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1 Ausweglos

2 Das Spiel mit und gegen Menschen

3 Sarah Schmitz

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6 Manuskript in Arbeit
7 Erstformatierung abgeschlossen

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1

8
9 “Stell dir vor,

10 es kann nur einen treffen.

11 Aber es wird einen treffen.

12 Und dieser eine bist du.”

2
1 Prolog
2 Sie lauert dir auf, dir alleine. Wartet in der alles in

3 ihrem Zorn zerquetschende Tiefe. Mörderisch scharf umzingeln

4 die tosenden Fluten deine dürren Knöchel, wollen dich unter

5 die Wasseroberfläche zerren. Glatt ist sie, glatt wie die

6 Klinge eines Schwertes, vollkommen glatt, haltlos. In dieser

7 Nacht vermag nicht ein einziges, klägliches Licht am Himmel

8 zu leuchten, der wie ein Leichentuch über die Welt gespannt

9 ist. Den Tag, der auf diese Nacht folgen würde, wenn die

10 Flammen des glühenden Morgenrots jemals im Osten die

11 Dunkelheit vertrieben, würdest du nicht mehr erleben.

12 Verzweifelt versuchst du, dich zu wehren, doch die

13 unbarmherzige Kälte des Atlantiks hat deinen Körper gelähmt,

14 für immer versteinert. Salz brennt in deinen vor Angst weit

15 aufgerissenen, blutunterlaufenen Augen. Deine Schreie hört

16 niemand, weder das Schiff dort drüber in einigen tausend

17 Meter Entfernung, noch das hübsche, blasse Mädchen, welches

18 regungslos neben dir im Wasser treibt. Langsam erstirbt auch


19 dein Widerstand. Erschöpft flattern deine Lider, während

20 dein Körper herab in die Tiefe sinkt. Luftbläschen streifen

21 dein zerschlagenes Gesicht, als du qualvoll den Mund

22 aufreißt, um Atem zu schöpfen. Das Letzte, was du bewusst

23 wahrnimmst, ist das Wasser, das nun in deine ausgepumpten,

24 zum Zerreißen gespannten Lungen, flutet

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1 1. Kapitel
2 Verdorrte Bäume standen in Flammen. Ein Rudel Hyänen, auf

3 der Suche nach etwas Essbarem, jagte in die niemals enden

4 wollende Wüste davon. Aasgeier kreisten über dem Kadaver

5 eines toten Schimpansen, rissen grobe Stück Fleisch mit

6 ihren gefräßigen Schnäbeln aus Bauch, Schultern und Beinen.

7 Ein Jeep schoss über die menschenleere Landstraße hinweg,

8 in Richtung Süden, der togolesischen Hauptstadt Lomé

9 entgegen.

10 Ich kauerte mich tiefer in den Sitz, meinen Kuscheltier

11 Löwen dicht an mich gepresst. Staub brannte in meinen Augen.

12 Die ungewohnte Februarhitze machte mir zu schaffen. Doch ich

13 wagte nicht zu nörgeln, denn sonst würde Papa mich in eines

14 dieser deutschen Kinderheime geben. Ohne Freunde, ohne

15 Spielsachen, ganz alleine. An die Hitze Afrikas würdest du

16 dich gewöhnen, an die Einsamkeit niemals.

17 Ein Tiger Python. Python molurus. Eine der größten und

18 gefährlichsten Würgeschlange der Welt schlängelte sich vor


19 deinen Augen über die Straße.

20 Sekunden später spritzte Blut gegen die niedrige

21 Windschutzscheibe. Papa hatte das Steuer nicht mehr

22 herumreißen können. Er grinste. Das Grinsen eines Irrens.

23 „Willkommen in Afrika, mein Sohn!“, lachte er, und blickte

24 mich an.

25 Fressen oder gefressen werden… Das einzige goldene Gesetz

26 in Afrika.

27 Wilde Tiere hatten ihre Spuren hinterlassen, als sie in


28 der Nacht in das Dorf eingefallen waren, welches sich nun in

29 einiger Entfernung abzeichnete. Rot spiegelte sich Blut in

4
1 der Mittagshitze. Fliegen und Moskitos stachen ihre langen

2 Rüssel in Haut der kleinen Kinder, die vor den teils

3 hölzernen, teils aus Stein gebauten Hütten im Schlamm

4 spielten.

5 Nach kurzem Beobachten stieg Papa aus, woraufhin ich ihm

6 zögernd folgte. Die Finger meiner rechten Hand verkrampften

7 sich in seiner großen Hand.Mit der anderen langte ich nach

8 dem Kuscheltier-Löwen. Augenblicklich umringten uns

9 Menschen, die in schmutzigen Gewändern wie schwarze

10 Gespenster wirkten. Über uns hellhäutige Fremdlinge schienen

11 sie zu staunen. Lediglich ein älterer Mann mit einem

12 lustigen Bart und einem freundlichen Gesichtsausdruck

13 räusperte sich vernehmlich, um Papa etwas ins Ohr zu

14 flüstern. Voller Spannung senkte ich meinen Blick, drückte

15 mein Kuscheltier fester an meine Brust.

16 Obwohl ich die togolesische Landessprache sehr wohl

17 verstand, irritierte mich das, was die beiden Männer

18 besprachen. Vielleicht war ich damals noch zu jung, um zu


19 begreifen, vielleicht wollte ich es auch gar nicht.

20 Papa hatte immer Forscher sein wollen, berühmt und reich,

21 doch bis jetzt hatte das nicht geschafft, was nicht zuletzt

22 meine Schuld war. Wäre meine Mutter nicht schwanger

23 geworden, hätte er vermutlich ein Projekt in Haiti bekommen.

24 Dieses Dorf jedenfalls wurde unser neues Zuhause. Man zeigte

25 uns eine verlassene Hütte, in der vor wenigen Tagen noch

26 eine fünfköpfige Familie gewohnt hatte. Über ihr Schicksal

27 sprach man kaum, eher verachtete man sie. Warum, wusste ich

28 nicht. Ich fragte auch nicht danach. Papa hätte mir die
29 Wahrheit sowieso nie verraten.

5
1 In der Hütte war es dunkel. Durch die Holzklappen vor dem

2 Fenster fiel kaum Licht und elektrischen Strom gab es

3 keinen. Ich zitterte. Im Fernsehen hatte ich oft Horrorfilme

4 mit meinem Vater ansehen müssen. Es kümmerte ihn nicht, wenn

5 ich nachts vor Angst Albträume hatte oder weinte. Selbst

6 dann nicht, als meine Lehrerin ihn darauf ansprach. Nun

7 tauchten diese schrecklichen Bilder wieder in meinen

8 Gedanken auf. Blutüberströmte Leichen. Abgehackte Finger.

9 Folter. Tiere, die Menschen überfielen.

10 „Na, wieder der kleine Scheißer?“ Papa stand plötzlich

11 neben mir. Die Taschenlampe strich über mein Gesicht.

12 Erschrocken schüttelte ich den Kopf.

13 „Okay, dann kannst du ja vorgehen.“, meinte er grinsend.

14 Ich nickte. Was sollte ich auch anders tun? Tat ich nicht

15 das, was er verlangte, würde er mich auslachen oder

16 schlagen. Wie immer. Das war seine Erziehung.

17 Langsam setzte ich einen Fuß vor den andern. Über die

18 gesamte Fläche einer alten Holztheke war zerbrochenes


19 Porzellan verstreut. Ein umgekippter Stuhl lag auf dem

20 knarrenden Fußboden. Es stank nach Schweiß und Kot.

21 Krabbeltiere sammelten sich über den Essensresten. In das

22 enge Kinderschlafzimmer waren drei Betten gezwängt, bezogen

23 mit dünnen Laken, mit dünnen, blutverschmierten Laken. Mein

24 Magen zog sich merklich zusammen. Die Bilder brannten sich

25 in mein Gedächtnis. Ich würde sie nie wieder vergessen

26 können. Obwohl mir die Kälte und der Tod nun zu schaffen

27 macht, erinnere ich mich an den Tag, an dem ich vom

28 Beifahrersitz des Jeeps kletterte, um in diesem Dorf ein


29 neues Leben zu beginnen. Vielleicht hätte ich weglaufen

30 sollen, damals, als ich die Chance dazu gehabt hatte.

6
1 Vielleicht hätte ich in ein Kinderheim gehen sollen, um als

2 normaler Teenager aufwachsen zu können. Vielleicht wäre es

3 manchmal sogar besser gewesen, wenn ich gar nicht auf dieser

4 Welt lebte. Vielleicht.

5 Aber es ist nicht so. Ich bin hier draußen, einsam,

6 verlassen, alleine. Das ist mein Leben.

7 Unruhig wälzte ich mich im Halbschlaf auf dem schmalen

8 Bett. Durch die geöffneten Fenster schwirrten Moskitos

9 herein. Der Lattenrost meiner Pritsche knarrte bei jeder

10 Bewegung. Weit ab dem Dorf heulte ein Tier seine gruselige

11 Melodie. Neuartige Geräusche, die mir Angst einjagten.

12 Einmal wollte ich zu Papa tapsen, über das dunkle Holz des

13 Fußbodens, das wie ein Loch unter mir klaffte, aber ich tat

14 es nicht.

15 „Aufstehen, Sohn! Heute wird ein anstrengender Tag!“ Papa

16 stand neben meinem Bett und öffnete die Fensterläden. Er war

17 ausgeruht wie seit langem nicht mehr und schien sichtlich

18 gut gelaunt. Seine freundliche Art beunruhigte mich, und ich


19 war froh, dass er mich nicht schlug, als ich zu spät zum

20 Frühstück erschien. Lächelnd erzählte er mir, er wolle in

21 die nächste Stadt fahren, um mich in einer Schule anzumelden

22 und Besorgungen zu machen. Ob es schlimm wäre, wenn er mich

23 für den Vormittag alleine ließe. Ich schüttelte stumm den

24 Kopf. Es war das erste Mal, dass er nicht über mich

25 entschied, sondern mit mir.

26 Erschöpft von der langen Nacht räumte ich den

27 Frühstückstisch ab. Das Haus mochte nicht sonderlich groß

28 sein, vermutlich sogar kleiner als unsere Wohnung in Köln,


29 dennoch kam ich mir verlassen vor. Monster lauerten im

30 Schatten. Gefräßige Bestien, mit großen, bösen Augen und

7
1 scharfen Zähnen. Wie so oft, wenn ich alleine war, hatte ich

2 Angst vor etwas, das nur in meiner Fantasie existierte.

3 Laut vor mich hin pfeifend, um die Monster fernzuhalten,

4 spielte ich mit den wenigen Legosteinen, die ich besaß.

5 Plötzlich ließ mich ein Schrei zusammenzucken. Erschrocken

6 spähte ich aus dem Fenster in meinem Zimmer. Regungslos lag

7 ein Junge mit dem Gesicht im Schlamm, vollkommen regungslos.

8 Blut strömte aus einer Wunde am Oberarm. Meine Angst vor den

9 Monstern war mit einem Mal vergessen. Achtlos sprang ich vom

10 Bett, stolperte, schlug mir die Knie blutig. Doch

11 seltsamerweise spürte ich den Schmerz überhaupt nicht.

12 Damals hatte ich nur an den da draußen gedacht. Vielleicht,

13 weil er mich ein bisschen ein mich selber erinnerte und mir

14 nie jemand geholfen hatte. Der fremde Junge bewegte sich

15 immer noch nicht, als ich mich neben ihn in den Dreck fallen

16 ließ.

17 „Hey…!“ Mit aller Kraft drehte ich ihn auf den Rücken.

18 Sein knochiges Gesicht war zerkratzt. Unter dem schmutzigen


19 Leinenhemd, welches er trug, konnte man die Rippen zählen.

20 „Hey…!“ Verzweifelt gab ich ihm eine Ohrfeige, eine leichte,

21 dann eine etwas härtere. Keine Regung. Nicht einmal ein

22 Zeichen, das mir sagte, dass er noch lebte. Eine Haustüre

23 wurde zugeschlagen. Hastig wollte ich davon rennen, doch ein

24 eisiger Griff hielt mich am Boden. „Niemand schlägt

25 Mathieu.“ Sekunden später hatte man mir die Beine weggezogen

26 und mich zu Boden geworfen. Widerstand war zwecklos. Als ich

27 versuchte, aufzustehen, wurde ich in den Matsch gedrückt,

28 bis ich keine Luft mehr bekam. Schließlich gab ich auf. Der
29 eben noch regungslos daliegende Junge reichte mir

30 anerkennend die Hand. Hast dich gut geschlagen, Neuling,

8
1 meinte er. Hinter ihm standen noch zwei weitere

2 dunkelhäutige Jungen, beide etwa zwölf Jahre alt, und ein

3 hellhäutiges Mädchen. Mit ihren haselnussbraunen Haaren, dem

4 Poloshirt und der kurzen braunen Hose wirkte sie älter als

5 neun Jahre. „Wollen wir für immer Freunde sein?“, fragte

6 mich der Junge, dem ich geholfen hatte.

7 Ich nickte. „Ja“

8 Erst später begriff ich, dass „für immer“ eine sehr lange

9 Zeit sein kann. Eine Zeit, die man nicht planen konnte. Doch

10 damals waren für mich „für immer“ nur zwei Worte.

11 Wir vertrauten einander vom ersten Augenblick an.

12 Jedenfalls lud ich Mathieu, Kay, Karim und Benjim zu mir

13 nach Hause ein. Die vier würden von ihren Familien bis zum

14 Abend nicht vermisst werden.

15 Meine wenigen Spielsachen, die Legosteine, der

16 Kuschellöwen, die Modellautos und mein Gameboy Color wurden

17 zur Hauptbeschäftigung des Tages. Bisher ist mir nie bewusst

18 aufgefallen, welch ein bewundernswertes Leben ich - trotz


19 der ständigen Schläge - führen durfte. Denn außer Kay und

20 mir besaß niemand überhaupt solche „wertvolle Schätze“. Die

21 Familien der einheimischen Kinder waren oft sogar zu arm, um

22 sich richtig zu ernähren. An „schlechten“ Tagen, wenn die

23 harte Arbeit nicht genügend Lohn erbrachte, gab es nicht

24 einmal Ignames, das ein gestampfter Getreidebrei. Nur Wasser

25 oder Spenden, die seine älteren Geschwister aus der Stadt

26 mit nach Hause brachten, meinte Karim. Auch er ginge bald in

27 die Stadt, um zu betteln, denn trotz eigentlicher

28 Schulpflicht war eine Bildung zu teuer. Benjims Geschichten


29 waren ähnlich. Sie machten mich wütend und verlegen. Die

30 reichen Europäer warfen ihr Geld für einen teuren Fernseher

9
1 aus dem Fenster und Kilometer entfernt verhungerten

2 Menschen. Aber mein Zorn richtete sich vor allem gegen mich

3 selbst. Denn ich gehörte zu diesen Menschen. Wegen mir wären

4 meine neuen Freunde gestorben. Ich bot sofort an, meine

5 Spielsachen zu verkaufen.

6 Mathieu beruhigte mich. Es sei nicht meine Schuld. Seine

7 Eltern wären bei einem Unfall ums Leben gekommen. Selbst

8 wenn ich den Gameboy verkaufen würde, würde das seine Eltern

9 nicht zurückholen.

10 Fassungslos starrte ich in Mathieus aufrichtiges Gesicht.

11 Er hatte alles verloren, was ihm im Leben wichtig gewesen

12 war. Eigentlich hätte er einen Hass auf diese Menschen haben

13 müssen, einen Hass auf Menschen wie mich.

14 Doch er blieb ganz ruhig. „Eines Tages verschwinde ich von

15 hier und gehe nach Spanien…“ Spanien war der einzige Ort,

16 den er kannte. „… bis dahin wohne ich bei meinem Cousin

17 Karim.“

18 An diesem Tag schworen wir alle, eines Tages aus dem Dorf
19 zu verschwinden, in eine Welt, in der es genügend zu essen

20 gab und niemand leiden mussten.

21 Doch was wir nicht ahnten war, dass dieser Tag schneller

22 kommen würde, als uns allen lieb war…

23 Mein Vater verbrachte nun mehr Zeit außerhalb des Dorfes.

24 Mir machte das nichts aus. Ich hatte Freunde zum Spielen

25 gefunden. In unserer Freizeit kletterten wir als Indianer

26 getarnt auf Bäume, um die Mütter nach dem Wasserholen zu

27 erschrecken, wenn wir nicht selbst zum Baden an den Fluss

28 liefen. Manchmal hockten wir auch im Schatten der Häuser und


29 erzählten Geschichten oder malten uns Abenteuer aus, die wir

30 eines Tages erleben wollten. Es war eine wunderschöne Zeit,

10
1 eine, wie ich sie selten erlebt hatte in der schmutzigen

2 Hochhaussiedlung im neunten Stock. In Köln hatte man nach

3 dem Kindergarten gemeinsam vor der Play Station oder einem

4 anderen Spielgeräten gesessen. Geradezu alle Spielplätze in

5 der Gegend waren nach geraumer Zeit asphaltiert oder zu

6 Wohnparks umgestalten worden. Grau, grau, alles nur grau.

7 Meine Freunde existierten nur auf dem Bildschirm. Visuell,

8 eine andere Verbindung gab es damals nicht zwischen uns.

9 Das Leben im Dorf war entbehrungsreich – vor allem für

10 meine Freunde. Doch ich genoss es, auch wenn Papa noch

11 weniger Zeit für mich zu haben schien. Wenn er wieder einmal

12 mitten in der Nacht nach Hause kam, schenkte er mir als

13 Entschuldigung meistens etwas Belangloses: Süßigkeiten, eine

14 Batterie für meinen Gameboy Color oder einen Kugelschreiber

15 - Dinge, die ich im Dorf weitergab. Schließlich hatten

16 einige bisher noch nie einen Lolli probieren können.

17 Mein Leben hätte nicht besser sein können. Schule, spielen

18 mit den Freunden im roten Paradies. Doch es kam der Tag, an


19 dem alles ein Ende finden sollte. Es war der 25. Mai, ein

20 besonderer Tag im Dorf. Keenan feierte Geburtstag.

21 Beim Frühstück meinte mein Vater, er müsse dringend

22 jemanden treffen, noch heute und könne mich nicht zur Schule

23 in die Stadt bringen. Mir war dies recht. So konnte ich

24 helfen, das Fest am Abend vorzubereiten. Wir saßen bis tief

25 in die Nacht um das Lagerfeuer im Dorf herum. Ein älterer

26 Mann spielte auf seiner Panflöte Volklieder, die ich nicht

27 kannte, die anderen sangen vergnügt mit.

28 Die Flammen vollführten ihren unendlich langen Tanz. Ich


29 gähnte herzhaft. Kay stieß mich von der Seite an und

30 lächelte unsicher. „Hast du Mathieu irgendwo gesehen?“ Ich

11
1 schüttelte den Kopf. „Nein, warum? Er meinte, er wolle

2 fischen.“

3 „Es ist dunkel. Wie soll er da etwas fangen?“

4 „Ich weiß es nicht. Vielleicht ist er auch bei Karim.

5 Keine Sorge.“ Beruhigend legte ich ihr den Arm um die

6 Schulter. Sie war für mich zu einer kleinen Schwester

7 geworden, die beschützt werden musste. Eine der wichtigsten

8 Personen für mich in meinem neunjährigen Leben.

9 „Das ist es nicht, Tim.“ Ihre Stimme klang heiser an

10 meinem Ohr. „Ich habe solche Kopfschmerzen.“

11 Besorgt starrte ich in ihre blauen Augen „Ist dir

12 schlecht? Hast du Bauchweh? Kay, sag doch irgendwas!“,

13 flüsterte ich erregt.

14 Merklich begann sie zu zittern. „Nein, nur diese

15 Kopfschmerzen.“ Ihre Lider flatterten. Sie drohte, nach

16 hinten zu kippen. Schweißperlen rannen über ihr heißes

17 Gesicht. Ohne zu zögern, riss ich sie vom Boden hoch.

18 Willenlos ließ sie es zu, vom Lagerfeuer weg Richtung Häuser


19 geführt zu werden. Es war eine sternenklare Nacht. Dunkel

20 und gefährlich.

21 „Tim“ Kays warmer Atem berührte meine Wangen. „Ich, ich

22 habe Angst.“

23 Ein schwarzer Vogel, in der Dunkelheit nur als ein

24 Schatten erkennbar, schoss auf uns herab. Sekunden konnte

25 ich in die blutunterlaufenen Augen sehen, die voller Gier

26 auf ihr nächstes Opfer warteten. Aasgeier, sie waren immer

27 da, wenn jemand starb. Zu dieser Zeit machte ich mir noch

28 wenig Gedanken über solche Dinge. Erst später, als ich mich
29 oft mit dem Tod auseinandersetzen musste, verstand ich

30 allmählich. Im Dorf war es still, totenstill. Die Lieder

12
1 waren verstummt. Nur das gelegentliche Krächzen der Geier

2 durchbrach das Schweigen.

3 In meinem Hals kitzelte leichter Brechreiz, doch ich

4 unterdrückte meine Panik. Kay brauchte jemand, der sie

5 beschützte. Ich klopfte an ihrer Haustür, in der Hoffnung

6 ihre Eltern seien daheim; ich irrte. Meine Verzweiflung

7 wuchs mit jedem Augenblick, in dem wir alleine waren. Wäre

8 doch nur Papa hier! Papa, der lieber mit Fremden im Cafe

9 saß, anstatt mir zu helfen. Der Schlag traf mich mitten ins

10 Herz, doch er zeigte mir, wohin ich gehen musste: Nach

11 Hause. Hastig packte ich Kays Arm und zerrte sie zur Hütte

12 Sollte Papa mich nur am Morgen schlagen! Wie ein großer

13 Bruder legte ich meine Freundin auf das freie Bett in meinem

14 Zimmer, deckte sie zu und betete, dass sie wieder gesund

15 werden würde.

16 Ich selbst legte mich ins Bett, beobachte wie sich ihr

17 Bauch langsam unter der Decke senkte.

18 Stimmen. Schritte. Mit geöffneten Augen blieb ich einen


19 Moment völlig bewegungslos auf dem Rücken liegen. Kratzen,

20 ein Klopfen. Drei Uhr. Noch mehr Stimmen. Vorsichtig rollte

21 ich mich vom Bett und schlich schlaftrunken zum Fenster.

22 Wilde Schatten strichen über die Wände. Das Dorf war in das

23 harte, weiße Licht eines Scheinwerfers getaucht. Ein

24 entsetzter Schrei. Was war bloß los?

25 Meine aufsteigende Angst wandelte sich in Unbehagen.

26 Wieder ein Raubtierüberfall?

27 Halb verborgen im Schatten beugte ich mich etwas weiter

28 hervor, um besser sehen zu können. Einige Dorfbewohner


29 versammelten sich um einen Jeep. Die Art, wie sie sich

30 bewegten, beunruhigte mich. Zu hektisch. Eine Mutter drängte

13
1 ihre Kinder ins Haus zurück. Langsam kletterte ich durch das

2 geöffnete Fenster, bedacht Kay und meinen Vater dabei nicht

3 aufzuwecken. Meine rechte Hand tastete nach dem hölzernen

4 Wassertank neben dem Haus. Leere, nichts als Leere.

5 Verzweifelt versuchte ich, Halt zu finden. Ohne Erfolg.

6 Rasend stürzte ich in die braune Tiefe hinab. Ich wollte

7 nach Hilfe rufen, doch mein Schrei wurde in der Kehle

8 erdrückt.

9 Der harte, plötzliche Aufprall trieb mir alle Luft aus der

10 Lunge, sodass ich glaubte, sämtliche Rippen gebrochen zu

11 haben. Ich japste. Blut rann aus meinem Mundwinkel. Das

12 kalte Licht berührte meine brennenden Wangen. Ein langer,

13 dunkler Tunnel öffnete sich mir. Tausende Farben

14 explodierten in meinem Kopf. Magentarot, violett, jadegrün,

15 blau, türkis, goldbraun,…

16 Atme… Entsetzt schlug ich die Augen auf. Atme… Wohltuend

17 sog ich die kühle Luft in meine Lungen, wobei ich mich mit

18 schmerzverzerrtem Gesicht aufsetzte. Die Menschenmenge


19 lauschte seit meinem Sturz bewegungslos einem Todesengel,

20 wie ich ihn später nannte.

21 „… keine Rettung… unser herzliches Beileid…“

22 Die Wahrheit traf mich plötzlich wie ein Schlag. Ich

23 konnte sie an der Haltung der beiden Polizisten ablesen, die

24 verlegen und unglücklich vor ihrem Jeep standen. Und an dem

25 Tonfall der Menschen, einen, den sie anschlagen, wenn sie

26 eine schreckliche Nachricht überbringen müssen.

27 Doch erst Stunden später, als ich neben Kay am Fluss saß

28 und beobachtete, wie sich das blutrote Morgenlicht über die


29 schlammigen Wege des Dorfes ergoss, begann ich allmählich zu

30 begreifen. Mein Papa war im Himmel. Bei den Engeln und dem

14
1 lieben Gott. Der Mann, der mich jahrelang geschlagen hatte,

2 diesen Mann gab es nun nicht mehr. Einen Unfall, hatten die

3 schwarzen Engel gemeint, ein tödlicher Unfall. Wegen zu

4 hoher Geschwindigkeit hätte Marc River die Kontrolle über

5 den Wagen verloren und einem näher rasenden Baum am

6 Straßenrand nicht mehr ausweichen können. Die staubige und

7 einsame Landstraße, umgeben von tausend Pflanzen, deren

8 Namen nicht einmal ein Professor kennen mochte, überall mit

9 denselben Unebenheiten. In Deutschland hatten sie Papa nicht

10 ein einziges Mal wegen zu schnellem Fahren angehalten. Mein

11 Vater war ein vorsichtiger Fahrer. Warum also sollte er die

12 Kontrolle verloren haben? Je mehr ich darüber nachdachte,

13 desto weniger glaubte ich, dass Papa bei dieser letzten,

14 tödlichen Fahrt wirklich verunglückt war.

15 „Tim?“

16 Erstaunt blickte ich auf und merkte, dass Kay mich von der

17 Seite anstarrte. Offenbar hatte sie mich etwas gefragt.

18 Verlegen strich ich mit der Hand über meine Stirn. „…Ähm…
19 was?“ Das Mädchen seufzte. „Hab ich dir doch schon dreimal

20 gesagt, Tim. Meine Eltern wollen mit mir in die Stadt

21 fahren.“ Vorsichtig stand sie auf. „Danke, dass du gestern

22 für mich da warst. Du musst auch mal bei mir schlafen“

23 Ich nickte knapp. Die Enttäuschung, ganz alleine zu sein,

24 schmerzte sehr. Erst Mama, dann Papa und jetzt verließ mich

25 auch noch Kay. Niemand war mehr für mich da, wenn ich Hilfe

26 brauchte. Wenn ich fiel und mir die Knie blutig schlug. Wenn

27 eines meiner Modelautos kaputt ging. Wenn ich weinte oder

28 Angst im Dunkeln hatte. Ich war alleine. Alleine, alleine.


29 Lieber Gott, warum? Tränen liefen über meine Wangen. Warum?

30 Meine Hände verkrampften sich im heißen Sand. Ich fiel auf

15
1 die Knie und weinte vor Zorn und Verzweiflung. Die Sonne

2 brannte unbarmherzig auf mich herab.

3 „Timmy?“ Verwundert sah ich auf. Eine Frau strich mir

4 zärtlich das Haar aus der Stirn. Sie war meine Mutter und

5 ich wusste es. Ich versuchte, aufzustehen, doch meine Beine

6 gaben nach. Mama! Die Frau lächelte traurig. Erneut

7 versuchte ich, ihre Hand zu greifen, doch irgendetwas zog

8 mich zurück. Langsam verblasste die Gestalt. Mama! Nein, ein

9 faltiges Gesicht schob sich vor meines. Mama! Wo bist du?

10 Raue Hände rissen mich hoch, aber ich war zu erschöpft, um

11 Widerstand zu leisten…

12 Mama, Papa! Wo seid ihr? Eine unerwartete Stille hatte

13 eingesetzt, tödliches Schweigen. Dann der dumpfe Aufprall

14 eines Buches auf dem Holzboden, wieder gefolgt von

15 unaufhörlicher Stille.

16 „Tim...?“ Eine rauhe Hand strich mir sanft über die

17 brennende Wange.

18 Diese zitternde Stimme... Kay? Erleichtert wollte ich mich


19 aufrichten, doch eine Hand drückte mich zurück.

20 Kopfschütteln.

21 „Hör zu, Tim. Ich möchte mit dir reden.“ Eine geduldige

22 Männerstimme.

23 Im Winkel meines Blickfeldes bemerkte ich, wie Kays Vater

24 seine Tochter widerstrebend aus der Hütte führte. Sekunden

25 später fiel die Tür ins Schloss.

26 Mein Blick wanderte zu Keenan, dem Dorfältesten, der auf

27 dem Boden neben meiner Decke kauerte. Wir schwiegen eine

28 Weile, vermutlich, weil der Mann nach den richtigen Worten


29 suchte. Seine Hände zitterten.

16
1 „Tim“, meinte er nach einiger Zeit, „Es tut mir leid, was

2 mit deinem Vater passiert ist.“ Ich schüttelte stumm den

3 Kopf. Niemand konnte etwas für den Tod von Papa. Gott

4 alleine hatte es so gewollt.

5 „Ich habe ihn sehr gemocht. Genauso wie ich dich mag, Tim“

6 Er stockte unsicher, dann fuhr er fort: „In meinem Leben

7 habe ich sehr viele Menschen verloren, an denen ich hing.

8 Meine Eltern starben an einer Krankheit, als ich gerade mal

9 zehn Jahre alt war, also ein wenig älter war als du. Diese

10 Krankheit, Aids, ist unheilbar. An ihr sind später auch zwei

11 meiner jüngeren Schwestern gestorben, weil sie Männer in der

12 Stadt vergewaltigt haben. Ich weiß, das alles ist sehr

13 schwer zu begreifen für einen Jungen in deinem Alter. Für

14 dich ... für dich hat das Leben doch gerade erst begonnen!“

15 Keenan streichelte mir lächelnd über die Wange. Ein

16 Zittern durchfuhr meinen Körper

17 Es waren nicht die Wörter, die mir Angst einjagten,

18 sondern der Tonfall, den der Älteste angeschlagen hatte.


19 „Was wird jetzt aus mir?“, fragte ich leise, obwohl ich

20 wusste, dass mir die Antwort nicht gefallen würde.

21 „Da du in Deutschland geboren bist, wird man dort deine

22 Verwandten benachrichtigen und dich zurückfliegen lassen,

23 wenn jemand gefunden worden ist, der dich aufnimmt.“

24 „Ich habe keine Verwandten. Meine Oma ist vorletztes Jahr

25 gestorben und die Familie meiner Mama ist weggezogen, als

26 ich noch sehr klein war.“, erklärte ich, wobei ich mich

27 bemühte, nicht zu weinen. Es war mir peinlich, wie ein

28 kleines Kind zu schluchzen.


29 „Das, das tut mir leid.“

30 „Schon okay . Ich komme alleine klar.“

17
1 „Wie alt bist du, Tim?“, fragte Keenan und setzte sich

2 neben mich auf die Decke.

3 „Neun Jahre und 10 Monate.“

4 „Weißt du, es gibt nicht viele Kinder in deinem Alter, die

5 so tapfer sind wie du. Einige verändern sich. Werden wütend

6 oder verkriechen sich dauerhaft. Ich möchte dir helfen.“

7 „Danke! Es ist nur so, dass ich Angst davor habe, alleine

8 zu sein.“

9 „In Deutschland soll es schöne Kinderheime geben, in denen

10 sich immer jemand um dich kümmern kann…“

11 „Nein, Keenan, ich will hier bleiben.“ Innerlich ich

12 fühlte mich wie betäubt. Nicht schon wieder aufgeben. Kay,

13 Mathieu, ich brauchte sie doch so.

14 Keenan legte mir den Arm um die Schulter. Seine Fürsorge

15 beruhigte mich ein wenig.

16 „Wegen Kay?“

17 Ich nickte langsam. „Sie ist so etwas wie meine kleine

18 Schwester, glaube ich.“


19 „Dachte ich mir doch, dass ihr aneinander hängt. Sag, wie

20 kommst du mit ihren Eltern klar?“, erkundigte sich der Mann.

21 „Ganz gut. Sie sind nicht oft zuhause. Aber mein Papa hat

22 sie gut gekannt. Arbeitet Josefine nicht in einem Hotel in

23 Lomé?“

24 „Ja. Ich werde mit Kays Vater reden. Vielleicht lässt sich

25 eine Möglichkeit finden, dass du doch nicht zurück nach

26 Deutschland musst.“

27 Verschwörerisch zwinkerte mir Keenan zu und erhob sich

28 ächzend. „Kay? Nicolai?“


29 Sofort stürmte Herr Brown in die Hütte, dicht gefolgt von

30 seiner Tochter, die jedem meiner Blicke auszuweichen

18
1 versuchte. Der Mann, seltsamerweise nicht in Arbeitskleidung

2 sondern in weißem Hemd und kurzer Hose, schenkte mir ein

3 erleichtertes Lächeln. Seinen gestressten Gesichtsausdruck

4 schien er allerdings auch nicht in seiner Freizeit ablegen

5 zu wollen. Widerwillig hockte sich Kay neben mich auf die

6 Decke, während die Erwachsenen das Zimmer verließen, um

7 ungestört über meine Zukunft reden zu können.

8 Wir schwiegen. Mit jedem Augenblick, der verstrich, stieg

9 meine Nervosität. Würden sie mich in Deutschland in eines

10 dieser riesigen, dunklen Häuser stecken? In denen man auf

11 den Fluren die Schreie immer wieder hören kann? In denen man

12 durch eine Mauer von den anderen Spielplätzen und Kindern

13 weggesperrt wird? Und in denen man sich immer wieder

14 verlief?

15 Ich spürte, wie Kay meine Hand nahm. „Wirst du jetzt auch

16 weggehen?“ Ihre Stimme zitterte. Zum ersten Mal sah sie mich

17 direkt an. In ihren Augen bildeten sich Tropfen, die man

18 Tränen nannte. Unbeholfen legte ich den Arm um ihre


19 Schulter. Wie Bruder und Schwester. „Wirst du weggehen?“,

20 flüsterte sie nach einer Weile in mein Ohr. Kopfschüttelnd,

21 gleichzeitig nickend zuckte ich die Achseln. Verwirrung,

22 Verzweiflung, Angst. Ich wusste es nicht, ich wusste es

23 einfach nicht. Die dumpfen Stimmen der Erwachsenen erklangen

24 hinter der Holztüre. Aufgebracht schlug jemand mit der Faust

25 auf einen Tisch. Kay stand zögernd auf und legte meine Hand

26 auf ihre Brust. „Du bist immer da drin, egal wo du bist.“

27 Durch den dünnen Stoff ihres T-Shirts spürte ich ihren

28 leichten Herzschlag. Es war ein bedeutender Augenblick in


29 meinem Leben. Warum, verstand ich nicht. Doch ich wusste,

30 dass ich ihn nie vergessen würde. „Und du bist mein

19
1 allerbester Kumpel.“, fügte ich seltsam aufgeregt hinzu.

2 Stille. Nur unsere Herzschläge. Schließlich griff Kay in

3 ihre Hosentasche und zog einen kleinen Holzschwan hervor.

4 „Den kannst du haben.“ Ich schüttelte entsetzt den Kopf.

5 Dieses Tier bedeutete ihr genauso viel wie mir mein

6 Kuscheltierlöwe! „Du kannst ihn haben. Wirklich!“ Sie rieb

7 mit einer Hand ihr Auge, mit der anderen drückte sie mir ihr

8 Spielzeug an die Brust. Es war ein wunderschöner Schwan, aus

9 weißen Holz geschnitzt und mit großen braunen Augen, die

10 erwartungsvoll in die Zukunft blickten. Augen, wie Kay sie

11 hatte. Damals habe ich mir immer wieder eingebildet, diese

12 komische Liebe gäbe es nur zwischen Erwachsenen, nicht

13 zwischen uns. Aber es war wahr, ich habe es nur nicht

14 begriffen. Ich habe dieses Wesen vor mir geliebt, geliebt

15 nicht nur wie eine Schwester.

16 In meinem Blickwinkel bemerkte ich den Löwen. Meinen

17 Löwen. Den Löwen, den Mama mir geschenkt hatte, kurz bevor

18 sie uns verlassen hatte, um zu den lieben Engeln in den


19 Himmel zu gehen. Sollte ich…?

20 Ruckartig wurde die Türklinge herunter gedrückt. Die

21 beiden Erwachsenen senkten den Kopf, um mich nicht ansehen

22 zu müssen. Doch ihre Haltung machte mir bewusst, dass ich

23 verloren hatte. Mama, Papa und Kay.

24 „Dad! Tim darf doch bei uns bleiben, oder?“ Herr Brown sah

25 seine Tochter mit einem Gemisch aus Verständnis und

26 Gleichgültigkeit an. Dadurch, dass er die Frage nicht

27 beantwortete, schien sie auch nicht aus dem Raum zu

28 verschwinden. Immer und immer wieder tauchte sie in meinen


29 Gedanken auf. Tim darf doch bei uns bleiben, oder? Diese

30 Ungewissheit machte mich nervös. Ich musste es wissen.

20
1 „Du willst mich nicht, stimmt‟s?“, fragte ich trotz meiner

2 Angst, die Wahrheit zu erfahren. Solange es nicht

3 ausgesprochen war, blieb mir wenigstens die Hoffnung.

4 Verzweifelt wanderte Herr Browns Blick zu Keenan, der

5 bewegungslos in der Tür stehen geblieben war.

6 „Tut mir leid, Tim. Es geht nicht.“, flüsterte der alte

7 Mann mitfühlend. Ich nickte knapp. Nicht entsetzt, nur ein

8 wenig verwirrt. Vielleicht, weil ich damals noch nicht

9 verstanden habe, was dieses „Es geht nicht“ bedeutete. Für

10 mich war es ein „Es geht nicht“ gegen ein Spiel oder eine

11 Süßigkeit. Nicht ein „Es geht nicht“ für immer. Ich hatte es

12 geahnt und doch immer wieder verdrängt. Erst Kay zeigt mir,

13 wie ernst es war. Ihren Körper durchfuhr ein Zucken, wie

14 das, wenn man mit der Zunge über eine Batterie leckt.

15 „Was!?“, schrie sie aufgeregt.

16 Die Grüne eines Froschs stieg ihr ins Gesicht. Sie drohte;

17 sich zu übergeben. Ich wollte ihr helfen, doch meine Hände

18 fühlten sich seltsam taub an. Auch meine Füße wollte mir
19 nicht mehr gehorchen. Speichel tropfte auf den Fußboden.

20 Herr Brown stürzte auf seine Tochter zu und führte sie

21 wehrlos aus dem Haus, Richtung Wagen.

22 „Warum?“, fragte ich leise, „Warum darf ich nicht bei Kay

23 bleiben?“

24 Ein Automotor heulte auf. Durch das Fenster konnten wir

25 erkennen, wie Kays Vater den Rückwärtsgang einlegt.

26 Augenblicke später Staub wurde aufgewirbelt. Als er

27 verschwand, war Kay wie die Sandkörner davon geblasen

28 worden. Widerstandslos. Einfach weg.


29 „Wenn du erwachsen bist, wirst du es verstehen.“ Tröstend

30 wollte Keenan den Arm um mich legen, doch ich stieß ihn von

21
1 mir. Sie hatten mir das Letzte genommen, was mir noch

2 geblieben war: Meine Freunde. Wenn du erwachsen bist - ist

3 die Welt immer noch so, wie sie ist. Rund und mit vielen

4 ekligen Menschen, die dir nicht helfen können oder wollen!

5 Ich hasse euch! Euch alle! Meine Angst wandte sich zur

6 dumpfen Wut, die mir langsam in den Kopf stieg. Niederlagen

7 häuften sich. Erbost stand ich vor Keenan, mit aufgeplatzten

8 Lippen, geöffnete zu einem Schrei, der augenblicklich in

9 meiner Kehle erstickt wurde.

10 Tränen schossen mir in die Augen, doch diesmal

11 unterdrückte ich sie nicht. Sollten diese Monster doch nur

12 denken, was sie wollten! Ich war doch erst neun! In Keenans

13 Blick lag etwas Mitfühlendes, doch das war mir egal. Er hat

14 mir nicht geholfen, als es nötig war, also brauchte er mich

15 auch jetzt nicht, zu bemitleiden.

16 „Tim, es…“, fing er mit seiner rauen Stimme an. Ich

17 wusste, was er sagen wollte. Instinktiv wusste ich es. Es

18 tut mir Leid. Aber davon konnte ich meinen Vater und Kay
19 auch nicht zurückholen. Erst jetzt begann ich allmählich

20 wirklich, um Papa zu trauern.

21 Bisher war es für mich ein Traum, ein Albtraum, doch ich

22 verstand, dass es ein Albtraum war, aus dem ich nie wieder

23 erwachen würde. Nie wieder.

24 Warum? Reichte es dir nicht, Gott, dass du schon Mama und

25 Oma hattest? Brauchtest du auch noch Papa? Warum hilfst du

26 mir nicht? Bin ich dir nicht so viel wert wie andere? Okay,

27 ich gebe zu, ich habe einige schlechte Dinge im Leben getan.

28 Ich habe das letzte Weihnachten versaut, weil ich Mamas


29 Engel fallen gelassen habe. Papa hat mich fürchterlich

30 geschlagen und gesagt, du würdest mich dafür bestrafen. Aber

22
1 ich wollte das doch alles gar nicht! Und das mit Hendriks

2 Rittersporttäfelchen. Die hatte ich auch nicht klauen

3 wollen. Wirklich nicht. Ich bin doch kein Dieb! Wenn du böse

4 auf mich bist, warum hast du dann Papa genommen und nicht

5 mich? Er hat nie etwas Ungerechtes getan, Gott. Er war doch

6 mein Papa!

7 Warum hast du ihn tot gemacht? Sag es mir! Warum?

8 „Tim? Kleiner, beruhige dich. Alles wird gut.“

9 Augenblicklich kehrte ich in die Wirklichkeit zurück und

10 mit mir meine Wut.

11 Papa ist tot. Und ihr alle, ihr seid schuld daran! Ich

12 konnte nicht mehr. Aus, aus, aus. Das Spiel ist aus.

13 Deutschland ist nicht Fußballweltmeister. Erbost schnappte

14 ich mir den Kuscheltierlöwen und stürmte aus der Hütte, ohne

15 von Keenan aufgehalten zu werden.

16 Im Dorf war niemand zu sehen. Benjim und Karim waren mit

17 den älteren Kindern zum Betteln in die Stadt gelaufen,

18 während ihre Eltern auf dem Feld arbeiten. Mathieu trieb


19 sich seit Tagen am Fluss herum, um zu angeln, sowie es sein

20 Vater getan hatte, bevor auch Gott ihn in den Himmel geholt

21 hatte, obwohl er bisher kaum etwas Bedeutendes fing.

