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Vermessung des modernen Individuums

Schon faszinierend, über alle Medien mitzukriegen, wie die paar Gretel & Hansel, die mit dem
Hartz-IV-Regelsatz einem bunten Untervolk von einigen Millionen die Lebensbedingungen
vorschreiben, sich bei der Begründung desselben aufführen, als wüßten sie ganz genau, wie
diese aussehen bzw. auszusehen hätten. Diese vom Volk wirklich befugten Typen aus den
Entscheidungsrängen des Gesellschaftsensembles, vom Einkommen her in der in Frage
kommenden Hinsicht also bestimmt nicht der minderbemittelten Schicht angehörig, auch sonst
von Berufs wegen von hellem Verstand, wenn's darum geht, über Einsicht in komplizierte
Zusammenhänge die Trag- und Kragenweite der Nation zu eruieren, tun so, als ob sie auch
Experten des dem Menschen würdigen, natürlich in so gezählte wie gezahlte und zahlbare wie
ungezahlte Wertsachen umgerechneten Bedürfnisstandards sind.

Erhält das menschliche Bedürfnis diese Wertschätzung beigemessen, ist das Bedürfnis kein
Bedürfnis mehr, vielmehr ein Bedingungsdiktat des ihm allein zugemessenen Bedarfs, damit
eben als Bedürfnis aus der Welt geschafft. Denn die Verordnung eines Bedürfnisses setzt die
Aufhebung des Bedürfnisses bereits voraus. Ob und wie das betroffene Subjekt diesen Schritt
mit- und nachvollzieht, gar akzeptiert, tut dem nichts zur Sache. Vom Prinzip her gilt dieser
Zusammenhang von Bedürfnis und Bedarf für alle Geldsubjekte der Gesellschaft. Und andere
Subjekte als Geldsubjekte gibt es in der bürgerlichen Gesellschaft nicht. Selbst Leute, die weder
Geld noch Habe haben, sind zwangsläufig in diesen & diesem Zusammenhang integriert.
Allerdings bringt erst die ideelle Abstraktion die im Geldwesen notwendig angelegte praktische
Transformation der Subjekte in Objekte zum Vorschein und auf den Begriff.

Nur mehr Objekte sind die Subjekte nämlich, weil ihnen in der über Geld vermittelten
Gesellschaftlichkeit der Status von Subjekten bereits abhanden gekommen sein muß, um als
Objekte des agierenden Geldsubjekts die verkehrsgerechte Anerkennung zu erfahren. Das
agierende Geldsubjekt wiederum muß dazu immer schon versachlichte Gestalt in der Wägbar-,
Meß- und Zählbar- sowie Kommunizierbarkeit aufweisen. Diese Techniken der Vermessung des
Individuums zurren das Wohl der aus- bzw. noch gar nicht einrangierten Sozialschicht fest.
Wiewohl die Verantwortlichen der politischen Klasse dabei auch und im Besonderen eine
politische Prävalenzentscheidung zu treffen haben, sind sie genauer die Experten des
Expertentums. Denn erst über den Umweg der Statistik entsteht das Durchschnittsindividuum,
welches so und so viel Geld & Kultur bräuchte, um ein angemessenes In-der-Existenz-sein
haben zu können.

Niemand fragt sich, respektive stellt auch nur ansatzweise die Frage, wo denn da das Individuum
bleibe. Denn, - und das ist dann auch schon der hinreichende Grund, warum die oben skizzierte
Argumentation genügt: daß im Durchschnittsindividuum das Individuum qua Durchschnitt sich
aufhebt, ist dem kein Problem mehr, für den das Individuum nichts notwendiger braucht als eine
bis auf den Cent ausgetüftelte Geldsumme, um in einer verordneten Arbeits- und
Kulturzuweisung das höchst mögliche Glück in einer schicksals- und naturhaften Zeitspanne
seines Lebens, vielleicht auch für immer, erfüllt zu bekommen. Damit ist das Individuum zwar
nichts und nicht mehr mehr als ein in einer ausgedachten Zahlengröße verortetes Objekt. Da
jedoch die Wertschätzung des Individuums/1/ als eines Subjekts/2/ prinzipiell auf seiner
Taxierung als Objekt hybrid-fiktiver Leistungserbringung beruht, hat diese Verkehrung von
Subjekt und Objekt schon ihre Logik und demgemäße Richtigkeit.

