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Jordanien

„Parlamentswahlen zwischen Tribalismus und Boykott“

Amman, den 14.11.2010

Bericht aus aktuellem Anlass


N° 58/2010
von Ralf Erbel, Projektleiter Jordanien, Libanon, Syrien und Irak
Aktuelle Informationen zur Projektarbeit der Stiftung für die Freiheit finden Sie unter www.freiheit.org

Jordanien hat gewählt: Während nationale und internationale Wahlbeobachter und Analysten die
jordanische Regierung für ihre Bemühungen um einen korrekten Ablauf der Wahlen loben, herrscht
unter Bürgerrechtsaktivisten und Reformanhängern Enttäuschung über das neue Wahlgesetz, welches
abermals ein von traditionellen Stammesvertretern dominiertes Parlament hervorgebracht hat.

Das Königreich Jordanien hat wieder ein Parla- der zahlreich geäußerten Vorwürfe von
ment. Am 9. November 2010, d.h. ein knappes Machtmissbrauch.
Jahr nach der am 23.11.2009 durch König Ab-
dullah II angeordneten Auflösung der Volksver- Die vorzeitige Auflösung des Unterhauses war
tretung, fanden vorgezogene Neuwahlen statt. einhergegangen mit der Forderung des Königs,
Bei einer offiziellen Wahlbeteiligung von 53% adressiert in Richtung des neuen Premiermi-
der Wahlberechtigten wurden im Rahmen eines nister Samir Rifaii, das Wahlgesetz zu überar-
neuen Wahlgesetzes 120 Abgeordnete in das beiten und vorgezogene Neuwahlen zu organi-
16. jordanische Unterhaus gewählt. Erstmalig sieren. Der Premierminister verkündete dar-
sind mehr als 10% der Abgeordneten Frauen, aufhin, die primäre Aufgabe seiner Regierung
von denen eine Kandidatin außerhalb der „Frau- sei „die „Abhaltung von Wahlen, die ein Bei-
enquote“ den Einzug ins Parlament schaffte. spiel an Integrität, Unparteilichkeit und Trans-
parenz darstellen“.
Das ausgeschiedene Unterhaus genoss ange-
sichts der erheblichen Unregelmäßigkeiten und Entsprechend hoch waren die Hoffnungen von
Manipulationen bei den Fiasko-Wahlen von Reformern in Politik, Medien und Zivilgesell-
2007 nur wenig Legitimität; zu unpopulär war schaft nach Jahren zunehmender Politikverd-
es angesichts der allgemein als mangelhaft rossenheit und gesellschaftlicher Frustration.
empfundenen Leistung der Abgeordneten und

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So blickte niemand genau hin, als sich abzeich- Anders bei den palästinensisch-stämmigen
nete, dass die in der jordanischen Verfassung Jordaniern, die als „Flüchtlingsgemeinschaft“
verankerte Frist von 4 Monaten bis zur Abhal- quasi per Definition aus ihren früheren Struk-
tung von Neuwahlen nicht eingehalten werden turen entwurzelt worden sind, denen die
würde. Es galt für die Regierung, erst ein neues Grundlage für tribale Organisation weitgehend
Wahlgesetz zu verabschieden, wobei die abhanden gekommen ist. Dienten in den 60er
„Wunschliste“ der aus zahlreichen, häufig un- und 70er Jahren noch linke und nationalisti-
tereinander konkurrierenden Bevölkerungsgrup- sche Parteien als wichtigstes Sammelbecken
pen bestehenden jordanischen Bevölkerung lang für diese Bevölkerungsgruppe, sind es heute
war… häufig die Muslimbrüder der IAF (Islamic Ac-
tion Front), der wichtigsten Oppositionspartei
Der junge Staat Jordanien des Landes.