22 Der heiße Sand brannte unter meinen Füßen, als ich jetzt

23 zum Fluss rannte, zu dem Einzigen, der mich neben Kay noch

24 verstand. Schweiß rann über mein Gesicht.

25 In der kahlen Krone eines alten Baumes hockten die

26 Aasgeier. Kreischend lauerten sie auf ihr Opfer. Versteckt

27 in einer Nichte, streckten die Jungen ihre Hälse und

28 bettelten um Futter, bis die Eltern mit Fleisch zurückkamen.


29 Karim und Benjim hatte einmal Steine nach den Vögeln

23
1 geworfen und eines der Tiere erwischt. Dafür habe ich sie

2 gehasst.

3 Mathieu hockte auf einem Stein. Als ich hinter einem Baum

4 hervortrat, verfolgten seine klugen, dunklen Augen neugierig

5 jede meiner Bewegungen. Grinsend klopfte er neben sich auf

6 den Boden. Seine offene Art unterschied ihn deutlich von den

7 anderen Dorfbewohnern, die sich gegenüber Fremde

8 misstrauisch und distanziert verhielten. Vermutlich, weil

9 sein großer Traum, eines Tages zu verschwinden, immer noch

10 existierte.

11 „Willst du mal sehen, was ich gefunden habe, Timothy?“

12 Seine Stimme überschlug sich beinahe vor Aufregung, als ich

13 mich neben ihn auf den Stein hockte.

14 Stolz hob er den Deckel einer alten Blechbüchse. Eine

15 Münze, ein wahrer Schatz für jemanden, der so arm war wie

16 Mathieu.

17 „Wenn ich morgen in die Stadt gehe, kaufe ich uns was

18 richtig Tolles zum Essen. Du kannst auch kommen, wenn du


19 willst.“

20 „Okay.“ Reflexartig wandte ich mich ab. Denn ich wusste,

21 er würde bemerken, dass ich log, wenn er mir in die Augen

22 sah. Die Sonnenstrahlen, die vom Wasser zurückgeworfen

23 wurden, blendeten uns.

24 „Du kommst nicht, oder?“ Mathieus freie Hand umklammerte

25 meine Schulter. Weiß trat der Knochen durch die dünne,

26 hellbraune Haut hervor.

27 Schweigen. Was sollte ich auch sagen, wenn ich die Antwort

28 selber nicht einmal begriff?


29 Ich muss zurück nach Deutschland, weil die Erwachsenen es

30 so wollten?

24
1 Die Geier kreisten über uns. Einer schoss herab aufs

2 Wasser, bohrte seine Klauen in den Körper eines Fisches und

3 trug das hilflos zappelnde Tier davon. Mitfühlend sah ich

4 dem Fisch nach. Zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen.

5 Er würde heute Abend nicht mehr zu seinen Eltern und Kinder

6 zurückkehren. Nie mehr. Dafür würde der Vogel überleben.

7 Fressen oder gefressen werden…

8 „Mathi ... Ich ... Mein Vater ist letzte Nacht gestorben

9 und Keenan will nicht, dass ich bleibe.“ Es fiel mir schwer

10 darüber zu reden, obwohl ich wusste, dass mein Freund mich

11 verstand. Seine Eltern sind irgendwann abends auch nicht

12 mehr von der Arbeit nach Hause gekommen, so wie viele

13 andere, die er aus dem Dorf kannte. Gerüchte, dass sie einen

14 Unfall gehabt hätten, waren herumgegangen. Mathieu jedoch

15 glaubte ihnen nicht. In seinen Gedanken leben seine Eltern

16 in einer besseren Welt mit viel Essen und wenig Angst.

17 „Du willst abhauen, ohne mich mitzunehmen? Was für ein

18 Feigling bist du denn?“


19 Erbost rammte er mir den Ellbogen in den Bauch und sprang

20 auf.

21 „Ich bin kein Feigling.“, erwiderte ich verbittert. Mein

22 Magen verkrampfte sich an der Stelle, an der Mathieu mich

23 getroffen hatte. Ein Tränenschleier ließ das Bild

24 verschwimmen.

25 Mathieu war in einiger Entfernung stehen geblieben, den

26 Blick von mir abgewandt, als existiere ich nicht. „Ich

27 dachte, wie wären Freunde.“ Verzweifelt versuchte ich, ein

28 Schluchzen zu unterdrücken. Indianer weinen doch nicht!


29 Mathieu lachte. „Und da fragst du mich nicht, ob ich mit

30 dir abhaue?“

25
1 „Du willst mitkommen?“ Mein verwirrtes Gesicht musste ihm

2 verraten haben, dass ich es ihm nicht abnahm.

3 „Klar. Großes-Spanien-Ehrenwort!“ Grinsend hob er Zeige-

4 und Mittelfinger zum Eid, sowie wir es immer getan haben,

5 als wir vor Wochen - oder waren es Monate gewesen? - im

6 Schatten der Häuser von den Abenteuer und Geschichten

7 erzählt hatten, die wir eines Tages erleben wollten. Wenn

8 ich heute darüber nachdenke, frage ich mich, warum damals

9 nicht einfach die Zeit hätte stehen bleiben können. Und

10 immer wenn ich mich danach gesehnt hätte, wieder auf Bäume

11 zu klettern und Indianer zu spielen, wären meine Freunde da.

12 Karim, Benjim, Mathieu und Kay. „Hör zu. Wir treffen uns um

13 Mitternacht hinter deiner Hütte. Pack ein paar Sachen

14 zusammen und Geld…“, fuhr der Junge fort, wobei er mit einem

15 Stock in den Sand malte.

16 „Aber ich kann doch nicht Papa beklauen!“, stieß ich

17 erschrocken hervor, widerwillig ablenkend, was ich da gerade

18 gehört hatte. Mathieu verlangte doch nicht etwa von mir,


19 dass ich zum Dieb werde!

20 „Dein Vater braucht das Geld, dort wo er ist, nicht mehr.

21 Aber da, wo wir hingehen…“

22 „Wohin willst du?“

23 Mathieu zuckte mit den Schultern „Weiß nicht. Einfach weg

24 von hier.“

25 „Okay.“

26 „Aber den anderen erzählen wir nichts davon.“

27 „Auch nicht Kay?“

28 „Nein. Die ist eine Petze.“


29 Instinktiv wollte ich Kay beschützen, doch ich musste

30 widerstrebend zu geben, dass sie uns wahrscheinlich

26
1 tatsächlich aufgehalten hätte. In Dingen, wie diesen, waren

2 wir immer verschiedener Meinung gewesen. Vermutlich weil Kay

3 ein Mädchen war und zwar das Erste, mit dem ich je gespielt

4 habe. Wäre ich auch damals in Köln mit einer Freundin nach

5 Hause gekommen, hätte Papa mich lachend in der Tür empfangen

6 und spöttelnd gesagt: „So ein kleines Weichei und doch schon

7 eine Freundin.“

8 Hier in Afrika schien es ihn nicht mehr zu interessieren,

9 mit wem ich zusammen war.

10 Überhaupt schien es ihm egal, was die Menschen von ihm

11 hielten. Hauptsache, niemand klaute ihm seine Pfeife, die er

12 seit unserer Ankunft beinahe immer zwischen den Zähnen trug.

13 Gelegentlich stieg eine betörende Rauchwolke auf, die mich

14 oft schläfrig gemacht hatte. Diese Pfeife sei nichts für

15 kleine Kinder, hat er mir immer wieder eingebläut. „Warum

16 nicht, Papa?“ Mein Vater hat sich abgewendet, die Pfeife an

17 seine Lippen genommen. Momente habe ich geglaubt, er werde

18 mich nun schlagen. Doch seine Muskeln haben sich entspannt


19 und er hat, ohne mich anzusehen, die Achseln gezuckt,

20 während erneut eine Wolke über seinem Kopf aufgestiegen ist.

21 „Weil es so ist, Tim.“, hat er ruhig gemeint, sich auch das

22 Bett gelegt und auf dem Rücken liegend zur Decke gestarrte,

23 „Geh jetzt spielen. Deine Freunde warten sicher schon auf

24 dich.“

25 Allmählich habe ich begriffen, dass mein Vater zuerst

26 Haschisch und später auch Marihuana abhängig gewesen war.

27 Dies ist für mich der wahre Grund, warum er sterben musste.

28 „Tim? Hey, bist du da?“


29 Mathieus Stimme holten mich aus meinen Erinnerungen

30 zurück. Mit besorgter Miene klopfte er auf meine Schulter.

27
1 „Wenn es unbedingt sein muss, kannst du es Kay sagen. Aber

2 nur Kay, verstanden?“, fuhr er seufzend fort und holte

3 erneut die leere Leine ein.

4 Ich nickte. „Okay.“

5 Ein Geier landete unmittelbar vor unseren Füßen. Wie ein

6 König, schritt er, das braune Gefieder angelegt, wie einen

7 teuren Mantel, über das Sandmeer, welches sich wie ein

8 Königreich unter seinen scharfen Krallen beugte. In seinem

9 gierigen Schnabel hingen blutige Fetzen des letzten Opfers.

10 Mein Blick folgte dem listigen Vogel, einem Tier, das sich

11 den Tod eines anderen zu Nutzen machte. Widerwillig musste

12 ich zugeben, dass es mich faszinierte. Die Geier fraßen nur

13 diejenigen, die schon tot gemacht worden waren. Ob sie auch

14 Papa stückweise in ihren hungrigen Mäulern trugen?

15 Augenblicklich kitzelte der Brechreiz in meinem Hals.

16 Rasch sprang ich auf. „Ich muss gehen. Bis um Mitternacht

17 dann.“ Der bittere Geschmack lag immer noch auf meiner Zunge

18 „Aber verschlaf nicht! Sonst wachst du einen Kopf kurzer


19 wieder auf.“

20 Ich grinste. Diesen Spruch hatte ich schon öfters gehört,

21 nur mit dem Unterschied, dass Papa ihn immer ernst genommen

22 hatte. Im Blickwinkel bemerkte ich einen Aasgeier,

23 denselben, der noch zuvor über den Sand stolziert war. Nun

24 landete er mit solcher Eleganz auf dem Wasser, dass er mir

25 beinahe wie ein Mensch vorgekommen wäre. Die klugen, dunklen

26 Augen spähten auf die glitzernde Wasseroberfläche. Scheinbar

27 zufrieden räkelte er die Feder im Licht der glühenden Sonne

28 und stieß einen Schrei aus.


29 „Kann Kay nicht mitkommen?“, fragte ich im Fortgehen. Mir

30 gefiel die Vorstellung nicht, dass sie alleine

28
1 zurückzulassen. Bei diesen dummen, ekligen Menschen, die uns

2 sowieso nicht verstanden.

3 „Glaubst du, ihr Vater würde sie gehen lassen?“

4 Ich schüttelte den Kopf. „Nein, aber…“ Aber wenn er Kay

5 wirklich lieben würde, dann ja. Dann würde er auch

6 verstehen, wie sie sich fühlt, wie ich mich fühle.

7 „Siehst du.“, unterbrach mich Mathieu achselzuckend und

8 warf erneut die Leine aus. Ehrgeizig wie beim ersten Mal,

9 obwohl er ahnen musste, dass er nichts fing.

10 „Du magst sie nicht, oder?“ Warum bist du immer so

11 abwertend gegenüber Kay? Weil sie aus Schottland kommt und

12 mehr besitzt als du? Warum hasst du dann nicht auch mich,

13 Mathieu?

14 „Sie ist ein Mädchen und Mädchen sind nun mal… anders.

15 Seltsam halt. Sie brauchen ständig einen Beschützer und,

16 glaub mir, für Kay ist es das Beste, wenn sie uns nicht

17 folgt. Da draußen gibt es böse Menschen, die ihr wehtun

18 könnten und…“
19 „Kay kann prügeln.“ Energisch hob ich mein T-Shirt und

20 deutete auf einen langen Kratzer am Rücken: „Hier.“

21 „Du bist blöd, Tim, wenn du denkst, es ginge nur ums

22 Prügeln. Dein Vater… Bist du sicher, dass er einen Unfall

23 hatte?“

24 Seine Frage irritierte mich. Dein Vater… Bist du sicher,

25 dass er einen Unfall hatte?

26 „Lass Papa aus dem Spiel!“, brüllte ich zornig.

27 „Schon gut. Reg dich nicht gleich so auf. Aber ich würde

28 mal darüber nachdenken.“


29 „Nur weil deine Eltern dich im Stich gelassen haben,

30 müssen meine dies nicht auch tun!“

29
1 Ohne ein weiteres Wort wandte Mathieu sich ab und starrte

2 schweigend auf die wie ein Diamant glänzende Wasserschlange

3 herab, die sich Richtung Norden davon schlängelte.

4 Es war seltsam, dass er nichts sagte. Kein Wort. Ich

5 wartete, doch er schwieg. Ob er traurig war, weil seine

6 Eltern ihn alleine gelassen haben?

7 „Ich gehe. Bis heute Abend.“

8 Immer noch keine Regung. "Mathieu, rede mit mir!", formten

9 meine Lippen, doch ich bekam keinen Ton heraus. Surrend

10 landete ein Insekt auf dessen brauner Haut, stach den langen

11 Rüsseln in das Fleisch und saugte, wie ich am Strohhalm

12 eines Capri Sonne, genüsslich das rote Sirup.

13

14 Die Hütte erschien mir leer, seit Vater fort war. Niemand

15 erwartete mich, um mir zu sagen, dass ich großen Ärger

16 bekommen würde, weil ich zu spät nach Hause kam. Niemand lag

17 auf dem alten, abgenutzten Sofa und rauchte an der Pfeife,

18 während ich am Tisch saß und in dem Essen von gestern


19 herumstocherte.

20 Das Holz knarrte unter meinen bloßen Füßen. Die

21 verbleichte Blumentischdecke, die als Vorhang diente,

22 flatterte im aufkommenden Wüstenwind. An der Wand neben der

23 Küchenuhr hing noch der Kalender mit den teuren Autos.

24 Vorsichtig nahm ich ihn zur Hand und kletterte auf das Sofa.

25 In viele Kästchen waren fremde Namen gekritzelt. Meinen

26 eigenen entdeckte ich nirgends. Der 25. Mai war rot umkreist

27 und in seiner Mitte stand eine wirre Kombination aus

28 Buchstaben und Zahlen. Kamikaze. Papa hatte oft seltsame


29 Zaubersprüche gesagt oder geschrieben, seit er

30 herausgefundenen hatte, dass ich besser lesen und schreiben

30
1 konnte, als normale Kinder in meinem Alter. Daheim in

2 Deutschland habe ich immer geglaubt, mein Vater sei ein

3 Zauber, wenn er sich in seinem Arbeitszimmer einschloss, um

4 ungestört zu sein. Manchmal habe ich deshalb an der Tür

5 gelauscht und Gespräche mit einem komischen Mann

6 mitbekommen. Einen Papagei, wie ich ihn nannte. Er hat immer

7 alles nachgeplappert, was Papa ihm erzählte, und damit

8 später richtig Kohle gemacht. Jedes Mal wenn dann Papa von

9 der Arbeit nach Hause gekommen ist, hat er seine Wut an mir

10 ausgelassen und mir eingebläut, nicht irgendwelchen

11 Hohlköpfen zu vertrauen. Warum er doch immer wieder auf die

12 Tricks reinfiel, wie ein dummes, kleines Kind, habe ich nie

13 verstanden. Hätte er doch die Papageie schlagen sollen! Die

14 waren doch Schuld, dass Papa plötzlich mit einem Stängel

15 zwischen den Zähnen unsere Wohnung verdampft und mich dafür

16 verantwortlich machte, dass aus ihm ein Vater geworden ist,

17 zu dem nur einer aufschaut und nicht alle anderen.

18 Als Erinnerung schrieb ich mir den Spruch in die


19 Handfläche und riss die Seite mit dem teuren Ferrari

20 Porsche, den Papa immer hatte fahren wollen, aus dem

21 Kalender. Kamikaze - was das wohl bedeutete? Vielleicht

22 konnte man damit die Zeit zurückdrehen. Nein, vermutlich

23 nicht. Dann hätte Papa längst Mama von den Engel

24 zurückgeholt und Oma auch.

25 Schließlich hat er abends im riesigen Ehebett geweint und

26 geschrien wie ein Baby, dem man seinen Schnuller weggenommen

27 hatte. Wenn ich ihn nach Mama fragte, ist er immer

28 verletzlich gewesen.
29 Während ich den Kalender achtlos auf den Tisch warf, blieb

30 mein Blick an dem zerknitterten, verblassten Foto auf der

31
1 Kommode hängen. Es zeigt eine glückliche, junge Familie am

2 Strand. Hinter ihnen verschwindet die Sonne langsam vom

3 Horizont. Der Vater, ein gepflegter Mann, Mitte dreißig, in

4 Hemd und Shorts gekleidet, hält ein wunderschöne, schlanke

5 Frau im Arm. Mit dem langen, blonden Haar, welches vom

6 frischen Meerwind erfasst wird, und dem luftigen, weißen

7 Sommerkleid wirkt sie beinahe wie ein Engel. Ein kleiner

8 Junge, in der einen Hand ein Surfbrett haltend, schaut zu

9 ihnen auf, während Wellen sanft seine Füße umspielen. Das

10 hellbraune Haar klebt nass in seiner Stirn… Es war ein

11 Augenblick voller Bedeutung gewesen. Ich habe ihn nie

12 vergessen. Es sollte einer der letzten gemeinsamen

13 Erinnerungen sein. Für immer. Mama, warum hast du Papa und

14 mich alleine gelassen? Wir brauchten dich doch so sehr. Ich

15 brauche dich.

16 Erschrocken fuhr ich plötzlich hoch. Die Küchenuhr schlug

17 zwölf Mal, dann war es wieder ruhig. Gestern war Papa noch…

18 Nein, ich wollte nicht darüber nachdenken! Ich durfte nicht!


19 Das Denken war es, was ihn durcheinander gemacht hatte und

20 was nun auch mich durcheinander machen würde. Was wäre wenn…

21 Ich hatte das Spiel oft genug mit Kay gespielt. Was wäre,

22 wenn ich ein Vogel wäre… Was wäre, wenn ich du wäre und du

23 ich… Kopfschüttelnd sprang ich vom Stuhl und rannte, das

24 Foto, die Kalenderseite und den Kuscheltierlöwen immer noch

25 in der Hand, in mein Zimmer. An der Tür hing mein blauer

26 Eastpack-Rucksack Über einen Legostein stolpernd riss ich

27 ihn vom Hacken und sah mich verzweifelt im Zimmer um. Es

28 herrschte wie immer Chaos. Wenn Papa jetzt hier wäre, hätte
29 er wieder einen Grund gehabt, mich zu schlagen und

30 anzuschreien, obwohl er selber ein noch größerer Chaot war.

32
1 Erneut ertappte ich mich im Nachdenken und seufzte. Das

2 musste doch endlich mal ein Ende habe! Vorsichtig, ohne über

3 ein Modelauto oder die Steine zu fallen, schlich ich zu

4 meinem Bett und zog die Schublade meiner grob zusammen

5 gezimmerten Kommode auf. In ihr lagen der Gameboy Color und

6 jede Menge Krimskrams, der sich dort mit der Zeit angestaut

7 hatte. Mit beiden Händen nahm ich die Sachen heraus und

8 begann sie zu durchsuchen. Eine kaputte Benjamin Blümchen-

9 Uhr, abgelaufene Lollis, ein altes Freundebuch, Taschenlampe

10 und -Messer, Schachfiguren, die Indianerfeder und das

11 Wichtigste: Mamas Ring. Papa hat ihn in einer winzigen

12 Porzellantruhe aufbewahrt und beschützt, wie ein Drache

13 seinen goldenen Schatz. Als wir hierher nach Afrika zogen,

14 hatte er ihn auf den weißen Marmorgrabstein gelegt, damit

15 Mamas Geist sich nicht verirrte und ruhelos in der Gegend

16 herumstreunte, ohne uns zu finden. Aber ich habe Mama

17 zurückgeholt. Ich konnte sie doch nicht Deutschland alleine

18 lassen, bei all dem Lärm der Autos und dem grellen Licht der
19 Laternen! Behutsam wog ich den silbernen Ring in meiner Hand

20 und bettete ihn dann in meine Dose, die mir die Zahnfee

21 geschenkt hatte, weil ich so tapfer gewesen bin, als ich mir

22 den ersten Zahn an der Tischkante ausschlug. Zusammen mit

23 dem Gameboy, der Taschenlampe, dem Messer, der Kalenderseite

24 und zwei meiner Lieblingsautos warf ich sie in den Rucksack.

25 Auf einen Stuhl kletternd langte ich nach Papas Geldkassette

26 auf dem Küchenschrank. "Ich bin doch kein Dieb!", meldete

27 sich mein Gewissen. Augenblicklich zuckte meine Hand zurück.

28 "Nimm es!", befahl mein Egoismus. Widerstrebend musste ich


29 zugeben, dass Papa dort wo er jetzt war, dass Geld

30 tatsächlich nicht mehr brauchen würde. Die Kassette war mit

33
1 einem kleinen Schloss versehen; den Schlüssel versteckte er

2 in der Zuckerdose. Ich hatte ihn oft heimlich dabei

3 beobachtet, wie er immer wieder viele Scheine herausnahm,

4 aber nur selten welche zurücklegte. Vorsichtig drehte ich

5 den Schlüssel herum und lauschte dem befriedigenden Klicken.

6 Das Innere der Kassette war zur Hälfe mit CFA-Scheinen

7 gefüllt, darunter lagen zwei Sparbücher, eines von meinen

8 Eltern und eins von mir. Unsicher nahm ich ein Bündel

9 Scheine heraus, ließ es durch meine Finger fahren und legte

10 es in das vordere Fach meines Rucksackes. Noch nie hatte ich

11 so viel Geld besäßen. Was ich mir dafür alles kaufen könnte!

12 Mehr Legosteine, ein neues Gameboy-Spiel und… und nichts.

13 Mit jeder Münze, die ich wegwarf, würde ich auch Papa ein

14 Stück weit verkaufen. Ein Klopfen ließ mich hochstecken.

15 Hastig stopfte ich das letzte Bündel in den Rucksack und

16 sprang vom Stuhl. Während ich fieberhaft überlegte, ob ich

17 die Tür öffnen sollte, trat ich die Tasche unter das Sofa.

18 Erneut klopfte es, diesmal härter und energischer. „Tim? Ich


19 weiß, du bist da drin und mich nicht sehen möchtest. Das

20 musst du auch gar nicht, aber hör mir bitte zu, ja?“,

21 erklang ein durch das Holz der Tür gedämpfte Männerstimme.

22 Neugierig sank ich hinter der Tür zusammen. Warum kamen

23 Erwachsene im Nachhinein, um sich zu entschuldigen, obwohl

24 sie es nicht so meinen? „Es tut mir Leid, Tim. Das mit

25 deinem Vater und mit Kay. Herr Brown ist in die Stadt

26 gefahren, um mit der deutschen Botschaft zu sprechen. Doch

27 ich denke, bis sie deinen Pass neu beantragen und alles

28 geklärt haben, bleiben uns noch ein, zwei Tage. Wir könnten
29 ein kleines Abschiedsfest feiern, wenn du möchtest. Mit

34
1 Panflöten. Du magst doch, Panflöten, nicht wahr?“ Ich

2 antwortete Keenan nicht. Ein, zwei Tage…

3 „Du bist ein lieber Kerl, Tim. Ich bin mir sicher, du

4 wirst in Deutschland neue Freunde finden. Stell dir einfach

5 vor, das alles wäre ein böser Traum gewesen.“

6 Ein böser Traum, aus dem ich nie wieder erwache… Meine

7 Hände begannen merklich zu zittern. Ich versuchte, mir Kay

8 vorzustellen, wie sie morgen zurück in diesen Traum gestoßen

9 würde, wenn sie herausfand, dass Mathieu und ich abgehauen

10 waren. Arme, Kay!

11 „Tim? Tim!“ Keenan hämmerte erneut gegen die Tür, wie ein

12 wildes Tier in seinem Käfig. Nach einigen Sekunden beruhigte

13 er sich wieder und seufzte tief. „Ich lasse dich jetzt

14 alleine. Wenn du Hilfe brauchst, egal welche, komm einfach

15 rüber, okay?“ Ächzend stemmte er sich hoch. Der Sand ließ

16 seine Schritte schnell verklingen. Hastig eilte ich zum

17 Fenster und spähte im Schutz des Vorhangs heraus.

18 Regenbogenfarbenes Benzin spiegelte sich im Licht der Sonne.


19 Irre Reifenspuren zeichneten sich am Boden ab. Ob Kay noch

20 heute Abend nach Hause kam und mich besuchte? Oder hatte man

21 es ihr verboten, weil ich ein schlechter Umgang für sie war?

22 Der weiße Schwan kratzte in meiner Hosentasche. Weiße Feder

23 und kluge, braune Augen. Augen voller Trauer und

24 Gerechtigkeit. Gab es überhaupt so etwas wie Gerechtigkeit?

25 Ich zweifelte daran. Wenn es Gerechtigkeit gäbe, wäre Mama

26 nicht tot. Außerdem: Mathieu und die anderen glaubten nicht

27 an den Gott. Warum sollte es ihn also geben? Vielleicht war

28 alles nur eine Illusion, eine erfundene Geschichte, um


29 jemanden die Schuld zu zuschieben, wenn man etwas verbrochen

30 hatte. Ich wusste es nicht. Niemand wusste es. Gott, wenn es

35
1 dich gibt, hör mir zu. Mein Ruf hallte durch die leeren

2 Räume des Hauses. Du hast Mama, Oma und Papa zu dir geholt.

3 Und Strupi, mein Meerschweinchen. Das war meine Familie.

4 Jeden Einzelnen von ihnen hast du mir weggenommen. Warum?

5 Weil es für dich wie ein Computerspiel ist? War das der

6 Grund? Oder Eifersucht, weil du ständig alleine bist? Mir

7 ist es egal, wer du bist oder wie sehr dich alle bewundern,

8 Gott. Meinetwegen schick mich in die Höhle oder sonst wohin.

9 Ich werde nie aufhören, für das zu kämpfen, was sich

10 Gerechtigkeit nennt. Und noch in tausenden Jahren wirst du

11 an mich denken und bereuen, welchen Fehler du damals gemacht

12 hast, als du sie alle zu dir nahmst…

13 Verstollen warf ich einen Blick auf das Holzkreuz über dem

14 Sofa. Was ich genau erwartete, wusste ich nicht. In manchen

15 Horrorfilmen wäre jetzt vielleicht ein schwarzes Loch

16 erschien und eine Hand, die mich in die niemals enden

17 wollende Finsternis zog. Aber das hier war nichts

18 Erfundenes. Das war die Realität.


19 Der zerknitterte Brief in meiner Hosentasche gab mir das

20 Gefühl, eine scharfe Bombe bei mir zu tragen. Am liebsten

21 hätte ich ihn einfach zerrissen, doch ich unterdrückte

22 diesen Impuls. Hastig ließ ich meinen Blick über die

23 ausgebrannte Feuerstelle schweifen. Ein riesiger Schatten

24 verdeckte für Sekunden die untergehende Sonne. Ein Aasgeier

25 segelte über den rot, blauen Himmel davon. Die Küchenuhr

26 hatte fünf Mal geschlagen, aber in dieser Welt hätte es

27 genauso sieben sein können. Dieses Paradies war zeitlos.

28 Gestern war es rot, heute ist es rot, morgen wird es rot


29 sein. Ein letztes Mal vergewisserte ich mich, dass mich

30 niemand beobachtete, dann rannte ich nach Norden. Es war

36
1 nicht schwer die Bucht zu finden, wenn man den Weg kannte.

2 Und meine Füße liefen von alleine.

3 Zu meinen Schuhen gesellte sich ein weiteres Paar. Das

4 Herz pochte wild in meiner Kehle, doch ich blieb nicht

5 stehen, um nach Luft zu schnappen. Bald erreichten wir die

6 Stelle, an der die Wasserschlange einem Knick machte.

7 Atemlos blieb ich stehen. Kays Hand verkrampfte sich in

8 meiner und wir starrten Augenblicke lang in den Himmel.

9 Leise murmelte das Wasser seine Melodie dazu. Kay zitterte

10 ein wenig, vor Aufregung, vielleicht auch vor Angst.

11 Schließlich war es die Echsenbucht gewesen, zu der wir

12 laufen konnten, wenn uns die anderen geärgert hatten. Die

13 Steine waren noch warm vom Licht der Sonne. Kay hinter mir

14 herziehend, stieg ich den Hang zum Fluss herab. Erschrocken

15 huschten einige Salamander in ihre Verstecke. Als wir das

16 erste Mal an diesem Ort gewesen waren, hatten wir versucht,

17 sie zu zählen und zu fangen, doch immer wenn wir glaubten,

18 einen gehabt zu haben, floh er aus unseren Händen. Daher


19 hatten wir diese Bucht benannt. Ich mochte die Echsen. Diese

20 kleinen geselligen Tiere. Sie hassten uns Menschen und

21 trotzdem hatte ich jedes Mal das Gefühl. als lauschten sie

22 uns, versteckt in ihren Unterschlüpfen. Mit einem letzten

23 Aufblitzen verschwand die Sonne hinter dem Horizont, wartend

24 auf einen neuen Tag. Meine Hände fühlten sich seltsam taub

25 an, wenn ich an den Morgen dachte. Doch merkwürdigerweise

26 war ich nicht ängstlich. Nur ein wenig verwirrt. Irgendwie

27 hatte ich geahnt, dass es so weit kommen würde.

28 Erschöpft ließ ich mich am Wasser zu Boden sinken und


29 malte mit dem Finger im Sand. Kay lächelte - wie immer, wenn

30 sie nicht wusste, was sie zu tun oder zu sagen hatte.

37
1 Schließlich legte sie ihren Kopf auf meine Brust und drückte

2 meine Hand fest, als wolle sie diese nie wieder loslassen.

3 Ein Stein bohrte sich zwischen meinen Schulterblättern, doch

4 ich fand nicht den Mut, mich erneut aufzurichten. „Weiß du

5 was! Sulkan hat mich gefragt, ob ich mit ihm spielen will,

6 als ich heute in der Schule erzählt habe, dass du

7 weggehst.“, meinte Kay nach einiger Zeit. Ihre Atmung ging

8 gleichmäßig, jedenfalls hatte es den Anschein, als sei sie

9 ruhig. Doch tief im Inneren war sie wütend und enttäuscht.

10 „Was hast du ihm gesagt?“

11 „Dass er bäh ist und so. Ständig läuft ihm der Sabber aus

12 dem Mund. Ich hasse diesen Schnösel. Bloß, weil seine Eltern

13 eine Weberei besitzen! Und außerdem bist du mein bester

14 Freund und das ändert sich auch in tausend Jahren nicht.“

15 Ich nickte und war froh darüber, dass Kay in der

16 Dunkelheit nicht sah, wie ich errötete. Behutsam legte ich

17 einen Arm um sie. Wir schwiegen und trotzdem verständigten

18 wir uns auf eine seltsame Art und Weise. Instinktiv wusste
19 ich, was sie dachte und empfand, und ich glaubte, dass sie

20 es auch tat. „Tim, du darfst nicht weggehen. Deutschland ist

21 so weit und…“, flüsterte Kay. Ihre Tränen kitzelten auf

22 meiner Brust. Momente rang auch ich um meine Beherrschung.

23 Gemeinsame Erinnerungen rauschten an mir vorbei. Das

24 Fußballspiel mitten in der Wüste mit dem dreckigen

25 Wollknäuel. Karim und Benjim, die Steine nach den Aasgeiern

26 warfen. Panflötengesang. Kay in ihrem kurzen afrikanischen

27 Rock, wie sie versucht, Mathieu das Schreiben beizubringen.

28 Der Tanz der Flammen.


29 Ruckartig hob ich den Kopf. Die Nacht senkte sich wie ein

30 großes schwarzes Tuch mit vielen Lichtern über die Welt.

38
1 „Kay, ich…“ Kopfschüttelnd brach ich ab. Ich konnte es ihr

2 nicht sagen. Hastig langte ich nach dem Brief, den ich nach

3 dem Packen geschrieben hatte.

4 „Du hast das nicht ernsthaft alles aufgeschrieben? Kannst

5 du mir das denn nicht selbst sagen?“, erwiderte sie, bemüht

6 einen lockeren Ton in ihre Stimme zu bekommen.

7 Ich zwang mir ein Grinsen auf. „Mrs. Abbey hat doch immer

8 gesagt, wir sollen üben.“

9 Auch Kay lachte. „Schon mal dumme Sprüche abgeschrieben?“,

10 kicherte sie.

11 „Nein, von wem auch?“

12 „Von dir natürlich, Löwchen.“

13 „Gibt‟s „Löwchen„?“

14 Das Mädchen runzelte ratlos die Stirn, als habe man ihm

15 eine blöde Rechenaufgabe gestellt.

16 „Weiß nicht. Du bist jedenfalls eines.“, meinte es

17 schließlich und zuckte mit den Schultern.

18 „Und du bist ein Spatz.“


19 „Ein Spatz?“

20 „Ja. Du schnatterst immer wie ein Wasserfall.“

21 „Heißt das, dass ich dich nerve?“, entgegnete Kay und

22 schnappte entsetzt nach Luft. Ihre Schauspielkünste waren

23 einfach unglaublich. Sie musste nur mit den großen Augen

24 zwinkern und ihren schottischen Charme spielen lassen. Dann

25 schmolz jeder Junge und sogar jeder Erwachsene

26 augenblicklich dahin.

27 „Nein, überhaupt nicht.“, lachte ich. Sekunden später

28 spürte ich den ekligen Sandgeschmack im Mund und spie


29 entsetzt aus. „Das wirst du mir büßen, Spätzchen!“ Bevor ich

30 mich jedoch hochstemmen konnte, wurde ich erneut zu Boden

39
1 gedrückt. Kay saß auf meinem Rücken und rieb mein Gesicht in

2 den Dreck.

3 „Das will ich sehen, Löwchen. Winsle um Gnade!“ Sofern es

4 meine Lage zuließ, streckte ich unbemerkt den linken Arm aus

5 und riss im gleichen Augenblick mit aller Kraft meinen

6 Körper herum: „Niemals!“

7 Kay schrie entsetzt auf. Im Fall traf ihr Ellenbogen

8 versehentlich meine Nase. Augenblicklich taumelte auch ich,

9 halb aufgesprungen, zurück und landete erschöpf neben ihr im

10 Sand. Ein feiner Nebel aus Blut sprühte hervor. Den Kopf

11 schief gelegt, rappelte sich das Mädchen auf, um meine Nase

12 begutachten

13 „Jetzt hast du auch ein Abschiedsgeschenk von mir.“,

14 murmelte es achselzuckend.

15 Zwei Stunden später richtete sich Kay schließlich auf,

16 weil sie Angst bekam, ihr Vater könnte wieder einmal

17 ausrasten. Der Hausarrest war ihr egal, selbst wenn es

18 Wochen gewesen wären. Mit solchen Werten konnten wir kaum


19 etwas anfangen. Sie waren nicht wichtig. Zeit verstrich

20 jeden Augenblick und mit ihr veränderte sich die Welt. Vor

21 tausend Jahren zum Beispiel gab es die Ritter, jetzt gibt es

22 uns… und was danach? Außerirdische?

23 Zudem waren ihre Eltern tagsüber ebenso selten zu Hause

24 wie Papa, sodass Keenan zumeist die Verantwortung für uns

25 trug, obwohl dies den alten Mann kaum scherte, da wir seiner

26 Meinung nach alt genug wären, alleine zu entscheiden.

27 „Kommst du nicht mit?“, fragte sie leise und reichte mir

28 ihre Hand.
29 Kopfschütteln.

40
1 „Du kannst dich nicht ewig vor ihnen verstecken, Tim. Das

2 weißt du. Irgendwann werden sie dich finden und…“ Sie

3 unterbrach sich und starrte in den sternenübersäten Himmel.

4 Ich folgte ihrem Beispiel. Sie hatte Recht, indem was sie

5 sagte. Alleine würde ich wahrscheinlich nicht einmal drei

6 Tage hier draußen überleben. Und selbst wenn es mir gelänge,

7 würden Keenan und die anderen versucht, Kay zu erpressen,

8 bis sie ihnen erzählt, wo ich mich versteckte. Dies wäre

9 schlimmer, als mich selber aufzugeben. Niemand sollte für

10 mich leiden.

11 „Aber was soll ich denn machen?“

12 Kay sah mich nicht ein einziges Mal mehr an. „Geh mit

13 Mathieu. Hau ab. Verschwinde!“ In ihrer Stimme lag ein

14 harter Unterton, doch ihr Zittern verriet anders. Vorsichtig

15 wollte ich den Arm um sie legen, aber sie stieß mich wortlos

16 zurück. „Denk an dich, Tim. Denk daran, was für dich das

17 Beste ist. Nicht für mich, Mathieu oder sonst irgendwen.

18 Verdammt, verstehst du das denn überhaupt nicht?“


19 „Großes Spanien-Ehrenwort?“, fragte ich leise. Meine Nase

20 tat immer noch weh, dort wo mich ihr Schlag getroffen hatte.

21 Im Licht des vollkommenen Stück Käses am Himmel mochte ich

22 aussehen wie ein Monster mit den dunklen Flecken auf Händen,

23 Gesicht und T-Shirt.

24 „Was?“

25 „Versprichst du mir, dass du mich nicht vergisst und immer

26 mein allerbester Kumpel bleibst?“ Heimlich holte ich hinter

27 meinem Rücken den Kuscheltierlöwen hervor. Es war eine

28 schwere Entscheidung, ihn einfach fort zu geben, aber ich


29 wusste, Kay würde besser auf ihn aufpassen können als ich.

30 Stumm redete ich auf ihn ein, wie so oft, wenn ich alleine

41
1 daheim im Bett gelegen hatte und Papa abends zu einem

2 „Meeting“ gefahren ist. Leo war dann meistens der Einzige,

3 mit dem ich sprach. Jetzt schien er aufgeregt, jedenfalls

4 bildete ich mir das ein. Keine Sorge! Kay ist eine ganze

5 Liebe. Die hat viele Kuscheltiere, weißt du. Ein Schaf und

6 zwei Diddel-Mäuse. Auch ein kleines Häschen. Du darfst denen

7 aber nichts tun, hörst du? Erschrocken hielt ich inne. Wenn

8 ich wieder da bin… Sekunden dachte ich darüber nach,

9 schüttelte ich dann hingegen den Kopf. Nein, nicht „wenn“

10 ich wieder komme. Ich komme wieder! So schnell werdet ihr

11 mich nicht los!

12 „Das weißt du doch.“, erwiderte das Mädchen mit einem

13 fragenden Blick auf den Löwen.

14 „Ich will, dass du es sagst, Kay. Ich möchte es von dir

15 hören!“ Energisch riss ich an ihrem T-Shirt. Plötzlich war

16 diese Angst da, alles zu verlieren, was mir noch wichtig

17 war. Sie stürzte sich herab, wie ein Geier auf sein

18 hilfloses Opfer, und zerriss es innerlich. Ein


19 unkontrollierte Panik, die mich immer wieder heimsuchen

20 würde, kämpfte ich nicht gegen sie an. Mit schweißnassem

21 Gesicht stierte mich das Mädchen an. Es war, als sähen wir

22 uns das allererste Mal. Hektisch strich es sich eine Strähne

23 aus seiner Stirn im Versuch, ruhig zu bleiben. Dabei lag in

24 seinem Blick dieselbe Verzweiflung.

25 „Ja.“, sagte meine Freundin schließlich in die Stille

26 hinein, „Großes-Spanien-Ehrenwort... Aber dann musst du mir

27 auch etwas versprechen.“

28 Ich nickte und bemerkte im gleichen Augenblick, dass ich


29 immer noch den warmen, weichen Stoff ihres Oberteils in der

30 Hand hielt.

42
1 Kay lächelte in die Schwärze der Nacht. „Ich hau mit dir

2 ab.“

3 „Nein.“, murmelte ich mehr zu mir selbst als zu ihr, „Für

4 dich ist das Beste, wenn du uns nicht folgst. Dort draußen

5 gibt es böse Menschen, die dir wehtun können.“ Erstaunt

6 schloss ich den Mund. Das war nicht ich, der dies sagte,

7 sondern Mathieu und Mathieu hatte recht. Für ein Mädchen war

8 es zu gefährlich in der Wildnis.

9 „Wie immer. Die großen, tollen Jungs. Ihr seid ja so stark

10 und mutig! Wenn ihr abhaut, werde ich aller Welt erzählen,

11 wie feige ihr seid.“, zischte Kay böse.

12 Auch ich wurde allmählich wütend. „Das hat nichts mit

13 feige zu tun! Sondern mit…“

14 „Womit? Sag‟s mir. Womit?“

15 „Ähm… Ich… Ich hab Angst, dass wir nie mehr zusammen

16 spielen können, wenn sie mich nach Deutschland in irgendein

17 Heim stecken. Du hast noch Eltern. Schön, sie sind nicht

18 immer die Besten, aber sie sind noch da. Für dich, Kay.“
19 Ein verlegendes Schweigen hatte eingesetzt, sodass ich

20 ihrem schwachen Herzschlag lauschen konnte. Mein Eigener,

21 schnell und unregelmäßig, gesellte sich hinzu.

22 „Ich hab auch Angst, Tim. Hast du schon mal „Angriff der

23 Säbelzahntiger‟ oder „Tarzan‟ gesehen? Stell dir vor, dir

24 passiert…“ Sie schluckte vernehmlich. Wir hatten eindeutig

25 zu viele Filme gesehen, schätze ich.

26 „So was gibt‟s nur im Märchen. Und wenn, werde ich der

27 Erste sein, der sie alle besiegt.“, erwiderte ich, bemüht

28 meine Stimme optimistisch klingen zu lassen.


29 „Löwchen.“

30 „Was?“

43
1 „Löwchen. Hab ich dir nicht gesagt, du sollst nicht

2 lügen.“, kicherte Kay.

3 „Warum lachst du?“

4 „Die Vorstellung, wie du mit einer Liane in Lendenshorts

5 über den Fluss schwingst, um mich vor den bösen Monstern zu

6 retten… Zu komisch“

7 Ich grinste. „Traust du mir das etwa nicht zu, Jane?“,

8 fragte ich mit dem letzten bisschen Ernst, der mir noch

9 geblieben war.

