sein Kollege
mit hoher Arbeitslosigkeit zu kämpfen von den Jüngeren, richtig Englisch ge- Stefano de Franceschi. Vielleicht liege das
haben. Knapp tausend Italiener bauen lernt?“, fragt sich Disanto. an der „kommunistischen Vergangen-
hier für den Rohrbauer Ghizzoni aus der Und was ist mit der Arbeitsmoral der heit“. In der DDR seien die Bürger „wohl
Nähe von Parma eine Erdgasleitung, von Landbevölkerung? Wieso reden hier alle immer unter sich geblieben“.
Greifswald an der Küste bis an die Süd- so oft von „Artze Vvvierrr“? Ist dieses Es ist ein milder Abend, auf dem Hof
grenze Sachsens, die Verlängerung der Hartz IV wirklich besser als ein Job? sitzen, keine 20 Meter entfernt, Elke Knie,
Ostsee-Pipeline auf dem Lande. Ab Dabei wurde das Integrationsexpe- ihr Mann und ein Freund aus dem Ort.
Herbst 2011 soll sie Gas aus Sibirien bis riment in der Uckermark sogar von Vor ihnen steht ein Grill, es gibt Bratwurst.
nach Tschechien pumpen. staatlichen Hilfen flankiert. Mit einer „Ita- Kontakt zu ihren Mietern habe sie kaum,
In der Uckermark und Umgebung gibt lienischen Woche“ versuchte die Volks- sagt die Bäuerin, die seien „doch sehr zu-
es deshalb jetzt ein kleines Wirtschafts- hochschule Templin Ende März, den Ein- rückgezogen“. ANDREAS WASSERMANN

84 D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0
Gesellschaft

Die Schnitzelsteuer
Ortstermin: Im ostdeutschen Hammerbrücke eskaliert der Streit
zwischen Volk und Staat.

G
erhard Kaltscheuer will nicht von lich mehr Steuern, als der Wirt abgeführt noch das karierte Hemd, das Megafon hat
Hartz IV leben, er will Schnitzel hatte. 38 000 Euro soll Kaltscheuer nun er von einem Freund geliehen. Er verliest
verkaufen. Er balanciert zwei Por- nachzahlen. die Liste mit den Verboten, die Polizei
tionen aus der Küche, die Schnitzel, groß Der Wirt ist der Herr über die Speisen. hat sie ihm gegeben, keine Schuss- oder
wie Teller, riechen, dampfen und triefen In der freien Marktwirtschaft bestimmt Stichwaffen, kein Alkohol, keine Hunde.
vor Fett. er die Größe des Schnitzels und nicht das „Wir haben hart gearbeitet für unser Geld“,
„Es ist reichhaltig“, sagen die Gäste. Sie Finanzamt, findet Kaltscheuer. In der sagt er ins Megafon, „immer müssen die
kommen, weil ihnen die Schnitzel schme- Planwirtschaft war das Sache des Staates, Kleinen bezahlen.“ Und dann weiß er
cken und sie viel Fleisch bekommen für aber jetzt immer noch? Der Wirt verlang- nicht mehr recht, was er sagen soll.
ihr Geld. In Hammerbrücke bei Chemnitz te einem Termin bei der Behörde in Plau- Doch die Leute klatschen. Sie haben
muss jeder rechnen, wenn er essen geht. en, doch die Beamten wollten nicht mit Plakate gemalt, „Finanzamt Plauen = Will-
„Wer hier überleben will, muss den ihm reden. Er schrieb Briefe, an den Fi- küramt“ steht da oder auch „Die Würde
Leuten was bieten“, sagt Kaltscheuer. nanzminister von Sachsen, an die Bun- des Menschen ist unantastbar“. Die Größe
Von einer Schnitzelnorm hatte er nie ge- desregierung, die CDU, die FDP und an des Schnitzels auch. Selbständige sind hier
hört. Bis zu der Betriebsprüfung im Juli. die vogtländische Presse. und solche, die es mal waren, die Getränke-
165 Gramm, hatte Herr D. marktfrau, die jetzt wieder
vom Finanzamt in Plauen be- bei der Post arbeitet, und
rechnet, dürfe so ein Schnit- der Bäckermeister Auers-
zel wiegen. Schnitzel Hawaii, wald aus Zwönitz, er soll
das wäre dann zuzüglich ei- 200 000 Euro nachzahlen,
ner Scheibe Ananas, kein sagt er. Und dann sind da
Käse. „Meine Schnitzel wie- einige, die wahrscheinlich
gen 200 bis 230 Gramm, ha- keine Steuern bezahlen,
ben zwei Scheiben Ananas aber viel Zeit haben. Ju-
und sind mit Käse überba- gendliche mit buntem Haar,
cken“, korrigierte Kaltscheu- die gegen Porschefahrer
er. Doch der Beamte ließ sind, und ältere Herren, die
FOTOS: SVEN DOERING / AGENTUR FOCUS
sich nicht beeindrucken. Für sind gegen linke Gewerk-
die Nudeln mit Jagdwurst schafter. Und alle sind ge-
veranschlagte er 200 Gramm gen Banker. Und jeder darf
Nudeln und 50 Gramm mal ans Megafon. Ihre
Wurst. „Bei mir gibt’s 350 Stimmen zittern immer ein
Gramm Nudeln und 180 wenig beim ersten Satz.
Gramm Jagdwurst“, meint Einer brüllt: „Wir wol-
der Wirt. len Schnitzel.“ Die Leute
„Wagen Sie es nicht, gegen Schnitzelesser in Hammerbrücke: „Schon andere Gaststätten vernichtet“ brüllen zurück: „Wir wol-
meine Rechnung vorzuge- len Schnitzel.“
hen“, soll Herr D. gesagt haben, erzählt An diesem Montag steht er seit kurz Kaltscheuer wettert jetzt gegen die
der Wirt, „ich habe schon andere Gast- vor sechs am Herd, er trägt ein kariertes Banker: „Wir sollen zahlen, nur weil die
stätten im Vogtland vernichtet.“ Hemd, das Haar kurz und grau. Um zehn ihre Boni brauchen? Leute, wir müssen
Gleich nach der Wende war Kaltscheu- kommen die Forstarbeiter, da muss die was tun.“ Um die Futterstube zu retten,
er in den Osten gezogen, war geblieben, Gulaschsuppe fertig sein. sagt er, würde er sogar vor den Europäi-
wegen Regina. Zusammen hatten sie die Kaltscheuer hat beschlossen zu de- schen Gerichtshof ziehen.
„Futterstube“ eröffnet, ihr Unternehmen monstrieren gegen die „Diktatur des Fi- Es sei, meint eine alte Dame, ein wenig
gegründet in einem alten Konsum-Markt. nanzamts“. Für die freie Marktwirtschaft, wie 89, als auf dem Altmarkt in Plauen
Sie hatten die Wände tapeziert, ockerfar- für das XXL-Schnitzel. Er rechnet mit die ersten Demonstrationen stattfanden,
ben, und die Toiletten gefliest. Kaltscheu- 200 Leuten. was nur keiner gewusst habe, weil das
er war nicht bereit, das alles aufzugeben. Kamerateams drängen sich in der Fut- Fernsehen damals nicht da war. Heute
Doch der Bescheid des Finanzamts kam terstube, ZDF, MDR, Sat.1. Dem Liefe- seien zwar nur ein paar Dutzend Leute
schnell: Steuerhinterziehung. Kaltscheuer ranten ist das zu viel Aufregung, er macht da, aber die Entschlossenheit sei ähnlich
habe, nach den Schätzungen des Beamten, auf dem Absatz kehrt. groß. Wir sind das Volk, wir wollen
mehr Portionen verkauft als angegeben. Die Gäste wollen bloß essen, heiße Schnitzel.
Das Finanzamt nahm die eingekaufte Gulaschsuppe, demonstrieren wollen sie Sie geht auf Kaltscheuer zu, nimmt sei-
Fleischmenge, teilte sie durch die unter- nicht. „Wir arbeiten für einen Staatsbe- ne Hand, drückt sie und sagt: „Ich gratu-
stellte Schnitzelgröße von 165 Gramm, trieb“, sagt einer. Seinen Namen möchte liere Ihnen zu Ihrem Mut.“
nicht durch die von Kaltscheuer angege- er lieber nicht nennen. Einen Termin beim Finanzamt hat Kalt-
benen 200 Gramm, kam auf einen höheren Nachmittags um vier Uhr auf dem Alt- scheuer immer noch nicht bekommen.
Umsatz und Gewinn und damit auf deut- markt in Plauen, Kaltscheuer trägt immer NICOLA ABÉ

D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0 85
Trends

BERND KAMMERER / ACTION PRESS


Einkaufszentrum in Frankfurt am Main

KONJUNKT UR hört Deutschland zur Spitzengruppe der großen Industrie-


länder. Im Juli hatten die IWF-Experten für 2010 noch ein

Robustes Wachstum Plus von nur 1,4 Prozent vorausgesagt. Ursache für die er-
freuliche Entwicklung ist neben dem Exporterfolg deutscher
Unternehmen auch die anziehende Binnennachfrage. Die

D er Internationale Währungsfonds (IWF) sagt Deutsch-


land in seinem neuen Weltwirtschaftsausblick für dieses
und nächstes Jahr anhaltend robustes Wachstum voraus. 2010
IWF-Fachleute stellen in dem als „streng vertraulich“ einge-
stuften Weltwirtschaftsausblick fest, dass auch die Investitio-
nen der Unternehmen und der Konsum der Bevölkerung zur
wird die deutsche Wirtschaft demnach um 3,3 Prozent zule- Konjunkturerholung in Deutschland beitragen. Der Bericht
gen, 2011 soll das Wachstum bei 2 Prozent liegen. Damit ge- wird Anfang Oktober veröffentlicht.

GESUNDHEIT tion heißt es fast identisch: Der G-BA ENE RGI E KONZE PT
„darf den Nutzen eines Arzneimittels
Weiterer Erfolg der nicht abweichend von der Beurteilung
der Zulassungsbehörde bewerten“.
500 Millionen für
Pharmalobby Die geplante Änderung ist gravierend.
„Das heißt im Umkehrschluss, dass der
Gebäudesanierung
I n einem Änderungsantrag der Regie-
rungskoalition zum neuen Arznei-
gesetz wird erneut eine Forderung der
Nutzen eines Präparats künftig schon
durch die Zulassung bewiesen sein
soll. Das ist der Wahnsinn!“, so Wolf-
D as Programm der Förderbank
KfW für klimafreundliches Bauen
und Sanieren wird fortgesetzt – aller-
Pharmakonzerne übernommen. So gang Kaesbach, Leiter der Abteilung dings mit geringerem Volumen. Im
soll der Gemeinsame Bundesausschuss Arzneimittel beim Spitzenverband der Zeitraum von 2012 bis 2021 sollen ins-
(G-BA), das höchste Entscheidungsgre- Krankenkassen. „Dem VfA ist es gran- gesamt 500 Millionen Euro bereit-
mium für Kassenpatienten, künftig ein dios gelungen, die Politik einzulei- gestellt werden – das ist deutlich we-
neues Medikament nur noch ablehnen men.“ Auch das Institut für Qualität niger als in früheren Jahren. Das Geld
können, wenn er dessen Unzweckmä- und Wirtschaftlichkeit im Gesundheits- stammt aus dem Energie- und Klima-
ßigkeit beweisen kann. Damit soll die wesen kritisiert die geplante Änderung fonds, der ab nächstem Jahr unter an-
Beweislast umgekehrt werden. Bisher als „großen Nachteil für Patienten“. derem von den vier großen deutschen
reichte es, wenn der G-BA feststellte, Energieunternehmen finanziert wird.
dass der Nutzen eines Medikaments Darauf hat sich eine Spitzenrunde im
nicht belegt ist. Dann mussten die Kas- Kanzleramt am Donnerstag vergange-
sen es auch nicht bezahlen. Grundlage ner Woche verständigt. Bislang war
der geplanten Gesetzesänderung ist geplant, die Gelder des Fonds allein
offenbar ein Gutachten der Anwalts- für Forschung und Entwicklung erneu-
kanzlei Clifford Chance im Auftrag erbarer Energien einzusetzen. Das
BAYER HEALTHCARE / DPA

des Verbands der forschenden Phar- KfW-Programm zur Gebäudesanie-


maunternehmen (VfA). Dort heißt es, rung sollte im Jahr 2012 auslaufen.
dass „der Beschluss über die Nutzen- Dies stand jedoch im Widerspruch zu
bewertung nicht den Feststellungen den ehrgeizigen CO2-Einsparzielen,
der Zulassungsbehörde widersprechen die das Energiekonzept der Bundes-
darf“. Im Änderungsantrag der Koali- Pharmalabor regierung vorsieht.
86 D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0
Wirtschaft
B AY E R N L B A F FÄ R E N

Tipp in letzter Minute Was wusste Obermann?


B ei den Ermittlungen um den um-
strittenen Kauf der Kärntner Bank
Hypo Group Alpe Adria (HGAA)
D ie Bestechungsaffäre beim maze-
donischen Telekom-Ableger Mak-
Tel könnte für die Telekom-Manager
ben die Bonner Ermittler der Telekom
offenbar E-Mails präsentiert, in denen
auch Obermann über Verhandlungen
durch die BayernLB verdichten sich und den Konzernchef René Obermann mit der mazedonischen Regierung und
Hinweise, dass der ehemalige Bank- durchaus brisanter werden als bislang über den Stand der Geheimvereinba-
chef Werner Schmidt frühere Vorstän- vermutet. Das zumindest legt ein rung unterrichtet worden sein könnte.
de und Verwaltungsräte gezielt ge- „streng vertraulicher“ Schriftsatz der Bislang war gegen Obermann lediglich
täuscht haben könnte. Der Topmana- renommierten US-Kanzlei Debevoise angeführt worden, dass er in einem
ger und seine Kollegen hatten im Vor- & Plimpton nahe, die von der Deut- Gespräch mit dem Chef der mazedoni-
feld des Deals 2006 auch ein Gebot für schen Telekom als Rechtsberater ver- schen Telefongesellschaft Dividenden-
das österreichische Gewerkschaftsinsti- pflichtet wurde. Danach wirft die Bon- zahlungen von einer möglichst lang-
tut Bawag abgegeben, das sie angeb- ner Staatsanwaltschaft Telekom-Mana- samen Freigabe des Telefonmarktes
lich favorisierten. Nach SPIEGEL-In- gern vor, eine Art Geheimabkommen abhängig gemacht habe. Wie die Juris-
formationen könnte das Interesse je- ten der US-Kanzlei in dem
doch nur vorgegaukelt gewesen sein, neunseitigen Schriftsatz aus-
um vom wahren Plan, dem Erwerb führen, lieferten die E-Mails
der HGAA, abzulenken. Ein Berater, allerdings „keine Beweise“
der damals den Österreichischen Ge- dafür, dass Obermann in die
werkschaftsbund (ÖGB) als Verkäufer Erstellung einer solchen Ver-
vertrat, soll Schmidt kurz vor Ende einbarung eingebunden
der Abgabefrist über das Konkurrenz- gewesen sei oder auch nur
angebot eines Konsortiums um Cerbe- davon gewusst habe. Die
rus informiert haben. Besorgte ÖGB- vermeintlichen Fundstellen
Funktionäre wollten so verhindern, seien allesamt anders zu ver-

BERND THISSEN / DPA


dass die Bawag an den Finanzinvestor stehen. Auch die Vereinba-
geht, da sie die Bayern bevorzugten. rung selbst, so die Kanzlei,
Doch statt seine Offerte aufzustocken, sei juristisch nicht zu bean-
soll Schmidt den Kaufpreis von Cerbe- standen und den ebenfalls
rus um 50 Millionen Euro unterboten Telekom-Chef Obermann ermittelnden US-Behörden
und zusätzliche Sicherheiten gefordert bekannt. Die Telekom wollte
haben. Wie zu erwarten, erhielt Cerbe- mit der mazedonischen Regierung ver- sich zum Inhalt des Schreibens nicht
rus den Zuschlag, Schmidt konnte sei- handelt zu haben. In dem Geheimver- äußern. Die US-Kanzlei sei bereits
nen „Plan B“, den Kauf der HGAA, in trag sollen offenbar millionenschwere vor einigen Jahren als Beraterin in
Angriff nehmen. Die Münchner Staats- Zahlungen an die Regierung mit der der Affäre eingestellt worden, hieß es
anwälte prüfen nun, ob der Ex-Bayern- Nicht-Vergabe einer dritten Mobilfunk- nur. Der Schriftsatz diene als Vorbe-
LB-Chef womöglich persönlich von lizenz in Mazedonien verknüpft wor- reitung für die deutschen Anwälte des
dem Geschäft profitierte. Schmidt den sein. Die Vereinbarung sei später Telekom-Chefs und sei das „Herz-
selbst wollte sich vergangene Woche auf diversen Computern gelöscht wor- stück“ einer möglichen künftigen
zu dem Vorgang nicht äußern. den. Als Beleg für ihren Verdacht ha- Verteidigung.
Wirtschaft

FINANZMÄRKTE

Angriff der Algos


Den nächsten Börsencrash lösen womöglich Maschinen aus. Grund: Die Aktiengeschäfte werden
mehr und mehr von ultraschnellen Computerprogrammen dominiert. Selbst die
menschlichen Kontrolleure können der rasanten technischen Entwicklung kaum folgen.

H
ightech allein macht auch nicht Hedgefonds kommen gemeinsam nur auf nur die Schnellsten und oft auch die Smar-
glücklich: Die vielleicht wichtigste einen Anteil von 15 Prozent. testen. Banken, Hedgefonds und viele an-
Anzeige im Hauptquartier des Der Aufstieg der Hochgeschwindig- dere Finanzfirmen arbeiten mit ähnlichen
Börsenmaklers Lime Brokerage in Man- keitshändler zeigt, wie radikal sich die automatischen Handelsprogrammen.
hattan ist denn auch keine der bunt flim- globalen Börsen durch den Computerhan- Nach Schätzungen werden bereits rund
mernden Monitor-Grafiken, sondern ein del verändern. Zunehmend werden die 70 Prozent aller Transaktionen auf den
schlichtes Zählwerk für die täglich hier Börsenmakler und Händler auf dem Par- US-Kapitalmärkten durch Algorithmen –
gehandelten Wertpapiere. Die Zahlen ras- kett von Algorithmen ersetzt, also von kurz: Algos – ausgelöst. Aufgrund einer
seln in atemberaubendem Tempo vorbei. Computerprogrammen, die Wertpapier- Vielzahl immer neuer Daten, die sich die
Stand mittags um 13 Uhr: 63 Millionen geschäfte und Handelsstrategien selbstän- Computer letztlich selbst besorgen, er-
Aktien. „Es ist ein sehr langsamer Tag“, dig ohne menschliches Zutun durchfüh- rechnen sie den erfolgversprechendsten
sagt John Jacobs, Director of Operations Weg durch das Börsendickicht.
der Firma. „An anderen Tagen haben wir An der Wall Street ist deshalb vom
schon die Milliardengrenze überschritten.“ Risikoreiches Tempo „Rise of the Machines“ die Rede, dem
Es sind Zahlen, die selbst für Banken- Hochgeschwindigkeitshandel (HFT) Aufstieg der Maschinen, in Anspielung
riesen wie Goldman Sachs oder Morgan an den Börsen 11000
auf den Untertitel des Terminator-Films
Stanley mit ihren Heeren von Händlern mit Arnold Schwarzenegger, in dem com-
unerreichbar sind. Lime dagegen beschäf- 10 800 putergesteuerte Maschinen die Mensch-
tigt nicht mal 90 Mitarbeiter, ist allenfalls Am 6. Mai bricht der 10 600 heit unterjochen wollen.
Fachleuten bekannt und verantwortet Dow Jones aus bislang 10 400 Bei Lime überwachen nur noch drei
trotzdem bis zu fünf Prozent des täg- ungeklärter Ursache Händler die Millionen täglich von den
lichen Aktienhandels in den USA. 10 200 Computersystemen erledigten Aktienge-
um fast 10 Prozent ein.
Das New Yorker Unternehmen ist eine Verdacht: HFT 10 000 schäfte. „Früher hätte es dafür 100 Makler
Maklerfirma für sogenannte High-Fre- 9800 gebraucht“, sagt Jacobs. Zugleich wächst
quency-Trader (HFT): Hochgeschwindig- 10 Uhr 11 12 13 14 15 16 das Handelsvolumen durch die rasend
keits-Wertpapierhändler. Für die einen schnell agierenden Systeme drastisch.
sind das die schnellsten Surfer auf den 2005, als der Handel an der New Yorker
Wellen der globalen Finanzmärkte, für
HFT in Prozent 61 Börse noch hauptsächlich manuell lief,
des gesamten 56*
die anderen die größte künftige Bedro- 52 brachten es die Händler auf dem Parkett
Aktienhandels
hung des gesamten Systems. auf täglich 2,9 Millionen Aktiengeschäfte.
High-Frequency-Trader nutzen ultra- 38* Im Jahr 2006 dann wurde der Zugang auf
schnelle Computersysteme, die Wert- 35 vollautomatische Computersysteme um-
USA 29
papiergeschäfte in Millionstelsekunden 26 gestellt. Die Zahl der täglichen Trans-
21 21
abwickeln. Jeden Tag kaufen sie mitunter aktionen schoss auf 22,1 Millionen im vo-
Hunderte Millionen Aktien, stoßen sie rigen Jahr in die Höhe. „Die Natur des
Europa 9
aber oft schon Sekundenbruchteile später 5 Handels hat sich komplett verändert“, ur-
wieder ab, zufrieden mit Profiten von 1 teilt die US-Börsenaufsicht SEC in einem
Quelle: Tabb Group; * geschätzt
Zehntel-Cents pro Aktie. Über die schie- Anfang des Jahres veröffentlichten Papier.
re Masse summieren sich gewaltige Pro- 2005 2006 2007 2008 2009 2010 Aber selbst die Kontrolleure können der
fite, wenn es gut läuft. Genauso können technischen Entwicklung kaum folgen.
während eines Lidschlags Miese in Mil- Moderne Algos durchstöbern oft ein
lionenhöhe anfallen. ren können. Algorithmen sind, verein- Dutzend Finanzmärkte gleichzeitig nach
Die Firmen, die dieses Geschäft betrei- facht beschrieben, Handlungsvorschrif- Anomalien, dressiert auf Ineffizienzen
ben, sind bislang klein, verschwiegen und ten: Anweisungen, um Probleme zu lösen. und winzige Handelsschwankungen, aus-
bevorzugen meist die Anonymität. Bei Will etwa ein Investor 10 000 Aktien kau- gestattet mit der Macht, eigenständig zu
der Finanzaufsicht sind sie oft gar nicht fen, dann sorgt der Algorithmus dafür, kaufen und zu verkaufen. Manche der
registriert. Kontrolliert werden sie kaum. dass beim Unterschreiten bestimmter Programme sind so gewieft, dass sie an-
Bis vor wenigen Monaten waren HFT Preislimits automatisch die Aktien ge- dere, einfachere Algorithmen bei ihrer
selbst in Teilen der Finanzwelt eine un- kauft werden. Im Prinzip handelt es sich Arbeit in den Märkten erkennen, deren
bekannte Größe. So blieb weitgehend um dieselbe Strategie wie im traditionel- Reaktion voraussehen – und übertölpeln.
verborgen, welchen Einfluss deren Händ- len Aktienhandel, nur viel, viel schneller. Vor allem kleinere Pensionsfonds ar-
ler in kürzester Zeit gewonnen haben. Und nie gestört durch menschliches Zö- beiten oft mit simplen Algorithmen, die
Mittlerweile verantworten sie 56 Pro- gern oder Nachdenken. relativ leicht erkennbare Kaufstrategien
zent des gesamten US-Aktienhandels. HFT sind bei weitem nicht die Einzi- nutzen. Zumindest manche HFT nutzen
Selbst die Vielzahl der umtriebigen gen, die Algorithmen einsetzen – sie sind ihre klügeren und schnelleren Program-
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STEVEN AVIANO
Händlerraum bei Lime Brokerage in New York: „Es ist ein wildes Wettrüsten im Gange“

JUSTIN LANE / DPA

Parkett der New Yorker Börse: „Die Natur des Handels hat sich komplett verändert“

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Wirtschaft

me dann, um zu erkennen, welche Aktien Der 6. Mai ist nicht nur Kritikern noch putern der Branchenführer Getco und
ein Fonds als Nächstes kaufen will, um in lebhafter Erinnerung. Damals stürzte Tradebot werden täglich über eine Mil-
früher loszuschlagen und ihnen die ge- der US-Leitindex Dow Jones in weniger liarde Wertpapiere umgeschlagen. Einig
wünschte Aktie dann sofort zu einem als 20 Minuten um fast 1000 Punkte ab, sind sie alle sich nur in einem Credo: Ge-
leicht höheren Preis weiterzuverkaufen. so schnell und tief wie nie zuvor. schwindigkeit ist alles.
Es ist pure Mathematik, gepaart mit In Sekunden verloren Hunderte Aktien Transaktionen werden in Mikrosekun-
Tempo. An der Wall Street wird deshalb einen Großteil ihres Wertes. Zeitweilig den gemessen, Millionstelsekunden. Lime
längst nicht mehr nur um die besten Uni- wurden durch den „Flash Crash“ bis zu bietet seinen über hundert Kunden der-
Abgänger mit Finanzausbildung gekämpft, eine Billion Dollar vernichtet. Manche zeit das wohl schnellste System der Welt.
sondern um die besten Mathematiker und Aktienkurse spielten verrückt. Apple Es vollzieht ein Wertpapiergeschäft in-
Physiker. Lime hat eigens eine Filiale in wurde für einen Moment bei 100 000 Dol- klusive Risikoüberprüfung in weniger
der Nähe der Elite-Universität MIT bei lar notiert, Accenture bei einem Cent. als zehn Mikrosekunden. Bald schon sol-
Boston gegründet. „Wir suchen ständig Panik brach aus. Auch wenn der Spuk len es Billionstelsekunden sein. „Es ist
nach den größten Talenten direkt von den nach einer halben Stunden vorbei war, ein wildes Wettrüsten im Gange“, sagt
besten Technik-Unis“, sagt Lime-Chef Jef- verursachte der Flash Crash doch ein ge- Wecker.
frey Wecker, der den elektronischen Han- waltiges Chaos. Bis heute ist nicht geklärt, Solche Geschwindigkeiten sind aller-
del bei Lehman Brothers dirigiert hat – be- worin genau die Ursachen lagen. Für vie- dings nur möglich, weil immer mehr Han-
vor die Investmentbank pleiteging. le Profis tragen die Hochgeschwindig- delsplätze den HFT ermöglichen, ihre
Eigentlich ist ein Algorithmus nichts keitshändler zumindest eine Mitschuld. Computersysteme direkt neben den Bör-
anderes als ein Kochrezept. Doch um die Der schärfste Vorwurf: Ihr Geschäfts- sen-Servern zu installieren. Die physische
komplexen Rechenoperationen in den Fi- modell habe fast keinen volkswirtschaft- Nähe reduziert die Übertragungszeit.
nanzmärkten durchführen zu Jeder Meter ist bares Geld wert.
können, sind exakte mathema- ANZEIGE Deswegen bezahlen die Händler
tische Anweisungen notwendig. die Börsen gut dafür, ihre Syste-
Für jede Strategie gibt es heute me am gleichen Ort betreiben zu
die adäquate Software. dürfen. Vor einigen Wochen etwa
Tempo-Trader wie bei Lime eröffnete die New Yorker Börse
brauchen vor allem Algos, die ein neues Datenzentrum in New
nach jenen minimalen Preisdif- Jersey. Viele Finanzfirmen zogen
ferenzen fahnden, die es manch- gleich mit ein. Als im Februar die
mal für einige Millisekunden an brasilianische Börse Plätze in ih-
verschiedenen Handelsplätzen rem Datenzentrum anbot, waren
gibt. Der HFT-Algo kauft dann sie sofort ausverkauft.
zum Beispiel 10 000 Microsoft- Kritiker halten auch solche
Aktien, die an der New Yorker Geschäfte für unfair, weil einige
Börse bei 24,47 stehen, und ver- wenige Akteure dadurch die ak-
kauft sie fast im gleichen Augen- tuellen Marktdaten der Han-
blick auf einer anderen Börsen- delsplätze vor allen anderen be-
plattform für 24,48 weiter. Die kommen. HFT beziehen die
Macht hat der Rechner. Kritiker Marktdaten ohne Umwege di-
sehen die Finanzwelt deshalb rekt von den Handelsplätzen,
schon wildgewordenen Compu- können früher agieren als ande-
terprogrammen ausgesetzt, die re Marktteilnehmer.
Chaos verbreiten und die Märk- Die SEC prüft nun, ob die Re-
te durcheinanderbringen. geln der Finanzmärkte „mit den
„Obwohl es schon durch Al- technologischen Veränderun-
gorithmen verursachte Fehler gen mitgehalten haben“. Auch
im Handel gab, haben wir wohl noch nicht lichen Nutzen, sondern verwandle die Fi- die EU hat eine Untersuchung angekün-
das ganze mögliche Ausmaß erlebt. Zu- nanzmärkte erst recht in ein Hightech- digt. Der zuständige Kommissar Michel
dem könnten viele Fehler der Öffentlich- Casino. Anfang September forderte der Barnier erklärte vorige Woche, er werde
keit verborgen bleiben“, warnte schon im einflussreiche US-Senator Charles Schu- den Hochgeschwindigkeitshandel „sehr,
Frühjahr die Federal Reserve Bank of Chi- mer die Finanzaufsicht SEC auf, eine for- sehr genau unter die Lupe nehmen“.
cago. Erst im vergangenen Monat erteilte male Untersuchung über die Rolle der SEC-Chefin Mary Schapiro hat bereits
die Börse von Osaka der Deutschen Bank HFT in den Finanzmärkten zu starten – mit neuen Kontrollen gedroht. So sollten
eine Abmahnung, weil sie „keine ausrei- insbesondere während des Flash Crash. sich HFT-Firmen, die mehr als zwei Mil-
chende Kontrolle“ über einen ihrer Algos Lime-Vorstandschef Wecker hält die lionen Aktien täglich handeln, künftig re-
gehabt habe. Anfang des Jahres wurde Kritik für eine „Hexenjagd“. Viele der gistrieren lassen. Selbst über Geschwin-
die Credit Suisse von der New Yorker Bör- Vorwürfe entsprängen vor allem der Un- digkeitsbegrenzungen im Aktienhandel
se zu einer Strafe von 150 000 Dollar ver- kenntnis. Dank Firmen wie seiner eige- wird neuerdings nachgedacht.
urteilt. Sie habe es nicht geschafft, „den nen seien die Finanzmärkte weitaus effi- Lime-Chef Wecker glaubt nicht, dass
Einsatz und den Betrieb eines Algorith- zienter und vor allem liquider geworden, die Beschränkungen den Siegeszug der Al-
mus ordentlich zu beaufsichtigen“. betont Wecker: „Wir müssen allerdings gos aufhalten werden. Im Gegenteil: Bald
Durch die Schnelligkeit und Schlag- noch viel Aufklärungsarbeit leisten.“ würden sie nicht mehr nur von Spezialis-
kraft der Handelsprogramme könnten Das ist auch deshalb schwierig, weil ten genutzt. Schon jetzt zählen alle mög-
schon winzige Eingabefehler eine Kata- die HFT-Branche extrem heterogen ist: lichen Investoren wie Hedge- und Pen-
strophe in Gang setzen, warnt der US- Unter den aktuell rund 400 Hochge- sionsfonds zu seinen Kunden. Wecker ist
Finanzprofessor Bernard Donefer in schwindigkeitshändlern gibt es winzige sicher: „Wer heute in der Finanzwelt wett-
seiner Studie „Algos Gone Wild“ (zu Zwei-Mann-Firmen, aber auch führende bewerbsfähig bleiben will, muss die Tech-
Deutsch etwa: „Durchgeknallte Algos“). Hedgefonds wie Citadel. Von den Com- nologie dazu haben.“ THOMAS SCHULZ

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JULIEN BEHAL / PICTURE ALLIANCE / EMPICS (L.); CATHAL MCNAUGHTON / REUTERS (R.)
Demonstranten vor der Anglo Irish Bank in Dublin, Premierminister Cowen: Der Boom war auf Pump finanziert

nen Rettungsschirm für strauchelnde Mit-


S TA AT S S C H U L D E N
glieder aufspannten und die sogenannten
PIIGS-Staaten (Portugal, Irland, Italien,

Absturz eines Tigers Griechenland und Spanien) zum Teil dras-


tische Sparprogramme verabschiedeten,
um ihre Haushalte in Ordnung zu bringen.
Doch das Misstrauen blieb, die Risikoauf-
Irland droht ein zweiter Fall Griechenland zu werden. schläge für Anleihen dieser Staaten über-
Die Sanierung seiner maroden Banken kostet möglicherweise trafen in der vergangenen Woche teilwei-
mehr, als das kleine Land aus eigener Kraft leisten kann. se sogar das Niveau des Frühjahrs.
Irland gilt derzeit als besonders gefähr-

S
ean FitzPatrick, 62, konnte sich ein oben, die Europäische Zentralbank muss- det. Und das liegt vor allem an Männern
Grinsen nicht verkneifen, als er am te irische Staatspapiere kaufen. Schließ- wie Sean FitzPatrick und seinen Hinter-
Mittwoch vergangener Woche im lich waren alle froh, als es dem irischen lassenschaften.
High Court von Dublin vor den Richter Staat gelang, Anleihen in Höhe von 1,5 Wie ein Mahnmal steht ein riesiges
trat. Bereits im Sommer hatte Irlands be- Milliarden Euro zu platzieren – allerdings achtstöckiges Betonskelett in den Dock-
rühmtester Banker persönliche Insolvenz mit einem extrem hohen Aufschlag. lands von Dublin, nicht weit von den glit-
angemeldet, weil er Schulden von etwa Der Internationale Währungsfonds und zernden Bürohäusern des Internationalen
145 Millionen Euro angehäuft hatte. die Europäische Union dementierten, Finanzzentrums. Hier sollte die neue Kon-
Seine monatlichen Einnahmen lägen dass Irland mit Hilfsgeldern gerettet wer- zernzentrale der Anglo Irish Bank entste-
zurzeit bei 188 Euro, ließ FitzPatrick das den müsse. Aber plötzlich war die Angst hen, die FitzPatrick aus kleinen Anfängen
Gericht wissen. Ein armer Mann wird er vor einem zweiten Griechenland und zu einer großen Immobilienbank ausge-
allerdings nur, wenn ihn seine Frau Ca- einem neuen Aufflackern der Euro-Krise baut hatte. Fast zwei Drittel ihrer Kredite
triona verlässt. Die sechs Häuser und die wieder da. Denn die schwelt weiter, ob- steckten in Hotels, Büros und Einkaufs-
Anrechte aus einem millionenschweren wohl die Euro-Staaten im Frühjahr ei- zentren, die derzeit keiner braucht.
Pensionsfonds gehören teilweise ihr und In der Bauruine tropft das Regenwasser
können nicht so einfach von den Gläubi-
gern gepfändet werden. Zinsaufschlag durch die Stockwerke. Vier leuchtend
rote Kräne bewachen das Skelett. Offen-
Die größte Summe schuldet FitzPatrick gegenüber deutschen Staatsanleihen bar hat die Kräne auch noch kein Bau-
der Anglo Irish Bank, deren Verwaltungs- mit zehnjähriger Laufzeit, unternehmer vermisst, weil ohnehin
ratsvorsitzender er bis Ende 2008 war. in Prozentpunkten Quelle: Thomson Reuters Datastream kaum mehr gebaut wird in Irland. Auf
„Die Bank hat ihm, seinen Verwandten dem Nachbargrundstück wurde nur noch
und Freunden schon sehr seltsame Kre- GRIECHENLAND die Baugrube ausgehoben.
8
dite gegeben“, sagt ein Bankaufseher. Sei- IRLAND Es ist ein atemberaubender Absturz.
ne Freunde in der Regierung ließen ihn PORTUGAL
Vor kurzem wurde das Land wegen sei-
gewähren. Kurz nach seinem Ausschei- 6 ner hohen Wachstumsraten noch als kel-
SPANIEN
den musste die Bank verstaatlicht werden. tischer Tiger apostrophiert. Dank niedri-
Weil die irische Regierung immer noch ITALIEN ger Steuern eröffneten US-Konzerne wie
4
nicht weiß, wie viele Milliarden Euro die Ebay, Facebook und Google hier ihre
Rettung dieser Bank kostet, kalkulierten Europazentralen, viele gutbezahlte Ar-
die Finanzmärkte in den vergangenen 2 beitsplätze entstanden.
Tagen schon mal eine Staatspleite Irlands Doch der Boom war auf Pump finan-
durch. Die Versicherungsprämien für iri- 0 2010 ziert. „Zwischen 2003 und 2007 impor-
sche Schulden schossen sprunghaft nach J F M A M J J A S tierte das irische Banksystem Gelder, die
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Wirtschaft

mehr als der Hälfte des Bruttoinlandspro- nicht mehr verkaufen konnte. „Das ist auch weil die Regierung bei den Ausgaben
dukts entsprachen, um in die Immobilien- eine Geisterstadt“, sagt der Unternehmer, brutal abbauen musste. Löhne und Gehäl-
blase zu investieren“, sagt der irische Zen- der mit dem Verkauf von Fliesen und ter im öffentlichen Sektor wurden um bis
tralbankchef Patrick Honohan. Toiletten zu Geld kam. zu 15 Prozent gekürzt. Gut 3 Milliarden
Den Iren wurde das billige Geld gera- Auch ihn schmerzen die Hypotheken- Euro wurden eingespart.
dezu aufgedrängt. Banker rieten ihren zinsen. Wie so viele in der irischen Mittel- Aber was sind 3 Milliarden gegen 20,
Kunden, überteuerte Apartments zu 120 schicht hofft Byrne, dass es irgendwie 30 oder gar 40 Milliarden Euro, die eine
Prozent zu finanzieren – mit dem Rest weitergeht. Aber die Wirtschaft schrumpft, einzige Bank den Staat kostet? In diesem
sollten sie in Urlaub fahren und sich ein Jahr wird das Staatsdefizit auf weit über
neues Auto kaufen. Die Finanzkrise setz- 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts
te dem Treiben ein Ende, von einem Tag steigen, viel höher als in Griechenland.
auf den anderen kam der Boom zum Er- Und da sind die Ausgaben für die Bank
liegen. Zuerst wurden die deutschen Ar- bisher nur zu einem kleinen Teil berück-
chitekten und die polnischen Bauarbeiter sichtigt. Anfang Oktober will die Regie-
nach Hause geschickt. Mittlerweile sind rung endlich offenlegen, wie hoch die
auch fast 14 Prozent der Iren arbeitslos. Rechnung für die Anglo Irish Bank tat-
Jetzt wissen viele nicht, wie sie die Zin- sächlich wird.
sen für ihre Hypotheken tragen sollen. Bisher wurden die Reformen akzeptiert.
Und die Banken haben Unmengen von Das könnte sich ändern. Im Dezember, bei
Darlehen in ihren Büchern, die nicht der Aufstellung des Haushalts für das kom-
mehr bedient werden. mende Jahr, muss die Regierung ähnlich
„Jeder kämpft mit den Banken“, sagt radikale Maßnahmen wie in Griechenland
Installateur Alan Byrne grimmig. Er steht ergreifen, um auf dem internationalen Ka-
mit zurückgegeltem braunem Haar und pitalmarkt weiter Kredite zu bekommen.
grünem „Ireland“-T-Shirt vor seinem Es kann gut sein, dass die Preise für

DIMITRI MESSINIS / AP
Haus in einem der Außenbezirke von Immobilien und die Löhne der Iren noch
Dublin und schaut auf die gegenüberlie- viel stärker sinken müssen. „Wir müssen
gende Straßenseite, wo mehrere Häuser noch 20 Jahre für die Dummheiten der
nie bezogen wurden. Vom Schlafzimmer Banker zahlen“, weiß Byrne mittlerweile.
aus blickt Byrne auf Bodenplatten aus Es kann aber auch sein, dass selbst das
Beton und Ziegelmauern halbfertiger Parlamentsgebäude in Athen nicht ausreicht – und der Euro-Rettungs-
Häuser, die die Immobiliengesellschaft „Jeder kämpft mit den Banken“ fonds helfen muss. CHRISTOPH PAULY

Die Kommission selbst will bei ihrer


Sanktionen Haushaltsüberwachung demnächst ge-
nauer hinschauen. Sie führt ein neues
„Prinzip vorsichtiger Haushaltsfüh-
aus Brüssel rung“ ein. Es verpflichtet die Länder
dazu, dass ihre Etats nicht stärker zu-
legen dürfen als das Wirtschaftswachs-
Die EU-Kommission will die tum. Droht ein Land vom Pfad solider
Mitgliedsländer an die Staatsfinanzen abzuweichen, muss sein
Kandare nehmen: Unsolides Etatplus sogar deutlich geringer ausfal-
THIERRY ROGE / REUTERS

Wirtschaften wird bestraft. len als das Wirtschaftswachstum.


Die EU-Kommission will zudem

S
chärfere Kontrollen müssen her! stärker als bisher darauf achten, dass
Das zumindest glaubt EU-Wäh- die Mitgliedstaaten ihren Schulden-
rungskommissar Olli Rehn. Um stand energisch in Richtung der zuläs-
der schlingernden Währungsunion wie- Währungskommissar Rehn sigen Obergrenze von 60 Prozent vom
der Halt zu geben, will er die Wirt- Schuldenbremse für alle BIP zurückfahren. Verstößt ein Land
schafts- und Finanzpolitik der EU-Staa- ständig gegen dieses Limit oder hat es
ten, vor allem aber der Euro-Länder, gestellt werden. Bei anhaltender Schief- über Jahre ein Haushaltsdefizit von
künftig deutlich genauer beaufsichti- lage in der Leistungsbilanz bekommen mehr als drei Prozent, muss es von
gen. Wer auffällig wird, muss mit Sank- sie von der Kommission politische Emp- Beginn des dann fälligen Defizitver-
tionen rechnen. fehlungen für die Finanz- und Wirt- fahrens an ein unverzinsliches Straf-
Staaten mit chronischen Überschüs- schaftspolitik, aber auch für die Lohn- pfand in Höhe von 0,2 Prozent des BIP
sen oder Defiziten in ihrer Leistungs- entwicklung und strukturelle Reformen. hinterlegen.
bilanz sollen danach eine jährliche Alle EU-Staaten müssen nach Rehns Bekommt es seinen Etat in den
Strafe von 0,1 Prozent ihrer Jahreswirt- Plänen in Zukunft bindende finanz- Griff, erhält es sein Geld zurück. Ver-
schaftsleistung (BIP) zahlen, weil sie politische Regeln nach dem Vorbild der sagt die Regierung, behält die Kom-
die Stabilität der Euro-Zone gefährden. deutschen Schuldenbremse und der mission das Pfand als Strafzahlung ein.
Das geht aus einem Verordnungsent- mittelfristigen Finanzplanung installie- Die Mitgliedstaaten wurden über die
wurf aus Rehns Behörde hervor. ren. Die Vorgaben des Stabilitäts- und Pläne bereits unterrichtet, an diesem
Länder mit Ungleichgewichten sollen Wachstumspakts müssten „in nationa- Mittwoch will Rehn die Öffentlichkeit
frühzeitig verwarnt und an den Pranger les Recht übernommen werden“. informieren. CHRISTIAN REIERMANN

92 D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0
Nachweis, dass solche Gerüchte damals
überhaupt kursierten. Wenn, dann waren
sie jedenfalls falsch. Es gab keine FBI-Er-
mittlung wegen Kinderpornografie.
So nahm eine mutmaßliche Intrige ih-
ren Lauf, und als ein Team der HSH
schließlich bei der Razzia einschlägige Fo-
tos fand, die Roland K. offenbar kurz zu-
vor untergeschoben wurden, kam das der
Bank womöglich gerade recht. So ent-
schlossen man dort laut WilmerHale auch
vorher schon gewesen sein mag, Roland
K. loszuwerden, so schwierig war die Sa-
che nämlich juristisch.
Zwar behauptet HSH-Chefjustitiar Göß-
mann, den die Bank inzwischen freige-

CHRISTIAN CHARISIUS / REUTERS


stellt hat, das Gegenteil: Eine US-Kanzlei
sei zum Ergebnis gekommen, „dass die
Voraussetzungen einer Kündigung gege-
ben waren“ – auch ohne Porno-Bilder auf
dem Bürorechner. Doch in Wahrheit eiert
HSH-Chef Nonnenmacher die Kanzlei Latham & Watkins in ihrer
Expertise ziemlich herum. Denn was sich
sonst noch an Vorwürfen gegen K. hatte
und einen Spitzen-Manager der in HSH- zusammenkehren lassen, war eher dünn
HSH NORDBANK
Diensten stehenden Sicherheitsfirma Pre- gewesen. So nachzulesen in einem zuvor

Munition fürs vent – für die Rademacher allem An- erstellten Gutachten der Wirtschaftsprüfer
schein nach nicht nur die Pressearbeit von PWC, das angebliche Spesenbetrüge-
machte. Nonnenmacher, Gößmann, der reien und den vermeintlich zu sorglosen

Rollkommando Prevent-Mann: Sie sollen, so der Verdacht, Umgang mit internen E-Mails aufklären
daran mitgewirkt haben, eine falsche Kin- sollte – alles von Roland K. energisch be-
derporno-Spur zu legen; ein Vorwurf, den stritten. Von Indizien ist bei PWC die Rede,
sie entschieden bestreiten. Hinweisen, „möglichen Verletzungen in-
In die Kinderporno-Affäre ist ein
Wie die Bank auf die Idee kam, im Sep- terner Richtlinien“. Aber: Es gebe keiner-
Ex-Regierungssprecher verwickelt. tember 2009 das Büro von Roland K. bei lei Beweise, weder für das eine noch für
Er lieferte die üblen Gerüchte einer Razzia nach Schmuddelkram zu das andere.
über einen Manager, den Bankchef durchsuchen, steht in einem Geheimbe- Bei den Arbeitsrechtlern von Latham
Nonnenmacher feuern wollte. richt der Anwaltskanzlei WilmerHale für & Watkins heißt es denn auch nur vorsich-
die HSH. Demnach hatte sich Bankchef tig, es scheine so, als ob die Informationen

D
er Mann hat einen Namen in der Nonnenmacher schon im Juni mit Pre- für eine Kündigung ausreichten – nach
Branche: Ludwig Rademacher. vent-Mann Thorsten Mehles getroffen, in Stand der Dinge. Angebliche Sex-Eskapa-
Früher mal der Sprecher des Ham- dessen Büro in Hamburg. Non- den machten den Fall auch nicht
burger Senats, unter SPD-Bürgermeister nenmacher will damals erfah- härter: „Nach unserem Urteil ist
Ortwin Runde. Heute selbständig, von ren haben, dass gegen Roland So entschlos- der vorliegende Bericht nicht
Beruf das, was man einen „Krisenmana- K. in Amerika ein Ermittlungs- sen die Bank ausreichend klar, um daraus
ger“ nennt. Einer also, der dafür bezahlt verfahren laufe, sogar beim FBI. gewesen sein rechtlich den Schluss zu ziehen,
wird, dass er eine Krise auflöst. Nicht dass Der Verdacht: Kinderpornogra- mag, K. loszu- dass Herr K. in sexuelle oder an-
er eine Krise auslöst. fie. Als WilmerHale kürzlich werden, so dere illegale Arten von Belästi-
Doch viel spricht dafür: Genau das hat
Rademacher getan. Der Kommunikations-
bei Mehles nachhakte, woher
er das denn gewusst haben
schwierig war gung verwickelt war.“
So sahen das dann, laut Wil-
profi spielt eine unrühmliche Rolle in der wollte, nannte der einen Na- es juristisch. merHale, auch zwei der vier
Daueraffäre um die HSH Nordbank, der men, der im Bericht nur ver- HSH-Vorstände, die Nonnen-
krisengeschüttelten Landesbank von schlüsselt auftaucht. Doch inzwischen ist macher am 17. September 2009 zusam-
Hamburg und Schleswig-Holstein. Denn das Rätsel gelöst: Der Anonymus heißt mengetrommelt hatte, um den Raus-
die Arbeit des Ex-Senatssprechers, so Rademacher. schmiss zu besiegeln. Peter Rieck und
sieht es nun aus, hat offenbar entschei- Tatsächlich gibt Rademacher zu, dass Bernhard Visker sträubten sich demnach:
dend zum schmutzigsten der vielen Skan- die Information über die angebliche US- zu wenig Handfestes für eine fristlose
dale in der Bank beigetragen. Seine „Re- Ermittlung von ihm stammte. Er habe sich Kündigung aus wichtigem Grund. Doch
chercheresultate“ (Rademacher) waren da aber allenfalls vage geäußert und le- glaubt man WilmerHale, wurde der Wi-
es, die dazu führten, dass der Leiter der diglich Hinweise weitergegeben. Doch fest derstand schnell eliminiert. Die beiden
New Yorker HSH-Filiale unter Kinderpor- steht: Er tat es später auch noch einmal seien wegen ihrer Zusammenarbeit mit
no-Verdacht geriet – ein haltloser Vorwurf, schriftlich, im August 2009, in einem Be- K. möglicherweise befangen, so ein Hin-
wie dort die Staatsanwaltschaft heute richt an Prevent-Mann Mehles, wie der weis von Latham & Watkins. Damit wur-
überzeugt ist. bestätigt. Und woher rührte nun Radema- de aus dem 2:2-Patt ein glattes 2:0 für Non-
Sie ermittelt seit Monaten gegen HSH- chers Insider-Wissen über Ermittlungen nenmacher. Vorstand Jochen Friedrich
Chef Dirk Jens Nonnenmacher, der Filial- im fernen New York? Zu WilmerHale sag- hatte mit ihm gestimmt. Gleich danach
chef Roland K. 2009 möglichst ohne Ab- te er: aus Journalistenkreisen. Namen rückte in New York das Rollkommando
findung feuern lassen wollte. Außerdem blieb Rademacher im Gespräch mit den zur Razzia an. JÜRGEN DAHLKAMP,
gegen Wolfgang Gößmann, den Justitiar, Anwälten aber schuldig, genauso den GUNTHER LATSCH, JÖRG SCHMITT

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Kinder beim Besuch des Schulzahnarztes in Monheim am Rhein: „Die Leistung muss beim Kind ankommen“

SOZIALPOLITIK

Die Mär vom armen Kind


Hunderttausende Kinder gelten in Deutschland als arm, doch ihr größtes Problem ist nicht der
Mangel an Geld. Viele leiden unter Verwahrlosung und der Gleichgültigkeit ihrer Eltern.
Selbst die jüngsten Hartz-IV-Pläne der Regierung bieten da keine Lösung. Von Alexander Neubacher