Der Mensch in & an diesem Wert gemessen ist explizit nichts als eine quantitative Bestimmtheit,
eine Nummer. Daß er nichts als eine Nummer ist, ist seine Qualität. Diese Qualität als Würde
gehandelt macht einerseits den Hartz-IV-Menschen mit dem materiell Sorglosen gleich. Die
abstrakte formale Gleichheit ist jedoch auch prinzipielles Prinzip der menschlichen Würde. Den
Schutz dieser Gleichheit in Würde läßt sich das politische Gemeinwesen angetan sein. Dieser
Sorgepflicht kommt das Gemeinwesen in der Ermöglichung der Bedingungen der Existenz nach.
Nicht die vorausgesetzte Existenz selbst wird ermöglicht. Ginge ja auch gar nicht, ist sie doch
schlicht und ergreifend nichts als purer Ausdruck einer seienden, bis zum wie auch immer
eintretenden Tod uneinholbaren Tatsache. Vielmehr müssen der Existenz um der individuellen
Existenz willen Bedingungen beigesellt werden, sie überhaupt erst ohne Gefahr für Leib und
Leben damit ermöglichen. Dies der Kern der Existenzfrage, deren Auflösung nun je nach Stand in
der Stufenleiter der sozialen Hierarchie ganz unterschiedlich ausfällt.

Man muß sich die Härte einer dem Verkehr der Individuen in Gegensätzen geschuldeten
Notwendigkeit, so etwas wie ein Sozialindividuum durch Hoheitsakte erst zu kreieren, einmal
begrifflich vorgeführt haben, ansonsten nie Klarheit über Status- und Rangfragen individueller
Daseinsgestaltung gewonnen werden kann. Politik & Ökonomie gewähren die Existenz des
Individuums in seiner Verrechnung. Absolutes Auspizium dieser Verrechnung ist das Geld. Das
Individuum wird in Geld gewogen. Diese Verrechnung handelt von der Grenze von Leben und
Tod des sozialen Individuums. Nicht, daß es stürbe, ist das Problem. Genau dieser, würde die
Existenz nicht geldlich ermöglicht, provozierte natürliche Tod des Individuums soll doch, zunächst
wenigstens, verhindert, zumindest abgefedert bzw. hinausgeschoben, sprich: auf der
Lebenszeitleiste flexibilisiert werden. Allzu augenfällig darf die Aufhebung des Individuums nicht
ablaufen. Denn dessen reine Zerstörung wäre augenscheinlich kontraproduktiv. Deshalb und
nicht aus menschlichen Erwägungen heraus, gar einem erst einzulösenden Begriff & Wesen der
Menschlichkeit, bedarf sie eines Rahmens und der Regeln./3/ Auch um, wiewohl nicht unbedingt
angestrebt, bedingt jedoch in jedem Fall, dem volatilen Bedarf an Bevölkerungsarten von der
Quelle her eine Perspektive zu verpassen. Auch in diesem der Gesamtheit/4/ der sozialen Sache
dienlichen und den Individuen nur gerecht werdenden Anwendungsfalle ist die statistische
Wissenschaft die rechnerische Bedingung der Möglichkeit einer Zivilisierung der Sitten. Nur ein
wechselseitig anerkanntes Umgangswesen ansonsten sich in ihrem bürgerlichen Naturzustande
nur gleichgültiger bis bekriegender Individuen gewährleistet in Form von Recht und Ordnung die
Stabilität, die sie als Egoisten der Konkurrenz wirklich brauchen.