10 „Irgendwie nicht.“

11 Die Wut aufeinander war ebenso plötzlich wieder

12 verschwunden, wie sie gekommen war. Zu einem lauten

13 Tiergebrüll angestiftet, klopfte ich mir mit beiden Fäusten

14 auf die Brust und ahmte einen Gorilla nach, indem ich auf

15 Händen und Füßen vorwärts kroch. Kay hüpfte leichtfüßig

16 hinter mir her und spielte die hilflose Jane, die vor

17 Schreck beinahe ohnmächtig wurde.

18 Plötzlich stieß sie einen Schrei aus, der einem das Blut
19 in den Adern gefrieren ließ. Im Glauben, dieser gehöre zum

20 Spiel, tapste ich in meinem Affengang über die rauen Steine

21 zur Wiese, dem einzigen, grünen Feld in der Umgebung. Das

22 hohe Gras, welches hier so dicht wuchs, dass man

23 augenblicklich an ein schwarzes Meer erinnert wurde, bewegte

24 sich leicht im aufkommenden Wüstenwind… doch irgendetwas

25 ließ mich zögern. Es war die falsche Stille: tot und

26 endgültig. Ich spürte diese Gefahr, bevor ich sie wirklich

27 gesehen hatte. Sie war da. Irgendwo da draußen und wartete

28 auf mich. Mein Instinkt verriet mir, zu verschwinden - und


29 zwar schnell. Warum? Verwirrt blickte ich auf. Die im Mond

30 matt glitzernde Wasserschlange. Äste der Bäume, die

44
1 schlafend in der warmen, trockenen Nachtluft schwankten.

2 Darüber der mitternachtsblaue Himmel, an dem eine Fledermaus

3 auf der Suche nach etwas Essbarem davonjagte. Dabei war ihr

4 hoher Ruf kaum vernehmbar und… Hatte sich dort drüber nicht

5 etwas bewegt? Bedrohlich und wachsam. Verzweifelt kauerte

6 ich mich tiefer ins Gras und fingerte im selben Augenblick

7 nach einer Waffe. Mein Herz schlug bis zum Hals, doch es

8 gelang mir, meine aufkommende Panik und das Verlangen,

9 einfach durch die Wüste davonzurennen, zu unterdrücken. Wenn

10 jemand mich anzugreifen versuchte, wäre ich dem in der

11 freien Wildnis hilflos ausgeliefert. So jedenfalls hätten

12 Helden, wie James Bond oder Tarzan, reagiert. Im Schatten

13 der Bäume oder der Türen drängten sie sich langsam an ihren

14 Feinden vorbei, ohne von den Bösen bemerkt zu werden.

15 Kays hoher Schrei klang in meinen Ohren nach und

16 verstummte schließlich. Ich wartete auf einen weiteren, doch

17 es folgte keiner mehr. „Kay? Das ist nicht lustig! Komm, wir

18 gehen heim.“ Gegen meinen Instinkt sprang ich aus dem


19 sicheren Versteck und wollte zurück zu der Stelle laufen, an

20 der wir vor Minuten noch gestanden hatten. Doch erneut

21 zögerte ich für den Bruchteil einer Sekunde - und genau dies

22 rettete mir vermutlich das Leben. Ein hundeähnliches Wesen

23 erschien in meinem Blickfeld. Die kurzen Pfoten trugen den

24 dunklen, schlanken Tierkörper elegant über das Feld. Im

25 einfallenden Mondlicht wurden seine spitzen Zähne

26 reflektiert, die wie Messer aus dem offenen Maul ragten.

27 Schon jetzt konnte ich spüren wie diese in meine Haut

28 schnitten. Mein Gott, SO war das mit dem „in die Höhle
29 schicken“ nicht gemeint… Okay, schon aber… nicht wirklich

30 so. Ich schüttelte den Kopf. Was für ein Weichei du doch

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1 bist, Tim, wenn du ständig anfängst, zu jammern und zu

2 irgendjemandem sprichst, den es vielleicht nicht einmal

3 gibt. Sei endlich ein Mann und steh‟ zu deiner nicht

4 vorhandenen, großen Klappe! Vor Kay behauptest du, du wirst

5 der Erste sein, der sie alle besiegt. Jetzt hast du die

6 Chance, dies zu beweisen… Entsetzt realisierte ich das

7 Verschwinden des Tieres. Dort, wo es eben noch schnüffelte,

8 waren nur noch Fußspuren, die… die genau auf mich zuliefen!

9 Im selben Augenblick bemerkte ich etwas Warmes, welches über

10 meinen Hals rann, und auch ohne nachzusehen, wusste ich,

11 dass es Blut war. Dunkelrotes Blut. Die Krallen der Bestie

12 hatten mich gestreift. Hektisch wandte ich mich im Kreis,

13 eine Hand auf die Wunde drückend, um einem neuen Angriff

14 auszuweichen, doch in der Dunkelheit konnte ich kaum sehen.

15 Erneut zuckte eine Schmerzwelle durch meinen Körper.

16 Geistesgegenwärtig riss ich das rechte Bein hoch und gab dem

17 Hund einen Tritt. Erst jetzt konnte ich ausmachen, dass es

18 sich um eine Hyäne handelte. Eine Hyäne, die normalerweise


19 nur in Rudeln jagte!

20 „Kay…? Kay!“, brüllte ich panisch, als mir bewusst

21 wurde, in welcher Gefahr wir uns befanden. Ein Schatten im

22 Blickwinkel. Blitzartiges warf ich mich zur Seite, sodass

23 das Tier Zentimeter über meinem Kopf hinwegfegte: Ein

24 Angriff, der mir vermutlich den Gar ausgemacht hätte. Ohne

25 nachzudenken, kam ich auf die Beine und rannte zurück. Über

26 die Schulter erkannte ich zwei Hyänen, die wie wild

27 gewordene Kampfhunde hinter mir herpirschten. Ein kurzes

28 Knurren war zu hören, dann tauchte eine vor mir auf, schnitt
29 mit den Krallen durch das hohe Gras und raste mit weit

30 aufgerissenem Maul auf mich zu. Wieder warf ich mich in

46
1 letzter Sekunde zur Seite, krachte auf den sandigen Boden,

2 renkte mir dabei beinahe die Schulter aus. Speichel triefte

3 auf mein Gesicht. Ich musste irgendwo in Deckung gehen und

4 dies bevor mich die Messer aufgespießten. Kurz blieben meine

5 Gedanken an Kay hängen. Hat man sie erwischt oder konnte

6 sie sich selbst befreien und war heim gerannt? Ich hoffte,

7 dem wäre so, denn hinter mir tauchten die Tiere erneut auf.

8 Dabei mochten sie näher sein, als mir lieb warm und

9 verfolgten mich dieses Mal gemeinsam. Verzweifelt rannte ich

10 durch das Gras, dessen scharfe Halme meine Unterschenkel

11 zerschnitten. „Kay!“ Ein kaum vernehmbares Stöhnen neben mir

12 genügt, um meinen Überlebenswillen anzukurbeln. Ihr blöden

13 Köter! So schnell kriegt ihr mich nicht! Vorsichtig, immer

14 ein Bein nach dem anderen setzend, machte ich zwei Schritte

15 rückwärts - und spürte etwas Hartes im Rücken. Endstation…

16 Meine freie, linke Hand ertastete Rinde. Ein Baum! Kurz

17 irrte mein Blick über das Schattenreich, aber es gab keine

18 Möglichkeit, mich selbst und Kay vor den blutrünstigen


19 Tieren zu verstecken, die jeden Augenblick durch das zackige

20 Gras brechen konnten, welches mich wie eine Mauer

21 umzingelte. Es gab nur diesen Baum, einsam und traurig in

22 der dunklen Landschaft. Der Ruhe zur Folge mochten die

23 Hyänen noch etwa hundert Meter entfernt sein, vielleicht

24 auch näher. Auf jeden Fall blieb mir ein wenig Zeit, die ich

25 nicht vergeuden durfte. Aber was sollte ich tun? In meinen

26 Gedanken tauchten mehrere Filme auf und glitten

27 durcheinander. Tarzan. Die „Star Wars„-Trilogie. Sing mir

28 das Lied vom Tod. Der, der mit dem Wolf tanzt. Vielleicht
29 hatten all die Albträume nach diesen Filmen doch etwas Gutes

30 an sich, denn mir kam eine absolut absurde Idee. Hastig

47
1 prüfte ich die Verletzungen an Hals und Knie, bevor ich auf

2 den Baumstamm zustürzte. Die Rinde war morsch, von Bakterien

3 zerfressen, aber sie würde meinem Gewicht standhalten müssen

4 - anderenfalls wäre meinem Plan schnell ein Ende gesetzt.

5 Mit einer Hand den nächsten Ast umklammernd, zog ich mich

6 langsam hoch. Freilich hätte ich schnell klettern müssen.

7 Jedoch, auf die Gefahr hin, zu fallen, hielt ich des Öfteren

8 inne, um die Balance wieder finden, wobei ich den Impuls

9 unterdrückte, nach unten zu sehen. In zwei Meter Höhe zu

10 baumeln, erforderte all meine Aufmerksamkeit. Tim River, du

11 hast wieder einmal eine rekordverdächtige Punktzahl in den

12 Aufgaben erreicht, wie bring ich mich am besten im möglichst

13 kurzer Zeit selber um. Unter mir im Gras raschelte es.

14 Sekundenspäter tauchten mehrerer Schatten auf. Jetzt waren

15 die Biester also schon zu fünft! Wird heute noch ein

16 wahrlich tolles Kaffeekränzchen! Ich lachte. Je auswegloser

17 die Situation, desto bescheuerter wurde meine Witze.

18 Wenigstens hielten mich meine Gedanken davon ab, zu schreien


19 oder mich zu übergeben. Dennoch schlug das Herz hart gegen

20 meine Rippen, sodass ich das Gefühl hatte, mein Brustkorb

21 könne jeden Augenblick zerreißen. Knurrend sprangen die

22 Tiere an der Rinde hoch, rutschten jedoch immer wieder ab.

23 Für den Augenblick war ich in Sicherheit, bis Kay in meinen

24 Erinnerungen auftauchte. Kay, die möglicherweise verletzt

25 dort unten in der Gruft lag und von den Hyänen zerfleischt

26 werden würde, wenn diese sie fänden. Widerstrebend musste

27 ich zugeben, dass ich nicht die ganze Nacht hier oben in der

28 Baumkrone hocken durfte und warten auf die ersten


29 Sonnenstrahlen konnte, mit denen die Dorfbewohner zur Arbeit

30 kämen. Denk nach, zwang ich mich, denk nach. Mit all dem

48
1 zusammengefassten Mut, erhob ich mich und balancierte

2 freihändig über den dicken Ast, als eines der Tiere die

3 Krallen in die Rinde schlug. Plötzlich geriet ich ins

4 Straucheln, fiel. Hilfe suchend streckte ich die Hände aus.

5 Leere, nichts als Leere. Verzweifelt versuchte ich, Halt zu

6 finden. Ohne Erfolg. Rasend stürzte ich in die schwarze

7 Tiefe hinab. Blätter strichen hart über meine Wangen. Die

8 einzelnen Halme des Meeres waren unheimlich nahe und mit

9 ihnen die scharfen Messer. Der harte, plötzliche Aufprall

10 trieb mir alle Luft aus der Lunge, sodass ich glaubte,

11 sämtliche Rippen gebrochen zu haben. Ich blinzelte. Wo

12 blieben die Zähne, die mich wie ein Gummibärchen zerfetzten?

13 Erst jetzt fiel mir auf, dass ich über dem Boden hing. Ein

14 Ast hatte meinen Sturz abgefedert, falls man das so nennen

15 konnte, sodass ich zu meiner Überraschung nicht tief

16 gefallen war. Etwa einen Meter unter mir schnappten die

17 Hunde immer noch nach meinem baumelnden Bein, als sei dieses

18 ein Stück Wurst. Dennoch hatte ich wie immer unverschämt


19 viel Glück gehabt.

20 Mit böser Grimasse brach ich einen Zweig über meinem Kopf

21 und ließ ihn auf die Tiere herunterfallen. Erschrocken von

22 dem ungeahnten Angriff streunten sie für Sekunden

23 auseinander und knurrten sich gegenseitig an. Innerlich

24 musste ich lachen. 1:1, Gleichstand. Was sagt ihr nun, ihr

25 dummen Kläffer? Abermals langte ich mit nach hinten

26 gestreckter Hand nach einem Ast, zielte. Und dann erblickte

27 ich sie. In mitten des schwarzen Meeres. Kay. Ihr hübsches,

28 kantiges Gesicht war unmenschlich verzerrt und von einem


29 Schatten umhüllt. An ihrem Kopf klaffte eine offene Wunde,

30 doch wie durch ein Wunder hatten die Hyänen von ihr

49
1 abgelassen. Selbst wenn sie in ganz anderen Dimensionen

2 schweben mochte, schien sie für den Augenblick in

3 Sicherheit. Mein Blick wanderte zurück zu dem Ast in der

4 zitternden Hand, dann wieder zu Kay. Ich hatte nur eine

5 einzige Möglichkeit. Eine Einzige. Der Zweig schnitt hörbar

6 durch die Luft. Fand sein Ziel. Jaulend jagte das

7 Raubtierrudel davon. Doch ich hatte keines der Tiere

8 getroffen, sondern bewusst eine der weitest entfernten

9 Stellen vom Baum weg angepeilt. Zufrieden lächelte ich vor

10 mich hin, während ich mich langsam zu Boden gleiten ließ.

11 Ein wenig Zeit war gewonnen. Genügend, um Kay Huckepack zu

12 nehmen und schleunigst zu verschwinden. Jedenfalls hoffte

13 ich das. Mit angewinkelten Beinen sprang ich von dem letzten

14 Ast, wobei ich sicherheitshalber geduckt in Deckung ging.

15 Schließlich hatte ich keine Ahnung, wie schnell die Viecher

16 bemerkten, dass sie einem weniger köstlichen Ast nachgerannt

17 waren. Im Schatten des Baumes schlich ich, bemüht nicht zu

18 hektisch zu werden, zu Kay und zerrte ihren dünnen Körper


19 hoch. Meine Augen hatten sich mittlerweile an die Dunkelheit

20 gewöhnt, sodass ich zumindest ausmachen konnte, in welche

21 Richtung ich zum Achthundert-Meter-Sprint ansetzen musste.

22 Ein Glück, das mein Vater mich in Deutschland zum

23 Leichtathletiktraining genötigt hatte.

24 Tief ein - und ausatmend, um den Sauerstoffgehalt im Blut

25 zu erhöhen, lugte ich ein letztes Mal aus dem Versteck

26 hervor. Hoffentlich lauerten mir die Hyänen nicht schon

27 hinter der nächsten Ecke auf. Ohne einen weiteren Gedanken

28 daran zu verschwenden, rannte ich um mein Leben. Betend,


29 dass ich die Entfernung richtig eingeschätzt hatte.

30 Andernfalls wäre es ein sehr kurzes Wettrennen, doch ein

50
1 Zurück gäbe es nun nicht mehr. Jämmerlich würden wir in den

2 schleimigen, dunklen Abgründen ertrinken und nie wieder

3 auftauchen, zerrissen von der unbarmherzigen Kraft der

4 Todesmesser. Ich konnte mir einen schöneren Abgang von

5 dieser Welt verstellen. Außerdem wollte ich keinen

6 Freifahrtschein für einen unvergesslichen Besuch in der

7 Höhle. So etwas hätte Kay nicht verdient. Mit

8 zusammengebissenen Zähnen verfluchte ich den Tag, an dem

9 sich Gott in mein Leben eingemischt hatte. Aber vielleicht

10 konnte ich unser Pech, noch zu Besserem wenden. Schließlich

11 mussten wir es ebenso schaffen wie die Kinohelfen in ihren

12 Abenteuern. Atmen, laufen, atmen. Mein Puls stieg, die linke

13 Seite begann bereits zu stechen. Auch das ungewohnte Gewicht

14 auf dem Rücken machte mir mehr zu schaffen, als ich erwartet

15 hatte. Dennoch verlangsamte ich die Geschwindigkeit nicht.

16 Atmen, atmen. Die Halme schnitten brutal in die

17 ungeschützten Unterschenkel, doch ich wagte nicht, einen Weg

18 aus dem Feld anzuschlagen. Sich zu verirren, würde alles nur


19 noch schlimmer machen. Wie lange mochte es noch dauern, bis

20 die Tiere bemerkten, dass ihre Lieblingsspeise verschwunden

21 war? Ich spürte, dass mir nur noch Sekunden blieben. Hinter

22 mir war bereits das Fletschen der Zähne vernehmbar. Hektisch

23 sprang ich über eine Grube, stolperte - und vertrat mir

24 leicht das Knie. Atmen, atmen, laufen, laufen. Du schaffst

25 es… Ich schaffe es…

26 Nein. Meine Kraft reichte gerade noch aus für paar Meter.

27 Ein Schrei explodierte in meinem Kopf. Gib auf… Gib auf!

28 Da erhellte plötzlich ein Licht die Dunkelheit. Ein


29 kleines, Licht in naher Ferne. Und noch eines. Mein

51
1 ausgetrockneter Mund öffnete sich und sog gierig die kühle

2 Nachtluft ein.

3 „Siehst du das Dorf dahinten? Wir haben es geschaffen,

4 Kay.“, murmelte ich leise, obwohl ich wusste, dass sie mich

5 nicht hören konnte. Mit letzter Kraft jagte ich aus dem Feld

6 heraus auf die Lichter zu. Doch noch hatten wir nicht

7 gewonnen. Ich hätte mich selbst belogen, wenn ich dies

8 glaubte. Ein Schatten schnappte nach meinem verletzten Bein.

9 Sekundenspäter rissen die Zähne eines Weiteren ein kleines

10 Stück Fleisch heraus, über welches die Tiere gierig

11 herfielen. Mit Tränen in den Augen vor Schmerz schrie ich

12 auf. Blut strömte aus der offenen Wunde, vermischte sich

13 mit Dreck. Über die Schulter erkannte ich, wie das Rudel

14 erneut die Verfolgung aufnahm. Verzweifelt trat ich nach

15 hinter aus - und fiel kurz vor dem Ziel zu Boden. Es war

16 aus. Ich hatte verloren. Alle anderen Läufer überholten mich

17 und jubelten vor Freude. Doch seltsamerweise ließen sich die

18 Hyänen beim Zerlegen ihre köstliche Beute Zeit. Wie ich wohl
19 schmecken mochte? Hoffentlich nicht allzu gut. Immer enger

20 umkreisten uns die Tiere. Speichel tropfte auf mein T-Shirt.

21 Eine der Bestie drückte ihre Nase gegen die mein. Hektisch

22 schlug ich mit geballter Faust zu, sodass das Tier jaulend

23 zurückwich. So leicht kriegt ihr mich nun auch wieder nicht!

24 Bis zum Ende würde ich mich mit Händen und Füßen dagegen

25 wehren. Mein Blick schweifte von einer Hyäne zur nächsten.

26 Seltsam, dass sie nicht angriffen. Ihre Augen waren nur auf

27 meine Freundin gerichtet. Erst jetzt wurde mir drohend

28 bewusst, dass die Bestien es nicht auf mich, sondern viel


29 mehr auf Kay abgesehen hatte, die regungslos neben mir im

30 Sand liegen geblieben war. Hyänen ernährten sich

52
1 hauptsächlich von Aas, nur selten jagten sie Lebendes, was

2 bedeutete, dass sie Kay für ein totes Tier halten musste.

3 Der Rudelführer pirschte sich heran und öffnete geradezu

4 genüsslich sein Maul, um den ersten Bissen zu kosten. Die

5 anderen Tiere warteten geduldig, mich durch ihre gelben

6 Augen beobachtend. Die Angst hatte meinen Körper erstarren

7 lassen. Mein Glück hatte mich verlassen. Das Führertier

8 stürzte sich mit einem Knurren aus tiefster Kehle auf Kay.

9 Seine Augen waren weit aufgerissen, die Pupillen vollständig

10 verschwunden.

11 Es knallte zweimal, hart und trocken in der Dunkelheit.

12 Aber merkwürdigerweise spürte ich keinen Schmerz. Eigentlich

13 hätte Blut aus der tiefen Bisswunde am Rücken hervor

14 schießen müssen. Dafür schwankte die Hyäne plötzlich und

15 fiel mit ihrem Körper auf meine Beine. In ihrer Brust waren

16 zwei Einschüsse. Die übrigen Tiere jagten erschrocken in die

17 Wüste davon.

18 Schritte erklangen in der Ferne. Ein einziger Mann,


19 Keenan, näherte sich betroffen. In seiner Hand hielt er

20 immer noch die Pistole, mit der er ein Leben ausgelöscht und

21 eines gerettet hatte. Ohne ein Wort zu verlieren, tippte er

22 mit der Schuhspitze vorsichtig den Kadaver an, beugte sich

23 dann hinunter und untersuchte ihn kurz. Schließlich nickte

24 er zufrieden und schob die Waffe in seine Hosentasche.

25 Zitternd erhob ich mich und machte einen Schritt auf ihn zu.

26 Es war als bemerkte der alte Mann erst jetzt, dass noch

27 jemand da waren.

28 „Keenan…“
29 Der Genannte nickte ruhig, erwiderte jedoch nichts. Sein

30 Blick fiel auf die Kay, die schlafend im Gras lag. Seufzend

53
1 hob er sie an den Schultern hoch und trug sie Richtung Dorf

2 davon.

3 „Warum? Warum hast du das getan?“ Ich war bemüht, mit ihm

4 Schritt zu halten.

5 Abrupt blieb Keenan stehen, um mich einen Augenblick lang

6 anzustarren. „Du warst wirklich tapfer, Tim, aber…“

7 „Aber?“

8 Der alte Mann zuckte mit den Schultern. „Dumm. Warum

9 verdammt noch mal seid ihr abgehauen? Ich halte dich für

10 klug genug, zu wissen, wie gefährlich es dort draußen ist.“

11 „Ja… Was wird jetzt aus mir?“, fragte ich und senkte den

12 Kopf.

13 Keenan musterte mich von oben bis unten, als wolle er

14 abschätzen, wie viel ich wert war.

15 „Erst einmal werden wir dich verarzten.“

16 Ich blieb wie angewurzelt stehen und warf einen flüchtigen

17 Blick zurück zu dem toten Tier, welches von dem Mond in ein

18 weißliches Licht getaucht wurde. Eigentlich hätte ich jetzt


19 doch liegen müssen. Kurz schloss ich die Augen, dann wandte

20 ich mich abrupt ab und folgte humpelnd dem alten Mann.

21 „Los, Tim, mach die Augen auf.“

22 Die Stimme klang ungeduldig und weit entfernt. Ich

23 stöhnte. Mein ganzer Körper schien wie betäubt. Durch den

24 weißen Schleier, der meine Sicht vernebelte, erkannte ich

25 Kays Vater, Doktor Nicolai Brown. Kurz nickte er mir zu,

26 dann wandte er sich an eine weitere, ein wenig gekrümmt

27 dastehende Gestalt.

28 „Die Tablette, die ich ihm gegeben habe, verliert langsam


29 ihre Wirkung. In gut einer Stunde wird die Betäubung kaum

30 noch zu spüren sein.“

54
1 „Okay . Ich werde mich solange um ihn kümmern. Wie geht es

2 deiner Tochter?“

3 Ich blinzelte in die nackte Glühbirne über mir. Allmählich

4 konnte ich wieder klarere Umrisse erkennen, was bedeutete,

5 dass meine Wahrnehmung schärfer wurde. Gerüche von süßlichem

6 Desinfektionsmittel und Schweiß hüllten mich ein. Langsam

7 drehte ich den Kopf zur Seite und ließ meinen Blick benommen

8 durch das Zimmer schweifen. Kays Vater stand in seinem

9 weißen Mantel am Fenster und betrachtete schweigsam den

10 dunklen Nachthimmel. In seiner Hand hielt er eine polierte,

11 kleine Tasse, aus der er sich dann und wann einen Schluck

12 Tee gönnte. Seine Muskeln spannten sich merklich an. Genauso

13 wie bei Papa, kurz bevor er mich schlug. Keenan hingegen

14 hockte auf einem der Stühle am Tisch und faltete ruhig die

15 Hände auf der gestrickten Decke. Die Eichenholzuhr über dem

16 dunklen Regal, in dem sich Bücher, jeglicher Art und Größe,

17 stapelten, schlug neun Mal. Durch die offene Zimmertüre

18 konnte ich den abgemagerten Körper eines Mädchens ausmachen,


19 der sich langsam unter einer Decke hob. Mit Ausnahme des

20 weißen Verbandes um seinen Kopf schien es unverletzt.

21 „Besser.“, erwiderte Nicolai Brown knapp und fuchtelte

22 wild mit den Armen in der Luft. „Der Junge hat behauptet,

23 Hyänen hätten sie angegriffen. Das ist doch absoluter

24 Schwachsinn. Wenn man schon lügt, sollte man es wenigstens

25 klug tun. Jedes Kind weiß, Hyänen gehören zur Gruppe der

26 Aasfressern.“

27 Mein Blick wanderte zu dem Ältesten, der um seine

28 Beherrschung ringen musste. Nur selten hatte ich ihn so


29 aufgebracht und wütend gesehen.

55
1 „Ihr Europäer glaubt doch auch alles, was im Internet zu

2 finden ist. Hier zu Land greifen die Tiere an, wenn sie

3 hungrig sind.“

4 Vom Fenster abgewandt pilgerte er wie ein Tiger durch den

5 Raum. „Du solltest auf die beiden aufpassen! Es war deine

6 Aufgabe, dich um sie zu kümmern.“, brachte er knurrend

7 hervor.

8 „So, meine Aufgabe? Die Kinder sind alt genug, um auf

9 sich selbst Acht zu geben. Ich bin doch kein Kindermädchen!

10 Schau dir Tim an. Er hat sich alleine verteidigen können.“

11 „Der Junge ist ein schlechter Umgang für meine Tochter.

12 Hätte er sie nicht dazu angestiftet, wäre es erst gar nicht

13 zu diesem… diesem Unfall gekommen.“, herrschte der Arzt den

14 aufgesprungen Keenan an.

15 Ich schüttelte den Kopf. Das Papiertaschentuch in meiner

16 Nase blähte sich merklich auf. Warum konnte Erwachsene nicht

17 zugeben, dass sie einen Fehler gemacht hatten? Außerdem, was

18 hatte dies mit ihnen zu tun? Wir sind es, die die Folgen des
19 Angriffs ausbaden mussten, nicht sie.

20 Ein Stöhnen aus dem Nebenzimmer war vernehmbar. Kay rieb

21 sich den scherzenden Kopf. Für den Bruchteil einer Sekunden

22 trafen sich unsere Blicke. Sie zwang sich ein Lächeln auf

23 und erhob sich zögerlich aus ihrem Bett, meinen

24 Kuscheltierlöwen im Arm haltend. Als sie nun das Zimmer

25 betrat, verfolg die Wut ihres Vaters für einen kurzen

26 Augenblick.

27 „Schatz, geht es dir besser?“, erkundigte er sich mit

28 einem besorgten Unterton in der Stimme. Ganz in die Rolle


29 des fürsorglichen Papas verfallen, wollte er sie auf den Arm

30 nehmen, doch Kay wehrte ab. Sie sah nicht einmal auf.

56
1 „Nein, Dad.“, entgegnete sie abweisend, „Du bist das absolut

2 widerlichste, das ich kenne, wenn du immer anderen die

3 Schuld daran gibst, dass du scheiterst. Vor ein paar Wochen

4 hast du mal gesagt, Tims Vater wäre ein Irrer, weil er

5 seinen Sohn schlägt. Dabei bist du auch nicht besser. Ich

6 war einmal stolz auf Mum und dich, weil ihr anderen Menschen

7 helft, nach vorne zu sehen. Menschen, die nichts mehr im

8 Leben haben. Immer habe ich so werden wollen wie ihr. Aber

9 jetzt bist du der größte Idiot: Du schickst Tim weg.“

10 Kay hatte sich in ihre Wut hineingesteigert. Jetzt sank

11 sie neben mich in den weichen Stoff des Sofas und

12 verschränkte die Arme wie ein trotziges, kleines Kind vor

13 der Brust. Ich lächelte. Im Geheimen bewunderte ich sie für

14 ihr Erwachsen sein.

15 Fassungslos starrte Nicolai Brown seine Tochter an. Ich

16 spürte, dass es sich nur noch um Sekunden handeln konnte,

17 bis dieser Mann die Beherrschung verlor. Mein

18 Beschützerinstinkt veranlasste mich dazu, mich verteidigend


19 vor Kay zu stellen. Doch augenblicklich erfasste mich ein

20 plötzlicher Schwindel. Benommen taste ich, wild mit den

21 Armen ruderten, nach Halt. Keenan, der sofort herbeigestürzt

22 war, packte mich, kurz bevor ich auf dem Boden aufschlug.

23 „Soll eine Verschwörung werden, wie?“, knurrte Herr Brown

24 böse und biss hörbar die Zähne zusammen. „Sind wohl in

25 diesem Dorf nicht mehr erwünscht. Wie du willst, Keenan, wir

26 werden verschwinden. Noch heute, für immer! Glaub ja nicht,

27 dass du jemals eine Postkarte von der Familie Brown

28 erhältst! Nicht einmal, wenn du längst im Grab liegst!“


29 Mit einer solchen Brutalität, dass diese beinahe vor

30 Schreck gestürzt wäre, führte der Mann seine Tochter aus dem

57
1 Haus. Kay trat verzweifelt um sich und schrie, aber der

2 eiserne Griff ihres Vaters löste sich nicht. „Lass mich

3 los!“, brüllte sie, bevor sich die in einen Handschuh

4 gehüllte Hand über ihre leicht geöffneten Lippen legte. Mit

5 letzter Kraft biss sie in

6 die Hand und lief über das Meer, welches uns trennte.

7 „Tim…“, murmelte sie mit heiserer Stimme und drückte mich

8 fest an sich. Ihre Atmung ging schneller. Tränen

9 verschleierten ihren Blick. „Du bist der beste Bruder, den

10 man sich wünschen kann. Großes-Spanien-Ehrenwort. Ich…“

11 Energisch wurde sie zurückgerissen. Mein Blick wanderte zu

12 Keenan, der teilnahmslos das Spiel beobachtete.

13 „Tu doch etwas!“, schrie ich im verzweifelten Versuch,

14 Kays Hand festzuhalten. Dabei trafen sich unsere Blicke. Für

15 Sekunden schien die Zeit still zu stehen. Nichts jedoch ist

16 ewig. Denn unsere Verbindung brach ab, als Brown seine

17 Tochter aus dem Haus, Richtung Auto zerrte. Türenknallen,

18 Motorheulen.
19 Das Letzte, was ich von meiner besten Freundin sah, war

20 das vom Wind erfasste, afrikanische Kleid, welches sich um

21 ihren zarten, dünnen Körper schmiegte.

58
1 2. Kapitel
2 Das leuchtende Stück Käse am Himmel starrte unentwegt auf

3 mich herab, geradezu als wollte es jeden meiner Schritte

4 beobachten. Vielleicht hockte dort oben tatsächlich der

5 kleine Mann im Mond. Früher als kleines Kind hatte Mama mir

6 oft vor dem Schlafengehen sein Lied vorgesungen. Sie war

7 hübsch, meine Mama, beinahe wie Schneewittchen oder

8 Dornröschen. Auf jeden Fall so schön wie ein Prinzessin, nur

9 mit einer dreckigen Schürze anstatt einem Kleid. Papa musste

10 glücklich sein, eine solche Frau gefunden zu haben. Einen

11 Schatz, so hatten sie sich oft begrüßt. Als ich nun hier

12 saß, alleine im kalten Wüstensand, versteckt im Schatten des

13 Hauses und in den Sternen übersäten Himmel starrte, wurde

14 mir klar, dass ich in gewisser Hinsicht meinem Vater

15 ähnelte. Auch ich lief davon, weil ich meinen Schatz

16 verloren hatte. Ich rannte fort, versuchte loszulassen, doch

17 das, was ich suchte, war die ganze Zeit über an meiner Seite

18 gewesen.
19 „Hey, Heulsuse! Schade, hast ja doch nicht verschlafen.

20 Ich wäre zu gerne einen Kopf größer gewesen als du.“ Mathieu

21 verzerrte das Gesicht zu einer Grimasse. Langsam erhob ich

22 mich, klopfte den Sand von der fransige Jeans. „Wo sind

23 deine Sachen?“

24 „Was hast du erwartet?“

25 „Dass… Du hast doch gesagt…“

26 „Ja? Was soll ich deiner Meinung nach mitnehmen? Das

27 selbst geschnitzte Holzauto oder die Figuren?“


28 „Und mit dem Geld? Ich habe meinen Vater bestohlen!“,

29 schrie ich erbost.

59
1 Plötzlich wurde eine Tür aufgeschlagen. Hastig legte sich

2 eine Hand über meine leicht geöffneten Lippen. „Psst, willst

3 du das ganze Dorf wecken?“, zischte Mathieu, ganz wider

4 seine Art nervös zu werden, wobei er mir signalisierte, ihm

5 zu folgen. Den Rucksack über die Schulter geworfen, krochen

6 wir nebeneinander durch den Sand. Immer darauf bedacht,

7 möglichst am Boden zu bleiben. Bereits nach Minuten brannten

8 meine Augen, mein Mund war ebenso ausgetrocknet wie die

9 Wüste, doch ich wagte nicht zu husten, weil ich befürchtete,

10 allein mein Atem könnte Keenan auf uns aufmerksam machen. In

11 gewisser Hinsicht fühlte ich mich wie ein Gefangener, der

12 aus dem Gefängnis ausbrach.

13 Vorsichtig warf ich einen Blick über die Schulter zurück

14 und stellte erleichtert fest, dass die Lichter auf die Größe

15 eines Sterns am Himmel geschrumpft waren. Auf Widerstehen,

16 Keenan, Karim, Benjim, Leo Löwe und ihr alle!

17 Plötzlich drehte sich Mathieu auf den Rücken, zuckte die

18 Achseln. „Okay, ich gebe zu, ich habe gelogen.“, pflichtete


19 er mir bei, „Aber ich konnte doch nicht das Wenige nehmen,

20 wofür mein Onkel wochenlang in der Hitze geschuftet hatte.

21 Meine Familie wäre meinetwegen verhungert. Sorry, Timothy.“

22 Ich nickte. „Schon okay. Und was willst du jetzt machen?“

23 „Ich hab von der Münze eine Landkarte gekauft.“

24 „Und kannst du eine Karte lesen?“

25 Er runzelte nachdenklich die Stirn. „Nope, eigentlich

26 nicht. Du etwa?“

27 „Ich weiß, wo Norden ist und ich weiß, wo Süden ist. Da

28 gibt es einen Spruch. Nie ohne Seife waschen.“ Auf gut Glück
29 deutete ich in den Sternenhimmel „Norden, Osten…“ Hielt den

30 mit Speichel angefeuchtet Finger in die Luft, ebenso wie

60
1 Papa es mir einst beigebracht hat, als wir gemeinsam in den

2 Berg wandern waren. „…Süden, Westen. Die Flagge hat eben

3 nach Süden geweht, also müssten wir nach unten, schätze

4 ich.“

5 „Besserwisser. Dann brauchst mich wohl nicht mehr.“

6 „War doch nicht böse gemeint.“, erwiderte ich schnell, um

7 einem Streit aus dem Weg zu geben.

8 „Und du glaubst, du findest den Weg in die große Stadt?“

9 Ich zuckte mit den Schultern. „Ich kann‟s versuchen.“

10 „Okay, ich zähl auf dich.“ Mit einem verlegenen Blick auf

11 meinen Rucksack, fügte er hinzu: „Aber erst einmal müssen

12 wir einen Versteck für die Sachen finden. Ich bin müde.“

13 Ich schlief kaum in dieser ersten Nacht unter freiem

14 Himmel. Vor allem lag es an der Angst, angegriffen zu

15 werden. „Hier streunen viele Tiere und böse Menschen herum.

16 Am besten hält einer von uns beiden Wache, ja?“, hatte

17 Mathieu mit seinem manchmal unverständlichen Akzent

18 genuschelt und den Kopf ein Stück aus dem Sand gehoben. Den
19 Schlafsack, mit dem wir uns zudeckten, schlang er eng um

20 seinen Körper. Ein letztes Gähnen, dann schlossen sich seine

21 Augen. Von diesem Moment an hatte ich mich von links nach

22 rechts, von rechts nach links gerollt, auf den Bauch, auf

23 die Seite, auf den Rücken, doch schlafen konnte ich nicht.

24 So bestand das größte Abenteuer darin, mir nicht vor Angst

25 in die Hose zu machen. Ich zählte die Sterne am Himmel,

26 malte mir irre Gestalten aus, die ich mit den Fingern in der

27 Luft zu zeichnen versuchte, während ich unentwegt dem leisen

28 Kreischen der Aasgeier lauschte. Bis zum Morgengrauen.


29 Der beißende Geruch von Rauch stieg mir in die Nase.

30 Erschrocken fuhr ich aus dem Sand hoch. Mathieu hockte neben

61
1 einem kleinen Feuer aus wenigen Stöcken und Blättern. Locker

2 drehte er eine an einem Ast aufgespießte Wüstenmaus über dem

3 Feuer. Augenblicklich kitzelte der Brechreiz in meinem Hals.

4 Blut spiegelte sich in der aufgehenden Sonne. „Ich weiß,

5 eigentlich sollte man keine Tiere töten… aber ich hatte

6 Hunger. Und auf Grünzeug mag ich nicht sonderlich.“, brüllte

7 Mathieu von der Feuerstelle herüber. Ich lächelte verlegen.

8 Es würde seine Zeit dauern, bis wir uns verstanden, doch der

9 erste Schritt war gemacht.

10 Energisch schüttelte ich den Kopf. Wenig später war mein

11 Gesicht von einer Sandwolke umhüllt. Ich hustete. Die groben

12 Körner kratzten in meinem ausgetrocknet Hals, der nach

13 Wasser schrie.

14 „Sollen wir schwimmen gehen?“, fragte ich ein wenig

15 heiser.

16 Mathieu wandte sich ab. Ohne mich anzusehen, erwiderter

17 er: „Typisch Ausländer!“ Kopfschütteln. „Können kein

18 bisschen Dreck vertragen!“ Zwischen seinen Zähnen hing noch


19 ein Fleischstück, welches er nun gierig mit der Zunge in

20 seinen Rachen zog.

21 „Typisch Einheimische! Sehen aus wie der letzte Dreck!“ Es

22 war wirklich nicht böse gemeint, doch ich wunderte mich über

23 die heftige Wirkung auf meinen Freund.

24 Drohend, das Gesicht vor Wut unmenschlich verzerrt, setzte

25 er einen Fuß vor den anderen, bis seine Nase meine beinahe

26 berührte. Wie in einer Manege, umjubelt von tausenden von

27 Menschen aus Sand und Staub, umringten wir uns, starrten

28 einander in die Augen, weit vor Zorn aufgerissene Augen.


29 Plötzlich, die Hand zur Faust geballt, schlug Mathieu zu.

30 Blut sprühte aus meiner bereits verletzten Nase hervor.

62
1 Reflexartig riss ich das linke Knie hoch, im selben Moment

2 bemerkend, wie ich das Gleichgewicht verlor. Mein Sturz

3 wurde von dem weichen Sand ein wenig abgefedert, dennoch

4 spürte ich den stechenden Schmerz in der Schulter. Mathieu,

5 den ich im Fall in den Magen getroffen hatte, lachte

6 belustigt: „Na, schmeckt der Sand?“ Er bückte sich und ließ

7 die Körner über meinen Kopf rieseln. Wehrlos lag ich

8 hingestreckt am Boden. Zurückschlagen konnte ich nicht.

9 Einmal hatte ich es gegen Benjim versucht, als wir eines

10 unserer Indianer-Cowboy-Spiele gespielt hatten - und war

11 dabei kläglich gescheitert. Nein, es musste einen anderen

12 Weg geben, meinem Freund zu zeigen, dass ich kein Feigling

13 war. Immerhin besaß ich einen Vorteil: In jedem unserer

14 Kämpfe habe ich ihn besäßen: Ich konnte mir schnell viele

15 Dinge merken. Mathieu mochte der Bessere von uns beiden

16 sein, doch seine Angriffe kamen in jedem Kampf ähnlich.

17 Rechte Hand, präzise auf das Gesicht gerichtet, langsame,

18 meist wenige Bewegungen. Kurzum ich war in der Lage, ihn


19 einzuschätzen. Auch meine Mama und Papa waren zunächst

20 skeptisch gewesen, als die Lehrerin erklärte, ich hätte

21 innerhalb von Minuten ein Arbeitsblatt bearbeitet, für

22 welches die meisten Kinder eine Stunde brauchten. Ab dem Tag

23 kam es häufiger vor, dass auch Papa sich neben mich ans Bett

24 setzte und wir über richtige Männerdinge redeten. Mama

25 lehnte die ganze Zeit über lächelnd gegen den Türrahmen.

26 Irgendwann nahm sie dann neben meinen Vater auf der

27 Bettkante Platz und las uns eine Gutenachtgeschichte vor.

28 Später, als Papa so viele Taschentücher verbrauchte, habe


29 ich ihm diese Geschichten erzählt, von tollkühnen Rittern,

30 die ihre wunderschönen Prinzessinnen aus den von Drachen

63
1 bewachten Türmen befreiten, oder von fleißigen

2 Heinzelmännchen.

3 Dennoch wusste ich nicht wie. Ich wusste nicht, wie ich

4 dies machte, aber wusste, dass ich es konnte, wenn ich

5 wollte: Das Einschätzen und richtige Reagieren.

6 Niesend senkte ich den Kopf, als wolle ich aufgeben. Meine

7 Augen huschten wachsam über Mathieus gebräunte Beine nach

8 oben. „Verlierer…“ Weiter kam er nicht. Die Worte würden für

9 immer auf seinen Lippen ruhen. Mit aller Kraft hatte ihm

10 gegen seine Knie getreten, die nun umknickte, wie ein

11 abgebrochener Grashalm. Dabei verengten sich Mathieus Augen

12 zu einem schmalen Schlitz. Wie ein Chinese, so sah er

13 beinahe aus, wie ein wütender Chinese. Oder wie ein Stier,

14 die Hörner gesenkt, kurz bevor er sich auf das rote Tuch

15 stürzte. In der Staubwolke konnte ich kaum die Hand vor

16 Augen sehen. Das Herz pochte wild in meiner Brust. Es war

17 nur eine Frage der Zeit, bis einer den anderen von hinten

18 überfiel. Eine Frage der Schnelligkeit. Vorsichtig rollte


19 ich mich von Mathieu weg. Ruhig, ermahnte ich mich, ruhig.