Jordanien als Staat und Identität ist weitestge- Diese gegenseitigen Pole und Narrative unter
hend ein Resultat der Kolonial-Politik Englands einen Hut zu kriegen, ohne das Machtgefüge
im Zuge der Zerschlagung des Osmanischen im Land empfindlich zu stören, ist im Kern das
Reiches während und nach dem ersten Welt- Dilemma jeder Wahlgesetzgebung in Jorda-
krieg. Ursprünglich war die „transjordanische“, nien.
auch als „ost-jordanisch“ bezeichnete Bevölke-
rung im heutigen Nordjordanien sowie im Jor- Das Wahlgesetz 2010
dantal primär bäuerlich geprägt, in den Wüs-
tenregionen im Süden und Osten eher bedui- Am 19.5.2010, ein halbes Jahr nach der Par-
nisch. Diese Bevölkerungsstruktur wurde 1948 lamentsauflösung, trat das neue „temporäre“
sowie 1967 durch palästinensische Flüchtlings- Wahlgesetz für das Jahr 2010 durch ein kö-
ströme im Zuge der Staatsgründung Israels so- nigliches Dekret in Kraft.
wie des 6-Tagekriegs nachhaltig verändert.
Dank der großzügigen Handhabung der Einbür- Das Hauptaugenmerk des neuen Gesetzes lag
gerungspraxis stellen Jordanier palästinensi- auf Verbesserungen der sog. „prozeduralen“,
schen Ursprungs, Nachkommen also der Flücht- häufig technischen Aspekte des Wahlablaufs.
linge von 1948 und 1967, inoffiziellen Schät- Die Reformen befassten sich beispielsweise
zungen zufolge inzwischen mindestens die mit Themen wie dem transparenten Ablauf des
Hälfte der Gesamtbevölkerung Jordaniens. Als Registrierungsprozesses von Wählern und
in hohem Masse urbane Bevölkerungsgruppe Kandidaten, Fragen der Wahlbeobachtung, der
dominieren sie den Privatsektor und somit die juristischen Möglichkeiten für eine Anfech-
Wirtschaft des Landes. In Politik, Militär und tung von Wahlergebnissen und der Anhebung
Staatssektor hingegen sind sie unterrepräsen- der Frauenquote im Parlament.
tiert – der Staat und seine Beschäftigungsmög-
Mit der Schaffung 6 zusätzlicher Sitze zur
lichkeiten dienen seit der Geburt des Staates
Anhebung der Frauenquote und 4 weiterer
Jordanien als Fluchtburg der „Ost-Jordanier“.
Sitze für traditionell unterrepräsentierte urba-
Auch die politische Organisation der beiden ne Zentren im Norden des Landes nahm die
Bevölkerungsgruppen ist unterschiedlich. Auf- Zahl der Sitze im jordanischen Parlament von
grund ihrer intakt gebliebenen Stammes- und zuvor 110 auf nun 120 Sitze zu.
Gesellschaftsstrukturen herrschen bei den Ost-
Das von oppositionellen und reform-
Jordaniern i.d.R. tribale Strukturen vor; diese
orientierten Kreisen seit Jahrzehnten monierte
stellen eine der wesentlichen Machtstützen des
Ungleichgewicht zwischen dem Stimmgewicht
Haschemitischen Königshauses dar.
der (überwiegend jordanisch-stämmigen)
Wähler in den vergleichsweise ländlichen Pro-

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vinzen des Landes und dem Stimmgewicht der Hoffnungen auf die Bildung einer, wie auch
Wähler in den (überwiegend von Jordaniern immer schwach ausgeprägten Parteiendemo-
palästinensischen Ursprungs bewohnten) urba- kratie in Jordanien haben sich vorläufig zer-
nen Zentren im Norden ist hingegen derart aus- schlagen und damit auch die Perspektiven für
geprägt, dass die 4 zusätzlichen Parlamentssitze eine liberale Parteiengründung verschlechtert.
im Wesentlichen als symbolisches Zugeständnis Nichtsdestotrotz hat ein spürbarer Sinnes-
interpretiert worden sind. wechsel eingesetzt, der im Rahmen des politi-
schen Systems und seiner roten Linien die
Einhaltung von Spielregeln und Standards
einfordert.

Die Wahlen boten der Stiftung und den Stif-


tungspartnern in Jordanien zahlreiche Gele-
genheiten zu zielgruppennaher Arbeit und
öffentlichkeitswirksamer Profilierung. Das Na-
tionale Menschenrechtszentrum (NCHR), ein
wichtiger Partner der Stiftung, war am Wahl-
tag mit mehr als 1250 Wahlbeobachtern aus-
geschert, im kleinen Jordanien eine nicht in-
signifikante Zahl.

Wahlkampfplakate in der jordanischen Hauptstadt Mit Unterstützung der Stiftung führte das Free
Amman Thought Forum (FTF), der Förderung der politi-
schen Partizipation verpflichtet, zum zweiten
Beobachter, die tiefgehende, substantielle Re- Mal in Folge bei Parlamentswahlen das Projekt
formen erwartet hatten, wurden enttäuscht. „Know Your Candidate“ durch. Alle ca. 700
Anstatt die Rolle der Parteien etwa im politi- landesweit angetretenen KandidatInnen wur-
schen System Jordaniens aufzuwerten, eine den nach ihren Vorstellungen und Plänen be-
Hauptforderung von jordanischen Bürgerrechts- fragt, die Antworten übersichtlich und benut-
aktivisten, perpetuiert das neue Gesetz den al- zerfreundlich im Internet präsentiert – ein
ten Status Quo. kleiner, aber wichtiger Beitrag im Dienste der
Wählerinformation und einer rechenschafts-
Die wichtigste Oppositionspartei in Jordanien,
pflichtigen Politikkultur, die nicht die familiäre
die religiöse Islamic Action Front (IAF) beschloss
und tribale Abstammung zum ausschlagge-
entsprechend, an den Wahlen nicht teilzuneh-
benden Erfolgskriterium macht, sondern Pro-
men.
grammatik.
Die Wahlbeteilung war mit 53% angesichts
dieses Boykotts erstaunlich hoch und lag nur
wenige Prozentpunkte unter der offiziellen
Wahlbeteiligung von 2007.

Auswirkungen auf die Stiftungsarbeit in Impressum


Jordanien Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit
Bereich Internationale Politik
Für die Stiftungsarbeit in Jordanien waren die Referat Politikberatung und
Internationale Politikanalyse
Wahlen und das Wahlergebnis Rückschlag und Karl-Marx-Straße 2
Chance zugleich: D-14482 Potsdam

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