D
er Tag fängt schlecht an für die an zu bluten. Sechs Zähne sind von Ka- vorlegen. Mehr als 40 Milliarden Euro
Kinder an der Hermann-Gmeiner- ries zerfressen. sollen künftig auf gerechtere Weise ver-
Grundschule in Monheim am Sven zuckt zurück, als sich die Ärztin teilt werden, die vor allem den 1,7 Mil-
Rhein – die Schulzahnärztin ist da. Antje mit dem Mundspiegel über ihn beugt. Bei lionen betroffenen Kindern nutzt. Es geht
Krayer kommt vom Kreisgesundheitsamt der letzten Schuluntersuchung im März um viel Geld. Und um Gefühle.
Mettmann und hat eine blaue Tüte mit hat er einen gelben Zettel für seine Eltern Bundeskanzlerin Angela Merkel sagt,
Zahnbürsten, Mundspiegeln und Fluorid- mitbekommen. Darauf stand der Hin- sie rechne mit einer emotionalen Diskus-
Gel-Tuben mitgebracht. 20 Mädchen und weis, dass er dringend zum Arzt müsse. sion. Die Mehrheit der Deutschen hält
Jungen aus der 2a haben sich schnell die Adresse und Telefonnummer der Zahn- die bestehenden Gesetze für ungerecht.
Zähne geputzt. klinik waren gleich daneben notiert. Hartz IV ist für viele zur Chiffre für Bü-
Die Gmeiner-Grundschule liegt in ei- Warum er nicht beim Arzt war? Sven rokratie und Sozialabbau geworden. Ur-
ner Hochhaussiedlung; die meisten Fa- schüttelt den Kopf. Was die Mama dazu sula von der Leyen versucht, den Namen
milien leben hier von Hartz IV. Für das sagt? Der Junge schweigt. Papa? Welcher „Hartz“ in der Öffentlichkeit möglichst
Gesundheitsamt ist dieser Teil von Mon- Papa? nicht laut auszusprechen. Sie würde lie-
heim Katastrophengebiet. Letztlich geht es um das bedrückendste ber von „Basisgeld“ sprechen, aber das
Sven*, 7, ist an der Reihe. Krayer ahnt, Problem der deutschen Sozialpolitik: Ab ist nur eine Etikettenfrage.
was kommt. Schon beim Zähneputzen ist diesem Montag berät die Bundesregie- Seit Wochen sorgt das Thema für Que-
ihr aufgefallen, wie ungelenk der Junge rung darüber, wie Problemkindern wie relen zwischen CDU, CSU und FDP. Ver-
die Bürste mit der Faust umklammert. Und Sven geholfen werden kann. Bundes- treter der von der SPD mitregierten
jetzt fängt auch noch sein Zahnfleisch sozialministerin Ursula von der Leyen Bundesländer lehnten die Reform bereits
will die entscheidenden Details ihres Re- zu einem Zeitpunkt ab, als noch kein ein-
* Name von der Redaktion geändert. formentwurfs für das Hartz-IV-System ziges Detail auf dem Tisch lag. Funktio-
94 D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0
Wirtschaft

näre von Sozialverbänden kündigen Pro-


teste an.
Der Anlass der Reform ist ein Urteil
des Bundesverfassungsgerichts. Die Rich-
ter verlangen, dass die Bundesregierung
eine nachvollziehbare Berechnung der
Hartz-IV-Sätze vorlegt. Sie monierten
nicht, dass die Sätze zu niedrig seien, stell-
ten aber klar, dass Kinder einen eigenen
Rechtsanspruch auf staatliche Hilfe haben;
es war ein bahnbrechender Richterspruch.
Für die Politik wäre das Urteil eine gute
Gelegenheit, sich die Frage zu stellen,
was bislang schiefgelaufen ist. Die Bilanz
der Familien- und Sozialpolitik der letz-
ten Jahrzehnte ist schlecht, nicht nur we-
gen der sinkenden Geburtenzahlen. Jahr
für Jahr gibt Deutschland mehr Geld aus,
um beim Nachwuchs Chancengleichheit
herzustellen. Doch ab dem Tag ihrer Ge-
burt fallen Kinder aus der Unterschicht
hinter die anderen zurück, und zwar mit
und ohne Migrationshintergrund.
Welche Perspektiven ein Kind hat,

CHRISTOPH PAPSCH (L.); MS-UNGER.DE (R.)


hängt häufiger als in anderen Industrie-
ländern von seiner Herkunft ab. Die
Chance, später Abitur zu machen, ist für
Akademikerkinder fast viermal größer
als für Kinder von Eltern mit einem ge-
ringeren Bildungsabschluss.
Die vor einigen Tagen veröffentlichte
Shell Jugendstudie kommt zu dem Schluss,
dass sich die Kluft zwischen den Milieus
weiter vergrößert, obwohl die Regierung Ministerinnen von der Leyen, Schröder: Hohe Kosten, geringe Wirkung
seit Jahren das Gegenteil verspricht. Hohe
Kosten, geringe Wirkung – so bewertet demnächst 502 Euro im Monat gezahlt Die nun geplante Reform wird diesen
die Organisation für wirtschaftliche Zu- würden. Tatsächlich bedeutet Hartz IV Konstruktionsfehler von Hartz IV aller-
sammenarbeit und Entwicklung (OECD) ein bescheidenes Leben ohne Extras, aber dings nicht beheben, im Gegenteil. Eine
die deutsche Familienpolitik. die Behauptung, es stürze Kinder ins vierköpfige Hartz-IV-Familie kommt, ab-
Das Problem sind Kinder wie Sven, de- Elend, ist falsch. hängig von ihrer Miete, schon jetzt auf
nen die Zähne im Mund verfaulen, weil Einige Familien und Alleinerziehende bis zu 1800 Euro Stütze im Monat, zuzüg-
sie nicht einmal wissen, wie man eine haben sich gegenüber der alten Sozialhil- lich Extrageldern etwa für die Babyerst-
Zahnbürste hält. Es geht um Eltern, die fe verbessert. Die Leistungen für Kinder ausstattung oder Klassenfahrten.
ihren Kindern morgens noch nie ein wurden in den vergangenen Jahren mehr- Da lohnt es sich für einen Lagerarbeiter
Schulbrot geschmiert haben, aber sie den fach erhöht. Interne Berechnungen des oder eine Verkäuferin in vergleichbarer
ganzen Tag vor dem Fernseher sitzen las- Bundessozialministeriums zeigen, dass Lage eigentlich kaum, einer regulären Ar-
sen. Es geht um Familien, die gar nicht die alten Regelsätze für Kinder die Ver- beit nachzugehen, zumal sie als Arbeit-
merken werden, wenn sie von der Bun- hältnisse in vergleichbaren Haushalten nehmer auch Bus- und Bahntickets und
desregierung demnächst mehr Geld für ohne Hartz IV realitätsnah abbildeten. die vollen Rundfunkgebühren von ihrem
Kinderbücher oder einen Gutschein für Welche Zukunftschancen ein Kind hat, Lohn bezahlen müssen.
die Leihbibliothek bekommen: In diesen entscheidet sich nicht vorrangig an der Der Wirtschaftsweise Wolfgang Franz
Familien wird den Kindern so oder so nie Höhe des Regelsatzes. Es ist die Lebens- sagt: „Wer Arbeitslosengeld II bezieht,
eine Geschichte vorgelesen. lüge des deutschen Sozialstaats, dass man gering qualifiziert ist und Kinder hat,
Irritierenderweise dreht sich der politi- nur genug Geld ausschütten müsse, um steht einschließlich der Zuschläge häufig
sche Streit innerhalb der Regierung bis- Gerechtigkeitslücken aufzufüllen. finanziell besser da als der Nachbar
lang um die theoretische Frage, wie weit Das Problem der Kinder hat maßgeb- mit schlechtbezahlter Vollzeitstelle.“ Das
sich der Staat, wie weit sich Ursula von lich damit zu tun, dass sie von ihren Eltern Institut der deutschen Wirtschaft Köln
der Leyen in die Erziehung einmischen nicht einmal gezeigt bekommen, wie man hat berechnet, dass ein zweifacher
darf oder muss. Bei den Oppositionspar- sich die Schnürsenkel bindet. Es handelt Familienvater etwa 10 Euro Stundenlohn
teien im Bundestag herrscht dagegen der sich um Mädchen und Jungen, die wegen verdienen muss, um Hartz-IV-Niveau zu
Eindruck vor, Hartz IV sei für ein Leben zu viel Fast Food, Fernsehen und Phlegma erreichen – also mehr als die 8,50 Euro
in Würde eh zu wenig, weshalb die Sätze ihrer Eltern eher Überfluss-Symptome Mindestlohn, die die Gewerkschaften
drastisch steigen müssten, je höher, desto wie Übergewicht und Zahnfäule aufwei- fordern.
besser. sen als Anzeichen des Mangels. „Es zeigt sich, dass der Staat das Elend
Der Paritätische Wohlfahrtsverband In diesem Milieu wirkt Hartz IV nicht vieler Kinder am Ende nicht bekämpft,
schlug einen Satz von weit über 400 Euro selten wie eine Stilllegeprämie. Je mehr sondern sogar noch vergrößert“, sagt der
für Erwachsene vor. Der Deutsche Kin- Kinder, desto größer der Anreiz für die Ökonom Hans-Werner Sinn, Chef des
derschutzbund fände es angemessen, Eltern, sich in der Arbeitslosigkeit einzu- Münchner Ifo-Instituts. „Die Gefahr be-
wenn für Kinder aus Hartz-IV-Familien richten. steht, dass wir das Milieu nicht aufbre-
D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0 95
Wirtschaft

chen, sondern stabilisieren“, warnt Heinz mehr Frauen aus materieller Not zur Pro- Hauptgeschäftsführer des Paritätischen
Buschkowsky, SPD-Bürgermeister im Ber- stitution gezwungen seien, und zwar, an- Wohlfahrtsverbandes, halbironisch in
liner Stadtteil Neukölln. ders als anhand der EU-Statistik zu ver- seinem neuen Buch. Das freilich wäre
„Die Leistung muss beim Kind ankom- muten wäre, auf seiner Seite der Grenze. für die Statistik ein Segen: Wenn keiner
men“, sagt Ministerin von der Leyen. Ei- Dass sich die Armutsdaten so schlecht was hat, beträgt die Armutsgefährdungs-
nige ihrer Vorschläge gehen deshalb in mit der Wirklichkeit in Einklang bringen quote null.
die richtige Richtung, etwa der Plan für lassen, liegt am Verfahren, mit dem die Doch die Armut ist in der Statistik in-
eine kostenlose Schulspeisung. Doch ge- Armut gemessen wird. Ob ein Mensch zwischen so fest verankert, dass sie un-
messen an ihrem Anspruch ist der Ge- genug zu essen und zu trinken hat sowie besiegbar ist. Der Sozialstaat kann noch
setzentwurf eine Enttäuschung. über dem Kopf ein wärmendes Dach, ist so viel Geld verteilen. Die Zahl der Kin-
Zusätzliche Milliarden sollen in den unerheblich. Die Armut, von der vergan- der unter sieben Jahren, die von staat-
nächsten Jahren in ein Fürsorgesystem gene Woche beim Millenniumsgipfel der lichen Transfers leben, hat sich seit 1965
gepumpt werden, das den bedürftigen Vereinten Nationen in New York die verzehnfacht. Die Lebensverhältnisse ei-
Kindern keinen Nutzen bringt. Es sieht Rede war, spielt keine Rolle. nes heutigen Hartz-IV-Empfängers sind
so aus, als würde Schwarz-Gelb die vom Den EU-Zahlen liegt ein relativer Ar- freilich nicht schlechter als der Standard
Bundesverfassungsgericht erzwungene mutsbegriff zugrunde. Von Armut be- eines normalen Arbeitnehmerhaushalts
Gelegenheit für eine echte Reform ver- droht ist demnach, wer weniger als 60 in den sechziger Jahren.
schenken. Prozent des mittleren Einkommens in sei- Wenn der Historiker Paul Nolte von
nem Land vorweisen kann. seiner Kindheit in den siebziger Jahren

D eutschland ist ein armes Land, so


steht es jedenfalls in der offiziellen
EU-Statistik. Die sogenannte Armuts-
In Deutschland liegt diese Hürde für
eine vierköpfige Familie bei 1885 Euro
im Monat, in Tschechien bei etwa 1020
erzählt, dann klingt das aus heutiger Sicht
wie eine Geschichte vom untersten Rand
der Gesellschaft: „Wir waren vier Kinder
gefährdungsquote beträgt 15 Prozent; Euro. zu Hause, selbstverständlich konnte die
Butter nur gekratzt werden.
Abends gab es Margarine. Ge-
brauchte Kleidung älterer Cou-
sins wurde aufgetragen.“
Als Kind sei ihm das eigent-
lich ganz normal vorgekommen,
sagt Nolte, aber „heute wird dar-
aus eine Armutsschlagzeile“.

E twa 8500 Kinder untersucht


Schulzahnärztin Krayer vom
Gesundheitsamt Mettmann je-
des Jahr, das macht insgesamt
mehr als 200 000 Zähne. Dabei
hat sie eine bemerkenswerte Be-
obachtung gemacht: „Einige we-
nige Kinder haben immer mehr
Löcher in den Zähnen.“
Es gibt eine Kennziffer für je-
den Zahn und drei Buchstaben
als mögliche Diagnosen. „d“
CARSTEN KOALL / VISUM

steht für das englische Wort „de-


cayed“, zu Deutsch „verfault“;
es bedeutet, dass der Zahn drin-
gend behandelt werden muss.
Der Buchstabe „m“ für „mis-
Jugendliche in der Betreuungseinrichtung Arche in Berlin: „Sind wir nicht alle irgendwie arm?“ sing“ steht für eine Lücke im
Gebiss. Und „f“ („filled“) heißt,
bald jeder sechste Deutsche ist demnach Auch der Armuts- und Reichtumsbe- dass ein Zahn schon einmal behandelt
von Armut bedroht. In keinem der an- richt der Bundesregierung beruht auf der wurde. Auf diese Weise ermitteln Zahn-
grenzenden Nachbarstaaten sieht es Theorie, dass Armut erstens relativ und ärzte den sogenannten „dmf-t“-Wert,
schlechter aus. Von Verhältnissen wie in zweitens ganzheitlich zu betrachten sei, eine Art Kariesindex.
Tschechien (9 Prozent) kann Deutschland so hat es sich in der soziologischen Be- Das Mettmanner Kreisgesundheitsamt
nur träumen. Näher liegen wir an Bulga- gleitforschung zum Thema durchgesetzt. hat die Entwicklung genau analysiert. Fast
rien (21 Prozent). Mit diesem Ansatz konnten die Experten 20 000 Kinder an fast 100 Grundschulen
Zweifel am Bild vom angeblichen deut- das Armutsverständnis im Laufe der Jah- haben Krayer und ihre Kollegen unter-
schen Elend werden freilich geweckt, re immer weiter ausdehnen. Von einem sucht. Der durchschnittliche „dmf-t“-Wert
wenn in derselben Berichtsreihe zu lesen „Mangel an Teilhabe“ ist die Rede, von liegt bei 1,62, ein Erfolg, den sie auf ihre
ist, dass ein Drittel der Bulgaren jeden „sozialer Ausgrenzung“, vom „Mangel an gute Arbeit in den letzten Jahren zurück-
zweiten Tag Hunger leidet und kein Geld Verwirklichungschancen“ und von gesell- führen. In ganz Deutschland ist die Karies-
hat, um winters die Wohnung zu behei- schaftlicher „Exklusion“, die aus den verbreitung in den vergangenen Jahrzehn-
zen. Und das angebliche Musterland dunklen Wirkmächten des kapitalisti- ten um etwa 80 Prozent zurückgegangen.
Tschechien? schen Systems resultiere. Doch an etwa 2600 Kindern im Kreis
Vor einiger Zeit hat sich der Bürger- Armut wird so zu einem echten Mas- Mettmann geht dieser medizinische Fort-
meister einer tschechischen Grenzge- senphänomen. „Sind wir nicht alle ir- schritt vorbei. Deren Zähne verfaulen, was
meinde darüber beklagt, dass mehr und gendwie arm?“, fragt Ulrich Schneider, besonders auffällt, seit ihre Banknachbarn
96 D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0
Wirtschaft

einfach nicht zum Zahnarzt“, sagt Medi-


zinerin Krayer, „da können wir nichts ma-
chen.“ Wie also soll man diese Menschen
mobilisieren?

V or zwei Jahren kam der rot-rote Se-


nat in Berlin auf eine Idee, wie den
vielen Bedürftigen in der Hauptstadt ge-
holfen werden könnte. Das Thema liegt
der Lokalpolitik am Herzen. Jedes dritte
Kind wächst in einer Hartz-IV-Familie
auf. In Berlin gibt es das größte Jobcenter
Deutschlands. Und so stellte die damalige
Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner von
der Partei Die Linke Ende 2008 den „Ber-
linpass“ vor.
Es handelt sich um einen violetten Aus-
weis im Scheckkartenformat, der dazu

CARSTEN KOALL / VISUM


berechtigt, zu ermäßigten Preisen oder
gar kostenlos Bibliotheken, Musikschulen,
Volkshochschulkurse und den Zoo zu be-
suchen. Die Fußballvereine Hertha BSC
und 1. FC Union bieten Rabatte an, eben-
Grundschüler beim Sportunterricht in Berlin: Raus aus der Playstation-Hölle so die Cineplex-Kinokette und das Lego-
land im Sony-Center. Die besten Plätze
in der Staatsoper kosten für Berlinpass-
Investitionen Öffentliche Ausgaben
für Familien*
Öffentliche Ausgaben
für die Kinderbetreuung** Besitzer nur drei Euro. Einzige Bedin-
in die Zukunft in Prozent des
Bruttoinlandsprodukts
in Prozent des
Bruttoinlandsprodukts
gung ist, dass eine halbe Stunde vor Ver-
anstaltungsbeginn noch Karten übrig sind.
2005 2005 Etwa 700 000 Berliner hätten Anspruch
3,5 2,5 1,5 0,5 0 0 0,5 1,0 auf den Ausweis. Doch nicht einmal die
Frankreich Dänemark Hälfte macht davon Gebrauch. 304 000
gültige Pässe waren zuletzt in Umlauf,
Großbritannien Frankreich die meisten davon in Verbindung mit der
Dänemark Schweden verbilligten Netzkarte für Bus und Bahn.
150 000 Kinder aus Hartz-IV-Familien
Schweden Finnland könnten mit dem Berlinpass kostenlos in
Deutschland Italien den Sportvereinen mitmachen, eine Idee
Finnland Großbritannien des Landessportbundes. Doch derzeit ma-
chen weniger als 1900 Kinder von dem
* Steuererleichterungen, Italien Deutschland
Dienstleistungen, Angebot Gebrauch.
Kindergeld u. ä.
Japan USA Und auch das Kulturprogramm zielt of-
** Tagesmütter, fenbar am Bedarf vorbei. Obwohl der
Kindergärten, USA Japan Senat mit Plakaten, Aufklebern und An-
Vorschule u. ä.
Quelle: OECD Griechenland Griechenland zeigen immer wieder Reklame macht,
kommt die Nachfrage nach billigen Drei-
so schöne Zähne haben. Zehn Prozent der Bei der Kariesverteilung ist die Ent- Euro-Tickets an den Abendkassen der
Kindergartenkinder und acht Prozent der wicklung umso bemerkenswerter, als der Opern- und Schauspielhäuser einfach
Schulkinder im Kreis Mettmann haben Staat seit Jahren versucht, das Problem nicht in Schwung. Der frühere Kultur-
große Probleme, ein Trend, den Zahnärzte in den Griff zu kriegen. Die Früherken- senator Thomas Flierl holte Schüler aus
deutschlandweit beobachten. Die Kassen- nung für Kinder ab 30 Monaten gehört dem Problembezirk Hellersdorf sogar
zahnärztliche Bundesvereinigung spricht zum Pflichtkatalog der gesetzlichen Kran- mal persönlich mit dem Bus ab. Auf dem
von einer „Kariespolarisation“. kenkassen, ebenso die Zahnschmelzhär- Spielplan des Theaters an der Parkaue
Mediziner haben eine ganze Reihe un- tung für Kinder ab sechs Jahren. Die Pra- stand „Red Cap Massacre“, eine moderne
terschichtstypischer Kinderkrankheiten xisgebühr entfällt, damit nur ja kein Ter- Version des Märchens von Rotkäppchen
identifiziert, die sich mit einem Mangel min am Geld scheitert. und dem bösen Wolf.
an Geld allein nicht erklären lassen: mo- Sogenannte Prophylaxe-Assistenten Obwohl sich der Regisseur Mühe gege-
torische Schwächen, häufigere Mandelent- klappern die Kitas und Grundschulen ab, ben hatte, das Stück mit extra-jugendli-
zündungen, Herpes. Kinder und Jugend- Problembezirke genießen besondere Auf- cher Rap-Sprache aufzupeppen („Was hat
liche aus der Unterschicht werden über- merksamkeit. In den Schulen von Berlin- das Leben noch zu bieten, außer in der
durchschnittlich oft bei Verkehrsunfällen Neukölln zum Beispiel schaut die Landes- Scheiße liegen?“), hielt sich die Begeiste-
verletzt. Das Robert Koch Institut fand arbeitsgemeinschaft zur Verhütung von rung der Besucher aus Hellersdorf offen-
heraus, dass viele bei der Geburt weniger Zahnerkrankungen bis zu dreimal im bar in Grenzen. An einem weiteren Ter-
wiegen, weil ihre Mütter häufiger wäh- Jahr vorbei. Um den „dmf-t“-Index zu min mit dem rührigen Kultursenator be-
rend der Schwangerschaft rauchen. Bis besiegen, bietet der Staat seine ganze stand kein Interesse.
zur Pubertät holen Unterschichtskinder Kraft auf.
ihren Gewichtsrückstand aber auf – und
leiden dann dreimal so häufig an Fettlei-
bigkeit.
Doch alle Mühe ist umsonst, wenn
Mama und Papa nicht mitziehen. „Ein
Fünftel der Eltern geht mit den Kindern
D as Deutsche Institut für Wirtschafts-
forschung (DIW) hat untersucht, was
Kinder, abhängig von ihrer Herkunft, in
98 D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0
ihrer Freizeit machen. Als einkommens- an der Musik-AG wie alle anderen. In der zahlen müssten. Der Verein hat eine Ab-
starke Schicht definieren sie Haushalte, Sport-, Kunst- und Theater-AG sind sie teilung aufgebaut, um die Kinder auf an-
die über mindestens 150 Prozent des mitt- sogar leicht überdurchschnittlich vertre- dere Weise zu erreichen. Es gibt einen
leren Einkommens verfügen. Als einkom- ten. „Es sieht so aus, als hätten es die Etat von etwa einer halben Million Euro.
mensschwach gelten jene, die weniger als Schulen in der Hand, unsere Sorgenkin- Koordinator ist der frühere Nationalspie-
70 Prozent des Mittelwerts haben. der in ganz normale Mädchen und Jun- ler Henning Harnisch, selbst Vater von
Die Forscher konnten dabei auf die Da- gen zu verwandeln“, sagt der DIW-For- zwei Kindern.
ten des Sozio-oekonomischen Panels scher Markus Grabka. Der Plan sieht vor, dass der Basketball-
(SOEP) zugreifen, einer Langzeitbeobach- Die Frage ist, ob die Schulen dazu be- club seine Jugendtrainer in Schulen
tung, die die Lebensverhältnisse in reit und in der Lage sind. schickt, die den Kindern gern mehr Sport-
Deutschland präzise abbildet. Der Auf- unterricht anbieten würden. Die Hälfte
wand, der für die Studie betrieben wird,
ist groß. Mehr als 11 000 Haushalte wer-
den dazu seit Jahren immer wieder be-
E s ist noch nicht mal halb zehn, als die
Kinder in der Gesundbrunnen-Grund-
schule im Berliner Wedding die härtesten
der Kosten übernimmt Alba; die Schule
trägt noch etwa zwölf Euro Honoraranteil
pro Unterrichtsstunde. Es klingt nach ei-
fragt. Die Interviews dauern bis zu einer Tests schon bestanden haben: erst Hop- ner guten Idee, zumal für Schulen in Pro-
Stunde; es gibt Fragebögen in sieben Spra- serlauf, dann Krabbeln auf allen Vieren blemvierteln wie dem Berliner Wedding,
chen. Sich als Teilnehmer zu bewerben und schließlich Rückwärtsrennen. Alles wo mehr als 90 Prozent der Kinder aus
ist zwecklos. Alle Testpersonen werden hat gut geklappt, auch bei den Kindern, Hartz-IV-Familien stammen.
streng nach Zufallskriterien ausgewählt. die fünf Kilo Übergewicht herumschlep- Mehr als 100 Schulen hat Harnisch in
Die Wissenschaftler zeigen anhand der pen. „Klasse Leistung“, lobt Trainerin den vergangenen Monaten besucht. Bis-
SOEP-Daten auf, dass die gängigen Vor- Louisa Muehlenberg. weilen wurde ihm nicht mal eine Tasse

urteile über die Unterschicht leider alle Die Turnstunde der Klasse 1/2 f ist Teil Kaffee angeboten. Wenn es gutlief, durfte
zutreffen. eines Experiments. Seit Beginn des neuen er seine Trainer für eine AG am Nach-
Babyschwimmen und Kinderturnen Schuljahres haben die Kinder schon vor- mittag vorbeischicken, aber dann waren
kommen eher selten vor. Frühkindliche mittags dreimal pro Woche Sport. Dabei viele Kinder schon nach Hause gegangen.
Musikerziehung: wenig Interesse. Sonsti- werden sie nicht nur von ihrer Lehrerin Die Gesundbrunnen-Grundschule ist
ge Eltern-Kind-Gruppen: finden weitge- angeleitet, sondern auch von einer Ver- bislang die einzige Schule, in welcher der
hend ohne die Unterschicht statt. Bei den einstrainerin vom Basketballverein Alba zusätzliche Sport Teil des Stundenplans
älteren Kindern und Jugendlichen setzt Berlin. Wie revolutionär das Konzept ist, ist. „Die Kinder müssen nicht aus ihrer
sich dieser Trend fort. Außerhalb der wird klar, wenn man es mit den sonstigen Playstation-Hölle herausgelockt werden“,
Schule ist die Unterschicht bei praktisch Berliner Verhältnissen vergleicht. Dem- sagt Harnisch. „Sie sind einfach da und
jedem Hobby, ob Sport, Musik oder Ju- nach fällt der Sportunterricht an den machen mit.“
gendfeuerwehr, unterrepräsentiert. Ledig- Grundschulen schon deshalb häufig aus,
lich Jugendzentren stehen vergleichswei-
se hoch im Kurs. Doch dann haben die
DIW-Forscher eine erstaunliche Entde-
weil es zu wenig Lehrer gibt.
Das Versuchsprojekt an der Gesund-
brunnen-Grundschule geht auf eine be-
A m Freitag dieser Woche hat Bundes-
familienministerin Kristina Schröder
einen wichtigen Termin. Im Max-Lieber-
ckung gemacht. sonders engagierte Schulleiterin und den mann-Haus am Brandenburger Tor will
Bei Freizeitaktivitäten, die gleich nach Basketballverein zurück. Alba hat vor ei- sie 50 Berliner Kindern ein Märchen vor-
dem Unterricht in der Schule stattfinden, niger Zeit die Hoffnung aufgegeben, dass lesen. Es soll ein Buch von Astrid Lind-
schließt sich plötzlich die Schere. Laut Kinder aus Hartz-IV-Familien von allein gren sein; die Ministerin hat sich eigens
Studie beteiligen sich Kinder aus einkom- zum Probetraining erscheinen, obwohl vom Deutschen Zentrum für Märchen-
mensschwachen Familien genauso häufig sie nicht mal einen Mitgliedsbeitrag be- kultur beraten lassen. Da gibt es das Mär-
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Wirtschaft

chen vom bitterarmen Mädchen, das sich man regelmäßig Spitzenplätze. Auch der
nichts sehnlicher wünscht als eine Puppe, Wirtschaft geht es gut.
mit der es spielen kann. Der Wunsch Mehr Betreuungsangebote sind der
bleibt unerfüllt, bis ein geheimnisvoller beste Weg, um Unterschichtskindern zu
Unbekannter auftaucht. Er schenkt dem helfen, darin sind sich Experten einig.
Mädchen ein Samenkorn, das es ein- Der Kriminologe Christian Pfeiffer etwa
pflanzen und täglich gießen soll. Aus hat in einer Studie belegt, dass sich die
dem Korn wächst Mirabell, die tollste Aufstiegschancen von Migrantenkindern
Puppe, die man sich vorstellen kann. Sie stark verbessern, wenn sie einen Ganz-
trägt einen roten Hut, und wenn kein tagskindergarten besuchen. Ohne Kita
Erwachsener mithört, kann sie sogar schafften es später nur neun Prozent auf
sprechen. ein Gymnasium, mit Kita 39 Prozent.
Schröder hat den Auftritt gut vorberei- Investitionen in die Infrastruktur sind
tet, um in dieser wichtigen Woche den einem Gutschein-System überlegen, weil
Medien ein Bild der Fürsorglichkeit zu sie unmittelbar bei den Kindern ansetzen.
liefern. Sie würde gern ihr Image verbes- Sie stigmatisieren die Betroffenen nicht,
sern. Zu ihrem Bedauern gilt sie als allzu im Gegensatz zu einer Bedürftigenkarte
zahlenfixierte Ministerin, was freilich ein wie dem Berlinpass, der bei Jugendlichen
absurder Vorwurf ist, wenn man bedenkt, unter der Bezeichnung „Asi-Card“ fir-
wie leichtfertig das Geld um sie herum miert.
verplempert wird. Die Politik in Deutschland müsste dar-
Laut Bundesregierung kostet die Fami- aus den Schluss ziehen, möglichst jeden
lienpolitik etwa 115 Milliarden Euro im verfügbaren Euro in Kitas und Schulen
Jahr, das entspricht gut einem Drittel des zu stecken. Damit wenigstens jedes dritte
Bundesetats. Es gibt ungefähr 150 ver- Kind in eine Betreuungseinrichtung ge-
schiedene Leistungen. Die Kommunen hen kann, müssten in den alten Bundes-
sind für die Kinder- und Jugendhilfe zu- ländern zusätzlich 320 000 Kita-Plätze ent-
ständig, die Länder für die Schulpolitik, stehen. Doch der von der Großen Koali-
der Bund für das Elterngeld. Ob das Geld
sinnvoll ausgegeben wird, weiß niemand. Die Familienpolitik der
Aus einer genauen Kosten-Nutzen-Be-
wertung, die Schröders Amtsvorgängerin Bundesregierung steckt voller
von der Leyen vor vier Jahren ankündig- Widersprüche.
te, ist bis heute nichts geworden.
Die OECD hat ermittelt, dass Deutsch- tion beschlossene Ausbau ist wegen der
land vergleichsweise wenig Geld für Kin- schlechten Haushaltslage bei Kommunen
derbetreuung ausgibt. Überdurchschnitt- und Ländern ins Stocken geraten. Schles-
lich viel fließt direkt an die Eltern, vor wig-Holstein hat das bislang kostenfreie
allem durchs Kindergeld. Schwarz-Gelb letzte Kindergartenjahr vor der Einschu-
hat den Satz erst vor neun Monaten auf lung soeben abgeschafft – die schwarz-
184 Euro kräftig erhöht. Dazu könnte gelbe Landesregierung will sparen. Ham-
man sich in Nachbarländern einiges ab- burg kürzt derweil bei den Kinderzähnen.
schauen. Der schulzahnärztliche Dienst muss ab
sofort mit 370 000 Euro im Jahr weniger

K urz nach der Geburt ihres Sohnes


Christian bekam Dänemarks Kron-
prinzessin Mary schon Besuch vom Ju-
auskommen.
Wie widersprüchlich auch die Politik
der Bundesregierung ist, zeigt sich beim
gendamt. Eine Kinderkrankenschwester geplanten Betreuungsgeld. Im Prinzip be-
erkundigte sich, ob Mutter und Kind steht Einigkeit darüber, dass es Kindern
wohlauf seien, so ist es in Dänemark üb- aus der Unterschicht hilft, wenn sie mög-
lich. Das Ziel lautet, Problemfälle zu er- lichst früh in eine Kita gehen. Ab 2013 je-
kennen und den Familien so früh wie doch sollen ihre Eltern jeden Monat 150
möglich Hilfe anzubieten. Für Königshäu- Euro Belohnung bekommen, wenn sie ihr
ser wird keine Ausnahme gemacht. Kind eben nicht in eine Tagesstätte brin-
In Finnland besuchen eigens ausgebil- gen, so steht es im Koalitionsvertrag.
dete Gesundheitspflegerinnen die wer- Claudia Ullenboom, Direktorin der Her-
denden Mütter sogar in der Schwanger- mann-Gmeiner-Grundschule in Monheim,
schaft. Es besteht ein Rechtsanspruch auf sagt, sie sei froh über jede Stunde, die die
Ganztagsbetreuung von Kleinkindern. In Kinder in der Klasse verbringen anstatt zu
den Schulen herrscht von morgens bis Hause vor der Glotze. Ab halb acht gibt
nachmittags Betrieb. es Frühstück, am Nachmittag Spiele, Sport
Als die Finnen Anfang der neunziger und Hausaufgabenbetreuung.
Jahre kurz vor dem Staatsbankrott stan- Mit Schulzahnärztin Antje Krayer hat
den, kürzten sie ihre Sozialleistungen, vor Ullenboom neulich auch darüber geredet,
allem die Frühverrentungsprogramme, ra- wie sie einem Kind wie Sven helfen könn-
dikal zusammen und steckten das Geld te. Sie haben einen Plan: Statt Deutsch-
in Kindergärten und Schulen. Der Erfolg oder Mathe-Unterricht werden in der
stellte sich rasch ein. In den Pisa-Ver- Klasse morgens jetzt erst mal die Zähne
gleichsstudien zum Bildungsniveau belegt geputzt. 
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Wirtschaft

SPI EGEL-GESPRÄCH

„Das Ganze ist ein Kraftakt“


VW-Chef Martin Winterkorn, 63, über sein Ziel,
Toyota als größten Autohersteller der Welt abzulösen, die Risiken der Porsche-Übernahme
und das Erbe Ferdinand Piëchs
SPIEGEL: Herr Winterkorn, sind Sie dem
Größenwahn verfallen?
Winterkorn: Wie kommen Sie denn darauf? Die weltweit größten
SPIEGEL: Der VW-Konzern will den Absatz Automobil-Hersteller
auf zehn Millionen Fahrzeuge fast ver- Produzierte Fahrzeuge
doppeln. Sie wollen Toyota als größten 2009, in Millionen
Autohersteller der Welt ablösen. Sie bau- 1. Toyota 7,2
en neue Fabriken in China, in den USA
und in Indien. Einschließlich Porsche ha- 2. General Motors 6,5
ben Sie schon acht Pkw-Marken. Dazu 3. Volkswagen 6,1
kommen drei Lastwagenmarken und jetzt 4. Ford 4,7
auch noch eine Beteiligung an Suzuki.
Winterkorn: Wir haben uns in der Tat für 5. Hyundai 4,6
die Zeit bis 2018 sehr ehrgeizige Ziele ge- 6. Peugeot Citroën 3,0
setzt – aber sicher keine größenwahnsin-
nigen. Erstens wollen wir der attraktivste 7. Honda 3,0
Arbeitgeber sein, zweitens die höchste 8. Nissan 2,7
Kundenzufriedenheit erreichen und drit- 9. Fiat 2,5
tens eine Umsatzrendite vor Steuern von
über acht Prozent erzielen. Wenn wir die- 10. Suzuki 2,4
se drei Ziele erreicht haben, ergibt sich
das vierte, größter Autohersteller der
Welt zu werden, von allein.
SPIEGEL: Ganz von allein wohl kaum.
Winterkorn: Natürlich nicht. Wir bauen
nicht nur neue Fabriken, wir wollen auch
unsere vorhandenen Kapazitäten, bei-
spielsweise in Russland, erweitern. Wir
wollen Porsche integrieren und unsere
Partnerschaft mit Suzuki weiter voran-
treiben. Das sind alles keine Selbstläufer.
Unser Programm erfordert höchste Kon-
zentration. Wir sind uns bewusst, wie am-
bitioniert unsere Ziele sind.
SPIEGEL: Konzerne, die ebenfalls mal die
globale Nummer eins waren oder werden
wollten, sind grandios gescheitert. Gene-
ral Motors konnte nur durch den ameri- ARNE WEYCHARDT

kanischen Staat gerettet werden. Daim-


lerChrysler versenkte mit seiner Welt AG
Milliarden. Toyota ist zu schnell gewach-
sen und brach ein. Schrecken Sie diese
Beispiele nicht ab? VW-Chef Winterkorn: „Der nächste große Sprung ist das Elektroauto“
Winterkorn: Überhaupt nicht, denn wir ar-
beiten anders als beispielsweise General dung bereitstehen, rausholen und über- nanzkrise profitabel geblieben sind und
Motors. GM wurde sehr stark über Fi- prüfen. Ich treffe mich mit Händlern. Da jetzt sogar noch mal deutlich zulegen bei
nanzkennziffern geführt, die man den bekommen Sie ein ganz anderes Gespür Absatz und Gewinn.
einzelnen Marken vorgegeben hat. dafür, was im Konzern läuft, als wenn Sie SPIEGEL: Wir haben den Eindruck, dass
Selbstverständlich müssen unsere Marken nur Akten lesen. die schönen Zahlen viele Risiken verber-
auch Renditeziele erfüllen. Aber wir füh- SPIEGEL: Kann sich der Konzernchef um gen. Das größte für den VW-Konzern ist
ren über die Technik. Bei uns fährt der solche Details kümmern? sicher die Übernahme von Porsche für
Vorstand die Autos aller Marken, im Winterkorn: Er muss es sogar. Das kostet insgesamt zwölf Milliarden Euro.
Sommer und im Winter, mal in Afrika, viel Kraft, aber es ist die einzige Mög- Winterkorn: Ich sehe in der Integration von
mal in Skandinavien. Da sehen wir, wo lichkeit, einen so komplexen Konzern zu Porsche vor allem eine große Chance. Wir
es noch hakt. Ich selbst mache Stichpro- führen. Und das mit Erfolg. Es gibt nicht kaufen ja nicht die Katze im Sack. Wir wis-
ben und lasse Fahrzeuge, die zur Verla- viele Autohersteller, die auch in der Fi- sen, was wir bekommen: eine ikonenhafte
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Wirtschaft

Sportwagenmarke mit weltweit einmali-


gem Image und eine Handelsorganisation,
Der VW-Porsche-Konzern tionschef des VW-Konzerns geholt. Er
soll seine bei Porsche erreichten Erfolge
die Porsche Holding in Salzburg, die äu- VERTEILUNG DER STIMMRECHTSAKTIEN in Prozent* auf Volkswagen und Audi übertragen.
ßerst erfolgreich und profitabel arbeitet. Porsche Automobil Nieder- Katar Porsche Wir bauen in den USA gerade ein neues
SPIEGEL: Dennoch haben im VW-Auf- Holding sachsen GmbH Werk, wir wollen dort angreifen. Da steht
sichtsrat zwei Vertreter der Kapitalseite das Thema Qualität ganz oben auf der
gegen die Porsche-Übernahme gestimmt. 50,74 20,01 17,0 2,37 Agenda.
Das ist einmalig in einem Dax-Konzern. SPIEGEL: Sie haben Ihren bisherigen Pla-
Warum konnten Sie diese beiden Auf- BETEILIGUNGEN UMSATZ GEWINN/ nungschef Matthias Müller zum Porsche-
sichtsräte nicht überzeugen? in Prozent in Mrd. € VERLUST Boss befördert – weil er in Zuffenhausen
Winterkorn: Das weiß ich nicht. Die ratio- 2009 in Mio. € treu Ihren Anordnungen folgt?
nalen Themen waren sämtlich geklärt, 2009 Winterkorn: Da kennen Sie Herrn Müller
die Fragen der Aufsichtsräte alle sauber Pkw 65,4 561 aber schlecht. Der hat mir schon als Pla-
100
beantwortet. nungschef in Wolfsburg widersprochen,
SPIEGEL: Vielleicht sehen sie durch die Por- wenn er anderer Meinung war. Jetzt setzt
sche-Übernahme große Risiken auf VW 99,55 29,8 1604 er sich für Porsche ein. Der nächste 911er,
zukommen. Es gibt Schadenersatzforde- der nächste Boxster, das werden Traum-
rungen in Milliardenhöhe gegen Porsche, autos. Dazu kommt noch ein neuer Ge-
weil sich Anleger betrogen fühlen durch 19,89 19,7 230 ländewagen, ein kleiner Bruder des Ca-
deren Börsenmanöver. Wie groß ist die yenne, der Cajun heißen könnte. Wir
Gefahr dadurch für VW?
29,9** 12,0 504 werden die Marke Porsche noch mehr
Winterkorn: Ich sehe überhaupt keine Ge- zum Strahlen bringen.
fahr für den Volkswagen-Konzern. Die SPIEGEL: Gibt es da Versäumnisse? Waren
Ansprüche richten sich ja gegen die Por- 100
7,1 203 Porsche-Manager zu sehr mit der geplan-
sche Automobil Holding SE. Selbst wenn ten VW-Übernahme beschäftigt, um sich
ein Gericht Schadenersatzansprüche an- 6,4 236 noch ums Tagesgeschäft zu kümmern?
erkennen sollte, wovon ich absolut nicht 70,94** Winterkorn: Es fällt doch auf, dass Porsche
ausgehe, wäre VW nicht betroffen. Wir Nutz- kaum noch auf den Titelseiten der großen
haben ja eine Beteiligung am operativen 100 fahr- 5,3 313 Automobilzeitschriften vertreten war.
Geschäft, nämlich von 49,9 Prozent an zeuge Früher sah man dort einen Porsche, wenn
der Porsche AG. bei dem Modell auch nur eine neue
5,2*** 600***
SPIEGEL: Porsche- und VW-Manager haben 49,9 Bremsscheibe eingeführt wurde. An sol-
sich während der Übernahmeschlacht chen Dingen spürt man, dass dort eher
heftig bekämpft. Jetzt sollen sie friedlich 4,6 – 339 Finanzthemen im Zentrum des Interesses
zusammenarbeiten. Wie soll das funktio- 100 standen als das Produkt, das Auto.
nieren? SPIEGEL: Bei VW war das offenbar auch
Winterkorn: Ich habe unseren Führungs- 0,6 – 194 der Fall. Es gibt viele Baustellen. Fangen
100
kräften gesagt: Wir agieren in Stuttgart wir mit Seat an. Die Marke hat seit 2005
nicht so wie damals einige Porsche-Leute 0,2 – 35 knapp 800 Millionen Euro Verlust ge-
bei uns. Wir wollen und werden zusam- 100 macht. Wie konnte es dazu kommen?
menarbeiten. Das funktioniert bereits her- keine keine Winterkorn: Die Situation bei Seat hat
vorragend. Alles andere ist Vergangenheit. Angaben Angaben nichts mit der Porsche-Geschichte zu tun.
Und ich spüre auch an Kleinigkeiten, dass 100 Bei Seat wurden schon lange vorher Feh-
es gut anläuft. Beim jüngsten Top-Manage- * Sonstige: 9,87%; ** Stimmrechtsaktien; ler in der Produktentwicklung gemacht.
ment-Meeting haben wir exzellente Ge- *** Geschäftsjahr 2009/10, die ersten neun Monate Aber wir stellen deshalb die Marke Seat
spräche mit den Porsche-Managern ge- nicht mal eben ein. Die Marke zahlt auch
führt – das war ein langer Abend. in den Konzern ein. Sie nimmt 340 000
SPIEGEL: Porsche-Manager blieben bis in Motoren und Getriebe ab. Sie hat 340 000
die frühen Morgenstunden an der Bar. Kunden jährlich, die wir nicht einfach
Wahrscheinlich haben sie sich den Frust aufgeben wollen. Deshalb soll Seat jetzt
runtergespült. Immerhin wurde fast der mit neuen Modellen aus dem tiefen Tal
ganze Porsche-Vorstand ausgewechselt. herausfahren.
Winterkorn: Dafür gibt es ganz unter- SPIEGEL: Bis 2012 soll Seat wieder Gewin-
schiedliche Gründe. Der Vorstandschef ne erwirtschaften. Was machen Sie, wenn
Wendelin Wiedeking und der Finanzchef Seat das nicht schafft?
Holger Härter sind gegangen, aber es gibt Winterkorn: Falls es dazu kommen sollte,
ja auch die andere Seite: Wiedekings was ich absolut nicht glaube, dann werde
Nachfolger Michael Macht ist aufgestie- ich Ihnen die Frage 2012 beantworten.
gen in den VW-Konzernvorstand. Er hat- SPIEGEL: Nächste Baustelle: Audi. Die
DANIEL RAUNIG / AGENCY PEOPLE IMAGE

te als Produktionschef und Vorstandschef Marke wirbt mit dem Slogan „Vorsprung
bei Porsche hervorragende Arbeit geleis- durch Technik“. Doch damit verbinden
tet. Porsche ist in den USA in Qualitäts- immer mehr Menschen BMW. Die
Rankings die Nummer eins … Münchner gelten als führend in Sachen
SPIEGEL: … während Volkswagen und Spritspar-Technik. Warum geriet Audi auf
Audi abgeschlagen auf den hinteren Rän- diesem wichtigen Feld in Rückstand?
gen liegen … Winterkorn: Sie müssen Image und Fakten
Winterkorn: … ja, und darüber bin ich auch trennen. BMW hat es offenbar geschickt
sehr verärgert. Unter anderem deshalb Ehepaar Ursula und Ferdinand Piëch verstanden, bei Ihnen und anderen das
haben wir ja Herrn Macht als Produk- „Kritische Fragen“ Image zu erwerben, die eigenen Modelle
110 D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0
PETER TREBITSCH / PICTURE ALLIANCE / DPA
Porsche-918er-Präsentation auf der Autoshow in Peking 2010: „Wir kaufen ja nicht die Katze im Sack“

seien besonders umweltfreundlich. Aber nisch hochwertigen, aber billigeren Mo- türlich habe ich das mit dem Aufsichts-
Sie lesen doch auch die Testberichte, nach dellen Konkurrenz. Bentley hat einen ratschef diskutiert. Ein Vorstandsvorsit-
denen ein Audi mit V6-Dieselmotor we- Verlust von 200 Millionen Euro eingefah- zender ist stets in der Gefahr, dass es zu
niger Treibstoff verbraucht als ein Hy- ren. Zugleich müssen Sie die Lastwagen- viele Jasager gibt. Deshalb bin ich froh,
bridmodell von BMW. firmen des Konzerns, MAN und Scania, dass ich in Herrn Piëch einen Gesprächs-
SPIEGEL: Dennoch stellen viele Unterneh- dazu bringen, endlich zu kooperieren. partner habe, der das Automobilgeschäft
men ihren Top-Managern nur noch Kommt es Ihnen manchmal selbst so vor, wie kein Zweiter versteht und kritische
Dienstwagen mit Hybridantrieb zur Ver- als jonglierten Sie mit zwölf Bällen und Fragen stellt.
fügung. Die S-Klasse von Mercedes-Benz ständig drohten einige runterzufallen? SPIEGEL: Piëch hat sein Erbe geregelt. Er
und den 7er von BMW gibt es mit Hy- Winterkorn: Das Ganze ist natürlich ein hat es in Stiftungen eingebracht, die es
bridantrieb, den Audi A8 noch nicht. Kraftakt. Wir haben auch aus diesem seinen Kindern fast unmöglich machen
Winterkorn: Es wird ihn demnächst auch Grund den Vorstand erweitert, zusätz- werden, die Anteile zu verkaufen. Aber
als Hybridfahrzeug geben, wie übrigens liche Top-Manager verpflichtet und man- die große Mehrheit der Anteile hält die
den neuen A6 ebenfalls. Die ganze Auf- che Stelle neu besetzt. Škoda hat einen Familie Porsche. Was ist, wenn deren
regung um den Hybrid wird sich legen, neuen Chef und den Kurs schon korri- Nachkommen die VW-Aktien beispiels-
wenn man erkennt, dass dies eine Brü- giert. Ein Vorstand kümmert sich jetzt weise an chinesische Konkurrenten ver-
ckentechnologie ist. Der nächste große nur darum, dass die Lastwagenmarken kaufen wollen?
Sprung ist das Elektroauto. enger zusammenarbeiten. Sie sehen, wir Winterkorn: Ich bin sicher, dass die Familie
SPIEGEL: Damit Elektrofahrzeuge eine aus- gehen die Themen an. Porsche ebenso wie die Familie Piëch
reichende Reichweite haben, müssen die SPIEGEL: Und dann haben Sie mit Ferdi- Vorsorge treffen wird. Sie wird sicher ver-
Karosserien leichter werden. Aber auch nand Piëch auch noch einen sehr aktiven hindern wollen, dass der VW-Konzern
beim Leichtbau, jahrelang eine Domäne Aufsichtsratschef. Wie ist die Arbeitstei- abhängig wird von den Gefühlsregungen
von Audi, setzt sich BMW an die Spitze. lung zwischen Ihnen: Piëch entscheidet, einzelner Familienmitglieder. Für mich
Die Münchner entwickeln Modelle mit und Sie setzen dann um? ist Bosch ein Vorbild dafür, wie ein Fa-
Kohlefaserkarosserie, die deutlich weni- Winterkorn: Das ist ein altes Vorurteil, milienunternehmen solide aufgestellt
ger wiegen als Audis Aluminiumautos. mehr nicht. Ich nenne Ihnen mal ein Bei- werden kann für die Zukunft. Bosch ge-
Winterkorn: Audi setzt schon lange Teile spiel, wie es wirklich läuft. Eine so wich- hört einer Stiftung und ist eines der best-
aus Kohlefasern ein, beim A8 beispiels- tige Entscheidung wie die Beteiligung an geführten Unternehmen der Welt.
weise. Lamborghini hat eine komplette Suzuki fälle ich nicht im Alleingang. Na- SPIEGEL: Sie selbst sind jetzt 63 Jahre alt.
Karosserie aus Kohlefasern. Diese Tech- Ihr Vertrag läuft noch bis Ende 2011. Ge-
nik beherrschen wir. Von unserem Wett- hen Sie dann in Rente, oder werden Sie
bewerber gibt es bislang Ankündigungen. weitermachen, wenn der Aufsichtsrat den
Die Kollegen müssen den Beweis erst Vertrag noch mal verlängert?
noch erbringen, dass sie ein Auto für den Winterkorn: Es macht mir Spaß, ich fühle
Massenmarkt mit Kohlefaserkarosserie zu mich fit und wäre deshalb nicht abgeneigt,
vertretbaren Kosten herstellen können. weiterzuarbeiten, wenn der Aufsichtsrat
ARNE WEYCHARDT

SPIEGEL: Sie müssen sich auch noch um das wünscht. Nicht nur, weil ich den Job
Probleme bei Škoda und Bentley küm- gerne mache, sondern auch, weil es viele
mern. Škoda macht Volkswagen mit tech- Themen gibt, bei denen Kontinuität in
der Spitze hilfreich ist.
* Mit Armin Mahler und Dietmar Hawranek in der Winterkorn, SPIEGEL-Redakteure* SPIEGEL: Herr Winterkorn, wir danken Ih-
Wolfsburger Konzernzentrale. „Aus dem tiefen Tal herausfahren“ nen für dieses Gespräch.
D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0 111
Wirtschaft

Geht es nach dem Bahn-Chef, be- FDP im Koalitionsvertrag darauf ver-


VERKEHR
kommt DB Netze künftig sogar eine noch ständigt hatten, mit den Netzerlösen Ei-

Auf dem größere Rolle. Grube will die Netztochter


zum großen Gewinnbringer der gesamten
Bahn ausbauen – das Gegenteil der ur-
senbahnstrecken zu erneuern und neu
zu bauen, bleibt dafür nicht viel übrig:
Die Gewinne sollen nicht investiert, son-

falschen Gleis sprünglichen Koalitionsabsichten.