20 Gebannt beobachteten die Menschen den Kampf, wissend, dass

21 ich mich weitaus besser geschlagen hatte, als sie jemals zu

22 denken vermocht hatten. Und ich würde gewinnen, denn ich war

23 schnell. Bewegungslos hielt ich inne, wartend bis sich die

24 Wolke aus Sand und Staub verzogen hatte. Von Mathieu keine

25 Spur. Dann plötzlich begann der Himmel zu weinen. Große

26 Tränen, kleine Tränen fielen wie gläserne Diamanten zu

27 Boden. Mathieu, den ich nun neben mir erblickte, grinste,

28 nicht verächtlich, sondern belustigt. „Was hast du wieder


29 angerichtet, Heulsuse?“ Er legte den Kopf in den Nacken und

30 lief umher, um jeden Einzelnen dieser Tropfen auf seinem Weg

64
1 zur Erde zu begrüßen. Jubelnd tat ich es ihm gleich. Daheim

2 hatte ich den Regen gehasst, weil ich dann nie zum Spielen

3 herausgehen durfte, doch in diesem Land schien alles ein

4 wenig anders. Upside down, hatte Kay einmal gesagt.

5 Auch in weiter Ferne konnten wir Punkte ausmachen.

6 Menschen, die auf die Straßen gegangen waren, um den warmen

7 Regen auf ihrer Haut zu spüren. Die ersten Blitze schossen

8 wie Aale über den nachtschwarzen Himmel. Das Wasser schoss

9 Löcher in den Sand.

10 So etwas hast du noch nie erlebt!

11 „Hast du eine Flasche? Damit könnten wir etwas davon

12 auffangen!“, schrie Mathieu über den grollenden Donner

13 hinweg zu mir herüber. Nickend blickte ich mich nach meinem

14 Rucksack um, den ich schließlich einige Meter entfernt

15 liegen sah. Glücklicherweise war sein Inneres zum größten

16 Teil trocken. Hektisch brachte ich Flaschen, Dose, alles,

17 was wir gebrauchen konnten, zum Vorschein. Deren Inhalt,

18 Brot, Süßigkeiten und Ähnliches, sammelte ich auf der


19 bereits durchnässte Decke. Mathieu, der nun zu mir herüber

20 kam, schnappte sich eine der Dose und hielt sie mit beiden

21 Händen in den Himmel. Sekunden später schwappte die

22 durchsichtige Flüssigkeit beinahe über den Rand hinweg. Mit

23 einem letzten Ächzen verzogen sich die Wolken ebenso

24 plötzlich, wie sie gekommen waren. Der Himmel hatte

25 aufgehört zu weinen. Die Sonne strahlte wieder.

26 „War das nicht eine gute Dusche?“, fragte Mathieu, während

27 er sich neben mich kniete, um mir beim Einpacken zu helfen,

28 welches uns nun größere Schwierigkeiten bereitete.


29 „Die Beste, die ich jemals hatte.“, stimmte ich ihm

30 nickend zu und legte ein Brot in den bereits überfüllten

65
1 Rucksack. Dabei lastete Mathieus argwöhnischer Blick auf

2 meinen Schultern. „Das bekommst aber selbst du nicht in die

3 Tasche!“

4 „Nein, das werden wir so trägen müssen.“, erwiderte ich

5 und schloss den Reißverschluss.

6 „Wie denn?“

7 Ich verzog den Mund, zuckte mit den Achseln, während ich

8 überlegte. „Wir können die Decke als Sack nehmen!“ In meinen

9 Gedanken tauchte das Bild meines Vaters auf, der als

10 Weihnachtsmann verkleidet, einen Sack über den Schulter

11 trug. Wenn du nicht artig bist, steck ich dich darein, hat

12 er durch seinen wattweißen Bart genuschelt. Mein erstes

13 Weihnachten, welches ich bewusst miterlebt habe, nicht nur

14 von Fotos her kannte. Es soll auch unser letztes gemeinsames

15 Weihnachten gewesen sein. Damals habe ich noch stundenlang

16 am offenen Fenster sitzen und immerzu in den Himmel starren

17 können, ständig in der Hoffnung der Christkind würde kommen.

18 Bei jedem Hubschrauber, jedem Flugzeug, ja sogar bei jedem


19 Sterne, der in dieser schwarzen Nacht zu leuchten vermochte,

20 mochte ich jenes Strahlen in den Augen gehabt haben. Mama,

21 Papa, habe ich aufgeregt gerufen, Mama, Papa, der goldene

22 Schlitten und Rudolf, das Rentier, mit der roten Nase, sind

23 da oben. Doch dem war nicht so, nicht ein einziges Mal.

24 Mathieus Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Es brauchte

25 einige Sekunden, bis er meine ganze Aufmerksamkeit vollenden

26 wieder hatte.

27 „Wie der Weihnachtsmann.“

28 „Den kenne ich nicht. Läuft der auch wie blöd mit einem
29 Sack über der Schulter?“

66
1 Ich seufzte. „Keiner zwingt dich dazu, es zu tun. Hier,

2 nimm den Rucksack.“ Um nicht erneut etwas zu sagen, was ich

3 binnen Minuten bereuen konnte, presste ich schnell die

4 Lippen aufeinander, reichte ihm den Rucksack, den dieser

5 nach kurzem Abwiegen sinken ließ. „Was bitte hast du darein

6 gestopft? Von Steinen war nicht die Rede!“

7 „Vieles.“, entgegnete ich knapp, während ich die Ecken des

8 ausgebreiteten Schlafsacks zusammenlegte. Im Blickwinkel

9 bemerkte ich Mathieu, der sich an dem Reißverschluss zu

10 schaffen machte. Mamas Ring glitt aus seiner Hand.

11 Sekundenspäter konnte ich sein Glitzern im Sand kaum noch

12 vernehmen.

13 Energisch wühlte ich in den groben Körner des goldbraunen

14 Meeres, die meine Erinnerung immer mehr zu verschlucken

15 drohten. „Was machst du da!?“ Blind, den Blick nur auf

16 Mathieu gerichtet, der sich nicht an der Suche beteiligen

17 scheinen zu wollen, wühlte ich im Sand, als die Finger

18 meiner linken Hand etwas Metallisches ertasteten und ich


19 erleichtert den Ring an meine Brust drückte, als wäre dieser

20 der größte Schatz dieser Erde.

21 „Jetzt da du ihn wiederhast, können wir ja entscheiden,

22 was wir hier lassen.“

23 Erbost starrte ich Mathieu an. „Entscheiden, was wir hier

24 lassen?“, fuhr ich ihn an, ganz gegen meine Art wütend zu

25 werden, „Hast du eine Ahnung, wie viel mir die Sachen

26 bedeuten? Aber nein, woher auch! Du hast ja nichts, was dir

27 wichtig ist!“ Ich erwartete, ein Gegenwehr oder zumindest

28 etwas, womit er sich zu verteidigen versuchte. Die Worte


29 kreisten wie die Geier über uns. Wie Geister, diese

30 unausgesprochenen Wörter. Ich hätte vieles sagen können,

67
1 wollen in diesem Augenblick. Und dennoch bewegte ich nur

2 lautlos die Lippen. Mathieu, ich rede mit dir! Ich mochte

3 seine verletzenden Sprüche hassen, hassen, doch immerhin war

4 er mein Freund, der dort ungewohnt ruhig vor mir stand.

5 Mathieu, Mensch, sag was! Ja, ja, ja, ich mag auch Mist

6 gelabert haben, aber du… Ach, komm vergiss es, Okay? Lass

7 uns endlich Spaß haben. Nur wir beide, du und ich, gegen den

8 Rest der Welt.

9 „Ja.“, murmelte Mathieu nach einer Weile, „Irgendwie hast

10 du recht. Es wäre wirklich dumm, so einen Ring hier im Sand

11 zu vergraben, wo man doch vielleicht in der Stadt echtes

12 Geld dafür kriegen könnte!“

13 Ich lächelte zögerlich, unwissend, ob er das mit dem

14 Verkaufen ernst gemeint hatte. Aber zum Glück war für diesen

15 Zeitpunkt alles wieder in Ordnung. „Ähm… Stadt?“ Ich drehte

16 mich fragend im Kreis. Mathieu hielt mich an der Schulter

17 fest und ein wenig entsetzt folgte mein Blick seiner Hand,

18 die mitten in einen Urwald deutete. „Das ist der schnellste


19 Weg.“

20 Verneinend schüttelte ich den Kopf. „Der schnellste Weg in

21 den Selbstmord.“ Auf keinen Fall gehst du dadurch, Tim!

22 „Feigling.“, meinte Mathieu achselzuckend, wobei er meinen

23 Rucksack über die Schulter warf. „Nach dem Regen kann das

24 Wetter plötzlich umschlagen. Gut möglich, dass wir in einen

25 Sturm geraten. Ein Cousin meines Onkels hatte einmal das

26 Vergnügen. Einmal.“

27 „Und das sagst du mir erst jetzt?“

28 Erneut zuckte Mathieu die Schultern. „Du hast mich nicht


29 danach gefragt.“, erwiderte er.

68
1 Ich spürte, wie sein Blick mich von hinten zu durchbohren

2 schien. Natürlich, dachte ich verärgert, hast du nicht

3 gefragt, wer, wann, was, wie, wo getan hatte. Theoretisch

4 interessiert es dich nicht einmal. Theoretisch nicht,

5 praktisch schon. Denn jetzt bist du es, der durch dieses

6 Mienenfeld zu laufen hat.

7 „Wir hätten über die Straße gehen sollen.“, schlug ich

8 wenig überzeugend vor. Wenn Mathieu erst einmal eine Sache

9 begonnen hatte, konnte man ihn nur selten davon abbringen,

10 diese nicht auch zu beenden. So mal ich es war, dem er in

11 dieser Hinsicht nicht sonderlich oft recht gab.

12 „Tim, Tim, Tim. Du bist einfach zu gutgläubig. Und

13 außerdem…“ Er rieb mir mit seiner freien dreckigen Hand über

14 das Gesicht. „…musst du dich anpassen.“

15 Angewidert fuhr ich mir durch die Haare, dann über die

16 rauen Wangen. „Warum?“

17 „Dummerchen, weil sonst jeder weiß, dass du nicht von hier

18 bist. Und Menschen, die nicht von hier sind, haben Geld. Und
19 Geld ist etwas, was jeder Einheimische gut gebrauchen kann.

20 Denn hier gilt nur ein Gesetz: Gefressen oder gefressen

21 werden…“

22 „Du meinst…?“

23 „Ja, wenn die in Kpalimé herausfinden, wer du bist, dann

24 würde ich dir wünschen, nicht geboren zu sein.“

25 Ich bemühte mich, nicht allzu gestockt zu reagieren. Doch

26 mein Gesichtsausdruck musste mich wieder einmal verraten

27 haben. „Du machst mir Angst.“

28 „Hey, das heißt nicht, dass du jetzt bei jedem, den wir
29 treffen, gleich in Panik ausbrechen musst. Verhalte dich

30 ganz unauffällig, klar?

69
1 Ich nickte zaghaft, wobei ich die letzte Ecke des

2 Schlafsacks zusammenlegte. „Okay, aber du hast mir immer

3 noch nicht gesagt, warum wir ausgerechnet durch die Wüste

4 müssen.“

5 Mathieu schüttelte abwehrend den Kopf. „Das wirst du noch

6 früh genug herausfinden.“

7 Herausfand ich es auch, nur früher als mir lieb war.

8 Ich habe mich damals oft gefragt, warum Mathieu mir nie

9 die Wahrheit gesagt hatte. Warum er mir alles verschwieg,

10 was er über den Tod meines Vaters wusste, was er über mich

11 wusste. Ständig habe ich nur versucht, zu begreifen, wer er

12 war, dieser Junge, mit dem kurz geschorenen Haar und den

13 vielen Narben auf Armen und Beinen. Ständig habe ich nur

14 versucht, zu verstehen, und tat es dennoch nie. Nicht einmal

15 dann, als ich in die dunklen, fast schwarzen Augen sah, die

16 wie durch die Splitter einer eingeworfenen Fensterscheibe in

17 mein Inneres blickten. Die wirkliche Frage dahinter, die war

18 es, die ich nie verstehen oder begreifen wollte.


19 Außer Atem, keuchend stürzte ich das Wasser in der Kehle

20 herunter. Meine Haut brannte wie Feuer, obwohl ich jede

21 halbe Stunde stehen geblieben war, um sie erneut

22 einzucremen.

23 „Mathieu…?“, schrie ich heiser, doch ich spürte, dass das,

24 was mir von den Lippen ging, kaum mehr als ein Flüstern sein

25 mochte. Kraftlos sank ich auf die Knie. Ich würde keinen

26 Schritt mehr weiter tun. „Mathieu…!“, rief ich noch einmal,

27 erhielt erneut keine Antwort. Ein Husten in der Nähe oder

28 etwa weit, weit entfernt? Mittlerweile mochte das Einzige,


29 was ich realisierte, die Tatsache sein, dass wir uns

30 verlaufen haben mussten.

70
1 „Tim? Tim!“ Blinzelnd setzte ich mich auf, beobachte

2 missbillig den auf einem Bein springenden Mathieu, der mir

3 zu rief, er habe etwas gefunden.

4 Für den Fall, dass du mich jetzt weckst, nur um mir zu

5 zeigen, dass du eine alte Bierdose gefunden hast, kannst du

6 froh sein, wenn du mit einem fehlenden Zahn davon kommst.

7 Gähnend stolperte ich herüber - und war mit einem Schlag

8 hellwach. Eine Tasse, halb bedeckt vom Sand. Nichts

9 besonders, eigentlich hatte sie kaum Wert. Und dennoch

10 irritierte mich deren Aufschrift “LC Köln”, die von

11 überdimensionalen, leicht verblassten rot-schwarzen

12 Buchstaben und dem Läufer noch unterliniert wurden. Ich

13 kannte diese Tasse, denn es war meine eigene gewesen - bis

14 ich sie meinem Vater zum Geburtstag geschenkt hatte. Seither

15 trank er jeden Morgen seinen Kaffee daraus. Kaffe,

16 maschinell gemahlen in Brasilien, schwarz, dazu die Zeitung.

17 „Hey!“ Mathieu stieß mich behutsam in die Seite. Ich

18 beachtete ihn nicht, wog nur diese Tasse in meinen Händen.


19 Sie hier im Sand zu finden, fernab von Deutschland, war ein

20 Wunder. Sanft strich ich mit den Fingern über den Läufer.

21 Eine andere Welt, wie aus einem Traum. Mein erstes Leben, so

22 anders als das hier und jetzt. Dabei hatte ich noch nicht

23 einmal begonnen, richtig zu leben.

24 „Hast du noch mehr davon gefunden?“, fragte ich leise,

25 weil ich mich plötzlich vor meiner eigenen Stimme fürchtete,

26 die mich aus diesem Traum wecken konnte. Obwohl Mathieu den

27 Kopf schüttelte, beugte er sich herunter, um mit beiden

28 Händen im Sand zu wühlen. Ich tat es ihm gleich, wenn auch


29 ein wenig hektischer. Allerdings musste ich mir schon nach

30 Minuten eingestehen, dass meine Finger schmerzten, als hätte

71
1 ich einen kompletten Nordseestrand mit Muscheln und kleinen

2 Steinchen umgegraben. Dabei war das Loch kaum mehr als zehn

3 Zentimeter tief. Mathieu buddelte noch einige Zeit weiter,

4 wenn auch nur, um mir zu beweisen, dass er besser war, wie

5 ich vermutete. „Da, wo du herkommst, lernt man so was

6 scheinbar nicht.“, meinte er Stirn runzelnd und betrachtete

7 die vielen, zum Teil wieder vom Sand verwehten Gräben.

8 „Selbst wenn wir die ganze Nacht so weiter machen, glaub ich

9 nicht, dass wir noch irgendetwas finden. Es sei denn, es

10 fällt vom Himmel.“ Insgeheim musste ich ihm recht geben.

11 Vielleicht hatte Papa die Tasse einfach bei einer Pause an

12 dieser Stelle vergessen oder versucht, einen “LC-Köln“-

13 Tassenbaum zu pflanzen, ebenso wie ich es oft heimlich mit

14 Gummibärchen oder mit meinem Schnuller getan hatte.

15 Vielleicht, doch mein Instinkt verriet mir anderes. Es war

16 dasselbe unbestimmte, aber sichere Gefühl wie am gestrigen

17 Morgen. Das Gefühl, dass es kein Unfall gewesen sein konnte.

18 Aber wenn Papa nicht verunglückt war, was…? Unschlüssig


19 musterte ich die Tasse, an deren Rand noch ein kläglich,

20 brauner Kaffeerest haftete. Ich wollte den Gedanken nicht zu

21 Ende führen. Dein Vater ist tot, Tim, t-o-t. Wie er

22 gestorben ist, spielt keine Rolle. Doch ich wusste, dass

23 das, was ich mir einzureden versuchte, nicht wahr war. Denn

24 das Verlangen, endlich einmal die Wahrheit zu erfahren,

25 wuchs mit jedem Augenblick, der sinnlos verstrich.

26 „Lass uns nach Kpalimé gehen.“, murmelte ich mehr zu mir

27 selbst, als zu meinem Freund. Vor seinem Tod hatte Papa

28 hatte sie oft besucht, die Stadt. Zumindest hatte er es oft


29 behauptet. Wenn ich demnach Hinweise finden wollte, wäre es

30 vermutlich klug, dort den Anfang zu machen. Vor allem auch

72
1 Mathieu wegen, dem ich nicht zumute konnte, sämtliche Wüsten

2 zu durchkämen, in der ständigen Hoffnung Gründe im Sand der

3 Unterwelt zu finden.

4 Dieser nickte zustimmend, lenkte, dass wir nur meinetwegen

5 überhaupt Halt gemacht hätten.

6 Kpalimé - eine kleine, aber erstaunlich belebte Stadt in

7 mitten eines vom Licht der Sonne in einen sanften rot-grün

8 Stich getauchten Ozeans. Die Häuser mochten alle

9 unterschiedlich sein: Hütten oder Gebäudekomplexe, Holz

10 oder Ziegelstein, modern oder altertümlich, bildeten jedoch

11 einen eng miteinander verbundenen Kreis. Auf den Straßen

12 tummelten sich Menschen jeglicher Art und Größe, manche in

13 kleineren Gruppen, andere alleine. Unter ihnen auch viele

14 aufdringliche Händler, die ihre Waren anpriesen, und

15 bettelende Kinder, die am Straßenrand kauerte.

16 „Beste Zigarren. Sehr billig.“

17 „Frischer Fisch!“

18 „Bitte, bitte. Ich hab Hunger. Bitte…!“


19 Ein überladender, klappernder Bus schoss über die Straße

20 hinweg, ohne auf die Menschen Rücksicht zu nehmen, die nun

21 erschrocken zur Seite sprangen. Staub wurde aufgewirbelt.

22 Eine Gruppe Männer, mit schmutzigen Hemden und Strohhütten

23 bekleidet, hob brüllend die Fäuste. Frauen in langen

24 Kleidern nahmen ihre spielenden Kinder bei der Hand. Eine

25 überreifte Wassermelone zersprang auf dem Boden. Sekunden

26 später war sie von einer Meute hungriger Menschen umzingelt,

27 die gierig über sie herfiel.

28 Dies war Kpalimé - ein bunter, zugleich schwarzer Fleck


29 inmitten eines leeren Herzens.

73
1 Ein letztes Mal wandte ich mich dem rotgrünen Gebirge zu.

2 Unsere Fußspuren waren beinahe verweht. Ich seufzte. Nun gab

3 es kein Zurück mehr, wenn es denn jemals eines gegeben

4 hätte. Für niemanden von uns. Großes, Spanien-Ehrenwort, du

5 bist die beste Freundin, die ich mir wünschen kann. Großes

6 Spanien-Ehrenwort, kleine Schwester, ich werde dich wieder

7 finden.

8 Ich werde dich finden, in dieser neuen Welt, das

9 verspreche ich dir, Kay.

10 Dann wagte ich den Schritt über die Klippe hinaus.

11 Auf einmal war es ganz leicht, einen weiteren zu machen

12 und noch einen. Meine Füße folgten meinem Herzen

13 bedingungslos.

14 Mathieu lachte. „Du siehst aus wie der Surfer auf deinem

15 T-Shirt…“ Er zuckte belustigt mit der Schulter. „… kurz vor

16 dem Absturz.“

17 Ich blieb abrupt stehen. Wir hatten die Stadt erreicht.

74
1 3. Kapitel
2 „Yovo, Yovo!“

3 Erstaunt blickte ich mich nach allen Seiten um. Eine

4 ältere, in ein buntes Gewand gehüllte Frau humpelte aus

5 einem Gebäude. Internetcafé stand in unleserlichen,

6 handgeschriebenen Großbuchstaben über der Eingangstür. Durch

7 die verschmierten, von schmutzigen Pappestreifen in den

8 verschiedensten Farben behangenen Fensterscheiben ließen

9 sich die wenigen, vermutlich in Europa längst überholten

10 Computer ausmachen. Das Internet war langsam, zu langsam,

11 doch wenn man die Verhältnisse nicht kannte, fiel es einem

12 kaum auf. Als Mathieu mich am Arm weiterziehen wollte,

13 schüttelte ich den Kopf. Yovo Junior hatte die Frau gerufen,

14 die nun durch ein rostiges Brillengestell zu uns

15 herüberschielte. Kleiner Weißer… Das musste bedeuten, dass

16 auch einmal Yovo Maximo, große Weiße, hier gewesen sein

17 mochten. Vielleicht nicht gestern oder vorgestern, sondern

18 vor einer geraumen Zeit.


19 „Mathieu, gehst du schon mal vor.“

20 „Wohin?“

21 „Etwas kaufen.“

22 „Irgendetwas? Einfach so? Von deinem Geld?“

23 „Ja!“

24 Verwirrt zuckte Mathieu mit den Schulter, ließ mich aber

25 nach kurzem Überlegen dennoch mit der Bitte, ich solle ja

26 nichts Böses anstellen, alleine zurück, während er über den

27 Markt davonlief, auf dem sowohl Gemüse und Früchte als auch
28 Zahnbürsten oder T-Shirts angeboten wurden. Schon

29 Augenblicke später hätte ich mich ohrfeigen können für die

75
1 Dummheit, diesen Jungen mit meinem Hab- und Gut quer durch

2 ganz Kpalimé zu schicken. Wer wusste schon, ob es nicht

3 zufällig einen Händler für Gameboys oder Modelautos gab.

4 Dafür jedoch war es nun zu spät, schätzte ich achselzuckend.

5 Die alte Frau zwinkerte verführerisch, beinahe wie eine

6 Hexe, wirkte sie. Geheimnisvoll, doch ich ließ mich darauf

7 ein, von ihr in ihr Häuschen aus Zuckerstangen und

8 Lebkuchen, zusammengehalten von kaum mehr als ein paar

9 Tupfern herrlich süße duftendem Klebstoff, entführt zu

10 werden. „Yovo!“, kicherte sie noch einmal mit ihrer tiefen,

11 fast männlich klingenden Stimme und winkte, als ich zögernd

12 über den Weg zu ihr schlich, dabei das Foto aus der

13 Jackentasche kramend. Die Borsten ihres Besens strichen

14 rhythmisch zu einem alten Lied über den staubigen Holzboden.

15 Eine junge Frau erschien kurz, einen zur Hälfte mit Wasser

16 gefüllt Eimer in der einen Hand schwenkend. Auch sie nickte

17 mir freundlich zu, wandte sie dann aber ab, um einen

18 kräftigen Riesen zu begrüßen. Sein herablassender Blick


19 irrte umher und blieb schließlich merklich an mir hängen:

20 Zarin, der Mann von Keenans verstorbenen Schwester Ismen,

21 der spurlos für Stunden, manchmal sogar für Tage aus dem

22 Dorf verschwand. Vom Erdboden verschluckt oder der drückt

23 sich nur vor der Arbeit und treibt es mit anderen Frauen,

24 hieß es aus vielen wütenden Mündern der Dorfbewohner. Keenan

25 hatte jedes Mal stumm den Kopf geschüttelt. Ich habe

26 gesehen, wie er litt, sooft habe ich es in seinen leeren,

27 grauen Augen gesehen. Zarin nun auf dem Markt von Kpalimé

28 anzutreffen, wunderte mich nicht. Es jagte mir vielmehr


29 einen heißkalten Schauer über den Rücken. Sekunden betete

30 ich, dass er mich nicht erkennen mochte, doch meine Hoffnung

76
1 wurde jäh zerstört, als er die Hand hob, um die Frau zum

2 Schweigen zu bringen, und einen Schritt auf mich zu machte.

3 Hastig senkte ich den Kopf und begann angeregt eines der

4 Plakate am Fenster zu studieren, während ich mich

5 unauffällig bückte, um mir ein wenig des zusammengefegten

6 Drecks ins Gesicht zu reiben. Zufrieden betrachtete ich

7 meinen Zwillingsbruder im matten Glas der Fensterscheibe,

8 als sich die Fingernägel einer schmutzigen Hand in meine

9 Schulter bohrten. Mit gespielten Erstaunen wandte ich mich

10 um und erwiderte, geradezu erbost, dass man mich vom Lesen

11 abhielt: „Ja?“ Ich versuchte, möglichst selten den Mund

12 aufzumachen, denn ich war mir schon damals als Neunjähriger

13 sicher, dass mein Akzent mich verraten würde.

14 Reden ist Silber. Schweigen ist Gold. Glücklicherweise

15 hatte ich nach geraumer Zeit die Aussprache der Kinder im

16 Dorf nachgeahmt, sodass ich, wie Mathieu einmal behauptete,

17 nicht als Ausländer aus hundert Meter Entfernung gerochen

18 werden konnte.
19 Ich grinste, wenn ich an diese Zeit zurückdachte, in der

20 wir uns, flach auf den Boden gepresst, an die Mütter

21 herangepirscht oder einfach im Schatten Sandburgenbauen

22 hatten, die wir nach hitziger Verteidigung selbst

23 zerstörten. Wir haben viel voneinander gelernt. Dinge, die

24 für jeden von uns bedeutend werden würde, unabhängig davon,

25 wie der Würfel fiel.

26 „Darf ich dich etwas fragen, Kleiner?“ Seine Worte wurde

27 durch den französisch-afrikanischer Dialekt dieser Gegend,

28 den sie Ewe nannten, fast unverständlich.


29 „Ich bin nicht klein.“, entgegnete ich so im selben

30 Tonfall, dabei beleidigt das Gesicht verziehend.

77
1 „Okay.“ Der Mann zuckte gleichgültig die Schulter. „Weißt

2 du, ich bin auf der Suche nach zwei Jungen. Beide etwa in

3 deinem Alter. Ein Weißer, ein Togolese. Du siehst dem einer

4 sogar sehr ähnlich.

5 „So sieht aber fast jeder hier aus.“

6 „Die beiden heißen Tim und Mathieu.“

7 Es fiel mir nicht schwer, überrascht zu wirken. „Ach, den

8 Deutschen meinst du? Dem sein Vater gestorben ist.“

9 „Ja.“ Der Riese nickte eifrig. „Du kennst ihn?“

10 Der Impuls des Lachens überkam mich, doch es gelang mir,

11 ihn zu unterdrückt. Warum lachst du? - Weil es so lustig

12 ist, dass du nicht merkst, dass ich mit dir Katz und Maus

13 spiele. Du glaubst immer noch, das Gummibärchen in der Hand

14 zu haben, dabei schläft es längst in meinem Bauch.

15 „Warum nicht?“, erwiderte ich unschuldig, wobei ich

16 versuchte, das Kratzen des Staubs in meinem Hals zu

17 vergessen. Würde ich husten, wäre meine Tarnmaske

18 augenblicklich vom Winde verweht.


19 „Hast du ihn gesehen? Es ist wichtig, weißt du, Tim musst

20 sofort zurück nach Deutschland.“

21 Ich stutzte, ließ es mir jedoch nicht anmerken. Warum war

22 ein erwachsener Mann bereit, seine Zeit zu opfern, um einen

23 weniger bedeutsamen Jungen aus dem Land fortzuschaffen? Was

24 für ein Sinn mochte all dies haben? Ich stand am Tor eines

25 immer größer werdenden Labyrinthes mit vielen ineinander

26 verzweigten Gängen, ganz ohne Karte, Kompass oder

27 irgendetwas, was mir Auskunft darüber geben konnte, wohin

28 dieser Weg führte.

78
1 „Vor ein paar Tagen hab‟ ich noch mit ihm Fußball

2 gespielt. Warum muss der denn jetzt weg? Kommt der dann gar

3 nicht wieder?“, fragte ich, bemüht unparteiisch zu klingen.

4 „Wahrscheinlich nicht. Es ist zu seinem Besten. Ihm könnte

5 vielleicht etwas zustoßen, bliebe er hier. Du hast ihn also

6 seitdem nicht mehr gesehen?“

7 „Nein. Er hat mir nicht einmal gesagt, dass er abhauen

8 will.“

9 Zarin stöhnte, dann wandte er sich ohne ein Wort des

10 Abschieds oder Dankes ab und stolzierte über den Markplatz

11 davon, bis er in der bunten Menschenmenge verschwand.

12 Erleichtert atmete ich auf, wartete jedoch noch einige

13 Minuten mit dem Abwaschen des Drecks, aus Angst der Mann

14 könnte zurückkommen. Das Gemisch aus Sand und Staub klebte

15 wie Beton auf meinem verschwitzten Gesicht. Energisch sah

16 ich mich nach Wasser um und erspäht schließlich den Eimer,

17 in den die jüngere Frau in unregelmäßigen Abständen einen

18 Stoffrest tauchte, um die Fenster zu putzen. Kurzer Hand


19 kniete ich mich trotz ihres irritierten Blickes neben diesem

20 nieder und begann mein rotes Gesicht zu reiben. Das Wasser

21 verdampfte augenblicklich auf meiner Haut, dennoch waren die

22 kleinen aufsteigender Wolken wohltuend. Erneut bemerkte ich

23 die junge Afrikanerin, der ich scheinbar eine Erklärung

24 schuldig war. „Das war ein Spiel. Ich wollte einmal

25 ausprobieren, ob jemand bemerkt, dass ich ein ‚Weißer‟ bin.

26 Tut mir leid.“

27 Ich seufzte. Wie ich es hasste, lügen zu müssen! Aber die

28 Wahrheit hätte die Frau nicht verstanden. Wieso auch, wenn


29 ich es selbst nicht begreifen konnte oder wollte, dass die

30 Erde sich rechts herumdrehte und nicht links.

79
1 „Schon in Ordnung.“ Sie lächelte amüsiert, während sie mit

2 der freien Hand unbemerkt ausholte, um mir Wasser ins

3 Gesicht zu spritzen.

4 „Shayne!“ Augenblicklich wandte sich die junge Frau ab, um

5 ihrer Arbeit nachzugehen. „Shayne!“ Die alte Herrin stürmte

6 mit wild umherfuchtelnden Armen und einem vor Zorn

7 verzerrtem Gesicht aus dem Gebäude. Als sie mich erblickte,

8 verflog ihre Wut. „Yovo! Was kann ich für dich tun?“, rief

9 sie und legte mir freundlich die Hand auf die Schulter. In

10 ihrer oberen Zahnreihe fehlten zwei Zähne, was meine

11 anfängliche Hexenvermutung nun noch bekräftigte.

12 Hastig ließ ich meinen Blick umherschweifen, um sicher zu

13 sein, dass mich niemand beobachtete, dann holte ich das

14 zerknittere Foto aus meiner Jackentasche hervor.

15 „Ich suche jemanden.“ Mit dem Finger deutete ich auf den

16 Mann, während ich der alten Frau das Bild in die Hand

17 drückte, die es aufmerksam betrachtete. Dann und wann wiegte

18 sie den Kopf, sagte jedoch nichts. Schließlich nickte sie.


19 „Ich meine, ihn ein paar Male hier gesehen zu haben. War

20 sogar beim mir im Geschäft. Netter Mensch, hat zwei der

21 Computer repariert und dafür lediglich verlangt, ab und zu

22 alleine im Café zu sein. Warum, sagte er mir nie. Aber es

23 schien ihm wichtig, das spürte ich.“ Sie machte eine

24 vornehme Atempause, wobei sie einladend den Arm ausstreckte,

25 um mir den Vortritt in ihr Haus zu gewähren.

26 Vorsichtig huschten meine Augen durch das von einer

27 einzigen, kalten Glühbirne spärlich erhellte Zimmer. Gegen

28 eine der nackten Holzwände waren zwei Tische geschoben, auf


29 denen die staubigen Bildschirme dreier Computer standen,

30 alle sehr nahe aneinandergerückt. Ihnen gegenüber erstreckte

80
1 sich eine verhältnismäßig riesige Theke, über deren Fläche

2 schmutziges Geschirr verstreut war. Auf jedem der metallenen

3 Barhocker hatte man ein selbst gestricktes Kissen gelegt.

4 „Setz dich doch.“, forderte mich die alte Frau auf, während

5 sie hinter dem Tresen verschwand. Kurze Zeit später war das

6 Klirren von Gläsern zuhören. Verlegen ließ ich mich auf

7 einem der Stühle nieder. Es fühlte sich seltsam an, hier zu

8 sitzen, in einem Café mit einer Frau, deren Namen ich nicht

9 einmal kannte. Es fühlte sich seltsam an, aber nicht fremd,

10 vielmehr vertraut. Beinahe so, als sei es etwas ganz

11 Natürliches. Etwas, das in Deutschland nie geschehen würde.

12 Jedenfalls nur äußerst selten.

13 „Einmal habe ich ihn nach seinem Namen gefragt.“, fuhr die

14 Frau fort, ohne sich von dem von einer Plane bedeckten Boden

15 zu erheben, „Einmal, aber er zuckte nur die Schultern: Namen

16 hätten für ihn keine Bedeutung. Warum, habe ich nachgehackt,

17 ein wenig entsetzt, will ich meinen. Warum? Weil sie

18 unwichtig seien. Namen sind bloß Worte, wie tausende und


19 abertausende auf dieser Welt. Man sollte Lebewesen nicht nur

20 unter einem Begriff kennen, sie dadurch unterscheiden,

21 sondern durch das, was sie tun, im Guten wie auch im

22 Schlechten. Das hat er gesagt und ich habe es bis heute

23 nicht vergessen, denn ich wusste, dass er recht hatte.

24 Dieser weise Mann aus dem fernen, fernen Land.“ Sie

25 kicherte, wobei sie strahlend die Flasche Mangosaft

26 hochhielt, nach der sie gesucht hatte. „Frisch zubereitet.“,

27 erwiderte sie beim Eingießen, „Hilft gegen böse Seele.

28 Trink, Kindchen, trink.“


29 Ich spürte, ihren Blick, der versuchte, in mich

30 hineinzusehen. Unruhig, wie ein aufgescheuchter Vogel

81
1 drückte ich mich fester gegen die Lehne meines Stuhles, ohne

2 die ich sicherlich gestürzt wäre. Tim, beruhige dich. Das

3 bildest du dir nur ein. Doch ich wusste, dass dem nicht so

4 war. Das Glas mit der gelblichen Flüssigkeit war meinen

5 blauen Lippen plötzlich nahe. „Trink, Kindchen.“ Ein irres

6 Lachen. „Trink!“

7 Wie in einem Albtraum, in dem die Hexe versuchte, ihr

8 Opfer zu vergiften. Nein…!

9 „Alles in Ordnung? Ich hatte keine Ahnung, dass du

10 Mangosaft hasst.“, entgegnete die Frau entschuldigend.

11 Ich schüttelte geistesabwesend den Kopf. Was war passiert?

12 „Die meisten meiner Gäste mögen ihn.“

13 Hastig ließ sie die Flasche unter der Theke verschwinden

14 und betrachte mich aufmerksam durch ihre grünen Augen.

15 „Woher kennst du eigentlich diesen Mann?“

16 Immer noch ein wenig verwirrt, wiegte ich den Kopf. Ihr zu

17 erzählen, dass er mein Vater war, konnte ein Fehler sein.

18 Schließlich hatte sie mir alles preisgegeben, was sie


19 wusste, ohne eine einzige Frage zu stellen. „Ein Freund

20 meiner Eltern. Er sagte, ich solle dir schöne Grüße

21 ausrichten, weil er für ein paar Wochen wegginge. Ich hatte

22 gehofft, ihn noch einmal zu sehen.“ Bevor die Frau etwas

23 einwenden konnte, sprang ich von dem Stuhl und erkundigte

24 mich grinsend, ob ich einen der Computer benutzen dürfte.

25 Sie willigte ein, etwas erstaunt, wie es schien. Als ich ihr

26 zudem noch einen CFA-Schein in die Hand drückte, breitete

27 sich ein freudiges Lächeln auf ihren runzeligen Lippen aus.

28 Ich wartete, bis sie pfeifend aus dem Zimmer verschwand,


29 dann startete ich eines der Geräte. Daheim in Deutschland

30 hatte Papa immer den Computer für geschäftliche Zwecke

82
1 genutzt. So jedenfalls behauptete er es, um einen Verwand zu

2 haben, mir auch dieses Spiel verbieten zu können. Doch, wenn

3 ich ehrlich war, alles Geheimnisvolle lockte mich magisch

4 an. Schon bald fand ich eine Möglichkeit, unbemerkt an

5 diesen Roboter zu gelangen. Auf dem Bildschirm erschienen

6 mehrere kleine Bilder. Unter ihnen ein kleines, blaues, mir

7 wohl bekanntes ‚e‟ für Internet. Ich wusste nicht genau,

8 wonach ich suchte oder was ich erwartete, doch ich wusste,

9 dass ich es hier finden konnte, wenn ich wollte. Mit dem

10 Zeigefinger nach den Buchstaben suchend, tippte ich Papas

11 Passwort in das Eingabefenster eines Email-Kontos ein.

12 Sylvie, genau wie meine Mama. Ich seufzte. Warum… Mama,

13 warum? Meine linke Hand verkrampfte sich um die Maus. "Warum

14 kannst du nicht endlich verschwinden aus meinem Leben, wenn

15 du mich schon alleine gelassen hast?", schrie ich, bemüht

16 nicht zu weinen. Wie ein Geier über seine Beute kreiste mein

17 zitternder Zeigefinger über der Eingabetaste. Sekunden

18 verstrichen, bevor sich der Bildschirm langsam verfärbte.


19 "Hallo Marc!", blinkte es in kursiv gedrückter, bläulich

20 leuchtender Schrift, darunter zwei ungelesene Nachrichten,

21 beide von demselben, namenlosen Absender. Die Letzte war

22 heute früh abgeschickt worden. Augenblicke zögerte ich. Das

23 ist nicht deine Angelegenheit, Tim. Das hat nichts mit dir

24 zu tun. Fahr den Computer herunter und hau ab. Doch ich

25 schüttelte den Kopf. Ich würde nicht noch einmal wie ein

26 Feigling davonlaufen.

27 Ohne es recht zu wollen, vollführten meine Finger den

28 entscheidenden Mausklick. Eine Seite öffnete sich, als mir


29 plötzlich der Atem stockte. Das Blut gefror in den Adern.

83
1 Mein Körper schien wie betäubt. Es kribbelte, stach in

2 meiner Brust.

3 Kamikaze erhob sich in bedrohlich blutfarbenen, umrahmten

4 Buchstaben von den restlichen, ebenfalls roten Zeichen. Ich

5 habe es schon einmal gesehen, trug es sogar in jedem

6 Augenblick bei mir, dieses Wort. Trug es bei mir, ohne die

7 Bedeutung zu kennen, einfach so.

8 Hektisch strich ich mir eine Strähne aus der Stirn, wobei

9 ich mich aufmerksam umsah, um sicher zu gehen, alleine im

10 Café zu sein. Dann holte ich die Kalenderseite hervor. In

11 verschmierten, fast unleserlichen Buchstaben strahlte es

12 etwas unnatürlich Starkes aus. Etwas Gefährliches, das mir

13 einen Schauer über den Rücken jagte, obwohl ich nicht einmal

14 das wirkliche Ausmaß dieses Wortes erahnen konnte: Kamikaze.

15 Unwiderruflich begann ich zu lesen. Meine Zunge verschlang

16 jedes der Worte, schmeckte jeden Buchstaben, ja sogar den

17 einzelnen Farbklecks, auf der blassen, weißen Wand, bis mein

18 Blick in tausend Splitter eines Mosaiks zerschlagen wurde.


19 Der Brief war in einer seltsamen, den meisten Menschen in

20 diesem Land fremden Sprache verfasst, doch es war eine

21 besondere Sprache, zumindest für uns beide: Es war unsere

22 Sprache, Kays und meine. Englisch. Dennoch irritierte es

23 mich, das, von dem ich geglaubt hatte, es verloren zu haben,

24 hier wieder zu finden. Schließlich mochte es in Kpalimé

25 weniger Ausländer geben, als beide Hände Finger haben. So

26 jedenfalls hatten wir es bisher immer angenommen, Kay und

27 ich. Wenn es tatsächlich noch jemanden gäbe, wäre es

28 sicherlich nicht schwer, ihn oder sie zu finden. Eine Suche


29 konnte nicht schaden, jedenfalls glaubte ich es zu dieser

30 Zeit noch. Wie hätte ich auch mein Schicksal erahnen können,

84
1 dessen Weg ich bereits eingeschlagen hatte? Ein letztes Mal

2 huschten meine Augen über den kaum verständlichen Brief, bis

3 sie an den Initialen ‚M.S.‟ hängen blieben. Die Kürzel eines

4 Namens, die diesen unweigerlich verfremdeten. M.S, ein Mann

5 oder eine Frau, vielleicht sogar eine Firma oder ein andere

6 Gegenstand. Auf jeden Fall, ein weiterer, von dornigen

7 Ranken verdeckter Wegweiser, dessen Hand in den dunklen Wald

8 hineindeutete. Ich fühlte mich ein wenig, wie Rotkäppchen,

9 das sich in das weit aufgerissene Maul des Wolfes stürzte,

10 mit der einzigen Ausnahme, dass ich mich nicht mit Haut und

11 Haar verschlingen lasen würde. Plötzlich legte sich eine

12 knöchrige Hand auf meine Schulter. Erschrocken fuhr ich

13 herum, in das verlegende Gesicht der jungen Frau starrend.

14 „Zarin ist da. Er möchte mit dir sprechen, glaube ich.“

15 „Nein…“, stieß ich hervor. Im Winkel meines Blickfeldes

16 bemerkte ich den Schatten, den das Licht der Sonne in das

17 Gebäude warf. Hörte gleichzeitig die dumpfen Schritte an der

18 Türe, unterbrochen von einer tiefen, brummenden Stimme, die


19 einem Bären ähnlich sein mochte. Spürte dasselbe Kribbeln

20 auf der Haut, wie damals bei den Versteckspielen auf dem

21 Spielplatz, nur stärker. Und wusste, dass ich noch nicht

22 verloren hatte. Hastig verbarg ich mich hinter einem

23 afrikanischen Perlenvorhang, der einen Hinterausgang

24 verdeckte, flüchtete jedoch aus Angst, jemand anderes könne

25 mich verraten, nicht sofort. Die junge Frau starrte mir

26 verstollen nach, musste jedoch die Angelegenheit für ein

27 abgekartetes Spiel halten, denn sie begann ohne ein weiteres

28 Wort, die Gläser mit einem dreckigen Lappen zu polieren. Der


29 Perlenvorhand bewegte sich kurz, dann hing er wieder still

85
1 und unberührt herab. Eine Sekunde später und Zarin hätte

2 mich erwischt.