Daß das Individium, von dem bei Hartz gehandelt wird, als Prozentvariable eines Durchschnitts
der Einkommensstatistik den mit einer Geldsumme bezifferten Prägestempel aufgedrückt erhält,
verdankt sich nicht nur dem Prinzip der Gleichheit der Individuen, eine Begrifflichkeit, die das
Gesetz allerdings gar nicht kennt, sind ihm Menschen doch grundsätzlich Personen, ist zudem
noch dem Prozeßcharakter eines dynamischen Gemeinwesens entsprechend als säkularisierte
Gnadenhandlung zu begreifen. Die Gleichheit lebt nämlich vom Widerspruch der Ungleichheit als
conditio sine qua non ihrer selbst, ansonsten gar kein Sinn, sie zu konstatieren. Gleichheit
widerspricht dem Individuum, in dem Einmaligkeit konnotiert ist. Ob die Freiheit ebenfalls,
dahingestellt, nur sei angefügt: bürgerliche Freiheit nicht, da Freiheit in einem
Bedingungsverhältnis zur Gleichheit steht, selbst nur Verhältnisweise der Betätigung der
kommunikativen Kompetenz einer Person ist, die individuelle Note nur scheinbar umfaßt, da eo
ipso sie als Ausdrucksform der Persönlichkeit gewährt wird und gefragt ist. Dies der Witz dessen,
was -verkehrtermaßen- als Individualität transportiert wird./5/

Daß einem Hartz-Individuum nur als abstrakte Ausgabe seiner eigenen Persönlichkeit Gleichheit
widerfährt, ist nicht weiter auszuführen. Denn das Individium wird auf ein Minimum seiner
Existenz festgelegt. Dies gebührt ihm aber gerade als Gleichem unter sozial verschieden bzw.
gegensätzlich strukturierten Gleichen. Gleichheit ist Form-, Verhältnis- und dann Rechtsprinzip.
Die Personträger sind gleich. Die Sozialträger sind verschieden. Solange soziale
Angelegenheiten die Sache von Personen sind, sind sie denn auch vereinbar, ob institutionalisiert
oder nicht. Auch die soziale Verschiedenheit macht nur auf Basis der Gleichheit ihren Sinn.
Selbst der sozialökonomische Antagonismus ist deshalb Gegenstand der Kampf-, Verhandlungs-,
Konsens- und Kompromißmasse, solange Personträger als Gleiche unter Gleichen sich an ihm
delektieren, nicht per se also Ausgangspunkt umstürzlerischer Taten.

Es gibt keine Tierrasse, in der solch grausamer Sozialzusammenhang in den Instinkten


programmiert ist. Denn Leben, Überleben und Tod sind dort handlungsteleologisch nicht
unterschieden. Existenzermittlungen mathematisierter Natur sind ausschließlich sozialstaatlichen
Gebilden eigen. Die Differenz von Existenz und Dasein schmilzt im gewährten Grundeinkommen
dahin. Ein Existenzminimum ist per se nicht auf ein menschliches Dasein gerichtet. Nicht, weil's
der Name so sagt respektive nahelegt, ist im Zweck des Existenzminimums jener fundamentale
Unterschied aufgehoben. Der Ursprung ist, wie schon angedeutet, wesentlich härter: Der Mensch
ist im Wohlfahrts- und Sozialstaat qualitativ wirklich nur eine Ziffer, exakt: eine Null. Dies der im
die Gerechtigkeit der sozialen Stufenleiter reflektierenden Urteil der Entscheidungsträger
angelegte Maßstab.

Diesen Maßstab legt die herrschende Verantwortung auch an sich und Ihresgleichen an. Daß
sich die Geldsumme nach oben auffächert, ist nur gerecht. Denn sie reflektiert nur die reale
Stratifikation der Gesellschaftshierarchie. Real heißt dabei, daß die Einkommensdifferenzen als
Reflex des erkämpften Selbstbewußtseins ihre Begrifflichkeit haben, damit unbegriffen sind. Daß
in Wirklichkeit ein Hartzvierler mindestens doppelt so viel Geld bräuchte wie ein Mitglied der
Herrschaftselite, hat er doch wesentlich mehr freie Zeit als jener, um seinem Lebensgenuß
nachgehen zu können, gilt dem realen Bewußtsein egal welcher Existenzfarbe als Provokation,
sprengt doch allein die Vorstellung, dem wäre so, die ganze Sittlichkeitssicht des auf
mathematisch verifizierten Gerechtigkeitsprämissen beruhenden ökonomischen Denkens, im
übrigen auch des moralischen, der geistigen Fähigkeit sowieso. Die Kindheit hinter sich gelassen,
hat dieses Denken immer schon Sozialdifferenzen im Geld, die gelten, deswegen naturhaften
Charakter haben, intus.