Derzeit steuert das Schienennetz mit
558 Millionen Euro den zweithöchsten
Betrag zum Gewinn des Gesamtkonzerns
dern abgeführt werden. Investitionen tä-
tigt DB Netze nur in das bestehende
Netz.
Die Bundesregierung kennt die Fehler
Bahn-Chef Grube will mit seiner
bei; mehr verdient nur der Regionalver- dieser Konstruktion, sträubt sich aber ein-
Netztochter viel Geld verdienen, kehr. Wie das „streng vertraulich“ einge- zugreifen. Der Grund: Finanzminister
aber die Gewinne nicht ins stufte Dokument der Bahn zeigt, will „DB Wolfgang Schäuble (CDU) will mitkassie-
Schienennetz investieren – zum Netze Fahrweg“ den Gewinn vor Zinsen ren, er hat durchgesetzt, dass die Bahn
Schaden der privaten Konkurrenz. und Steuern bis zum Jahr 2014 auf 1,1 Mil- künftig eine Dividende zahlen muss. Ab
liarden Euro verdoppeln. Im Verhältnis 2011 soll der Konzern jährlich eine halbe

V
erkehrsminister Peter Ramsauer zum eingesetzten Kapital soll der Gewinn Milliarde Euro abführen, um Löcher im
(CSU) und Bahn-Chef Rüdiger von 3,3 auf 6,2 Prozent steigen. Bundeshaushalt zu stopfen. Der Bund hat
Grube geben sich gern wie Win- Das ehrgeizige Unternehmensziel ist also jedes Interesse an einem guten Kon-
netou und Old Shatterhand: als Blutsbrü- politisch riskant: Ramsauer müsste die zernergebnis – auch wenn es zu Lasten
der, so wie jüngst auf der Berliner Bahn- Trassenpreise eigentlich so niedrig wie des Schienen-Wettbewerbs geht.
Messe Innotrans. Gerade hat Zwar lässt Verkehrsminister
Ramsauer dort vor dem Nachbau Ramsauer derzeit prüfen, ob Netz-
der altehrwürdigen Dampflok sparte und Bahn-Holding nicht
Adler einen Förderbescheid in doch stärker getrennt werden kön-
Millionenhöhe für moderne Die- nen, wie im Koalitionsvertrag vor-
selhybrid-Antriebe überreicht, gesehen. Doch Ergebnisse werden
da bedankt sich Grube schon mit frühestens Ende Oktober erwar-
überschwänglichem Lob. tet. Große Änderungen, so ist zu
„Kongenial“ sei das mit Ram- hören, sind nicht geplant.
sauer. „Wir ticken gleich“, sagt Auch ein Versuch der Regie-
Grube und lässt die Hand seines rungsfraktionen, eine stärkere
Gönners nicht mehr los. Trennung im Rahmen des Ener-
Der Bahn-Chef weiß, was ein giekonzepts zu verankern, schei-
gutes Verhältnis zum Verkehrs- terte. Am vergangenen Donners-
minister wert sein kann. Der tag strich Kanzleramtschef Ro-
CSU-Mann ist sein wichtigster nald Pofalla (CDU) den Passus
Garant, dass er Wettbewerb kurzerhand. Der Vorschlag ge-
kaum fürchten muss und auch fährde die Dividende des Bun-
künftig dicke Monopolgewinne des, so seine Begründung.
einstreichen kann. Damit droht der nächste Koa-
Dafür sorgt die heutige Struk- litionskrach, denn die FDP be-
tur der Bahn, der „integrierte steht darauf, den Beherrschungs-
Konzern“ aus Schienennetz und und Gewinnabführungsvertrag zu
Zugverkehr. Zwar sind die bei- kappen. „Die Finanzierungsver-
ODD ANDERSEN / AFP (GR.); HANS-CHRISTIAN PLAMBECK (KL.)

den Bereiche in separate Tochter- quickungen staatsnaher Teile der


firmen ausgegliedert. Doch dar- Bahn wie DB Netze und staats-
über sitzt eine Holding, die ihre ferner Teile wie der Logistikspar-
Filialen an der kurzen Leine füh- te müssen getrennt werden“, for-
ren darf, vor allem den lukrativen dert FDP-Verkehrsexperte Patrick
Monopolbereich für Schie- Döring. Viele Probleme wären
nen und Bahnhöfe („DB auf einen Schlag gelöst, glaubt er.
Netze“). Alles, was die Profitieren würde der Kunde.
Tochter verdient, muss sie Die Bahn hält an ihren Ge-
an die Konzernmutter wei- winnzielen fest. „Dass die DB
terleiten. Das regelt ein Netz AG Gewinne machen will,
„Beherrschungs- und Ge- ist für ein Wirtschaftsunterneh-
winnabführungsvertrag“. men normal. Ziel der Bahn-Re-
Zentrales Ziel von Uni- Minister Ramsauer (l.), Bahn-Chef Grube* form war doch gerade der Ab-
on und Liberalen nach der „Wir ticken gleich“ schied von der Beamten-Bahn“,
Wahl war es, den Verbund sagt ein Konzernsprecher.
zu lockern und mehr Wettbewerb auf die möglich halten, vor allem um die Schiene Einen ersten Schritt zur Trennung gab
Schiene zu bringen. Weit ist die Regierung attraktiv für den stetig anwachsenden Gü- es übrigens vor wenigen Monaten. So
damit nicht, im Gegenteil: Wie ein interner terverkehr zu machen. Doch die Gewinn- darf sich DB Netze künftig nicht mehr
Vermerk aus Grubes Unternehmen belegt, pläne der Bahn zeigen, dass DB Netze von Juristen der Konzernholding beraten
untergräbt die Bahn das Vorhaben – und mehr kassieren möchte. lassen, wenn es um Netzzugang und Tras-
Ramsauer lässt das Staatsunternehmen ge- Grubes Plan schadet letztlich dem Aus- senentgelte für Bahn-Konkurrenten geht.
währen. An der lukrativen Verbindung, so bau der Schiene. Obwohl sich Union und Durchgesetzt hat das freilich nicht die
ist aus seinem Ministerium zu hören, soll Politik, sondern das Bundesverwaltungs-
vorerst nichts geändert werden. * Am 22. September auf der Berliner Messe Innotrans. gericht. PETER MÜLLER

112 D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0
„Job-Speed-Date“ in Wolfsburg
Schneller Check und weg

Grau sagt. BA-Vorstand Alt erklärt, es


gehe ja „nicht um eine schnelle Vermitt-
lung, sondern um eine schnelle Kontakt-
aufnahme“.
Graus erste 142 Aspiranten waren
schon untergekommen, bevor die Power-
Paarungen überhaupt starteten. Und die
Mischung aus Bewerbungsseminar und
Motivationstraining, die Übung, sich
knapp und möglichst gekonnt vorzustel-
len, helfe ja auch bei anderen Bewerbun-
gen. Zwar koste es Zeit und Geld, die
Arbeitslosen auf solche meist halbtägigen
Veranstaltungen vorzubereiten. „Aber
unter dem Strich lohnt es sich“, sagt Grau
und rechnet vor: Selbst wenn die Vermit-
telten im Schnitt nur drei Monate in Ar-
beit blieben, spare das rund 1,2 Millionen
Euro. Die meisten behielten ihre neuen
Stellen indes länger. Dagegen habe der

STEFAN SOBOTTA
Speed-Date-Termin mit allem Drum und
Dran nur 50 000 Euro gekostet.
Graus Vermittlungsquote lag deutlich
über dem Normalwert. Allerdings hatte
und Argen in ganz Deutschland ihre Hoff- er beim ersten Mal „die Unabhängigen,
ARBEITSMARKT
nung setzen. Mal stellen sich in Chemnitz Motivierten“ eingeladen – nicht die

Casting für nur Ingenieure und Techniker den Ak-


kord-Gesprächen mit potentiellen Arbeit-
gebern. Mal begutachten Firmen in Gü-
Schwervermittelbaren, Suchtkranken
oder total Unwilligen. Trotzdem scheinen
sich die Schnellkontakte für Agenturen,

Arbeitslose tersloh künftige Auszubildende. In Ham-


burg wurden beim Speed-Dating bereits
Lkw-Fahrer unter die Lupe genommen,
in Dortmund gab’s einen Akademiker-
Jobsuchende, aber auch die Arbeitgeber
insgesamt zu lohnen.
Muhammet Akdere, Regionaldirektor
einer Hotelkette, ist so begeistert von
Beim „Job-Speed-Dating“ führen
Reigen. seiner „fast 20-prozentigen Trefferquote“,
Unternehmen und Arbeitslose Gesamtzahlen fürs Bundesgebiet exis- dass er das Experiment in Berlin wieder-
Vorstellungsgespräche im Akkord. tieren noch nicht. Zu neu ist das Experi- holen möchte – dann direkt als Bewer-
Show oder Chance? ment. Aber es sei bereits ein „Erfolgs- bercasting für sein dortiges Hotel.
Die Agenturen glauben daran. schlager“, sagt Heinrich Alt, Vorstand bei Der schnelle Check und weg – das ge-
der Bundesagentur für Arbeit in Nürn- fällt Akdere: Eine Bewerberin hat sich

S
abine Eßmann ist 50 und hat nicht berg. Manche Agenturen testen noch, an- erst in die Hand gehustet und damit dann
viel Erfahrung mit Speed-Dating. dere bieten die Aktionen schon öfter an. die des Chefs schütteln wollen. „Die ha-
Entsprechend nervös läuft sie am Die Job-Shows liegen einerseits im ben wir gleich aussortiert“, sagt Akdere.
Donnerstag vergangener Woche in der Trend – und widersprechen zugleich ei- Gute Manieren seien im Hotelgeschäft
VIP-Lounge des Wolfsburger Fußball- nem anderen: Denn während in einem schließlich besonders wichtig.
stadions auf. Es geht sofort zur Sache: Modellversuch einige Konzerne wie Am Ende profitieren beim Speed-Date
Woher? Wie alt? Was läuft so? Es muss die Deutsche Telekom oder Procter & jene, die sich selbst gut verkaufen. „Wer
schnell gehen. Die Fragen stellt eine junge Gamble Bewerbungen derzeit nur noch das nicht kann, fällt durch die Maschen“,
Blondine, aber die sucht auch keinen Part- völlig anonymisiert zulassen, um nicht in sagt Johannes Jakob, Arbeitsmarktexper-
ner fürs Leben, sondern neue Mitarbeiter den Ruch der Diskriminierung zu geraten, te beim Deutschen Gewerkschaftsbund.
für ihr Ingenieurbüro. weist das Job-Dating in die andere Rich- Doch er sieht auch Chancen: Der persön-
Innerhalb von sechs Stunden lernen tung: Dort zählen gnadenlos Augenschein liche Eindruck könne Schwächen in den
etwa 600 Jobsuchende 45 Firmen ken- und direkter Kontakt. Bewerbungsmappen „korrigieren“. Vor
nen – und umgekehrt. Privatsphäre gibt’s In wenigen Minuten wird auch am „einer Art Schaulaufen“ warnt dagegen
hier nicht. Am Nachbartisch hört man vergangenen Donnerstag in Wolfsburg Ver.di-Kollegin Elke Hannack. „Der hohe
den Konkurrenten erzählen. Nach jeweils das Gröbste geklärt: Der erste Eindruck Konkurrenzdruck vor Ort kann bei Ar-
zehn Minuten ist der Nächste dran. Dann entscheidet. Zwar gibt es vor Ort keine beitslosen schnell zu Frustration führen.“
dröhnt die Hymne des VfL Wolfsburg fertigen Verträge, aber wenn der Erstkon- Sabine Eßmann hatte bei ihrem ersten
durch den stickigen Raum, und es wird takt erfolgreich ist, folgen oft weitere Date-Abenteuer keinen Erfolg. Die ge-
gewechselt. So sieht das aus, wenn Ar- Gespräche, Aushilfsjobs und schließlich lernte Apothekenhelferin war zuletzt in
beitsagenturen „Neuland betreten“, wie dauerhafte Beschäftigungen. der Kundenbetreuung aktiv. Seit zwei
der zuständige Behördenleiter Gerald So konnte die Arbeitsgemeinschaft für Jahren ist sie ohne Job und lebt von Hartz
Witt aus Helmstedt es nennt. Beschäftigung München (Arge) rund um IV. Am Ende geht sie nur mit ein paar
Der Kurzzeit-Kontakthof ist der zur- das erste lokale Speed-Dating von knapp neuen Bewerbungsideen nach Hause,
zeit wohl ungewöhnlichste Versuch mo- 1300 Arbeitssuchenden fast die Hälfte ver- nimmt es aber gelassen. Beim normalen
derner deutscher Arbeitsvermittlung. mitteln – wenn auch erst „im Umfeld der Speed-Dating wird ja auch nicht gleich
Und es ist einer, in den Arbeitsagenturen Veranstaltung“, wie Arge-Mann Jakob geheiratet. KIRSTEN KRUMREY

D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0 113
Panorama

ARGENTINIEN

Geknebelte Presse
K urz vor ihrer Reise nach Deutsch-
land, wo sie Argentinien als Gast-
land der Frankfurter Buchmesse präsen-
tieren will, knebelt Präsidentin Cristina
Fernández de Kirchner zu Hause die
Presse. Der jüngste Trick der Peronistin,
die Blätter „Clarín“ und „La Nación“
zum Schweigen zu bringen: eine Klage
gegen deren Eigentümer wegen „Verbre-
chen gegen die Menschlichkeit“ – in ei-
nem Fall, der Jahrzehnte zurückliegt.
Kirchner beschuldigt die Zeitungsverle-
ger, sie hätten in den siebziger Jahren
die einzige Papierfabrik des Landes un-
rechtmäßig und mit Hilfe der damaligen
Militärjunta erworben. Doch selbst der
Bruder eines der Vorbesitzer der Fabrik
bescheinigt, der Verkauf sei „zu den bes-
ten Bedingungen und in Freiheit“ er-
folgt. „Clarín“, die größte spanischspra-
chige Tageszeitung in Lateinamerika,
und „La Nación“ waren beim Ehepaar
Kirchner in Ungnade gefallen, als sie vor
zwei Jahren deren Agrarpolitik kritisier-
ten. Heute haben nur noch 36 Prozent
der befragten Argentinier eine gute Mei-

LA VALLE / PICTURE-ALLIANCE / DPA


nung von der Präsidentin. Da sie die
Presse für den Vertrauensverlust verant-
wortlich macht, will sie nun obendrein
per Gesetz die Produktion und Zutei-
lung von Papier als „Gut von öffent-
lichem Interesse“ ganz unter staatliche Fernández de Kirchner
Kontrolle stellen.

IRAN heit wurde er erst gewählt, nachdem er


ausdrücklich Redlichkeit versprochen
„Will Amano eine Katastrophe?“ hatte. Die aber vermissen wir. Herr
Amano muss aufpassen, dass er durch
Der Generaldirektor Land, haben wir zehn Plätze gefunden. seine Parteinahme für eine bestimmte
der iranischen Atom- Das heißt nicht, dass wir dort morgen Politik nicht seine Legitimität verliert.
energiebehörde, Ali schon Fabriken bauen. Möglicherweise SPIEGEL: Er weist nur deutlicher auf Irans
ATTA KENARE / AFP

Akbar Salehi, 61, über starten wir im Frühjahr mit dem Bau Verfehlungen hin als sein Vorgänger, der
den Streit mit dem einer Anlage. Wenn es so weit ist, wer- Ägypter Mohammed ElBaradei.
Chef der internationa- den wir das Projekt bekanntgeben. Salehi: Amano wärmt nur alte Vorwür-
len Nuklearaufsicht SPIEGEL: Aber im Streit um die Anrei- fe wieder auf. Und wenn wir zwei In-
cherung von Uran zu zivilen Zwecken spektoren ablehnen, was unser Recht
SPIEGEL: Erneut haben Exil-Oppositio- lenken Sie weiterhin nicht ein? ist, stellt er das als mangelnde Koope-
nelle eine geheime Anlage zur Uran- Salehi: Wir wollen keinen Konflikt pro- ration dar. Diesen Ton lassen wir uns
anreicherung öffentlich gemacht. Sind vozieren. Ich bin zur Generalkonfe- nicht gefallen.
Sie nach Wien gekommen, um der renz der IAEA gekommen, um Iran als SPIEGEL: Klingt da die Drohung an, die
Internationalen Atomenergiebehörde engagiertes Mitglied zu vertreten, Kooperation aufzukündigen?
(IAEA) die Arbeit an weiteren unter- trotz der offensichtlichen Voreinge- Salehi: Das ist nur eine freundliche,
irdischen Anlagen zu gestehen? nommenheit des neuen Generaldirek- aber ernste Ermahnung, sich nicht
Salehi: Diese Anschuldigung ist eine tors Yukiya Amano. politisch missbrauchen zu lassen. Wir
Unverschämtheit. SPIEGEL: Was werfen Sie Amano vor? fragen uns: Will Herr Amano irgend-
SPIEGEL: Aber Sie suchen doch schon Salehi: Mit seiner Bewerbung für diesen wem einen Vorwand liefern für einen
nach weiteren Orten, die sich für den Posten war Amano mehrfach geschei- Angriff auf uns? ElBaradei hat für sei-
Bau tief verborgener Labors eignen. tert, obwohl er als Japaner eine mächti- ne sachliche Haltung den Friedensno-
Salehi: Wir prüfen, wo wir Anlagen er- ge Nation vertritt. Viele Staaten hatten belpreis erhalten. Will Amano seinen
richten könnten, die gegen jegliche Be- befürchtet, er werde sich dem Druck Namen mit einem Krieg verbinden?
drohung immun sind. Verteilt über das von außen beugen. Mit knapper Mehr- Will Amano eine Katastrophe?
114 D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0
Ausland
afghanischen Parlamentswahlen am 18. September musste
vier Stunden vor dem geplanten Beginn abgesagt werden –

GAMBARINI / DPA
die inländischen Armeeangehörigen waren nicht angetreten.
Bei der Operation „Weißer Adler“ sollten die gemischten
Streitkräfte in einer von den Taliban beherrschten Gegend
Deutsche Soldaten bei Kunduz westlich des deutschen Camps bei Kunduz mögliche Verste-
cke von Aufständischen finden und Anschläge am Wahltag
A F G H A N I S TA N verhindern. Erst Tage später erfuhr die Bundeswehr, dass
das Verteidigungsministerium in Kabul seinen Einheiten die
„Partnering“ ohne Partner Teilnahme an dem Einsatz verboten hatte. Im Sommer muss-
te bereits die südlich von Kunduz gemeinsam mit der afgha-

D as neue Ausbildungskonzept der Nato, wonach inter-


nationale Einheiten afghanische Sicherheitskräfte in der
Praxis schulen sollen, erleidet bereits in der Startphase er-
nischen Armee durchgeführte Operation „Taohid III“ früher
als geplant eingestellt werden. Denn plötzlich waren die von
Kabul versprochenen 200 Polizisten nicht verfügbar. Das so-
hebliche Rückschläge. Eine gemeinsame Operation von ame- genannte Partnering gehört eigentlich zu den Kernelemen-
rikanischen, deutschen und afghanischen Soldaten zu den ten der neuen Nato-Strategie am Hindukusch.

INDIEN
IRAK
Große Landnahme
W ie China und die Golfstaaten
versucht auch das Schwellenland
Späte Enthüllungen
Indien, sich in Afrika Ackerflächen zu
sichern. Sai Ramakrishna Karuturi,
der weltgrößte Produzent von Schnitt-
rosen, lässt in Äthiopien bereits 10 000
Hektar Land bewirtschaften. Das Land
hat er von der Regierung in Addis
Abeba gepachtet. Auf über 300 000
Hektar soll die Ackerfläche in den
kommenden Jahren anwachsen, Reis,
Mais und Zuckerrohr sollen angebaut
werden. Karuturi beteuert, er wolle
INA / PICTURE-ALLIANCE / DPA (L.); AP (R.)

seine Produkte nicht ausführen, son-


dern in Ostafrika verkaufen. Doch Ent-
wicklungshelfer sehen den Investor
kritisch: Karuturi reiße sich die west-
äthiopische Region Gambela unter
den Nagel. „Agro-Imperialismus“ sei
so etwas. „Es ist die größte Landnah-
me, die Äthiopien je erlebt hat“, be-
hauptet die Anywaa Survival Organi- Asis, Saddam Hussein 2001, durch Anschlag zerstörte US-Botschaft in Nairobi 1998
sation, die gegen den Ausverkauf von
Farmland kämpft. Indiens Industrielle
haben in den vergangenen Jahren
etwa 4,2 Milliarden Dollar in afrikani-
S addam Hussein betrachtete das Terrornetzwerk al-Qaida als „effektive Or-
ganisation“ und freute sich, als Osama Bin Ladens Gefolgsleute 1998 auf
US-Botschaften in Nairobi und Daressalem Anschläge verübten. Zugleich aber
sche Felder investiert. Afrika, heißt es hielt er die Dschihadisten für „Opportunisten“ und „Heuchler“, denen er nie-
beim Verband der indischen Expor- mals trauen würde. Diese Einblicke in Husseins Denken lieferte dessen lang-
teure, sei „das nächste große Ding“. jähriger Außenminister Tarik Asis den USA bereits 2004. Bekannt wurden sie
aber erst vergangene Woche, nachdem Verhörprotokolle des FBI freigegeben
worden waren. Die US-Bundespolizei hatte Asis ausgiebig zu Kontakten zwi-
schen Bagdad und der Qaida befragt. Diese angebliche Zusammenarbeit war
eine der Begründungen der US-Regierung für den Angriff auf den Irak 2003.
Asis erklärte jedoch, er wisse nichts von Anstrengungen der irakischen Regie-
rung, eine Beziehung zu al-Qaida aufzubauen. Der heute 74-Jährige hatte sich
schon 2003 den Amerikanern gestellt und wurde später im Irak zu 22 Jahren
Haft verurteilt. Osama Bin Laden hat die Abneigung des irakischen Diktators
im Übrigen erwidert: Der Tyrann sei als Sozialist ungläubig und damit nicht
vertrauenswürdig. Im Kreise von Gefolgsleuten soll der Qaida-Chef darüber
phantasiert haben, Saddam Hussein selbst von der Macht zu vertreiben. Der
NAMAS BHOJANI

pakistanische Journalist Hamid Mir, der Bin Laden persönlich traf, erinnert
sich an noch deutlichere Worte. So habe Bin Laden den Iraker als „Schänder
der arabischen Welt“ bezeichnet.
Karuturi
D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0 115
Ausland

Parteichef Wilders mit Leibwächtern in Rotterdam: Ein Politiker, wie es ihn in Deutschland bisher noch nicht gibt

E U R O PA

Kontinent der Angst


Von Schweden bis Italien schüren Rechtspopulisten die Furcht vor muslimischen Zuwanderern,
die angeblich die abendländische Kultur bedrohen, und erringen einen Wahlsieg nach dem
anderen. Der Star der Bewegung, der Niederländer Geert Wilders, kommt diese Woche nach Berlin.

E
r ist ein Politiker, der von sich sagt, Art Volksaufstand gegen den Islam, an- Der Mann, der Wilders für Samstag
er habe nichts gegen Muslime, er geführt von rechten Politikern und Publi- dieser Woche nach Berlin eingeladen hat,
hasse nur den Islam. Er ist ein cha- zisten in ganz Europa. Sie stellen sich dar wäre selbst gern ein Wilders. René Stadt-
rismatischer Mann mit wasserstoffblon- als jene, die aussprechen, was sich sonst kewitz, 45, Anzug, Bürstenschnitt, wurde
dem Haar, elegant, eloquent, und man angeblich keiner zu sagen traut: dass die vor kurzem aus der Berliner CDU ausge-
kann sagen, dass er genau der Typ von Muslime Europa unterwanderten und das schlossen, für die er jahrelang als Hinter-
Politiker ist, vor dem die etablierten deut- Abendland gerettet werden müsse. Und bänkler im Abgeordnetenhaus saß, und
schen Parteien sich in diesen Wochen sie sind erfolgreich. er hat eine neue Partei gegründet. Sie
fürchten. heißt „Die Freiheit“ wie die Partei von
Geert Wilders aus den Niederlanden Geert Wilders, den er als Geburtshelfer
ist ein Politiker, wie es ihn in Deutschland geladen hat. Wer sich den prominenten
bisher noch nicht gibt: ein Populist, der Gast anschauen will, muss sich im Inter-
gegen den Islam hetzt und gegen das net anmelden und vorher Eintrittsgeld
Establishment und der den traditionellen überweisen. Dann erst erfährt er, in wel-
Parteien in seiner Heimat viele Stimmen chem Berliner Hotel die Veranstaltung
abgenommen hat. So viele, dass sie kaum stattfinden wird. Aus Sicherheitsgründen.
eine Regierung bilden können, wenn sie Dass „der Geert“ in Holland eine Kopf-
ihn nicht an der Macht beteiligen. tuchsteuer gefordert habe, sei wirklich
Er ist der Star einer Bewegung, die in eine gute Idee, sagt Stadtkewitz, als er in
Europa seit Jahren ihre Gefolgschaft ver- der Cafeteria des Abgeordnetenhauses
größert, die in Parlamente und Regierun- marokkanisches Couscous isst. 12 000
gen einzieht, die dafür gesorgt hat, dass Euro musste er für Wilders’ Besuch aus-
in der Schweiz Minarette verboten wur- Rechtspopulisten Marine Le Pen, Åkesson legen. Er glaubt, es sei eine Investition,
den und in Belgien Burkas. Es ist eine Gemeinsames Feindbild Islam die sich auszahlt. „Der Islam“, sagt er,
116 D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0
Islamisches Freitagsgebet in Paris: Widerstand gegen die zunehmende Sichtbarkeit des Islam in Europa

„mag ja auch eine Religion sein. Aber in oder Finnland. Jean-Marie Le Pens Front gegen die europäischen Werte – wenn
erster Linie ist er eine Ideologie, die alles National hat bei den französischen Regio- etwa Frauen unter dem Vorwand der Re-
bekämpft, was uns wichtig ist“. Dann nalwahlen im Frühjahr mit einer gezielt ligion unter Burkas gezwungen, Schwule
muss er los, er will ein holländisches Fern- antiislamischen Kampagne neun Prozent verfolgt und Ehebrecher gesteinigt wer-
sehteam im Privat-BMW durch Berlin der Wählerstimmen gewonnen. Die Lega den. Zweifellos gibt es in vielen Ländern
führen, um ihm die muslimische Parallel- Nord hat im März die italienischen Regio- Integrationsprobleme. Doch das allein er-
gesellschaft zu zeigen, die in Deutschland nen Venetien und Piemont unter anderem klärt das Unbehagen nicht. Es rührt daher,
angeblich totgeschwiegen wird. damit erobert, dass ihre Anhänger im dass die etablierten Parteien es versäumt
Seit der SPD-Politiker Thilo Sarrazin Wahlkampf Seife verteilten – zu benutzen haben, ihren Wählern das Gefühl zu ver-
ein Buch geschrieben hat, in dem musli- „nach Berührung eines Einwanderers“. mitteln, sie würden sich um diese Fragen
mische Zuwanderer als existentielle Be- Das Neue ist nicht der Rechtspopulis- kümmern. Die Wirtschaftskrise der ver-
drohung für Deutschland erscheinen, und mus an sich. Der ist in vielen Ländern gangenen Jahre hat auch die Mittelschicht
seit Sarrazin dafür auch Zuspruch erfah- Europas zum Teil seit rund 30 Jahren eine verunsichert. Europa altert, und andere,
ren hat, fragen sich viele Leitartikler, For- feste Größe, mal mehr, mal weniger er- jüngere Weltregionen holen auf. Viele
NIJHUIS / HOLLANDSE HOOGTE / LAIF (L.); MICHEL EULER / AP (R.); BAZIZ CHIBANE / SIPA (U. L.); GETTY IMAGES (U. R.)

scher, Politiker, ob Deutschland ein Son- folgreich. Das Neue ist, dass die Rechts- Menschen sorgen sich um die Zukunft in
derfall bleiben wird. Es ist bisher fast das populisten ein Thema gefunden haben, einer globalisierten Welt, in der die Ge-
einzige Land in Westeuropa, in dem noch das viel besser zieht als die Wut auf Aus- wichte sich verschieben.
keine rechtspopulistische Partei den länder und die politische Klasse. Sie ha- Vor allem in den nordeuropäischen
Volkszorn auf den Islam und das Esta- ben eine neue Energiequelle gefunden im Ländern geht der Aufstieg der Populisten
blishment bündelt. Widerstand gegen die zunehmende Sicht- mit dem Machtverlust der traditionellen
Allein seit Jahresmitte haben in drei barkeit des Islam in Europa. Sie gebärden Sozialdemokratie einher. Das liegt daran,
EU-Staaten rechtspopulistische Parteien sich als Verteidiger der europäischen Wer- dass in Wohlfahrtsstaaten auch Einwan-
eine Regierungsmehrheit vereitelt: in Bel- te. Dass manche dieser Werte, zum Bei- derer für Sozialmissbrauch anfällig sind –
gien, den Niederlanden und zuletzt sogar spiel die Religionsfreiheit, in diesem aber auch daran, dass die traditionellen
in Schweden. Dort erreichten sie zwar Kampf unter die Räder geraten, stört sie Parteien feststecken im Klein-Klein der
nur 5,7 Prozent der Stimmen – aber ge- so wenig wie ihre Wähler. Integrationspolitik.
nug, um die Regierungsbildung zu er- Bis tief in die Mitte der Gesellschaft Sie haben Integrationsbeauftragte ge-
schweren. Alle drei Länder waren lange reicht die Angst, dass muslimische Zu- schaffen, Migrationsämter, Integrations-
bekannt für ihre Liberalität. Nun gewin- wanderer den Charakter der europäi- konferenzen, aber sie haben die Sorgen
nen dort Parteien Einfluss, die im Islam schen Gesellschaft verändern könnten. der Bürger aus den Augen verloren. Und
„die größte Bedrohung Europas seit dem Etwa drei Viertel der Befragten äußern weil sie gleichzeitig für Meinungsfreiheit,
Zweiten Weltkrieg“ sehen – so drückt es sich in deutschen Umfragen besorgt über Feminismus und Säkularismus sind, wis-
Jimmie Åkesson aus, der 31-jährige Chef den Einfluss des Islam, in anderen euro- sen sie sich nicht zu wehren gegen
der „Schwedendemokraten“. päischen Ländern sieht es ähnlich aus – Rechtspopulisten, die ihren Kampf gegen
Seit Jahren schon regieren rechtspopu- obwohl die Einwanderung nach Europa Kopftücher, Minarette und Moscheen ge-
listische Parteien in Italien und der seit Jahren rückläufig ist. nau wie sie mit Meinungsfreiheit, Femi-
Schweiz mit, sie sitzen in den Parlamen- Zweifellos verstoßen barbarische Prak- nismus und Säkularismus begründen.
ten von Dänemark, Österreich, Norwegen tiken in manchen islamischen Ländern Nur dass sie dabei lauter sind und alles
D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0 117
Ausland

so lange vereinfachen, bis es logisch in den siebziger und achtziger Jahren gegen tüm und verteilt während ihrer Wahlkampf-
klingt. Muslime Stimmung machte: Jean-Marie Le auftritte auf den Märkten im Großraum
Die Schwedendemokraten, die aus der Pen, der Gründer des französischen Front Paris Küsschen. „Ich will alle Franzosen
extremen Rechten kommen, haben von National. Seine Zielscheibe waren die Ein- vereinen“, sagt sie. Gleichzeitig wettert sie
modernen Rechtspopulisten wie Wilders wanderer aus den früheren nordafrikani- gegen Burka und Islamisierung, ganz wie
und der Dänischen Volkspartei mit ihrer schen Kolonien. Le Pen machte Karriere Wilders. Auch sie hat erkannt, dass gezielte
Vorsitzenden Pia Kjaersgaard gelernt: Sie als wütender Außenseiter, war brachial und Islamophobie mehr Erfolg verspricht als
warben mit einem Fernsehspot, in dem unmodern, offen rassistisch und antisemi- der althergebrachte Ausländerhass.
eine Seniorin, die sich mit einem Rollator tisch, dennoch schaffte er es, die politische Marine Le Pen ist eine Gefahr für Sar-
abmüht, von Frauen in Burka mit ihren Landschaft umzupflügen: 2002 schob er kozy, und wie ernst er sie nimmt, zeigt
Kinderwagen fast überrannt wird. Sie sich bei den Präsidentenwahlen vor den So- sein eigener Rechtsruck in diesem Jahr.
stürmen auf einen Schreibtisch zu, auf zialisten Lionel Jospin. Es war ein Schock Er hat Frankreich eine Debatte über „na-
dem „Staatshaushalt“ steht. „Am 19. Sep- für die französischen Eliten. tionale Identität“ verordnet, die sich ein-
tember können Sie die Einwanderungs- In Frankreich geschah, was seither in deutig gegen Muslime richtete – und be-
bremse ziehen – und nicht die Renten- vielen Ländern geschieht, in denen die gann eine Kampagne zur Abschiebung
bremse“, sagt eine Stimme. traditionellen Parteien versuchten, die der Roma. In den Umfragen hat es Sar-
Einwanderer gegen Rentner auszuspie- Rechten auszukontern: Die Politiker der kozy bislang nicht genützt.
len – das ist das Wilders-Prinzip. Er ver- Mitte bewegten sich selbst nach rechts. Die Wandlung des Front National ist
eint rechte und linke Politik, Islamopho- So auch in Dänemark, wo die Dänische nur ein Beispiel für den neuen antiisla-
mischen Mainstream unter
Westeuropas rechtspopulisti-
Rechtes Europa Anteil der Sitze im jeweiligen Parlament, in Prozent
schen Parteien. Es ist dieses
Rechtspopulisten in den nationalen PARTEI % PARTEI % Thema, das sie alle verbindet,
Abgeordnetenhäusern SCHWEDEN UNGARN sie tauschen sogar europa-
SD 5,7 Jobbik 12,2 weit ihre Marketing-Einfälle
in der Regierung
Norwegen Schweden NORWEGEN BULGARIEN aus: So kopierte die österrei-
in Koalitionsverhandlungen FrP 22,9 Ataka 10,1 chische FPÖ ein Spiel von
Finnland FINNLAND GRIECHENLAND der Web-Seite der Schweizer
FRANKREICH:
Front national nicht PS 4,1 Laos 5,6 SVP, in dem man Minarette
im Parlament, aber be- LETTLAND DÄNEMARK abschießen musste, die sich
deutende politische Kraft Estland Tevzemei un DVP* 13,9 in die vertraute Landschaft
Lettland Brivibai/ LNNK 5,0 SCHWEIZ bohren – nur dass man in der
Großbritannien Dänemark Litauen LITAUEN SVP 31,0 FPÖ-Version auch auf die
TT 12,7 ITALIEN Muezzins schießen durfte.
Irland
Niederlande BELGIEN Lega Nord 8,3 Das ist neu, und es darf
Belgien Deutschland
Polen Vlaams Belang 7,8 NIEDERLANDE nicht darüber hinwegtäu-
ÖSTERREICH PVV 15,5 schen, dass die Parteien, die
Luxemburg Tschechien Slowakei
FPÖ 17,5 unter dem Begriff Rechts-
Frankreich Österreich
Liechtenstein Ungarn BZÖ 9,2 populisten zusammengefasst
Schweiz Rumänien werden, immer noch vieles
Slowenien SLOWAKEI
SNS 5,1 unterscheidet. Es stimmt
Bulgarien SLOWENIEN zwar, dass die meisten schon
Italien SNS 5,4 *duldet Minderheitsregierung immer gegen Einwanderer
Portugal Spanien
kämpften, sich als Underdogs
gegen die politische Elite
Griechenland Volkspartei seit positionierten, über charismatische An-
Malta
Zypern 2001 eine rechtslibera- führer verfügten und in Ländern beson-
le Minderheitsregierung ders gut gediehen, in denen die etablier-
bie und Angst vor der Ausbeutung des toleriert – und obwohl die Populisten ten Parteien eine Konsenskultur pflegen.
Sozialstaats. „Es ist einer unserer großen nicht mit in der Regierung sitzen, ver- Doch ein bäuerlicher Neoliberaler wie
Erfolge, diese Kombination, einerseits schärfte Dänemark seine Ausländergeset- der Schweizer Christoph Blocher hatte
kulturell konservativ zu sein und gleich- ze massiv. mit dem französischen Demagogen Le
zeitig in anderen Dingen links“, sagt Wil- Als Nicolas Sarkozy 2007 zum Präsi- Pen nie viel am Hut. Zu unterschiedlich
ders selbst. Er ist einer, der gegen Ein- dentschaftswahlkampf antrat, war er in ist ihre Herkunft, und oft auch ihre Politik
wanderung ist, aber ein „warmes Herz manchen seiner Zitate von Le Pen kaum im Detail.
für die Schwachen und die Alten“ hat. zu unterscheiden. Wer „Hammel in der Es ist das gemeinsame Feindbild Islam,
Geert Wilders ist einer der Ersten, die Badewanne schlachtet“, habe in Frank- das sie nun zu ideologischen Verbündeten
den Islam so konsequent als Thema nut- reich nichts verloren, sagte er etwa und macht. Dennoch ist auch für die Zukunft
zen, und viele sind ihm gefolgt. Es ist be- siegte, weil er die Stimmen aus dem rech- nicht anzunehmen, dass die Parteien über
zeichnend, dass die Bewegung, die sich ten Lager bündelte. Nun sieht sich Sar- Grenzen hinweg kooperieren werden.
gegen den Islam richtet, nicht direkt nach kozy wohl bald mit einem neuen Front Geert Wilders träumt trotzdem davon,
dem 11. September 2001 in Gang kam, ob- National konfrontiert, einer weichgespül- und er versucht, sich in Europa an die
wohl die Verunsicherung und die Angst ten, womöglich gefährlicheren Version. Spitze einer Bewegung zu setzen. Im Juli
vor islamistischen Terroristen dort ihren Marine Le Pen, die Tochter des Partei- hat er eine „Internationale Freiheits-Al-
Ursprung hat, sondern erst jetzt, Jahre gründers, will sich im Januar zur Chefin lianz“ gegründet, mit zwei Zielen: „Ver-
später, ihren Höhepunkt erreicht. wählen lassen und eine Partei schaffen, teidigung der Freiheit“ und „Stopp den
Diese neue Rechte hat äußerlich nicht die auch für die Mitte wählbar ist. Islam“. Er wolle die vorhandenen Kräfte
mehr viel zu tun mit der alten, auch wenn Marine Le Pen gibt sich undogmatisch gegen den Islam bündeln, in Deutschland,
schon der erste europäische Rechtsaußen und intellektuell, sie trägt ein Businesskos- Frankreich, Großbritannien, Kanada und
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den USA, sagt er in einem Video, es ist
bisher der einzige Inhalt auf der Internet-
seite der Allianz.
Auf Wilders’ Initiative angesprochen,
sagte Marine Le Pen dem SPIEGEL:
„Ohne eine gemeinsame Auflehnung ist
unsere Zivilisation letztendlich dem Un-
tergang geweiht.“ Das ist zwar ein Be-
kenntnis zu gemeinsamen Zielen, nach
einer Beitrittserklärung klingt es nicht.
Im Ausland ist Wilders bisher erst bei
Amerikas rechten Islam-Hassern erfolg-
reich. Seit Jahren reist er auf ihre Einla-
dung durch die USA, sammelt Preise für
seinen angeblichen Kampf für die Rede-
freiheit, hält Vorträge vor begeisterten
Fans – und verdient ganz gut dabei.
Der Millionär, Islam-Feind und Inter-
netpublizist David Horowitz („Frontpage
Magazine“) zahlt Wilders für seine
Vorträge 20 000 Dollar, das sagte er dem
niederländischen Fernsehsender Avro.
Horowitz sieht Wilders als „Winston
Churchill in diesem Krieg“ gegen den
Islam. Zum neunten Jahrestag der An-
schläge von 2001 trat Wilders in New
York am Ground Zero auf und sprach
sich auf einer Kundgebung gegen das
islamische Gemeindezentrum aus, das
zwei Straßenzüge davon entfernt gebaut
werden soll.
Wenn Wilders vor sein amerikanisches
Publikum tritt, wird er gefeiert wie nir-
IMAGO

gends sonst, und das Publikum lässt sich


Schauergeschichten aus dem muslimisch Kreml-Chef Medwedew*: „Unsere heutige Demokratie ist besser als die vor fünf Jahren“
unterwanderten Europa erzählen. In den
USA ist nur ein Prozent der Bevölkerung
RUSSLAND
muslimisch, und während sich in Europa
das Unwohlsein der Wähler der Rechts-
populisten an tatsächlich vorhandenen
Einwanderern in ihren Ländern entzün-
det, herrscht in konservativen amerika-
nischen Kreisen eine Islamophobie ohne
„Viel Diebstahl“
Muslime: 50 Prozent der Amerikaner ha-
Der Sturz des Moskauer Oberbürgermeisters scheint beschlossen,
ben inzwischen ein negatives Bild vom der Kampf um die Macht in der Hauptstadt entschieden. Setzt
Islam, mehr als unmittelbar nach den An- nun doch Premier Putin seine Kandidaten als Nachfolger durch?
schlägen von 2001.

S
Am kommenden Wochenende wird elbst die Rosi, die singende Promi- cher Russen wie am 6. Januar, als sie im
Wilders in Berlin stehen, als Repräsentant Wirtin der Sonnbergstubn über Kitz- Kitzbüheler Sportpark unter den gezack-
einer Politik, für die es vielleicht auch in bühel, ist ratlos. „Den Luschkow“, ten Gipfeln des Wilden Kaisers orthodoxe
Deutschland einen Markt gibt, mit Sicher- sagt sie, „habe ich diese Woche noch gar Weihnacht feierten. 
heit aber noch keinen Verkäufer. nicht gesehen. Sonst ist er immer gekom- Fürchtet Luschkow auch 2000 Kilome-
Ein Publikum wird es wohl geben, men mit seinem Bodyguard.“ ter fern der Heimat noch den Bannstrahl
wenn der ehemalige CDU-Politiker René Luschkow, Jurij Michailowitsch, ist seit des Kreml, der ihn seit Wochen mit einer
Stadtkewitz Wilders in Berlin begrüßen 1992 Oberbürgermeister von Moskau und Medienkampagne verfolgt? In mehreren
wird. Die polemische Internetseite Politi- mit seiner milliardenschweren Gattin Je- „Enthüllungssendungen“ hatte ihn das
cally Incorrect wirbt kräftig für den Auf- lena Baturina Stammgast in Kitzbühel. staatlich kontrollierte Fernsehen aller er-
tritt – dort treffen sich seit Jahren schärfs- Lüftlmalerei und das Geweih eines Acht- denklicher Untaten bezichtigt: Der Bür-
te Islam-Gegner. Im Shop der Seite kann enders zieren die Residenz der beiden im germeister habe historische Moskauer
man Fan-T-Shirts bestellen mit dem Nobelvorort Aurach. Doch das Haus Bauten verschandelt oder sie einfach ab-
Schriftzug „Geert Wilders – Berlin – 2. Ok- wirkt Ende vergangener Woche verlassen, reißen lassen, seine Frau Ländereien
tober 2010“, in 19 Farbvarianten, für 19,90 die Garage, für zehn Limousinen berech- zweckentfremdet, dieser oder jener sei-
Euro. net, steht leer. Die Feier zu Luschkows ner Stadtbeamten sich der Umleitung öf-
Stadtkewitz-Shirts gibt es keine zu kau- 74. Geburtstag im familieneigenen Luxus- fentlicher Gelder schuldig gemacht.
fen. Dafür welche mit der Aufschrift hotel Grand Tirolia soll diskret vonstat- Die Vorwürfe, der Moskauer Stadtobe-
„Danke Thilo Sarrazin“. tengegangen sein. Kein Massenauflauf rei- re betreibe Misswirtschaft und sei korrupt,
MARKUS DEGGERICH, MANFRED ERTEL, waren nicht wirklich neu, die pausenlos
JULIANE VON MITTELSTAEDT, MATHIEU VON ROHR, auf den Bürgermeister herniederprasseln-
* Mit seiner Frau Swetlana (M.) und Mehriban Alijew,
HANS-JÜRGEN SCHLAMP, STEFAN SIMONS
der Gattin von Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew. den Artilleriesalven schon. Die Russen
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Ausland

verstanden sehr wohl: Da solle einer um- wohl nur, weil es den Machthabern poli- binett nach Jaroslawl eingeladen hatte,
gehend gefeuert werden. tisch gerade nützlich ist. beraumte der Premier kurzfristig eine Re-
Luschkow klagte bitter über die von Jeder zweite Russe wies in derselben gierungssitzung an: Die Minister mussten
„oben bestellte Verleumdung“ und droh- Befragung denn auch darauf hin, dass es zunächst in Moskau bleiben.
te gerichtliche Schritte an, seine Gattin in Russlands obersten Machtorganen „ge- Deutlich wurden auch politische Diffe-
fühlte sich gar an die Stalin-Zeit erinnert, nauso viel Diebstahl“ wie in der Moskau- renzen. Demokratie in Russland hält Putin
als Millionen Sowjetbürger ebenso „an- er Führung gibt. Medwedews Kampagne allenfalls für möglich, wenn die Moderni-
onym“ denunziert worden seien. drohte zum Bumerang zu werden. sierung des Riesenreichs irgendwann ein-
Aber geht es bei den Angriffen auf Der Präsident hatte mit der Aktion aber mal erfolgreich beendet ist. Medwedew
den ewigen Oberbürgermeister mit der nicht nur die Glaubwürdigkeit des Kreml, dagegen versteht sie als „Grundvorausset-
proletarischen Schiebermütze wirklich sondern auch sein eigenes Ansehen aufs zung“ für eine konkurrenzfähige Wirt-
um Korruption? Dass Luschkow in der Spiel gesetzt. Der Mann, der vielen immer schaft. „Nur freie Menschen können die
10,5-Millionen-Stadt nach Gutsherrenart noch als Nummer zwei im Duo mit Putin Modernisierung vorantreiben“, rief er in
herrschte, dass er die Verteilung von Bau- gilt, als einer, dessen Beine nicht einmal Jaroslawl in den Saal. „Die Demokratie,
grundstücken, Märkten und anderen lu- bis zu den Pedalen des Tandems reichen, die wir heute haben, ist besser als die vor
krativen Geschäftsmöglichkeiten nach sei- muss in der Affäre Luschkow seine Durch- fünf Jahren.“ Vor fünf Jahren hatte Putin
nem Gusto lenkte und sich dabei vom setzungsfähigkeit beweisen. im Kreml gesessen.
Kreml nicht hineinreden ließ – alles wahr. Beide, der Staatschef wie der Premier, Außenpolitisch setzt Medwedew auf
Die Kreml-Kampagne offenbarte aber wollen Luschkow seit langem loswerden. den Ausgleich mit Amerika, Putin aber
etwas ganz anderes: In einem Land, in Aber die Auseinandersetzung um dessen ließ in Sotschi seiner Verbitterung über
dem eine informelle Kaste regiert, wich- Nachfolge wurde nun zur Kraftprobe zwi- den Westen, der in Moskaus Einflusszo-
tige Entscheidungen also zwischen den schen dem eher liberalen Lager des Prä- nen vordringe, wieder einmal freien Lauf.
Interessenkartellen in Hinterzimmern sidenten und den Gefolgsleuten des Re- Bei der schrittweisen Entmachtung
ausgekungelt werden müssen, lassen sich gierungschefs. Politologen sprachen von Luschkows jedoch zogen Medwedew und
Personalfragen besonders schwer lösen. einer Vorentscheidung für die Präsiden- Putin zunächst an einem Strang, sie be-
Wie zum Beispiel wird man einen tenkandidatur in anderthalb Jahren. gann bereits vergangenes Jahr. Da setzte
selbstherrlichen Oberbürgermeister los, Ein Medwedew-Mann an der Spitze der der Präsident Moskaus Polizeichef ab,
der die wichtigste Stadt des Landes führt Hauptstadt – das würde dem jungen Prä- den der Bürgermeister für „langjährige
und immer wieder Ambitionen auf noch sidenten den Zugriff auf Luschkows Arbeit ohne Tadel“ mit einem Orden be-
höhere politische Ämter spüren lässt? Die Machtbasis bescheren: auf wichtige Me- dacht hatte. Medwedew, der aus einer
Wahl der Gouverneure durchs Volk hatte dien, sieben Millionen Wähler und einige Professorenfamilie stammt, kann den
der letzte Präsident, Wladimir Putin, ab- Oligarchen, die mit Putin unzufrieden grobschlächtigen Populisten Luschkow
geschafft. Luschkow direkt abzusetzen, sind. Der Kreml-Chef könnte sich von sei- nicht ausstehen. Putin wiederum hat dem
was durchaus möglich wäre, traute sich nem politischen Ziehvater emanzipieren.  Stadtvorderen nie verziehen, dass der ge-
Putins Nachfolger Dmitrij Medwedew je- Die Gegensätze zwischen dem Präsi- gen ihn gelästert hatte, als er im Jahr 2000
doch nicht – weil der Bürgermeister über dentenlager und dem des Regierungs- als Präsidentschaftskandidat antrat.
eine starke Anhängerschaft verfügt. Um chefs waren in den vergangenen Wochen Als zweiten Schritt brachte der Kreml
die erst einmal aufzuspalten, setzte der offener zutage getreten. Putin hatte sei- enge Verbündete Luschkows in Schwierig-
Kreml die Waffe Fernsehen ein. nen politischen Kurs Anfang September keiten, die dessen Präsidentenambitionen
Mit Erfolg. Das „Lewada“-Forschungs- in Sotschi vor Russland-Experten aus al- finanziell unterfüttert hatten. Vorige Wo-
zentrum ermittelte vorige Woche, 54 Pro- ler Welt dargelegt. Medwedew zog beim che stellte ein Gericht sogar das Verbot
zent der Befragten würden zu Luschkow „Global Policy Forum“ in Jaroslawl nach – der jährlichen Moskauer Schwulen-Parade
kein Vertrauen mehr haben. Gleichzeitig mit ausländischen Staatsführern war es durch Luschkow in Frage – ein Zeichen
aber wunderten sich viele Russen, warum hochkarätiger besetzt als das Treffen in für dessen Machtverfall. Auch Putin hatte
die Korruption in Moskau für den Kreml Sotschi, Putin aber offenbar nicht frei von das Gebaren des Bürgermeisters zuneh-
erst jetzt zum Thema geworden ist. Doch Eifersucht. Weil Medwedew das halbe Ka- mend gestört. Während der Kampagne des
Kreml hielt er sich aber auffällig zurück.
Am Freitag vergangener Woche schien
die Entlassung Luschkows beschlossen.
Putin und Medwedew, so hieß es, hätten
sich auf eine Doppelspitze als Nachfolge
geeinigt: Der Chef der Regierungskanzlei,
Sergej Sobjanin, soll Oberbürgermeister
werden; der Provinzgouverneur von
Nischni Nowgorod, Walerij Schanzew, bis
2005 einer der Stellvertreter Luschkows,
Moskaus Verwaltungschef. Sobjanin, ein
farbloser Bürokrat, gilt als einer der we-
nigen Spitzenpolitiker, die ihre Ämter
VITTORIO ZUNINO CELOTTO / GETTY IMAGES

nicht zur Bereicherung genutzt haben sol-


len – und das, obwohl er einmal Gouver-
neur der reichen Ölprovinz Tjumen war.
Beide Männer sind Putin-Leute. Aber
Medwedew dürfte bei einem solchen Aus-
gang immerhin Punkte gesammelt haben.
Er kann sich später als derjenige präsentie-
ren, der öffentlich die Entmachtung Lusch-
kows eingeleitet hat. BENJAMIN BIDDER,
Ehepaar Luschkow, Baturina: „Eine von oben bestellte Verleumdung“ WALTER MAYR, MATTHIAS SCHEPP

D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0 121
Ausland

GETTY IMAGES (R.)