3 „Wo ist der Junge? Einfach abzuhauen, dieser Bursche!

4 Dabei hat ich ihn warnen wollen!“, brüllte der Mann, wobei

5 er sich verärgert auf einem der Stühle niederließ. Stille.

6 Schluckend versuchte ich, den Atem anzuhalten. Ich befand

7 mich nur Zentimeter von Zarin entfernt, nur durch einen

8 dünnen Vorhang getrennt. „Der Junge ist…“ Er erstarrte

9 plötzlich. Suchend nach einem Opfer huschten seine Augen

10 durch den Raum, als warnte ihn ein sicherer Instinkt, dass

11 er belauscht worden war. Kurz blieb sein Blick an dem

12 Vorhang hängen und für Sekunden glaubte ich, er hätte das

13 Schlagen meines Herzens gehört, wie es meine Brust zu

14 zerreißen drohte. Poch… Poch, poch… Leise und langsam, dann

15 wieder lauter und schnell. Poch, poch, poch… Ich schloss die

16 Augen, unfähig, zu atmen oder zu denken, versteinert,

17 gelähmt von der aufkommenden Angst. Poch… Poch, poch… Lauf

18 weg, Tim, lauf… Doch selbst wenn ich mich hätte bewegen
19 können, wäre ich nicht davongerannt. Wohin auch? Im

20 gleißenden Licht der Sonne würde ich, solange dieser Mann

21 auf der Suche nach mir war, kaum zwei Minuten unentdeckt

22 bleiben. „Der Junge ist tatsächlich fort.“, erwiderte Zarin

23 seltsam belustig, wobei er den Blick mühsam von dem Vorhang

24 abwandte und an einem Glas Wasser zu nippen begann. „Aber er

25 war hier.“ Ich stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.

26 Zarin wollte mich warnen - aber wovor und warum? Am liebsten

27 hätte ich dem Mann nun diese Fragen gestellt, doch es war

28 unmöglich. Unsicher schob ich den Perlenvorhang beiseite und


29 verließ das Internetcafé durch den Hintereingang, froh, dass

30 der Weg von dem Marktplatz wegführte, um endlich alleine zu

86
1 sein. Ohne zurückzuschauen, lief ich fort, immer der

2 glühenden Sonne entgegen, ließ mich von meinen Füßen führen,

3 bis sich meine Arme um einen Baumstamm schlangen. Den Kopf

4 gegen die harte Rinde gepresst, verharrte ich für Minuten,

5 vielleicht auch länger. Papa… Meine Gedanken kreisten wie

6 Magnete über ein und demselben Wort, stießen sich ab und

7 zogen sich dennoch magisch an: Papa… Es tut mir Leid, dass

8 ich wie ein Feigling fortgelaufen bin. Ich war und bin nicht

9 der tapfere Sohn, den du immer erhoffst hast. Wahrscheinlich

10 werde ich auch nie so mutig sein, wie du es warst. Denn

11 manchmal wünsche ich mir, oben bei euch zu sein, obwohl ich

12 weiß, dass es Mama traurig machen würde. Ich schaffe es

13 nicht. Aber es gibt noch eines, was ich wissen muss: Warum?

14 Helfe mir, nur dieses eine Mal. Bitte…

15 Zaghaft riss ich den Mund auf, erst jetzt bemerkend, dass

16 ich die ganze Zeit über die Luft in meinem Körper gefangen

17 gehalten hatte, ebenso wie meine Gefühle, die nun zu den

18 Sternen jenseits des Horizontes schwebten. Wenn ich in


19 diesem Moment überhaupt etwas fühlte. Die Dornen stachen in

20 meine Hände, doch diese waren seltsam taub, kribbelten nur

21 gelegentlich. Meine Hände schliefen und von diesem Schlaf

22 wurden allmählich auch meine Arme, Füße und Schultern

23 befallen. Doch fühlen, nein, fühlen konnte ich nicht. Es war

24 beinahe, als hätte jemand versucht, die Erinnerung aus

25 meinem Herzen zu schneiden, sie dabei aber lediglich noch

26 vertieft. Papa… Mama…

27 Etwas berührte mich plötzlich am Rücken, leicht und doch

28 vernehmbar. Hastig fuhr ich herum, im selben Moment in die


29 schwarzen Augen einer Schlange starrend. Ihr Kopf mit der

30 immer wieder hervorzischenden, nach vorne gespaltenen Zunge

87
1 legte sich wie eine Hand beinahe vertraut auf meine

2 Schulter. Ich spürte, wie sich ihr Körper um meinen Hals

3 wandte, spürte, wie mir das Atmen immer schwer fiel. Panisch

4 schlug ich um mich, wälzte mich im Sand - vergebens. Die

5 Schlange zog ihre Schlinge fester, wobei sie mit der Zunge

6 geradezu genüsslich über meine Wangen streifte. Papa,

7 bitte…! Ich möchte noch kein Engel werden, wie ihr, auch

8 wenn ich euch dann endlich wieder sehen könnte! Ich darf

9 einfach nicht. Bitte… Es gibt hier unter den Wolken noch

10 jemanden, für den es sich lohnt, zu kämpfen. Dem ich es

11 sogar versprochen habe. Und Versprechen sollte man nicht

12 brechen, Papa, auch wenn du es damit nie genau genommen

13 hast. Ich tue es! Bitte, Papa…

14 Erstaunt hielt ich inne, kaum mehr als einen Meter von

15 einem gähnenden, schwarzen Abgrund entfernt, der mich für

16 immer verschluckt hätte. Wie auf einer Achterbahn, die

17 unerwartet eine Kurve machte, wurde ich zurück an den Baum

18 mit der Schlange geworfen. Das Tier lächelte zufrieden,


19 obwohl es gleichzeitig ein wenig gekünstelt wirkte. Ich war

20 mir jedenfalls keineswegs sicher, ob es nur vorgab, gut zu

21 sein, oder ob es wirklich einen liebevollen Charakter besaß.

22 Mit letzter Kraft löste ich die Schlinge um meinen Hals und

23 wich soweit zurück, dass die Schlange mich nicht noch einmal

24 erreichen konnte. Daran, fortzulaufen, dachte ich nicht. Ich

25 wusste nicht genau, was es war, dass mich an die Schlange

26 band, doch ich wusste, dass es mich hier hielt. Blinzelnd

27 schloss ich die Augen für einen Moment. Als ich sie wieder

28 öffnete, war das Tier verschwunden. Spurlos, wie vom


29 plötzlich aufkommenden Nordwestwind verweht. Zurück blieb

30 einzig die hauchdünne Spur eines langen Körpers im Sand, die

88
1 Richtung Süden deutete. Vorsichtig kniete ich mich an der

2 Stelle nieder, fuhr mit den Finger langsam die Schuppen

3 nach, bis die Konturen allmählich verblassten. Doch ich

4 hatte mir das Bild eingeprägt, wie eines der Memorykärtchen.

5 Es blieb nur noch die Frage, ob ich es wagen sollte, einer

6 Schlange zu folgen, die möglicherweise reinzufällig nach

7 Süden verschwand. Dabei stand meine Entscheidung von der

8 ersten Minute an fest. Würde ich es nicht tun, hätte ich

9 Papa wieder enttäuscht. Und das könnte ich mir niemals

10 verzeihen. Was nützt einem Feigling Intelligenz, wenn er

11 sich ständig hinter seiner Angst versteckt, die ihn

12 vielleicht manchmal beschützt, aber meistens davon abhält,

13 ein Held zu sein? Nur die Mutigen können etwas verändern,

14 mein Sohn, hatte Papa immer behauptet und mir dabei

15 spöttelnd auf die Schulter geklopft, du nicht, du nicht. Es

16 ist ein bisschen, wie Krieg spielen im Garten mit

17 Erbsenpistolen und Holzschwertern. Diejenigen, die

18 riskierten selbst erschossen zu werden, ernteten Ehre und


19 bekamen von den Verlieren Gummibärchen. Zu ihnen zählte ich

20 nie, weil ich mich immer auf dem Boden zusammengekauert

21 habe, aus Angst, ich könnte meine Freunde verletzen. Damals

22 habe ich mich oft gefragt, warum meine Mutter stolz darauf

23 war, dass ich nicht gekämpft hatte, wenn sie mich mit einem

24 blauen Auge oder Kratzern abholen musste. Warum sie stolz

25 auf jemanden war, der so feige war, wie ich.

26 Nein, dieses eine Mal wollte ich tapfer sein. Spring über

27 deinen Schatten! Sei tapfer, weine nicht!

28 „Hab ich dich endlich gefunden! Dass du auch immer gleich


29 abhauen musst, wenn„s brenzlig wird! Auf dein Versteckspiel

30 hab ich echt keine Lust mehr!“ Erschrocken zuckte ich

89
1 zusammen. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass noch jemand

2 in der Nähe war. Wie Mathieu, dessen Gesicht nun hinter

3 einem Baum auftauchte, hätte auch jeder andere den Weg

4 herunter kommen können, ohne dass ich es gemerkt hätte.

5 „Weißt du eigentlich, dass ich durch ganz Kpalimé gelaufen

6 bin, um dich zu suchen?“

7 Ungläubig schüttelte ich den Kopf. „Durch ganz Kpalimé?“

8 „Na ja, fast.“ Mathieu zuckte die Achseln.“ Ich hab‟

9 Hunger.“

10 In Gedanken hing ich immer noch der merkwürdigen

11 Schlangenzeichnung im Sand nach, die alles andere zu

12 verdrängen versuchte. Geh nach Süden, dort wirst du die

13 Wahrheit finden, zischte die Schlange, als wolle sie mich

14 beschwören, geh nach Süden, wie dein Vater es wünscht. Geh,

15 nimm deine Sachen. Wenn du daran glaubst, werden dich die

16 Vögel am Himmel leiten, ebenso wie die Sterne und alles, was

17 dich umgibt. Ich sehe dein Zögern, doch lasse dir gesagt

18 sein, wenn du zurückgehst, wirst du für immer alleine sein,


19 mein Sohn. Für immer. Ich schüttelte den Kopf. Nein…!

20 „Schon gut. Ich halte Abstand, damit dein zartes

21 Näschen den Fischgeruch nicht riecht.“

22 Beleidigt wich der Junge drei Schritte zurück und legte

23 einen rohen Fisch einige Meter entfernt auf die Decke. „Nur

24 wenn die Geier ihn holen, bist du schuld.“

25 „Er ist gestorben. Nicht meinetwegen. Vielleicht hat er

26 ein Familie, Frau, Kinder, die jetzt traurig durch den Fluss

27 schwimmen, ständig auf der Suche nach ihm.“

28 „Hast du jetzt etwa Mitleid? Mit einem Fisch?“


29 Verständnislos schüttelte Mathieu den Kopf. „Du könntest ihn

30 begraben, wenn es dir dann besser geht. Aber dann hätten wir

90
1 hier bald einen Fischfriedhof. Schwierig würde es erst bei

2 den Moskitos.“

3 „Warum nicht?“

4 „Das meinst du nicht ernst. Was hätten wir davon? Und

5 überhaupt! Du hast dich nicht einmal entschuldigt.“

6 „Tut mir leid.“

7 Auch Mathieu schien keinen Gefallen an dem Kampf zu

8 finden, wenn ich nicht mitspielte, denn anstatt mich

9 freundschaftlich in die Seite zu boxen, überreichte er mir

10 grinsend eine runde, rotgelbe Frucht. „Aber na gut, ich will

11 nicht so sein. Immerhin konnte ich dank dir endlich wieder

12 einmal eine Orange kaufen. Hier iss. Kein Fisch, kein

13 Fleisch, alles Grünzeug, versprochen! Großes-Spanien-

14 Ehrenwort.“

15 „Die wachsen überall.“, widersprach ich, wobei ich mich

16 neben Mathieu in den Sand fallen ließ.

17 „Ja, aber das heißt nicht, dass man sie auch bekommt,

18 oder?“ Genüsslich wollte er in die Orange beißen, als ich


19 sie ihm hastig entriss. „Was ist denn nun schon wieder?“,

20 entfuhr es ihm genervt.

21 „An der Schale können noch Giftstoffe sein. Die machen

22 krank.“

23 „Die Weißen vielleicht. Mich aber niemals. Und jetzt gib

24 mir endlich die Orange zurück!“

25 Seufzend begann ich die Schale einer Frucht mit den

26 Fingernägeln zu lösen, ohne Mathieu aus den Augen zu lassen.

27 „Dann schäle ich sie für dich.“, meinte ich achselzuckend,

28 als mich meine Gedanken erneut einholten. „Im Süden gibt es


29 doch Orangenplantagen, oder?“

91
1 Es war als ob jemand anderes diese Frage gestellt hatte,

2 jemand der mich zu manipulieren versuchte.

3 „Klar… Ein wenig abseits der Stadt. Die Größte gehört

4 einem Britten. Scott, glaube ich.“

5 Augenblicklich wurde ich wach. Ein Brite, der im Süden

6 wohnte? Ein plötzlicher Schwindel erfasste mich. Die Orange

7 fiel aus meiner Hand, rollte kurz über den Sand. Finde die

8 Wahrheit…!

9 „Tim?“

10 „Wir müssen zu dieser Plantage.“ Ein einen mechanisch

11 klingender Unterton lag in meiner Stimme. Unkontrolliert

12 beugte ich mich herunter, um die Orange aufzuheben, wusch

13 sie grob an meinem T-Shirt ab und biss herein - ohne sie zu

14 schälen! Tränen schossen mir in die Augen, im selben Moment

15 begann ich zu lachen. Mathieu schüttelte entsetzt den Kopf.

16 Er glaubte, ich hatte den Verstand verloren und in gewisser

17 Hinsicht hätte er recht behalten. Ich war, wenn auch

18 unbewusst, zur Handpuppe geworden, oder würde es vielmehr


19 noch werden.

20 „Zarin… Er ist auf der Suche nach uns. Wenn… Wir dürfen

21 nicht in Kpalimé bleiben.“ Warum konnte ich Mathieu nicht

22 die Wahrheit sagen? Dass ich wissen wollte, wie mein Vater

23 gestorben war? „Im Süden, auf dieser Plantage, da könnten

24 wir uns verstecken.“

25 Mathieus Zögern erstaunte mich. Er war ein Junge, der das

26 tat, was er für richtig hielt, ohne eine einzige Sekunde

27 daran zu verschwenden, darüber nachzudenken. „Nein.“,

28 entgegnete er schließlich.
29 „Was?!“

92
1 „Nein, Tim. Glaub mir, der Mann ist einer Häscher. Seine

2 Leute lauern überall.“

3 Ein Häscher? Ein Mensch, der einen anderen versucht, mit

4 einem Netz zu fangen? Dieser Mann?

5 „Dann geh ich eben alleine.“ Trotzig wandte ich mich ab,

6 wobei ich den Rucksack über die Schulter warf. Im

7 Augenwinkel bemerkte ich den Jungen, der mich an der Hüfte

8 zurückzog. „Wenn wir gehen, gehen wir zusammen.“, erwiderte

9 er achselzuckend. Die Orange fest zwischen die Zähne

10 gepresst, sodass Fruchtsaft von seinem Kinn tropfte, kniete

11 er nieder, um den Fisch zu den Brotstücken und der anderen

12 Nahrungsmittel zu legen, die er auf dem Markt erworben

13 hatte. Durch den Spalt, den die Hand bot, die ich über die

14 Augen gelegt hatte, um sie vor der Sonne zu schützen,

15 betrachte ich den afrikanischen Waisenjungen. Erneut

16 beschlich mich das Gefühl, dass er mehr wusste, als er

17 preisgeben wollte. Viel mehr. Du wirst es noch früh genug

18 erfahren, hatte er gemeint. Ich konnte nur hoffen, dass es


19 dann noch nicht zu spät wäre.

20 Schmetterlinge, jeglicher Art, Größe und Farbe, schwebten

21 in einem niemals enden wollenden Tanz um den kleinen See,

22 dem der Mond, der sich irgendwo über den riesigen Bäumen

23 versteckte, einen bläulichen Schimmer verlieh. Das Farnmeer,

24 welches sich im frischen Nachtwind sacht bewegte, schmiegte

25 sich an dessen Ufer. Von den langen, Federn ähnlichen

26 Blättern perlten dann und wann ein glasklarer Wassertropfen,

27 der meine vom Sand rauen Füße wohltuend befeuchtete.

28 Verborgen im Schatten einer Felswand, die bis in den Himmel


29 reichen mochte, erklang das leise Murmeln einer Quelle, die

30 sich Augenblicke später in einem farbendvollen, fesselnden

93
1 Schauspiel in den See hinunterstürzte. Ein verzauberter Ort,

2 beinahe wie in einem Märchen, nur umwerfender, schöner. Ein

3 Ort, wie ich ihn noch nie zuvor in meinem Leben gesehen

4 hatte. Der Schmetterling tauchte unmittelbar vor meinem

5 Gesicht auf, sodass ich für Sekunden dessen Fühler auf

6 meiner Haut spüren konnte. Die riesigen, bunten Flügeln, die

7 derart elegant durch die Luft strichen, als haben sie Angst,

8 diese aus ihrem Schlaf zu wecken, ließen das Insekt wie eine

9 Fee mit leicht erröteten Wangen wirken, deren zarter Körper

10 von einer glitzernden Wolke umarmt wurde. Immer größer

11 werdenden Kreise zogen sich über die am Ufer ruhige

12 Wasseroberfläche, als sich plötzlich eine Schildkröte mühsam

13 an Land ziehen wollte, gefolgt von ihrer Familie, bestehend

14 aus Vater, Mutter und vier Kindern. Die Krallen eines der

15 Kleinen rutschen jedoch in der matschigen Erde ab, sodass es

16 von den geheimnisvollen Tiefen des Sees verschluckt wurde.

17 Ich seufzte, wenn ich an meine eigene Familie dachte. Ein

18 Grab auf dem Friedhof und eine Kaffeetasse, noch staubig vom
19 Sand.

20 „Der Klouto, einer der schönsten Ort Kpalimés, jedenfalls

21 bevor die Menschen begannen, die Tieren zu fangen und an

22 irgendwelche Europäer zu verkaufen, für die sie als

23 Wandschmuck herhalten müssen, bis sie verstaubt oder

24 glanzlos in Tüten gepackt und in den Müll geworfen werden.

25 Dafür sollte niemand sterben. Kein Tier der Welt.“

26 Erst jetzt bemerkte ich die roten Blumen am Ufer, deren

27 prächtigen Blüten zum Teil achtlos von den Hälsen abgerissen

28 worden waren, sowie die abgebrochenen Äste und die


29 Fußstapfen im Farn, die ihre Spuren nicht nur äußerlich

30 hinterließen. In einem Netz, welches dem einer Spinne

94
1 ähnelte, zappelte ein hilfloser Schmetterling, bis auch sein

2 verzweifelter Widerstand langsam erstarb, wie der der

3 bereits ermordeten anderen Insekten. Erwartete auch ihn das

4 Schicksal, als Mitbringsel missbraucht zu werden? Musste er

5 aus diesem Grund sterben, ebenso wie die getrockneten

6 Seepferdchen, die man in beinahe jedem deutschen

7 Souvenirladen an der Nordsee erwerben konnte? Ich mochte

8 vielleicht noch ein Kind sein, doch als Kind hatte ich

9 immerhin noch ein Gefühl für Werte. Man durfte ein

10 Lebewesen, das fühlt, nicht einem toten Gegenstand

11 gleichsetzen. „Lass uns diese Netzte kaputt machen.“, schlug

12 ich vor und überraschenderweise pflichtete mir Mathieu bei.

13 „Aber nur wenn du vorher die Schuhe ausziehst.“, fügte er

14 grinsend hinzu, wobei der die Riemen seiner Sandalen löste.

15 Der Farn kitzelte meine Zehen bis hinzu zur Ferse, wobei es

16 mich beinahe über seinen weichen Teppich trug. Es war ein

17 angenehmes Gefühl, geradezu befreiend. Mathieu schüttelte

18 belustigt den Kopf. „Wenn du dich über so eine Kleinigkeit


19 freust.“ Er zwinkerte verschmitzt. „kann ich mir ja dein

20 Geburtstagsgeschenk sparen.“

21 Mit seinem Taschenmesser, einem der wenigen Gegenstände,

22 den er ständig bei sich trug, durchschnitt er, den Rücken

23 fest an die morsche Rinde gepresst, eine Masche nach der

24 anderen, ohne ein einziges Mal inne zu halten, um die

25 Schneide neu anzusetzen oder Luft zu holen. Ich, auf der

26 Wurzel eines tropischen Urwaldriesen hockend, beobachte ihn

27 ehrlich beeindruckt, da ich die dicken, geknoteten Schlingen

28 kaum voneinander trennen konnte. Obwohl ich nicht aufgeben


29 wollte, musste ich widerstrebend einsehen, dass ich meinem

30 Freund keine Hilfe war. Auch Mathieu schien sich dies

95
1 einzugestehen. „Geh dort drüber einmal nachsehen, ob du

2 etwas findest, wo wir uns verstecken können.“ Seine freie

3 Hand deutete kurz in die Richtung des Dickichts unterhalb

4 des Flusses, dann wandte er sich wieder dem Netz zu.

5 Seufzend zuckte ich mit den Achseln, wobei ich mein

6 Taschenmesser neben der Wurzel niederlegte und leichtfüßig

7 über das Farnmeer schwebte. Ich würde ohnehin keine andere

8 Wahl haben, als das zu tun, was er befahl. Mein Weg führte

9 mich von der Lichtung weg, immer tiefer in den Urwald

10 herein, sodass ich mich hätte Ohrfeigen können, für die

11 Dummheit, keine Taschenlampe mitgenommen zu haben. Hinter

12 jedem Baum zeichneten sich böse Augen ab, die mich zu

13 beobachten schienen. Hände streckten sich gierig nach mir

14 aus, zerkratzen mein Gesicht, ebenso wie die ungeschützten

15 Stellen meines Körpers. Hastig warf ich einen Blick über die

16 Schulter zurück, doch in der Dunkelheit konnte ich kaum den

17 See ausmachen. Lediglich das Rauschen des Wassers lenkte

18 mich ein wenig. Vorsichtig tastete ich mich voran, unwissend


19 wonach ich eigentlich suchte oder was mich erwartete.

20 Mathieu hatte überzeugend gewirkt, als er behauptete, hier

21 wäre etwas zu finden. Und… Ein riesiges Tier schoss auf mich

22 nieder. In Panik stolperte ich über eine Wurzel, ruderte

23 wild mit den Armen, um Halt zu finden, doch es gab keinen.

24 Leere, nichts als Leere. Rasend stürzte er in die schwarze

25 Tiefe hinab. Blätter zerschnitten meine Wangen. Mein Schrei

26 wurde in der Kehle erdrückt, ebenso wie das Denken und

27 Fühlen. Der ganze Körper versteifte sich, gleichzeitig

28 versuchte er, sich gegen den Fall zur Wehr zu setzen.


29 Erfolglos, bis ein harter, plötzlicher Aufprall ihm alle

30 Luft aus den Lungen trieb, sodass ich glaubte, sämtliche

96
1 Rippen gebrochen zu haben. Ich japste. Blut rann aus meinem

2 Mundwinkel. Ein langer, dunkler Tunnel öffnete sich.

3 Tausende Farben explodierten in meinem Kopf.

4 Ich sterbe… Entsetzt schlug ich die Augen auf. Ich sterbe…

5 Nein, ich will nicht sterben. Atme, verdammt, atme… Die

6 Schmerzen unterdrückend riss ich den Mund auf. Der neue

7 Druck in den Lungenflügeln raubte mir beinahe das

8 Bewusstsein. Speichel tropfte auf den staubigen Boden neben

9 mir, gemischt mit Blut und Erbrochenem. Meine Hände

10 verkrampften sich im Sand, der weich wie Pulver, die Erde

11 bedeckte und den Sturz so abgefedert hatte. Ich lebe… Ich

12 bin nicht tot… Jedenfalls nicht ganz, nur halb. Aber

13 immerhin lebe ich noch. Nur wo? Stöhnend hob ich den Kopf

14 ein Stück aus dem Sand, kniff dabei die brennenden Augen

15 zusammen, doch in der Dunkelheit konnte ich lediglich ein

16 Loch am Himmel erkennen, durch welches der Mond seine

17 Schatten auf mich hinunter warf. Falls dies die Hölle war,

18 sollte es auch einen Aufzug geben. Schließlich konnte man


19 nicht von jedem gefallenen Engel erwarten, dass es ihm Spaß

20 machen würde, sich alle Knochen zu brechen.

21 Vorsichtig kroch ich wie ein verletztes Tier in die

22 Richtung, in der ich einen Fels vermutete. Das Gestein war

23 alt und wies bereits unzählige Risse auf, wie ich bemerkte,

24 als meine Finger über etwas Hartes fuhren. Gelegentlich

25 tropfte Wasser von dem wie die Zähne einer Schlange

26 aussenden Zapfen. Die Geräusche hallten als Geister durch

27 die Höhle, wurden immer lauter und verstummten plötzlich.

28 Tief ein und ausatmend kauerte ich mich an einem Felsen


29 nieder, zog die Knie näher zu Körper heran. Den Kopf legte

30 ich den Nacken. Im Mondlicht tanzen die Schatten. Monster,

97
1 Bestien, mit gefräßigen Mäulern und Klauen, die mich zu

2 packen versuchen. Augen, riesige, gelbe Augen, starren mich

3 aus der Dunkelheit heraus an. Zerrissene, abstehende Ohren

4 horchen dem Schlagen meines Herzens in der Brust, meinen

5 leisen Atemstößen. Rose Elefanten, die aus Knochen zusammen

6 gefädelte Röcke um ihre Hüften tragen, marschieren vor. In

7 ihrer Mitte führen sie einen riesigen, ebenfalls aus Knochen

8 erbauten Käfig, der auf den ersten Blick leer erscheint. Bei

9 genauerem Hinschauen lässt sich jedoch ein ängstliches Küken

10 ausmachen, welches versucht, sich in einer Nichte

11 verbergen. Flammen züngeln die drückende Luft. Ein tiefes

12 Trommeln zum Rhythmus einer grausamen, dunklen Melodie

13 erklingt von dem höchsten Turm herab. Das Tor zum Käfig

14 öffnet sich ächzend. Das Küken in seinem Innern beginnt zu

15 piepsen, langsam und verängstigt. Ein Schnabel, noch

16 blutgetränkt von dem letzten Opfer, drängt das kleine Tier

17 zurück. Es piepst. Es piepst, es piepst. Dann wird es

18 plötzlich totenstill. Das Trommeln erstirbt, ebenso wie der


19 aufgekommene, tosende Sturm. Das Küken ist tot.

20 Schweißgebadet riss ich die Augen auf, völlig

21 orientierungslos. Wo war ich? Mein Nacken war steif, der

22 restliche Teil meines Körpers schmerzte ebenfalls. Bei jeder

23 Bewegung rieselte Sand von meinen verklebten Haaren herab,

24 sodass ich unwillkürlich husten musste. Wo war ich? Rot-

25 violettes Licht überflutete die Höhle. Der muntere Gesang

26 der Vögel irgendwo hoch über mir in einer Baumkrone begrüßte

27 die Sonne, die langsam gegen die Nacht ankämpfte.

28 Bald würde sie unsere Haut verbrennen, bald würde sie ihre
29 Strahlen wie Pfeile auf uns herab schießen. Und sie würde

30 lachen, immer zu lachen. Wie jeden Tag. Doch mich beschlich

98
1 das unbestimmte Gefühl, dass heute nichts wie jeden Tag war.

2 Mein Zwillingsbruder in der Wasserlärche schien mich warnen

3 zu wollen. Eine Falle, formten seine rauen Lippen, eine

4 Falle. Sekunden zweifelte ich daran, ob es tatsächlich ein

5 Fehler war, hierher zu kommen. Auch Mathieu hatte sich

6 dagegen gewehrt. Warum? Schließlich war es dieser Weg, den

7 mein Vater mir gezeigte hatte. Ein Weg, dem ich vertraute.

8 Dennoch ein wenig zögernd zog ich mich an dem Gestein hoch,

9 wobei ich meinen Blick durch die kleine Höhle schweifen

10 ließ. Wurzeln durchbrachen zum Teil die Felsen und

11 verankerten sich auf seltsamste Weise ineinander. Durch die

12 morgendliche Hitze wurde die Luft unter der Erde mit jeder

13 Minute drückender. Neue Schweißperlen bildeten sich auf

14 meiner Stirn. Vorsichtig machte ich einen Schritt auf das

15 Loch zu, das linke Bein ein wenig hinterher ziehend. Die

16 bloßen Füße versanken im Sand, als mich plötzlich etwas

17 Scharfes ins Fleisch schnitt. Fluchend sprang ich zur Seite.

18 Warum musste so etwas immer nur mir passieren? Zum Glück war
19 die Wunde nicht tief, wie ich beim Hochheben des Beines

20 erleichtert bemerkte. Der Staub hatte das Bluten sofort

21 unterdrückt. Trotzdem kniete ich an der Stelle nieder,

22 begann im Sand zu wühlen, bis eine silberne Haarspange zum

23 Vorschein kam. Hastig wusch ich sie an meinem T-Shirt ab.

24 Sie mochte noch nicht lange hier liegen, anderenfalls wäre

25 ihre Farbe verblasst. Auch die Diamanten, die in

26 regelmäßigen Abständen in Form von perfekten, runden,

27 gleichgroßen Kreisen auf der Oberfläche angebracht worden

28 waren, funkelten noch im Sonnenlicht. Ein langes,


29 dunkelbraunes Haar wehte sacht im Wind. Es musste sich wohl

30 verfangen haben, als seine Besitzerin die Spange hier

99
1 verloren hatte. Nur wem gehörte sie? Kaum jemand mochte so

2 viel Geld haben, was es einfach machte, das Mädchen zu

3 finden. Denn ich hatte bereits mit meinem Gewissen

4 vereinbart, den Versuch zu starten, der jungen Frau ihr

5 Eigentum zurückzubringen. Vielleicht könnte sie mir zum

6 Danken einen Hinweis darauf geben, wo ich die

7 Orangenplantage des Briten fand, oder mich selbst dort

8 hinführen. Vorausgesetzt, ich schaffte es jemals zurück ans

9 Tageslicht. Die Decke mochte nicht hoch sein, doch hoch

10 genug, um mich hier festzuhalten. Schnell musste ich

11 einsehen, dass es ohne Hilfe beinahe unmöglich war, herauf

12 zu klettern. Zwar boten die rissigen Steine mir eine Art

13 Leiter, aber die Gefahr, dass Stücke heraus brachen, war

14 groß.

15 Seufzend ließ ich die Haarspange in meine Hosentasche

16 gleiten und formte mit den Händen einen Trichter vor den

17 Mund. Mir würde nichts anderes übrigen bleiben, als Mathieu

18 zu rufen, der sich irgendwo dort oben belustigt über meine


19 Dummheit im Farn wälzte. Doch merkwürdigerweise setzte eine

20 unheimliche Stille ein. Die Vögel waren verstummt. Lediglich

21 mein Schrei hallte durch den Wald. „Mathieu!“ Dies hätte mir

22 zu denken geben müssen. „Mensch, Mathieu! Das ist nicht

23 witzig!“, stöhnte ich, wobei ich wütend über mich selbst auf

24 den Boden stampfte. Plötzlich regte sich etwas, bedrohlich,

25 zaghaft. Sekunden später glitt ein grob, geknotetes Seil zu

26 mir herunter. Gott, warum hast du mich nicht gewarnt, vor

27 diesem Fehler, den ich nun beging? Warum hast du einfach zu

28 gesehen? Konntest du nicht ein einziges Mal, einen Kampf


29 ehrlich gewinnen? Im Himmel, dort oben bei dir und deinen

30 Engeln, dort ist alles weiß, hässlich weiß. Ein sanftes,

100
1 watteweiches Weiß für Unschuld in der tiefsten, verdammten

2 Schuld. Weiß, ich hasse weiß.

3 „Mathieu?“ Ein Räuspern. Ich stutzte. Unbehagen stieg in

4 mir hoch. Merkwürdig, dass er nicht lachte oder meine

5 unangenehme Situation kommentierte, wie es sonst seine Art

6 war. Achselzuckend umfassten meine Hände das Seil. Wie dem

7 auch sei. Mathieu mochte sicherlich böse sein, dass er die

8 ganze Nacht über alleine hatte arbeiten müssen. Dennoch

9 spürte ich die Gefahr. Sie war da, auch wenn ich sie aus

10 meinem Kopf zu verdrängen versuchte. Kurz schloss ich die

11 Augen, atmete tief durch. Über mir rauschten die Blätter im

12 Wind und vertrieben damit die tödliche Stille. Schlagartig

13 wurde mir bewusst, dass ich mich nicht ewig in diesem Loch

14 verstecken konnte, egal was passierte. Der Atem des

15 Urwaldes, nass, unberührt, kalt, stellte die hellen Härchen

16 auf meinen Armen auf. Ein erneutes Räuspern, diesmal etwas

17 lauter, beinahe nachdrücklich. Unsicher zog ich mich an dem

18 Seil hoch, wobei ich mich stark zügeln musste, nicht nach
19 unten zu schauen. Andernfalls hätte ich sicherlich

20 losgelassen und wäre zurück in die Tiefe geglitten. Nur noch

21 drei Meter, zwei, vielleicht auch weniger. Ein Bein löste

22 sich aus der Kletterstellung, baumelte für Sekunden frei in

23 der Luft. Losgescharrte Erde rieselte zu Boden. Mit

24 zusammengebissenen Zähnen kämpfte ich meine Panik nieder.

25 Tim, du fällst nicht, beruhigte ich immer wieder meine wild

26 durcheinander wirbelnden Gedanken. Es half mir, nicht völlig

27 den Verstand zu verlieren. Wahrscheinlich wollte Mathieu

28 dich nur ein wenig erschrecken, um dich einen Feigling


29 nennen zu können.

101
1 Blinzelnd ließ ich den Blick umherschweifen, als mein Kopf

2 die Höhle hinter sich gelassen hatte. Etwas Warmes rann mir

3 über die Rücken und auch ohne nachzusehen, wusste ich, dass

4 es Blut war. Dunkelrotes Blut. Entsetzt betrachtete ich, wie

5 aus den zu Beginn kleinen Bächen riesige Flüsse wurden. Doch

6 seltsamerweise spürte ich keinen Schmerz, eigentlich

7 überhaupt nichts. Ein Ast zerbrach. Hastig ließ ich den Kopf

8 herumschnellen und erkannte im selben Augenblick die nackte

9 Wahrheit. Das Blut gehörte einem Papagei, dessen Kopf man

10 mit einem Messer grob von dem bunten Federgewand abgetrennt

11 hatte. Es musste sehr schnell zu Ende vorüber gewesen sein.

12 Kurz und schmerzlos, sodass sich das Tier nicht einmal hatte

13 dagegen zur Wehr setzen könnten. Der Brechreiz kitzelte in

14 meinem Hals. Der Magen wollte sich mir umdrehen. Plötzlich

15 wurde ich unsanft an dem Kragen meines T-Shirts

16 hochgerissen. Ich schrie, versuchte mich loszureißen. Nein,

17 ich bin kein Papagei! Doch eiserne Hände zerrten mich wie

18 einen Sack über das Farnmeer in Richtung der Lichtung. Nein,


19 nein, nein…!

20 Verzweifelt trat ich um mich. Augenblicklich hielt der

21 Mann inne, drückte mich grob mit dem Rücken gegen einen

22 Baum. Ein Ast bohrte sich zwischen meine Schulterblätter.

23 Ich war zu schwach, um davonzulaufen.

24 „Wir wollen dir nichts tun.“, erwiderte der Dunkelhäutige

25 ruhig, aber sein Unterton klang warnend durch eine Art

26 Maske, wie sie oft die Einbrecher trugen, um nicht erkannt

27 zu werden.

28 Irgendwie fand ich die Kraft, den Kopf zu schütteln „Sie


29 haben einen Vogel getötet. Hätten Sie ihm nichts getan,

30 hätte ich Ihnen vielleicht geglaubt.“

102
1 Verwundert fuhr der Gorilla herum und stieß mir den

2 Ellenbogen in den Magen. Ich zuckte, dann sank ich zusammen.

3 Der Schlag hatte mir alle Luft aus den Lungen getrieben.

4 Tränen traten in meine Augen.

5 „Das hättest du nicht tun sollen.“

6 Die Mahnung des Mannes erklang dumpf in meinen Gedanken.

7 Idiot, Tim, warum widersetzt du dich? Jetzt ist nicht der

8 richtige Zeitpunkt, den Helden zu spielen.

9 Japsend stemmte ich mich hoch.

10 „Sie haben einen Vogel getötet…“, bekräftigte ich noch

11 einmal.

12 Ich schluckte. Tim, warum hältst du nicht einfach deinen

13 Mund?

14 Im Winkel meines Blickfeldes bemerkte ich ein weiteres

15 Paar schwarzer Stiefel. Sekunden später wurde ich vom Baum

16 weggerissen und gegen eine Wurzel geschleudert. Ich taumelte

17 zurück, schwankte wie ein tödliches getroffenes Tier. Noch

18 im Fall suchte ich instinktiv nach Halt. Ohne Erfolg. Der


19 dumpfe Aufschlag zuckte durch meinen Körper. Der Geschmack

20 von Blut füllte meinen Mund. Zu meinem Entsetzten wurde mir

21 bewusst, dass keiner die Gorillas Mitleid mit mir hatten,

22 nur weil ich ein neunjähriger, hellhäutiger Junge war. Kurz

23 blieben meine Gedanken an Mathieu hängen. Ob sie ihn

24 erwischt haben? Oder konnte er fliehen, fand jedoch nicht

25 mehr die Zeit, mich zu warnen. Ich schüttelte den Kopf.

26 Konzentrier dich, Tim. Du hast nur noch eine Chance. Benutze

27 deinen Verstand. Dafür hat dir Gott einen gegeben. Denk

28 daran, wie du Mathieu hättest besiegen können.


29 Tränen rannen über mein schmutziges Gesicht. Zögernd hob

30 ich die Hände, um den Männern zu signalisieren, dass ich

103
1 aufgab. Durch meine leicht zusammengekniffenen Augen

2 bemerkte ich das fiese Grinsen auf ihren Lippen, als sie

3 sich, die Hände immer noch zu Fäusten geballt, näher an ihr

4 Opfer heran pirschten. Drei,… Zwei,… Eins,… Im letzten

5 Moment warf ich mich zur Seite, trat ich mit aller Kraft

6 einem der Männer die Beine weg. Ein erstickender,

7 irritierter Schrei hallte durch den Urwald. Sand wurde

8 aufgewirbelt. Ohne zu zögern, kam ich auf die Beine und

9 rannte. Ich wusste, mir würden nur Sekunden bleiben, doch

10 ich war orientierungslos, geradezu blind. Mein Herz hämmerte

11 in der Brust. Die linke Seite begann zu stechen. Doch ich

12 rannte einfach. Immer weiter, weiter, davon überzeugt, dass

13 meine Jäger längst die Verfolgung aufgenommen hatten. Wie

14 ich nach einem Blick über die Schulter erleichtert

15 feststellte, schien dem jedoch seltsamerweise nicht so zu

16 sein. Wasser spritzte an meine Beine. Im Wald war es ruhig.

17 Unheimlich ruhig. Zu ruhig. Plötzlich stieß ich gegen etwas

18 Hartes. Entgeistert sah ich auf - in das Narben übersäte


19 Gesicht eines dunkelhäutigen Mannes. Wütend runzelte er die

20 Stirn. Seine dunklen Augen zuckten verärgert. Ohne dass ich

21 reagieren konnte, schlangen sich seine dreckigen Hände um

22 meinen Hals. Ich keuchte, rang nach Luft. Verzweifelt

23 kämpfte ich dagegen an, nicht das Bewusstsein zu verlieren.

24 Erfolglos. Mir wurde schwarz vor Augen und hätte der Gorilla

25 mich nicht gestützt, wäre ich vorne über gefallen. Nein…!

104
1 4. Kapitel
2 Das Haus aus weißem Backstein, mit seinen schmalen, hohen

3 Fenstern und den verzierten Säulen, die sich wie Wächter an

4 der Tür erhoben, lag etwas abseits der Stadt. In der Mitte

5 einer riesigen, künstlichgrünen Rasenanlage erstreckte sich

6 ein gigantischer Swimmingpool. Die Sonnenstrahlen schienen

7 in das glitzernde Wasser ein, aber nie mehr auftauchen zu

8 wollen. Hinter den getönten Fensterscheiben des

9 Wintergartens saß ein Mann, die Beine lässig übereinander

10 geschlagen, auf einem Klavierstuhl und beobachtete zufrieden

11 ein zehnjähriges Mädchen, welches im Marmorbecken seine

12 Bahnen zog. Die Art, wie er rhythmisch mit dem rechten Fuß

13 auf den steinernen Fußboden klopfte, dabei den Rücken so

14 unmenschlich gerade, als würde dieser von einem unsichtbaren

15 Brett gehalten, war seltsam beunruhigend. Seine dunklen

16 Augen, die von der modischen Brille vergrößert wurden,

17 hatten für mich nur einen kurzen Blick übrig gehabt. Doch

18 ich spürte auch jetzt, dass sie versuchten, mich


19 einzuschätzen.

20 Das junge Mädchen zog sich am Beckenrand hoch und

21 schüttelte elegant das nasse, dunkelbraune Haar. Glasklare

22 Wassertropfen perlten von ihrer gebräunten Haut.

23 Kopfschüttelnd sah sie sich nach allen Seiten um, als merkte

24 sie, dass man sie heimlich beobachtete.

25 Plötzlich wandte sich der Mann ruckartig ab und stolzierte

26 mit den geschmeidigen Schritten eines Seiltänzers auf mich

27 zu. Ich wollte den Kopf senken, um Hilfe rufen, doch das
28 Klebeband auf meinem Mund unterdrückte jeden meiner Schreie.

29 Im selben Moment kam ich mir lächerlich vor. Dieses Haus

105
1 hätte aus einem Bilderbuch stammen können, erfunden und

2 absolut kalt. Das Einzige, was real war, waren meine

3 Schmerzen. Benommen von den Schlägen der Gorillas, die mich

4 außer Gefecht gesetzt haben mussten, versuchte ich mit dem

5 Zeigefinger über die merklich angeschwollene, linke

6 Gesichtshälfte zu streichen. Doch, wie ich entsetzt

7 bemerkte, waren meine Arme auf seltsamste Weise nach hinten

8 verdreht. Bei dem Versuch, mich zu fesseln, hatten sie mir

9 vermutlich sämtliche Knochen gebrochen. Langsam fuhr ich mit

10 der Zunge über die Zähne, um zu prüfen, ob welche fehlten.