Entsprechend irre ist die Propagandaformel eines Lohnabstandsgebots, basierend auf der
größeren Achtung desjenigen, der arbeitet, gegenüber dem Parasiten, dessen Haut fault.
Rational betrachtet, müßte nämlich wiederum der, der nicht arbeitet, wesentlich mehr erhalten,
als der, der arbeitet. Über mehr Zeit verfügen zu können, implizierte doch höhere Kosten.
Offenbar jedoch, so das Existenzgesetz, soll die Aufhebung der Zeit in der Zeit kostenlos zu
haben sein. Daß Zeit eben nicht gleich Zeit ist, könnte daran aber auch zum Nachdenken
anregen. Selbst das Nachdenken kostet jedoch Zeit, will man dabei nicht verhungern. Die
Befriedigung des intellektuellen Hungers ist am Rande der Existenz sowieso verboten, unterliegt
wenigstens der peniblen Aufmerksamkeit der Sozialpolizei. Verdachtsermittlungsfragen werden
dann wirklich zu Antworten an unerwünschte Existenzen.

Aber dies alles eben Ausdrücke eines Immanenzdenkens, welches sich durch Anleihen bei der
Wissenschaft und der Magie des Geldes seine Wertschätzungen zimmert, um ihnen
Gesetzeskraft und Durchführungsbestimmungen zu verleihen, sie im integralen Zirkelschluß zu
den einzig tauglichen Tugenden zu erheben. Dieses Denken ja auch schichtspezifisch: der
Millionär mit Lebensfreude braucht eben in seiner ihm verfügbaren freien Zeit wesentlich mehr an
Äquivalenten, als wenn er noch unternehmensfördernde Dienste, die ihn im Genuß der weltlichen
Dinge beschränken, leistet. Quer durch das ganze Volk geteilt, diktiert jenes Basiskriterium auch
noch dem Hartzvierler die Selbsteinschätzung als zu alimentierendem Funktionsglied der
Gesellschaft. Ob er über eine erweiterte Geldsumme deren Vollmitgliedschaft nun meint, erst
anstreben zu müssen oder nicht mehr, ist absolut irrelevant.

Dieses Anliegen allein befördern auch Hartz-IV-Unterstützergruppen: vgl. etwa die aktuelle
Demonstrationsaufrufe flankierenden alternativen Bedarfsberechnungen:

http://www.fr-online.de/wirtschaft/der-protest-der-schwachen/-/1472780/4728368/-/index.html.

Die Erhebung der materiellen Forderung erfolgt jeweils qua Abstraktion der jeder Verrechnung
eines Bedürfnisses inhärenten Willkür. Was ein Bedürfnis ist, wird wertgeschätzt. Die Güte eines
Bedürfnisses, für sich durchaus eine diskutable Angelegenheit, kommt damit nur in der Weise
zum Tragen, daß über seinen Wert befunden wird: als sozial salonfähigen wie als, als ob es so
etwas außer im in jeder Hinsicht vermessenen Bewußsein überhaupt gäbe: einem
Existenzminimum adäquat.

Ein Bedürfnis ist, wenn entschieden wird, daß es ein Bedürfnis ist. Das Bedürfnis ist an das
Kriterium seiner Zulässigkeit geknüpft. Auch wenn ich das Nivellierungsniveau der Alimentierung
mit erweitertem Waren- und Güterkorb anhebe, bleibt die Verpreislichung Basis. Natürlich ist die
Forderung nach Besserstellung der Sozialexistenzen dabei begrüßens- und unterstützenswert.
Diese Forderung vom Roß der Einsicht in den Gang der bürgerlichen Dinge, den man
irgendwann einmal kippen wolle, geringzuschätzen, zeugt nur von Weltfremdheit, ähnlich der
Idiotie, einen Kampf um Arbeitsplätze deshalb abzulehnen, weil der Arbeitsplatz eine
kapitalistische Einrichtung sei. Im übrigen demonstriert diese Haltung von Bruchspezialisten,
mehr ist sie Gott sei Dank nicht, vor allem, was für eine Verachtung jener Leute, die für den
antikapitalistischen Zweck beworben werden, bereits der gehandelten Theorie immanent ist.

[Die Anmerkungen später. Weiteres ebenso.]

Clara/Koza/Kozel
Sommer 2010

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