Autor Mastrogiacomo in Rom, als Entführungsopfer (M.) mit Dolmetscher Naqshbandi und Fahrer Agha 2007: „Tötung vor Ablauf der Frist“

viel über die Täter.“ Naqshbandis Ermor-


I TA L I E N
dung löste in Afghanistan eine Welle der
Empörung aus: Der Europäer wurde aus-

Tage der Angst getauscht, der Afghane nicht. Ist ein Af-
ghane weniger wert als ein Ausländer?,
fragten die Zeitungen in Kabul.
Über den Augenblick, als er mitten im
Drei Jahre nach seiner Entführung in Afghanistan legt der Kriegs- Freudentaumel über seine Befreiung Ge-
reporter Daniele Mastrogiacomo ein Buch über seine Geisel- wissheit über Naqshbandis Tod erhielt,
haft vor. Es ist ein einzigartiger Blick auf den Alltag der Taliban. schreibt Mastrogiacomo in seinem Buch
„Tage der Angst“*: „Es war eine dieser

D
a war die Stimme wieder, die er ge Haft in der südafghanischen Provinz Inszenierungen der Taliban, die wir schon
drei Jahre lang nur in seinem Helmand überlebt. Sein Fahrer und sein während unserer Haft immer wieder er-
Kopf gehört hatte. Plötzlich, am Dolmetscher wurden ermordet. lebt hatten. Aus einem Fest wird ein Dra-
frühen Morgen, war sie da, in seiner Woh- Als er zurückkam, war er ein anderer. ma, dann kommt die Angst und schließ-
nung, einfach am Telefon, 4700 Kilometer Nachts warf er sich hin und her, weil er lich die Trauer.“
entfernt von dem Ort, an dem sich alles sich im Traum noch immer an Händen „Fühlen Sie sich schuldig?“, fragen
zugetragen hatte. „Kennst du mich noch, und Füßen gefesselt fühlte, im Restaurant Journalisten Mastrogiacomo heute noch.
Daniele?“, sagte die Stimme, „wir waren achtete er auf jede Bewegung, die ihm Das schmerzt den Überlebenden.
doch zwei Wochen zusammen in Hel- verdächtig vorkam, manchmal verließ er Seine Erinnerungen schrieb er gleich
mand.“ wochenlang das Haus nicht. nach der Rückkehr in nur drei Wochen
Daniele Mastrogiacomo, Kriegsrepor- Mastrogiacomo ist heute 56, blond, äu- nieder, wie eine Intensivtherapie sei das
ter der italienischen Tageszeitung „La Re- ßerlich ein bulliger Mann mit einer gro- gewesen, sagt er. Entstanden ist ein Buch,
pubblica“, erkannte das schlechte Eng- ßen Nase und kantigen Wangenknochen, das dem Leser den Atem raubt. Mastro-
lisch sofort wieder. Es war Luthar, ein er trägt Jeans, Polohemd und ein ausge- giacomo schildert, wie er und seine Be-
junger Talib, kaum 20 Jahre alt. Luthar, beultes Sakko. Er schreibt wieder, vor gleiter in die Falle gerieten, wie er mit
der die Videos gedreht hatte, in denen allem über Afrika, nur nicht mehr über seinen Peinigern 15-mal das Versteck
Mastrogiacomo die italienische Regierung Afghanistan. wechseln musste, dreckige Schafställe
anflehte, sein Leben und das seiner bei- Es ist vor allem eine Geschichte von und Erdlöcher zumeist, aber auch, wie
den afghanischen Kollegen zu retten. damals, die ihn bis heute aufwühlt, die das Verhältnis zwischen Opfern und Tä-
Luthar, der auch dann noch seelenruhig Geschichte seines Freundes und Dolmet- tern wechselte zwischen Phasen kumpel-
weiterdrehte, als sein Komplize den af- schers Ajmal Naqshbandi, erst mit Ma- hafter Vertrautheit und solchen unfassba-
ghanischen Fahrer des Journalisten mit strogiacomo freigelassen und dann erneut rer Brutalität.
einem Messer köpfte. gefangen genommen und am Ende, wie Derselbe Mann, der seinem Fahrer
Irgendwie hatte Mastrogiacomos Ent- zuvor der Fahrer, enthauptet. Die Taliban Sayed Agha vor laufender Kamera die
führer die Nummer des italienischen Re- wollten noch weitere Kämpfer aus dem Kehle durchschnitt, forderte den Italiener
porters ausfindig gemacht, und nun tat Gefängnis freipressen. „In Wahrheit lie- am Morgen danach lächelnd zum gemein-
er, als verbinde die beiden ein Abenteuer, ßen uns die Entführer gar keine Zeit, über samen Sport auf. Die Entführer, die mit
eine gemeinsame Gipfelbesteigung etwa, Naqshbandi zu verhandeln“, sagt der da- ihren Geiseln gerade noch über religiöse
nicht aber eines der blutigsten Geiseldra- malige Außenminister und heutige Sicher-
men seit dem Einmarsch der westlichen heitsberater von Präsident Hamid Karzai, * Daniele Mastrogiacomo: „Tage der Angst. Entführt
Truppen in Afghanistan. Als Einziger hat Rangin Dadfar Spanta, „sie töteten ihn von den Taliban“. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart; 200 Sei-
Mastrogiacomo im März 2007 die 15-tägi- noch vor Ablauf der Frist, er wusste zu ten; 17,95 Euro.

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Fragen und kulturelle Unterschiede bei am Leben sei, müssten sie jetzt sofort schiedenen Protest der Amerikaner, der
Ehe und Erbrecht debattierten, peitschten handeln. Briten und seines eigenen Außenminis-
sie Minuten später mit Gummischläuchen. Wie weit aber darf sich ein Staat er- ters. „Man rettet ein, vielleicht zwei Men-
Mastrogiacomos Buch ist ein einmali- pressen lassen? Gefordert hatten die Ta- schen und setzt danach eine endlose Ket-
ges Zeugnis über den Alltag der Taliban- liban zunächst den Rückzug des italieni- te von Entführungen in Gang“, beharrt
Kämpfer. Ihre Guerilla-Trupps sind rastlos schen Militärs aus dem Isaf-Einsatz in Af- Spanta bis heute.
unterwegs, ein Leben unter Daueranspan- ghanistan, danach den Austausch von Die direkten Verhandlungen mit den
nung, trotzdem lachen die jungen Kämp- fünf besonders gefährlichen Taliban aus Taliban führte schließlich der ehemalige
fer viel, sie ahnen, dass sie jeden Augen- dem berüchtigten Gefängnis Pol-i-Chark- Leiter des Notfallkrankenhauses in
blick sterben können, scheinen aber frei hi bei Kabul. Lashkar Gah: Rahmatullah Hanefi gehör-
von Todesangst. Ihre Gewaltexzesse sind Als zwei Jahre zuvor im Irak die italie- te in den neunziger Jahren selbst zu den
für sie kein Widerspruch zu ihrer Religio- nische Journalistin Giuliana Sgrena ent- Taliban, saß danach aber auch in einem
sität. Die fanatische Ablehnung von ihrer Gefängnisse, weil er angeblich zu
Nichtmuslimen, die sie als „unrein“ be- „Man rettet ein Leben und liberale Auffassungen vertrat – keine un-
trachten, ist ein wesentlicher Bestandteil gewöhnliche Karriere in Afghanistan. Er
dieses Selbstverständnisses. Klar wird aus setzt eine endlose Kette holte den Freigelassenen schließlich aus
Mastrogiacomos Bericht auch, wie unmit- von Entführungen in Gang.“ der Wüste ab.
telbar die Taliban den Anweisungen ihrer Heute sitzt Daniele Mastrogiacomo auf
Führer folgen, die selbst kleinste Gruppen führt worden war, hatte der Chefredak- der Terrasse des Caffè dell’Arte in Rom
direkt über Mobiltelefon steuern. teur geschrieben: „Es gibt eine Grenze, unter einem großen Sonnenschirm, es ist
Doch die Hintergründe von Mastrogia- über die Verhandlungen nicht hinausge- heiß, er nippt an seinem Espresso. Er sagt,
comos Freilassung, die in Europa damals hen dürfen, wenn die Forderung der Er- er sei damals sicher gewesen, dass er ster-
schwere Kontroversen auslösten, sind bis presser die Demokratie und Sicherheit ben müsse. Er habe es sich bildhaft vor-
heute kaum bekannt und werden auch einer Nation untergräbt.“ Das Gleiche gestellt.
im Buch weitgehend ausgespart. schrieb er nun, mit schwerem Herzen, Er zeigt auf seine rechte Hand und er-
Wenige Tage vor seiner Befreiung hatte über die Entführung seines eigenen Re- zählt, wie ihm die Taliban Ausweise und
die Chefin des Krisenstabs des italieni- dakteurs. Wertsachen abnahmen, am Ende gar den
schen Außenamts Mastrogiacomos Chef- Premierminister Romano Prodi rief in goldenen Ehering vom Finger zogen. Dar-
redakteur Ezio Mauro zum Gespräch am Kabul bei Präsident Hamid Karzai an, die unter aber fanden sie eine Tätowierung,
Rande eines Treffens gebeten. Nach ihren beiden unterhielten ein besonders herz- „ein Blutband“, wie er es nennt, das
Erkenntnissen hätten die Taliban seinen liches Verhältnis. Karzai prüfte die Na- ihn und seine Frau seit über 20 Jahren
Reporter gerade getötet oder seien nun men der Gefangenen und stimmte dem verbindet: „Das konnten sie mir nicht
entschlossen, das zu tun. Falls er noch Austausch schließlich zu – gegen den ent- nehmen.“ SUSANNE KOELBL
SVEN CREUTZMANN
Vater dos Santos, Foto des ermordeten Sohns Hermínio: „Nichts konnte ihn aufhalten“

zwei Jahren aus der ganzen Welt in die


BRASILIEN
Heimat zurückgekehrt. Auch aus den
USA gab es seit 2007 eine Nettoabwan-

Jenseits von Valadares derung von 40 000 illegal dort lebenden


Brasilianern. „Das Auswandern lohnt sich
nicht mehr“, sagt der Lastwagenfahrer
Trotz des Aufschwungs der Lula-Jahre machen sich nach wie vor Rivaldo Godoy, 47.
Vor zehn Jahren war der stämmige
Glückssucher aus Südamerika auf den Weg in die USA. Zum Mann mit einem gefälschten Pass in die
gefährlichen Hindernis für sie wird der Drogenkrieg in Mexiko. USA eingereist. Er fing an als Hilfskoch
in New Hampshire, nach ein paar Jahren

S
ie hatten ihn gewarnt. Lebensgefähr- „Travessia“ auf, der illegalen Einreise in hatte er genug Geld für einen eigenen
lich sei es, die Grenze zwischen Me- die USA. Hermínio war schon mal mit Lastwagen angespart. Er verdiente gut,
xiko und den USA auf eigene Faust einem falschen Pass in Italien gewesen, doch dann begann die Krise, die Aufträge
zu überqueren, hatten seine Freunde ihm er hatte schwarz auf dem Bau gearbeitet, blieben aus. Schließlich erwischte ihn die
gesagt. Der Trip lohne sich auch gar nicht bis sie ihn erwischten und wieder nach US-Einwanderungspolizei.
mehr, sagten ihm Bekannte, die gerade Hause schickten. Ein Großteil der jun- Vor einem Jahr kehrte er nach Valada-
zurückgekehrt waren. Der Dollar sei gen Männer von Governador Valadares res zurück, mit den 250 000 Dollar, die er
nichts mehr wert. „Bleib in Brasilien, ha- strebt in das vermeintliche Paradies im angespart hatte, baut er sich jetzt ein neu-
ben sie ihn bedrängt“, erzählt sein Vater Norden. es Leben auf. Er kaufte ein Haus und ei-
Alírio Aires, 66. „Hier hast du eine Zu- Wohl aus keiner anderen Stadt Brasi- nen Lkw, in die USA zieht ihn nichts
kunft.“ liens haben sich so viele Menschen illegal mehr zurück: „In Brasilien verdiene ich
Aber Juliard Aires Fernandes, 19 Jahre in die USA abgesetzt. Die meisten der genauso viel.“ Die Rückkehr der Migran-
alt, geboren und aufgewachsen im Dorf knapp 300 000 Einwohner ten markiert das Ende einer
Sardoá bei Governador Valadares im bra- von Valadares haben Ver- BRASILIEN Epoche für Governador Va-
silianischen Bundesstaat Minas Gerais, wandte in den USA. Die hei- ladares. Und sie ist ein Lehr-
Governador Valadares
schlug alle Warnungen in den Wind. Die ße, staubige Stadt am Fuße stück über die Globalisie-
USA waren sein Traum, erinnert sich sein des Ibituruna-Bergmassivs Sardoá rung – über die Chancen,
Vater. „Nichts konnte ihn aufhalten.“ lebt seit über 40 Jahren im die sie auftut, und die Tra-
Vor acht Monaten war Juliards Mutter Zyklus des Dollarstroms. Río de Janeiro gödien, in die sie führt.
an einem Herzinfarkt gestorben, zwei sei- Doch jetzt kommen die Der Traum vom
ner Brüder leben in der Nähe von Boston. Auswanderer zurück: Die schnellen Geld im kal-
Sein Vater ist Maurer, er verdient 15 Real USA gehen durch die 500 km ten Norden begann in
am Tag, rund 6,50 Euro. Juliard war ein schwerste Krise seit der Gro- SÜ DA M ER IKA den vierziger Jahren, als
fröhlicher, kräftiger Junge, Gitarrist, Mo- ßen Depression der dreißiger die Minenbaugesell-
torradfahrer. Er wollte seinem Vater ein Jahre, gleichzeitig boomt die Wirtschaft schaft Vale do Rio Doce
neues Haus bauen und sich selbst einen in Brasilien. Kaum eine Währung hat in mit amerikanischer Hil-
Wunsch erfüllen: ein Auto. den letzten Jahren so stark zugelegt wie fe eine Eisenbahnlinie
Deshalb brach er mit seinem Freund der Real. Über 400 000 brasilianische an die Küste baute. Die
Hermínio Cardoso dos Santos, 24, zur Wanderarbeiter sind in den vergangenen US-Ingenieure errichte-
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Ausland

ten ihre Häuser im amerikanischen Stil, Doch die Lula-Angst war unbegründet, nem illegalen Reisevermittler hinterlegte
führten Kühlschränke und Stereoanlagen unter dem Arbeiterpräsidenten, dessen Hermínio 13 000 Dollar für Flugtickets,
ein und bezahlten ihre Hausangestellten Amtszeit drei Monate nach der Wahl am Schmiergelder für mexikanische Polizis-
in Dollar. kommenden Sonntag zu Ende geht, ist ten und die Gebühr für den „Coyote“,
Die Söhne der Farmer und Geschäfts- das Land aufgeblüht. Während der Real den Schlepper, der sie über die Grenze
leute von Valadares bewunderten den rasch an Wert gewann, krachte in den schleusen sollte. Sie versprachen anzuru-
American Way of Life. Als die Amerika- USA das Finanzsystem zusammen. Viele fen, sobald sie US-amerikanischen Boden
ner gingen, folgten ihnen viele in die Einwanderer verloren ihr Haus, der Zins- betreten würden.
USA, später holten sie ihre Familien nach. anstieg erwischte sie unvorbereitet, sie Am 3. August verabschiedeten sich die
Wer zurückkam, schwärmte vom Wirt- konnten die Raten nicht mehr zahlen. Oft Jungen von der Familie. Hermínio sagte
schaftswunderland, wo sich in einem Jahr reichte das Ersparte nicht mal mehr für zu seiner Mutter: „Ich komme erst zurück,
so viel verdienen ließ wie in Brasilien in ein Rückflugticket. Viele Familien schi- wenn ich dir ein Haus bauen kann.“ Die
zehn. cken jetzt Geld in die USA, um ihren Ver- beiden wollten nach Boston. Juliard hatte
In den achtziger Jahren waren es Hun- wandten zu helfen. „Die meisten Migran- eine Tasche mit drei Hosen und Hemden
derttausende, die vor Hyperinflation und ten kehren ohne einen Cent in der Tasche dabei; am Tag der Abreise trug er Turn-
Wirtschaftskrise in die USA flohen. Go- zurück“, sagt Sueli Siqueira. schuhe, Jeans und ein schwarzes T-Shirt,
vernador Valadares wurde zur Haupt- Inzwischen geht es Brasilien gut und in der Unterhose hatte er den Pass und
stadt der Neureichen und der Dokumen- den aus Valadares Ausgewanderten 600 Real.
tenfälscher. In den Hinterstuben der Rei- schlecht. Das Drama der Rückkehrer hat Von São Paulo flogen die beiden Freun-
sebüros kopierten Gauner Pässe, Visa und die einstige Boomtown zur Krisenregion de nach Guatemala. Mexiko hat auf
Geburtsurkunden. Wer aus Valadares gemacht. Weil die Remessas ausbleiben, Druck der Amerikaner Visumzwang für
kam, galt bei den US-Konsulaten auto- ist das Wirtschaftsaufkommen der Stadt Brasilianer eingeführt, für Guatemala
matisch als verdächtig. um 40 Prozent geschrumpft. Während der reicht der Reisepass. Ein Coyote brachte
sie nach Mexiko.
Sie durchquerten das ganze Land,
Ende August erreichten sie San Fernando
nahe der Grenze zu den USA und schlos-
sen sich einer Gruppe anderer mittel- und
südamerikanischer Migranten an. Ein wei-
terer Coyote, diesmal ein Mexikaner, soll-
te die Illegalen nach Texas führen.
Doch dazu kam es nicht. Stattdessen
geriet die Gruppe in die Fänge eines Dro-
genkartells, das sie auf einer Farm in der
Nähe der Grenze zusammentrieb und vor
die Wahl stellte: Entweder nehmen sie
Kokain mit in die USA – oder es wird
SVEN CREUTZMANN

nichts mit der Reise ins gelobte Land. Die


jungen Männer weigerten sich, mit Dro-
gen wollten sie nichts zu tun haben.
Mit Maschinenpistolen mähten die Kil-
Stadtviertel von Governador Valadares: Leben im Zyklus des Dollarstroms ler des Kartells die Wanderarbeiter nieder,
viele richteten sie mit Genickschuss hin.
Es war die Mittelschicht, die sich in die Rest Brasiliens kräftige Wachstumsraten 72 Menschen starben, nur 3 überlebten.
USA absetzte: Ärzte verdingten sich als verzeichnet, wächst in Valadares nur die Juliards Vater erkannte den Leichnam
Bauarbeiter, Ingenieure schlugen sich als Zahl der Arbeitslosen. Es gibt kaum In- seines Sohnes in den Abendnachrichten
Gärtner durch, Lehrerinnen als Hausmäd- dustrie, der größte Arbeitgeber ist die im brasilianischen Fernsehen, er trug im-
chen und Putzfrau. Die meisten gingen Stadtverwaltung. „Wir werden zum Ar- mer noch das schwarze T-Shirt, mit dem
in den Norden der USA, wo sich mehr menhaus Brasiliens“, klagt Bürgermeiste- er aufgebrochen war. Einen Tag später
verdienen ließ als im Süden. In der Re- rin Elisa Costa. rief das Außenministerium an. Neben
gion um Boston leben einige hunderttau- Costa gehört Lulas Arbeiterpartei PT dem Körper des Sohnes hatte die Polizei
send Brasilianer. an, von der Zentralregierung erhält sie seinen Pass gefunden. Hermínios Vater
Mit den „remessas“, ihren Rücküber- Sozialhilfe für die Bedürftigen und fi- Antônio Ramos dos Santos gab eine Spei-
weisungen, halfen sie ihren Familien, bau- nanziert Programme für die Wiederein- chelprobe ab, sein Sohn wurde mittels
ten Häuser und gründeten Geschäfte. Der gliederung der Rückkehrer. Aber die ehe- DNA-Test identifiziert.
Strom des Dollar ließ ihre Heimatstadt maligen Emigranten haben meist keine Ende kommender Woche sollen die
aufblühen: „Je schlechter es Brasilien geht, Berufsausbildung. Viele sind zudem aus- Leichname der beiden Freunde nach Bra-
desto besser geht es Valadares“, sagt die gelaugt von der Arbeit in den Vereinigten silien zurückkehren, so lange dauert der
Soziologin Sueli Siqueira, Autorin einer Staaten. „Nur die Ärmsten glauben noch Papierkrieg mit den mexikanischen Be-
Studie über die brasilianischen Migranten. an ein besseres Leben in den USA“, sagt hörden. Die Familien wollen sie auf dem
Den letzten großen Aufschwung erleb- Costa. Friedhof von Sardoá beisetzen.
te die Stadt vor dem ersten Wahlsieg von Zu diesen Ärmsten zählten Juliard und Juliards Vater hat schwarze Fahnen
Luiz Inácio Lula da Silva im Jahr 2002: sein Freund Hermínio. Sie hatten nicht und die brasilianische Flagge vor seinem
Finanzexperten und Wirtschaftsbosse vom Wirtschaftsaufschwung profitiert, Haus gehisst. „Sie waren keine Drogen-
fürchteten, dass in Brasilien der Sozialis- ihre Familien erhalten keine staatliche händler, sie wollten nur ein besseres Le-
mus ausbrechen werde. Viele Anleger zo- Sozialhilfe. Juliard verkaufte sein Motor- ben“, sagt er. Er weint.
gen ihre Gelder ab, der Real fiel auf fast rad, Hermínio pumpte seine Schwester Die Gitarre und ein Passfoto – mehr
vier zu eins zum Dollar. Die Migranten in Italien an. Cousins und Cousinen ist ihm von seinem Jüngsten nicht geblie-
jubilierten. legten zusammen für die Reise. Bei ei- ben. JENS GLÜSING

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Ausland

WI EN Fünf Fässer für den Kursalon


Global Village: Wie die Opec in Wien den 50. Geburtstag ihres Kartells feiert

T
om Blue und die Drumatical sind Alawami ist das schöne Gesicht der An den noch immer satten Ölpreisen
weit herumgekommen in ihrer Kar- Opec, in Schicksalen wie ihrem spiegelt gemessen, ist es ein schlichter Rahmen,
riere, sie durften schon beim sich das Bündnis nur zu gern: als Soli- in dem die Vertreter von 75 Prozent der
Scheich von Dubai und beim Emir von darpakt der Erdölländer, der seinen – der- weltweiten Erdölreserven und von gut 40
Katar aufspielen. Nun steht die Trom- zeit zwölf – Mitgliedern nur den gerech- Prozent der internationalen Ölproduk-
meltruppe im Wiener Kursalon vor „ei- ten Gewinn aus ihrem Öl sichert, zum tion ein halbes Jahrhundert Preisabspra-
nem der Höhepunkte unserer Show-Kar- Wohle ihrer Bevölkerung. „Stabilität stüt- che begehen. Kein Scheich, kein Emir
riere“. Für Tom Blue ein Heimspiel. Er zen, Fortschritt fördern“ lautet das Motto gibt sich die Ehre. Kein Rolls-Royce fährt
ist Österreicher und heißt eigentlich Tho- des Jubiläums. vor. Auf jedem Dermatologenkongress
mas Achleitner. Der Rest der Welt sieht in der Orga- werden mehr Rolex getragen.
Die Combo, die rhythmisch auf Ölfäs- nisation eher ein machtvolles Kartell, ei- Mit herzlicher Routine besucht Gene-
ser eindrischt, spielt heute – wie passend – nen undurchschaubaren, unberechenba- ralsekretär Abdalla Salem El-Badri, ein
vor den Vertretern der erdölexportieren- ren Club von Scheichs und Despoten, die Libyer, die Stände der Mitgliedstaaten im
den Länder. An einem Ort, an dem schon den Westen mit willkürlichen Preisab- Foyer. An ihnen sollen in den nächsten
Johann Strauß Konzerte gab, feiert die sprachen und horrenden Forderungen er- Tagen Wiener Schüler unter Führung von
Opec den 50. Jahrestag ihrer Siham Alawami erfahren,
Gründung. Die Drumatical dass die Opec-Länder mehr
gehören zur Ouvertüre einer zu bieten haben als Öl. Ecua-
„Ausstellung mit Kunst, Mu- dor etwa exportiert auch
sik, Tanz & Kulinarik von Kakao. Die große Schale mit
den Mitgliedstaaten“, wie es 70-prozentiger Schokolade
auf der Einladungsbroschüre ist schon leer, bevor El-Badri
etwas holprig heißt. in seinem Grußwort „den
Auf diesen Tag hat die Willen, die Entschlossenheit
Opec-Frau Siham Alawami, und den dauerhaften Erfolg“
52, seit Wochen hingearbei- seiner Organisation gepriesen
tet, so wie alle 150 Mitarbei- hat.
ter aus der Zentrale des Kar- Die Honoratioren sind
tells in der Helferstorfer Stra- nicht nur geübte Bruderkuss-
ße. Nach 45 Jahren in der Verteiler und Softdrink-
österreichischen Hauptstadt Schlürfer, sondern auch ge-
hat sich die Opec in eine duldige Grußwort-Weghörer.
Melange aus Orient und Tapfer ertragen sie das Eng-
Okzident verwandelt. Kaum lisch („it gives me great plea-
jemand verkörpert sie so sures“) von Österreichs Au-
wie die Zeremonienmeiste- ßenminister Michael Spin-
rin aus Katar, die auch gern Trommelkünstler, Organisatorin Alawami: Opernball am Persischen Golf delegger. Nur leicht ziehen
„Prinzessin“ genannt wird, sie die Brauen hoch, als eine
obwohl sie ganz und gar bürgerlichen pressen. Dass ihre reichsten Mitglieder, Vertreterin der Stadt ihnen vorschlägt,
Standes ist. allen voran Saudi-Arabien, nach den Sie- doch mal einen Rundgang durch die Wie-
Alawami selbst bezeichnet sich als „Be- gen Israels über die Araber 1967 und 1973 ner Kanalisation zu machen. Da sei näm-
duinentochter, eine Blume der Wüste“. ihr Öl als politische Waffe gegen die Un- lich einst der „Dritte Mann“ mit Orson
Doch Wien, das auf provinzielle Weise terstützer des „zionistischen Regimes“ Welles gedreht worden. Ach, Austria.
Größe atmet, ist mit Titeln schnell zur einsetzten, ist auch Jahrzehnte später un- Weil es um Kulturaustausch geht, gibt
Hand. Aus jedem Lehrer macht man hier vergessen. es nun Musik, endlich. Ein Konzertgitarrist
einen „Herrn Professor“. Eine rührige Die Zeit der Kraftmeierei und Protze- aus Venezuela spielt Folklore auf seiner
Kulturbotschafterin, die mehr als 30 Wie- rei ist passé. Fehlentscheidungen bei der Cuatro. Österreichs Beitrag ist ein Ope-
ner Opernbälle in Dubai, Abu Dhabi und Preispolitik, interne Rivalitäten zwischen retten-Potpourri („Meine Lippen, sie küs-
Oman organisiert hat, wird da im Sisi- Hardlinern wie Venezuela und Iran auf sen so heiß“). Das Oberteil einer Sopra-
Land schnell zur Prinzessin erhoben. der einen Seite und Bündnispartnern des nistin ist so offenherzig, dass die iranische
Seit 31 Jahren arbeitet die PR-Frau nun Westens wie Saudi-Arabien, Kuwait oder Delegation ganz unruhig wird. Oder?
schon für die Opec und führt in Wien das den Vereinigten Arabischen Emiraten auf Dann sind endlich die coolen Jungs von
freie Leben einer modernen Frau. Ihre Mut- der anderen haben zum Niedergang bei- Drumatical dran. Mit ihren fünf schim-
ter sei noch „neben einem Kamel geboren“ getragen. 1980, als die Öl-Potentaten zu mernden Tonnen bringen sie doch noch
worden, sie hingegen sei in einem moder- ihrem 20. Jahrestag bitten wollten, muss- ein wenig Glanz in die Veranstaltung.
nen Hospital zur Welt gekommen, erzählt ten sie kurzfristig absagen: Der Irak hatte Und ihre Beats zeigen den Förderquoten-
Alawami. Sie durfte studieren, konnte ins seinen Opec-Partner Iran angegriffen. Fetischisten, dass man mit Ölfässern nicht
Ausland gehen, den Petro-Dollars und der Doch wohl keine internationale Organi- nur Geld, sondern auch Musik machen
Großzügigkeit des Emirs sei Dank. sation schaffte so viele Comebacks. kann. DIETER BEDNARZ

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Serie

ZENTRALASIEN (1) Der Pamir, der Hindukusch und rikanische Präsidentenberater Zbigniew Brzezin-
das Tianshangebirge, die Ströme Syr-Darja und ski den Konfliktherd genannt – für den US-Politi-
Amu-Darja begrenzen ein Gebiet, in dem die ker eine der strategisch wichtigsten Weltregionen.
Weltreligionen Islam und Christentum aufeinan- Für die großen Mächte geht es jetzt in diesem Ge-
derprallten, die Astronomie blühte, hervorragen- biet um Militärbasen im Krieg gegen die Taliban,
de Ärzte lehrten. Zentralasien ist einer der ewi- um Öl- und Gas-Pipelines, um Rauschgiftpräven-
gen Brennpunkte der Weltgeschichte: Dareios I. tion – einige der wichtigsten Routen für Heroin
und Alexander der Große, Dschingis Khan und liegen dort, von Islamisten kontrolliert.
Tamerlan hinterließen hier Deshalb erlebt die Welt jetzt
ihre Spuren. Herrscher, auf 1 KIRGISIEN 2 KASACHSTAN 3 USBEKISTAN eine Neuauflage des Großen
die später die britischen und 4 TADSCHIKISTAN 5 TURKMENISTAN Spiels, mit den früheren Ak-
russischen Kolonialmächte RUSSLAND teuren Russland und Groß-
folgten, angetreten zum britannien sowie den neuen
2
„Great Game“, dem erbitter- Spielern USA, China, Iran.
ten Kampf um Bodenschätze Keines der Länder, die in
und strategische Basen. Kaspi- 3 ihrem Blickfeld liegen, ist
1
sches 5
Das Große Spiel wurde zu Meer 4
CHINA stabil, fast überall herrschen
Beginn des 20. Jahrhunderts exzentrische Diktatoren, die
AFGHANISTAN
vertagt. Aber bald drückte IRAN Korruption blüht, jeder liegt
der Region ein noch brutale- PAKISTAN INDIEN mit dem Nachbarn im Streit:
500 km
rer Diktator den Stempel Kirgisien ist nach mehreren
auf: Josef Stalin zeichnete Staatsstreichen und ethni-
nach 1920 die Grenzen Zentralasiens neu. Er schen Unruhen führungslos, das rohstoffreiche
schuf fünf Sowjetrepubliken, zerschnitt traditio- Kasachstan fühlt sich von China bedrängt, in Ta-
nelle Handelsräume und Siedlungsgebiete. Sein dschikistan haben Islamisten ihren Kampf gegen
Ziel war es, die muslimischen Völker zu schwä- das Regime wieder aufgenommen, und in der
chen und gegeneinander aufzuwiegeln, damit sie Baumwollrepublik Usbekistan wird die Opposi-
Moskau nicht gefährlich werden. tion grausam verfolgt.
Die Saat des Hasses war gelegt, mit der Auflö- In einer neuen Serie wird der SPIEGEL die be-
sung des Weltreichs brach er sich Bahn. Aus den sorgniserregende Situation in Zentralasien be-
sowjetischen Teilrepubliken wurden unabhängige schreiben. Dort „könnte ein gewaltiges Unwetter
Staaten, zerrissen von unnatürlichen Grenzen. Ei- heraufziehen“, fürchtet der amerikanische Histo-
nen „eurasischen Balkan“ hat der ehemalige ame- riker Kenneth Weisbrode.

KIRGISIEN

Das Rätsel von Osch


Mindestens 2000 Menschen kamen im Juni bei Unruhen um, seither herrschen Gewalt und Recht-
losigkeit. Jetzt soll Kirgisien die erste parlamentarische Republik Zentralasiens werden –
Amerikaner, Russen und die Nachbarstaaten warnen. Von Erich Follath und Christian Neef

D
ie Sonne steht hoch über Osch, di- Orientalische Idylle? nahen Usbekistan, 13 Leichen gebracht,
rekt über dem That-i-Suleiman, An diesem Morgen haben sie in einer ein Kinderarzt war darunter. Auch diese
dem riesigen Felsen mitten in der der Moscheen von Osch, im Keller, mitten Toten stammten aus Osch; sie waren, an
Stadt, auf dem einst der biblische König im Schutt, vier tote Mädchen gefunden. den Händen gefesselt und ebenfalls
Salomon gepredigt haben soll. Sie strahlt Ihre Körper waren vollständig verbrannt, furchtbar verstümmelt, den Fluss Ak-
so unbarmherzig, dass die schneebedeck- bei einigen die Köpfe abgetrennt. Die Lei- Bura hinab über die Grenze getrieben.
ten Berge des Tianshan hinter einem Vor- chen waren in Teppiche gewickelt. Kirgi- Alle 13 – Kirgisen aus Osch.
hang aus flimmernder Hitze verschwun- sische Mädchen. Aus Osch. Wenig später Für die Männer und Frauen, die sich in
den sind. Irgendwo ruft ein Muezzin. wurden aus Andischan, einer Stadt im dem Zeltstädtchen neben dem mächtigen
130 D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0
D. DALTON BENNETT / AP
Vor den Pogromen geflüchtete Usbeken aus Osch am 12. Juni: „Bei der Polizei nahmen sie nicht mal den Hörer ab“

weißen Gebäude der Gebietsverwaltung Über 370 Menschen sind laut offiziel- Weg nach Indien am That-i-Suleiman Sta-
versammelt haben, ist der Fall klar: „Die len Angaben bei den Pogromen ums Le- tion gemacht haben.
Mörder waren Usbeken“, sagt Gumira Aly- ben gekommen, als die Kirgisen Usbeken Seit Juni aber ist diese Stadt mit ihren
kulowa, eine 35-jährige Kirgisin. Jene eth- jagten und die Usbeken Kirgisen. Es wa- 250 000 Einwohnern nur noch ein Schat-
nische Minderheit also, die in Osch die ren aber wohl mindestens 2000. Über ten ihrer selbst. Der Vier-Tage-Krieg hat
Mehrheit stellt. Der die meisten Märkte, 75 000 Menschen flüchteten nach Usbe- eine breite Spur aus Asche hinterlassen.
Restaurants oder Ackerflächen gehören und kistan. Die Welt war schockiert. Magistralen wie die Kirgisien-Straße sind
die die Kirgisen, so glauben die aufgebrach- Was ist in Osch passiert? Warum ant- verwüstet, alle Geschäfte auf der rechten
ten Leute, von hier verdrängen möchte. worten weder Bürgermeister, Provinz-, Seite, Cafés, Restaurants, eine muslimi-
Die kleine Zeltstadt ist seit den viertä- Polizei- noch Geheimdienstchef auf die sche Klinik niedergebrannt. Die linke Sei-
gigen blutigen Unruhen vom Juni dieses Frage, wie das Morden begann? Warum te ist unversehrt, dort wohnen Kirgisen.
Jahres eine der Nachrichtenbörsen der meiden die Zeitungen dieses Thema? Eine Version der Ereignisse geht so: Us-
Stadt. Eine kirgisische allerdings. Wer die Das Schweigen, das sich nach den so- beken haben ein Wohnheim der Univer-
andere Seite der Wahrheit hören will, genannten Ereignissen über Osch gelegt sität von Osch überfallen und kirgisische
muss zwei Kilometer weiter in usbekische hat, macht den Menschen Angst – Be- Studentinnen vergewaltigt. Das hat die
Wohnviertel wie Schark fahren. wohnern einer Stadt, die jahrhunderte- Rache der Kirgisen ausgelöst.
Schark sieht aus, als hätten feindliche lang weltoffen war, ein Ort friedlichen Eine andere lautet: Die Vergewaltigun-
Flieger einen Bombenteppich gelegt. Das Handels, Kreuzungspunkt an der legen- gen hat es nie gegeben, die Unruhen sind
Viertel ist komplett niedergebrannt, selbst dären Seidenstraße. gezielt provoziert worden.
von den Schulen stehen nur noch rauch- 3000 Jahre alt ist Osch, älter als Rom. Osch ist jetzt eine Stadt im rechtsfreien
geschwärzte Grundmauern. Das waren Karawanen aus China zogen hier durch, Raum. Jede Nacht, wenn die Straßen in
die Kirgisen, sagen die Usbeken dort. auch Alexander der Große soll auf dem pechschwarzer Dunkelheit liegen, regie-
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XINHUA / ACTION PRESS
Nächtliches Stadtzentrum von Bischkek: „Wir sind Viehzüchter, die zu anderen Weiden ziehen, wenn die alte leergefressen ist“

ren Männer in Camouflage-Uniformen Regierung im benachbarten Tadschikistan Das schöne Bild vom demokratischen
ohne Schulterstücke, es sind Stunden der kämpfen, sammeln sich hier ebenso wie Gemeinwesen im Herzen Asiens geht auf
Rache und der Willkür. 3000 Usbeken sol- uigurische Aktivisten aus der chinesi- den Physiker Askar Akajew zurück, der
len verhaftet worden sein, andere wurden schen Unruhe-Provinz Xinjiang. Drogen- Kirgisien nach dem Zerfall der Sowjet-
entführt oder sind untergetaucht. Alle Us- händler wiederum nutzen Kirgisien als union führte – ein aufgeklärter Mann, der,
beken wurden aus staatlichen Funktionen wichtige Rauschgifttrasse – sie verläuft anders als die Herrscher in Kasachstan,
entlassen. von Afghanistan direkt über Osch. Für Turkmenistan und Usbekistan, nicht vor-
Es ist kein Provinzdrama, das sich hier die Großmächte ist dieses Land die ge- her schon kommunistischer Parteichef ge-
abspielt. Osch ist zum Menetekel gewor- fährlichste Weichstelle der Region. wesen war. Er regierte mit einem Parla-
den. Für ein ganzes Land, aber vielleicht Aber auch sie brauchen das kleine Kir- ment, das seinen Namen halbwegs ver-
auch für eine ganze Region. gisien. China will hier einen Teil seines diente, mit Opposition und freier Presse.
Die Pogrome waren eine Folge des Rohstoffhungers stillen. Moskau benötigt Seine Amtskollegen dagegen herrschten
jüngsten Machtwechsels in der Haupt- das Gebiet als Pufferzone gegen das Vor- von Anfang an autoritär – in der Über-
stadt Bischkek: Im April hatten Demon- dringen des fundamentalistischen Islam, zeugung, ihre über Nacht entstandenen
stranten nach blutigen Protesten den und Amerika benutzt es als Nachschub- Länder, in denen turk- und persischspra-
korrupten Staatschef Kurmanbek Baki- basis für seinen Krieg gegen al-Qaida und chige Völker, Russen, Koreaner und Chi-
jew außer Landes gejagt. Die Regierung, die Taliban. Chaos und Anarchie in Kir- nesen auf engstem Raum nebeneinander
die danach ins Amt gelangte, gibt es eben- gisien sind das Letzte, was Amerikaner, leben, ließen sich anders nicht regieren.
falls schon nicht mehr; Übergangspräsi- Russen und Chinesen brauchen. Ausge- Doch auch Akajew schnitt sich später
dentin Rosa Otunbajewa, früher Außen- rechnet dieses Land soll vor kurzem noch die Verfassung zurecht und ließ zu, dass
ministerin, dann Oppositionelle, lenkt das „die Schweiz Zentralasiens“ gewesen sein, sich sein Familienclan bereicherte. Der är-
Land mit Dekreten. Sie will am 10. Okto- von der der Westen so gern schrieb? mere Süden erhob sich gegen den reiche-
ber ein Parlament wählen lassen, aber ren Norden, 2005 wurde Akajew gestürzt.
schon wird in Bischkek wieder demon- Nachfolger Bakijew machte dieselben Feh-
striert, wieder geht die Polizei mit Trä- USBEKISTAN Bischkek ler, er hielt sich nur fünf Jahre.
nengas vor, wieder werden Andersden- Nach dem Umsturz vom April sollte
kende verhaftet.
KIRGISIEN nun alles anders werden. Die provisori-
Kirgisien, die muslimische Bergrepu- Dschalal-Abad sche Regierung entwarf ein Grundgesetz
Andischan
blik mit ihren gerade 5,3 Millionen Ein- Bevölkerungs- nach deutschem Vorbild und ließ es sich
Osch gruppen in Kirgisien
wohnern, ist unregierbar geworden. Das per Referendum bestätigen. Die Rechte
wäre eine Fußnote der Weltgeschichte, 14,5 % des Präsidenten wurden beschnitten, kein
wenn dieses Land, in dem die Orte Toru- Usbeken Amtsmissbrauch und keine Clanwirt-
Aigyr oder Kurkurëu heißen und die Ein- 70 % 8% schaft mehr, lautete die Parole. Nach der
wohner Momun oder Oroskul, nicht das Kirgisen Russen Wahl im Oktober wäre Kirgisien Zentral-
Herz einer Region wäre, die den Mächti- 100 km 7,5% asiens erste parlamentarische Republik.
gen der Welt erhebliche Sorgen macht. Sonstige Aber da geschah der Massenmord von
Es ist ein Abstieg von historischem Aus- Osch. Seither ist Kirgisien paralysiert.
maß, denn die Kirgisen waren im frühen Ist ein bitterarmes Land, das alle paar
Mittelalter die größte Macht Zentralasiens. Jahre als Trophäe an einen anderen feu-
Dann fiel Dschingis Khan über sie her, die dalen Familienclan weitergereicht wird,
Chinesen kamen, 1876 die Russen. Stalin reif für eine parlamentarische Demokra-
zog die Grenzen der späteren Sowjetrepu- tie? Kaum, sagen politische Beobachter.
CHRISTIAN NEEF / DER SPIEGEL

blik quer durch die Siedlungsgebiete von Ein Kirgisien, das nach westlichem Mus-
Kirgisen und Usbeken. Heute ist Kirgisien ter funktioniert, würde zur Gefahr für sie
ein armes Land. Es exportiert Gold und selbst, sagen auch die Nachbarn und bau-
Uran, aber das Durchschnittseinkommen en vorsorglich ihre Grenzen aus.
liegt bei etwa 60 Euro monatlich. Russlands Präsident Dmitrij Medwe-
Ein Staat ohne Führung ist ein idealer dew sieht das kaum anders – ähnlich wie
Rückzugsort für Extremisten und Krimi- Aitmatow-Kinder Eldar, Schirin sein amerikanischer Kollege Barack Oba-
nelle. Fundamentalisten, die gegen die „Im Sinne des Vaters handeln“ ma. Er befürchtet, die Wahl im Oktober
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Serie

werde „Radikale“ an die Macht bringen, renden traute er zum Schluss nicht mehr,
„auf absolut legalem Wege. Dann bekom- in seine Bücher zog tiefer Pessimismus
men wir ein Kirgisien, das sich nach ein – Aitmatow war auf der Suche nach
afghanischem Muster der Taliban-Zeit einer „vernünftigen Religion“, die den
entwickeln wird – und das wäre extrem Menschen neuen moralischen Halt zu ge-
gefährlich für unser Land und Zentral- ben vermag.
asien“. „Als es 1990 hier in Osch schon einmal
Noch könne die Situation gerettet wer- wegen eines Streits um Ländereien zu
den, glaubt Medwedew: wenn die kirgisi- blutigen Auseinandersetzungen zwischen
sche Führung „Mut und Taktgefühl“ zei- Usbeken und Kirgisen kam, mit mehr als
ge und das Gespräch mit den anderen tausend Toten“, sagt Eldar, „da flog unser
ethnischen Gemeinschaften suche. Vater sofort hierher. Er trat vor die erreg-
Tut sie das? Warum spricht die im Wes- ten Menschen und beruhigte sie. Kein Po-
ten hoch gelobte Übergangspräsidentin litiker hat sich das damals getraut.“
nur von „dunklen Kräften“, die das Blut- Eldar, ein wortkarger junger Mann mit
vergießen in Osch verschuldet hätten? Brille und pockennarbigem Gesicht, ist
Warum nennt sie Ross und Reiter nicht, vom Vater als Alleinerbe eingesetzt wor-
warum lässt sie es zu, dass ihre Umge- den, er leitet jetzt in Bischkek die Inter-
bung den Einsatz einer internationalen nationale Aitmatow-Stiftung. „Wir muss-
Polizeitruppe im Krisengebiet torpediert? ten in seinem Sinne etwas tun“, sagt er.
Vier Menschen versuchen seit Wochen, Als im Juni die Unruhen ausbrachen,
die Wahrheit über die Vorgänge in Osch sind die Geschwister durch Bischkek ge-
herauszufinden: die Kinder eines weltbe- fahren, sie haben zusammen mit Freun-
kannten Schriftstellers, eine couragierte den Medikamente, Lebensmittel, Klei-
Juristin und ein früherer Vizegouverneur. dung und Zelte gesammelt, die Spenden
zum Flughafen gebracht und dort eine

D ie Geschwister Schirin und Eldar, sie


32, er 30 Jahre alt, sind in Bischkek ge-
boren, sie seien „Kinder des Nordens“, sagt
ganze Nacht gewartet, bis Frachtmaschi-
nen sie mit nach Osch nahmen.
Jetzt sind die beiden das zweite Mal
Schirin, sie hätten mit den ländlich orien- da, mit mehreren Kamerateams; sie wol-
tierten Leuten im Süden wenig gemein. Au- len, so sagen sie, die Ungeheuerlichkeiten,
ßerdem haben sie fast die Hälfte ihres Le- die in Osch passierten, dokumentieren –
bens im Westen verbracht. Osch ist für sie
eine Stadt aus Tausendundeiner Nacht. Tschingis Aitmatow suchte eine
Vielleicht ist ihre Reise gerade deswe-
gen so wichtig. Religion, die den Kirgisen
Die beiden stehen am Rande des zer- moralischen Halt geben sollte.
störten Markts, wo kirgisische Frauen auf
nackter Straße den Rest ihrer Ernte aus- „damit die Nachwelt irgendeine Lehre aus
gebreitet haben, Melonen, Gurken und den traurigen Ereignissen ziehen kann“.
Tomaten. Einige der Frauen erkennen Schirin und Eldar sind auch heute wie-
Schirin und Eldar. Vor allem Schirin. der unterwegs, in kirgisischen wie usbe-
Sie trägt ein weißes Kleid mit großen kischen Vierteln, sie treffen Frauen wie
bunten Blumen, ihre schwarzen Haare Aigul Dscholdubajewa. Die Kirgisin ist
fallen bis auf die Schultern und umrah- klein und stämmig, 39 Jahre alt, früher
men ein volles, rundes Gesicht: Es ist das hat sie Schuhe auf dem Markt verkauft,
Gesicht ihres Vaters, dem sie weit mehr sie war Unternehmerin. Sie steht auf dem
ähnelt als Bruder Eldar. Das Gesicht von Hof ihres abgebrannten Hauses, es war
Tschingis Aitmatow. eines der besseren im Ort, mit Säulen vor
Aitmatow war zu Sowjetzeiten der dem Aufgang und insgesamt elf Zimmern,
„geistige Vater des kirgisischen Volkes“ die Decken sind jetzt eingestürzt. „Über
und als „Stimme Zentralasiens“ bekannt. zehn Jahre habe ich 350 000 Dollar zu-
Er war unter Stalin Steuereintreiber, La- sammengespart“, schreit Dscholdubajewa
gerarbeiter und Maschinist gewesen, hat- erregt über den Hof, „und muss erleben,
te Tiermedizin und Literatur studiert und wie alles in einer Stunde zu Asche wird.“
stieg dann zum populärsten sowjetischen Am 10. Juni abends habe alles begon-
Schriftsteller auf. Seine Bücher „Der wei- nen, sagt sie, am 11. habe ihr Haus ge-
ße Dampfer“ und „Dschamilja“ – laut brannt, aber selbst am 13. seien weder
dem französischen Dichter Louis Aragon Feuerwehr noch Polizei zu sehen gewe-
„die schönste Liebesgeschichte der sen. „Was hat die Regierung in dieser Zeit
Welt“ – wurden in 80 Sprachen übersetzt. gemacht? Nicht einen Ziegelstein dieses
16 seiner letzten Lebensjahre hatte Ait- Hauses hat sie bezahlt, und sie kümmert
matow als Botschafter Kirgisiens in Frank- sich auch jetzt einen Dreck um uns.“
reich und den Benelux-Staaten verbracht; Ob sie gesehen habe, wer mit den
bis kurz vor seinem Tod 2008 lebte er in Brandstiftungen begonnen habe? Nein,
Brüssel, meist zusammen mit den Kindern. sagt Dscholdubajewa, aber jeder wisse es
Ihr Vater habe gegen die Zerstörung doch: 3000 Usbeken hätten sich zusam-
der kulturellen Traditionen angeschrie- mengerottet, „Allahu akbar“ hätten sie
ben, sagen Schirin und Eldar. Den Regie- geschrien, dann seien sie mit Fackeln los-
D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0 135
Serie

ben sie begriffen: „Kirgisen und Usbeken


reden nicht mehr miteinander. Es wird
keine Versöhnung geben.“

E s ist völlig egal, wer angefangen hat“,


sagt Tscholpon Dschakupowa, „viel
schlimmer ist, dass wir dieses Land in ein
zweites Afghanistan verwandeln.“
Die Juristin Dschakupowa, 51 Jahre alt,
ist Kirgisiens bekannteste Bürgerrechtle-
rin, sie leitet die Organisation „Adilet“.
Auch sie ist seit Tagen in der Stadt, auf
der Suche nach den Opfern der Pogrome.
Seit dem frühen Morgen hat sie die
Klinken von Polizei- und Beamtenstuben
geputzt und vergebens versucht, in die
Keller unterm Schauspielhaus zu gelan-
gen, wo ein Teil der verhafteten Usbeken
sitzen soll, sie ist vorbeigehetzt an den
Kirgisin Dscholdubajewa auf ihrem Hof in Osch: „Die haben das lange geplant“ bettelnden Usbeken-Frauen, die neben
der Universität ihre allerletzte Habe ver-
kaufen, und hat selbst in der Nachbarstadt
Dschalal-Abad noch Zeugen gesucht.
Jetzt sitzt sie erschöpft vor ihrer Un-
terkunft und raucht Kette, sie muss ver-
arbeiten, was sie tagsüber erfahren hat.
Bei den Usbeken seien wesentlich mehr
Menschen umgekommen als bei den Kir-
gisen, sagt sie. Aber die Polizei verhafte
vor allem Usbeken. Sie habe heute einen
Mann getroffen, der habe gerade seinen
Sohn zurückgekauft – für 5000 Dollar.