11 Hoch über meinem Kopf blies unaufhörlich eine Klimaanlage.

12 Die Wanduhr schlug. Einmal. Zweimal. Dreimal. Mein Blick

13 fiel auf die schwarzen, polierten Schuhe und wanderte dann

14 nach oben. Kurze, dunkle Hose, Hemd. An der weißen,

15 knochigen Hand glitzerte ein goldener Ring. Das kurz

16 geschorene, leicht gräuliche Haar glänzte im matten Licht.

17 Der Mann war nicht sonderlich groß, dennoch strahlte er eine

18 gewisse Stärke und Überlegenheit aus, mit der er mich jetzt


19 wie ein hilfloses Insekt unter dem Mikroskop musterte. Dabei

20 lag weniger Wärme in seinem Blick als in dem eines Hais.

21 „Du hast großes Glück gehabt, dass meine Wächter dich

22 nicht in tausend Stücke zerrissen haben.“, fing er hüstelnd

23 an. Er sprach Englisch, eine der drei Sprachen, die ich

24 beherrschte. „Ich weiß nicht, wer du bist und was du dort

25 draußen zu suchen hattest. Es interessiert mich auch wenig.

26 Namen haben für mich keine Bedeutung. Viel mehr möchte ich

27 von dir wissen, ob du alleine gewesen bist.“

28 Ruckartig riss er das Klebeband von meinem Mund.


29 „Ja.“, erwiderte ich unbeirrt und bemerkte im selben

30 Augenblick, dass ich gelogen hatte. Mathieu war bei mir

106
1 gewesen, zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als die Gorillas

2 mich zu Boden warfen. Aber was war dann passiert? Hatten sie

3 auch ihn geschnappt und hierher gebracht in dieses Gefängnis

4 aus Gold und Silber?

5 „Du weißt genau, dass es nicht wahr ist, verdammt noch

6 mal. Bei dir war ein dunkelhäutiger Junge.“, brüllte der

7 Mann und schlug wütend mit der Hand auf den Tisch.

8 „Warum fragen Sie dann, wenn Sie es schon wissen?“

9 Er zuckte mit den Schultern, als habe ich eine berechtigte

10 Frage gestellt.

11 „Na schön. Vielleicht haben wir falsch angefangen. Ich bin

12 Maurice Anthony Scott, Sir Maurice Scott. Was du hier

13 siehst, ist mein Haus. Aber, verstehe, hier draußen in der

14 Wüste treiben viele böse Menschen ihr Unwesen. Deshalb lasse

15 ich mein Anwesen stark bewachen und alles und jeden, der

16 mich angreifen könnte, gefangen nehmen. Dein Freund und du,

17 ihr beide, seid hierherum gestreunt, also habe ich annehmen

18 müssen, ihr wollet klauen.“ Seine Stimme verirrt keine


19 Gefühlsregung. Sie war absolut kalt.

20 Unauffällig beobachtete ich das Mädchen, welches immer

21 noch am Beckenrand stand und nachdenklich ins Wasser

22 starrte. Ihre Augen waren von einer Sonnenbrille bedeckt,

23 die ihr kindliches Gesicht ernst wirken ließ. Der blaue

24 Bikini rundete ihre hübsche Figur ab. Sie hätte genauso gut

25 Model einer Werbezeitschrift für Sportartikel sein können.

26 Kindlich, aber nicht zu kitschig. Keine Pferdchen, keine

27 rosa oder pinken Barbiepuppen. In gewisser Hinsicht ähnelte

28 sie Kay. Jedenfalls vom Äußerlichen.


29 „Das ist meine Tochter Tess.“, erwiderte Sir Scott, der

30 meinem Blick gefolgt war, ein wenig freundlicher.

107
1 Ich nickte knapp. Irgendwie beschlich mich das Gefühl,

2 dass der Mann mein Vertrauen gewinnen wollte, um so an die

3 nötigen Informationen zu gelangen. In mancher Hinsicht

4 verhielt er sich dabei wie ein Lehrer, der den Namen des

5 zweiten Straftäters herauszufinden versuchte, der sein Auto

6 mit Klopapier umwickelt, Wasser auf den Stuhl geschüttet

7 oder gegen die allgemeine Schulordnung verstoßen hatte.

8 Innerlich musste ich grinsen. Tut mir Leid, Sir, ich habe

9 Sie durchschaut. Sie sind nicht der Zauber oder

10 Weihnachtsmann, sondern bloß eine gute Fälschung. Ich habe

11 unter Ihrer Maske Ihr wahres, fieses Gesicht gesehen und Ihr

12 Lachen gehört. Dieses schreckliche, gemeine Lachen, das

13 alles verklingen lässt, was Ihnen missfällt.

14 „Sie möchte sicher wissen, wer du bist, wenn sie dich

15 sieht.“

16 Ich nickte. „Dann kann ich es ihr ja selber sagen. Und

17 auch, dass Sie mich gegen meinen Willen hierher gebracht

18 haben.“, entgegnete ich, ein wenig verwundert über meine


19 plötzliche Schlagfertigkeit.

20 Auch der Mann zögerte für einen Augenblick, schien jedoch

21 unbeeindruckt.

22 „Ihr wolltet klauen, so ist es doch, oder?“

23 „Nein. Ich bin rein zufällig hier vorbei gekommen.“

24 „Ich mag Zufälle nicht.“, entgegnete Maurice Scott, den

25 Klavierstuhl heranziehend und an einem milchig aussehenden

26 Cocktail nippend, der ihm auf einem silbernen Tablett

27 serviert worden war. „Es gibt viele Menschen, die versuchen

28 sich gegen etwas zu wehren, was nicht abzuwehren ist. Nie.


29 Die meisten von ihnen liegen jetzt etwa zwei bis drei Meter

30 unter der Erde. Ich denke, dass du dich nicht zu ihnen

108
1 gesellen möchtest. Maden und Käfer werden deinen kleinen

2 Körper von innen heraus zersetzen wie ein totes Stück

3 Fleisch beim Metzger. Genussvoll bohren sich ihre gierigen

4 Mäuler zuerst in deinen Hals und wandern dann tiefer in

5 Magen, Leber und Darm. Und zum Schluss sezieren sie dein

6 Herz. Dabei werden sie nichts von dir übrig lassen, fürchte

7 ich.“

8 „Sie sind ja…“

9 Ruckartig ließ der Mann das halbausgeleerte, mit

10 glitzernden Steinen verzierte Glas auf den Tisch stoßen. Es

11 klirrte kurz, schwankte, dann stand es still. „Was bin ich?

12 Geistergestört? Nun, wenn es so wäre, verrate mir, warum

13 alle guten Menschen immer so früh sterben? Richtig, weil sie

14 dumm sind und sich für Dinge einsetzen, die sie nicht den

15 Dreck angehen. Du deckst deinen Freund, das ist mutig von

16 dir. Aber ich würde überlegen, ob er dasselbe für dich tun

17 würde.“, entfuhr es ihm.

18 „Ja.“, erwiderte ich unbeirrt.


19 „Du bist noch jung. Wie meine Tochter. Sag mir einfach die

20 Wahrheit und ich werde dafür sorgen, dass meine Männer dich

21 und deinen Freund verschonen. Aber, bitte, versuche nicht,

22 mich anzulügen.“

23 „Okay . Ich heiße Tim… Tim River.“

24 „Tim River?“ Für einen Augenblick hatte ich das Gefühl,

25 als überraschte es den Mann, meinen Namen zu hören. Sein

26 Blick glitt in weite Ferne, jedenfalls erweckte es den

27 Anschein, als wäre es so. Dann fasste er sich jedoch ebenso

28 schnell wieder: „Kannst ja doch sprechen, wie? Siehst du, es


29 ist gar nicht so schwer. Also, kommen wir zur nächsten

30 Frage: Warum bist du hier?“

109
1 „Weil ich Ihren beschissenen Gorillas in die Arme gerannt

2 bin. Verzeihung, war nicht beabsichtigt.“

3 „Halte mich nicht zum Narren, Junge.“

4 „Tu ich nicht, Sir.“ Jetzt da er bereits meinen Namen

5 kannte, wusste ich, dass ich nur eine Chance hatte, wenn sie

6 auch noch so klein war. Ich musste den Mann reizen, mit ihm

7 Katz-und-Maus-Spielen. Dann würde er Fehler machen. Hoffte

8 ich jedenfalls.

9 „Tim…“ Seine Stimme zitterte vor Wut. Für Sekunden hatte

10 ich das Gefühl, er wolle mich schlagen. Doch überraschender

11 Weise hielt er inne, die Hand zur Faust geballt.

12 Meine Situation erinnerte mich düster an einen schlecht

13 inszenierten James Bond-Film, in dem ich fälschlicherweise

14 die Hauptrolle des gekidnappten Spions zu spielen hatte. Nur

15 kannte ich weder das Drehbuch, noch besaß ich irgendwelche

16 Waffen, mit denen ich mich verteidigen konnte. Explodierende

17 Schnürsenkel, eine Sonnenbrille, in der zwei blitzartige

18 Geschosse versteckt waren - Fehlanzeige.


19 Gerade als ich im Begriff war, mir ein neues Argument

20 zurechtzulegen, war ein Summen vernehmbar. Sekunden später

21 heulte ein starker Motor auf.

22 „Wenn das nicht mal dein Freund ist, Tim.“ Maurice Scott

23 jauchzte wie ein kleines Kind kurz vor der Bescherung. Sein

24 Zorn war mit einem Mal verflogen.

25 Bitte, lass es nicht Mathieu sein… Mit mir konnte dieses

26 Monster machen, was es wollte, aber nicht mit meinen

27 Freunden. Ein Glück, dass Kay wenigstens in Sicherheit war.

28 Maurice Scott, wieder mit einer Hand nach seinem Glas


29 langend, erhob sich, den Rücken gerade, die Nase gerümpft,

30 von seinem Stuhl. In gewisser Hinsicht ähnelte er einem

110
1 meiner Zinnsoldaten, die ihren Führer begrüßten. Links zwo,

2 drei, rechts, zwo drei. Waffen anlegen, Marschieren…

3 Ein Schrei hallte über den Flur, den ich nur zu gut

4 kannte. Mathieu! Sein Gesicht war blutverschmiert, die Beine

5 zu schwach, um ihn zu tragen. Seine Begleiter mussten ihn

6 widerwillig stützen, was sie mit wenig Zartgefühl taten.

7 Erneut heule mein Freund vor Schmerz auf.

8 „Mathieu!“

9 Der Junge sah auf, lächelte zaghaft, als bemerke er erst

10 jetzt, dass noch jemand da war.

11 Ein feuchtes Glitzern im Augenwinkel.

12 „Mein lieber Tim.“, kicherte Maurice Scott freudig.

13 Nur schwer konnte ich den Blick von meinem Freund

14 abwenden. „Sie…!“ Weiter kam ich nicht, denn ich sah es in

15 den dunklen Augen des Mannes. Ich sah es, wissend, dass wir

16 verloren hatten, während sich hinter uns leise eine zweite

17 Türe öffnete. Im selben Augenblick packten mich zwei

18 beharrte Hände und rissen mich brutal vom Boden hoch. Ich
19 schrie, versuchte mich verzweifelt loszureißen. Im

20 Augenwinkel bemerkte ich den Stofffetzen, der sich langsam

21 über meinen geöffneten Mund legte, und das Klicken. Dieses

22 freche Klicken der Handschellen… Nein! Blitzartig ließ ich

23 den Kopf herumschnellen, wobei ich den Wächter am Kinnhacken

24 traf. Taumelnd stolperte er zurück, sodass ich für einige

25 Sekunden frei war. Doch was nun? Maurice Scott lächelte

26 gekünstelt und beobachtete den Kampf wie ein Zuschauer im

27 Kino. Nur das klebrige Popcorn zwischen Ihren hässlich,

28 weißen Zähnen fehlt! Im Winkel meines Blickfeldes bemerkte


29 ich, dass auch Mathieu sich zu wehren versuchte, als ein

111
1 Schlag seine Zähne aufeinander presste. Seine Lider falteten

2 kurz, dann brach er zusammen.

3 Nein! Mit letzter Kraft schlug ich um mich, doch ich

4 spürte, dass mir etwas ins Fleisch schnitt. Die Wächter

5 führten uns aus dem Wintergarten heraus in einen Raum, der

6 ebenso schwarz war wie die Seele des Mannes, der uns hier

7 einschloss.

8 Meine Angst nahm zu, je mehr Zeit ich in diesem Würfel

9 ohne Licht verbrachte.

10 Wasser rann über die rauen Wände des ehemaligen

11 Weinkellers. Nachdem die Eisentür hinter uns zugefallen war,

12 hatte ich den längsten Fluch meines Lebens ausgestoßen. Es

13 half mir, nicht völlig den Verstand zu verlieren, den ich

14 brauchte, um diese ausweglose Situation zu meistern. Mathieu

15 hatten sie auf ein Gestell gelegt, das wohl ein Bett sein

16 mochte. Der Schlag musste ihn in einen hundertjährigen

17 Schlaf versetzt haben. Ich konnte nur hoffen, dass er

18 schneller erwachte als Dornröschen, denn ich brauchte


19 dringend jemanden, mit dem ich reden konnte. Und zwar bevor

20 die Gorillas zurückkämen! Wenn sie uns denn irgendwann aus

21 diesem dreckigen Loch herauszogen, um uns zurück in die

22 Flammen gespickten Hände des Teufels zu spielen. Unruhig

23 drehte ich mich im Kreis, bis mir schwindelig wurde. Gott,

24 wenn es dich wirklich gibt, nicht nur als Kreuz oder in

25 irgendwelchen Gemälden, weißt du, dass ich gegen viele

26 Gebote verstoßen habe oder es noch tun werde. Aber dann

27 weißt du auch, dass du es ebenso getan hast, indem zuließt,

28 dass Menschen gegen deine Gesetze verstießen. Das Leben ist


29 ein Traum, vor dem wir uns nicht verstecken sollten, wir

30 beide. Du magst vielleicht mächtiger sein, kannst über uns

112
1 genauso entscheiden, wie ich über meine Spielzeugautos. Aber

2 ist Macht gleich Macht? Ich mag vielleicht einer deiner

3 Gegner sein, weil ich dich herausgefordert habe. Ich habe

4 gelogen, habe Fehler gemacht. Doch was ist mit Mathieu? Er

5 kann nichts dafür und trotzdem lässt du es zu, dass dieses

6 Schwein von Sir ihn schlägt. Mich kannst du in die Hölle

7 schicken oder sonst wohin. Es ist mir egal. Aber bitte, gib

8 ihm eine Chance…

9 Auf der anderen Seite der Tür wurde ein Schlüssel

10 herumgedreht. Sekundenspäter blinzelte ich in das grelle,

11 weißliche Licht einer Taschenlampe. Benommen stand ich auf,

12 Mathieus Hand festhaltend. Dabei konnte ich mein Herz hören,

13 wie es schnell und aufgeregt pochte. Stille. Das Bild

14 verschwamm, wurde hinter einem wässrigen Vorhang verfälscht.

15 Nicht weinen, dachte ich und tat es doch. Leise in mich

16 hinein.

17 „Sir Scott möchte dich sprechen.“ Die harte Stimme des

18 Mannes wurde zu einem Flüstern. Beruhigend streichelten


19 meine Finger über die Hand meines Freundes. Ich wollte sie

20 für immer festhalten. Schon so oft hatte ich loslassen

21 müssen. Mama, Papa, Kay… Nein, denk nicht an sie, Tim. Du

22 musst aufhören, in der Vergangenheit zu leben, wenn du in

23 der Zukunft eine Chance haben willst. Ich schüttelte den

24 Kopf. Schweißperlen rannen über meine Stirn. Wenn ich mit

25 dem Wächter fort ginge, wäre ich wieder alleine. Bliebe ich

26 hier, widersetzte ich mich dem Mann erneut und würde somit

27 weitere Schläge kassieren. Für uns beide. Wahllos ließ ich

28 meine Hand, Finger für Finger, aus der heißen meines Freunds
29 gleiten. Pass auf dich auf, Kumpel, flüsterte ich so leise,

30 dass der Wächter es nicht hören konnte…

113
1 Zum allerersten Mal konnte ich wirklich behaupten, einem

2 unheimlichen, kaltenherzigen Menschen begegnet zu sein.

3 Maurice Scott hockte aufrecht in seinem gepolsterten Sessel

4 und starrte unentwegt durch das riesige Fenster seines

5 Arbeitszimmers, welches zugleich als Schlafgelegenheit

6 genutzt werden konnte. Seit meinem Eintreten hatte er noch

7 kein einziges Wort gesprochen und auch jetzt drehte er mir

8 den Rücken zu. Neugierig sah ich mich um, unwissend, ob man

9 von mir Antwort auf eine unausgesprochene Frage erwartete.

10 Ein elegantes Himmelbett mit teuer aussehender Bettwäsche,

11 die perfekt glatt gestrichen war. Überhaupt schien alles in

12 diesem Raum übertrieben. Entweder hatten die Staubkörner

13 Angst oder sie waren von einem besonders guten Fänger

14 davongejagt worden, denn nicht ein einziges ließ sich auf

15 den Möbelstücken blicken. Ordnung, nichts zum Festhalten.

16 Nur auf dem gewaltigen Schreibtisch, an dem eine Schublade

17 herausgezogen worden war, herrschte Chaos. Die

18 verschiedensten Stifte, deren Farben nicht einmal ein


19 Künstler Namen zu ordnen konnte, waren über die gesamte

20 Länge der Tischoberfläche verstreut. Mitternachtsblau,

21 Tannengrün nur einen Hauch heller… Über dem schreiende Pink

22 auf dem Parkettboden lag ein zerbrochener, kleiner

23 Bilderrahmen. Die herrlich, frisch duftende Obstschale wurde

24 von einem Papierberg bedeckt.

25 „Setz dich oder willst du da Wurzeln schlagen?“, bot der

26 Mann ruhig an, doch sein eisiger Unterton klang warnend. Ich

27 schluckte, zog dann dennoch einen Stuhl heran.

28 Mit Schwung wandte sich Maurice Scott mir unerwartet zu.


29 Sein schmales Gesicht war ausdruckslos und wenn, so zeigte

30 es nur Gleichgültigkeit und Verachtung.

114
1 In dem teuren, dunklen Morgenmantel, den er jetzt trug,

2 wirkte er wie ein Priester. "Ein Priester des Teufels",

3 dachte ich unwillkürlich. Oder wie ein Schlachter, der

4 darauf wartete, dem Vieh den letztes Atemzug zu nehmen. Ich

5 wusste, wie sich die Tiere gefühlt haben mussten, denn ich

6 war dabei, als viele von ihnen ermordet wurden. Papa hat

7 mich zu diesem Hof mitgenommen, damit ich härter werde. So

8 hat er es jedenfalls behauptet. Stattdessen habe ich ab dem

9 Tag kein Stück Fleisch mehr angerührt. Bin immer dünner

10 geworden. Schrieb sogar Plänen nieder, wie ich die Schweine

11 und Hühner vor diesen Schändern befreien wollte. Doch kurz

12 vor dem Sieg zogen meine damaligen Freunde den Schwanz ein,

13 ließen mich im Stichen, machten mich sogar lächerlich,

14 während sie ihren Hamburger, triefend vor Fett, bei

15 McDonalds verschlangen. Allein der Anblick ... Ekelig.

16 Ich hatte keine Ahnung, warum mir ausgerechnet jetzt diese

17 Niederlage einfiel. Vielleicht weil ich nun eines der

18 tausend Hühner war, dessen Kopf man vom Körper trennen und
19 dann zur Belustigung im Kreis laufen lassen würde, bis die

20 letzten Zuckungen endlich erstarben. Oder ein Schwein, ein

21 rosafarbenes, kleines Schweinchen, das schon kurz nach der

22 Geburt als festlich verzierter Braten im Backofen schmoren

23 musste.

24 „Du wunderst dich sicher, warum ich dich nicht geschlagen

25 habe.“

26 „Weil Sie sich nicht ihre Hände dreckig machen wollen? Wie

27 überaus nett von ihnen.“, erwiderte ich schnell und wandte

28 ruckartig den Kopf herum, weil mir mein Instinkt verriet,


29 dass ich beobachtet wurde und dies nicht nur von Sir Maurice

30 Scott. Mein Blick begegnete dem eines Jungen, der dasselbe

115
1 dreckige, alte T-Shirt mit dem Surfer trug, dazu die

2 fransige Jeans. Seine verschiedenfarbigen Augen, grün und

3 braun, waren zusammengekniffen. Die leicht geöffneten

4 Lippen, von denen noch Momente zuvor Worten auf ihren Weg

5 geschickt worden waren, waren nun leer. Blut tropfte in

6 unregelmäßigen Abständen aus einer kleinen Schnittwunde an

7 der Wange. Mein Zwillingsbruder, zweifellos. Du bist kein

8 Huhn und auch kein Schwein, Tim! Du bist ein Menschen und

9 vielleicht… vielleicht bleibt dir deswegen so ein Schicksal

10 erspart, wenn du aufhörst zu trauern und endlich anfängst zu

11 denken. Ich lächelte ihm dankbar zu, denn er verstand mich

12 besser als irgendjemand anderes. Der Junge war einfach

13 überall, verfolgte mich, amte meine Gangart nach und hörte

14 mir zu, wo immer ich auch sein mochte. Nur ihn selbst sah

15 ich nie, weil er in einer ganz anderen Welt lebte als ich.

16 „Du bist anders, als die meisten Kinder, die für mich

17 arbeiten…“

18 Widerwillig drehte ich dem einzigen Vertrauten in diesem


19 Raum den Rücken zu, nur um feststellen zu müssen, dass die

20 dunklen Augen mein Gesicht so eingehend studierten, als

21 wollen sie davon ein Porträt im Gitternetz zeichnen.

22 „Für Sie will jemand arbeiten?“, fuhr ich ungehalten

23 dazwischen, um von mir selbst abzulenken, als mir die Worte

24 eines alten Kellners einfielen, der mich, nachdem ich meine

25 Cola über das weiße Kleid einer reichen Dame verschüttet

26 hatte, anwies, sich stets höflich zu entschuldigen: „Ich

27 meine, es ist nett hier. Der riesige Swimmingpool, alles

28 sauber und so. Sicherlich ist es eine Ehre für Sie zu


29 arbeiten und…“

116
1 „Tim, Tim, Tim.“ Scotts Stimme hatte jetzt den Unterton

2 eines kritisierenden Lehrers. „Sie haben keine andere Wahl,

3 verstehst du. Nun, ich denke, du hast viele Frage. Leider

4 bin ich nicht befugt, dir auf alles eine Antwort zu geben.“

5 „Warum nicht?“

6 „Warum? Warum?“, äffte er mich nach, „Darum. Und bitte

7 unterbrich mich nicht oder ich werde gezwungen sein, dich

8 zum Schweigen zu bringen.“

9 „Okay.“

10 Wie aufs Wort klopfte es an der Tür, erst leise, dann

11 etwas fester und energischer. Ein kleiner, kahlköpfiger

12 Mann, in das alberne Kostüm eines Pinguins gesteckt, welches

13 sich merklich über seinem Bauch spannte, trat ein und

14 vollführte tatsächlich ein bizarre Verbeugung vor seinem

15 Herren. Das Füße küssen haben Sie noch vergessen, hätte ich

16 beinahe gemeint, doch glücklicherweise war mein Gehirn

17 schneller als meine Zunge. Der muskulöse Bodyguard streckte

18 die öffnete Hand aus und ließ ein Stück Papier auf den
19 Schreibtisch segeln. Erstaunt hob ich die Augenbrauen,

20 unverständlich. Maurice Scott hingegen wandte den Fetzen

21 prüfend im Licht der Lampe und allmählich dämmerte es mir,

22 dass es sich dabei um eine Kalenderseite handelte.

23 „Danke, Bruce. Sie dürfen gehen.“

24 Der dunkelhäutige Mann nickte, machte auf dem Absatz kehr.

25 Doch scheinbar schien ihm noch etwas eingefallen zu sein,

26 denn er wandte sich abermals um. „Was sollen wir mit dem

27 Jungen machen, Sir?“, fragte er in gebrochenem Englisch. Ich

28 vermutete, dass alle Menschen die Sprache ihres Meisters zu


29 sprechen hatten.

117
1 „In die Baracke. Er soll sich auskurieren, damit ich ihn

2 morgen aufs Feld mitnehmen kann.“

3 Feld? Baracke? Was läuft hier eigentlich? Frischen wir

4 einen längst überholten Westernfilm aus dem 18. Jahrhundert

5 auf? Wenn der Mann mir nicht schon von der ersten Begegnung

6 seltsam vorgekommen war, so änderte ich jetzt meine Meinung

7 vollkommen. Seltsam… Dieser Typ war nicht seltsam,

8 ungewöhnlich, merkwürdig oder komisch. Er war… nun ja… was

9 war er eigentlich? Verrückt?

10 Scotts Miene war gelangweilt, geschäftsmäßig kühl.

11 Gleichzeitig aber auch drohend, raubtierhaft. Sogar die

12 Hyänen, die Kay angegriffen hatten, haben mehr Gefühle

13 gezeigt. Kay… Erneut tauchte in meinen Erinnerungen dieser

14 Stoff ihres Kleides auf… Nur das Gesicht… Ich habe ihr

15 Gesicht vergessen. Fieberhaft durchwühlte ich das Labyrinth

16 meines Gehirnes. Das konnte doch nicht wahr sein! Die Mauern

17 waren vermodert, mit Efeu und anderen Schlingpflanzen

18 bewachsen, sodass die rauen Steinwände kaum noch zum


19 Vorschein kamen. Grau, grün, farblos. Hektisch rannte ich

20 durch den Gang, ohne mich von der Stelle zu bewegen. Ich

21 schrie ihren Namen und doch war es totenstill. Außer Atem,

22 keuchend, blieb ich stehen, umfasste eine Liane, die sich

23 über meinen Kopf in den schwarzen Himmel erhob. Einen

24 Himmel, ohne Sonne oder Sterne. Kay…! Verzweifelt zerrte ich

25 an der Pflanze, aber je höher ich stieg, desto weiter fiel

26 ich in die Dunkelheit herab. Irgendwo über mir, in naher

27 Ferne, erklang ein Lachen, gleichzeitig ein Schrei aus

28 tiefster Kehle. Kay…? Keine Antwort, Stille. Kay…!


29 Entschlossen kletterte ich weiter, nicht aufgebend. Halte

30 durch, Kay… Und du, wer immer du auch bist, lass die Finger

118
1 von ihr! Da, plötzlich, ein Fünkchen, ein Aufblitzen,

2 vielleicht nur für einen Augenblick. Dann schnitt jemand das

3 Seil durch, unsere Verbindung, und ich fiel zurück in die

4 Hände jenes Teufels, der sie gierig nach mir ausstreckte.

5 Nein…!

6 „Nein…!“, schrie ich und zog den erstaunten Blick des

7 Mannes auf mich, der nun die Kalenderseite zurücklegte und

8 mich aufmerksam betrachtete.

9 „Alles in Ordnung, Junge? Jag mir doch nicht gleich so

10 einen Schreck ein.“ Er reichte mir das Stück Papier über den

11 Tisch. „Ist das deine Schrift? Oder die jemandes, den du

12 kennst?“

13 Irritiert von der plötzlichen Frage und dieser hilflos

14 ausgeliefert, nickte ich. „Ja. Mein Vater. So schreibt er.

15 Das heißt, schrieb. Denn jetzt…“ Ich konnte nicht weiter

16 sprechen und ich glaube, der Mann hat mich auch ohne

17 Erklärung verstanden.

18 „Wer war dein Vater, Tim?“


19 „Marc River.“

20 „Seltsam. Mir gegenüber hat er nie einen Sohn erwähnt.

21 Jedenfalls nicht, dass ich es wüsste. Doch es scheint so,

22 als habe er gelogen. River musste wohl nicht sehr stolz auf

23 dich gewesen sein. Verständlich. Wenn meine Kinder, meine

24 Geschäfte belauschten und…“

25 „Hören Sie auf!“, brüllte ich aufgebracht dazwischen. Papa

26 mochte in vielerlei Hinsicht nicht der Beste gewesen sein,

27 doch er war immer noch mein Vater. Den Einzigen, den ich

28 jemals haben würde.


29 „Er ist tot, sagst du. Also ich es wahr.“

30 „Was ist wahr?“

119
1 „Siehst du, vor vier Tagen ist die Übergabe in der Nähe

2 eines Dorfes drastisch schief gelaufen.“ Maurice Scott

3 schlug mit geballter Faust auf den Tisch. Sein Gesicht war

4 Wut verzerrt. „Zwei meiner Männer waren darin verwickelt.

5 Der eine kehrte zurück, unversehrt, den anderen sah ich nie

6 wieder. Dachte schon, er habe sich mit dem Geld aus dem

7 Staub gemacht.“

8 „Übergabe? Wovon reden Sie überhaupt? Mein Vater war ein

9 ehrlicher Forscher. Warum um alles in der Welt sollte er für

10 jemanden wie Sie arbeiten?“

11 „Deshalb.“ Scott zog eine Schublade auf und warf mehrere

12 durchsichtige Tütchen auf den Tisch. Ihr Inhalt war völlig

13 identisch, beinahe so als hätte man sie exakt kopiert: Gras.

14 Erstaunt hob ich die Augenbrauen Die meisten Neunjährigen

15 hätten dieses ineinander verwickelte Kraut tatsächlich für

16 Gras gehalten, doch ich wusste es besser. Marihuana und

17 Haschisch, daneben die Pfeife. Der Kreis schien sich

18 allmählich zu schließen und lief nun hier zusammen. Papa,


19 warum? Was ist so toll daran, so ein Zeug zu rauchen? Ist es

20 wie Gummibärchen essen oder Schokolade?

21 „Dein Vater war in der Tat Forscher… bevor wir uns kennen

22 lernten. Doch Ehrlichkeit verleiht einem keinen Ruhm, eher

23 schadet sie.“ Scott machte eine vornehme Atempause, um das

24 gespritzte Gift wirken zu lassen. „Dies habe ich früh

25 begriffen. Wenn man immer allen alles gerecht macht, wer

26 macht es dann einem selbst gerecht? Hast du darüber einmal

27 nachgedacht? In deinem mickrigen Gehirn? Oder warum nur ein

28 Teil nehmen, wenn man doch auch alles haben kann? Komm
29 schon, sieh mich nicht so an. Du weißt, dass es wahr ist.“

30 „Aber… warum?“

120
1 „Dein Vater hatte immer Forscher sein wollen, berühmt und

2 reich. Ich habe ihn damals, vor neun, zehn Jahren,

3 getroffen. Es ging um ein Projekt in Haiti, welches er aber

4 schließlich ablehnen musste… und mir überließ. Einen Grund

5 nannte er mir nicht, doch ich war ihm dankbar für diese

6 Entscheidung und versprach, ihm in Zukunft zu helfen. Wir

7 haben dann und wann miteinander telefoniert und uns

8 ausgetauscht, privat sowie geschäftlich. Das Vertrauen

9 zwischen uns wurde trotz des großen Teiches, der zwischen

10 uns lag, immer größer. Während mein Vermögen und Ansehen

11 stieg, sank er auf den Grund der gegebenen Realität zurück.

12 Der Grund dafür war der Tod seiner Frau. Nun hielte ihn

13 nichts mehr hier, meinte er. Sogar über Selbstmord habe er

14 schon nachgedacht. Glücklicherweise konnte ich ihn davon

15 abhalten und bat ihm an, nach Afrika zu ziehen, um mein

16 Assistent zu werden.“

17 Unverständlich schüttelte ich den Kopf. „Warum Afrika?

18 Warum ausgerechnet hier? Und nicht Amerika?“


19 „Afrika ist - nun ja es gibt kein besseres Wort dafür -

20 vogelfrei. Nur wenig Gesetz, die einen an der Arbeit

21 hindern. Zwar nicht der perfekte Ausgangspunkt für eine

22 Karriere, aber trotzdem. Sieh dir dieses Haus an! Sieh es

23 dir genau an, Tim! So ein Haus wäre in Amerika oder Europa

24 nicht bezahlbar.“

25 „Wenn Sie so viel Geld haben, warum hat mein Vater dann

26 nie welches besessen?“, erwiderte ich. In meinen Gedanken

27 tauchte die zur Hälfe gefüllte Geldkassette auf. Ein Schein

28 war umgerechnet gerade einmal fünfzehn Cent wert. Ein


29 Kaugummi oder ein Lolli in Deutschland, hier ein Vermögen.

30 Allmählich begann ich zu begreifen.

121
1 „Er wollte es nicht. Nur Haschisch und Marihuana.“

2 „Warum?“

3 Maurice Scott stöhnte genervt „Mensch, Junge. Warum,

4 warum?“

5 „Ich will es wissen, Sir.“

6 „Dein Vater glaubte, die Drogen würden ihn vergessen

7 lassen.“ Er hob abwehrend die Hände.

8 „Sie haben meinen Vater ausgenutzt! Sie wusste, wie

9 schlecht es ihm ging und haben ihn benutzt… für… „,

10 flüsterte ich fassungslos, fast kläglich. Mein Zweifeln, an

11 dem, was der Mann behauptete, war verflogen. Widerwillig

12 musste ich zugeben, dass er die Wahrheit sagte. In den

13 letzten Wochen hatte Papa für diesen… diesen… Ich spürte,

14 wie mein Blick in tausende, winzige Splitter verschlagen

15 wurde, die verrannen. Hörte am Ende des Tunnels die kalte

16 Stimme des Mannes, der sich zu verteidigen versuchte: „Das

17 ist aber nicht sehr nett, Tim. Ehrlich, ich bin doch kein

18 schlechter Mensch. Ich habe ihm nur das gegeben, was er


19 wollte.“

20 „Dann beweisen Sie es. Beweisen Sie mir, wer Sie wirklich

21 sind. Lassen Sie Mathieu gehen. Er hat nichts damit zu tun.“

22 „Das geht leider nicht.“

23 „Was?“ Meine Hände verkrampften um das Glas Wasser,

24 welches mir der Mann aufgenötigt hatte. Die Knöchel traten

25 weiß hervor.

26 „Tut mir leid. Er hat sich in Dinge eingemischt, die ihn

27 nicht den Dreck angehen. Dafür wird er ebenso wie du seinen

28 Preis zahlen müssen.“ Maurice Scott lächelte entschuldigend,


29 doch ich sah ihm an, dass ihm nie etwas leid tat.

122
1 „Was wollen Sie tun? Uns quälen? Die Polizei wird bald

2 hier sein und…“

3 „Das glaube ich kaum. Wie dem auch sei, ich denke, wir

4 führen unser Gespräch zu einem anderen Zeitpunkt fort.

5 Sicherlich willst du das Haus kennen lernen.“

6 Ich stutzte. „Was?<

7 „Hat mich gefreut, deine Bekanntschaft zu machen, Tim. Du

8 hast mir wirklich sehr geholfen… Tess? Schatz!“

9 Eine Hand legte sich auf meine Schulter. Erschrocken fuhr

10 ich zusammen. Es war dasselbe Mädchen, das eben seine Bahnen

11 im Pool gezogen hatte. Nun stand sie plötzlich hinter mir,

12 das noch feuchte Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Ihre

13 Flip-Flops sanken in den weichen Teppichstoff. Den nassen

14 Bikini musste sie anbehalten haben, denn ihr blaues T-Shirt

15 wies dunkle Flecken auf. Die weiß lackierten Finger

16 verkrampften sich um ihre Sonnenbrille, die sie nun abnahm,

17 um mir einen feindseligen Blick zu zuwerfen. „Ja, Dad?“

18 „Schatz, sei so lieb und zeig Tim das Haus, ja?“


19 „Aber, Dad. Du hast versprochen, dass…“

20 „Morgen.“

21 Das Mädchen schnitt eine Grimasse. „Immer morgen. Wer ist

22 er überhaupt? Er stinkt und…“

23 „Tess!“ Maurice Scott schien keine weiteren Diskussionen

24 mehr zu dulden. „Du nimmst ihn mit. Basta, finito, Schluss!“

25 Tess Gesicht verfinsterte sich. Wenn sie mich nicht

26 ohnehin schon hasste, so würde sie es spätestens jetzt tun.

27 „Dann komm.“, meinte sie schließlich, als sie alle Gedanken

28 durchgespielt haben musste und zu dem Entschluss gekommen


29 war, dass es keine andere Möglichkeit gab. Dabei lag ein

30 arroganter, überheblicher Unterton in ihrer Stimme. Maurice

123
1 Scott erhob sich, reichte mir die Hand zum Abschied. „Ihr

2 werdet sicher gut miteinander auskommen.“, lenkte er wenig

3 überzeugend ein.

4 „Hey, brauchst du immer eine extra Aufforderung? Soll ich

5 dich vielleicht noch durch das Haus tragen?“

6 Ich seufzte. Wie der Vater, so die Tochter. Tim, in

7 weniger als einer Stunde bist du mit Mathieu in der

8 nächstbesten Wüste auf und davon.

9 Aber es wurde länger als eine Stunde. Viel, viel länger…

10 „Kannst du schwimmen?“

11 „Ja.“

12 „Schade. Ich hätte dich zu gerne ertrinken gesehen.“

13 Tess warf ihr Haar elegant in den Nacken. Kurz schloss sie

14 ihre grünen, von schwarz-silbrig getuschten, langen Wimpern

15 umrahmten Augen. Sie war ein hübsches Mädchen, bestimmt

16 humorvoll und offen - hätten wir uns unter anderen Umständen

17 kennen gelernt, in einem dieser schmutzigen, grauen

18 Hochhausfluren etwa oder auf dem von Hundescheiße


19 verdreckten Spielplatz. Jedenfalls wäre sie dann weniger

20 fies zu mir gewesen.

21 „Ich bin übrigens Tim. Freut mich…“

22 „Was soll ich nun deiner Meinung nach mit dieser

23 Information anfangen?“

24 „Jetzt könntest du vielleicht etwas netter zu mir sein.“

25 „Wieso?“

26 „Wieso?!“

27 Ohne mich weiter zu beachten, legte sie die Finger an die

28 Lippen. Der Pfiff war leise, kaum vernehmbar. Dennoch hörte


29 ich Sekunden später das Tappen von Pfoten auf den Fliesen.

30 Aus dem Schatten einer Palme sprang ein rotbrauner Hund

124
1 hervor, der bei meinem Anblick sofort die Nackenhaare

2 sträubten. Mit gebleckten Zähnen knurrte er mich böse an,

3 wobei er sich schützend vor sein Frauchen stellte.

4 Wunderbar, jetzt hast du auch noch einen Hund am Hals, der

5 dir am liebsten an die Kehle springen mochte.

6 „Kalli! Mach dir nicht die Pfoten an ihm schmutzig!“,

7 befahl Tess, die nun neben ihrem Hund niederkniete und

8 liebevoll seine weichen Ohren kraulte.

9 Das Tier fiepte freudig. Mich schienen beide vergessen zu

10 haben, was mir gelegen kam.

11 „Das ist Tim. Der schmeckt sicherlich schrecklich, hörst

12 du?“ Kallis Zunge fuhr über das Gesicht seines lachenden

13 Frauchens. „Hey, das kitzelt.“ Sie kicherte belustigt, wobei

14 sie dem Hund einen Kuss auf die spitze Schnauze gab.

15 Ich stutzte. Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass

16 sie jemanden derart gerne haben könnten.

17 „Willst du mit uns kommen?“, fragte das Mädchen mit einem

18 herablassenden Blick auf mich. Ein kurzes, freudiges Bellen


19 zur Antwort. „Das heißt ja. Aber wir dürfen uns nicht von

20 Dad erwischen lassen, verstanden?“ Knurrend sprang der Hund

21 auf und stierte mich mit zur Seite gelegtem Kopf durch seine

22 bernsteinbraunen Augen an. Hastig wisch ich einen Schritt

23 zurück, bemerkte aber gleichzeitig das Gestein einer Säule

24 im Nacken.

25 „Wenn du uns nicht verpfeifst, werde ich dafür sorgen,

26 dass Kalli dir nicht nur ein bisschen weh tut.“, erwiderte

27 Tess achselzuckend und stolzierte über den gefliesten,

28 leeren Flur davon. Ich folgte ihr in gebührendem Abstand,


29 beeindruckt von dem Labyrinth aus Glas und Marmor. Der

30 Korridor war zu einer Seite offen, welches einen Bilderbuch

125
1 ähnlichen Ausblick auf die grünen Wiesen oder den Urwald vor

2 den Toren ermöglichte. So einen Baustil hatte ich schon

3 einmal gesehen - nur wo? Auch die aus Staturen, die dem

4 Besitzer wie aus dem Gesicht geschnitzt waren, die

5 gepflegten Blumenbete und der Springbrunnen verlieh dem Haus

6 eine gewisse Macht.

7 Tess stieß eine Flügeltüre auf. „Das Speisezimmer.“,

8 erklärte sie in dem Tonfall einer genervten Reiseleitung.

9 Der Raum war mit einem dunkelroten Teppich ausgelegt, der

10 farblich an das Muster der Tapete angepasst worden war. In

11 seiner Mitte erstreckte sie ein polierter Tisch, an den

12 sechzehn Stühle geschoben worden waren. Jedoch ließen sich

13 nur drei Gedecke ausmachen, bestehend aus mehreren Messern,

14 Gabeln und Löffeln, zwei Tellern und einem im Licht der

15 Sonne funkelnden Glas. Auf der gegenüberliegenden Seite

16 befand sich eine weitere Flügeltüre, hinter der Geschirr

17 klimperte. Hatte Papa hier mit Maurice Scott gesessen,

18 gelacht, bei einem Glas herrlich prickelnden Wein, während


19 ich Kilometer entfernt alleine im Sand spielte? Es war wie

20 einen Schlag in den Magen. Ein überwältigender Schmerz

21 packte mein Herz, mein Nacken kribbelte, und plötzlich hatte

22 ich einen Kloß im Hals, der mich fast zu ersticken drohte.

23 Abgesehen von dem gelegentlichen Rauschen der Spülmaschine

24 und dem leisen Hecheln des Hundes war es still. Ich war

25 alleine. Für immer. Das war die schreckliche Gewissheit. Für

26 immer.

27 „Tim?“ Tess legte mir zögernd die Hand auf die Schulter.

28 Ihre Stimme klang weit entfernt, beinahe wie aus einer


29 anderen Welt. „Dort drüber ist ein Gästezimmer. Zieh dich

30 um, wasch dich. Du stinkst.“

126
1 Ich erblickte den Stapel Papier, der dem schiefen Turm von

2 Pisa glich, daneben die Vielzahl an bunten Stiften -

3 Kugelschreiber, wahlweise mit blauer, schwarzer, roter und

4 grüner Tinte, je nachdem wie man gelaunt war, Filzstifte,

5 die an beiden Enden zwei verschieden große Farbpinsel

6 hatten, sowie edle, silberne Füller, schlichte viereckige

7 Textmarker und

8 Buntstifte - alle in einer unbestimmten Ordnung

9 beieinander gelegt.