FOTOS: CHRISTIAN NEEF / DER SPIEGEL


„Hier herrscht absolute Rechtlosigkeit“,
sagt Dschakupowa. „Die Gegend ist in
der Hand von Warlords.“
Das viertägige Morden sei keine spon-
tane Aktion gewesen. Blutjunge kirgisi-
sche Männer, die in den angrenzenden
armen Bergdörfern als Viehzüchter leb-
ten, seien in die Stadt gekommen. Deren
Usbeke Sakirow in den Ruinen seines Hauses in Osch: „Ich dachte, ich kenne die Menschen“ Plünderungswut habe man mit Erzählun-
gen vom usbekischen Reichtum ange-
gezogen. „Die haben das lange geplant Weinreben im Innenhof sind verdorrt. facht – da seien zwei unterschiedliche Le-
und ihre eigenen Frauen und Kindern Mitten im Schutt liegt sein aufgebroche- benswelten aufeinandergetroffen.
rechtzeitig aus der Stadt geschafft.“ ner, ausgeglühter Safe. „Ich habe nichts „Die neuen Politiker in Bischkek haben
Der Usbeke Isatullah Sakirow, 49, er- gegen Kirgisen“, sagt er und stochert mit vier Tage lang die Augen zugemacht“,
zählt alles genau andersherum. Im Viertel dem Fuß im Schutt, „wir hatten bis zum sagt Dschakupowa und zieht heftig an ih-
Schark hätten ebenfalls am 11. schon zwei Juni einen als Nachbarn und nicht mal rer Zigarette – „ja wahrscheinlich sogar
Häuser gebrannt. Junge Kirgisen, kaum einen Zaun zwischen uns. Die Streiterei- mehr: Sie haben die ethnischen Minder-
älter als 18, seien mit Kalaschnikows be- en damals, 1990, wurden – wenn auch mit heiten in die Machtspiele hineingezogen,
waffnet durch die Gassen gezogen. Am hartem Militäreinsatz – schnell geklärt.“ die das Land seit Bakijews Sturz lähmen.“
nächsten Tag standen bereits zehn Häuser „Aber was jetzt hier passiert ist, ver- Es sei womöglich ein ausgeklügeltes
in Flammen. „Wir haben aus Containern stehe ich nicht“, sagt Sakirow. Er sei Fern- Spiel gewesen. „Einige Leute aus der Re-
Barrikaden errichtet und bei der Polizei fahrer mit eigenem Lkw, er sei durch die gierung von Präsidentin Otunbajewa ha-
und beim Bürgermeister angerufen. Die halbe Welt gekommen, nach Hamburg, ben die neue Verfassung durchgedrückt,
nahmen nicht mal den Hörer ab.“ Riad, Moskau: „Ich dachte, ich kenne die um dann ins Parlament zu wechseln, das
Am dritten Tag, erzählt er, seien 500 Menschen.“ Jetzt wolle er mit seiner sie- ab Oktober Kirgisiens neue Machtzentra-
Mann von Süden her gekommen, 200 von benköpfigen Familie nur noch weg, aller- le sein wird. Sie werden später bestim-
Norden. Sie hätten wild um sich geschos- dings seien alle Papiere verbrannt. Um men, was im Land passiert, nicht Otun-
sen, seien in die Häuser eingedrungen neue zu bekommen, würden die kirgisi- bajewa. Die Verfassung aber wäre nie
und hätten alles Wertvolle auf Lastwagen schen Beamten in Kirgisisch ausgefüllte durchgekommen, hätte es nicht die Po-
geladen. Dann seien die Brandstifter Anträge verlangen, Kirgisisch aber sprä- grome in Osch gegeben: Die Menschen
nachgerückt, um die Häuser abzufackeln. chen die Usbeken nicht. wollten danach nur noch Ruhe und haben
Zehn Leute in seinem Viertel starben, Schirin und Eldar, die Aitmatow-Kin- mit Ja gestimmt. Es war eine Farce.“
sein Bruder erhielt einen Schulterdurch- der, haben Aussagen wie diese gefilmt. Und die Usbeken? Es habe im April
schuss, drei Usbeken sind vermisst. Welche Hand Hass und Sadismus gesteu- eine Abmachung gegeben, sagt Dschaku-
Sakirow trägt blaue Hose und blaues ert hat, verstehen die im beschaulichen powa: Sie stimmen für die neue Führung
Hemd, die Sachen sind vom Roten Kreuz. Brüssel aufgewachsenen Geschwister und erhalten dafür eine bestimmte Zahl
Auch sein Haus liegt in Asche, selbst die noch weniger als Sakirow. Eines aber ha- an Parlamentssitzen und den Bürgermeis-
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700 000 Usbeken, die zudem immer mehr
Kinder in die Welt setzten, schrieb die
Zeitung „Alibi“: „Solange noch ein Fünk-
chen Stolz in uns ist, sollten wir den Us-
beken den Kulturkrieg erklären.“
Für Kalnur Ormuschew sind die Hetz-
reden eine Bankrotterklärung seines Vol-
kes. „Alle um uns herum sind ehrgeizig“,
sagt er. „Die Kasachen haben Öl und wol-
len eine Weltmacht werden, die Usbeken
halten sich für die Führungskraft der Re-
gion.“ Die Kirgisen aber? Die hätten jede
Menge Präsidenten und verbrannte Städ-
te. Nur kein Ziel. „Wir sind ohne Leiden-
schaft. Viehzüchter eben, die zu anderen
Weiden ziehen, wenn die alte leergefres-

IMAGO STOCK & PEOPLE


sen ist. Kirgise sein ist eine Diagnose.“
Ormuschew, 60 Jahre alt, ein schmaler
Intellektueller mit Brille, war früher Vi-
zegouverneur in Osch und Vizeminister
in Bischkek, dann verließ er die Politik.
Staatschefin Otunbajewa bei ihrer Vereidigung am 3. Juli: „Die zerreißen mich“ Er sitzt zur Mittagszeit in einem der tür-
kischen Restaurants von Bischkek, er ist
ter- oder den Gouverneursposten in Osch. nicht, sie sieht aus, als hätte der Kreml jetzt Generalvertreter für Havanna-Zigar-
Jetzt sind die Usbeken kaltgestellt. Aber eine seiner Sowjetstädte 3000 Kilometer ren in der Region.
gleichzeitig ist das Korn für eine usbekische
weit nach Osten exportiert. „Auch wir hätten für unsere fünf Mil-
Nationalbewegung gelegt, die über die In den letzten Monaten ist Bischkek lionen Einwohner genug Ressourcen“,
Grenzen der Region schwappen könnte – heruntergekommen, der „Revolution“ sagt Ormuschew, „aber über eine halbe
denn die Usbeken machen in ganz Zen- vom April fiel auch der Bürgermeister Million Menschen haben Kirgisien verlas-
tralasien ein Drittel der Bevölkerung aus. zum Opfer. Er galt als tüchtiger Mann, je- sen: Die Ingenieure sind weg, alle guten
Ein Land, in dem auf so menschenver- doch als Anhänger des gestürzten Präsi- Ärzte, die Wissenschaftler. Wir sind in ei-
achtende Art Politik betrieben werde, sei denten. Nun sind die Straßen mit Schlag- ner geistigen Krise.“ Einer wie Tschingis
nicht reif für eine parlamentarische De- löchern übersät, die Hausfassaden ver- Aitmatow, sagt er, hätte alles noch richten
mokratie, sagt die Juristin. wahrlost, in stillgelegten Springbrunnen können. Aber solche Männer gebe es
Dschakupowa kennt die neue Präsiden- schwimmt Müll. Nur abends, wenn die nicht mehr. Und nun wollten sie in Bisch-
tin aus den Zeiten, als sie in der Opposi- Dunkelheit Bischkeks Wunden verhüllt, kek die Volksherrschaft ausrufen.
tion gewesen war. Vor kurzem ist sie zu wirkt die Stadt freundlicher. Glaube er an die Theorie angelsächsi-
ihr gegangen und hat ihr den selbstver- In der abklingenden Hitze des Som- scher Ökonomen, wonach Demokratie in
fassten Entwurf eines Erlasses vorgelegt. mertags flanieren dann ärmlich gekleide- verarmten Ländern zu einem Anstieg po-
„Unterschreiben Sie ihn, dann lässt sich te Leute über den zentralen Tschui-Pro- litischer Gewalt führen kann?
der Zerfall des Landes stoppen, habe ich spekt, sie kaufen chinesisches Spielzeug „Das mag so sein“, sagt Ormuschew.
zu Otunbajewa gesagt.“ „Was steht drin?“, für ihre Kinder, spielen „Haut den Lukas“ Und es sollte auch den Westen beunruhi-
habe die Präsidentin wissen wollen. und singen Karaoke oder lassen sich für gen. „Warum fuhr die deutsche Bundes-
„Dass Sie sich der selbstherrlichen Leutesechs Cent auf mobilen Waagen wiegen. kanzlerin zum Fußball nach Kapstadt
in Ihrer Umgebung entledigen, die hinter Die Tore vorm „Weißen Haus“, dem statt nach Osch, nachdem dort 2000 Men-
den Pogromen stecken.“ „Die zerreißen Regierungssitz, hängen seit dem Umsturz schen gestorben waren?“ Habe ihre Re-
mich“, habe die Präsidentin geantwortet. schief in ihren Angeln. An ihren schmie- gierung nicht Zentralasien zum Schwer-
Dschakupowa: „Sie sind nach dem Ver- deeisernen Gittern klebten jüngst Zettel punkt erklärt? Sie hätte eine gute Figur
fassungsreferendum die einzig legitime mit düsteren Losungen: „Für dreckige Ju- als Friedensstifterin machen können.
Politikerin im Land, alle anderen sind den ist kein Platz in Kirgisien“, stand da. „Aber wir spielen im Westen keine Rol-
nicht mal vom Parlament bestellt.“ Dahinter steckt eine Geschichte: Der le“, sagt der Zigarrenvertreter und zieht
„Sie hat nichts getan, sie ist eine un- verhasste Sohn des gestürzten Staatschefs, an einer kleinen Habano. „Ihr Deutschen
entschlossene Frau“, sagt Dschakupowa. Maxim, der mit einer Schattenregierung seid abgestumpft. Ihr begreift nicht:
Inzwischen hätten die meisten dieser Kirgisiens Wirtschaft kontrollierte, hatte Wenn die Kirgisen nichts mehr zu essen
Männer die Regierung verlassen, um vor allem mit jüdischen Bankiers gedealt. haben, produzieren sie Waffen und He-
Wahlkampf zu führen. Jeder habe seine Aber geht es wirklich um die Juden? roin. Und ziehen zusammen mit Kim
eigene Partei und verkaufe Listenplätze Kaum. Aber ein Volk, das sich über Jong Il nach Europa.“
für bis zu 500 000 Dollar. Junge Parteian- eine jahrhundertealte Kultur definiert,
hänger würden zu „Ordnungskräften“ er- den Niedergang des Landes jedoch nicht
klärt und bekämen Waffen. „Das sind Mi- zu begreifen vermag, liebt verlogene Pa- Im nächsten Heft: Kasachstan
lizen – doch niemand schreitet ein.“ rolen. Auch Koreaner, Uiguren, die Us-
Es ist Mitternacht geworden in Osch. beken ohnehin sind in Bischkek jetzt zur Eine gläserne Hauptstadt in der Step-
Draußen sind Schüsse zu hören. Zielscheibe geworden. Von „Parasiten“ pe und ein gottgleich herrschender
ist die Rede, von einer „Mafia, die unsere Präsident: Das menschenleere, aber
B ischkek heißt nicht nur die Stadt, son- Mädchen für ein Butterbrot kauft“, und
dern auch jenes Gefäß, in dem die „Volksfeinden, die über das Schicksal un-
Kirgisen ihr Nationalgetränk Kumys zu- seres Volkes entscheiden“. Die Kirgisen
ölreiche Kasachstan will Führungs-
macht in Zentralasien werden – und
bereiten – vergorene Stutenmilch. Kirgi- seien die Ärmsten im eigenen Land, weil ein zweites Singapur.
sisches Flair bietet die Metropole aber sie nicht nach Reichtum strebten wie die
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Szene Sport

PICTURE-ALLIANCE / DPA (L.); AP (R.)


Eigentor von Andrés Escobar bei der WM 1994, Drogenbaron Pablo Escobar 1983

FUSSBALL Copa Libertadores, die südamerikanische Champions League.


Pablo Escobar förderte auch die Nationalmannschaft: Atléti-

Tödliches Spiel co-Trainer Francisco Maturana coachte parallel die „Los Ca-
feteros“ um Kapitän Carlos Valderrama und den exzentri-
schen Torwart René Higuita. Soldaten einer Eliteeinheit er-

D er unerwartete Aufstieg der kolumbianischen Fußball- schossen Pablo Escobar 1993. Ein halbes Jahr später reiste
Nationalmannschaft Anfang der neunziger Jahre war die Nationalmannschaft als Geheimfavorit zur WM in die
eine Folge des „Narco-Soccer“, einer Verstrickung aus Sport, USA. Das Team verstand sich als Botschafter, es wollte der
Drogen, Gewalt und Politik. In ihrer packenden Dokumen- Welt zeigen, dass Kolumbien mehr ist als Mord und Drogen.
tation „The Two Escobars“ erzählen die US-amerikanischen Doch nach der Auftaktniederlage gegen Rumänien wurde in
Filmemacher Michael und Jeff Zimbalist die Geschichte von der Heimat der Bruder eines Spielers getötet, und unmittelbar
Pablo Escobar, dem Chef des Medellín-Kartells, und Andrés vor der zweiten Partie gegen die USA erhielt die Mannschaft
Escobar, Verteidiger im damaligen Nationalteam: Die beiden Morddrohungen. Andrés Escobar schoss ein Eigentor, Ko-
sind nicht verwandt, ihr Leben und Sterben aber ist untrenn- lumbien verlor 1:2 und schied aus. Zehn Tage später richteten
bar miteinander verbunden. Der Drogenbaron Pablo Escobar ihn zwei Drogenhändler in Medellín mit sechs Schüssen hin.
wusch in den Achtzigern wie andere kolumbianische Kokain- Die Stärke des Films ist seine Intensität: Die Brutalität der
händler auch sein illegal verdientes Geld über einen Fußball- Mafia, die Angst und Resignation der Spieler werden durch
club. So war es den Vereinen plötzlich möglich, gute Spieler die Erzählungen der Beteiligten und die Originalaufnahmen
in Kolumbien zu halten und aus dem Ausland zu verpflichten. deutlicher, als es in einem Spielfilm möglich wäre. Am Freitag
Pablo Escobar investierte in Atlético Nacional Medellín, wo feiert „The Two Escobars“ Deutschland-Premiere beim Nürn-
Andrés in der Abwehr spielte. Das Team gewann 1989 die berger Filmfestival der Menschenrechte.

EXTREMBERGSTEIGEN steiger, die am selben Tag unterwegs


waren, auf seiner angeblichen Route
Vater Morgana keine Spuren fanden. Zudem erkann-
ten Alpinisten, dass der Hintergrund

C hristian Stangl, 44, Österreicher


aus der Steiermark, nennt sich
Skyrunner, ein Kletterer, der die höchs-
auf dem Foto anders aussehen müsste.
Nun gibt es sogar Zweifel, ob Stangl je
das Basislager verlassen hat. Er habe
ten Gipfel in kürzester Zeit erreicht, sich die Zeit mit Lesen vertrieben,
„ohne viel Equipment und Technik“. Sherpas sollen vier Tage nach seinem
Dies sei „ehrliches Bergsteigen, ohne Abstieg an seinem Lagerplatz ein Buch
Firlefanz“. Am 12. August wollte mit dem Titel „Vater Morgana“ gefun-
Stangl morgens auf dem Gipfel des K2 den haben. Mittlerweile stellen Berg-
gestanden haben, des zweithöchsten Stangl steiger auch Stangls Schilderungen sei-
Bergs der Erde, auf 8611 Metern. „Ich ner Besteigungen des Shisha Pangma
hab’s geschafft!“, vermeldete er auf sei- Zielfoto rund tausend Höhenmeter un- und des Mount Everest in Frage. Ge-
ner Homepage, zum Beweis fotogra- terhalb des Gipfels gemacht zu haben. genüber dem SPIEGEL bestritt ein
fierte er sich selbst. Stangl gab an, Er habe sich in einem „tranceartigen Sprecher des Bergsteigers diese Vor-
70 Stunden für die Tour benötigt zu ha- Zustand befunden“ und gedacht, er sei würfe – Stangl werde „wegen seines
ben, das wäre Rekord. Doch unlängst auf dem höchsten Punkt gewesen. Der Aussetzers am K2“ derzeit „arg durch
musste er zugeben, das vermeintliche Schwindel flog auf, weil andere Berg- den Kakao gezogen“.
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Sport

MIKE GROLL / AP
Tennisprofi Petkovic bei den US Open im September

SPI EGEL-GESPRÄCH

„Jenseits der Realität“


Deutschlands beste Tennisspielerin Andrea Petkovic, 23, über ihren Aufstieg
in die Weltspitze, das absurde Verwöhnprogramm der Turnierdirektoren, das Selbstbewusstsein
der Stars und ihr Praktikum in der hessischen Staatskanzlei

SPIEGEL: Frau Petkovic, ist es eine Ehre Dazu gehört, die Menschen auch abseits te, in der Oberstufe bis 17 Uhr. Ich habe
oder eine Belastung für Sie, in einer Rei- des Platzes miteinzubeziehen. Wenn ein deswegen Spiele verloren, die ich eigent-
he zu stehen mit Steffi Graf? Kind sagt: Die Andrea ist cool, wegen lich hätte gewinnen müssen. Diesen
Petkovic: Sie meinen als beste deutsche der fange ich mit Tennis an, dann ist Zusammenhang habe ich damals nicht
Tennisspielerin? Eine Ehre, würde ich sa- schon viel gewonnen. erkannt, ich habe gedacht, ich sei einfach
gen. Mir ist das aber nicht wichtig. Steffi SPIEGEL: Sie haben auf dem Gymnasium zu schlecht.
Graf war ein Ausnahmetalent, was sie ge- die elfte Klasse übersprungen und Ihr SPIEGEL: Ihnen war nicht klar, dass Sie das
schafft hat, ist sehr schwer zu wiederho- Abitur mit der Note 1,2 bestanden. Sie Zeug zum Profi haben?
len. Das ist auch überhaupt nicht mein sind erst seit Anfang 2007 Profi, studieren Petkovic: In dieser Phase nicht. Auch wenn
Ziel. Mir geht es nicht allein um Leistung. nebenher Politik und stehen aktuell auf ich es zwischendurch gespürt habe. Im
Für mich ist Tennis viel mehr. Platz 35 der Weltrangliste. Haben Sie je- Januar 2003, da war ich 15 Jahre alt, bin
SPIEGEL: Was denn? mals damit gerechnet, Deutschlands Spit- ich bei den Australian Open der Junio-
Petkovic: Ich begreife mich in erster Linie zenspielerin zu sein? rinnen bis ins Achtelfinale gekommen
als Entertainerin, nicht als Sportlerin. Der Petkovic: Nein, ich war ja als Jugendliche und habe auf dem Weg dorthin Ana Iva-
Tennisplatz ist meine Bühne. Die Leute in meinem Jahrgang auch nie die Beste, nović geschlagen, die spätere Nummer
bezahlen, um unterhalten zu werden. Der weil die Schule für mich immer Priorität eins der Weltrangliste. Ich war total eu-
Profizirkus ist oft eindimensional, ich hatte. Ich habe meistens nur in den Fe- phorisiert und dachte, ich bin der kom-
möchte für ein paar Farbtupfer sorgen. rien Turniere gespielt, und je älter ich mende Superstar. Fast wäre ich in diese
wurde, desto weniger konnte ich trainie- Falle getappt.
Das Gespräch führte Redakteur Maik Großekathöfer. ren, weil ich immer länger Unterricht hat- SPIEGEL: In welche Falle?

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MARKUS HINTZEN
Studentin Petkovic

Petkovic: Ich wurde zum ersten Mal mit gen. Und weil ich vermeiden wollte, im das stetig erwärmt wird, und ich kann
den Oberflächlichkeiten der Szene kon- Tennis im Durchschnitt zu versinken. Es mir vorstellen, wie es ist, wenn es kocht.
frontiert. Es kamen die Sponsoren und gibt zu viele Frauen, die jahrelang um SPIEGEL: Wie ist es denn?
Manager, die meinten, ich hätte sicher Platz 80 oder 90 herumgurken, die stän- Petkovic: Der Druck ist riesig. Sie müssen
Potential für die Top Ten. Mit 15 kannst dig hoffen, den Durchbruch zu schaffen – mal drei Tage vor einem Grand-Slam-Tur-
du nicht wissen, dass die nur Geld mit wie Sänger, die nicht aufhören zu glau- nier anreisen und das Training beobach-
dir verdienen wollen, egal wie. Ich habe ben, irgendwann den einen Hit zu landen. ten: Da wird geflucht, werden Schläger
überlegt, die Schule abzubrechen. Mit der Dieses Schicksal wollte ich mir ersparen. geschmissen, das ist Wahnsinn. In der
Zeit wuchs aber die Erkenntnis, dass es SPIEGEL: Wie haben die anderen Spiele- Umkleide redet man nicht miteinander,
mir wichtiger war, zunächst einen ver- rinnen Sie auf der Tour empfangen? und wenn mal jemand lacht, dann ist es
nünftigen Abschluss zu machen. Petkovic: Die gucken dich genau an: Wie so ein hysterisches Lachen. Je länger das
SPIEGEL: Warum war Ihnen die Schule so spielt sie? Kann sie mir gefährlich werden? Turnier dauert, je leerer die Umkleide
wichtig? Sieht sie gut aus? Was hat sie für ein Markt- wird, desto größer wird der Druck. Bei
Petkovic: Ich wollte immer eine gute Schü- potential? Es ist ein seltsames Gewerbe, den Männern geht es lockerer zu, ich
lerin sein, und ich habe immer gern ge- schwer zu verstehen, aber faszinierend. weiß aus verlässlicher Quelle, dass die
lernt. Es gibt in meinem Leben viele Din- SPIEGEL: Was genau meinen Sie damit? häufig nackt in der Kabine rumlaufen.
ge, die ich besser kann als Tennis spielen. Petkovic: Es ist erstaunlich, wie knallhart SPIEGEL: Klingt, als seien Tennisprofis spe-
SPIEGEL: Warum sind Sie trotzdem Profi die guten Mädels sind, wie erbarmungslos zielle Typen.
geworden? die ihren Weg gehen. Serena Williams Petkovic: Viele leben jenseits der Realität.
Petkovic: Ich liebe diesen Sport. In einem etwa ist überzeugt, die beste Spielerin zu Ich habe mal gesehen, wie jemand an der
Match empfinde ich Wut, Freude, Trauer, sein, und wenn sie mal verliert, dann Kasse des Spielerzentrums sein Steak un-
Stolz. Andere Menschen springen mit dem denkt sie das immer noch. Oder Marija ter dem Reis versteckt hat, damit er nur
Fallschirm, nehmen Drogen, um Extreme Scharapowa: Die trennt zwischen Privat- den Reis bezahlen muss. Es gibt Profis,
zu leben. Ich spiele Tennis. Mich mit der leben und Arbeitswelt, die macht ihren die regen sich über Kleinigkeiten auf, da-
Gegnerin zu messen gibt mir einen Kick. Job und heuchelt keine Freundschaften bei werden sie verwöhnt ohne Ende. Da
SPIEGEL: Als Sie anfingen, haben Sie sich vor. Ihr Selbstbewusstsein kommt aller- scheidet man in der dritten Runde aus
geschworen: Wenn ich es nicht innerhalb dings nicht von innen, das ist auch nicht und kriegt als Trostpflaster ein iPad ge-
von zwei Jahren unter die besten 50 der anerzogen, sondern antrainiert. schenkt, zusätzlich zum Preisgeld. Das
Weltrangliste schaffe, höre ich auf. Wieso SPIEGEL: Fällt es Ihnen schwer, sich in die- ist völlig absurd.
dieses Ultimatum? sem Milieu zu arrangieren? SPIEGEL: Warum werden Tennisspieler so
Petkovic: Meine Eltern wollten, dass ich Petkovic: Es hilft mir, dass ich die Rangliste verhätschelt?
Jura oder Medizin studiere. Ich habe mir nicht hochgeschossen, sondern langsam Petkovic: Um sie bei Laune zu halten. Das
das Ultimatum gestellt, um sie zu beruhi- hochgeklettert bin. Ich bin wie Wasser, Verrückte ist: Je besser du bist, je mehr
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Sport

du also schon hast, desto mehr bekommst SPIEGEL: Da nennen Sie sich Petkorazzi Mal gepackt und kräftig durchgeschüttelt
du. Wertvollere Präsente, größere Hotel- und berichten über Skurriles aus der Ten- hätte.
zimmer. Das ist der Matthäus-Effekt: niswelt. Wie kam es dazu? SPIEGEL: Weshalb?
„Denn wer da hat, dem wird gegeben Petkovic: Ich versuche, das moderne Petkovic: Er fühlt sich offenbar nur wohl,
werden, und er wird die Fülle haben.“ Deutschland zu repräsentieren, und die wenn er mit Menschen zusammen ist, die
Statt denen unter die Arme zu greifen, junge Generation ist nun mal im Internet aus seinem Universum kommen. Wenn
die es gebrauchen können, den Qualifi- bei MySpace und Facebook unterwegs. er sich mit einem Vertreter der IG Metall
kanten zum Beispiel. Es ist eine verkehr- Ich wollte den Leuten etwas bieten, das trifft, ist er souverän und rhetorisch sen-
te Welt. andere nicht haben, und Facetten meiner sationell. Aber wenn er ein Altenheim
SPIEGEL: Sprechen Sie da aus Erfahrung? Persönlichkeit zeigen. Zunächst habe ich besucht, weiß er nicht, wie er sich ver-
Petkovic: Wenn du im Hauptfeld stehst, die Videos nur auf Deutsch gemacht, aber halten soll. Da hätte ich ihm am liebsten
wird dir das Hotel in der Regel spendiert, es gab so viele Anfragen, dass ich sie nun gesagt: Rolli, sei doch mal locker!
als Qualifikantin musst du es bezahlen. auch auf Englisch anbiete. SPIEGEL: Fühlen Sie sich der CDU nahe?
Einmal, bei den German Open in Berlin, SPIEGEL: In einer Folge berichten Sie von Petkovic: Nicht wirklich. Es gibt keine Par-
war es ein Fünf-Sterne-Haus, das konnte einer Spielerparty in Dubai. Da amüsie- tei, in die ich eintreten möchte, darum
ich mir nicht leisten, aber der kann ich mir vorstellen, nach
Fahrdienst zur Anlage ging nur der Tenniskarriere eine eigene
von dort aus. Also habe ich zu gründen. Ich meine das
mich bei einer Kollegin als blin- ernst. Was fehlt, ist eine Partei,
de Passagierin eingenistet. eher links angesiedelt und für
SPIEGEL: Wie gut muss man Leute zwischen 25 und 40. Die
sein, damit man vom Tennis le- kommen in unserer Gesell-
ben kann? schaft zu kurz.
Petkovic: Wenn du unter den SPIEGEL: Sie sind mit Ihren El-
ersten 100 der Weltrangliste tern vor 22 Jahren aus Jugosla-
bist, hast du keine Sorgen, aber wien nach Deutschland einge-
es bleibt für später nichts übrig. wandert. Wie bewerten Sie die
Um das zu schaffen, musst du Thesen von Thilo Sarrazin?
mindestens fünf, sechs Jahre Petkovic: Ich möchte dazu
unter den besten 50 stehen. nichts Neunmalkluges sagen,
SPIEGEL: Warum haben Sie ei- ich kann nur als Deutsche mit

TOBY MELVILLE / REUTERS


gentlich keinen Manager? Migrationshintergrund über
Petkovic: Weil ich unabhängig meine Erfahrungen reden.
bleiben will. Ich möchte selbst SPIEGEL: Nur zu.
für mich verantwortlich sein Petkovic: Ich war sechs Monate
und sagen dürfen, was ich alt, als ich nach Deutschland
möchte. Zu viele Spielerinnen Wimbledon-Siegerin Williams 2009: „Knallharte Mädels“ kam. Dieses Land hat mir so
sind gleichgeschaltet und wer- viele Chancen gegeben. Das
den über Erotik verkauft. Das ist mir zu ren Sie sich darüber, wie gut es die Profis politische System beeindruckt mich sehr.
banal. hätten, weil das Buffet so groß ist, und Ich konnte kein Wort Deutsch, als meine
SPIEGEL: Nervt es Sie manchmal, dass Sie sagen, das Dessert sehe aus wie „Hunde- Eltern mich mit drei in den Kindergarten
als Tennis-Intellektuelle gelten? kacke“. Wie findet die Profi-Organisation steckten. Erst als ich die Sprache be-
Petkovic: Ich verbinde mit dem Begriff „in- WTA das denn? herrschte, hatte ich auch Freunde. Spra-
tellektuell“ nichts Professorales. Ich bin Petkovic: Die WTA ist ein Unternehmen, che ist die Voraussetzung für Integration.
ein lebensfreudiger, neugieriger Mensch. das wirtschaften muss. Je mehr Leute Ten- Ohne Deutschkenntnisse hätte das Leben
SPIEGEL: Abgesehen vom Studium – wie nis interessant finden, desto besser für in Deutschland für mich keinen Sinn ge-
bilden Sie sich fort? sie. Ich denke, die wissen, dass ich mit macht. Deshalb müssen wir in Bildung
Petkovic: Ich habe den SPIEGEL und „Die dem Blog Leute erreiche, die sie nicht er- und noch mal in Bildung investieren. Man
Zeit“ abonniert. Und ich lese immer ei- reichen; ich mache Tennis möglicherwei- darf Integration nicht erzwingen, man
nen Roman und ein Sachbuch parallel. se für Leute spannend, die es vorher nicht muss den Einwanderern helfen, den rich-
SPIEGEL: Welche Bücher sind es gerade? spannend fanden. Deswegen unterstützt tigen Weg zu gehen – aber wir dürfen
Petkovic: „Der lange Weg zur Freiheit“ die WTA mich da, es gibt auf ihrer Web- auch nicht zu lieb sein und tolerant bis
von Nelson Mandela und „Effi Briest“ Seite einen Link auf meine Homepage. zum Gehtnichtmehr.
von Theodor Fontane. Poetischer Realis- SPIEGEL: Sie sind bei den US Open im Ach- SPIEGEL: Sie hören sich schon an wie eine
mus ist eigentlich nicht so mein Fall, aber telfinale ausgeschieden, vier Tage später Politikerin.
die Geschichte ist interessant, wie ein haben Sie eine Klausur geschrieben über Petkovic: Früh übt sich.
sehnsüchtiges Mädchen so begrenzt wird. die Verfassungsgeschichte Deutschlands SPIEGEL: Sie sind in den Top 50 angekom-
SPIEGEL: Die meisten Profis verbringen ihre und Europas. Wie ist es gelaufen? men, das heißt aber noch lange nicht, dass
Zeit vorm Fernseher oder der Playstation. Petkovic: Ganz okay. Ich lerne jeden Tag Sie auf Dauer da oben bleiben. Was tun
Petkovic: Ich hänge auch herum und gucke mindestens ein bis zwei Stunden, auch Sie, wenn Sie in der Weltrangliste wieder
DVDs, so ist es nicht. Aber auf Dauer ist auf den Turnieren. fallen?
mir das zu langweilig. Ich spiele Gitarre, SPIEGEL: Weil Sie wissen wollten, wie Poli- Petkovic: Im schlechtesten Fall braucht
lerne Schlagzeug, schreibe Liedtexte. tik wirklich funktioniert, haben Sie ein man ein Jahr, um von Platz 35 auf 90 zu
Nach einem Turnier versuche ich, noch Praktikum in der hessischen Staatskanz- rutschen. Wenn ich dann noch ein bis
einen Tag in der Stadt zu bleiben, um lei unter dem damaligen Ministerpräsi- zwei Jahre da unten stünde, würde ich
mir etwas anzugucken. In New York war denten Roland Koch absolviert. Was ha- Schluss machen. Alles andere wäre cha-
ich im Museum of Modern Art, in Paris ben Sie von ihm gelernt? rakterlos.
im Louvre. Und ich kümmere mich auch Petkovic: Koch ist ein schwieriger Typ. SPIEGEL: Frau Petkovic, wir danken Ihnen
noch um meinen Video-Blog. Ein brillanter Kopf, den ich gern ein paar für dieses Gespräch.
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Sport

Weltmeisters ganz nach oben gelangen Ortiz: „Das letzte Spiel, das wir hier
FUSSBALL
und mithalten kann. Mit Schmiergeld. gewonnen haben … Ich habe ihm 100 000

So sehen Hércules hat gegen Ende der vergan-


genen spanischen Zweitliga-Saison offen-
bar mindestens viermal versucht, gegne-
Euro gegeben ... Beim ersten Tor von
Tote wirft er sich in die andere Ecke …
Hast du es gesehen? … Erst wollten wir

Sieger aus rische Mannschaften zu kaufen. Obwohl


die Beweislage erdrückend ist, spielt
Hércules weiter in der Primera División.
Niemand scheint sich wirklich daran zu
der Mannschaft 300 000 geben. Die Mann-
schaft sagte aber, sie sei nicht käuflich …
Also haben wir den Torwart genommen.“
Ein paar Tage später, das geht aus den
Hércules Alicante hat sich den
stören. Ermittlungsakten hervor, spricht Ortiz am
Aufstieg in die erste spanische Die Verwandlung vom Verliererteam Telefon mit Jorge López Marco, genannt
Liga offensichtlich erkauft. zur Siegermannschaft begann für Hércu- Tote, dem Mannschaftskapitän von Hér-
Doch der Schmiergeldskandal les mit Enrique Ortiz, einem rundlichen cules, einem ehemaligen Spieler von Real
bleibt ohne Folgen. Mann, der rahmenlose Brillen mag und Madrid. Das Auswärtsspiel beim FC Gi-
dem die Stadt Alicante faktisch gehört. rona war nur 1:1 ausgegangen, Ortiz will

D
er kleine Verein Hércules Club de Ortiz ist der größte Bauunternehmer der offenbar wissen, warum.
Fútbol aus Alicante wirkte immer Provinz und Mehrheitseigner bei Hércu- „Was ist los, Alter?“, fragt Ortiz den
ein wenig wie die spanische Aus- les. In Alicante besitzt er 25 Prozent des Kapitän.
gabe von Arminia Bielefeld. Eine dieser städtischen Bodens, nimmt man seine vie- Da erklärt Tote dem Clubeigentümer,
netten Fahrstuhlmannschaften, die nur len Beteiligungen hinzu, sind es rund dass die Gegner von Hércules offenbar
für ein paar Jahre in der höchsten Spiel- 70 Prozent. von weiteren Aufstiegskandidaten Geld
klasse auftauchen, ein paar gute, viele Seit einiger Zeit wird gegen Ortiz er- geboten bekommen, damit sie sich gegen
schlechte Auftritte hinlegen, bevor sie mittelt, der seine Unschuld beteuert. Es Hércules mächtig ins Zeug legen. „Damit
wieder in der Versenkung verschwinden, geht um den Verdacht der Korruption, du nicht sagst, dass die anderen keine
Kohle springen lassen. Das hier
ist ein Monsterkrieg“, sagt der
Kapitän laut dem Protokoll.
Der Skandal ist nun zwar in
der Welt, doch Folgen für die
mutmaßlichen Manipulateure hat
er keine. Denn Spanien ist ein
Rechtsstaat.
Unlängst entschied das Beru-
MANUEL LORENZO / MARCAMEDIA / PIXATHLON (L.); VI IMAGES / IMAGO (R.)

fungsgericht in Alicante in letzter


Instanz, dass die Ermittlungs-
akten mit den Abhörprotokollen
nicht an den Fußballverband in
Madrid weitergeleitet werden
dürfen. Die Aufnahmen seien
als Beweismaterial unzulässig,
hieß es in der Begründung, weil
die Fahnder den Hintergrund
eines Müllskandals aufdecken
sollten und nicht den Verdacht
der Spielmanipulation, die in
Spanien keine Straftat ist. Streng-
genommen hätten die Ermittler
das Band ausschalten müssen,
Hércules-Eigner Ortiz (l.), -Spieler beim Torjubel: „Was ist los, Alter?“ sobald Ortiz das Thema Fußball
anschnitt.
und in finanzielle Schieflage geraten. Der um Seilschaften mit Lokalpolitikern, um Für Spaniens Fußballfunktionäre wur-
Name Hércules klang, als hätte ihn sich krumme Geschäfte mit Müll. Das Übliche, de so aus handfesten Bestechungsvorwür-
ein Komiker ausgedacht. wenn man im spanischen Baugeschäft tä- fen eine lästige Geschichte, die in der Zei-
Nun ist Hércules mal wieder ganz oben tig ist. Ortiz’ Telefonate wurden abgehört. tung stand. Raúl Navas, der Torwart des
angelangt in der Primera División, nach Die Mitschnitte gelangten an die Tages- FC Córdoba, wurde zu einer Befragung
13 Jahren. Am zweiten Spieltag gewann zeitung „El País“ aus Madrid, die sie ver- nach Madrid zitiert, genau wie Tote, der
der Aufsteiger 2:0 beim FC Barcelona, öffentlichte. Kapitän von Hércules. Beide beteuerten
vorvergangenen Sonntag trotzte Hércules Während eines Gesprächs mit einem ihre Unschuld, ebenso Ortiz. Dann schlos-
dem Tabellenzweiten FC Valencia und Verwandten kommt Ortiz auf den Sieg sen die Liga-Bosse die Akten eines Falls,
verlor unglücklich 1:2. Im Kader stehen von Hércules am 36. Spieltag der vergan- der für sie keiner ist.
Männer wie der Franzose David Treze- genen Saison gegen Córdoba zu sprechen. Proteste gab es nur anfangs von zwei
guet, der von Juventus Turin kam, der Hércules hat 4:0 gewonnen. Zweitligisten. Betis Sevilla, punktgleich
Paraguayer Nelson Valdez, für rund vier Demnach sagt Ortiz: „Fußballer sind mit Hércules Vierter, hatte den Aufstieg
Millionen Euro aus Dortmund geholt, nicht blöd, die wissen, ob sie sich beste- verpasst. Der FC Cádiz hoffte, doch noch
und der Niederländer Royston Drenthe, chen lassen oder nicht … Bei dem Spiel dem Abstieg zu entgehen. Aus der ersten
ausgeliehen von Real Madrid. kürzlich hat man nicht gemerkt, dass der Liga kam kein ernsthafter Widerstand.
Etwas hat sich verändert bei Hércules, Torwart geschmiert war …“ Bei Hércules Club de Fútbol in Alicante
es läuft jetzt besser. Sie haben wohl ver- Verwandter: „Von was für einem Spiel muss sich niemand mehr sorgen. Sie gehö-
standen, wie man im Land des Fußball- redest du?“ ren jetzt zum Establishment. JUAN MORENO
146 D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0
Prisma Wissenschaft · Technik

STEFAN PIELOW / AGENTUR FOCUS (GR.)


Biertrinker auf dem Oktoberfest

BIOMECHANIK

„Effektives Schlagwerkzeug“
Der Physiker Erich Schuller, handhaben – das macht ihn zu einem mit Gehirnerschütterung – während der
62, vom Institut für Rechts- effektiven Schlagwerkzeug. Krug zersplitterte.
medizin der Ludwig-Maxi- SPIEGEL: Wie gefährlich ist das? Schuller: Erstaunlicherweise gab es in den
milians-Universität München Schuller: Wir haben das jetzt erstmals im vergangenen Jahren acht Fälle auf der
über Kopfverletzungen durch Labor untersucht, indem wir fabrikneue Wiesn, in denen jeweils der Krug nach-
Maßkrugschlägereien Maßkrüge auf Menschenschädel schlu- gab. Vermutlich waren diese Krüge ge-
gen: Die Knochen brachen oft, die Krüge braucht und hatten dadurch eine deutlich
SPIEGEL: Auf dem Oktoberfest in Mün- haben wir nie kaputtgekriegt. Beim hef- verringerte Festigkeit. Allerdings kann
chen wurde einem 29-Jährigen ein glä- tigen Schlag mit dem Krug entsteht eine ein Täter das vorher nicht beurteilen, und
serner Maßkrug über den Kopf geschla- Kraft von mehr als 8500 Newton – der jeder Schlag ist potentiell lebensgefähr-
gen. Kommt so etwas häufig vor? menschliche Kopf bricht im Scheitelbe- lich. Wir haben in unserem Institut be-
Schuller: Zur Wiesn-Zeit leider immer reich aber schon bei etwa 4000 Newton. reits einmal einen Toten obduziert, der
wieder. So ein Krug wiegt ohne Inhalt SPIEGEL: Im Fall des 29-Jährigen war es einen Maßkrug auf den Kopf bekom-
1,3 Kilo und ist dank des Henkels gut zu umgekehrt. Er überstand die Attacke men hatte.

MEDIZIN körperlicher Stress aktiviert in gesun-


den Körperzellen bestimmte Eiweiße,
Stress hemmt die die Überlebenskraft der Zellen
stärken. Dieser Mechanismus, so die
Chemotherapie Befürchtung der Wissenschaftler,
könnte es Krebszellen erleichtern,

K rebspatienten, die kurz vor Be-


ginn ihrer Chemo- oder Strahlen-
therapie seelisch besonders unter
eine aggressive Therapie zu überleben.
An Brustkrebszellen im Labor konn-
ten die Forscher den Effekt tatsächlich
Druck stehen oder ihren Körper – nachweisen: Mit Hilfe eines Moleküls
etwa durch zu viel Sport – unter Stress blockierten sie die Bildung eines der
setzen, gefährden dadurch möglicher- Überlebens-Eiweiße – und prompt rea-
weise den Therapieerfolg. Darauf deu- gierten die Zellen empfindlicher auf
NORBERT ENKER

tet eine Untersuchung an Brustkrebs- Bestrahlung und Chemotherapie.


zellen durch Wissenschaftler der Ohio
State University hin. Seelischer und Chemotherapeutische Behandlung
D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0 149
Wissenschaft · Technik Prisma

TIERE

Aktion gegen
Streunerhunde
D urch Massenkastration will die Tierschutzorganisa-
tion „Vier Pfoten“ die immense Zahl der streunen-
den Hunde in Bukarest eindämmen: Auf 40 000 wird
die Zahl der herrenlosen Tiere geschätzt, die Rumäniens
Hauptstadt als scheue Einzelgänger, aber auch als selbst-
bewusste, mitunter angriffslustige Rudel bevölkern: In
Gruppen, angeführt von einem Alphatier, durchstreifen
sie vor allem die ruhigeren Randbezirke, wo sie von
den Anwohnern gefürchtet sind. Täglich 70 Streuner
werden nun eingefangen, entwurmt, geimpft und auf

MIHAI VASILE / VIER PFOTEN INTERNATIONAL


dem OP-Tisch im Kleinbus kastriert. Alle behandelten
Hunde sind an einem blauen, nummerierten Clip am
Ohr zu erkennen. Die Organisation bekam die Geneh-
migung für ihre Aktion, nachdem die Bukarester Stadt-
regierung seit Jahren Hunde vergiftet und abgeschossen
hatte, ohne die Zahl dezimieren zu können. Durch die
Kastrationen hingegen sei die Zahl der Streuner in den
ländlichen Regionen Rumäniens und Bulgariens bereits
„signifikant und nachhaltig zurückgegangen“, erklärt
Helmut Dungler, Präsident von Vier Pfoten. Streunerhund in Bukarest

SICHERHEITSTECHNIK ge Ereignisse gezielt erkennen und ENERGIE


markieren kann. Dieses „Smart Eyes“
Gefahr bunt markiert getaufte System, das mit einer festen
und zwei beweglichen Kameras arbei-
Gutes Zeugnis für
W o in einem Fußballstadion wird
der Sicherheitsdienst gerade ge-
tet, analysiert zunächst die typischen –
also unproblematischen – Bewegungs-
Biobenzin
braucht? Auf den Bildern normaler
Überwachungskameras ist das oft nur
schwer auszumachen. Schlägereien
muster der jeweiligen Szenerie, etwa
Fahnenschwenken oder jubelnde Fans.
Was sich davon abhebt, zum Beispiel
G anz gleich, ob Rapsöl-Diesel oder
Zuckerrohr-Benzin – der Ruf von
Biokraftstoffen als Klimaretter ist rui-
oder Menschen, die plötzlich versu- eine Prügelei oder ein Einzelner, der niert, seit Bilanzrechnungen zu dem
chen, aufs Spielfeld zu rennen, gehen aus der Menge ausbricht, markiert das Schluss kamen, dass Düngung, Ro-
im allgemeinen Durcheinander von System auf den Security-Monitoren dung und Transportkosten alle positi-
Fahnen, Fans und La-Ola-Wellen leicht dann farblich – und zwar in Echtzeit. ven Klimaeffekte der Alternativ-Kraft-
unter. Deshalb hat jetzt das Fraunho- Sofort richten sich zudem die beiden stoffe konterkarieren. Doch jetzt gibt
fer-Institut für Angewandte Informa- beweglichen, ultraschnellen Kameras es aus Schweden gute Nachrichten für
tionstechnik in Sankt Augustin bei auf das verdächtige Muster und liefern die Biobranche: Energisch wie in
Bonn eine Software entwickelt, die eine Aufnahme in besonders hoher kaum einem anderen Land der Welt
auf den Überwachungsbildern auffälli- Auflösung. wurde dort der Wechsel zum Bioben-
zin betrieben. Jetzt bescheinigt eine
Analyse der Universität Lund den bio-
logischen Treibstoffen eine erstaunlich
positive Klimabilanz: Auch wenn die
notwendige Erschließung neuer Agrar-
flächen mitberücksichtigt werde, wür-
den im Vergleich zu Benzin oder Die-
sel immer noch mindestens 65 Prozent
weniger Treibhausgase freigesetzt –
unter bestimmten Umständen könne
durch die Biokraftstoffe unter dem
Strich sogar CO2 gebunden werden. In
FRAUNHOFER FIT

der Studie wurden auch verschiedene


Kraftstoffe miteinander verglichen.
Am besten schnitt dabei Biogas ab,
„Smart Eyes“-Monitorbild mit rot markiertem Mann am Spielfeldrand das aus Stalldung gewonnen wurde.
150 D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0
Wissenschaft

eine neue Arznei entwickelt, kostet das Doch woher rührt die Gründungsfreu-
FIRMENGRÜNDER
oft über 500 Millionen Euro. Kösters Me- de der Senioren? Ist sie Ausdruck beson-

Börsengang thode soll Wirkstoffe schon im Frühsta-


dium der Forschung auf mögliche Neben-
wirkungen untersuchen. Dazu hat er ein
derer Tatkraft der Nachkriegs- und Baby-
boomer-Generation?
Der sogenannten Lebenszyklusthese

statt Rente Verfahren entwickelt, mit dem sich Ei-


weiße gezielt aus menschlichen Zellen
und Geweben herausfischen und testen
lassen. „Vielleicht können wir irgend-
jedenfalls, der zufolge jeder Mensch im
Alter risikoscheuer und konservativer
wird, widerspricht der Trend. Eher
scheint er die Generationenthese zu be-
In den USA stellen die Senioren
wann sogar ganz auf Tests an Mäusen stätigen, die besagt: Jede Altersgruppe
längst einen großen Teil und anderen Tieren verzichten“, hofft der hat ihren eigenen Stil, den sie bis ins hohe
der Start-up-Unternehmer. Nun Start-up-Senior. Alter beibehält. Wer immer schon gern
hat der Trend auch Köster ist der typische Fall eines „Sil- Projekte angeschoben hat, wird das im
Deutschland erreicht. ver Entrepreneur“, wie die Unterneh- Rentenalter ebenfalls tun.
Mitunter treibt auch wirtschaft-
liche Not in die Selbständigkeit. In
den Vereinigten Staaten gründet
manch einer eine Firma, weil ihm
die Rente schlicht nicht zum Leben
reicht. Und in Deutschland war
eine große Gründerwelle aus der
Not geboren: Viele DDR-Forscher
sahen im eigenen Unternehmen
ihre einzige Chance, nachdem ihr
Institut im Zuge der deutschen
Wiedervereinigung abgewickelt
worden war.
Professor Jürgen Leonhardt bei-
spielsweise ist 75 Jahre alt und ar-
beitet nur einen Steinwurf entfernt
von Hubert Köster im Institut für
Umwelttechnologien. 1992 hat er
es gegründet – als Unternehmer
wider Willen. Nur so konnte er
FOTOS: NORBERT MICHALKE

weiterhin tun, was auch in der


DDR seine Beschäftigung war: die
Markierung von chemischen Ver-
bindungen mit radioaktiven Isoto-
pen für die Forschung. Wie lange
Selbständige Köster, Leonhardt: Aussteiger aus dem Rentnerdasein er noch arbeiten wolle? „Ich denke
daran, nur noch halbe Tage zu ar-

D
ie Palmen, der Strand, das Meer: mensgründer im Rentenalter genannt beiten“, sagt er und fügt hinzu: „Aber
Es war ja nicht so, dass Hubert werden. Und die sind gar nicht so selten. erst, wenn ich 90 bin.“
Köster den Urlaub auf Sri Lanka Der Anteil der über 50-jährigen Fir- Die Zahl der Grauhaarigen unter
nicht genossen hätte. Der grauhaarige mengründer hat sich hierzulande seit 1995 Deutschlands Unternehmern dürfte noch
Professor hatte allen Grund, zufrieden fast verdoppelt auf 18 Prozent. Wer sich weiter wachsen. „Im Jahr 2020 rech-
auf ein erfülltes Leben zurückzublicken: im Hightech-Bereich selbständig macht, nen wir mit über vier Millionen ,Silver
erwachsene Kinder, über 80 Patente, ist im Durchschnitt 41 Jahre alt. „Vom Entrepreneurs‘“, prognostiziert Jeanette
mehr als 120 Aufsätze in Wissenschafts- Klischee des Start-up, der direkt nach Huber vom Zukunftsinstitut in Kelkheim.
journalen. Was wollte er noch mehr? dem Studium seine Firma gründet, müs- „Das sind sozusagen Aussteiger in um-
Vor ihm lag ein ruhiger Lebensabend. sen wir uns verabschieden“, sagt Georg gekehrter Richtung – Aussteiger aus dem
Als Pensionär würde er endlich wieder Metzger vom Zentrum für Europäische Rentnerdasein.“
mehr Bach hören können, Geige spielen, Wirtschaftsforschung in Mannheim. Bei Köster war es anders, er hatte be-
vielleicht auch ein Buch schreiben. Doch Auch im Ausland regt sich offenbar der reits Erfahrung im Unternehmengründen.
dann kam ihm eine seiner Ideen in die Unternehmensgeist der Alten. Fast 40 Pro- Als junger Mann suchte er erst lange ver-
Quere. Kaum zurück aus dem Urlaub, zent der 46- bis 65-jährigen Briten planen gebens nach Startkapital. Mit 41 Jahren
gründete er ein Start-up-Unternehmen: weiterzuarbeiten, statt in Rente zu gehen, gründete er dann neben dem Uni-Job sei-
Caprotec. Köster war damals 66. stellte eine Umfrage des Versicherers Stan- ne erste Firma, 1987 kam dann die nächs-
„Ich hoffe, dass wir in ein paar Jahren dard Life fest – vor einer Generation lag te, 1994 eine dritte in den USA.
an die Börse gehen“, sagt Köster beiläu- diese Quote weniger als halb so hoch. „Meine Erfahrungen sind sehr hilf-
fig, während er durch das Labor seiner In den USA sieht es ähnlich aus: reich“, sagt Köster, „man ist einfach ru-
Firma im Berliner Wissenschaftspark Ad- Verblüffend viele Firmengründer sind higer und weiß besser, wie alles funktio-
lershof führt: 15 Mitarbeiter in Laborkit- zwischen 55 und 64 Jahre alt, hat der niert und worauf es ankommt.“
teln grübeln vor Monitoren oder schieben Wirtschaftsprofessor Robert Fairlie fest- Was er heute dem Postdoktoranden
bunte Flüssigkeiten in das Massenspek- gestellt. Diese Altersgruppe ist deutlich Köster raten würde, der damals erstmals
trometer. häufiger an Unternehmensgründungen auf eigenen Beinen stand? „Wozu irgend-
Kösters Ziel: Er will die Entwicklung beteiligt als Leute zwischen 20 und 34, welche Tipps geben?“, sagt Köster. „So
neuer Medikamente schneller und siche- bestätigt auch ein Report der Kauffman wie ich mich kenne, hätte ich die ja doch
rer machen. Wenn ein Pharmakonzern Foundation. nicht befolgt.“ HILMAR SCHMUNDT