10 Auf dem glatt gestrichenen Bettlacken hatte eine Dienerin

11 bereits die Kleidung in chronologischer Reihenfolge - erst

12 Unterwäsche, dann T-Shirt, Hose und zum Schluss die Schuhe -

13 präpariert. Seufzend ließ ich mich in den Ledersessel sinken

14 und lauschte der bedrückenden Ruhe auf dem Korridor hinter

15 der Eichenholztüre. Tess schien verschwunden zu sein und

16 seltsamerweise bedauerte ich es ein wenig. Denn, wenn ich

17 ehrlich war, mochte ich sie trotz ihrer Art und der

18 Tatsache, dass sie die Tochter des Mannes war, der den Tod
19 meines Vaters zu verantworten hatte. Aber Kinder suchen sich

20 ihre Eltern bekanntlich nicht aus. Vielleicht würde Tess

21 mich irgendwann einmal akzeptieren… Moment mal! Ich

22 schüttelte den Kopf. Nein, Tim, es gibt kein irgendwann. Du

23 musst Mathieu unter den Arm packen und verschwinden. Sofort.

24 Das ist kein Spiel mehr, falls es denn jemals eines war. Ihr

25 seid die Gefangenen eines vollkommen Wahnsinnigen. Wer weiß

26 schon, was dieser Mann beabsichtigte. Wenn ihr nicht abhaut,

27 liegt ihr bald vielleicht auch unter der Erde mit all den

28 Maden und Käfern. Auf diese Bekanntschaft kannst du


29 verzichten.

127
1 Mein Blick wanderte erneut zu der Kleidung auf dem Bett.

2 Ich würde einen Ersatz für mein zerrissenes T-Shirt

3 brauchen, ebenso wie eine kurze Dusche. Diese Zeit müsste

4 ich mir nehmen. Hastig schlüpfte ich aus T-Shirt und Hose.

5 Der harte Wasserstrahl schoss auf meine bereits nach einer

6 Minute erröteten Schultern herab. Es erinnerte mich an den

7 Regen vor ein paar Stunden - oder waren es Tage gewesen?

8 Doch auch dieser gehörte in eine andere Zeit, in die Zeit

9 der Wirklichkeit, außerhalb dieses Märchenschlosses. Mit

10 geschlossenen Augen langte ich nach einer der

11 Shampooflaschen auf dem Sims, der eigens für die Dusche in

12 einem schwarz funkelnden Marmor errichtet worden war. Der

13 Duft von Mango und anderen exotischen Fürchten stieg auf.

14 Ich schnupperte. Derselbe Geruch wie auf einem Marktplatz,

15 nur intensiver. Die rötliche Flüssigkeit tropfte auf meine

16 dreckigen Haare. Daheim hatte ich mir nie viel aus Waschen

17 gemacht. Schließlich war es im Gegensatz zum Play Station

18 und Fußballspielen ein reines Zeitverschwenden. Doch hier


19 fühlte es sich beinahe befreiend an, sauber zu sein. Wieder

20 prickelte das Wasser auf meiner Haut, brannte ein wenig in

21 den unzähligen Wunden, die ich bisher größtenteils nicht

22 einmal realisiert hatte. Erst, als ich nun in den mannshohen

23 Spiegel schräg gegenüber starrte, wurde mir bewusst, dass

24 ich aussah, als wären hunderte von Aasgeier auf mich herab

25 geschossen und hätte mich zerfleischt. Blutergüsse. Kratzer,

26 einiger tiefer, andere nur oberflächlich, spickten meinen

27 Körper. Eine geschwollene Nase. Rote, wie Armbänder

28 aussehende Striemen umringten meine Handgelenke. Dennoch


29 gefiel ich mir. Ich sah härter aus. Der kleine, ängstliche

30 Junge aus Deutschland war zumindest äußerlich wie

128
1 weggewischt. Stolz wickelte ich mir eines der teuren, weißen

2 Handtücher um die Hüfte und trat aus der Duschkabine heraus.

3 Die Fliesen waren eiskalt und es jagte mir augenblicklich

4 einen Schauer über den Rücken, als meine Zehen sie

5 berührten.

6 „Bist du ein Mädchen, oder was? Nein, Moment, das wäre

7 eine Diskriminierung. Niemand braucht so lange!“ Tess Stimme

8 klang gedämpft durch die Tür, gegen die sie nun mit beiden

9 Fäusten zu hämmern begann.

10 „Ja, ja…“ Seufzend ließ ich mich auf dem Klodeckel nieder

11 und streifte mir die Socke über den linken, noch feuchten

12 Fuß. Gleichzeitig ließ ich meinen Blick durch das Zimmer

13 schweifen auf der Suche nach Zahnbürste und passender

14 Zahnpasta: Fand sie in drei verschiedenen Geschmäckern auf

15 einem polierten Glasbrett, an dessen Rand in Goldfarben die

16 Initialen eines mir fremden Mannes eingraviert waren.

17 „Nicht ja, ja“

18 Ein warmer Windstoß bauschte den weichen Stoff der


19 Vorhänge. Erschrocken stolperte ich aus dem Badezimmer,

20 stand da, nackt, nur mit dem Handtuch um die Hüften, mit

21 nassen Haaren, Zahnbürste im Mund, und starrte sie entsetzt

22 an.

23 „Was machst du hier?“ Ich bemühte mich, den Ekel

24 erregenden Pfefferminzgeschmack nicht runterzuschlucken.

25 „Du hättest dich wenigstens anziehen können, bevor du

26 hier rein platzt.“, entgegnete sie unberührt, wobei sie sich

27 demonstrativ im Schreibtischstuhl sitzend von mir abwandte.

28 Ich ging ins Bad zurück, spie die Zahnpasta ins


29 Waschbecken, spülte den Mund kurz um. Das durfte doch nicht

30 wahr sein!

129
1 „Was ziehst du überhaupt an? Doch nicht etwa das hier!“

2 Angewidert hob Tess eines der gefalteten T-Shirts auf dem

3 Bett hoch. Sie marschierte zu dem Kleiderschrank, ging

4 schnell mit den Fingern die Bügel durch, zog ein Oberteil

5 heraus und warf es vor meinen Füßen auf den Boden, dann noch

6 eins und noch eins. „Probier' die mal.“

7 Leise fluchend wandte ich mich ab. Eines Tages bringe ich

8 dich um! Es konnte doch nicht sein, ich mich von diesem

9 Mädchen derart beeinflussen lasse! Dennoch zog ich ein grün-

10 braun kariertes Hemd über, dazu Jeans. Zähneknirschend

11 musste ich zugegeben, dass Tess es bei der Wahl ins Schwarze

12 getroffenen hatte. Auf Socken tänzelte ich über die Fliesen,

13 betupfte dabei mit einem Feuchtentuch den kleinen Blutfleck

14 am Kinn.

15 „Gar nicht mal schlecht.“ Tess lehnte gegen den Türrahmen,

16 den Kopf wiegend. „Ein Glück, dass mein Bruder nicht all

17 seine Sache mitgenommen hat.“

18 Augenblicklich erstarrte sie, als sie bemerkte, dass sie


19 bereits zu viel von sich preisgegeben hatte.

20 Ich lächelte ihr im Spiegel zu. „Du hast einen Bruder?“,

21 hakte ich nach.

22 Schweigen. Eine Wolke verdeckte die Sonne, deren warme

23 Lichtstrahlen durch den Spalt fielen, den der Vorhang bot.

24 Ein flüchtiger Blick auf die rötlich leuchtenden Ziffern des

25 Radiowecker: 16.23 Uhr. Die Millisekunden liefen in einem

26 endlosen Band, gaben ihre Macht der Zeit an die Sekunden

27 weiter, die an die Minuten, Stunden, Tage. Immer vorwärts,

28 nie rückwärts. Ich lebte irgendwo zwischen.


29 „Oh! Schon so spät!“ Das Mädchen schlug mit gespieltem

30 Entsetzen die Hand vor den Mund. „Meine Tanzstunde fängt in

130
1 zwanzig Minuten an. Komm endlich!“ Ihre knochigen Finger

2 umfassten mein rechtes Handgelenk, als sie versuchte, mich

3 von der Toilette hochzureißen. Für den Bruchteil einer

4 Sekunde berührten sich unsere Hände. Unfreiwillig. Doch der

5 Hamster im Laufrädchen rannte weiter, blieb nicht stehen.

6 Eine Umrundung, eine weitere, dann noch eine.

7 „Ich warte draußen.“, entschied Tess eilig. Im Fortgehen

8 fügte sie hinzu: „Beeil dich. Oder du bist einen Kopf

9 kürzer, verstanden?!“

10 Das Schloss knackte, als sie die Türe hinter sich zuzog.

11 Gleichzeitig bäumte sich der Vorhang erneut auf. In der

12 Dusche tropfte in unregelmäßigen Abständen Wasser auf den

13 Boden. Hastig schlüpfte ich in den rechten Turnschuh, band

14 ihn zu. Dasselbe mit dem linken. Zwei Minuten waren

15 vergangen. Ich wollte aufspringen, als mein Blick an dem

16 Stapel Papier hängen blieb. Vielleicht würde ich welches

17 brauchen, wenn ich fliehen wollte. Das Ohr fest gegen das

18 Holz der Tür gepresst, lauschte ich den Schritten auf dem
19 Korridor, um sicher zu sein, dass niemand plötzlich den Raum

20 betrat. Stille. Innerlich zählte ich bis zehn, dann schlich

21 ich zum Schreibtisch. Meine Fingerkuppen strichen über die

22 Stifte. Ohne zu zögern, langte ich nach einem

23 Kugelschreiber. Das Blatt faltete ich, sodass ich beides in

24 die Hosentaschen gleiten lassen konnte. Tief ein- und

25 ausatmend stieß ich die Tür auf. Ich konnte nur hoffen, dass

26 niemandem etwas auffallen würde.

27 Du bist Tim, Tim River. Dein Vater ist Forscher gewesen,

28 der aus einem Grund, den du immer noch nicht kennst, sterben
29 musste. Er wollte vergessen, selbst wenn dies zu bedeuten

131
1 schien, seinen eigenen Sohn, dich Tim, zu verlieren und

2 letztlich auch seine Seele. Es gibt ein Spiel, welches sich

3 Kamikaze nennt, aber von dessen Regeln du nur so viel weißt,

4 dass sie unfair sind. Ebenso wie jener Führer, Maurice

5 Scott. Dem Mann ohne Gewissen. Tim, du musst vorsichtig

6 sein, falls du dieses Spiel überleben willst. Du hast

7 bereits einmal einen Weg eingeschlagen, der im Netz einer

8 Spinne endete, indem du nun zappelst wie einer der

9 Schmetterlinge. Hilflos. Verzweifelt. Aber nur wenn du das

10 aufgibst, woran du glaubst, nur dann wird dich dieses

11 schwarze Tier fressen. Denke daran. Bleib stark, wenn dich

12 der tosende Wirbelsturm zu Boden drücken will. Denn am Ende

13 wirst du immer noch aufrecht stehen. In dir, tief in dir,

14 bist du der kleine Junge, der mit seiner Angst, andere

15 Menschen von jener befreien kann. Dies wirst du eines Tages

16 begreifen…

17 Die funkelnden Diamanten auf ihrem weinroten T-Shirt

18 verwandelten den einzig durch eine riesige Diskolampe


19 erhellten Raum bei jeder ihrer Bewegungen in eine

20 regenbogenfarbene Lichtsäule, in der sie wie eine Fee zur

21 leisen Melodie eines Klavierstücks im Kreis schwebte.

22 Ihre weißlackierten Zehen berührten dabei das helle

23 Parkett nur vorsichtig, als seien unter ihnen glühende

24 Flammen oder die Wellen, aufgewühlt von einer sanften Brise,

25 nicht aber das tote Holz. Ich beobachtete sie von meiner

26 Insel aus, die Füßen in ihr Meer tauchend. Kalli neben mir

27 legte seine spitze Schnauze in meinen Schoß, sodass ich

28 unwillkürlich zusammenzuckte, aus Angst, er könne mich


29 beißen. Der Rhythmus wurde merklich schneller. Tess

132
1 vollführte eine Drehung, noch eine - und erstarrte. Leises

2 Trommeln, manchmal unterbrochen durch die Laute eines

3 Xylophons.

4 „Was machst du mit meinem Hund?“, brüllte sie, die Musik

5 übertönend, wobei sie, drohend, zurück in ihr Element

6 gestoßen, ein paar Schritte auf mich zu machte. Ihre Stimme

7 triefte vor Verachtung.

8 „Ähm… Nichts.“ Hör auf dich für etwas zurechtfertigen,

9 woran du nicht Schuld trägst! „Du tanzt gut. Wie eine

10 Ballerina… Oder so ähnlich…“

11 „Du hast großes Glück, mir dabei zuzusehen. Eigentlich

12 dürftest du nämlich nicht hier sein. Aber gut.“ Sie zuckte

13 die Schultern. „Einen lästigen Sonnenstich fängt man sich

14 ebenso schnell ein, wie er auch wieder verschwindet.“

15 Ich spürte, die aufsteigende Wut, die wie Magma aus dem

16 Vulkan ausbrechen wollte. Es brodelte, kochte. Immer größer

17 werdende Blubberblasen wölbten die heiße, alles verbrennende

18 Oberfläche der Flüssigkeit. Ich konnte ihn nicht mehr


19 zurückhalten, den Zorn, dafür hatte sich in den letzten Tag

20 zu viel Leid in meinem Inneren angesammelt, welches nun

21 langsam überquirlte. Entgegen meiner Art stieß ich Tess

22 gegen die Schulter, sodass sie erstaunt zurück taumelte und

23 beinahe gestürzte wäre, hätte ich ihren Arm nicht

24 umklammert. Auch Kalli sprang erschrocken auf, schien jedoch

25 irritiert darüber, auf wessen Seite er zu stehen hatte.

26 „Bei dir wird dieser Sonnenstich es wohl nie tun, schätze

27 ich.“ Ihre Gestik kopierend zuckte ich mit den Schultern.

28 „Du kannst froh sein, dass dir überhaupt irgendjemand


29 Aufmerksamkeit schenkt, Tess - wenn du denn so heißt! Denn

30 in meinen Augen bist du nichts weiter als eine einsame,

133
1 kleine Wichtigtuerin. Mir ist es egal, wie toll du tanzen

2 kannst, wie reich du bist! Denn ich habe meine Eltern

3 verloren. Meinen bester Freund haben die Wächter deines

4 Vaters bewusstlos geschlagen und anstatt jetzt bei ihm zu

5 sein, bin ich hier. Bei dir.“

6 Seltsamerweise schien Tess, mir nicht widersprechen zu

7 wollen. Es wunderte mich. Sie war ruhig, hörte mir geradezu

8 aufmerksam zu, völlig bewegungslos, als sei dies nur die

9 kurze Unterbrechung eines Tanzes, um Atem zu schöpfen oder

10 eine neue CD aufzulegen.

11 „Sie haben uns entführt! Diese Männer! Obwohl wir

12 unschuldig sind! Einfach so entführt!“, fuhr ich fort, als

13 meine Wut plötzlich wie durch eine Mauer gedämpft wurden,

14 „Ich mag vielleicht nicht der Beste sein. Mag vielleicht

15 nicht tanzen können, habe ständig Angst.“

16 „Tim.“ Ihre Worte waren zu einem fast unverständlichen

17 Flüstern geworden, was mich zwang, den Abstand zwischen uns

18 zu verringern, der wie ein schwarzes Loch vor meinen Füßen


19 klaffte. „Du bist kein lästiger Sonnenstich…“ Mit dem

20 ernsten Gesichtsausdruck eines Politikers, der in einem

21 Blitzlichtgewitter, umgeben von einer Meute Reporter, eine

22 Ansprach hält, strich sie sich eine Strähne aus der Stirn.

23 Die Tiefe ihrer grünen Augen verschluckte mich unweigerlich.

24 „Du bist viel schlimmer.“ Ein Grinsen huschte über ihre

25 Lippen. „Sehr viel schlimmer.“, ergänzte sie belustigt.

26 Unschlüssig trat ich von einem Bein auf das andere. Ich

27 hatte mit allem gerechnet: Bei Wutausbrüchen angefangen bis

28 hin zu rührenden Entschuldigungen. Nur darauf, dass sie mich


29 gelassen überspielte, darauf war ich nicht vorbereitet

30 gewesen.

134
1 „Wie ‚viel schlimmer‟?“, stammelte ich und musste mir im

2 nächsten Moment die Hand vor den Mund halten, um nicht

3 selbst zu lachen. Unbemerkt war es Tess gelungen, auch

4 diesen Kampf für sich zu entscheiden, indem sie einfach nach

5 dem Auslaufen des Wassers aus dem Rohr den Hahn zugedreht

6 hatte. 2:0 für ein Mädchen. Dafür konnte ich ihr nicht

7 einmal böse sein!

8 „Ich weiß nicht, warum du hier bist oder warum mein Vater

9 dich entführt haben soll. Schließlich bist du nichts weiter

10 als ein dreckiger Junge, genau wie die anderen auf den

11 Feldern. Versteh mich nicht falsch, aber ich hasse sie,

12 diese Leute. Aber noch mehr hasse ich meinen Dad.“ Sie

13 setzte sich auf die Tischkante, wobei sie sich mit den Armen

14 abstützte.

15 „Ehrlich?“

16 „Ja, wenn ich es doch sage. Und auch all diejenigen, die

17 ihm helfen. Überhaupt alle. Bis auf Kalli.“

18 „Du kannst mir vertrauen.“ Zögernd stellte ich mich neben


19 Tess, legte ihr vorsichtig die Hand auf die Schulter. „Ich

20 möchte nur hier weg, glaub mir. Warum um alles in der Welt

21 sollte ich deinem Vater helfen, wenn ich nicht einmal weiß,

22 wobei?“

23 „Ja, aber wie lange?“

24 Die Türe wurde aufgestoßen. Eine junge Afrikanerin mit

25 fliederfarbenen Kopftuch und gleichermaßen gemustertem Kleid

26 wirbelte auf Schuhen mit hohem Absatz herein, auf denen sie

27 das Gleichgewicht besser halten konnte als manch anderer auf

28 dem Boden.
29 „Tess, wir… wer ist das denn?“ Sie sprach Französisch,

30 obwohl ich angenommen hatte, Sir Scott hätte es verboten.

135
1 Lächelnd zwinkerte sie mir zu. Kurzes Händeschütteln. „Ich

2 bin Suleika, Tess Tanzlehrerin.“

3 Bevor ich die Möglichkeit bekamen, etwas zu entgegnen,

4 sprang das Mädchen auf, um mich als Sohn eines Forschers

5 vorzustellen, der für ihren Vater arbeitete.

6 Überrascht nickte ich. Wenn ich eines in meinem

7 neujährigen Leben nicht verstanden, dann waren es Mädchen.

8 Sie konnte einem ins Gesicht lächeln und mit der gleichen

9 Bewegung ein Messer in den Rücken stecken, falls sie diese

10 Absicht besaßen. Mathieu hat dies einmal gemeint, als ich

11 ihn dabei erwischt habe, wie er Mirja, eine hübsche

12 Togolesin, anhimmelte. In dieser Sache sollte er recht

13 behalten. Die meisten von diesen Wesen waren, nun ja,

14 seltsam. Auch Kay und Mama in gewisser Weise - selbst wenn

15 ich es mir nie hätte eingestehen wollen.

16 „Schön dich kennen zu lernen. Ich darf doch ‚du‟ sagen,

17 oder? Kannst du Französisch?“

18 „Ja, meine Mutter kommt aus Frankreich. Mein Vater ist


19 Deutscher.“

20 „Oh, ein deutsch-französischer, junger Mann. Es freut

21 mich.“ Suleika machte einen vornehmen Knicks, wobei sie Tess

22 bat, sich aufzuwärmen. Zögernd setzte sich das Mädchen auf

23 eine Isomatte vor einer Spiegelwand, die mir bisher noch

24 nicht aufgefallen war, weil sie zum Teil von einer Pflanze

25 bedeckt wurde, die derart unnatürlich grün wirkte, als sei

26 sie ein Imitat aus Kunststoff. Mit einem letzten Blick über

27 die Schulter zurück signalisierte sie mir, dass ein falsches

28 Wort mich den Kopf kosten könnte. Ich biss mir nervös auf
29 die Unterlippe bei dieser Vorstellung, schmunzelte aber zu

30 gleich.

136
1 „Du bist sicherlich zu Besuch bei Sir Maurice Scott.“

2 Ich wiegte unsicher den Kopf. „So könnte man es auch

3 nennen.“ Ein forsches Zucken in Tess Richtung, die in einer

4 Dehnübung vertieft war. „Ihr Vater hat mich wortwörtlich

5 aufgesammelt.“, fügte ich hinzu, als mir plötzlich ein

6 anderer Gedanke kam.“ Kanntest… kennst du einen Mann namens

7 River, Marc River? Das ist mein Papa.“

8 Nachdenklich verzog die junge Afrikanerin das Gesicht.

9 „Ich meine, ihm einige Mal auf dem Flur begegnet zu sein.

10 Wenn ich mich recht entsinne, hat er ein Büro im ersten

11 Stock. Aber, dass er einen Sohn hat, davon wusste ich

12 nichts. Und noch dazu einen so reizenden.“

13 Enttäuscht lehnte ich mich gegen die Wand. Vor allem und

14 jedem hatte Papa mich geheim gehalten. Warum? Scott

15 behauptete, er wäre nicht stolz auf mich gewesen, hätte mich

16 nicht wie sein Eigenblut geliebt. Sagte er wirklich die

17 Wahrheit, Papa? Oder war es etwas anderes?

18 Ich seufzte. Ein Zimmer im ersten Stock… Schlagartig wurde


19 ich wach, rieb mir wie nach einem kurzen Schlaf den Staub

20 des Sandmanns aus den Augen. Ein Zimmer im ersten Stock! Das

21 war meine Chance, endlich herauszufinden, womit mein Vater

22 gehandelt und warum man ihn umgebracht hatte! Meine letzte

23 Chance. Aber dafür würde ich widerstrebend Tess Hilfe

24 benötigen, denn sicherlich käme es Sir Scott ungelegen, wenn

25 ich zu viel wüsste. Allein die Tatsache, dass ich hierher

26 gefunden hatte, musste ihm zum Denken geben.

27 „Wärm dich auf, Tim.“, forderte mich Suleika lächelnd auf,

28 wobei sie hinter einer Musikanlage verschwand.


29 „Was?!“

137
1 „Aufwärmen. Auch die Muskeln eines Tänzers müssen für den

2 Sport vorbereitet werden. Sonst hast du schnell eine

3 unangenehme Zerrung.“

4 „Aber Tim tanzt doch gar nicht!“, mischte sich Tess hastig

5 ein, wobei sie uns im Spiegel musterte.

6 „Es kann ihm nicht schaden, schätze ich. Tanzen befreit

7 die Seele. Ich bin sicher, es wird dir gefallen. Tess hätte

8 endlich mal wieder einen Partner und…“

9 Die Lautsprecher knackten vernehmlich. Das wilde Spiel

10 eines Schlagzeugs löste die ruhige Melodie des Klaviers ab.

11 „Cha-Cha-Cha, ein aus Kuba stammender Tanz. Sehr beliebt,

12 sehr einfach. Ich denke, Tim, das bekommen wir hin, nicht?“

13 Unschlüssig nickte ich, schüttelte gleichzeitig den Kopf,

14 wobei ich mich zur Belustigung der Frauen auf den Boden

15 kniete und Liegenstützen machte. Auch Tess, die nun zu mir

16 kroch, um mein Schnaufen zu imitieren, konnte sich das

17 Lachen nur schwer verkneifen.

18 „Wenn du so anfängst, bekommst du höchstens beim Fußball


19 Spitzennoten.“, behauptete sie. „Vielleicht sollten wir

20 tatsächlich einmal versuchen, dir etwas Ausdauer

21 anzutrainieren. Du keuchst wie eine Oma im Treppenhaus oder

22 wie eine Lokomotive… Tiefer runter, du Weichei!“ Mit aller

23 Kraft drückten ihre Hände auf meinen Rücken, sodass meine

24 Lippen im selben Augenblick den Boden berührten.

25 „Können wir nicht eine Runde laufen?“, erwiderte ich

26 stöhnend, wobei mich aufrappelte.

27 „Ich wette, bevor du zurück bist, küsst der Mond die

28 Sonne."
29 Ich schnitt eine Grimasse. „Küsst der Mond die Sonne? Was

30 ist das denn für ein dämlicher Spruch?“, entgegnete ich mit

138
1 nachgeäfftem Tonfall, stemmte die linke Hand in die Hüfte,

2 wippte leicht mit dem Fuß. „Ich bin gar kein übler Läufer.“

3 Bevor einer von uns beiden reagieren konnte, drückte mir

4 Suleika, die seufzend zu uns getreten war, die junge Britin

5 an die Brust. Ich spürte ihren Atem, der wie ein sachter

6 Windstoß über meine Wangen strich.

7 „Cha-Cha-Cha, ein aus Kuba stammender Tanz.“, erklärte die

8 Tanzlehrerin nochmals, wobei sie Tess Hand auf meine

9 Schulter legte, meine um deren Taille. Die verschwitzende

10 Innenfläche hinterließ winzige Flecken auf ihrem T-Shirt und

11 schmunzelnd bemerkte ich, dass mein Gegenüber ebenfalls

12 seltsam nervös wirkte.

13 Widerstand - wenn wir uns denn hätte zur Wehr setzen

14 können - schien zwecklos.

15 „Der Herr beginnt rechts seitwärts, die Dame links

16 seitwärts. Seit, Schritt, Platz, Cha-Cha. Seit, Schritt,

17 Platz, Cha-Cha.“

18 Stille. Nur mein leises Schnaufen, vermischt mit ihren


19 kleinen Schrittchen auf dem Parkett. Keine Zuschauer, außer

20 den in den Korallenriffen versteckten Nixen, die ihre

21 prächtigen, farbenfrohen Schwänze im Gleichklang mit der

22 Melodie von rechts nach links, von West nach Ost,

23 schwankten. Über ihren Köpfen schlugen die Wellen gegen die

24 Felsen, mal langsamer, mal schneller.

25 Das erneute Trommeln. Klavier. Basslaute. Ich schloss die

26 Augen, wünschte mich plötzlich in die Arme eines anderen

27 Mädchen weit, weit weg. In die Arme eines Mädchens, das ich

28 vielleicht nie wieder sehen würde. Nein…!


29 Ruckartig riss ich die Lider auf, stolperte über Tess

30 rechtes Bein.

139
1 Sie wollte fluchen, doch als sie in mein verzweifeltes

2 Gesicht sah, hielt sie inne. „Kann jedem einmal passieren.“

3 Ich nickte unbeteiligt. Noch ist sie in Sicherheit. Und

4 deshalb musst du sie vergessen, so schwer es dir auch fallen

5 mag. Denn nur so kannst du sie retten.

6 Blut pochte hart gegen meine Schläfe, sodass mich

7 augenblicklich ein Schwindel erfasste. Tim, vertraue auf

8 deinen Gefühlen. Widerstrebens verdrängte ich sie aus meinen

9 Gedanken, versuchte mich in die neu einsetzende Musik

10 einzugliedern.

11 „Du hast den Takt im Herzen, mein Junge.“

12 Suleika, gegen das Klavier gelehnt, klatschte dem Rhythmus

13 entsprechend in die Hände, wobei sie mir aufmunternd zu

14 zwinkerte.

15 Seit, Schritt, Platz, Cha-Cha. Meine Fußsohlen strichen

16 sacht über das kalte Holz. Tess hatte den Kopf zur Seite

17 gelegt. Nur gelegentlich ein Wimpernschlag, ansonsten schien

18 sie völlig Teil des Stückes geworden zu sein. Auch ich


19 spürte, wie meine Anspannung bei jeder Umdrehung merklich

20 nachließ. Es war wie das kurze Schöpfen nach einem langen

21 Lauf. Der Atem nach Freiheit.

22 Das soll nie wieder aufhören. Nie wieder…

23 Noch eine Umdrehung. Ein Tor, durch welches das Mädchen

24 hindurchschwebte.

25 Cha-Cha-Cha. Du kannst tanzen. Warum kannst du tanzen?!

26 Der Stolz schwemmte auch die übrigen Lasten meiner Seele

27 fort.

28 Drehung, Drehung, Cha-Cha-Cha.


29 Dann plötzlich brach die Welle über mir zusammen und ich

30 ertrank in dem schwarzblauen Wasser, umgeben von tausenden

140
1 Nixen, die gierig nach mir langten und mich langsam immer

2 tiefer hinab zogen mit ihren scharfkantigen,

3 flossenähnlichen Händen.

4 „Mister River? Sir Scott bittet Sie in sein Büro.“ Einer

5 der Diener erschien in der Türe. Durch das schwarze Jackett,

6 welches er trug, wirkte er wie ein Racheengel, geschickt vom

7 Teufel persönlich.

8 „Aber wir sind mitten in einer Tanzstunde.“

9 „Dad kann warten.“

10 Erleichtert bemerkte ich, dass sowohl Suleika als auch

11 Tess mir den Rücken stärken wollten, wofür ich ihnen ein

12 dankbares Lächeln schenkte. Dennoch war mir schmerzlich

13 bewusst, dass Scott immer noch die Fernbedingung in seiner

14 Hand hielt. Der Meister wünschte dies, der Meister wünschte

15 das - und so es geschah.

16 „Schon in Ordnung. Ich habe nichts verbrochen.“

17 Ich versuchte, optimistischer zu wirken, als mir in diesem

18 Augenblicke zu Mute war, um Tess nicht zu beunruhigen,


19 selbst wenn ich mir sicher sein konnte, dass sie kaum mit

20 der Wimper zucken würde, bestrafe mich Vater. Zögernd ließ

21 ich ihre verschwitzte Hand aus meiner gleiten, ohne sie ein

22 weiteres Mal anzusehen. Vielleicht, schoss es mir durch den

23 Kopf, vielleicht tanzen wir nie wieder zusammen. Auch das

24 Mädchen wich meinem Blick aus. Mit aufeinander gepressten

25 Zähnen flüsterte ich, den Kopf ein Stück gesenkt: „Bringen

26 Sie mich zu ihm.“

27 „Sehr wohl.“ Eine elegante Verbeugung. Dann das Öffnen der

28 riesigen Flügeltür. Sich entfernende Schritte. Tief atmete


29 ich ein, schloss kurz die Augen. In meinen Ohren hallte

30 immer wieder dieses Versprechen: Ich werde der Erste sein,

141
1 der sie alle besiegt. Kay vertraute mir. Ich durfte sie

2 nicht ein zweites Mal enttäuschen, nicht wieder ihre Hand

3 loslassen, wenn sie mich brauchte. Kay…

4 Kalte Finger umklammerten mein Handgelenk. Verwirrt fuhr

5 ich herum, in Tess grüne Augen starrend.

6 „Ich habe Tim noch nicht das Haus gezeigt! Och

7 herrjemine!“ Mit gespieltem Entsetzen japste das Mädchen

8 nach Luft „Dad hatte es doch erwünscht!“

9 Erstaunt hielt der Diener inne. „Es ist nur mein Befehl

10 von Sir Scott, den Jungen zu ihm zuführen.“ Die weiße Seide

11 seiner Handschuhe streifte meinen Arm. „Komm endlich.“

12 Widerstrebend folgte ich ihm auf den Flur. Wie ein Mensch,

13 der seinen letzten Atemzug tat, so ächzte auch die Türe, die

14 nun hinter mir zufiel.

15 Der Kadaver eines Zierfisches trieb in der Strömung des

16 Filters, dessen Rädchen wie ein Sägeblatt durch das Wasser

17 schnitt. Die glasigen, beinahe grauen Augen waren starr,

18 gleichwohl die Schwanzflosse noch gelegentlich zuckte, um


19 sich gegen dieses Ende, nun von den Artgenossen genüsslich

20 verspeist zu werden, zur Wehr zu setzen. Ich kauerte auf dem

21 weißen Ledersofa - den Rücken gegen die riesigen Scheiben

22 des Aquarium gedrückt, welches mich wie ein Meer im

23 Halbkreis umzingelte - und nippte an dem Glas Wasser, das

24 Maurice Scott mir aufgezwungen hatte. Der Mann seinerseits

25 hockte in dem Sessel gegenüber, jetzt in einem teuren weißen

26 Anzug mit einer schwarzen Sonnenbrille, die in seiner

27 rechten Jackettasche steckte. Auf dem Glastisch hatte eine

28 Dienerin das Mahl serviert, welches hauptsächlich aus


29 Chinchillabeinen, umwickelt von goldbraun gebackenem Teig,

30 bestreut mit einem Hauch von scharfen Gewürzen, bestand.

142
1 Ganz auf seinen Wunsch reichte man ihm dazu süße Früchte und

2 Wein - Ein Speisen wie die Könige jener längst vergessenen

3 Zeit. Genüsslich leckte er sich über die Lippen, während er

4 sorgfältig das Beinchen mit der Gabel zerteilte, um zu

5 prüfen, ob dieses nach seinen Vorstellungen gegart und

6 zubereitet worden war. Scheinbar zufrieden wiegte er den

7 Kopf, als er die Gabel an den Mund führte und das Fleisch

8 zwischen den perfekten, weißen Zähnen zermalmte. Dabei

9 betrachtete er mich mit höflichem Interesse, versuchte

10 wieder einmal, mich einzuschätzen. Nervös rutschte ich auf

11 meinem Platz hin und her. Irgendetwas stimmte nicht. Warum

12 sonst sollte sich ein derart beschäftigter Mensch für einen

13 Jungen Zeit nehmen?

14 „Du hast mir eine Frage noch nicht beantwortet, Tim. Die

15 Frage nach dem Warum.“

16 Er legte Gabel und Messer beiseite, betupfte vorsichtig

17 mit einer weißen Serviette sein Kinn. „Warum bist du

18 hierhergekommen, wo du dort draußen frei hättest leben


19 können! Jeder andere Junge wäre verzweifelt nach Hause

20 zurückgeflogen oder Tage lange durch die Weiten des Urwalds

21 gestreunt ohne jegliches Ziel vor Augen. Du aber findest den

22 Weg, schaffst es tief in mein Land einzudringen - warum?“

23 Erneutes Kauen, dann das verärgerte Zucken im Gesicht des

24 Mannes. Das Chinchillafleisch hatte eine zu niedrige

25 Temperatur. Nicht exakt fünfzig Grad. Diese Tiere würden

26 nicht mehr im Magen eines Sirs verdaut werden, sondern

27 höchstens in denen der Köche. Leise fluchend schob Scott die

28 Beine mit dem Messer auf das Tablett zurück, wobei er nach
29 einer hübsch mit einem Goldrand verzierten Schale langte.

143
1 „Es lohnt nicht, es zu verleumden, Tim.“, fuhr der Mann

2 nach einer Weile der Stille fort, welches lediglich von dem

3 leisen Plätschern des Wassers unterbrochen wurde. „Wir

4 wissen bereits, dass du einen der Computer in der Stadt

5 Kpalimé benutzt hast, um herauszufinden, für wen dein Vater

6 gearbeitet hat. Ich muss schon sagen, intelligent,

7 intelligent. Doch du wurdest überrascht, wodurch du keine

8 Zeit mehr hattest, das Emailkonto vollendend zu schließen.“

9 Ich schwieg. Meine Hände verkrampften sich um das Glas,

10 sodass die Knöchel weiß hervortraten. Was hätte ich auch

11 erwidern sollen, jetzt da der Mann bereits Kenntnis davon

12 hatte, dass einen Teil seiner Aase im Ärmel aufgedeckt

13 worden war?

14 „Es gibt vieles, womit ich gerechnet habe. Nur nicht

15 damit, dass ein Junge wie du innerhalb kürzester Zeit einem

16 Geheimnis auf die Schliche kommt, in dessen Schatten eine

17 ganze Nation im Dunkeln tappt. Die meisten Menschen schöpfen

18 nicht einmal den Verdacht, dass im Untergrund etwas


19 existiert. Darum gestehe ich, dass ich dich ehrlich dafür

20 bewundere, und dir, so wahr ich hier sitze, versprechen

21 will, dass ich dir nichts tun werde. Vorausgesetzt, du

22 hilfst mir.“

23 Verwirrt zog ich die Augenbrauen hoch. „Ihnen helfen?“,

24 entfuhr es mir.

25 „Ich möchte nur von dir wissen, was du über ‚Kamikaze‟

26 erfahren hast.“

27 Ich zögerte, presste den Rücken fester gegen das raue

28 Glas, sodass einige der neugierig heran geschwommenen Fische


29 erschrocken zurückwischen.

144
1 Ein Lächeln huschte über Scotts Lippen, doch es war

2 absolut kalt und unberührt. Siegessicher thronte er auf

3 seinem Sessel, das Weinglas an den Mund führend.

4 Hastig wandte ich meinen Blick von der blutfarbenen

5 Flüssigkeit ab. Denk nach, denk nach. Dabei stand meine

6 Entscheidung bereits fest. Der Mann mochte wissen, dass ich

7 kein schlechter Spion gewesen war - doch wie viel ich

8 herausgefunden habe, wusste er nicht. Der Vorteil war

9 deshalb noch auf meiner Seite. Ihn leichtsinnig wegen eines

10 leeren Versprechens zu verspielen, wäre das, womit Sir Scott

11 rechnete. Denn dann könnte er mich endlich wie die letzte

12 Perle einer Kette einfädeln.

13 „Nein.“, flüsterte ich, fügte noch etwas bestimmter hinzu:

14 „Sie können mich nicht dazu verlocken.“

15 Maurice Scott lachte leise, beinahe wie über einen Witz.

16 „Stimmt. Verlocken kann ich dich nicht - aber zwingen.

17 Vielleicht wirst du dann begreifen, dass du nie eine Wahl

18 hattest.“
19 Wie auf ein unsichtbares Kommando wurde die Tür

20 aufgestoßen. Zitternd vor Angst stolperte ein dreckiger,

21 dunkelhäutiger Junge etwa in meinem Alter herein, begleitet

22 von einem Gorilla, der ehrfürchtig vor seinem Meister

23 niederkniete. „Nummer 273.“ Den Kopf immer noch gesenkt,

24 deutete er auf den jungen Togolesen, der verzweifelt meinen

25 Blickkontakt suchte.

26 Scott erhob sich und ging mit den geschmeidigen Schritten

27 eines Seiltänzers zu ihnen herüber, mich im Augenwinkel

28 beobachtend. „Wie ist dein Name, Nummer 273?“


29 „Kassian… Kassian Broelski, Sir.“ Der Junge biss sich auf

30 die Unterlippe. Blut tropfte, gemischt mit Dreck und

145
1 Schweiß, auf sein zerrissenes Leinenhemd herab. An dessen

2 Ärmel und der Brusttasche war eine Kennnummer angebracht.

3 Namen haben keine Bedeutung. Sie sind nur Worte, wie

4 tausende und abertausende auf dieser Welt. Man sollte

5 Lebewesen nicht nur unter einem Begriff kennen, sie dadurch

6 unterscheiden, sondern durch das, was sie tun, im Guten wie

7 auch im Schlechten. Ein weiteres Puzzleteil rückte an seinen

8 Platz. Wenn es wirklich Papa gewesen war, der diese Worte

9 gesagt haben soll, kurz bevor die Todesengel ihn geholt

10 hatten, musste er sich gegen diese Art von Seelenraub

11 gewehrt haben.

12 Scott hüstelte. „Tim!“, brüllte er, wobei er zurück zu dem

13 Tisch stolzierte. „Das ist Kassian. Hast du gehört?“ Dann

14 plötzlich, ohne dass wir hätten reagieren können, griff er

15 nach dem Messer auf dem Tisch und hielt es dem jungen Mann

16 an die Kehle. „Möchtest du, dass ich ihn töte?“

17 Wie versteinert wanderten Kassians Augen nach unten zu der

18 Schneide, die jeden Moment seine Halsschlagader durchtrennen


19 mochte. Flehend warf er mir einen Blick zu, während er leise

20 betete.

21 „Nein!“ Ein Hauch von Kameradschaft flackerte

22 augenblicklich in mir auf. Ohne auch nur eine Sekunde daran

23 zu verschwenden, nachzudenken, sprang ich auf, wollte dem

24 Mann das Messer aus der Hand schlagen, doch eisernen Hände

25 verdrehten mir die Arme auf den Rücken. Verzweifelt trat ich

26 um mich, musste schnell einsehen, wie aussichtslos meine

27 Lage war.

28 „Dachte ich mir. Nun, Tim, wenn dein dunkelhäutiger Freund


29 leben soll, musst du wohl oder übel den Mund aufmachen. Sag

30 mir endlich, was ich wissen möchte!“

146
1 „Nein!“, stieß ich hervor, bei dem Versuch, meine Gedanken

2 zu ordnen.

3 Es war mir bewusst, dass Scott den Sklaven töten würde,

4 wenn es ihm half, seine Ziele zu erreichen. Was kümmerte es

5 ihn schon, ob er ein Werkzeug weniger zu Hand hätte?

6 Schließlich wäre binnen Stunden frische Ware besorgt.

7 Ich selbst stand auf einer Waage. Entweder konnte ich

8 schweigen, um Widerstand zu leisten, oder ich konnte dem

9 Jungen das Leben retten, indem ich alles preisgab, was ich

10 wusste, und somit meinen Vorteil bei der Flucht verspielen.

11 Welche Seite überwog?

12 „Eins… zwei… drei…“

13 Das Messer zuckte, berührte beinahe Kassians Kehle.

14 „Nein… Bitte!“

15 „Vier… fünf…“

16 „Tun Sie es nicht. Bitte, tun Sie es nicht. Bitte!“,

17 flehte ich.

18 „Sechs…“
19 Ein Schwindel übermahnte mich. Was mochte Kassians Mutter

20 sagen, wenn sie erfuhr, dass ihr Sohn meinetwegen getötet

21 worden war? Mochte sie schreien, weinen, zusammenbrechen, so

22 wie ich damals, als ich meine Mama verloren hatte? Bis in

23 alle Ewigkeit… Amen. Nein, selbst wenn ich keine Chance mehr

24 hatte, durfte ich Kassian nicht wie eine Schachfigur

25 leichtsinnig verspielen. Ich würde sein Leben brauchen, um

26 den schwarzen König auf der anderen Seite des Feldes

27 schachmatt zu setzen.

28 „Okay, ich werde Ihnen alles sagen, was ich weiß. Aber
29 bitte, beenden Sie diesen Wahnsinn. Das ist kein Spiel, bei

30 dem Sie jemanden abschlachten sollen!“

147
1 „Ich werde den Jungen erst dann freilassen, wenn ich das

2 gehört habe, was ich will.“

3 „Okay. Es gab einen Eintrag. Am 25. Mai. Die Kalenderseite

4 dazu haben ihre Leute in meinem Rucksack gefunden. An dem

5 Tag, an dem er gestorben ist, hatte mein Vater das Wort

6 Kamikaze hineingeschrieben. Auch in der Email war diese

7 Buchstabenkombination.“

8 „Kennst du ihre Bedeutung?“

9 Ich schüttelte resigniert den Kopf. Nein, Tim, du weißt

10 gar nichts, rein gar nicht. Weder über Scott noch über

11 Kamikaze oder den Tod deines Vaters.

12 Zu meinem Entsetzen bemerkte ich, dass der Mann dem

13 zitternden Jungen das Messer noch näher an die Kehle hielt.