158 D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0
Wissenschaft

Wehrlose Wesen Fötus

Ausgewählte Schadstoffe und deren mögliche


Wirkung auf Ungeborene und Kleinkinder
Polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAK)
‣ Enthalten u. a. in Pkw- und Kraftwerksabgasen und
Zigarettenrauch
‣ Aufnahme durch Einatmen; Beeinträchtigung der
geistigen und motorischen Entwicklung, Entstehung
von Asthma
Flammschutzmittel
‣ Brandhemmer, z.B. in elektronischen Geräten
‣ Aufnahme durch Einatmen, Verschlucken oder
Hautkontakt; Störung der geistigen Entwicklung
Phenole (z. B. Bisphenol A)
‣ Verwendung u. a. bei der Kunststoffherstellung
‣ Aufnahme u. a. durch Hautkontakt; Schädigung vor
allem der Haut, der Schleimhäute und Augen;

L E N N A RT N I L S S O N / A L B E RT B O N N I E R S
Hormonstörungen und Stoffwechselerkrankungen
Phthalate (z. B. Phthalsäureester)
‣ Kunststoffherstellung (Weichmacher)
‣ Aufnahme u. a. durch Lebensmittel mit Kunststoffver-
packung; allergische Reaktionen, Nervenschädigung,
Hormonstörungen

U M W E LT
möglicherweise zur Entstehung von
Asthma, Stoffwechselerkrankungen und

Giftalarm im Mutterleib Krebs beitragen.“


Marike Kolossa-Gehring vom Umwelt-
bundesamt, die derzeit im Auftrag der
Europäischen Union eine Studie zur
Schadstoffe aus der Luft dringen bis in den Uterus. Machen sie die Schadstoffbelastung von Müttern und
Kinder dümmer? Führen sie zu Asthma und Übergewicht? Kindern in 27 europäischen Ländern vor-
Eine internationale Studie kommt zu beklemmenden Befunden. bereitet, pflichtet ihrer US-Kollegin bei:
„Die Exposition im Mutterleib ist am

A
ls Frederica Perera zum ersten Zwar hält die Plazenta viele schädliche schädlichsten“, so die deutsche Toxiko-
Mal in einer New Yorker Geburts- Umwelteinflüsse von dem Ungeborenen login, „denn je früher man mit krebs-
klinik Nabelschnüre und Plazen- fern – vollständig abschirmen jedoch erregenden Stoffen in Berührung kommt,
ten einsammelte, da war sie auf der Suche kann sie den Fötus nicht. Einige der Gifte, desto länger hat der Krebs Zeit zu ent-
nach reinem, makellosem Blut. Die Epi- welche die Schwangeren in den Straßen stehen.“ Die Kinder seien heute nicht
demiologin von der New Yorker Colum- der Großstadt eingeatmet hatten, waren besser vor Schadstoffen geschützt als vor
bia University wollte das fötale Blut mit offensichtlich bis zur DNA der Kinder 20 Jahren: „Früher waren es Schwerme-
demjenigen von Lungenkrebspatienten vorgedrungen. talle, heute sind es zunehmend hormon-
vergleichen. Das – so ihr Verdacht – wer- Was aber bedeutete dies für deren Ge- ähnliche Chemikalien in Plastikproduk-
de krankhaft verändert sein. sundheit? Perera war neugierig geworden ten, Biozide und Flammschutzmittel.“
Die Forscherin hatte richtig vermutet: und verglich nun systematisch das Blut Besonders die Vielfalt der Substanzen
Im Blut der Krebspatienten war das Erb- Neugeborener mit dem ihrer Mütter. Zu beunruhigt die Experten. So wurden bei
gut der weißen Blutkörperchen beschä- ihrer Überraschung fand sie bei beiden einer Untersuchung im Auftrag der US-
digt; an das Erbmolekül DNA hatten sich Gruppen etwa gleich viele PAK. Regierung in Blut und Urin von Erwach-
polyzyklische aromatische Kohlenwas- Wie konnte das sein? „Eigentlich filtert senen 212 Chemikalien gefunden. Man-
serstoffe (PAK) angelagert, eine Gruppe die Plazenta neun Zehntel der Gifte aus che davon stören im Tierversuch die
von Luftschadstoffen, die aus Auspuffen dem Blut heraus“, erklärt Perera. Ihre Hirnentwicklung, andere bringen den
und Kraftwerksschloten dringen – aber Schlussfolgerung: Die geringen Mengen, Hormonhaushalt durcheinander, vermin-
auch aus brennenden Zigaretten. die bis in den Fötus gelangen, reichern dern die Fruchtbarkeit oder lösen Krebs-
Womit Perera allerdings nicht gerech- sich dort an, weil dem unreifen Organis- geschwüre aus. Und Pereras Erkenntnis,
net hatte: Auch in einigen der vermeint- mus die nötigen Enzyme fehlen, um die dass viele dieser Substanzen von Schwan-
lich sauberen Blutproben aus der Geburts- Substanzen abzubauen. geren auf ihre ungeborenen Kinder über-
klinik war das Erbgut durch die krebs- Gerade Ungeborene und kleine Kinder tragen werden, wurde mittlerweile in
erregenden PAK verändert. „Das war ein aber seien am stärksten gefährdet durch zahlreichen Studien belegt.
Schock für mich, ein Schlüsselerlebnis“, die Umweltverschmutzung, sagt die Epi- Noch ist unklar, was all die Stoffe, ein-
sagt Perera. „Ich hatte eindeutig zu viel demiologin. „Denn bestimmte Schadstof- zeln und miteinander kombiniert, im
Vertrauen in den biologischen Schutz des fe können ihre geistige und motorische Laufe eines Lebens im menschlichen
Embryos im Mutterleib gehabt.“ Entwicklung beeinträchtigen und später Körper bewirken können. Sind sie mit-
160 D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0
Wissenschaft

verantwortlich dafür, dass Volkskrank- burt am meisten Luftschadstoffe einge- versity zuvor bereits zu ähnlichen Ergeb-
heiten wie Asthma, Diabetes und Krebs atmet hatten, kamen im Schnitt mit deut- nissen gelangt. Den eindrucksvollsten
weltweit auf dem Vormarsch sind? Führt lich geringerem Gewicht und einem klei- Beleg für direkte Auswirkungen von Luft-
das allgegenwärtige Chemikalien-Gebräu neren Kopf auf die Welt. Mit drei Jahren schadstoffen auf Kinder fand Perera je-
bei Kindern tatsächlich zu einer „stillen hinkten sie in der Entwicklung hinterher. doch in der chinesischen Stadt Chong-
Pandemie“ neurologischer Störungen, Als Fünfjährige waren sie öfter hibbelig qing.
wie der Umweltmediziner Philippe und unkonzentriert und hatten einen im Um den Smog in der Industriemetro-
Grandjean von der Harvard University Schnitt um knapp fünf Punkte niedrige- pole am Yangtze zu bekämpfen, hatte die
befürchtet? Und wie lassen sich aus all ren IQ – und dies auch, nachdem die For- Regierung beschlossen, das alte Kohle-
den Schadstoffen und über 100 000 kom- scher Faktoren wie die Intelligenz der kraftwerk abzuschalten, das dort die gan-
merziell produzierten Chemika- ze Umgebung in Rauchschwaden
lien die schädlichen herausfil- hüllte – die Forscherin aus New
tern? „Ich hatte schon immer York erkannte darin eine einma-
einen Hang zu komplizierten lige Chance. Vor und nach der
Fragen“, sagt Perera. Stilllegung untersuchte sie wer-
Das Columbia Center for Chil- dende Mütter und deren Kinder
dren’s Environmental Health im näheren Umkreis des Kraft-
befindet sich im 25. Stock eines werks.
Bürogebäudes nahe der 171. Das Ergebnis: Die Kinder, die
Straße. Aus ihrem Fenster blickt zwei Jahre vor der Stilllegung
die Direktorin auf den Hudson zur Welt kamen, hatten einen et-
River, ein paar Segelboote und was kleineren Kopf, entwickel-
die endlose Kolonne von Autos ten sich langsamer und lernten
und Lastwagen, die sich zu jeder schlechter als jene, die im Jahr
Tageszeit über die George Wa- danach geboren wurden.
shington Bridge nach Manhattan Im Land der Ein-Kind-Politik
hineinwälzt. Hier hat Perera in haben diese Ergebnisse für er-
den letzten Jahrzehnten eine der heblichen Aufruhr gesorgt. Viele
größten internationalen Lang- Eltern fragen sich nun, ob die

JÜRGEN FRANK
zeitstudien aufgebaut, um die schlechte Luft die Gesundheit
komplizierten Fragen zu klä- des einzigen Kindes bedroht, das
ren – gemeinsam mit rund 50 zu bekommen die Regierung
Mitarbeitern und mittlerweile Epidemiologin Perera: „Hang zu komplizierten Fragen“ ihnen gestattet. Perera mag sich
über 2000 Müttern und deren derzeit nicht zum Thema äu-
Kindern in New York, Polen und ßern – sie fürchtet um die Zu-
China. kunft ihres Projekts in China.
In Washington Heights, Har- In den USA untersucht das
lem und der Bronx, drei der Forscherteam derweil im Rah-
ärmsten Wohngegenden New men eines 30-Millionen-Dollar-
Yorks, haben die Columbia- Projekts auch einen umstrittenen
Forscher in regelmäßigen Ab- Stoff, der weltweit in einer Fülle
ständen Blut und Urin von über von Alltagsgegenständen wie
750 nichtrauchenden Schwange- Babyflaschen, Lebensmittelver-
ren und ab der Geburt auch von packungen, Brillengläsern, CDs
deren Kindern gesammelt, dazu und Kassenzetteln vorkommt:
Staubproben aus den Wohnun- Bisphenol A.
gen und Informationen über Le- Die Chemikalie lässt sich bei
bensbedingungen, Ernährung, praktisch allen Menschen im
Passivrauchen sowie Schadstoff- Körper nachweisen. Weil sie dem
quellen in der Umgebung wie Hormon Östrogen chemisch äh-
Fabriken, stark befahrene Stra- nelt, steht sie im Verdacht, zu
ßen, Tankstellen oder Bushalte- Übergewicht, Diabetes, Brust-
PETER LUEDERS

stellen. und Prostatakrebs sowie zu Er-


Die Atemluft haben die Wis- krankungen des Nervensystems
senschaftler mit einem Messgerät beizutragen. In Deutschland hat
erfasst, das die Frauen in den Schwangere mit Luftmessgerät: Veränderungen im Erbgut das Bundesamt für Risikobewer-
Monaten vor der Niederkunft in tung Bisphenol A als unbedenk-
einem Rucksack mit sich herumschleppen Mütter, das häusliche Lernumfeld und lich eingestuft; das Umweltbundesamt hat
mussten. Zudem überwachen sie die kör- Raucher in der Familie herausgerechnet Zweifel und plädiert dafür, den Gebrauch
perliche und geistige Entwicklung der hatten. vorsichtshalber einzudämmen.
Kinder: Gewicht, Verhalten, Intelligenz- Das Allergierisiko steigt offenbar eben- „Wir formulieren unsere Hypothesen
quotient, räumliches Vorstellungsvermö- falls mit der Umweltbelastung: Jene Kin- über mögliche Schadstoffe sehr vorsich-
gen, Aufmerksamkeit und Gedächtnis. der, deren Nabelschnurblut eine be- tig“, sagt Perera, „und bislang haben die
So haben Perera und ihre Mitarbeiter ei- stimmte schadstoffbedingte Veränderung Daten sie in der Regel bestätigt.“ Bei
nen Schatz aus biologischen und epide- aufwies, erkrankten Jahre später mit ho- Bisphenol A werde die Auswertung noch
miologischen Daten angehäuft, der welt- her Wahrscheinlichkeit an Asthma. eine Weile dauern. „Vielleicht liegen wir
weit seinesgleichen sucht. Bei Untersuchungen in der Nähe von diesmal ja falsch“, meint die Forscherin.
Ihre Befunde sind alarmierend: Die alten Kohlekraftwerken in Krakau waren „Das wäre doch mal eine wirklich gute
Neugeborenen, deren Mütter vor der Ge- die Staubsucher von der Columbia Uni- Nachricht.“ SAMIHA SHAFY

162 D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0
Technik

Atomanlage im iranischen Buschehr


Wer sind die Angreifer, was ist das Ziel?

(BSI). „Damit entsteht eine neue Bedro-


hungslage“, sagt Stefan Ritter, Leiter des
Computer Emergency Response Teams
beim BSI. Bisher habe es sich bei Angrif-
fen auf Industrieanlagen stets nur um
theoretische Szenarien gehandelt.
Es seien gleich mehrere Eigenschaften,
die Stuxnet so ungewöhnlich machten, er-
klärt Liam O’Murchu, Virenspezialist bei

ABEDIN TAHERKENAREH / DPA


der Antivirensoftware-Firma Symantec:
‣ Das Programm ist so aufwendig, dass
über fünf Spezialisten ein halbes Jahr
daran gearbeitet haben dürften.
‣ Stuxnet macht sich gleich vier unent-
deckte Sicherheitslücken zunutze. Das
Wissen um solche „Zero Day Exploits“
„Ich habe seit zwei Wochen kaum ge- kann auf dem Schwarzmarkt sechsstel-
COMPUTERSICHERHEIT
schlafen“, sagt Langner. Der Grund: Auf lige Euro-Beträge kosten.

Mord ohne seiner Website brüstet er sich, Stuxnet


sei „der Hack des Jahrzehnts“, und er
habe das Rätsel darum „weitgehend ge-
‣ Die Infektion erfolgt wohl mit Hilfe
von USB-Sticks, die per Hand in die
Computer vor Ort eingesteckt werden.

Leiche löst“: Iranische Atomanlagen seien wo-


möglich das Ziel der Attacke gewesen.
Seitdem kommt Langner nicht mehr
zur Ruhe: Fernsehsender, Zeitungen –
Dieser altmodische Angriffsweg emp-
fiehlt sich bei Anlagen, die aus Vorsicht
keine Verbindung zum Internet haben.
‣ Von den Infektionen waren nicht rei-
Ein neuartiger Computerschädling
alle wollen Beweise. Und sie wollen wis- che Länder, sondern anfangs besonders
gibt Rätsel auf: Er ist raffiniert, sen, was es bedeutet für die internationa- Indien, später zu rund 60 Prozent Iran
professionell und diskret. Wurde len Beziehungen. Aber Langner wimmelt betroffen. In iranischen Atomanlagen
er verwendet, um das iranische ab: „Was soll ich dazu sagen? Ich verstehe werden Siemens-Systeme vermutet.
Atomprogramm zu stören? doch gar nichts von Geopolitik.“ ‣ Stuxnet befällt nicht massenhaft und
Er arbeitet im Hamburger Stadtteil wahllos irgendwelche Rechner wie

S
abotage, Spionage, Säbelrasseln – Volksdorf, von dort aus berät er Firmen, etwa der „I Love You“-Virus. Pro USB-
oder gar Krieg? Ein winziges Stück wie sie sich vor Hackerangriffen schützen Stick war der neue Schädling ursprüng-
Software, kleiner als ein MP3-Song, können. Seit seinem Vortrag über die lich auf drei Infektionen beschränkt –
lässt Sicherheitsexperten in aller Welt rät- mögliche Iran-Connection bemüht er sich vermutlich, um weniger aufzufallen.
seln. „Stuxnet“ heißt der digitale Schäd- nun, bei diesem Thema zurückzurudern: Diese Eigenschaften machen Stuxnet
ling, der sich gezielt in Steuersysteme der „Ich sage ja nicht, dass es so gewesen sein zum idealen Spekulationsobjekt für Ver-
Firma Siemens einnistet. Im Jahr 2009 muss. Es ist nur ein plausibles Szenario.“ schwörungstheoretiker. Denn wer wenn
tummelte er sich schon im Netz. Im Som- Tatsächlich gibt es bislang keine Bewei- nicht der Mossad oder der amerikanische
mer 2010 tauchte ein neues, noch tücki- se, sondern nur Indizien. Stuxnet, darin Geheimdienst NSA sollte eine solche Soft-
scheres Update auf. sind sich alle einig, ist anders als die meis- ware schreiben können?
So weit, so normal. Sekunde für Se- ten Schadprogramme: Der Schädling ist Denkbar wäre aber auch, dass es nicht
kunde hagelt ein Sturm bösartiger Soft- ungewöhnlich raffiniert komponiert. Er zuletzt ums Geld geht. Der Erfolg der Si-
ware auf jeden Server ein, der mit dem zeugt von viel Insiderkenntnis und nutzt cherheitsbranche hängt schließlich maß-
Internet verbunden ist; Millionen Schad- geklaute Sicherheitszertifikate. geblich von der gefühlten Bedrohung ab.
programme sind bekannt. Auch in Deutschland seien Anlagen in- Und derzeit laufen in den USA Beratun-
Doch diesmal scheint vieles anders. fiziert worden, wenn auch ohne größere gen zum Thema Computersicherheit.
„Der digitale Erstschlag ist erfolgt“, trom- Schäden, heißt es beim Bundesamt für Am vergangenen Donnerstag forderte
petete die „FAZ“; „Krieg im Cyberspace“ Sicherheit in der Informationstechnik Keith Alexander, Chef der NSA und des
und „Neue Viren, so gefährlich wie Pan- neuen Cyber Command, vor dem zustän-
zer“ lauteten andere Schlagzeilen. digen Ausschuss des US-Repräsentanten-
Noch allerdings ist völlig unklar: Wer hauses den Aufbau eines sicheren Daten-
sind die Opfer, wer die Angreifer, was ist netzes für Kraftwerke und andere kriti-
der Schaden – und was das Ziel? Noch sche Infrastrukturen. Der zeitgleiche
gleicht Stuxnet einem Mord ohne Leiche. Hype um den „Erstschlag“ kam den Mi-
Der Mann, der den größten Wirbel um litärs dabei vermutlich nicht ungelegen.
den Virus ausgelöst hat, hält sich müde Der Berliner Sicherheitsspezialist San-
an seiner Kaffeetasse fest: Ralph Langner dro Gaycken, dessen Buch mit dem Titel
MANUEL BALCE CENETA / AP

steht auf dem Flur im Hilton Rockville, „Cyberwar“ im Dezember erscheinen


einem schmucklosen Bettenkasten in ei- wird, bringt noch eine andere Überlegung
nem Vorort von Washington. Drinnen de- ins Spiel: „Vielleicht sollte Stuxnet ein-
battieren rund hundert Experten, es geht fach nur Überlegenheit demonstrieren –
um denkbare Computerangriffe auf Fa- so ähnlich wie bei der Mondlandung oder
briken, Stromnetze oder Kläranlagen. den Wasserstoffbombentests.“
„Control Systems Cyber Security Confe- NSA-Chef Alexander MARCEL ROSENBACH, GREGOR PETER SCHMITZ,
rence“ heißt die Veranstaltung. Der Hype kam nicht ungelegen HILMAR SCHMUNDT

D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0 163
Eisbrecher, Tankschiff im arktischen Meer
Den weißen Fleck der Seefahrt erobern

Moskau ihre Pläne für zwei neue Atom-

MAXIM SNAMENSKIJ / SOWKOMFLOT


eisbrecher mit 16-Megawatt-Reaktoren.
Dank eines verstellbaren Tiefgangs sollen
sie auch im Flachwasser einsetzbar sein.
Zugleich haben die Rohstoff-Magnaten
mit dem Bau eisbrechender Schiffe begon-
nen, die den Schatz aus Öl, Gas und Mi-
neralien aus der Arktis schaffen sollen:
‣ Gazprom hat den ersten von zwei eis-
1906 bis 2006 quälten sich nur 69 Schiffe, verstärkten Tankern für das Ölfeld Pri-
S C H I F F FA H R T
vor allem Entdecker und Wissenschaftler, razlomnoye in Dienst gestellt. Der 260-

Panamakanal durch den nautischen Eistunnel. Im vori-


gen Jahr hat der kanadische Seerechts-
Experte Michael Byers bereits 24 gezählt.
Meter-Gigant kann sich durch andert-
halb Meter dickes Eis malmen.
‣ Die Konkurrenz von Lukoil hat drei

am Nordpol Schon wächst in den Ländern rund um


den Polarkreis eine neue Flotte von Schif-
fen heran, mit denen der weiße Fleck der
Seefahrt endgültig erobert werden soll.
ähnlich konstruierte Schiffe bauen las-
sen, die Öl vom arktischen Offshore-
Terminal in Warandej zum Weitertrans-
port nach Murmansk bringen.
Das schwindende Arktis-Eis gibt
Ganz ohne Eisschutz werden die Hochsee- ‣ Ebenfalls als Eisbrecher taugen die fünf
neue Seerouten nach Asien frei. kähne nicht auskommen. „Selbst in den Frachter des Bergbaukonzerns Norilsk
Diesen Sommer herrschte Sommermonaten muss man immer noch Nickel.
bereits reger Verkehr. Eine neue mit vereinzelten Eisflächen rechnen“, sagt Bislang allerdings erweist sich der ab-
Klasse von Schiffen entsteht. der Klimaforscher Lawson Brigham, ehe- geflachte Bug, mit dem sich diese Schiffe
dem selbst Eisbrecher-Kapitän und jetzt auf die Schollen schieben, im offenen Was-

S
ie hatten mit Packeis gerechnet, mit Autor der wohl umfassendsten Studie über ser als ungünstige Strömungsform. Die
Eisbergen und Stürmen. Ein russi- die neuen arktischen Seerouten. Phoenix-Reederei in Leer hat deshalb
scher Eisbrecher sollte den Frachter Am ehrgeizigsten sind die Russen. eine neuartige Bugform entwickeln lassen.
„MV Nordic Barents“ vor den Gewalten Stolz präsentierten sie in der vergange- Getestet wurde sie im Eiskanal der Ham-
des arktischen Ozeans schützen. nen Woche auf der Arktis-Konferenz in burgischen Schiffbau-Versuchsanstalt
Am Ende trieben nur zweimal ein paar (HSVA). „Die Effizienz ist beeindru-
lose Eisschollen vorbei. „Der Atomeis- ckend“, sagt Joachim Schwarz.
brecher diente mehr der Dekoration“, be- Eisfrei nach Asien? Der langjährige Forschungsleiter der
richtet Felix Tschudi, der Reeder des mit Mögliche Abkürzungen des See- HSVA will künftig zusammen mit russi-
Eisenerz beladenen Frachters. In dieser transports durch das Nordpolarmeer schen Forschungsinstituten Kapitänen
Woche wird das Schiff nach einer 5700 den Weg durchs Eismeer weisen. „Auf
Kilometer langen Passage durchs Eismeer Tokio Basis von Satellitendaten gibt es ständig
im chinesischen Lianyungang einlaufen. Prognosen für die beste Fahrrinne“, er-
„Und wir mussten keinmal anhalten“, klärt Schwarz. Interessant ist das nicht
sagt Tschudi zufrieden. Nord- zuletzt im Frühjahr und im Herbst, wenn
Teils mit viel Hoffnung, teils mit Arg- westpassage Kälte und Wind überraschend Eisbarrie-
wohn haben Reeder, Politiker und Um- 14 000 km ren aufbauen.
weltschützer verfolgt, wie weit sich das Wegen ebendieser Unberechenbarkeit
Meereis in diesem Jahr Richtung Nordpol warnen Experten wie Brigham vor zu viel
zurückgezogen hat. Stellt das Schrump- Euphorie. Er glaubt nicht daran, dass in
fen der Eiskappe schon bald die globalen Panama- Zukunft massenhaft Schiffe von Rotter-
Schiffsrouten auf den Kopf? kanal-Route dam nach Tokio über die nördliche Tran-
Vor wenigen Wochen hatte bereits der 18 200 km sitroute fahren werden. „Was hingegen
russische Tanker „Baltika“ 70 000 Tonnen wirklich zunehmen wird, ist der Abtrans-
Gaskondensat vom russischen Murmansk New York port der riesigen Rohstoffmengen aus der
durch die Arktis ins chinesische Ningbo Arktis“, prophezeit er. Dringend benötigt
geschippert, ebenfalls ohne Probleme. würden deshalb Seenotkreuzer und Ab-
Der Transport über die Polarroute wird Nordostpassage saugschiffe, die havarierten Tankern rasch
langsam zur Normalität. Asien ist Europa 13 000 km zu Hilfe kommen können.
damit näher gerückt: Die Fahrtstrecke der Wie ernst diese Gefahr ist, zeigte sich
„MV Nordic Barents“ vom norwegischen Hamburg im Juli vor den Neusibirischen Inseln.
Kirkenes nach China etwa hat sich auf Zwei Tanker, im Verband mit einem Eis-
rund die Hälfte verkürzt. „Das hat uns Tokio brecher unterwegs, krachten ineinander,
15 Tage auf See erspart“, sagt Tschudi. als das vorausfahrende Schiff wegen Eis-
Verwandelt sich das achte Weltmeer gang bremsen musste.
damit tatsächlich in einen „transarkti- Beide Tanker hatten 13 300 Tonnen Die-
schen Panamakanal“, wie der isländische sel geladen. Der Eigner, die Murmansk
Präsident Ólafur Ragnar Grímsson froh- Shipping Company, spielte die Sache zum
lockt? Denn der Klimawandel legt nicht Rempler mit etwas Blechschaden herun-
nur die Nordost-, sondern auch die Nord- Suezkanal-Route ter: Es sei „kein Notfall“ gewesen, lediglich
westpassage mitten durch die kanadische 21000 km eine ganz normale „Betriebssituation“.
Arktis frei. In den hundert Jahren von CHRISTOPH SEIDLER, GERALD TRAUFETTER

164 D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0
Szene

L I T E R AT U R

Das Sehen üben


W er du auch seist: am Abend tritt
hinaus / aus deiner Stube, drin du

MARCUS BRANDT / DPA


alles weißt.“ Obwohl Moritz von Uslar,
40, sich erst am späten Vormittag sei-
nes Reporterlebens befindet, könnten
diese Rilke-Zeilen das Motto seiner
Reise in die größte denkbare Ferne ge-
Demonstration gegen Etatkürzungen vor dem Hamburger Schauspielhaus wesen sein. Diese Ferne liegt ganz
nah, in der coolen Heimatstadt, und
K U LT U R P O L I T I K sie scheint nur allzu bekannt. Wie oft
schon wurde „mit dem dicken Berliner

Hamburger Hungerkunst Lifestyle-Stift über das ganze Ost-


Elend und die Plattenbauten drüberge-
fahren“? Tristesse, Hartz IV, junge Na-

D eutschlands größtes Sprechtheater


kostet 25 Millionen Euro im Jahr,
so hoch ist der Etat des Hamburger
hoch gelobte Jugendtheatersparte des
Schauspielhauses geschlossen werden
müsse, so der Finanzchef. Auch werde
zis, alte Verlierer, das alles kennen wir.
Gerade das ist die Her-
ausforderung, noch
Schauspielhauses. Allein für die Ge- kein ernstzunehmender Kandidat den einmal das Sehen zu
hälter und den Unterhalt des Bühnen- Intendantenposten unter diesem Spar- üben, wo alles schon
betriebs sind rund 22,7 Millionen nö- diktat übernehmen wollen. durch Fertigsätze ver-
tig, bleiben 2,3 Millionen für die Bürgermeister Ahlhaus war schon mit stellt ist, sich leer zu
Kunst: So hat Jack Kurfess, Finanzchef der Überlegung vorgeprescht, man machen in einer Art
des Theaters, bisher kalkuliert, nun könne das einst unter Intendanten wie sozialer Meditation.
soll er mit 1,2 Millionen Euro weniger Gustaf Gründgens, Peter Zadek und Zu erzählen, was pas-
auskommen. Das Altonaer Museum in Frank Baumbauer glanzvolle Schau- siert, wenn gar nichts
Hamburg wird gleich ganz geschlos- spielhaus vom gleichen Chef wie das passiert. Wenn man
sen, die öffentlichen Bücherhallen konkurrierende Thalia-Theater leiten mit Blocky und Rampa und Raoul im
müssen 1,5 Millionen Euro einsparen. lassen. Die jetzt beschlossene Einspa- bumsvollen Lokal der Schröder-Fami-
Diese drastischen Einschnitte hat der rung stelle „eine unglaubliche Demüti- lie in einer Kleinstadt in Oberhavel,
schwarz-grüne Hamburger Senat unter gung durch eine ignorante Politik“ dar, Brandenburg, Biere und Kümmerling-
seinem Ersten Bürgermeister Chris- sagt Ex-Intendant Baumbauer. „Statt Schnäpse trinkt. Wenn man sich zum
toph Ahlhaus (CDU) in der vergange- stolz zu sein auf eine einmalige Kultur- ambulanten Einwohner macht, für ein
nen Woche beschlossen und damit zor- institution, nutzt man rücksichtslos paar Monate, und mit den Jungs von
nige Proteste ausgelöst. „Das ist der eine vorübergehende Schwäche aus.“ 5 Teeth Less in den Proberaum fährt,
Anfang vom Ende“, sagt Kurfess. Er Während die Hamburger Politik und wenn man mit ihnen und dem
fürchtet, dass das Schauspielhaus, des- in das Nobelprojekt Elbphilharmonie Rest der adoleszenten Bevölkerung
sen Intendant Friedrich Schirmer Mit- Hunderte Millionen Euro investiere, lange Sommernächte an der Aral-
te September nach fünf Jahren glück- setze sie mit ihrem Sparkurs ein Si- Tankstelle übersteht. Wenn man die
loser Amtszeit zurücktrat, von den gnal für viele andere, ärmere Kommu- Scherzkonventionen wie ein Ethnolo-
Stadtpolitikern mittelfristig ganz auf- nen. „Deshalb ist diese Strafaktion ge beschreibt, der unter Alkohol- und
gegeben werde. Die Kürzung um mehr durch den Senat nicht bloß ein Skan- Sympathie-Einfluss allmählich die
als die Hälfte des künstlerischen Etats dal“, so Baumbauer, „sondern eine Distanz verliert. Um sich zu fassen,
bedeute, dass die gutbesuchte und Katastrophe.“ verbringt Uslar, ein ehemaliger SPIE-
GEL-Redakteur, kostbare Viertelstun-
den in eichendorffscher Muße an der
trägen Havel, gleich unter der grauen
Kino in Kürze
SAYOMBHU MUKDEEPROM / ILLUMINATION FILMS

Stadt. Und denkt, ob er will oder


nicht, denn eigentlich will er nicht
„Uncle Boonmee erinnert sich an seine frü- denken, über den sozialen Eigensinn
heren Leben“ gewann im Mai in Cannes nach, mit dem in einem toten Winkel
die Goldene Palme. Seit Menschen- der Republik die unproduktive Zeit
gedenken ist auf keinem europäischen mit Ritualen lebendig wird: viel Neues
Festival ein derart fremdartiger, un- unter der Sonne. Viel von der an-
ergründlicher und doch naiv bewegen- dächtigen Ratlosigkeit, mit der, wenn’s
der Film zum Sieger gekürt worden. gutgeht, Verstehen beginnt. Und
Seelenwanderung ist das Leitmotiv schließlich eine existentialistische
des sechsten Spielfilms von Apichat- Erzählung mit gleich drei überraschen-
pong Weerasethakul, 40, einem Thai- an frühere Leben erinnern (so war er den Tugenden: Anmut, Ironie, Zärt-
länder, der mit krudem Exotismus und einst eine Märchenprinzessin, die im lichkeit.
ästhetischer Finesse längst ein Liebling Teich mit einem zappelnden Wels ko-
des westlichen Kulturbetriebs gewor- puliert) und begibt sich auf die Suche Moritz von Uslar: „Deutschboden. Eine teilnehmen-
den ist. Der alte Uncle Boonmee in nach dem Tod: holpriges Laienspiel de Beobachtung“. Verlag Kiepenheuer & Witsch,
seiner Bauernhütte kann sich plötzlich und delirierende Videokunst. Köln; 384 Seiten; 19,95 Euro.

166 D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0
Kultur

ESTATE OF AD REINHARDT, COURTESY THE PACE GALLERY, NEW YORK PHOTOGRAPH BY ELLEN PAGE WILSON, COURTESY THE PACE GALLERY, NEW YORK; VG BILD-KUNST, BONN 2010 (R.)
COURTESY THE PACE GALLERY, NEW YORK BILL JACOBSON STUDIO, NEW YORK; VG BILD-KUNST, BONN 2010 (L.)
Reinhardt-Gemälde „Abstract Painting“ 1940, „Abstract Painting (Green)“ 1952

AU S ST E L LU N GE N Nun zeigt das Josef Albers Museum in Bottrop auf einer Einzel-
ausstellung „Letzte Bilder“ (bis 9. Januar 2011). Wirklich mo-
Das schwarze Quadrat nochrom sind selbst die Werke aus der späten „schwarzen“
Phase nicht, in der Reinhardt nur noch quadratische Bilder in

S eine Absicht war, die Farbe „als tiefes, strahlendes Geheim-


nis zu wahren“. Der US-Künstler und Kunsttheoretiker Ad
Reinhardt (1913 bis 1967) wollte Kunst pur: Jede Vermischung
Schwarz malte: Bei näherem Hinsehen erkennt man darin eine
Mischung aus dunklem Grün, Rot und Blau. Der Erfinder des
„Schwarzen Quadrats“ freilich war nicht Ad Reinhardt, sondern
mit dem Leben sei zu vermeiden, hieß es 1952 im Manifest der russische Maler Kasimir Malewitsch (1878 bis 1935), der
„Art as Art“. In Deutschland wurde er 1968 durch eine Präsen- schon 1915 versuchte, „die Kunst vom Gewicht der Dinge zu
tation seiner Arbeiten auf der Documenta in Kassel bekannt. befreien“ – damals noch mit enormer politischer Sprengkraft.

DISSIDENTEN
tur mit dem Land, in dem ich jetzt für
„Das Gefängnis war mein Lehrmeister“ sechs Wochen bin.
SPIEGEL: Sie sind ein Kind politisch ver-
Der chinesische Autor Liao kann das wirklich wissen? femter Eltern, Sie waren inhaftiert und
Yiwu, 52, ist Gast des Inter- Ich könnte mir vorstellen, wurden gefoltert. Was gibt Ihnen die
nationalen Literaturfesti- dass Angela Merkels Initia- Kraft, immer weiterzumachen?
vals Berlin. Seine Porträts tive damit zu tun hat. Liao: Wir Chinesen haben einen tiefen
ANDREAS RENTZ / GETTY IMAGES

von Leichenwäschern, Pro- SPIEGEL: Die Bundeskanzle- Glauben an eine elementare Bestim-
stituierten, Dorfschulleh- rin hat sich für Ihre Aus- mung. Ohne meine Gefängniserfah-
rern und politischen Akti- reise eingesetzt. Wie kam rung, ohne den Weg in die untersten
visten erschienen 2009: es dazu? Schichten der Gesellschaft wäre ich
„Fräulein Hallo und der Liao: Ich habe ihr im letzten sicher ein anderer Autor geworden.
Bauernkaiser. Chinas Jahr eine Raubkopie des Der Hunger, die Obdachlosigkeit und
Gesellschaft von unten“. Films „Das Leben der An- das Gefängnis waren meine Lehr-
deren“ geschickt, mit einem meister.
SPIEGEL: Herr Liao, nach 15 Jahren persönlichen Brief: Vergiss diesen Teil SPIEGEL: Was geschieht, wenn Sie im
durften Sie erstmals nach Europa Deines Lebens nicht! Geheimdienste November nicht zurückdürfen?
kommen: Zeigt das eine Kehrtwende folgen offenbar überall auf der Welt Liao: Darüber denke ich nach, wenn es
in der chinesischen Kulturpolitik? denselben Gesetzen. Und ein Teil der so weit ist. Ich bin ein zäher Charak-
Liao: Auch Zensoren haben Gefühle, deutschen Bevölkerung kann sicher ter. Wenn ich nicht zurückdarf, versu-
aber was den Ausschlag gab, mich aus- nachvollziehen, was wir in China erle- che ich es wieder 15 Jahre lang. Hier
reisen zu lassen und nicht wie im ben. Die Ausdauer, der Trotz, das Be- hätte ich vermutlich ein komfortables
März anlässlich der lit.Cologne wieder harren auf einem freien Leben – das Leben – aber als chinesischer Autor
aus dem Flugzeug zu holen – wer alles verbindet unsere Dissidentenkul- wäre ich arbeitslos.
D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0 167
Kultur

KUNSTMARKT

Der Preis des toten Malers


Zu Lebzeiten inszenierte sich der Maler Jörg Immendorff als Gesamtkunstwerk.
Seit seinem Tod 2007 streiten Immendorffs junge Witwe und ein unehelicher Sohn um den Nachlass.
Doch wie viel sind die Bilder des Malers eigentlich noch wert?

E
s war ein Pfingstmontag, als der
Sohn von Marie-Josephine Lynen
im Radio hörte, dass sein Vater ge-
storben war. Der Junge hatte ihn nur drei-
mal gesehen. Er weinte trotzdem.
Der Vater hieß Jörg Immendorff, er
starb 2007. Sein Sohn ist heute zwölf Jah-
re alt, er besucht ein Düsseldorfer Gym-
nasium. Von seinem Taschengeld kauft
er sich Bücher über seinen berühmten Va-
ter, die Regale in der Wohnung seiner
Mutter stehen voller Bildbände und Aus-
stellungskataloge. In seinem Kinderzim-
mer hat er zwei Fotos seines Vaters und
eine von Immendorff illustrierte Bibel.
Der Junge sammelt alles über ihn, nur
nicht dessen Bilder, denn die sind ziem-
lich teuer, und geschenkt hat ihm Immen-
dorff kein einziges. In seinen Testamen-
ten, es gibt mehrere, wird der Sohn mit
keinem Wort erwähnt.
Jörg Immendorff war einer der be-
rühmtesten und weltweit erfolgreichsten
deutschen Maler und Bildhauer der Nach-
kriegszeit, bekannt nicht nur für seine
Kunst, sondern auch für sein wildes Le-
ben, ein großer Darsteller seiner selbst,
bis zum qualvollen Ende.
Immendorff, Jahrgang 1945, war in den
sechziger Jahren Student von Joseph
Beuys an der Düsseldorfer Kunstakade-
mie, in den Siebzigern Schöpfer von mo-
numentalen Gemälden wie der Serie
„Café Deutschland“ und Anhänger der
maoistischen KPD/AO, in den Achtzigern
Betreiber der Kneipe La Paloma nahe der
Hamburger Reeperbahn, in den Neun-
zigern Kunstprofessor, im neuen Jahr-
tausend eine Art Staatskünstler, der mit
Gerhard Schröder im Kanzler-Jet nach
China reiste – und ein Fall für den Staats-
anwalt, als 2003 nach einer Sex-Party in
einem Düsseldorfer Hotel 21,6 Gramm
Kokain bei ihm gefunden wurden. Kurz
vor seinem Tod stellte Immendorff noch
das offizielle Schröder-Porträt für die Ga-
lerie im Kanzleramt vor, ein Herrscher-
gesicht in Gold.
Immendorff starb, nach jahrelangem
Siechtum, am 28. Mai 2007 an Amyotro-
pher Lateralsklerose (ALS), einer unheil-
baren Nervenkrankheit. Seine Asche wur-
de im Mittelmeer verstreut.
Der Maler hinterließ eine Witwe, zwei
Kinder und ein Erbe, das viele Rätsel auf- Künstler Immendorff, Ehefrau Oda Jaune mit Tochter Ida 2002: „Jörg konnte nicht so schnell

168 D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0
gibt. Es geht dabei um viel Geld, um Im- dorffs Beziehung zu Marie-Josephine von Immendorffs Tochter Ida, heute neun
mobilien und vor allem um Immendorffs Lynen, 35, einer gelernten Dekorateurin, Jahre alt.
Bilder, deren Wert sehr umstritten ist. Es von der sich Immendorff Ende der neun- Immendorffs letztes Testament wurde
ist ein Erbschaftsstreit um ein wichtiges ziger Jahre getrennt hatte. Immendorff am 7. Mai 2007, nur drei Wochen vor dem
Kapitel deutscher Kunstgeschichte. hatte lange bestritten, überhaupt der Er- Tod des Künstlers, von einem Düsseldor-
Vieles ist ungeklärt: Wie viele Bilder zeuger des Jungen zu sein, bis das Amts- fer Notar beurkundet. Immendorff sei
gehörten Immendorff, als er starb – und gericht Düsseldorf 1999 die Vaterschaft schwer erkrankt, schreibt der Notar in ei-
was waren sie wert? Wo sind diese Bilder feststellte. ner Vorbemerkung, geistig jedoch „noch
heute? Und wie lässt sich ihr Wert be- Auf der anderen Seite steht Immen- voll präsent und in der Lage, seinen Wil-
stimmen? dorffs Witwe Oda Jaune, geboren 1979 len frei zu bilden und auszudrücken“.
Seit dem Tod des Malers wird über des- als Susan Michaela Warsteit in Sofia, Das Testament ist ein Dokument des
sen Nachlass gerungen. Auf der einen Bulgarien, einst Immendorffs Studentin, Sinneswandels. In der ursprünglichen Fas-
Seite steht dabei der Sohn aus Immen- mittlerweile selbst Künstlerin, die Mutter sung hatte Immendorff darin seine Toch-
ter Ida als Alleinerbin eingesetzt. Nun
wurde „Tochter Ida“ im Text durchgestri-
chen; handschriftlich wurde Immendorffs
Ehefrau Oda Jaune als Alleinerbin einge-
setzt. Diese Fassung des Testaments ist
gültig. Seinen Sohn zog Immendorff of-
fenbar nie als Erben in Erwägung.
Doch nach deutschem Erbrecht kann
man seine Kinder nur in seltenen Aus-
nahmefällen komplett enterben. Immen-
dorffs Sohn steht ein Pflichtteil zu, ein
Achtel von Immendorffs Vermögen. Nur:
Wie viel ist das?
Der Anwalt des Jungen, Lothar Böhm,
versucht seit Immendorffs Tod, den Fall
aufzuklären. Erst verhandelte er mit Oda
Jaunes Anwälten, letztlich ohne Erfolg.
Im Januar dieses Jahres reichte er vor
dem Landgericht Düsseldorf Klage ein,
eine sogenannte Zwei-Stufen-Klage: In
der ersten Stufe fordert er im Namen sei-
nes Mandanten Auskunft über den Wert
des Immendorff-Nachlasses, in der zwei-
ten die Auszahlung von einem Achtel die-
ser Summe. Noch ist unklar, wie das Ver-
fahren ausgeht.
Mitten in diese Auseinandersetzung
um das Erbe fällt auch die Veröffentli-
chung der ersten Immendorff-Biografie.
Geschrieben hat sie Hans Peter Riegel,
ein Weggefährte Immendorffs. Am Diens-
tag dieser Woche wird das Buch in der
Kunsthalle Düsseldorf vorgestellt*.
Riegel und Immendorff lernten sich
1979 kennen, sie tranken zusammen Ko-
kosnussmilch auf den Bahamas, sie feier-
ten im La Paloma auf St. Pauli, sie fuhren
1982 gemeinsam zur Documenta nach
Kassel. Es existiert ein Foto aus jenen Jah-
ren, auf dem beide schwarze, schwere
Bikerstiefel tragen, Riegel einen Schnau-
zer wie ein Fußballprofi, Immendorff
schwarze Lederkluft. Sie entwickelten
Projekte, bis Mitte der achtziger Jahre ar-
beitete Riegel als persönlicher Assistent
für Immendorff. „Ich habe Jörg immer
gesagt, dass ich eines Tages eine Biografie
über ihn schreiben werde“, sagt Riegel.
Und Immendorff habe immer Angst da-
STEPHAN PICK / ROBA PRESS

vor gehabt, ergänzt er.


Denn Riegel zeichnet ein nicht nur
freundliches Bild von Immendorff. „Ich

* Hans Peter Riegel: „Immendorff. Die Biographie“.


Aufbau-Verlag, Berlin; 400 Seiten; 24,95 Euro. Erscheint
malen, wie er Geld ausgeben wollte“ am 4. Oktober.

D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0 169
Kultur

habe Immendorff als einen Menschen Werner, 71, ist eine Institution des spielen will, die den künstlerischen Nach-
gesehen, der seinem Erfolgsstreben alles Kunstmarkts, seine Galerien in Köln und lass pflegt und so dessen Wert erhält. Sie
Private und Persönliche nachordnete“, New York handeln mit den großen Mar- verkaufte nach Immendorffs Tod nur eine
schreibt Riegel. Immendorffs Selbstin- kennamen der deutschen Nachkriegs- Handvoll seiner Bilder, zog nach Paris,
szenierung, die „permanente und für ihn kunst: Georg Baselitz, Markus Lüpertz, äußert sich seitdem nicht mehr zu ihrem
unerlässliche Selbstbespiegelung“, war A.R. Penck, Sigmar Polke und eben auch verstorbenen Gatten, stattdessen kon-
„in ganz besonderer Weise Teil seines Immendorff. In den achtziger Jahren zentriert sie sich auf ihre eigene Karriere
Werkes“. machte Werner mit Immendorff-Gemäl- als Malerin. „Witwen sind immer ein
Riegel beschreibt Immendorffs Auf- den einen Millionenumsatz. Pain in the neck“, sagt Galerist Werner,
stieg zum populären Künstler, er erzählt Werner ist Geschäftsmann, er kann was übersetzt so viel wie Nervensäge
von Personen in dessen Umfeld, die ihm nüchtern kalkulieren, was der Tod eines heißt. Oda Jaune sei „ein kleines Mäd-
bei der Karriere halfen, er schildert die Malers wie Immendorff bedeutet. „Das chen“, das allerdings „beinhart“ verhan-
Mechanismen des Kunstmarkts, der Bil- Ableben ist eine Bremse“, sagt Werner. deln könne.
der in erster Linie als Ware handelt. „Wenn der Künstler stirbt, geht der Pri- Doch Werner ist nicht nur Galerist, er
Die Biografie hat schon vor Erscheinen märmarkt baden“ – der Nachschub bleibt ist auch Immendorffs Testamentsvollstre-
für Aufregung gesorgt, vor allem bei den- aus. Dazu komme: „Die Preise gehen cker, der auf Wunsch des Erblassers, also
jenigen, die darin auftauchen, aber keine runter, weil nach dem Tod des Künstlers Immendorffs, von Amts wegen beauftragt
Vorabexemplare lesen durften. Der Ver- Chaos entsteht. Der Künstler macht keine ist, den Nachlass des Verstorbenen zu er-
fassen und gemäß den Vorgaben im Tes-
tament zu verteilen. „Eine Belastung“,
sagt Werner, „ich hätte das nie gemacht,
wenn der Jörg das nicht in sein Testament
geschrieben hätte.“
Das alles ist ziemlich kompliziert. Nie-
mand weiß derzeit genau, wie viel Im-
mendorff in seinem Leben produziert hat,
aber es dürften mehr als 1800 Werke sein.
Ein Teil davon ist ganz offiziell über die
Galerie an Museen und Sammler verkauft
worden. Ein anderer Teil lagert wohl
noch in Immendorffs Düsseldorfer Ate-
lier, in Werners Galerie, bei anderen
Kunsthändlern.
Als Testamentsvollstrecker muss Wer-
ner den Wert der vorhandenen Immen-
dorff-Arbeiten bestimmen. Je höher er
den Wert des Nachlasses ansetzt, desto
größer wird auch der Wert des Pflichtteils,
den Immendorffs Witwe am Ende mögli-
cherweise an seinen Sohn zahlen muss.
AXEL SCHMIDT / ACTION PRESS

Entsprechend empfindlich reagiert des-


sen Anwalt Böhm auf einige der Taxie-
rungen, die Werner vorgenommen hat.
„Es geht nicht um ein paar tausend Euro
hin oder her, es geht manchmal um 75 000
Euro Differenz zwischen dem, was Wer-
Immendorff-Ausstellungseröffnung*: Tote Maler sind die wahren Stars des Kunstbetriebs ner ansetzt, und dem tatsächlichen Markt-
preis“, sagt Böhm.
lag fürchtet offenbar juristischen Ärger. Reklame mehr, er steht nicht mehr in der Böhm nennt als Beispiel eine Statue
Wohl auch deswegen kommt der Erb- Zeitung“, sagt Werner. von Immendorff aus dem Jahr 1989, die
schaftsstreit in Riegels Buch nicht vor, Normalerweise sind tote Maler die „Der Sieger“ heißt. Eine plumpe Figur
auch über die in ihn verwickelten Perso- wahren Stars des Kunstbetriebs – sobald reckt beide Arme in die Höhe, mit Sockel
nen findet sich nur wenig. Das Kapitel sich die Unruhe der Sammler gelegt hat ist die Statue 2,16 Meter hoch. Es gibt
über Oda Jaune, Überschrift „Die Kind- und die Künstler ihren Status auch über mehrere Abgüsse der Plastik, mal heißt
frau“, hat gerade mal 22 Zeilen. ihren Tod hinaus bewiesen haben. Martin sie „Sieger“, mal „Ohne Titel“.
Im Mittelpunkt des Erbstreits steht Im- Kippenberger zum Beispiel, gestorben Im Mai 2008 wurde eine solche Bronze-
mendorffs Werk, ein unübersichtliches 1997, wurde erst postum zum Millionen- skulptur in Wien für 126 800 Euro ver-
Konglomerat von diffusem Wert. Fest Künstler, ebenso Andy Warhol. kauft, dieses Jahr brachte ein Exemplar
steht: Immendorff war immer sehr pro- Das Interesse an Immendorff-Werken auf einer Auktion immerhin noch 110 100
duktiv, er malte mitunter wie ein Beses- hat dagegen in den vergangenen Jahren Euro. Im Nachlass von Immendorff be-
sener, wenn auch vielleicht nicht immer eher nachgelassen. Auf einer Auktion finden sich ebenfalls zwei solche Skulp-
nur aus künstlerischem Antrieb. „Jörg 2008 in Köln fanden fünf der sechs ange- turen, darunter das Original aus Holz, das
konnte nicht so schnell malen, wie er botenen Immendorff-Werke keinen Käu- als Vorbild für die Bronzestatuen diente.
Geld ausgeben wollte. Er stand immer fer, nur eine Holzskulptur („Malertod Was sind sie wert?
bei mir in der Kreide“, sagt Michael Wer- III“) ging für 24 000 Euro weg. Immen- Der Experte für derlei Fragen ist: Mi-
ner, Immendorffs langjähriger Galerist. dorffs Marktwert war schon mal höher. chael Werner. Er hat in diesem Fall also
Das könnte auch daran liegen, dass mehrere Rollen: als Galerist, der Immen-
* Mit Bundeskanzler Gerhard Schröder 2005 in der Oda Jaune, die Alleinerbin, für die Öf- dorffs Werke teuer verkauft; als Immen-
Nationalgalerie in Berlin. fentlichkeit nicht die Immendorff-Witwe dorff-Sachverständiger, der den Wert an-
170 D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0
derer Immendorff-Werke eher am unte-
ren Ende des Spektrums ansetzt; und als
Immendorffs Testamentsvollstrecker, der
auf Basis seiner eigenen Schätzungen den
Gesamtwert des Erbes wesentlich beein-
flusst.
Seit ein paar Wochen nun ist Werner
außerdem Oda Jaunes Vertragspartner:
In ihrem Auftrag darf er jene Bilder aus
Immendorffs Spätwerk verkaufen, die ihr
gehören. Werner kann in dieser Ämter-
häufung „keinen Interessenkonflikt“ er-
kennen.
Die umstrittenen Skulpturen, da ist sich
Werner sicher, seien „nur 25 000 Euro

DET KEMPKE / AGENTUR FOCUS


wert“, weil die „Dinger einfach nichts
taugen“. Werner sagt, dass „der Wert ei-
nes Kunstwerks ja kein interpolierbarer,
wissenschaftlicher Nummerncode ist. Ich
bestimme als Sachverständiger, was die Filmemacher Besson
Werke wert sein können“. Wenn „irgend-
ein Idiot“ auf einer Auktion ein Viel-
faches dafür ausgebe, „ist das sein reines
KINO
Privatvergnügen“.
Rechtsanwalt Böhm beruft sich hin-
gegen auf einen Paragrafen des Bürger-
lichen Gesetzbuchs, wonach für den Wert
des Nachlasses der Zeitpunkt des Todes
des Erblassers entscheidend sei – in Im-
Paria aus Paris
mendorffs Fall also das Jahr 2007. In je-
Der Franzose Luc Besson ist der einzige Tycoon des europäischen
nem Jahr wurde eine solche Skulptur Films: Nun lässt der Regisseur von Welterfolgen wie
beim Münchner Auktionshaus Ketterer „Das fünfte Element“ das größte Studio Frankreichs bauen.
für 114 000 Euro verkauft.

E
Anwalt Böhm, sein zwölfjähriger Man- in Mann stapft durch eine Baustel- rund um die Uhr“, sagt Besson. „Nur
dant und dessen Mutter überlegen nun, len-Wüste, Sand weht ihm ins Ge- dann bist du in der Lage, aus dem Nichts
inwieweit sie das Nachlassverzeichnis sicht. Hinter ihm ragen Reste eines Welten zu erschaffen.“
überhaupt anerkennen sollen. Denn Fabrikgebäudes in den Himmel, nur die Kaum ein anderer Filmemacher hat in
Böhm glaubt nicht nur, dass der Wert vie- Grundmauern stehen noch. Luc Besson den vergangenen Jahren so viele Welten
ler Kunstwerke zu niedrig angesetzt ist, trägt eine schwarze Lederjacke, einen erschaffen. 13 Filme hat er inszeniert, dar-
er hat auch den Verdacht, dass etliche weißen Schutzhelm und olivfarbene unter das Taucher-Epos „Im Rausch der
Bilder auf der Liste fehlen. Böhm besitzt Gummistiefel. Er bleibt stehen, sieht sich Tiefe“ (1988) und das Science-Fiction-
inzwischen viele Immendorff-Bücher und um. Für einen kurzen Moment wirkt er Abenteuer „Das fünfte Element“ (1997).
-Kataloge, er klamüsert im Detail ausein- wie der letzte Mensch auf Erden. Besson hat an rund 40 Drehbüchern mit-
ander, wo Werke von Immendorff in Aus- „Ich habe oft hier gedreht im Lauf der geschrieben und fast hundert Filme pro-
stellungen gezeigt wurden und in wessen Jahre“, sagt Besson, 51. „Wir haben hier duziert. Seine neue Regiearbeit, die Co-
Besitz sie damals waren. viele Bilder gefunden, Bilder von Zerstö- mic-Adaption „Adèle und das Geheimnis
Eine komplizierte Arbeit, nicht nur für rungen, Endzeitbilder.“ Nun wird er hier, des Pharaos“, läuft diese Woche an.
einen Anwalt: undurchsichtig, weil das auf dem Gelände eines ehemaligen Kraft- Er hat vier Töchter und einen Sohn,
Œuvre viele Kunstwerke und vier Jahr- werks in Saint-Denis, einem Teil der Pa- mit drei verschiedenen Frauen, nicht
zehnte umspannt, erschwert auch durch riser Banlieue, etwas aufbauen: die Cité zuletzt für sie schrieb er die Kinderbuch-
Immendorffs Praxis, wohl jenseits der du cinéma, eine Stadt des Kinos. serie „Arthur“. Er verkaufte drei Millio-
offiziellen Buchführung selbst Werke zu Den größten Studiokomplex Frank-
verkaufen. Es existieren dubiose Quit- reichs lässt er errichten, auf einer Fläche
tungen mit handschriftlichen Vermerken von gut 60 000 Quadratmetern. Er wird
wie beispielsweise „Hälfte black“ oder neun Hallen umfassen, eine Filmhoch-
„50 000 so“. „Der Jörg hat immer viel schule, ein Kino mit 450 Plätzen, eine
selbst umgesetzt aus seinem Atelier“, sagt Kantine für 1000 Personen. Die Kosten
Werner, „er war sehr anfällig für nicht von 160 Millionen Euro bringt eine Grup-
so seriöse Händler.“ pe von Investoren auf, unter anderem
Und Oda Jaune, die Witwe? Sie möch- eine Bank, ein Bau- und Immobilienkon-
te sich auch weiterhin nicht über ihren zern und Besson selbst.
verstorbenen Mann äußern, lässt sie über „Dahinten ist der Haupteingang“, sagt
eine PR-Agentur mitteilen. Man könne Besson. „Wir stehen hier in einer licht-
aber gern mit ihr über ihre eigenen Wer- durchfluteten Halle, einer Avenue zum
ke sprechen. Flanieren! Sehen Sie?“ Es ist nichts zu
Die Künstlerin Oda Jaune wird von ei- sehen, nur leere Fläche, ein paar Bauar-
ner Pariser Galerie vertreten, ihre Bilder beiter. Vor Bessons geistigem Auge steht
kosten mittlerweile 30 000 Euro. alles schon da. „Die Phantasie ist ein
NORA REINHARDT, MARTIN WOLF Muskel, den du ständig trainieren musst, Modell für den Studiokomplex Cité du cinéma in

172 D E R S P I E G E L 3 9 / 2 0 1 0
Kultur

nen Bücher und verfilmte sie. Der dritte „Als Kind hatte ich kaum Freunde“, umgekehrt.“ Besson lacht, als freue er
Teil der Verfilmung kommt im Oktober erzählt er. „Ich bin mit meinen Eltern sich darauf, dass sie bald alle zu ihm
in die französischen Kinos. „Le Monde“ von Land zu Land gereist, hatte nichts rausfahren müssen, die Granden des
nannte Besson schon vor Jahren den „Im- zum Spielen. Es gab Steine, ein Stück französischen Kinos und die amerika-
perator des französischen Kinos“. Heute Holz, daraus musste ich meine Welten nischen Finanziers, voller Angst, ihre di-
ist er der einzige Film-Tycoon Europas, bauen. So hat sich meine Phantasie ent- cken Limousinen könnten ihnen von ma-
und die Cité du cinéma ist so etwas wie wickelt. Würde ich aus einer reichen Fa- rodierenden Jugendlichen abgefackelt
das Denkmal, das er sich setzt. milie stammen, hätte ich es nie so weit werden.
Das Publikum liebt den Overkill seiner gebracht.“ Besson stapft durch den bröseligen Be-
Filme, die grotesken Schießereien und Die Geschichte, die er hier erzählt, ist ton, noch etwas breitbeinig; er ist gerade
Verfolgungsjagden, die naiven, jungen- die des Schmuddelkinds, mit dem nie vom Motorrad gestiegen, mit dem er aus
haften Helden, die nicht erwachsen wer- jemand spielen wollte und das sich des- Paris zu seiner Baustelle gefahren ist. Er
den wollen, die wilden, starken Frauen, halb die tollsten Spielzeuge selbst baute. blickt zur Seine, die direkt am zukünfti-
die sich bei ihm austoben dürfen, ob im Die meisten dieser Spielzeuge sind Fil- gen Studiogelände vorbeifließt. „Ich weiß
Frankreich des Mittelalters, im Venedig me über Schmuddelkinder. In seinem ers- auch nicht, aber ich habe immerfort Ein-
von heute oder im New York der Zukunft. ten Erfolg „Subway“ (1985) erzählt er von fälle“, sagt er, und es klingt so, als redete
Er mache Filme wie ein Chefkoch, sagt Obdachlosen, Menschen, die in der Pari- er über eine Krankheit, mit der er im Lau-
Besson. „Ich gehe auf den Markt, kaufe ser Metro leben. Einer von ihnen, Fred, fe der Jahre zu leben gelernt hat.
die Zutaten, rieche am Fisch, stehe am ein blondierter Punk (Christopher Lam- Die Baustelle ist sein größtes Projekt,
Herd. Dann kommt ein Gast und sagt: ,Ich bert), verliebt sich in die Gattin eines rei- und es ist der wohl härteste Kampf, den
mag keinen Fisch.‘ Und ich bin schon in chen Mannes, Helena (Isabelle Adjani). Besson bisher gegen das bürgerliche
aller Herrgottsfrühe rumgerannt, um den Fred zieht sie zu sich herab in die Unter- Establishment ausgetragen hat. Es passt,
besten Fisch zu finden! Was soll’s, er ist welt, macht sie sich gleich, bis sie gegen dass er, der Großkapitalist des französi-
dein Gast. Koch etwas, was ihm schmeckt.“ ihren Mann rebelliert. schen Kinos, ausgerechnet im kommunis-
In der elitären Welt des französischen Der Regisseur nahm sich seine Figur tischen Bürgermeister von Saint-Denis
Films, in der ungern über Geld und gern Fred, den coolen Asozialen, zum Vorbild. einen wichtigen Mitstreiter fand.
über Kunst gesprochen wird, in der man Er färbte sich die Haare blond, bürstete Er habe sich festgebissen in diesem Pro-
sich im Edelrestaurant Fouquet’s an den sie gen Himmel, ließ seinen Bart wuchern, jekt, sagt Besson, und den Biss nicht mehr
Champs-Elysées trifft, gelten Bessons Fil- bevor er nach Cannes fuhr, um sich unter gelockert, bis sie alle gespürt hätten, die
me als Fast Food. Das Pariser Kino-Bil- die Stars des Weltkinos zu mischen. Er Politiker, die Behörden und die Banken,
dungsbürgertum sah in Besson stets einen trug Smoking mit Fliege wie Fred in „Sub- dass es ihm Ernst ist mit seinem Traum,
Emporkömmling ohne Kultur, einen Ba- way“, doch mit einer Attitüde, die sagte: hier das „kreative Zentrum“ der franzö-
nausen, der sich an der „septième art“, Hey, wenn ich euch wirklich mögen wür- sischen Filmindustrie zu schaffen.
der siebten Kunst, verging. de, hätte ich jetzt einen Taucheranzug an. Es ist die Vision einer egalitären Kino-
Seine Eltern waren Tauchlehrer, die Seine Helena fand er in dem Model fabrik, die sich von den französischen
mit ihm jahrelang um das Mittelmeer zo- Milla Jovovich, er machte sie zum Film- Filmkunst-Manufakturen ebenso unter-
gen. Eines Tages wagte er trotz Erkältung star und zur Geliebten, er steckte sie 1997 scheiden soll wie von den amerikanischen
einen Tauchgang. Beim Hochkommen er- in Cannes in ein wildes Outfit mit einem Großstudios. Besson sieht sich nicht als
blindete er kurzfristig. Und lernte, dem metallenen Büstenhalter, und als sie über Fabrikant, sondern als Vorarbeiter, der
geistigen Auge zu vertrauen. den roten Teppich liefen, sahen sie fast allen zeigt, wie man Filme am Fließband
„Ich habe mit 13 angefangen, Geschich- aus wie das Paar in „Subway“. produziert, Filme, die schmecken.
ten zu schreiben. Mit 20 hatte ich 25 Dreh- Besson gefällt sich darin, ein Paria zu Natürlich geht ihm alles viel zu lang-
bücher in der Schublade, einige habe ich sein. Seine Cité du cinéma wird ausge- sam. „Wir sind in Frankreich, hier ent-
dann später verfilmt.“ Das Schreiben sei rechnet im Départment Seine-Saint-De- scheidet man nicht, hier streitet man!“
für ihn eine Flucht gewesen, sagt er. Es nis gebaut, dort, wo im Herbst 2005 blu- Für ihn ist das alles nur ein großer, zäher
gebe andere Fluchtwege, Alkohol oder tige Kämpfe zwischen Jugendlichen und Stau, und er ist der Einzige, der daran
Drogen, aber die seien ungesünder. „Ich der Polizei tobten. Besson hat schon in vorbeifährt, sich hindurchschlängelt auf
bin in meinen Kopf geflohen.“ Vielleicht den achtziger Jahren hier gedreht und seiner Honda, der immer eine Abkürzung
haben all diese Fluchtwege, Tauchen und sich mittlerweile auch sozial engagiert. findet. Wann ist das Studio fertig, Mon-
Trinken, Fixen und Filmen, am Ende das „Alle träumen davon, Büros an den sieur Besson? – „In zwei Wochen!“, ruft
gleiche Ziel: den Rausch. Champs-Elysées zu haben. Wir machen’s er und lacht. LARS-OLAV BEIER GERARD MONICO / CIT'IMAGES

Saint-Denis: Die Vision einer egalitären Filmfabrik, in der Besson der erste Vorarbeiter ist

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D E B AT T E

S O Z I A LE KR I EGE
VOM UN BE HAGE N DE R B Ü RGE R LICH E N MIT T ELSCH ICH T
VON R I CH A R D DAV I D P R E CH T

FRITZ ENGEL / ZENIT / LAIF


Bürgerprotest gegen das Projekt „Stuttgart 21“: Im Namen des Volkes gegen das Volk

T
hilo Sarrazin braucht kein Mitleid. Er könnte auch lich durchmischten Milieus. Ein deutscher Dissozialer, der sich
schlecht damit umgehen. Und es geht schon gar nicht zur bürgerlichen Wertegemeinschaft nicht zugehörig fühlt, ist
darum, ihm recht zu geben, in was auch immer. Fürs für unsere Gesellschaft ebenso gefährlich wie ein türkischer.
Rechtgeben sind seine Ansichten viel zu durchwachsen und Bedrohlich ist nicht der religiöse Fundamentalismus, sondern
zu missverständlich, mit Ausnahme vielleicht all des Unver- die Moralferne der Halbintegrierten, die Melange von religiö-
standenen und Unverständlichen aus der Genetik. Hier ist er sem Machismo und Gangsta-Kult, islamistischem Chauvinismus
eindeutig – und zwar eindeutig ohne Sachkenntnis. und westlichem. Was die Kinder von Allah und 50 Cent ge-
Und auch die Frage, ob Sarrazin weiter als Sozialdemokrat fährlich macht für unseren sozialen Konsens, sind nicht Gene
betrachtet werden darf oder nicht, ist eine langweilige. Kein oder Glaube. Gewalttätige Migranten sind nicht in erster Linie
Sozialdemokrat zu sein und trotzdem in der SPD zu bleiben von religiösen Wahnvorstellungen unheilvoll beseelt, sondern
ist kein Widerspruch. Ehemalige Bundeskanzler haben es weit häufiger von Drogen. In diesem Punkt unterscheiden sie
vorgelebt. Die weit spannendere Frage ist: Wieso kann ein höl- sich nicht von Deutschen.
zerner Finanzmann mit seinen Vorurteilen, seinen turmhoch Der weitaus größere Teil der Bevölkerung in Deutschland
gestapelten Statistiken und seinen biologischen Nachschlage- nimmt dies auch so wahr. Der türkische Gemüsehändler an
werken eine solche Aufregung verursachen? Weil er ein Tabu der Ecke wird geschätzt, auch wenn seine Töchter Kopftücher
gebrochen hat? Weil er der schweigenden Mehrheit eine nä- tragen. Er ist ein Bürger wie wir mit ähnlichen Werten von
selnde Stimme gibt? Weil den Massenmedien langweilig war? Fairness und Gerechtigkeit, Hilfsbereitschaft, Höflichkeit, Ar-
Oder doch: weil er ins Schwarze traf, als er ins Braune redete? beitsmoral und Anstand. Wenn der Streit um Kopftücher, Ka-
Es gibt Integrationsprobleme von Migranten in Deutschland, rikaturen und Koran-Verbrennungen solche Aufregung verur-
es gibt einen Moralverlust in allen sozialen Schichten, einen sacht, dann deshalb, weil solche Symbole beiden Seiten helfen,
Sittlichkeitsverfall im öffentlichen Umgang, eine Enthemmung die Welt kurzfristig einfacher zu machen, als sie ist. Die gene-
bei Sex und Gewalt, eine soziale Erosion der Mittelschicht und relle Ausländerfeindlichkeit in Deutschland hingegen hat über
vor allem: Desorientierung. Das Schwarze, in das Sarrazin die vergangenen Jahrzehnte stark abgenommen. Ein kurzer
trifft, ist jener Satz, auf den sich Sarrazin-Freunde wie -Gegner Blick zurück auf die „Kümmeltürken“- und „Spaghettifresser“-
einigen können: So geht es nicht weiter! Aversionen der siebziger Jahre belehrt darüber. Deutschland
Wirklich begriffen wird dieses Problem allerdings nur jenseits hat viel dazugelernt. Idioten gibt es immer und überall. Aber
aller Sarrazinaden um gefährdete Deutsche und gefährliche Mi- flächendeckender Rassismus ist (noch) nicht unser Problem.
granten. Es stehen sich keine Völker gegenüber und keine Eth- Dafür gibt es ein anderes. Es ist die Angst vor einem Sozial-
nien, sondern zwei moralische Kulturen. Diese beiden Kulturen krieg. Es gibt viele Deutsche und Migranten, die sich zu dieser
sind nicht das Christentum und der Islam, kein „Kampf der Kul- Wertegemeinschaft nicht mehr zugehörig fühlen. Die Schere
turen“ im Sinne Samuel Huntingtons. Es ist das Ethos des So- zwischen Arm und Reich geht auseinander, die Milieus ohne
zialen und das Ethos des Dissozialen. Die Grenze verläuft nicht Tugenden werden vermutlich wachsen: Eure Werte, euer so-
zwischen Volksgruppen oder Religionen, sondern zwischen reich- zialer Friede und eure Moral sind uns scheißegal!
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Kultur

Der Moralverlust durchwirkt in je eigener Ausprägung alle Eine neue Idee von Wachstum zu entwickeln wäre die wich-
Gesellschaftsschichten. Kriminelle Banker, die auf Staatskosten tigste Aufgabe unserer Wirtschaftspolitik. Aber dies wird nicht
Milliarden verzocken und Millionen-Abfindungen bekommen, diskutiert. Stattdessen ergreift die bürgerlichen Mittelschichten
Kleinbetrügereien bei der Steuererklärung, tagtägliche Egois- ein fühlbares Unbehagen. Soll man sich mitfreuen, wenn sich
men im Straßenverkehr. „Unterm Strich zähl ich“, wie die Ban- der Wirtschaftsminister über den Aufschwung nach der Finanz-
kenwerbung uns indoktriniert. Auch die Dissozialen unserer krise freut? Hurra, wir dürfen weiter unreflektiert den gleichen
Gesellschaft werden weniger durch muslimische Propaganda Mist machen wie vorher?
aufgeheizt als durch kapitalistische: durch Gangsta-Rap, Kil-

W
lerspiele und Pornografie. ir dürfen nicht mit immer neuen Schulden den Egois-
Unsere Gesellschaft, unser Wirtschaftssystem, züchtet den mus züchten. Wir müssen eine Vernunft der Weitsicht
Egoismus an allen Fronten. Das Problem dahinter ist nicht neu, in die Politik implementieren und nicht weiterhin mit
es ist der Konflikt zwischen Liberalismus und Demokratie. Die einer kurzsichtigen Vernunft zwischen vermeintlichen Sach-
Idee des Liberalismus ist der Freiheit verpflichtet, die Idee der zwängen vermitteln.
Demokratie einer weitreichenden Gleichheit. Je freiheitlicher Es geht dabei nicht um billige Politikschelte, wie der aufge-
eine Gesellschaft, umso gefährdeter der gesellschaftliche Kon- brachte SPD-Parlamentarier Hans-Peter Bartels mir unlängst
sens. Niemand sah dies so scharf wie die Denker der „Freibur- im SPIEGEL (37/2010) unterstellte. Es geht darum, dass unsere
ger Schule“, die Väter der „sozialen Marktwirtschaft“. Wirt- politische Klasse, je näher sie der Macht ist, umso stärker die
schaftspolitik war für sie auch ein moralisches Erziehungspro- großen Probleme unseres Landes verdrängt. Was sich als „Ver-
gramm, um die Werte der Freiheit mit den Werten von Fürsorge nunft“ tarnt, ist in Wahrheit Klüngelei, Verzagtheit und Vi-
und Anstand zu versöhnen. sionslosigkeit. Es geht darum, die Grenzen unserer Parteien-
Leicht ist das nicht. Die vielleicht wichtigste Erkenntnis in demokratie im gegenwärtigen Zustand zu erkennen. Es geht,
diesem Zusammenhang formulierte Wilhelm Röpke: Die markt- ganz ohne Romantik, um mehr Demokratie. Soll man dafür
wirtschaftliche Ordnung beruht auf Voraussetzungen, die sie tatsächlich in Parteien eintreten? Wer in den vergangenen
nicht selbst erzeugen kann. Wer gewinnorientiert und zweck- Wochen verfolgen durfte, wie der demokratisch vereinbarte
rational handelt, verhält sich zwar ökonomisch schlau, aber er Atomausstieg unterlaufen wurde, der sieht, dass Parteien nicht
erzeugt damit keine Moral. Ganz im Gegenteil verbraucht er per se Garanten dafür sind, dass es demokratisch zugeht. Und
ein großes Kontingent an Moral, das er in der Gesellschaft wer im Namen des Volkes gegen das Volk in Stuttgart den
vorfindet. Er nutzt die Regeln der Fairness. Hauptbahnhof tiefer legt, der versteht nicht
Er fordert Vertrauen ein und vertraut. Er die Zeichen der Zeit. Es geht um die Selbst-
geht von der Wahrhaftigkeit seiner Ge- Je freiheitlicher eine behauptung des gefährdeten Bürgertums an
schäftspartner aus, davon, dass sie ihre Gesellschaft, umso beiden Fronten: gegen das Dissoziale von
Waren tatsächlich liefern und ihre Kredite oben und von unten, gegen die Oligarchie
zurückzahlen. Doch all dies wird nicht vom gefährdeter der gesell- der Mächtigen und gegen die Anarchie der
Markt selbst geschaffen, sondern bereits schaftliche Konsens. Ohnmächtigen.
vorausgesetzt, damit der Markt funktio- Die Kunst, kein Egoist zu sein, muss wie-
nieren kann. Aber: Je zweckrationaler die der neu eingeübt, das Gute am Bürger-
Menschen ihren Nutzen kalkulieren, umso ungesünder wird lichen neu belebt werden. Vermutlich bedarf es dafür eines
das gesellschaftliche Klima. Der Markt ist ein „Moralzehrer“, Ausstiegs aus dem materialistischen Wachstumswahn. Der
der unsere moralisch-sittlichen Reserven verbraucht. Umbau-Katalog beginnt bei mehr direkter Demokratie durch
Bereits Anfang der siebziger Jahre diagnostizierte der ame- Plebiszite auf allen Ebenen. Er führt über eine Föderalismus-
rikanische Soziologe Daniel Bell das Wertedilemma der west- reform mit dem Ziel, die Einflusssphären der Länder zu schwä-
lichen Gesellschaften. Der westliche Mensch zerfalle heute in chen und die finanziell halbtoten Kommunen zu stärken. Und
zwei Teile, die nicht mehr zusammenpassen. Die Wirtschaft er endet in der Forderung nach einem Bildungssystem, das
benötige einen egoistischen Hedonisten und unersättlichen sich aller Kinder aller Schichten früh und verantwortungsvoll
Konsumenten, der nie zufrieden ist, disziplinlos in seiner Gier annimmt. Dazu freilich müssen die Bürger selbst Verantwor-
nach mehr. Die Gesellschaft dagegen brauche einen beschei- tung übernehmen. Dissoziale Milieus zu verkleinern kann
denen Mitbürger, hilfsbereit und zufrieden. Wie soll man bei niemals allein die Aufgabe des Staats sein. Nicht zuletzt die
solchen Voraussetzungen seine Kinder erziehen? Wie soll man Bürger der goldenen Generation, die Rentner und Pensionäre,
ein klares und überzeugendes Ideal formulieren? Was sind un- tragen heute die Bringschuld, ihren Wohlstand in Allgemein-
ter diesen Umständen die Leitwerte? Und was ist noch das wohlstand zu überführen. Was hindert einen Pensionär, Mi-
Bürgerliche? Zu viel Freiheit macht unsicher. Wir sind zu gut granten-Kindern Lesen und Werte beizubringen? Auch Sarra-
informiert, um uns noch zu klaren Weltanschauungen zu be- zin hätte dazu nun Zeit.
kennen, zu liberal, um Wertehierarchien zu formulieren, zu Die Quintessenz der Sarrazin-Debatte besteht nicht in einer
konsumorientiert, um Bescheidenheit zu predigen. allerorten unterstellten neuen Ausländerfeindlichkeit. Tiefer
liegend macht sie einer breiten Unzufriedenheit Luft. Von Men-

D
ie Wirtschaft hat sich seit den siebziger Jahren globali- schen, die sich nicht verstanden und gehört fühlen. Von Men-
siert. Das Internet hat internationale Geschäfte abstrak- schen mit Angst, denen Sarrazin ein falsches Ziel liefert. Von
ter und verantwortungsloser gemacht: Wenn Millionen- Skepsis gegenüber der Wahrhaftigkeit der Politik. Dieses
beträge nur durch einen Tastendruck am Computer ihren Be- Potential darf nicht von rechts fehlgeleitet
sitzer wechseln, findet der ehrbare Kaufmann keinen Sitzplatz werden, aber auch nicht verpuffen in
mehr. Geschäfte, wie sie heute in der Finanzwelt üblich sind, Frustration. Verunsicherte Bürger, die wir
kennen keine Zeit zum Abwägen und keine Gesichter. fast alle sind, müssen wir stattdessen, wie
HORST GALUSCHKA / ACTION PRESS

Unsere Volkswirtschaft wächst immer weiter und spekuliert Axel Honneth schreibt, das „Ich im Wir“
auf fortwährendes Wachstum. Der Ausverkauf der Moral wird wiederfinden und damit das „Wir im Ich“.
beschleunigt, und dennoch fühlt sich die Bevölkerung, viele
Umfragen bestätigen dies, seit Ende der sechziger Jahre nicht Richard David Precht, 45, ist Philosoph
mehr glücklicher. Wir verbrauchen immer mehr Ressourcen, und Bestsellerautor. Sein neues Buch
plündern die Umwelt und unterspülen die Fundamente der „Die Kunst, kein Egoist zu sein“ (Gold-
Moral, und am Ende sind wir nicht zufriedener als vorher. mann Verlag) erscheint am 11. Oktober.
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Kultur

AU TO R E N

Zu Besuch in einem Roman


Der amerikanische Schriftsteller Bret Easton Ellis präsentiert
nach 25 Jahren die Fortsetzung seines Achtziger-Jahre-Klassikers „Unter Null“
und verwischt dabei die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit.

ROBERT GALLAGHER
Erzähler Ellis in Los Angeles: „Wir können nun das Interview mit dem Schriftsteller beginnen“

A
ls wäre man hier schon einmal ge- rial Bedrooms“*. Und Clay ist auch jene den und eingelassenen Lampen, gerade
wesen, so kommt es einem vor in moralisch bankrotte Romanfigur aus Ellis’ mal 110 Quadratmeter groß – ein Schlaf-
der Art-déco-Eingangshalle des Roman „Unter Null“, mit dem der Schrift- zimmer, ein Arbeitszimmer, ein ansehn-
Doheny Plaza, eines Appartement-Hauses steller vor 25 Jahren berühmt wurde. liches Wohnzimmer, das sich zu einer
an der Grenze zwischen West Hollywood Oben, im elften Geschoss des Doheny futuristischen, blitzblanken Küche hin
und Beverly Hills. Der Portier hat soeben Plaza, öffnet er die Tür. Er ist barfuß. öffnet.“ So steht es in dem Buch, und ge-
oben in der Wohnung den Besuch ange- Sein Gesicht sieht runtergewohnt aus, die nauso sieht es hier bei Ellis aus. Der Be-
kündigt. „Mr. Ellis“, sagt er, als er den Hö- Haare unecht. Im Hintergrund huscht ein sucher betritt nicht die Wohnung des
rer auflegt, „braucht noch ein paar Minu- junger Mann nur in einem Unterhemd Schriftstellers. Er betritt den Roman.
ten. Sie können dort vorne Platz nehmen.“ durchs Bild, hinein ins Schlafzimmer, wo Die Wohnung ist auf 15 Grad herun-
Dann fällt es einem ein. Doheny Plaza, die Jalousien heruntergelassen sind. Ellis tergekühlt, es summt die Klimaanlage,
von diesem Haus und sogar von der Ein- scheint aus dem Bett zu kommen. der kalte Rauch seiner Marlboro Gold
gangshalle hatte man doch gerade noch „Betont schlicht gehalten, in weichen steht in den Räumen. Ellis geht zum Kühl-
gelesen. Hier wohnt nämlich nicht nur Beige- und Grautönen, mit Hartholzbö- schrank in der „futuristischen, blitzblan-
Bret Easton Ellis, der umstrittene, legen- ken Küche“ und holt eine Cola heraus,
däre, immer etwas merkwürdige Schrift- * Bret Easton Ellis: „Imperial Bedrooms“. Aus dem ame-
bietet sie an. Neben der großen Ange-
steller. Hier wohnt auch Clay. Clay ist rikanischen Englisch von Sabine Hedinger. Verlag Kie- bercouch lehnt eine Gitarre, Ellis schlägt
der Held in Ellis’ neuem Roman „Impe- penheuer & Witsch, Köln; 224 Seiten; 18,95 Euro. vor, ins Arbeitszimmer zu gehen.
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Kultur

Interessanterweise haben zwei andere siebziger Jahren nur als Kampfansage in Deutschland für einen ganzen Kultur-
Journalisten, die Ellis in den Wochen zu- verstanden werden. Plötzlich war da eine zweig mit Romanen wie „Faserland“ von
vor besucht hatten, exakt das Gleiche Literatur, die mit beiden Beinen im Prä- Christian Kracht und all seinen Epigonen
erlebt, das Warten beim Portier, die nack- sens stand, die Widersprüche nicht über- sowie Zeitschriften wie „Tempo“, die El-
ten Füße, die Cola-Dose, die Gitarre ne- decken, schwer Erträgliches nicht beschö- lis’ eiskalten Blick auf die Welt übernah-
ben dem Sofa, die Kälte in dem Appar- nigen wollte und die so frei von literari- men. „Unter Null“ wurde in den Kanon
tement, sogar den Jungen im Unterhemd, schem Ornament war, dass sie keinen der großen Zeitgeistromane einsortiert,
der ins Schlafzimmer huscht. Spielraum für Interpretationen ließ – ob- „Der große Gatsby“ für die zwanziger
Es scheint, als baute Bret Easton Ellis wohl natürlich diese Literatur für die Jahre, „Der Fänger im Roggen“ für die
hier eine Art Geisterbahn für die Jour- meisten Leser nur erträglich wurde, wenn fünfziger, Ellis für die achtziger.
nalisten auf, eine Kulisse, die in Wahrheit man sie interpretierte. Wenn man sie als Nun, in „Imperial Bedrooms“, tauchen
genauso eine Fiktion ist wie sein Roman. Gesellschaftskritik las, die sie nicht war. die von Ellis vor über 25 Jahren erfunde-
„Wir können nun das nen Figuren wieder auf, der Erzähler
Interview mit dem Schrift- Clay, die hübsche Blair, der verzweifelte
steller beginnen“, sagt El- Julian und der Drogendealer Rip, der
lis in seinem Arbeits- aber, wie wir bald erfahren, inzwischen
zimmer. Er sitzt hinter sei- nach einigen Schönheitsoperationen aus-
nem Apple-Rechner, schaut sieht, „als wäre er kurz in ein Säurebad
YouTube-Videos und be- getaucht worden“.
tont das „mit dem Schrift- Sie sind alle 25 Jahre älter geworden,
steller“ fast höhnisch. nicht unbedingt schöner, nicht unbedingt
Seit dem Erscheinen von erwachsener, eher ruchloser, und so ge-
„Unter Null“, Ellis’ Debüt langt „Imperial Bedrooms“ zwangsläufig
von 1985, stellt sich ja bei zu einer moralischen Frage: Können Men-

CINETEXT BILDARCHIV
Ellis die Frage, wie wirk- schen sich ändern? Kann jemand, dem
lichkeitsnah seine erschüt- wie Clay in einer der erschütterndsten
ternden Bücher eigentlich Passagen von „Unter Null“ angesichts der
sind: ob sie als Zeugnis ei- Vergewaltigung einer Zwölfjährigen nicht
ner verrückt gewordenen, Darsteller Downey Jr.*: „Ich habe alle diese Dinge getan“ mehr einfällt, als dass das irgendwie nicht
kranken Zeit zu lesen sind. „recht ist“, sich ändern? Kann er, der sich
Oder ob sie gar das Produkt immer stärker entgrenzte und entfremde-
eines sehr gestörten Ge- te, mit 45 zurückfinden in funktionierende
hirns waren, das sich mühe- menschliche Beziehungen, oder bleibt so
los in einen Psychopathen jemand lebenslang ein Zombie?
hineinversetzt und viel- In „Imperial Bedrooms“ ist der ehema-
leicht sogar gemeingefähr- lige Collegestudent Clay nun ein erfolg-
lich sein könnte. So war es reicher Drehbuchschreiber, er kommt, wie
bei „American Psycho“, als sein Erfinder Ellis, inzwischen selbst 46
Ellis aus der Perspektive und ebenfalls Drehbuchautor, nach eini-
des Wall-Street-Investment- gen düsteren Jahren in New York zurück
bankers und Serienmörders nach Los Angeles. Nach und nach trifft
Patrick Bateman ein in der er, widerwillig, die alten Freunde aus „Un-
Literatur bis dahin unerhör- ter Null“. Keiner hat sich verändert, ab-
tes Maß an gleichermaßen gesehen von ihren operierten Gesichtern.
gleichgültig wie detailge- Clay gönnt sich immer noch zu viele
EVERETT COLLECTION

treu geschilderten Gewalt- „Grey Goose“-Wodkas, die Drogen ki-


und Sex-Exzessen etablier- cken ihn nicht mehr, der Sex, der in „Un-
te. „American Psycho“ war ter Null“ schon frei von Gefühl war, ist
zeitweilig in Deutschland jetzt nur noch notgeil.
indiziert, beide Bücher hat Szene aus „American Psycho“*: „Gesellschaftskritik? Nein“ Was bei einem 20-Jährigen als Suche
Hollywood verfilmt, „Unter oder Rebellion durchgehen kann, heißt
Null“ passenderweise mit dem selbst „Gesellschaftskritik?“, ruft Ellis hinter bei einem 45-Jährigen schlichtweg Ver-
ziemlich drogenaffinen Robert Downey seinem Schreibtisch. „Clay, das war ich. zweiflung. „Imperial Bedrooms“ ist des-
Jr. in einer Hauptrolle. Ich habe es immer abgestritten, um mich wegen zunächst zutiefst pessimistische Li-
Ellis’ neuer Roman „Imperial Bedrooms“ zu schützen. Aber ich habe alle diese Din- teratur, denn das Menschheitsbild, das ihr
ist die Fortsetzung von „Unter Null“ – und ge getan. Ich war auf diesen Partys, es zugrunde liegt, verneint jede Fähigkeit
damit ein riskantes Unterfangen. „Unter waren meine Gewaltphantasien und mei- zur Entwicklung.
Null“ gilt als eines der wichtigsten literari- ne Wut darüber, wie abstoßend ich die Doch tatsächlich geht es Ellis um diese
schen Zeugnisse der achtziger Jahre, das Welt fand, in der ich lebte. Gesellschafts- Frage nur in zweiter Linie. In Wirklich-
Buch erzählt von ein paar gutgestellten um kritik? Nein. Kampfansage? Ja.“ keit stellt er mit diesem Roman ein Expe-
die 20-Jährigen in Beverly Hills, die ihr Diese Kampfansage drückte aus, was riment an, das über Literatur hinausgeht.
Nichteinverstandensein mit der Welt da- ab Mitte der achtziger Jahre eine ganze An diesem Nachmittag im Doheny Pla-
durch artikulieren, dass sie sich in einer Mi- Generation fühlte. Die Weisheit im Ba- za präsentiert sich Ellis als ein Schriftstel-
schung aus Erlebnishunger, Leere und Men- nalen zu erkennen, die Feier des Ober- ler, der in der Kulisse seines Romans
schenverachtung in ihr verlieren. flächlichen, die Vermeidung von klaren haust; ein Schriftsteller, der genauso gut
Die Gleichgültigkeit, die Kälte dieser Positionen, die Ablehnung emotionaler seine eigene Romanfigur sein könnte. Er
Achtziger-Jahre-Jugend und das Schul- Verbindlichkeiten – all dies sorgte auch berichtet, weil Schriftsteller das wohl tun,
terzucken, mit dem Ellis all dies schilder- von seinem verstorbenen Vater, der ihn
te, konnte damals nach den idealistischen * Oben: in „Unter Null“ 1987; unten: 2000. nie akzeptierte – dort drüben, man kann
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Kultur

Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom es von hier aus sehen, in dem Hochhaus
Bestseller Fachmagazin „buchreport“; nähere Informationen und Auswahl-
kriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller
in Century City, habe der Vater gewohnt,
nachdem er die Familie mit seiner Wut
Belletristik Sachbücher und seinem Alkoholismus jahrelang ge-
quält und schließlich verlassen hatte. Er
1 (–) Cornelia Funke 1 (1) Thilo Sarrazin erzählt eine Episode von einem Journa-
Reckless – Deutschland schafft sich ab
Steinernes DVA; 22,99 Euro
listen, der ihn in Berlin auf der Toilette
Fleisch sexuell befriedigen wollte, und davon,
2 (3) Natascha Kampusch
Dressler; 19,95 Euro wie er Raymond Chandler las, als er nach
3096 Tage
List; 19,95 Euro
Los Angeles zurückzog, und davon Ver-
Im ersten Band der folgungswahn bekam.
3 (2) Kirsten Heisig
neuen Fantasy-Reihe Das Ende der Geduld Ob irgendetwas davon stimmt? Es ist
landen zwei Jungen Herder; 14,95 Euro nicht auszumachen, Ellis hat seinen Roman
per Zauberspiegel in in die Wirklichkeit hinein verlängert. Wenn
einer Parallelwelt 4 (5) Roger Willemsen
Die Enden der Welt bisher die Frage an Literatur lautete, wie
2 (1) Jussi Adler-Olsen S. Fischer; 22,95 Euro viel wirklich Erlebtes in der Fiktion steckt,
Schändung 5 (4) Stephen Hawking / Leonard hat Ellis den Datenstrom nun in die andere
dtv; 14,90 Euro Mlodinow Der große Entwurf Richtung geöffnet: Wie viel Fiktion steckt
3 (3) Jussi Adler-Olsen Rowohlt; 24,95 Euro in dieser Welt, die wie hier vor uns sehen?
Erbarmen 6 (6) Ulrich Detrois Höllenritt – Zur Verabschiedung sagt der Schrift-
dtv; 14,90 Euro Ein deutscher Hells Angel steller, am nächsten Abend sei vielleicht
4 (2) Jonathan Franzen packt aus Econ; 18 Euro eine gute Party in den Hollywood Hills.
Freiheit 7 (9) Thilo Bode Ob man dahin wolle, er könne das arran-
Rowohlt; 24,95 Euro Die Essensfälscher gieren. Er selbst gehe eigentlich nicht
5 (4) Ildikó von Kürthy S. Fischer; 14,95 Euro
mehr auf Partys. „Ich nehme auch keine
Endlich! 8 (7) Jonathan Safran Foer
Wunderlich; 17,95 Euro
Drogen mehr. Obwohl neulich in London
Tiere essen habe ich wieder ein bisschen …“, doch
6 (5) Tommy Jaud Kiepenheuer & Witsch; 19,95 Euro
Hummeldumm da ist man schon im Fahrstuhl.
9 (8) Margot Käßmann Am nächsten Abend meldet sich tat-
Scherz; 13,95 Euro In der Mitte des Lebens
7 (–) Derek Landy Herder; 16,95 Euro sächlich eine Halbjapanerin „im Auftrag
Skulduggery Pleasant – 10 (10) Eckart von Hirschhausen
von Bret Ellis“, wie sie sagt, und schickt
Sabotage im Sanktuarium Glück kommt selten allein … eine Adresse: Blue Jay Way heißt die
Loewe; 16,90 Euro Rowohlt; 18,90 Euro Straße. Auch diese Adresse kommt einem
8 (6) Ferdinand von Schirach 11 (–) Peer Steinbrück bekannt vor. George Harrison hat vor
Schuld Piper; 17,95 Euro Unterm Strich über 40 Jahren dort einige Zeit verbracht
9 (7) Bernhard Schlink Hoffmann und Campe; und ein Lied der Beatles nach dieser Stra-
Sommerlügen 23 Euro ße benannt, sie ist kaum zu finden, eng,
Diogenes; 19,90 Euro kurz und verschlängelt liegt sie in den
10 (10) Isabel Allende Hügeln von Hollywood.
Die Insel unter dem Meer Man muss klingeln, vor der Tür ist es
Suhrkamp; 24,90 Euro Der Ex-Finanzminister
über die dramatischen
dunkel. Das Haus ist ein U-förmiger Bun-
11 (11) Janne Teller galow mit Swimmingpool, die offene
Nichts – Was im Leben wichtig ist Tage der Bankenkrise
Hanser; 12,90 Euro
und die Fehler der SPD Seite gewährt den Blick über die ver-
schwommenen Lichter von Los Angeles.
12 (–) Joy Fielding 12 (12) Richard David Precht
Das Verhängnis Wer bin ich – und wenn ja, Es ist tatsächlich das Haus, in dem George
Goldmann; 19,99 Euro wie viele? Goldmann; 14,95 Euro Harrison „Blue Jay Way“ geschrieben
13 (9) Karin Slaughter 13 (20) Claude Lanzmann hat, heute gehört es angeblich der Schau-
Entsetzen Der patagonische Hase spielerin Charlize Theron.
Blanvalet; 19,99 Euro Rowohlt; 24,95 Euro Er hüte ein, sagt der Gastgeber, ein gut-
14 (13) Justin Cronin 14 (14) Roman Maria Koidl Scheißkerle aufgepumpter, gutgebräunter, gutbetrun-
Der Übergang Hoffmann und Campe; 17 Euro kener Mann Ende zwanzig. Gerade sind
Goldmann; 22,95 Euro
15 (11) Michael Mittermeier ein paar Russinnen einmarschiert. Ellis ist
15 (16) Stephenie Meyer Achtung Baby! nicht da, obwohl er eigentlich mitnotieren
Bis(s) zum Ende der Nacht Kiepenheuer & Witsch; 14,95 Euro müsste, was diese Amerikaner hier, die
Carlsen; 24,90 Euro
16 (13) Julia Heilmann / Thomas meisten Mitte zwanzig, großgeworden auf
16 (15) Stephenie Meyer Lindemann Kinderkacke – Internaten in Gstaad und seitdem in Lan-
Bis(s) zum ersten Sonnenstrahl Das ehrliche Elternbuch geweile erstarrt, so alles sagen. Bret wolle
Carlsen; 15,90 Euro Hoffmann und Campe; 15 Euro
ja noch kommen, sagt der Gastgeber.
17 (20) John Grisham 17 (–) Hannes Jaenicke Ein Nebel liege über Los Angeles, heißt
Das Gesetz Wut allein reicht nicht es in dem Beatles-Song, den Harrison hier
Heyne; 19,99 Euro Gütersloher Verlagshaus; 22,95 Euro
oben geschrieben hat, und die Freunde,
18 (19) Leonie Swann 18 (19) Manfred Lütz die er erwartet, sie haben sich verirrt in
Garou – Ein Schaf-Thriller Irre! Wir behandeln die Falschen
Goldmann; 19,95 Euro Gütersloher Verlagshaus; 17,95 Euro den Bergen und im Nebel, und irgend-
wann im Laufe des Abends, im Nebel
19 (8) Ferdinand von Schirach 19 (17) Barbara Pachl-Eberhart
Verbrechen Vier minus drei und in den Bergen, ist es für Harrison
Piper; 16,95 Euro Integral; 19,95 Euro nicht mehr auszumachen, was noch wirk-
20 (–) Herman Koch 20 (18) Helmut Schmidt / Fritz Stern lich ist und was ausgedacht.
Angerichtet Unser Jahrhundert Bret Easton Ellis ist natürlich nicht ge-
Kiepenheuer & Witsch; 19,95 Euro C. H. Beck; 21,95 Euro kommen. PHILIPP OEHMKE

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STEPHANE DUROY / AGENCE VU / LAIF
Grenzöffnung am Potsdamer Platz am 12. November 1989

Gegen diesen Westen in unseren Köp-


EINHEIT
fen hatte der Unterricht in Staatsbürger-
kunde keine Chance. Der Westen unter-

Die wissen nichts wanderte die sozialistische Moral, die


nicht vorhanden war. In der Schule trak-
tierten wir unsere Lehrer mit Informatio-
nen vom Klassenfeind, die sie natürlich
SPIEGEL-Redakteur Stefan Berg über sein Leben als Westler auch hatten, aber nicht verwenden durf-
im Osten und als Ostler im Westen ten. Ich trug nie Ost-Jeans, hatte als
Schüler einen Pelikano-Füller und Adidas-
Berg, 1964 in Ost-Berlin geboren, ist seit nung warten, bis wir die Gaben in Emp- Sportzeug. Lehrer monierten, meine Welt-
1996 beim SPIEGEL. Seine Laufbahn als fang nehmen durften. Draußen in der anschauung fuße nicht auf dem Sozialis-
Journalist begann er bei Kirchenzeitun- DDR, der Welt außerhalb der Intershops, mus. Das traf es genau. Natürlich wollten
gen in der DDR. roch es nach Trabi und dem Putzmittel wir alle in ein sozialistisches Paradies,
Wofasept, drinnen nach Westen. Es wur- aber bitte nicht in dieses. Und bitte nicht
Der Westen hatte mich ganz de wirklich alles dafür getan, bei uns die ohne Lego, Matchbox und Pink Floyd. In
leicht erobert, beim ersten Neugier auf den Westen zu wecken. der Jungen Gemeinde spielten wir ein we-
Mal, kinderleicht. Eines Ta- Westbesucher rochen gut, sie waren nig Flower-Power, färbten unsere Hosen
ges stand er in Form meines bunt angezogen, und sie waren sehr laut. und Haare. Hörten Musik von drüben.
JAHRE Onkels vor der Tür. Aber Wir waren ein Flüstervolk, sie grölten Aber was heißt schon drüben? Drüben
woher kam er? Aus dem hinein in unsere Ost-Stille. Die Gäste wa- war längst hier. Den Fernseher anschalten,
Nichts? Aus Westdeutschland lautete die ren willkommen, aber sie warfen sich in das war unsere tägliche Ausreise.
Antwort. Wir wohnten damals nur fünf unsere Sessel, als könne man morgen bei Ich war gefühlter Bundesbürger in der
Minuten von der Mauer entfernt, die Ber- Ikea neue kaufen. Mit einem Besucher DDR. Westler im Osten. Das änderte sich
lin teilte. Wohnte er hinter dieser Mauer? stritt ich mich über Politik. Mitten im erst mit dem Ende der DDR.
Meine Eltern malten eine Skizze von Ost- Streit zückte er ein Fünf-DM-Stück – An dem Tag, als die Leute die Mauer
Berlin und West-Berlin, von der DDR und schwer und glänzend –, um mich ruhig- stürmten (sie fiel nicht), saß ich in einer
Westdeutschland. Die Skizze erschien mir zustellen. So entstand in mir das Bild des Wohnung, einer hübschen Ruine mit
ziemlich kompliziert, wie eine Matrosch- Westlers und des Westens. Außentoilette. Wir liefen nachts los. Wir
ka. Er wohnte in Westdeutschland, aber Der Westen, das waren auch Stimmen, freuten uns riesig, amüsierten uns über
um zu uns zu kommen, musste er erst Radiostimmen. Meine Mutter hörte im- die plötzlich so freundlichen Polizisten.
nach West-Berlin. Er musste also dreimal mer im Rias die Berichte von den Sonder- Wir diskutierten, wie sie aussehen könnte,
durch die Mauer, bevor er bei uns war. angeboten – Blumenkohl 1,20 oder Erd- eine heile DDR ohne Stasi und mit Volks-
Mutig, dachte ich, und geheimnisvoll. Wir beeren aus Werder 1,50. Sie schürten den eigentum, das vom eigenen Volk nicht
waren immer aufgeregt, wenn er da war. Hass auf unsere Konsum-Läden. Durch ständig geklaut wird. Im Radio hörte ich
Wie alle, die aus dem Westen kamen, die Bundesliga und den Verkehrsfunk er- erstmals das Wort Wiedervereinigung. Das
roch er anders. Im Flur hing sein Mantel. weiterte ich meine westdeutschen Erdkun- Wort traf mich wie ein Hammer. Wieso
Ich schnupperte daran und roch die ganze de-Kenntnisse. Später rundeten der Da- „Wieder“? Wieso nicht „Neu“? Und was
hineingesprühte Freiheit. Der Onkel ver- none-Joghurt, den wir in Ungarn kauften, ging den Kohl das überhaupt an? Nach ei-
sorgte uns mit Geschichten aus der weiten und ältere, zerlesene SPIEGEL-Ausgaben nem neuen Staat war mir nicht zumute.
Welt und mit Schokolade aus den Inter- mein Bild vom Westen ab. Es war ein Vielleicht war das der Moment, in dem
shops. Als Kinder durften wir da nicht phantastisches Puzzle, in dem lauter Teile ich mich zum ersten Mal überhaupt als
hinein, wir mussten in sicherer Entfer- fehlten. Aber das merkte ich erst später. DDR-Bürger fühlte. Die eine Übermacht
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Kultur

gerade überwunden, hatte ich das Gefühl, Geschäftsessen waren für mich ein Hor-
die nächste sei im Anmarsch. Ich hatte das ror. Mein erstes wichtiges Geschäftsessen
Gefühl, etwas verteidigen zu müssen. Ich fand in Hamburg statt. Es ging um mei-
hatte nie ja zu diesem Land gesagt, aber nen ersten Vertrag bei einem West-Blatt,
jetzt tat ich es trotzig und vergebens. dem „Deutschen Allgemeinen Sonntags-
Der Westen bekam nun ein ganz ande- blatt“. Das Problem begann mit der Fra-
res Gesicht. Er war nicht mehr der nette ge, ob ich eine bestimmte Küche bevor-
Onkel, der abends wieder geht. Der Wes- zuge. Warme, lautete die Antwort. Hei-
ten richtete sich ein bei uns. Kohl war terkeit. Wie süß, der Wilde. Die Herren
nicht anders als der Besucher mit dem wurden in dem Lokal, das sie längst aus-
Fünf-DM-Stück. Im Sommer 1990, als alle gesucht hatten, mit Namen begrüßt. Ich
durch die Welt reisten, verkroch ich mich sei aus dem Osten, wurde einem Kellner
in den östlichsten Teil des Ostens, in ein erklärt. Ich wusste nicht wohin mit mei-
Haus an der Oder, und war gespannt, ob nen Händen in dem Lokal, ich wusste
es die West-Mark auch in den letzten Win- nicht, was ich bestellen sollte. Ich wusste
kel der DDR schaffen würde. Sie schaffte nicht, wie viel man so verdient. Alle
es. Die West-Mark traf Versuche, West-Kolle-
ein, DDR-Produkte wan- gen die Höhe ihres Ge-
derten in den Müll, über- halts zu entlocken, wa-
all klebten O-Frische- ren gescheitert, auch
Bohne-Aufkleber. Unser wenn ich ihnen vorher
Wirt stand vor der leeren sagte, wie viel ich in der
Schenke. Er hatte den So- DDR verdient hatte.
zialismus überlebt, aber Ich musste Stunden
jetzt mutierten seine durchhalten und mir
Alkis zu Heimtrinkern, Fragen anhören, die nur
sie tranken Büchsenbier einen Schluss zuließen:
und nicht sein teures Ge- Die wussten nix von uns.
zapftes. Mit der D-Mark Ich hatte immer gen Wes-
erreichten uns neue Wör- ten geblickt, die leider
ter, die wir nicht kann- auch. Ich hatte das Ge-
ten, Ungetüme wie „Ar- fühl, ihnen beweisen zu
beitsamt“, „Kurzarbeit müssen, dass ich Dusch-
null“, „Rechtsnachfol- 1974: Kind Stefan mit West- von Telefonzellen unter-
ger“, „Buschzulage“. Wir Onkel und Mutter in Ost-Berlin scheiden kann. In der
saßen da und überlegten, Straße, in der ich über-
woran wir uns noch zu nachtete, standen teure
gewöhnen hatten. Autos. Mit meinem Lada
Freiheit und Fremd- stand ich zwischen Por-
heit waren ein Bündnis sche und Mercedes. Mein
eingegangen. Die Frei- Auto war laut und stank.
heit hatten wir uns ein- Die Leute schauten, als
facher vorgestellt. Wir wären die Russen ein-
dachten an freies Reisen marschiert. Die Fahrt hat-
und freies Reden. Aber te sich dennoch gelohnt.
wir hatten nicht damit 4100 DM. Im Monat. Das
gerechnet, dass so vieles war unfassbar.
anders werden würde. Ein ganz normaler
Unser Leben verkompli- Kollege sein, das ging
zierte sich. nicht. Ich wurde befragt
Besuche in Gaststät- zur Spezies der Ost-
ROL F ZOE LLN ER

ten verliefen meist ein- deutschen, deren Leben


fach in der DDR. Man aus der Ferne offenbar
bekam keinen Platz und grundsätzlich anders ab-
ging wieder. Jetzt war 1991: Berg mit Freundin und lief als das normaler
Platz vorhanden, und Sohn in Prenzlauer Berg Menschen, kurz gefasst
dazu wurden einem un- so: Erst für die Stasi spit-
übersichtliche Speisekarten in die Hand zeln, dann West-Geld falsch ausgeben und
gedrückt. Gorgonzola, Pesto, Gyros. Das als Hobby Ausländer prügeln. Ich sollte
nehme ich auch, rief ich immer, wenn das Ost-Gen suchen. Unmerklich kam ich
ein westdeutscher Begleiter bestellt hatte. aus der Rolle des Erklärers des Ostens in
Ich hatte keine Ahnung, was mich er- die des Verteidigers. Die Fragesteller hat-
wartete. Westdeutsche sagten nie, sie ten mir still und heimlich eine andere
wollten sich mit einem unterhalten. West- deutsche Staatsbürgerschaft verpasst. Ich
deutsche wollten immer mit einem essen fand diese DDR immer schrecklich, aber
gehen. Wir waren es gewohnt, unsere plötzlich war ich mehr DDR als in der
Wohnungen zu öffnen. Auch flüchtige DDR und mehr als ich je sein wollte.
Bekannte wurden im Westen Freunde Beim nächsten Arbeitgeber mit Sitz in
genannt. Hamburg nahm mein DDR-Gefühl noch
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zu. Unfreiwillig. Beim ersten Gespräch hätte, da gab es sicher ein großes Poten- zulernen. Oft habe ich interveniert, wenn
in der SPIEGEL-Chefetage wurde mir tial an Parteisekretären. die Geschichte des untergegangenen Staa-
erklärt, wie verschwiegene Stasi-Tätig- Und ich bewunderte meine neuen Kol- tes in großen Jubiläumsgeschichten ein-
keit gewertet werde – ein Grund zum legen für ihre Weitsicht. Die DDR musste fach vergessen worden war. Irgendwann
Rausschmiss. Das war einfühlsam. Die zusammenbrechen, das sei absehbar ge- habe ich damit aufgehört. Ich wollte nicht
Runde lachte prächtig auf meine Kosten. wesen, erklärten sie. In den Zeitungen, Anwalt eines Staates sein, dessen Bürger
Alle waren sehr laut. Dabei hatte der die mich aus dem Westen erreicht hatten, ich nur ungern war.
Fragesteller einst bei dem Links-Blatt hatten sie mich darüber allerdings nicht Niemals habe ich den Schritt gen Wes-
„Konkret“ gearbeitet, das es ohne Bei- rechtzeitig informiert. ten bereut. Ich stehe bis heute ehrfürchtig
stand der DDR-Organe wohl nie gegeben Niemals wäre ich darauf gekommen, vor dem SPIEGEL-Haus, wenn ich in
hätte. Ich wusste, ich war in der Hoch- von dem Fehlverhalten eines rheinischen Hamburg bin. Ich wundere mich immer
burg westdeutscher Selbstgerechtigkeit Landrats auf alle westdeutschen Landräte wieder darüber, wohin ich in diesem Le-
gelandet. zu schließen. Umgekehrt ging das ganz ben gelangt bin. Es gibt auch Freundschaf-
Einige meiner neuen Kollegen waren ten, aber ein wenig Fremdheit bleibt. Als
jünger als ich, trugen Anzug und waren „Je länger ich im Westen arbeitete, wäre ich der Besucher. Manchmal vermis-
in der Lage, Wahrheiten zu verkünden. se ich die Ruhe, über die ich mich früher
Ihre Lebenswege waren so bruchlos wie desto mehr verflog mein beklagte. Ich vermisse Verabredungen in
die der Politiker, denen sie vorhielten, rei- Ärger über die Mitläufer von einst.“ Wohnungen, in denen sich mehr Nähe
ne Parteikarrieren hinter sich zu haben. entwickelt als im Restaurant. Gespräche
Ruckartig endeten Gespräche, wenn der schnell. Das Wort Ostdeutschland sorgte ohne Konkurrenzgefühle und in denen
Chef rief. Bevor sie selbst ein Urteil ab- für Sippenhaft, es ersetzte das Kürzel das Wort Geld nicht vorkommt. Ich gehö-
gaben, erkundeten sie diskret die Haltung DDR. Es war eine sprachliche Ausbürge- re zu den Gewinnern der Einheit. Ich habe
ihres Chefs. Den Hort der Freiheit hatte rung, das Pendant zum „Wir“, das die mir die DDR nie zurückgewünscht, aber
ich mir anders vorgestellt. PDS plakatierte. Und warum kannte ich kann verstehen, wenn es Verlierer tun.
Je länger ich unter Westdeutschen ar- kaum einer der Westdeutschen das Wort Als es mit der DDR vorbei war, hat
beitete, desto mehr verflog mein Ärger Demut? Warum traten die so auf, als wäre mein geliebter Onkel einmal darüber ge-
über die Mitläufer von einst. Opportunis- ihre Demokratie ihr Verdienst? Warum sprochen, wie es für ihn war, in die DDR
mus war in der DDR ein Produkt der waren sie so glücklich, wenn sie von den zu reisen. Ich war überrascht. Es sei für
Angst vor dem Abstieg, im Westen ein Missgeschicken der Brandenburger hör- ihn unangenehm gewesen, bestaunt zu
Produkt der Hoffnung auf den Aufstieg. ten? Eines verwunderte mich am meisten. werden, sagte er. Er erzählte, dass er oft
Manchmal dachte ich darüber nach, wel- Dass die Erwartung an die Veränderungs- Kritisches über Westdeutschland geäu-
che Verwendung man für den ein oder bereitschaft der Ostdeutschen so selten ßert habe. Wir hätten es aber nicht hören
anderen Kollegen in der DDR gefunden einherging mit dem Versuch, selbst dazu- wollen.
Kultur

Schlaganfall mit Eselin


Buchkritik: Yann Martel schreibt in seinem neuen Roman über das Unaussprechliche.

D
as Scheitern ist der Beginn. Henry, rischen Wissen brauchen wir auch das Schrecken erzählt werden kann, der ihres-
ein sehr erfolgreicher Schriftstel- Verständnis, das die Kunst liefert. Ge- gleichen zugestoßen ist. Von gewisserma-
ler, hat fünf Jahre an seinem drit- schichten bieten Identifikation, sie halten ßen willkürlicher Quälerei, von industriel-
ten Romanprojekt laboriert, und nun tau- Gruppen zusammen, sie geben einer Sa- ler Schlachtung, von Ausbeutung, von bei-
melt er durch den Hyde Park: In einem che Bedeutung.“ läufiger wie planmäßiger Ausrottung.
Londoner Nobelrestaurant wurde ihm Die tatsächlichen Opfer, von wenigen Die Dialoge der Tiere sind Martels in
gerade unmissverständlich bedeutet, dass Ausnahmen abgesehen, sind ohnehin jedem Sinne fabelhafte Antwort auf die
sein tolles neues Manuskript niemanden sprachlos geworden; das Trauma hat sie von ihm aufgeworfene Frage, wie das
überzeugt, weder die geladenen Gäste überwältigt. Sind dann nicht gerade Au- künstlerische Tabu zu umgehen sei, das
und erst recht nicht seine Verleger. Die toren wie er, Henry, berufen, dieses Tabu auf dem Thema Holocaust liegt – in
Vorkoster spucken zurück. zu brechen? Gerade weil er nicht einmal Deutschland heftig diskutiert anlässlich
Der Kanadier Yann Martel, 2002 be- Jude ist, gerade weil er nicht traumatisiert, Roberto Begninis Film „Das Leben ist
rühmt geworden durch seine Parabel sondern seelisch lebendig ist und sich so schön“ und des Comics „Maus“ von Art
„Schiffbruch mit Tiger“, er- Spiegelman. Verbietet die
zählt seinen neuen Roman, Würde der Opfer, wie bei-
als wäre er ihm selber gesche- spielsweise der Filmemacher
hen: leicht und unprätentiös, („Shoah“) und Autor Claude
direkt und gewissermaßen Lanzmann meint, eine fiktio-
von Herz zu Herz. Und er nale Bearbeitung des Ge-
hält sich auch in „Ein Hemd schehens, eine – horribile
des 20. Jahrhunderts“ (im Ori- dictu – nachträgliche „Emo-
ginal: „Beatrice and Virgil“) tionalisierung“ des Absolu-
an mindestens zwei weitere ten? Oder sind Unterneh-
seiner Erfolgsrezepte. An das men wie die Fernsehserie
Gesetz der glücklichen Fabel, „Holocaust“ nicht einfach
PAUL HACKETT / EYEVINE / PICTURE PRESS

das heißt: erst der Abgrund, notwendig, um die Berge


dann das Glück. Und an das von Akten, wie die von
Gesetz des perfekten Plots, Schuhen und Brillen, zum
der mitreißend und geheim- Sprechen zu bringen?
nisvoll ist. Den eher rätsel- In einer der eindrucks-
haften Titel hat, wie schon vollsten Passagen seines Ro-
bei „Schiffbruch mit Tiger“ mans denkt der Erzähler
(eigentlich „Life of Pi“), der über die Sprachlosigkeit der
deutsche Verlag erdacht. Opfer nach. „Henry hatte
Der erfolglose Schriftstel- Autor Martel eine Statistik im Kopf: Noch
ler Henry fängt gleich nach nicht einmal zwei Prozent
dem Desaster an Spargel- der Holocaust-Überleben-
mousse ein neues Leben an. den haben über ihre Qualen
Er zieht mit seiner Familie ins Ausland, mit Sprachkraft und Phantasie dem Un- geschrieben oder gesprochen. Und das
kümmert sich in seiner neuen Heimat- aussprechlichen nähern kann. erklärt auch den Ansatz bei denen, die
stadt um den kleinen Sohn, macht bei ei- Doch was ist eine gute Idee, die nie- darüber sprechen, so präzise, so sachlich
ner Theatertruppe mit und jobbt in einem mandem einleuchten will? Henry ent- – wie ein Schlaganfallpatient, der wieder
Fair-Trade-Café. Vielleicht, tröstet er sich, scheidet sich gegen den Trotz. „Die Sache neu sprechen lernen muss und mit den
haben die Experten ja recht. Er hatte die war erledigt. Primo Levi und Anne Frank einfachsten, klarsten Silben anfängt.“
fixe Idee, den Holocaust zu erzählen: Jen- und all die anderen hatten es so gut ge- Martels Schlaganfallpatienten, das sind
seits der Zeugenaussagen, jenseits der macht, das reichte für alle Zeiten.“ Von die Eselin Beatrice und der Affe Vergil.
autobiografischen Romane von Kertész, nun an wird er zu jenen gehören, denen Sein Erzähler Henry hingegen schreibt
Semprún und anderen müsste es doch der Holocaust die Sprache verschlagen wunderbar fließend, widerstandsarm,
möglich sein, aus der Geschichte Ge- hat. professionell. Martel ist ein pädagogischer
schichten zu machen? „Bei historischen Wie aber in fabelhaften Geschichten Schriftsteller und appelliert an einen Le-
Ereignissen“, so hat er es den Vorkostern üblich, naht Rettung von unerwarteter Sei- ser, der moralisch geweckt und geistig ge-
zu erklären versucht, „sollen wir nicht te. Henry erhält Fanpost von einem Leser, nährt werden will, ohne an Widerständen
einfach nur Zeugnis ablegen, nicht nur der an einem Manuskript zu ebendem wie Ekel, Depression und sprachlichem
berichten, wie es war, damit die Toten zu Thema laboriert, an dem er, Henry, ge- Stacheldraht zu scheitern. Damit steht er
ihrem Recht kommen. Neben dem histo- scheitert ist. Nur sind es in dem Theater- in der Tradition Voltaires und Diderots –
stück des Dilettanten Tiere – ein Affe Autoren, die ihre glattgeschliffenen Boote
Yann Martel: „Ein Hemd des 20. Jahrhunderts“. Aus namens Vergil, eine Eselin namens Bea- mit schwerer Fracht beluden. Da sie her-
dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-
Allié; S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main; 224 Seiten; trice –, die sich mit beckettscher Unermüd- vorragend navigierten, kam die Ladung
18,95 Euro. lichkeit der Frage widmen, wie von dem fast immer ans Ziel. ELKE SCHMITTER

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Trends Medien
S TA R S

Sibel Kekilli gewinnt


gegen RTL
D em Sender RTL ist gerichtlich verboten worden, Szenen
aus Pornofilmen mit der Schauspielerin Sibel Kekilli, 30,
zu zeigen. Die türkischstämmige Frau, die vor allem mit
Fatih Akins Kino-Erfolg „Gegen die Wand“ bekannt wurde,
wirkte zuletzt vor acht Jahren in Porno-Produktionen als
Darstellerin mit. Schon 2004 druckte das Boulevardblatt
„Bild“ mehrfach Fotos aus Nacktszenen der Schauspielerin –
die Veröffentlichung eines der Bilder untersagte das Kam-
mergericht Berlin mit der Begründung, dass vor allem in
Verbindung mit der Bildunterschrift „Eindringliche Darstel-
lung“ Kekilli in „höhnischer Weise herabgesetzt und ver-
ächtlich gemacht“ werde. RTL zeigte nun im April im
Klatsch-Magazin „Exclusiv“ eine Szene, in der Kekilli Ge-
schlechtsverkehr hat. In dem Beitrag ging es ausgerechnet
um den Erfolg der Aktrice, die kurz zuvor den „Deutschen
Filmpreis“ für die beste weibliche Hauptrolle bekommen
hatte. Kekilli habe es nach so vielen Jahren nicht mehr zu
dulden, dass diese Szenen im Fernsehen ausgestrahlt wer-
den, heißt es zur Begründung für die einstweilige Verfügung.
RTL wollte zu dem Fall keine Stellung nehmen, hat aber
den Beschluss nicht als endgültige Regelung anerkannt.
Darüber hinaus fordert die Schauspielerin nun 15 000 Euro

SIPA / ULLSTEIN BILD


Geldentschädigung von RTL wegen einer „besonders schwe-
ren Persönlichkeitsrechtsverletzung“. Kekillis Anwalt Chris-
tian Schertz wollte zu dem Sachverhalt ebenfalls keine Stel- Kekilli
lung nehmen.

PRINT „Rheinischen Merkur“ fortführen.


Natürlich geben wir etwas von unserer
„Der Geist kann Erfahrung dazu – soweit das ge-
wünscht ist.
JOERG MODROW / LAIF

überleben“ SPIEGEL: Sie haben aber doch gerade


erst im Frühjahr dieses Jahres ein neu-
„Zeit“-Chefredakteur Giovanni di es Ressort mit dem Titel „Glauben und
Lorenzo, 51, über die Zusammenarbeit Zweifeln“ eingeführt. Soll die „Zeit“
Kilz mit der defizitären katholischen jetzt katholischer werden?
Wochenzeitung „Rheinischer Merkur“ Di Lorenzo: Ja, unbedingt – wie wir
KARRI EREN auch protestantischer und zugleich
SPIEGEL: Kauf oder Kooperation – die- atheistischer geworden sind. Es gibt
„SZ“-Chef Kilz soll zu ser Tage waren viele Gerüchte über
die künftige Zusammenarbeit zwi-
ein großes Interesse an geistlichen und
geistigen Themen, das wollen wir gern
DuMont wechseln schen Ihrer „Zeit“ und dem „Rheini-
schen Merkur“ im Umlauf. Was
aufgreifen.
SPIEGEL: Was haben Sie mit der neuen

A ls Mitglied für den Aufsichtsrat


des Kölner Verlags M. DuMont
Schauberg („Frankfurter Rundschau“,
stimmt denn nun?
Di Lorenzo: Wir freuen uns jetzt
auf die Kooperation, nicht
Beilage redaktionell zu tun?
Di Lorenzo: Wir nehmen das
Blatt huckepack. Wenn unser
„Express“, „Kölner Stadt-Anzeiger“) mehr und nicht weniger. Die Rat gefragt ist, sind wir da. Be-
ist der scheidende Chefredakteur der Abonnenten des „Rheinischen sonders wichtig ist mir die Un-
„Süddeutschen Zeitung“, Hans Werner Merkur“ bekommen künftig abhängigkeit der Redaktion
Kilz, 66, im Gespräch. Schon in der die „Zeit“ mit einer eigenen des „Rheinischen Merkur“, wir
Vergangenheit hatten namhafte Presse- Titelseite sowie einer sechs- werden den Kollegen nichts
leute diese Funktion inne wie etwa Pe- seitigen Beilage des „Rheini- aufzwingen. Letztlich geht es
BNF / ULLSTEIN BILD

ter Tamm (Axel-Springer-Verlagschef) schen Merkur“ im „Zeit“-De- uns darum, den Beweis anzu-
oder Claus Larass („Bild“-Chefredak- sign – gegen einen geringen treten, dass für die Stärken, die
teur). Wann genau Kilz nach 14 Jahren Aufpreis von ein paar Euro das Blatt hat, noch Platz ist
die „Süddeutsche“ verlässt, steht noch im Jahr. Die Beilage wird das und der Geist des „Rheinischen
nicht fest. Beste aus der Tradition des Di Lorenzo Merkur“ überleben kann.
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Medien

INTERNET

„Mir bleibt nur der Rückzug“


Der deutsche WikiLeaks-Sprecher Daniel Schmitt, 32, über
sein Zerwürfnis mit Julian Assange, dem Gründer der Enthüllungsplattform, seinen Ausstieg
aus der Organisation – und seinen richtigen Namen

SPIEGEL: Herr Schmitt, WikiLeaks und Sie


sind seit mehreren Wochen nicht mehr WikiLeaks
per E-Mail zu erreichen. Was ist los? wurde Ende 2006 von einer
Schmitt: Es gibt technische Probleme und Gruppe um den Australier
niemanden, der sich darum kümmert. Julian Assange, 39, gegründet;
WikiLeaks steckt in einer Phase, in der der ehemalige IT-Systemadmi-
sich das Projekt verändern müsste. Wir nistrator Daniel Schmitt stieß
sind in den letzten Monaten wahnsinnig Ende 2007 dazu. Das Netzwerk
schnell gewachsen und müssten uns drin- versteht sich als Plattform
gend in allen Bereichen professionali- zur anonymen Publikation
sieren und transparenter werden. Diese sensibler Dokumente. Auf diese
Entwicklung wird intern blockiert. Selbst Weise sollen Regierungen kon-
mir ist nicht mehr klar, wie bei uns ei- trolliert werden. WikiLeaks’
gentlich Entscheidungen getroffen wer- spektakulärster Coup war die
den und wie diese zu verantworten Veröffentlichung von rund
ANDREAS CHUDOWSKI / LAIF

sind. Wegen des hohen Drucks, den wir 77 000 geheimen Meldungen
seit der Veröffentlichung der amerikani- des US-Militärs aus dem Afgha-
schen Militärdokumente haben, sind wir nistan-Krieg zusammen mit dem
nicht dazu gekommen, die Organisation SPIEGEL, dem „Guardian“ und
entsprechend umzubauen. Das führt Domscheit-Berg alias Schmitt der „New York Times“.
dazu, dass nicht alle Arbeiten richtig er-
ledigt werden. Das alles überfordert das
Projekt. Schmitt: Wir alle hatten in den letzten Mo- aber offenbar als Angriff auf seine Rolle
SPIEGEL: Ist das Ihre Auffassung, oder se- naten wahnsinnigen Stress. Es sind Fehler gesehen.
hen das alle Beteiligten so? passiert, was in Ordnung ist, solange man SPIEGEL: Wie geht es nun weiter?
Schmitt: Das ist einer der internen Streit- daraus lernt. Dafür muss man sie sich Schmitt: Ich habe an WikiLeaks gearbei-
punkte, aber es gibt weitere. WikiLeaks aber eingestehen. Vor allem scheint das tet, weil ich die Idee für richtig und wich-
war beispielsweise immer diskriminie- Vertrauen verlorengegangen zu sein, dass tig halte. Wir haben mehrfach versucht,
rungsfrei. Wir haben kleinere Einsendun- wir an einem Strang ziehen. mit Julian über all die angesprochenen
gen, die nur lokal wichtig waren, immer SPIEGEL: Assange selbst sagt, Sie hätten Fragen zu reden, ohne Erfolg. Ich habe
genauso bearbeitet und veröffentlicht wie die Machtfrage gestellt und die Führung mehr als hundert Interviews für Medien
umfangreiche Dokumente, die national von WikiLeaks übernehmen wollen. in aller Welt gegeben, die Finanzen in
oder sogar international wichtig sind. Schmitt: Aus meiner Sicht war es kein Deutschland koordiniert und an Veröf-
SPIEGEL: Warum machen Sie nicht beides? Machtkampf, es ging nicht um persönli- fentlichungen mitgearbeitet. Jetzt ziehe
Schmitt: Das hätten wir gern getan, aber che Interessen, sondern um unsere Orga- ich mich aus dem Projekt zurück und
leider sind wir in einer Sackgasse. Ich nisation und deren Weiterentwicklung. übergebe meine Aufgaben – an wen auch
habe mehrfach versucht, das anzustoßen, Warum er das anders sieht, weiß nur er immer.
aber Julian Assange hat auf jede Kritik selbst. SPIEGEL: Wen meinen Sie, wenn Sie von
mit dem Vorwurf reagiert, ich würde ihm SPIEGEL: Immerhin haben Sie ihm dazu „wir“ reden?
den Gehorsam verweigern und dem geraten, sich wegen der Vergewaltigungs- Schmitt: Eine Handvoll der Leute aus dem
Projekt gegenüber illoyal sein. Vor vier vorwürfe, die gegen ihn in Schweden er- Kernteam, die die Dinge ähnlich sehen
Wochen hat er mich suspendiert – als An- hoben werden, zeitweise aus der Öffent- wie ich, aber nicht öffentlich in Erschei-
kläger, Richter und Henker in einer Per- lichkeit zurückzuziehen. nung treten wollen. Ein Großteil der Ar-
son. Seither habe ich beispielsweise kei- Schmitt: Die Ermittlungen gegen Julian beit wird von Menschen gemacht, die un-
nen Zugriff mehr auf meine WikiLeaks- in Schweden sind aus meiner Sicht ein genannt bleiben möchten. Da gibt es eine
Mail. Damit bleibt viel Arbeit liegen, persönlicher Angriff auf ihn, aber sie ha- Menge Unmut, und einige werden wie
andere Helfer werden blockiert. Ich weiß, ben nichts mit WikiLeaks direkt zu tun. ich aussteigen.
dass niemand aus unserem Kernteam da- Das alles kostet ihn Zeit und Energie und SPIEGEL: Sie verlassen das Projekt in einer
mit einverstanden war. Aber das scheint setzt ihm zu. Aus meiner Sicht wäre es kritischen Phase. Müssen Sie nicht be-
keine Rolle zu spielen. WikiLeaks hat ein das Beste gewesen, er hätte sich ein Stück fürchten, dass Ihnen viele Internetakti-
strukturelles Problem. Für mich ist das zurückgenommen, um diese privaten visten Verrat an der Sache vorwerfen
nicht länger zu verantworten, deshalb Probleme in Ruhe zu klären. Es hätte werden?
verlasse ich das Projekt. nichts dagegen gesprochen, wenn er im Schmitt: Das ist mir bewusst, und Sie kön-
SPIEGEL: Warum ist Ihr Streit mit Assange Hintergrund normal weitergearbeitet nen davon ausgehen, dass ich mir den
so eskaliert? hätte. Er hat meinen internen Vorschlag Schritt lange und gut überlegt habe. Im-
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REX FEATURES / ACTION PRESS
WikiLeaks-Gründer Assange*: „Er hat meinen Vorschlag als Angriff auf seine Rolle gesehen“

merhin habe ich in den letzten Jahren nistan-Berichte, auch durch den SPIE- ten sind, und ich bin zuversichtlich, dass
sehr viel Zeit, Geld und Energie in Wiki- GEL, haben Sie sich mit der Weltmacht es überlebt.
Leaks gesteckt. Aber ich muss das, wofür USA angelegt. Washington droht Ihnen SPIEGEL: Müssen Ihre Informanten um ihr
ich öffentlich einstehe, auch vertreten mit einer Strafverfolgung wegen Spiona- Material bangen, wenn nun ein Teil der
können. Deshalb bleibt mir momentan ge, WikiLeaks-Unterstützer sind vom FBI WikiLeaks-Mannschaft aussteigt?
nur der geordnete Rückzug. vernommen worden. Bradley Manning, Schmitt: Aus meiner Sicht sollten Material
SPIEGEL: Was genau wollen Sie nicht mehr einer Ihrer angeblichen Informanten, sitzt und alle Spendengelder bei WikiLeaks
vertreten? im Gefängnis. Fürchten Sie den großen bleiben, denn beides ist explizit diesem
Schmitt: Wir versprechen beispielsweise öffentlichen Druck? Projekt zugeflossen. Es gibt da intern
allen unseren Quellen, ihr Material zu Schmitt: Nein, externer Druck gehört auch andere Meinungen, etwa bei unse-
publizieren. Zuletzt haben wir uns aller- dazu. Aber diese eindimensionale Kon- ren Technikern. Wir werden aber auf je-
dings nur auf die großen Themen kon- frontation mit den USA ist nicht das, wo- den Fall sicherstellen, dass eine saubere
zentriert und praktisch alle Ressourcen für wir angetreten sind. Es ging uns im- Übergabe stattfindet.
darauf verwendet, zum Beispiel auf die mer darum, Korruption und Missbrauch SPIEGEL: Sie haben für WikiLeaks Ihren
Afghanistan-Dokumente der US-Armee von Macht aufzudecken, wo auch immer Job geschmissen. Wie geht es für Sie
Ende Juli. Das Video des Luftangriffs in sie stattfinden, im Kleinen wie im Gro- weiter?
Bagdad aus dem Jahr 2007, „Collateral ßen, auf der ganzen Welt. Schmitt: Ich werde weiter meinen Teil
Murder“, war ein extremer Kraftakt für SPIEGEL: Was bedeutet es für die Organi- dazu beitragen, dass die Idee einer de-
uns. In derselben Zeit hätten wir Dutzen- sation, wenn sich das nach Assange be- zentralen Enthüllungsplattform nicht
de anderer Dokumente ver- kannteste Gesicht auf diese untergeht. Daran werde ich jetzt arbeiten.
öffentlichen können. Und Weise verabschiedet? Ist die Es enspricht im Übrigen einer unserer
durch unsere gestiegene Be- Zukunft von WikiLeaks ge- früheren gemeinsamen Überzeugungen:
kanntheit ist im letzten hal- fährdet? Am Ende muss es tausend WikiLeaks
ben Jahr noch einmal sehr Schmitt: Das hoffe ich nicht. geben.
viel Material hinzugekom- Dafür ist WikiLeaks eine zu SPIEGEL: Sie haben sich als Sprecher von
men, das dringend bearbeitet wichtige Idee. Es gibt eine WikiLeaks immer „Daniel Schmitt“ ge-
und publiziert werden müsste. ganze Reihe neuer Leute in nannt. Wie heißen Sie wirklich?
SPIEGEL: Durch die Veröffent- Schweden und Großbritan- Schmitt: Es ist wohl an der Zeit, auch da-
lichung der geheimen Afgha- nien, und ich hoffe, dass sie mit aufzuhören und öffentlich mit mei-
alle an etwas Sinnvollem ar- nem Namen zu meiner Meinung zu ste-
* Am 26. Juli in London nach der Veröf- beiten. Ich glaube an dieses hen. Ich heiße Daniel Domscheit-Berg.
fentlichung der Afghanistan-Dokumente. SPIEGEL 30/2010 Konzept, für das wir angetre- INTERVIEW: MARCEL ROSENBACH, HOLGER STARK

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L AYO U T Wolfgang Busching, Ralf Geilhufe (stellv.), Reinhilde Wurst N A C H R I C H T E N D I E N S T E AFP, AP, dpa, Los Angeles Times /
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Washington Post, New York Times, Reuters, sid bekomme ich zurück.
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in der Geburtsstation, Teil 1
In der Asklepiosklinik Hamburg-Al-
tona wird jeden Tag Geburtstag gefei-

Mutter mit Neugeborenem


MATTHIAS RIETSCHEL / DAPD

ert: Rund 2600 Babys kommen pro


Jahr in der größten Entbindungssta-
tion Norddeutschlands zur Welt. Für
die Eltern ist der Nachwuchs lang-
ersehntes Glück und ganzer Stolz.
Besuch im Seniorenzentrum: Wie hoch ist die Lebensqualität? Doch keine Geburt ist wie die andere,
sondern jedes Mal eine emotionale
WIRTSCHAFT | Heim-Check und medizinische Herausforderung.
Deutschlands Altenheime kommen auf den Prüfstand: Wie sich die
Bewohner fühlen, was sie stört und was sie sich wünschen, wurde in einer SAMSTAG, 2. 10., 9.40 – 11.45 UHR | VOX
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Vermisst in München –
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Deutschland feiert 20 Jahre Wiedervereinigung – SPIEGEL ONLINE feiert Durchschnittlich fünf Menschen wer-
mit, berichtet mit Reportagen und Analysen und stellt Gewinner und Verlierer den pro Tag in München als vermisst
in Ost und West vor. gemeldet. Viele tauchen nach weni-

POLITIK | Lulas Erbe


Er galt als Liebling der Banker und Idol der Armen, jetzt tritt Brasiliens
Präsident Luiz Inácio da Silva ab. SPIEGEL ONLINE berichtet live von der
Wahl in Südamerikas Boom-Staat.

WISSENSCHAFT | Experten aus dem Tierreich


Sie orten Minen, spüren Leichen auf, erschnüffeln Krankheiten – wo die
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SPORT | Nervenkrieg auf dem Rasen gen Stunden wieder auf, die anderen
Es ist ein Kampf der Kulturen, ausgetragen auf dem Grün: Die besten werden zum Fall für die zehn Beam-
Golfer Europas und der USA messen sich beim Ryder Cup in Wales. ten vom K 14, der Vermisstenstelle
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Alptraum Wohnungssuche – Wucher-
Auf einer Reise durch den Osten mieten in Großstädten; Von Aufstiegen
dokumentierte der Fotograf Stefan und Abstürzen – 20 Jahre nach der
Koppelkamm 1990 Gebäude, die Einheit; Das Rätsel von Karlsruhe –
Krieg und Bauwut der SED-Oberen Neue Fakten zum Buback-Mord.
überstanden haben. Zehn Jahre
später kehrte er zurück. Jetzt
werden die Belege des Wandels in
einer Ausstellung gezeigt – und auf
einestages.de.

www.spiegel.de – Schneller wissen, was wichtig ist Tatort des Buback-Mordes in Karlsruhe 1977

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Register
GESTORBEN Walter Womacka, 84. Er schmückte Plat-
tenbauten mit Wandbildern, auf denen
Eddie Fisher, 82. Für seine Karriere hatte gesunde werktätige Menschen den sozia-
der amerikanische Sänger nur eine einzige listischen Aufbau voranbringen, er ent-
Erklärung: Sein „goldener Klang“ habe warf eine 20-Pfennig-Briefmarke, die das
ihn „von den Straßen 25-jährige Gründungsjubiläum von Eisen-
Philadelphias ins Wei- hüttenstadt verherrlicht, und er malte Bil-
ße Haus“ gebracht. der, die in ihrer farbigen Fröhlichkeit vor-
„Harry Truman lieb- gaben, eine glückselige DDR abzubilden,
te mich, Eisenhower die nie existierte. Womacka, Vertreter

POPPERFOTO / GETTY IMAGES


liebte mich“, schrieb des sozialistischen Realismus, war der be-
Fisher im Rückblick. liebteste Maler der Deutschen Demokra-
Herzschmerz und tischen Republik. Staatsratsvorsitzender
Drama waren sein Walter Ulbricht bekam zum 70. Geburts-
Erfolgsrezept. Seine tag das Original von Womackas meist-
Songs („Thinking of verbreitetem Motiv, „Am Strand“. Das
You“, „I’m Walking Gemälde zeigt ein junges Paar, das ideo-
Behind You“, „Oh! My Papa“, „I Need logisch gefestigt und siegesgewiss in
You Now“) lösten in den fünfziger Jahren die Zukunft blickt. 35
vor allem bei Teenies Tränen der Rüh- Jahre lang lehrte er
rung und Begeisterung aus und machten an der Kunsthoch-
ihn zeitweise populärer als Frank Sinatra. schule in Berlin-Wei-
Die Hochzeit mit Hollywood-Star Debbie ßensee, davon 20 Jah-
Reynolds erhöhte noch den Beliebtheits- re als deren Rektor.

THIERLEIN / ULLSTEIN BILD


grad des als Womanizer bekannten Fisher. Die geplante Demon-
Schlagzeilen machte auch die Trennung – tage seines 15 mal 6
er verließ sie für die Filmdiva Elizabeth Meter großen Wand-
Taylor, die ihn dann nach fünf wilden bilds „Der Mensch,
Jahren für Richard Burton aufgab. Fishers das Maß aller Dinge“
Stern sank, er wurde spiel- und drogen- am ehemaligen DDR-
süchtig. Seine 1999 erschienenen Me- Bauministerium in Berlin muss er nun
moiren („Been There, Done That“) lösten nicht mehr erleben. Walter Womacka
einen Skandal aus: Er verriet delikate De- starb am 18. September in Berlin.
tails aus seinem Liebesleben mit Taylor.
Eddie Fisher starb am 22. September in Gennadij Janajew, 73. Mit zitternden
Berkeley, Kalifornien. Händen verkündete der alkoholabhängi-
ge Vizepräsident der Sowjetunion am
Egon Klepsch, 80. Der im Sudetenland ge- 19. August 1991 den Ausnahmezustand.
borene Katholik musste zweimal flüchten: Der Putschist behauptete, Staatschef Mi-
nach einer sechsmonatigen Tortur im chail Gorbatschow sei erkrankt, weshalb
Jahr 1945 in einem tschechoslowakischen ein Notstandskomitee die Macht über-
Zwangsarbeitslager zunächst in die Nähe nommen habe. Zwei Monate zuvor hatte
von Magdeburg; 1950 Janajew gegenüber dem SPIEGEL einge-
setzte er sich dann standen: „Wir haben überhaupt keine
nach West-Berlin ab, demokratische Tradition.“ Der von ihm
weil er einer Wider- geführte Putsch gegen Gorbatschow
standsgruppe in der brach nach drei Tagen zusammen, wegen
FDJ angehört hatte. Massenprotesten und weil Teile des Mili-
SVEN SIMON / IMAGO

Klepsch wurde schließ- tärs nicht mitzogen. Janajews Versuch,


lich in Koblenz sesshaft. die Sowjetunion gewaltsam zu bewahren,
Von 1965 bis 1980 saß beschleunigte nur ihre Auflösung. Der
er für die CDU im Bun- promovierte Historiker war von 1968 bis
destag. Seine wahre Be- 1980 Chef des Komitees für Jugendorga-
stimmung aber fand er als Mitglied des Eu- nisationen der Sowjetunion. Trotz seines
ropäischen Parlaments. Fast 15 Jahre führte Rufs als Trunkenbold stieg er 1990 ins
er die EVP-Fraktion, wie sich die Konser- KPdSU-Politbüro auf. Nach dem geschei-
vativen im Europaparlament nennen. Ein terten Putsch saß er
erster Anlauf, Parlamentspräsident zu wer- rund zwei Jahre in
den, scheiterte 1982. Erst zehn Jahre später Haft; in den letzten
wurde der Christdemokrat mit Unterstüt- Jahren lehrte der Alt-
zung der Sozialisten Präsident der europäi- funktionär Geschich-
schen Volksvertretung. Angesichts der neu- te an einer Moskauer
en Größe Deutschlands achtete Klepsch auf Hochschule für Tou-
ein bescheidenes Auftreten. Härte zeigte rismus. Gennadij Ja-
er nur im Kampf um mehr Rechte für sein najew starb am 24.
Parlament. Egon Klepsch starb in der Nacht September in Mos-
AFP

zum 18. September in Koblenz. kau an Krebs.


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Personalien
Heinz Buschkowsky, 62, Bezirksbürger-
meister von Berlin-Neukölln, hat seine
Parteifreundin Andrea Nahles, 40, an
ihre Bürgerpflichten erinnert. Er habe der
„Zeit“ entnehmen müssen, dass Nahles
nach Neukölln gezogen sei, schrieb er der
SPD-Generalsekretärin kürzlich. „Na ja,
man gönnt sich ja sonst nichts“, so der
Genosse, der Nahles „herzlich willkom-
men im Club“ hieß – um sie sogleich
zu tadeln: „Allerdings muss ich die heim-
liche Landnahme hinter dem Rücken
des Bürgermeisters scharf verurteilen.“
Buschkowsky: „Wir gehen intern von
etwa 20 000 illegal Aufhältlichen in Neu- JACKY NAEGELEN / REUTERS
kölln aus. Darunter befinden sich manch-
mal auch prominente Persönlichkeiten.
So hört man. Die einfach vergessen, sich
gemäß Paragraf 11 Meldegesetz innerhalb
von zwei Wochen anzumelden. Oh, oh,
oh, keine Zuzugserlaubnis vom Bürger-
meister und keine Anmeldung. Das wird
teuer.“ Er könne sich „eigentlich nur eine Hassen Bounamcha, 58, Imam von Aubervilliers bei Paris, bietet im Internet
einzige Form der Wiedergutmachung vor- mobile Moscheen an. Die Idee zur sogenannten Mihrabox – eine zwei Meter
hohe Nachbildung der islamischen Gebetsnische („Mihrab“) aus Pappe und Styro-
por – entstand im Bethaus: „Ich stellte fest, dass ich mich dort viel besser kon-
zentrieren kann als beim Tagesgebet zu Hause“, sagt Bounamcha. Die Mihrabox
biete Abgeschiedenheit an jedem beliebigen Ort, preist er seine Erfindung an.
Es gibt blaue Versionen für Jungen und rosa Exemplare für Mädchen. Modelle
wie „Agadir“ oder „Djerba“ erinnern an berühmte Moscheen. Die Preise begin-
HENNING SCHACHT / ACTION PRESS

nen bei 69 Euro, das Modell „Prestige“ kostet um die 450 Euro.

Liam Neeson, 58, auf harte Typen abon- Aktion des britischen Krebsforschungs-
nierter Schauspieler, nutzt sein Image für instituts soll darauf aufmerksam machen,
einen guten Zweck. Mit einer pinkfarbe- dass sich auch Männer mit der Krankheit
nen Handtasche im Arm ließ sich der Star auseinandersetzen müssen: Hinter den
Nahles, Buschkowsky aus „Schindlers Liste“ für eine Brust- Zehntausenden Frauen im Land, bei de-
krebs-Aufklärungskampagne fotografie- nen jedes Jahr Brustkrebs diagnostiziert
stellen“, so Buschkowsky: Ein Abendes- ren. Der Kontrast zwischen Kerl und wird, stehen unzählige Ehemänner, Brü-
sen im Schloss Britz. Nahles aber wird Täschchen ist ein echter Hingucker. Die der, Väter, Söhne, Freunde. Neeson, des-
auf eine andere Art Abbitte leisten: Statt sen Frau Natasha Richardson voriges Jahr
eines Essens soll es nun einen gemeinsa- nach einem Skiunfall starb, musste nicht
men Rundgang durch Neukölln geben. lange überredet werden, sich zu engagie-
ren: „Brustkrebs ist die häufigste Krebsart
Miriam González Durántez, 42, spanische in England. Das bedeutet, dass es nicht
Ehefrau von Nick Clegg, 43, stellvertre- viele Familien gibt, die nicht betroffen
tender Premierminister Großbritanniens, sind. Meine ist da keine Ausnahme.“ Im
ersteigert ihre Abendgarderobe beim In- Mai dieses Jahres erlag die Schauspielerin
ternetauktionshaus Ebay. Die Vorliebe Lynn Redgrave der Krankheit, sie war die
fürs gebrauchte Kleid begründet die An- Tante seiner Frau.
wältin mit ihrem Umweltbewusstsein. Es
sei Verschwendung von Ressourcen, eine Zhang Shengliang, 13, musikalisches
kaum getragene Robe einfach auf den Ausnahmetalent aus China, entspannt am
Müll zu schmeißen. González hat sich als liebsten beim Arbeiten. Der Junge mit
Botschafterin für internationale Designer dem Spitznamen Niu Niu („Kleiner
anwerben lassen, die „nachhaltige Mode“ Stier“) war gerade neun Jahre alt, als er
anbieten. Die Gruppe EcoLuxe propa- 2006 mit einem Klavierkonzert den Wirt-
giert Accessoires und Kleidung aus recy- schaftsgipfel „China meets Europe“ in
celten und wiederverwertbaren Materia- Hamburg eröffnete. Nächsten Sonntag
len. Die Produktionsbedingungen sollen kommt er erneut zu Besuch in die Han-
ethisch einwandfrei sein. González fiel sestadt. Der Sohn eines Musiklehrers und
schon während des Wahlkampfs ihres einer Bankangestellten aus Xiamen hat
Mannes als Öko-Jüngerin auf: mit einer zunächst am Shanghaier Konservatorium
Schultertasche aus tausend silbrigen Do- gelernt, jetzt studiert der „Kleine Stier“
senverschlüssen, gefertigt in einem brasi- Neeson in Boston, seine Mutter ist bei ihm. Er
lianischen Sozialprojekt. wurde mit elf Jahren – als jüngster Pianist
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aller Zeiten – vom Emi-Konzern unter
Vertrag genommen. Nachdem Niu Niu
alle Chopin-Etüden auf CD eingespielt
hat, will er sich jetzt eine kleine Ruhe-
pause gönnen. Die beinhaltet aber keine
Faulenzerei, sondern „Konzerte wie das
in Hamburg“, erklärt er.

Beth Ditto, 29, amerikanische Rocksän-


gerin und Stil-Ikone, outet sich als Inter-
nethasserin. Es sei oft unmöglich, richtige
von falscher Information zu unterschei-
den, beklagt die Musikerin. Außerdem
sei die Netzwelt entsetzlich geschwätzig.
Jeder glaube, er habe etwas zu sagen:
„zum Beispiel das ländliche Arkansas –
diese Leute haben doch noch nie irgend-
etwas erlebt auf der Welt“. Die aus der
Kleinstadt Searcy, Arkansas, stammende
Ditto denkt, dass zu viele Menschen Mei-
nung und Tatsache nicht auseinanderhal-
ten könnten: „Jeder kann einen Blog ha-
ben, gehört werden – und die Leute glau-
ben ihm.“

DIEPOLD / ACTION PRESS

Ditto

Klaus Wowereit, 56, Regierender Bür-


germeister Berlins, warb auf dem Deut-
schen Juristentag um finanzielle Unter-
stützung. Um den Teilnehmern den Auf-
enthalt in der Hauptstadt zu versüßen,
STEVE ERLE / CORBIS OUTLINE

habe Berlin „extra für Sie“ die Laden-


öffnungszeiten „sehr flexibel gestaltet“,
sagte Wowereit vergangenen Dienstag
auf der Eröffnungssitzung. Leider habe
man die Zeiten „nicht noch flexibler“
machen können, fuhr Wowereit unter
Anspielung auf ein Urteil des Bundes-
Emma Stone, 21, amerikanische Jungschauspielerin, gilt als neuester Geheimtipp verfassungsgerichts fort, das eine Re-
Hollywoods. Erste Bühnenerfahrungen sammelte Stone bereits als Kind. Nach duzierung der verkaufsfreien Sonntage
nur einem Semester an der Highschool, mit 15 Jahren, wollte sie dann nach Los verlangt hatte. Mit einer Klage in Karls-
Angeles, um richtig loszulegen und eine echte Schauspielerin zu werden. Die Be- ruhe auf Anerkennung als „Haushalts-
denken ihrer Eltern überwand Stone mit Beharrlichkeit – und Hightech: Der Rot- notlageland“, die im Erfolgsfall weitere
schopf konzipierte eine ausgefeilte Powerpoint-Präsentation. Besonders wirkungs- Finanzhilfen ermöglicht hätte, sei man
voll war laut Emma Stone der Soundtrack der Vorführung, Madonnas Song „Holly- leider gescheitert. „Wenn Sie hier Ihr
wood“ untermalte das Werk. Die Eltern waren jedenfalls schwer beeindruckt – Geld ausgeben“, erklärte Wowereit
und die Tochter bekam ihren Willen. Unter der Obhut von Frau Mama ging es augenzwinkernd, „dann verbessert sich
nach Kalifornien. Insofern, meint Stone, sei Madonna „indirekt verantwortlich, die Finanzlage des Landes Berlin un-
dass ich heute bin, wo ich bin“. Mit ihrer ersten Hauptrolle in der Teenie-Komödie gemein, weil wir mehr Steuereinnah -
„Easy A“ begeisterte Stone jetzt die Kritiker, seit 2008 hat sie bei zehn Kino- men haben.“ Damit seien dann zukünf-
produktionen mitgewirkt, derzeit dreht das Starlet zwei Filme gleichzeitig. tige Klagen hoffentlich „völlig zu ver-
meiden“.
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Hohlspiegel Rückspiegel

Aus der „Meinerzhagener Zeitung“: „Auf Zitate


den Tag genau 65 Jahre und ein halbes
war Herman van Veen am Freitag, und Die „Frankfurter Allgemeine Sonntags-
seine langjährigen treuen Fans, von de- zeitung“ zum SPIEGEL-Gespräch
nen die meisten mit ihm in die Jahre ge- „,Die Wehrpflicht wird abgeschafft‘“ mit
kommen sind, lagen ihm nach seinem dem bayerischen Ministerpräsidenten
Konzert in der ausverkauften Stadthalle Horst Seehofer (CSU) über Reformpläne
einmal mehr stehend zu Füßen.“ der Bundesregierung (Nr. 37/2010):

Die letzte große politische Hürde, die für


Guttenberg zu nehmen war, hieß See-
hofer. Doch hatte der schnell erkannt,
dass Guttenbergs sicherheitspolitische
Aus der „Oschersleber Volksstimme“ Analyse nebst der Schlussfolgerung, dass
die Einsatzarmee Bundeswehr die Wehr-
pflicht nicht mehr brauche, viel für sich
Aus der „Hamburger Morgenpost“: hat. Allerdings teilt Seehofer, erst wenige
„Doch wer beschützt den Papst bei seiner Tage bevor er im SPIEGEL die Pläne Gut-
Reise eigentlich? Gleich vier Institutionen: tenbergs abnickte, diesem seine endgül-
Scotland Yard, die Vatikan-Polizei und tige Entscheidung mit.
die Schweizergarde, die geschworen hat,
notfalls ihr Leben für Benedikt XVI. zu Die „Financial Times Deutschland“
geben.“ zum SPIEGEL-Bericht „Affären –
Angst und Verfolgungswahn“ über
das Ermittlungsverfahren
gegen Manager der HSH Nordbank,
das die Führung in
Erklärungsnot bringt (Nr. 34/2010):
Aus der „Bietigheimer Zeitung“
Der Skandal um die HSH Nordbank droht
auch (die Sicherheitsberatung –Red.) Pre-
Aus der „Frankfurter Allgemeinen“: „Da- vent mit zu zerreißen. Ein ehemaliger Mit-
für ist vor allem die hohe Nachfrage nach arbeiter der Firma soll als Subunterneh-
rotem Bordeaux aus Asien verantwortlich.“ mer den in der Bank in Ungnade gefalle-
nen HSH-Vorstand Frank Roth bespitzelt
und dessen Büro verwanzt haben, um
Material für dessen Rauswurf zu organi-
sieren … Binnen acht Jahren machte er
Aus den „Ruhr Nachrichten“ (Thorsten Mehles –Red.) als Vorstandschef
die Sicherheitsberatung zum Flaggschiff
der Branche. Bis zum 23. August 2010. Da
Aus der Zeitschrift „Versicherungsrecht“: teilte Prevent dem Handelsregister mit,
„Darüber hinaus ist dieses bestimmungs- dass Mehles sein Amt als Vorstandsmit-
gemäß ausgetretene Leitungswasser aus glied zum 31. Juli niedergelegt habe. Offi-
der Duschwanne bestimmungswidrig ziell aus gesundheitlichen Gründen. Just
durch feine Haarrisse in Wände und Mau- an diesem 23. August veröffentlichte der
erwerk eingedrungen, anstatt bestim- SPIEGEL den ersten Bericht über die Spit-
mungsgemäß über den Ablauf die Dusch- zelvorwürfe bei der HSH Nordbank.
wanne zu verlassen.“

Der SPIEGEL berichtete …


… in Nr. 38/2010 „Verkehr – Dicht wie
eine Perlenkette“ über den juristischen
Aus der „Süddeutschen Zeitung“ Kampf eines Kieler Transportunter-
nehmers gegen Überholverbote für Lkw
auf deutschen Autobahnen.
Aus der Nürnberger „Abendzeitung“:
„Nun müsse es darum gehen, dieses Geld Vergangenen Donnerstag entschied das
in die Metropolregion zu holen – sich im Bundesverwaltungsgericht, dass „der
Rennen um die begehrten Mittel gegen Großteil der vom Kläger angegriffenen
andere Länder durchzusetzen, die eben- Lkw-Überholverbote“ rechtmäßig sei. Al-
falls mit offenen Händen in den Start- lerdings bleiben die Überholverbote nicht
löchern stehen.“ überall bestehen, denn ein Teilerfolg des
Transportunternehmers gegen das Land
Hessen wurde bestätigt: Dort müssen nun
auf insgesamt knapp 40 Autobahnkilo-
metern die Verbotsschilder wieder ent-
Aus der „Lippischen Landes-Zeitung“ fernt werden.
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