14 „Sieben… Acht…“ Wie eine Bombe zählte er die Zeit hinunter.

15 „Ich… Ich glaube, es ist eine Art Geheimbund.“, fügte ich

16 hinzu, mehr ratend als darüber nachdenken, was ich in aller

17 Eifer und Panik faselte „Irgendetwas mit Forschung und

18 Schmuggel. Keine Ahnung. Verdammt. Ich weiß nur, dass mein


19 Vater etwas damit zu tun hatte… Ist das der Grund, weshalb

20 er sterben musste?“

21 „Gute Arbeit, Tim. Gratuliere. Du hast dich wahrlich

22 hervorragend geschlagen, muss ich zugeben. Findest du, ich

23 sollte dich belohnen?“

24 Ich zögerte unschlüssig, wobei ich mich auf das Sofa

25 fallen ließ und mit den Händen durch die Haar fuhr.

26 Eigentlich hätte ich stolz darauf sein müssen, Kassians

27 Leben für das Erste gerettet zu haben, doch mir fehlte der

28 Mut, weiterzukämpfen. Wieder einmal hatte ich Papa


29 enttäuscht, weil ich zu feige gewesen war, mich zu wehren.

148
1 „Ich verstehe: Du willst mir die Entscheidung überlassen.

2 Wie überaus höflich von dir.“, spottete Scott, der den

3 Sklaven von einem der Gorillas in Fessel legen ließ. Die

4 Beine des Jungen gaben sofort nach, sodass der Mann ihn

5 stützen musste, was er mit wenig Zartgefühl tat.

6 „Ich möchte dir etwas vorschlagen. Arbeite für mich.

7 Arbeite für Kamikaze.“

8 Erstaunt hob ich den Kopf. Es war eine Gabe, die sowohl

9 Maurice Scott als auch seine Tochter Tess beherrschten: Die

10 Schlagfertigkeit.

11 „Warum um alles in der Welt sollte ich das tun? Sie sind

12 schuld daran, dass mein Vater tot ist.“

13 „Du wirst noch früh genug begreifen, dass ich ab jetzt

14 dein Meister bin - oder ich werde Methoden anwenden müssen,

15 die für dich weniger angenehm sein möchten, wenn bei dir

16 auch nur der geringste Zweifel an meinen Befehlen besteht,

17 mein Junge.“

18 „Nein. Ich helfe niemandem, der so fies ist wie Sie.“,


19 entgegnete ich verzweifelt. Im Augenwinkel registrierte ich

20 Kassians niedergeschlagenen Blick.

21 Du kannst mir vertrauen - Ja aber wie lange? Allmählich

22 begriff ich, was Tess gemeint hatte. Sir Scott war

23 unbesiegbar. Die Klugen gaben auf. So konnte sie wenigstens

24 das eigene Leben retten - ständig in der irrsinnigen

25 Hoffnung, endlich befreit zu werden. Doch wer befreit einen,

26 wenn alle vergaßen? Das Leben hatte erst dann einen Wert,

27 wenn man es auch lebte. Für den Mann mochte ich nur ein

28 kleiner Junge sein, aber ich war ein kleiner Junge, der für
29 etwas kämpfte. Und das, wofür es sich zu kämpfen lohnte,

149
1 überstieg all die Furcht wie den riesigen, weiß gepuderten

2 Gipfel eines Berges.

3 „Du wirst für mich übersetzen. Keine Widerrede. Oder muss

4 ich zu Waffen greifen?“

5 Wenn Sie sich ohne nicht verteidigen können, hätte ich am

6 liebsten geantwortet, doch ich wusste, dass Kassian nur

7 darunter leiden würde. „Nein. Aber…“

8 „Kein Aber.“

9 Ich ignorierte seinen Einwurf. „Aber ich weiß nicht, was

10 genau Sie von mir verlangen, Meister.“

11 „Obwohl ich es verboten habe, ist Französisch die

12 Landessprache der meisten meiner Arbeiter. Ich möchte, dass

13 du für mich ihre Worte wiedergibst und andersherum. Als

14 Gegenleistung werde ich deinen Freund verschonen -

15 vorausgesetzt, du schadest mir nicht. Ich werde dich

16 beobachten lassen und schon bei dem geringsten Verdacht

17 eines Widerstandes wird er leiden müssen.“ Das zuvor noch

18 geschmeichelte Lächeln auf seinen Lippen war verschwunden.


19 Stattdessen rückte er nun mit den Fingern seine Brille

20 zurecht, wobei er wohl versehentlich das Glas berührt haben

21 musste, denn seine Augen verengten sich zu einem Schlitz.

22 Wütend schlug er mit der Faust auf den Tisch, dann auf die

23 Glocke des kleinen Beistelltisch. Bevor ich auch nur mit der

24 Wimper zucken konnte, erschien eine Dienerin aus dem

25 Nebenraum. Sie war mit ein figurbetontes, rotweißes Kleid

26 mit einer Schürze, wie ich es nur aus alten Filmen des 20.

27 Jahrhunderts kannte, dazu eine perfekt abgestimmte

28 Haarspange und weiße Sandalen bekleidet. Mit äußerster


29 Vorsicht hob sie die Brille an der Nasenbrücke hoch und trug

150
1 sie wie ein zerbrechliches Porzellanstück in das Zimmer, aus

2 dem sie gekommen war.

3 „Nun, Tim? Was sagst du dazu?“

4 Eine lange Pause entstand. Meine Gedanken überstürzten

5 sich. Scott betrachte mich über den vergoldeten Rand des

6 Weinglases hinweg, während Kassian unruhig das Gewicht von

7 einem Fuß auf den anderen verlagerte, bevor der Gorilla ihm

8 etwas ins Ohr flüsterte, woraufhin sich der Junge

9 augenblicklich in einen Statur aus Stein verwandelte, deren

10 Augen nur zögerlich durch das Zimmer huschten. Stille, nur

11 das gelegentliche Rauschen des Filters, sodass man glaubte,

12 das Schweigen der Fische hören zu können.

13 „Nein.“, murmelte ich erlösend mit vor der Brust

14 verschränkten Armen „Nein. Sie können mich einmal

15 kreuzweise! Ihnen zu helfen, wäre das Letzte, was ich tun

16 will. Allein schon jeden Tag ihr überhebliches Gehabe hören

17 zu müssen, würde mich krank machen. Öffnen Sie das Tor,

18 lassen Sie uns frei! Dann versprechen ich Ihnen, dass ich
19 Ihnen keinen Ärger bereiten werde.“

20 Tief ein und ausatmend, um nicht sofort die Geduld zu

21 verlieren, massierte der Mann seine Ohrläppchen. Mit der

22 anderen, freien Hand gestikulierte er wild in der Luft,

23 sodass er der eintretenden Dienerin die Brille aus den

24 Fingern schlug. Das Glas klirrte auf dem Boden, zerbrach

25 jedoch nicht. Erschrocken kniete die junge Frau nieder, aber

26 Scott riss sie mit der Reaktionsschnelle eines Geiers hoch.

27 Eine Ohrfeige. Stille. Leises Wimmern. Dem Blick ihres

28 Meisters ausweichend, hielt die Dienerin die errötete Wange.


29 Vorsichtig erhob ich mich, wollte sie verteidigen, als mir

30 bewusst wurde, dass es den Mann erneut erzürnte.

151
1 „Geh mir aus den Augen!“, brüllte er mit einem knurrenden

2 Unterton in der Stimme. Ohne ihr weitere Beachtung zu

3 schenken, wandte er sich mir zu, hielt etwa einen Meter vor

4 mir inne, um abzuschätzen, ob ich seine Mühen wert war.

5 „Weißt du“, erwiderte er, mir seine rechte, knöcherne Hand

6 auf die Schulter legend, „Weißt du noch, was ich dir über

7 die Menschen erklärt habe, die sich mir widersetzten. Ich

8 könnte dafür sorgen, dass du deinen Papa wieder siehst, dort

9 unter der Erde. Möchtest du das? Der einzige Grund, weshalb

10 ich dich noch nicht getötet habe, ist der, das du der Sohn

11 eines großartigen Forschers bist, der Sohn eines guten

12 Freundes. Wäre ich der Ansicht, du wärst wertlos für mich,

13 glaub mir, dann säßest du nicht mehr auf diesem Sofa.“

14 Im Winkel meines Blickfeldes vernahm ich eine ruhige

15 Bewegung. Etwas wurde im matten Lichtschein reflektiert. Ein

16 Messer. Nein…! Sekunden später spürte ich, wie die Klinge in

17 mein Fleisch schnitt. Mein Schrei peitschte durch das

18 Zimmer. Etwas Warmes rann über meinen Arm und auch ohne
19 nachzusehen, wusste ich, dass es Blut war. Dunkelrotes Blut.

20 Ein kurzer Augenblick nackter Gewalt. Der Mann will dich

21 umbringen, Tim! Mit aller Kraft trat ich gegen dessen

22 Schienbein und wich einige Schritte zurück, dabei den

23 verletzen Arm unter die Achseln gedrückt. Blut tropfte zu

24 Boden, hinterließ winzige Spuren.

25 „Pass auf!“, brüllte Kassian zu mir herüber, bevor sein

26 Zurufen durch die Hand auf seinem Mund unterdrückt wurde.

27 Aber es war bereits zu spät. Ich schlug mit dem Hinterkopf

28 gegen das harte Glas, wobei ich mir unwillkürlich auf die
29 Zunge biss. Blut füllte meine Mundhöhle, doch ich zwang

30 mich, nicht zu schlucken. Scotts Arm legte sich wie eine

152
1 Schlinge um meinen Hals, sodass jegliche Gegenwehr unmöglich

2 war, wobei er sein Werk vollendete. „Nummer 448. Ab dem

3 heutigen Tag wirst du deinen Namen vergessen - oder nur noch

4 benutzen, wenn ich es dir ausdrücklich erlaube. Hältst du

5 dich nicht daran, werden meine Männer dich nachts solange

6 über das Feld laufen lassen, bis zu dich übergibst - und

7 dann vielleicht noch etwas länger.“, erklärte der Mann

8 lächelnd und reinigte die Wunde grob mit einem

9 Papiertaschentuch. „Willkommen bei Kamikaze, Nummer 448!“

153
1 5. Kapitel
2 Im Osten geht die Sonne auf, so heißt es. Doch in diesem

3 Haus mochte es den glühenden Stern nur auf Gemälden geben,

4 der, in den Hintergrund gedrückt, lediglich dazu diente,

5 einen Heiligenschein auf das Haupt des Herren, unseres

6 Meisters, zu zaubern.

7 Der Wächter deutete mit der rechten Hand auf die im

8 Schatten verborgene Eisentreppe und gestikulierte, dass ich

9 ihm ohne Widerrede zu folgen hatte. Nervös kaute ich auf der

10 Unterlippe. Der stechende Schmerz im Oberarm hatte

11 nachgelassen, dennoch schien er mich zu betäuben. Betäubte

12 meinen Körper, der sich wie ein Roboter bewegte. Betäubte

13 meine Gedanken mit dem Gift der Gewissheit, dass Maurice

14 Scott mich hätte töten können.

15 Eine stabile Stahltür glitt zischend auf, gab den Blick

16 frei auf einen weiteren Korridor, kahl, steril, wie der

17 Vorhergegangene. Klimatisierte Luft schlug uns entgegen. Die

18 Gitter der Luftschächte glänzten mattsilberig im grellen


19 Neonlicht. Ein rhythmische Rattern, woraufhin ein Mann um

20 die Ecke bog, einen Wagen mit Laborutensilien vor sich

21 herschiebend. An jeder Abzweigung und Türe ein

22 Plastikschild.

23 Erstaunt ließ ich meinen Blick umherschweifen. Wofür

24 brauchte der Brite solch ein unterirdisches - ja, was war es

25 eigentlich, was ich sah? Die Flure erinnerten mich an Star

26 Wars oder die andere Science Fiction Filme, die ich im Kino

27 gesehen hatte. Vielleicht sogar ein wenig an ein


28 Krankenhaus. Schlug etwa hier das Herz von Kamikaze?

154
1 Ohne von seiner Akte, die er eifrig studierte,

2 aufzuschauen, trat ein hagerer Mann in einem weißen Mantel

3 zu uns. Sein Gesicht, welches zu großen Teilen von einer

4 Atemschutzmaske entstellt wurde, zeigte keinerlei

5 Gefühlsregung, nicht einmal dann, als der Gorilla ihm mit

6 knappen Worten die Lage schilderte. Schließlich

7 verabschiedete sich der Wächter und ließ mich in dem

8 Labyrinth aus ineinander verschachtelten Gängen zurück, aus

9 dem ich alleine nieder wieder an das Sonnenlicht finden

10 würde.

11 Vielleicht sollst du das auch gar nicht, Tim, schoss es

12 mir blitzartig durch den Kopf, für Kamikaze arbeiten zu

13 müssen, konnte auch bedeuten, als „Doktor Bibber-

14 Versuchsspielzeug“ in Szene gesetzt zu werden. Die wollen

15 dich aufschnibbeln und schauen, wie lange du durchhältst,

16 bis dein Herz versagt. Oder die wollen irgendein Gift an dir

17 testen, mit demselben Effekt, nämlich dem, dass du ihn nicht

18 überleben wirst.
19 Sekunden starrten wir einander an, dann langte der Mann

20 nach hinten, brachte etwas metallisch Glänzendes zum

21 Vorschein. Was es war, wusste ich nicht. Es machte in diesem

22 Augenblick auch wenig Sinn, genauer hinzuschauen, denn so

23 wäre es das Letzte, was man jemals sehen würde.

24 Renn, Tim, Renn!

25 Ich rannte. Den Gang hinunter. Klappernde Schritte. Stieß

26 einen Pendeltür auf, noch eine. Das Rauschen einer

27 Klimaanlage. Schoss links um die Ecke. Wo bin ich? Noch ein

28 Korridor. Gleich weiß. Rechts um die Ecke. Wo sind die


29 Eisbären? Die Hoffnung, dass sie mich gehen lassen würden,

30 keimte in mir auf, wurde jedoch im selben Augenblick jäh

155
1 zerstört. Eine in den Ohren schmerzenden Sirene heulte auf.

2 Die hohen Töne schienen überall. Ich konnte sie nicht

3 ordnen, selbst wenn es gewollt hätte, ich konnte es nicht.

4 Du findest hier nie mehr heraus. Bewusst, dass ich mich

5 bereits verlaufen hatte, drückte ich den Rücken fest gegen

6 den kalten Stahl einer Türe und verbarg mich gleichzeitig in

7 dessen Schatten, um Atem zu schöpfen. Drei Gestalten jagten

8 um die Ecke. Hielten bewegungslos inne, als könnten sie mein

9 Herz in der Brust pochend hören. Suchend glitten ihre Blicke

10 über die kahlen Wände, blieben kurz an einem geöffneten

11 Schrank schräg gegenüber der Tür hängen.

12 Bitte, nicht! Meine Entdeckung stand unmittelbar bevor.

13 Lauf weg! Lauf, so schnell dich deine Beine tragen können!

14 Doch ich war wie betäubt, unfähig, mich zu rühren. Hätte

15 mich nun jemand mit dem kleinen Finger angetippt, wäre ich

16 mit großer Wahrscheinlichkeit vorne über gekippt.

17 Theoretisch hatte ich keine Chance. Dafür waren vor allem

18 die Kräfte zu ungleich verteilt. Der Gegner besaß mehr


19 Figuren auf dem Spielfeld und hatte den eigenen Würfel so

20 manipuliert, dass dieser nur Fünfen oder Sechsen zeigte.

21 Zudem besaß er Kenntnisse über sämtliche Geheimtunnel. Meine

22 Lage war aussichtslos. Und trotzdem… Trotzdem konnte ich

23 nicht aufgeben. Sich Maurice Scott und dessen kranken Plänen

24 zu unterwerfen - Nein, niemals! Nicht in tausenden von

25 Jahren! Es würde mich krank machen, für solch einen Menschen

26 mein Leben zu opfern. Zwanghaft zu opfern, denn opfern

27 alleine klang zu selbst bestimmend.

28 Von dem winzigen Hoffnungsschimmer getrieben, dass die


29 Weißmasken mich übersehen würden, presste ich meinen Körper

30 auf Zehenspitzen fester gegen die Türe - als diese plötzlich

156
1 nachgab. Völlig überrascht kippte ich hinten über - direkt

2 in die Arme eines Mannes, der sie gierig nach mir

3 ausstreckte.

4 Ich schrie. Tonlos, übertönt von der Sirene. Doch selbst

5 wenn ich laut genug gerufen hätte - hier unter der Erde

6 würde mich nie jemand finden. Niemand vermisste mich,

7 höchstens Tess oder Mathieu vielleicht, doch auch ihnen

8 würden sie einen Lüge über meinen plötzlichen Verbleib

9 auftischen: Tim? Nein, nie von gehört. Verschwunden?

10 Bedaure, dies muss ein Irrtum sein. Wir haben keinen Jungen

11 in den Katakomben herumstreunen sehen und wenn, so ist es

12 seine eigene Schuld, wenn er sich verlaufen hat, Lady Scott.

13 Natürlich versichern wir Ihnen, ihn sofort zurückzubringen,

14 für den Fall, dass wir ihn finden. Selbstverständlich.

15 Machen Sie sich keine Sorgen…

16 Du musst hier weg! Sofort! Doch ich spürte bereits den

17 Einstich einer Nadel in meinen rechten Oberarm. Ein kurzer

18 Pieck mit einer ungeahnten Wirkung. Zunächst kitzelte es


19 nur, dann durchzuckte ein Juckreiz meinen Körper, von oben

20 bis unten, von links nach rechts, beinahe so als ob tausende

21 von Ameisen mit ihren winzigen Beinchen über meine Haut

22 marschierten. Meine Pupillen weiteten sich, sodass ein

23 Nebelschleier meinen Blick augenscheinlich trübte. Die

24 Gestalt stemmte mich unter den Achseln hoch und schleppte

25 mich wie einen nassen Sack Kartoffeln durch die Türe.

26 Grelles Neonlicht flutete den weißen Raum und mit ihm all

27 die scharfkantigen Waffen der Ärzte, die nach ihrer Größe

28 und Gefährlichkeit aufsteigend in einem Regel sortiert


29 worden waren, sowie auch die verschieden farbigen

30 Flüssigkeiten, die in den wie Hexenkessel aussehenden

157
1 Gefäßen vor sich hin brodelten. An der freien Wand gegenüber

2 hatte man Infrarot und Ultraschallgeräte installiert. Einer

3 der Bildschirme flackerte, die anderen waren schwarz.

4 Zu meinem Entsetzen tauchten aus einem Nebenzimmer zwei

5 weitere Eisbären auf, ebenfalls mit Masken, sodass es schwer

6 war, sie überhaupt als Menschen zu identifizieren,

7 geschweige denn nach Geschlechtern zu unterscheiden. Gegen

8 meinen Willen zerrten sie mich auf den riesigen Tisch, wobei

9 einer von ihnen meine Brust mit aller Kraft auf die

10 metallische Fläche drückte und zum allerersten Mal ein Wort

11 mit mir sprach. „Die Schmerzen werden bald unerträglich

12 werden, doch wenn du die Muskeln entspannst, wird es nur

13 halb so sehr wehtun. Vielleicht hast du auch das große Glück

14 und verlierst du das Bewusstsein. Ansonsten finde dich damit

15 ab, dass du mit deinem Einverständnis die Welt ein Stück

16 weit verbessern kannst.“

17 „Ich war nicht einverstanden.“

18 Die Weißmaske ignorierte meinen Einwurf. Dass ihr


19 Versuchskaninchen, welches wie auf der Schlachtbank vor

20 ihnen zappelte, nicht als Festtagsbraten herhalten wollte,

21 schienen sie - wenn überhaupt - nur nebensächlich zu

22 registrieren. „Lehne dich zurück, denke an etwas Schönes.“

23 Friss das Unkraut, mein Häschen. Friss, damit du fett

24 wirst, um mir viel Fleisch zu geben.

25 Mit aller Kraft hob ich den Kopf ein Stück von der

26 Tischplatte, aber die erste Injektion hatte mich derart

27 geschwächt, dass mich augenblicklich eine Welle der

28 Mündigkeit erfasste. Du musst wach bleiben, Tim. Nicht die


29 Schäfchen am Himmel zählen…

158
1 Die Gestalt öffnete erneut den Mund, als wolle sie

2 sprechen, doch ihre Worte klangen gedämpft. „Denn für den

3 Fall, dass du nicht überleben wirst, wird dies deine letzte

4 Erinnerung im Jenseits sein, mein Junge. Dich über auf die

5 Risiken einer solchen freiwilligen Untersuchung aufzuklären,

6 erscheint mir als überflüssig.“

7 „Ich habe mich nicht freiwillig gemeldet.“, erwiderte ich

8 lahm. Meine Lider flackerten. Nicht einschlafen… Tim! Nicht…

9 einschlafen…

10 „Die anderen auch nicht. Und doch haben sie Professor

11 Doktor Sir Maurice Anthony Scott geholfen, sowie auch du uns

12 nun helfen wirst.“

13 Mit diesen Worten streifte er die Gummihandschuhe über,

14 vergewisserte sich ob seine OP-Kleidung und der Mundschutz

15 perfekt sahen. Meilen weit weg, vielleicht einen Meter von

16 meinem Kopf entfernt, plätscherte Wasser aus dem Hahn in das

17 Becken. Feuchte Finger strichen über meinen Arm, wurden

18 abgelöst von dem Tupfern eines Wattebausches. Der Geruch von


19 Desinfektionsmittel. Ein Räuspern unter der Maske. Dann zog

20 die Gestalt das zehn Zentimeter lange Röhrchen mit der

21 spitzen Nadel hervor - und stach zu.

22 Wie spät ist es?

23 Du weißt es nicht.

24 Wie viele Tage sind vergangen?

25 Du weißt es nicht.

26 Wie bist du hier hergekommen?

27 Du weißt es nicht.

28 Wie viele Weißmasken sind es gewesen, die dich derart


29 zugerichtet haben?

30 Du weißt es nicht.

159
1 Wie sehr haben sie dich und deinen Körper missbraucht?

2 Du weißt es nicht.

3 Völlig regungslos lagst du auf dem Operationstisch, die

4 Augen zusammengekniffen. Deine Arme waren zu beiden Seiten

5 mit Gurten an der Liege festgeschnallt worden. Durch den

6 durchsichtigen Schlauch in deinem Hals rann eine gelbliche

7 Substanz. Auf dem Bildschirm eines Gerätes pulsierte dein

8 Herzschlag: Der einzige Beweis dafür, dass in dir zumindest

9 noch ein Fünkchen Leben steckte.

10 Oder bist du, der Junge mit dem Narben übersäten, kleinen,

11 abgemagerten Körper - bist du, dieser Junge dort unten, -

12 bist du schon längst dort, wo du nicht hingehörst?

13 Du weißt es nicht. Du weißt es nicht. Du weißt es nicht.

14 Du weißt es einfach nicht. Doch ich, ich weiß es. Ich

15 weiß, dass die Schmerzen beinahe unerträglich sind. Ich

16 weiß, dass ich nicht so bin, wie du dort unten. Dass ich in

17 gewisser Weise über dir schwebe. Denn ich weiß, dass in mir

18 kleinem Feigling noch mehr Leben steckt, als in einer


19 Plastikpuppe, die sie der Länge nach aufgeschnitten hatten,

20 bloß um festzustellen, wie leer ihr Inneres ist.

21 Gegen meinen Willen schlug ich die Lider, nur um sie

22 gleich darauf wieder zu schließen, weil das grelle Licht

23 mich erblinden wollen zu schien. Es war wie der Fall von

24 einem Kettenkarussell, vielleicht auch wie das langsame

25 Auftauchen aus den schwarzen Tiefen des Meeres, zurück in

26 eine Welt, in der es Wärme gab - zumindest physikalisch

27 gesehen.

28 Erneut zwang ich mich, die Augen zu öffnen, und zählte


29 langsam bis fünf. Immer abwechselnd auf, zu, auf, zu, auf,

30 zu, bis sie sich an die Helligkeit gewöhnt hatten. Auch mein

160
1 restlicher Körper erwachte allmählich aus dem

2 Dornröschenschlaf, in den mich die Spritze versetzt haben

3 musste. Vorsichtig drehte ich den dröhnenden Kopf ein Stück,

4 nur soweit, dass ich über die Tischkante hinweg, einen

5 großen Teil des Raumes überblicken konnte.

6 Alles weiß, perfekt weiß: Die Skalpelle und Werkzeuge

7 waren poliert, ebenso wie die Spritzen und Glasbehälter. Ein

8 ausgeleerter, silberner Mülleimer unter dem Waschbecken, in

9 dem sich kein überschüssiger Tropfen Wasser spiegelte. Kein

10 Staub auf den Neonlampen oder den Ablageflächen der

11 Schränke. Kein Geruch nach Schweiß. Sogar die Mäntel hingen

12 versteckt hinter einem sauberen, weißen, halbzugezogenen

13 Vorhand in Reih und Glied.

14 Ein beunruhigendes Bild der Ordnung aus einem bittersüßen

15 Albtraum, den ich tatsächlich für einen solchen gehalten

16 hätte, ließen sich nicht die schmerzenden Spuren an meinem

17 ganzen Körper finden. Kraftlos zerrte ich an den

18 Lederstriemen. Das ist einfach nicht fair! Sollte ich etwa


19 drauf warten, dass die Weißmasken zurückkamen?!

20 Wie die Sanduhr bei dem Gesellschaftsspiel „Tabu“ tropfte

21 die gelbliche, leicht säuerliche Flüssigkeit aus Tropf über

22 mir.

23 Ein Schäfchen springt über den Zaun,… zwei Schäfchen

24 springen über den Zaun… drei Schäfchen… vier… vier Schäfchen

25 springen über den Zaun… fünf…

26 Erschrocken riss ich die Augen auf. Meine Situation hatte

27 sich seit meiner geistigen Abwesenheit nicht verändert. Halb

28 nackt, mit aufgeknöpftem Hemd, sodass die vielen Narben auf


29 Oberkörper und Armen sichtbar wurden, und einem kratzigen

30 Schlauch im Rachen lag ich hilflos hingestreckt auf einer

161
1 Metallplatte. Würde man dich von oben fotografieren, könnte

2 man die Fotos als Jesus-Christus-Imitation des 21.

3 Jahrhunderts verkaufen.

4 Vielleicht… Schritte. Viele Schritte. Hektisch versuchte

5 ich eine Hand freizubekommen, doch ich war zu schwach. Bitte

6 nicht! Ich schloss die Augen, öffnete sie wieder, schloss

7 sie.

8 Mühevoll kämpfte ich meine aufkommende Panik nieder. Ein

9 Schatten verdeckte das Neonlicht. Leises Gemurmel. „…

10 Zustand stabil… Blutgruppe AB… Negativ, minus…

11 Transplantation erfolgreich… Durchtrainierter Körper… Hohe

12 Lungenkapazität… Sechs, Sieben Monate… Keine Allergien…“

13 Ein zufriedenes Räuspern ganz nahe an meinem Ohr.

14 „Perfekt!“

15 Widerwillig schlug ich die Lider auf. Maurice Scott, in

16 einen roten Mantel gehüllt, umringt von drei Weißmasken,

17 beugte sich über mich. Seine kalten Finger strichen über

18 eine rote Beule am Arm, sodass ich augenscheinlich


19 zusammenzuckte.

20 „Guten Morgen, Nummer 448! Na, hast du gut geschlafen?“

21 Ich schwieg, wobei ich demonstrativ den Kopf in die andere

22 Richtung drehte. Selbst wenn ich ihm hätte antworten wollen,

23 der Schlauch würde jedes meiner Worte im Keim ersticken.

24 Außerdem war der allgegenwärtige Meister der Letzte, den ich

25 jetzt sehen wollte. Sein warmer, salziger Atem strich über

26 meine Wange. Angewidert verzog ich das Gesicht.

27 „Vegetarier?“ Mit einem prüfenden Blick durch seine

28 aufgesetzte Brille überflog der Mann kurz eine Akte, die man
29 ihm reichte.

162
1 „Ja, Sir.“, fügte eine Eisbärin hinzu, die sich mit hinter

2 dem Rücken verschränkten Armen leicht verbeugte. „Der Junge

3 ernährt sich in der Tat ausschließlich von pflanzlichen

4 Produkten.“

5 „Ab heute wirst du das Essen, was du bekommst, Nummer 448.

6 Wir werden sehen, wie lange du dem qualvollen Schrei eines

7 Körpers widerstehen kannst. Vielleicht zwei Tage, vielleicht

8 auch eine Woche. Hast du Hunger, mein Junge? Ja? Knurrt dein

9 Magen genau an dieser Stelle?“ Grob massierte er meine

10 Bauchdecke. „Wie schön wäre es jetzt, in der Sonne zu

11 sitzen, die Beine hochgelegt, einen Korb auf dem Schoß,

12 gefüllt mit den am besten duftenden Früchten, die du dir

13 vorstellen kannst? Deine Hand langt nach einer Orange, du

14 beißt genüsslich hinein.“ Seine freie rechte Hand ballte

15 meine Hand zu einer leicht geschlossenen Faust. „Der

16 Furchtsaft, so süß und klebrig, tropft aus deinen

17 Mundwinkeln, fließt in einem glasklaren Bächlein zu deinem

18 Kinn hinunter. In deinem Arm hältst du ein Mädchen, welches


19 mit einer Blüte im nussbraunen Haar den Kopf auf deine

20 Schulter drückt und leise ein altes Kinderlied säuselt. Ein

21 hübsches Mädchen, so jung wie eine unreife Erdbeere, so zart

22 und doch so voller, bunter, einzigartiger Lebensfreude,

23 nicht wahr, Nummer 448? Oder bist du für die Liebe noch ein

24 wenig zu… kindlich?“

25 Während seiner hypnotisierenden Rede hatten seine

26 Handlager mich vorsichtig von dem kratzenden Schlauch im

27 Hals befreit. Aus Angst, ich könnte vor der Beschwörung des

28 Meisters flüchten oder ihnen sonst Unannehmlichkeiten


29 bereiten, zogen sie es jedoch vor, die Lederriemen nicht zu

30 lösen.

163
1 Mit einer dringlichen Handbewegung befahl Scott einem der

2 Eisbären das Weglegen der Akte, wobei er den roten

3 Mundschutz abnahm, kurz in der Mitte faltete und schließlich

4 in der Tasche seines Mantels verschwinden ließ. Dann erst

5 nahm er mit übereinander geschlagenen Beinen auf dem

6 herbeigezogenen Stuhl Platz, die zwei verbliebenen

7 Weißmasken wie treue Fans mit ihm Seite an Seite.

8 „Ab dem heutigen Tage, Nummer 448, bist du ein offizielles

9 Mitglied von Kamikaze. Du hast wirklich ein beachtliches

10 Glück gehabt…“

11 „Glück?!“, entgegnete ich heiser.

12 „Ja, Glück, dass ich dich in den Kreis des ewigen

13 Bündnisses aufgenommen habe.“

14 „Sie haben mich nie danach gefragt. Sie haben mir nie die

15 Wahl gegeben, zu entscheiden.“

16 „Es wäre auch lediglich Zeitverschwendung gewesen, die wir

17 uns ersparen konnten. Wie viel sind eigentlich 13

18 multipliziert mit 15, dividiert durch 5?“


19 Ein wenig verwundert über die plötzliche mathematische

20 Aufgabe dachte ich drei Sekunden nach. 13 mal 15, geteilt

21 durch 5... „39!“

22 „Anfängerglück“, kommentierte der Mann achselzuckend, die

23 Ellbogen auf die Schenkel gestützt. „Und 1476 addiert mit

24 596, dividiert durch 8?“

25 Wieder spielte ich die Zahlenkombination kurz im Kopf

26 durch. 1476 plus 596, geteilt durch 8... „259!“

27 „Richtig! Erstaunlich. Der Junge ist beinahe so begabt wie

28 Sie, Sir!“ Einer der Weißmasken klatschte begeistert in die


29 Hände, wofür er augenblicklich einen vernichtenden Blick

164
1 seines Meisters kassierte. „Ich meine natürlich… Sie

2 verstehen…“

3 Nachdenklich rückte Maurice Scott die Brille auf seinem

4 Nasenrücken zurecht und runzelte die Stirn. Die Spitze

5 seiner weißen Ledersandalen tippten immer wieder auf den

6 gefliesten Boden.

7 Erneut ertappte ich ihn darin, wie er mich einzuschätzen

8 versuchte. Doch dieses Mal hielt ich seinem kalten Blick

9 stand, auch wenn er einen Eissturm aussandte, der die Erde

10 zum Zittern brachte, die Sonnenstrahlen zu gläsernen Zweigen

11 erstarren ließ, auch wenn er die Dunkelheit über uns senkte,

12 die Sterne und den Mond vom Himmel entführen ließ, ja sogar

13 dann, wenn er, den Hass in die Herzen einpflanzen ließ -

14 hielt ich seinem kältesten Blick stand.

15 Seine braungrünen Augen wurden hinter den entspiegelten

16 Gläsern seines gleichfarbigen Brillengestells wie unter

17 einem Mikroskop vergrößert. Ein flüchtiger Blick auf die

18 goldene Uhr eines amerikanischen Designers.


19 „Werten Sie Ihre Ergebnisse aus. Ich übertrage Ihnen die

20 Verantwortung, für meinen jungen Freund Sorge zu tragen.“

21 Meinen Freund. Ich bin nicht Ihr Freund, Meister, sondern

22 ihr größter Feind.

23 Sommer, 1999. Vor fünf Jahren.

24 „Liebe Eltern, bitte verlassen Sie die Startbrücke. Ich

25 rufe nun den Laut 2 auf:

26 Bahn 1:Julian Kremer… Bahn 2:Max Paulus… Bahn 3:Felix

27 Meier… Bahn 4:Tim River…“

165
1 Auf der Aschenbahn flimmert die Hitze der Sonne. Am Rand,

2 direkt hinter der metallischen Absperrung, werden wilde

3 Zurufe und letzte Glückwünsche laut. Auch Mama in ihrem

4 weißen Top mit der französischen Nationalflagge entdecke ich

5 in Mitten des chaotischen Menschenhaufens. Sie zwinkert mir

6 verschwörerisch zu, drückt mir die Daumen. Die anderen

7 Jungen, ebenfalls in viel zu langen Trikots, warten in

8 Starthaltung auf den Pfiff. Nur ich nicht: Ich warte auf

9 Papa. Auf meinen Papa, der am Tag meines ersten

10 Leichtathletikwettkampf dringend in einem Labor Test an

11 Jahrhunderte alten Blubbergetränken durchführen muss. Die

12 können nicht warten, meint er, bevor er mir zwanzig Pfennig

13 in die Hand legt, kauf dir ein Eis dafür, ja? Doch ein Eis

14 kostet dreißig Pfennig.

15 Ein letzter Blick in die Menge aus bunten T-Shirts und

16 Hütten. Auf die Platze… Der Schiedsrichter hebt die

17 Trillerpfeife an den Mund. Kamerablitze der anderen Eltern,

18 aufgeregtes Murmeln. Fertig… Papa kommt bestimmt noch. Ganz


19 sicher… Los! Der Pfiff ertönt schrill und laut in meinem

20 Ohr, reißt mich aus meinen Gedanken. Max Paulus geht in

21 Führung, dicht gefolgt von Felix Meier. Der rundliche

22 Schweizer hinter ihnen, Julian Kremer, beginnt zu humpeln,

23 schwankt, weint. Ich höre Mama rufen, aber nicht Papa. Lauf,

24 Tim, lauf. Ich nicke. Papa kommt bestimmt noch. Dann jage

25 ich los, nehme die Verfolgung der Spitze auf. Atmen, laufen,

26 atmen. Mein Knöchel schmerzt, weil ich, anstatt mich

27 aufzuwärmen, vor dem Tor gewartet habe, damit Papa den Weg

28 auf die Anlage findet, falls er kommt. Aber ich gebe nicht
29 auf. Aschestaub wird aufgewirbelt. Eine Kurve. Nur noch

166
1 wenige Meter bis zum Ziel. Lauf! Mit allerletzter Kraft

2 gelingt es mir, Felix einzuholen. Zweiter! Mama jubelt, doch

3 ich jubele nicht. Papa ist nicht da.

167
1 6. Kapitel
2 Ein lauter Paukenschlag unmittelbar neben meinem Ohr ließ

3 mich hochfahren. Mit gespreizten Beinen stand einer der

4 Gorilla über mir, eine im japanischen Kampfsport verbreitete

5 Trommel in der Hand haltend. Ich selbst lag zusammengerollt

6 wie ein Welpe auf einer dünnen Strohmatte, durch die ich

7 jedes einzelne Sandkorn im Rücken spüren konnte. Gong, Gong.

8 Erneut ein Schlag, der meinen Körper erzittern ließ. „Grüße

9 nicht den Abend, bevor du nicht den Morgen grüßt!“, knurrte

10 der dunkelhäutige Wächter, wobei er den in eine schmutzige

11 Decke eingewickelten Mann neben mir mit einem Tritt gegen

12 das Schienbein bestrafte. Mühsam streckte ich meine

13 schmerzenden Gliedmaßen, rieb mir wortwörtlich den Sand aus

14 den Augen, wobei ich mit der Müdigkeit um meinen

15 Orientierungssinn kämpfte.

16 Die Sonne flutete die steinernen Treppenstufen, die vom

17 anderen Ende des Raumes nach oben führten, ansonsten war es

18 dunkel. Husten, leises Ächzen, unterbrochen von dem


19 gelegentlichen Trommeln des Wächters. Es stank nach Urin,

20 wie auch nach Schweiß, faulem, feuchtem Stroh und

21 Essensresten - nach etwas unbeschreiblichen stank es. Es war

22 mir auch gleich, wie es stank. Gleich, wo immer ich auch

23 sein mochte - ob in einem Weinkeller auf der Rux de Assamble

24 in Paris, einem Bunker im Irakkrieg oder in einem

25 Friedhofsgrab. Egal, alles gleich. Ich war am Ende meiner

26 Kräfte. Ich konnte nicht mehr. Nicht mehr. Nicht mehr…

27 „Junge!“ Eine knöchrige Hand umkrallte meine linke


28 Schulter, zerrte mich von der Matte hoch. Ich versuchte,

29 mich zu wehren, trat, schrie - war zu schwach.

168
1 „Psst, mein Junge.“ Die andere Hand legte sich über meine

2 leicht geöffneten Lippen. „Stell dich nicht so an. Oder

3 willst du, dass dir der Wächter eins überzieht?“

4 Der dunkelhäutiger Mann stützte sich auf eine Hacke, die

5 Beine gekreuzt, einen Strohkorb auf dem gekrümmten Rücken.

6 Sein kurz geschorenes Haar war von einem Kopftuch bedeckt,

7 wie auch sein restlicher, abgemagerte Körper. Hektisch ließ

8 er seinen Blick umher schweifen, um sicher zu gehen, alleine

9 zu sein.

10 „Beruhige dich, Kleiner. Ich will dir nichts tun, ich

11 möchte dir helfen. Tim ist dein Name, nicht?“ Seine zu einem

12 Flüstern gewordene Stimme, sein warmer Atem nahe an meinem

13 Ohr. Als ich ihm nickend etwas entgegnen wollte, legte er

14 den Skelett artigen Zeigefinger auf meine Lippen. Wir hätten

15 keine Zeit für Fragen. Ich solle ihm einfach vertrauen. Er

16 bückte sich nach einem Tuch, band es mir um den Kopf. „Gegen

17 die Sonne.“, verkündete er lächelnd. In seiner Oberzahnreihe

18 fehlten zwei Zähne. „Folge mir.“


19 Zögernd stieg ich die Treppenstufen herauf in das

20 gleißende Sonnenlicht. Drückend, schwül und doch seltsam

21 kalt schlug mir die Luft entgegen, ließ mein Hemd im Wind

22 flattern. Mit vor die Augen gelegter Hand begann ich zu

23 husten. Staub kratzte in meinem Hals, an meinem ganzen

24 Körper. Wo bin ich?

25 Ein flüchtiger Blick nach rechts, nach links, wieder nach

26 rechts. Eine Plantage, wie aus dem 17. Jahrhundert in den

27 Vereinigten Staaten von Amerika: Orangen, prächtige, runde

28 Früchte mit rotgelber Schalte, süß im Geschmack, hingen wie


29 leuchtende Lampions an den mannshohen Bäumen. Überall ein

30 frisches Dunkelgrün, gemischt mit einem goldbraun Ton, der

169
1 über den ungepflasterten Wegen und dem Feld lag, welches bis

2 in den tiefblauen Himmel reichen zu schien. Der Atem der

3 Freiheit strich mir sacht über die Wangen. Friedlich, still,

4 beinahe harmonisch im Einklang mit der Natur. Männer mit

5 großen Körben auf ihren Rücken. Frauen, die ihre

6 Neugeborenen stillten, sie in den Schlaf wiegten,

7 fürsorglich ihre Stirn küssten, bevor sie sie unter Zwang

8 zweier Wächter in ein quadratisches Backsteinhaus bringen

9 mussten. Kinder. Sie alle marschierten wortlos wie eine

10 Meute Tiere zu ihren Arbeitsbezirken, manche auf das Feld,

11 andere in die Verpackung oder die Wäscherei.

12 Ein Maschendrahtzaun war mit Ausnahme eines Wachturms das

13 Einzige, was die Grenzen der Plantage kenntlich machte.

14 Irritiert wanderte mein Blick über das metallische Geflecht.

15 Es schien zu niedrig, um die Menschen hier einzusperren -

16 und doch riskierte niemand die Flucht. Warum? Ein Mann, wie

17 Maurice Scott, einer war, ein Mann, der am liebsten

18 kontrollieren wollte, wann man atmet oder schluckt, dieser


19 Mann hatte an dieser Stelle seine Klauen kaum ausgefahren.

20 Was bedeutet… Du bist nicht mehr gefangen! Irgendwie,

21 irgendwer hat dich gerettet. Du bist frei. Irgendwo, nur wo?

22 Egal, ganz egal. Von dem diesem Glückgefühl getrieben wollte

23 ich davon stürmen. Seltsamerweise hielt mich niemand zurück,

24 niemand schrie, niemand machte auch nur die Anstalt, mich

25 festzuhalten. Verwirrt blieb ich stehen, warf einen Blick

26 über die Schulter. Der Afrikaner war verschwunden, vom Winde

27 verweht. Nur der Bunker klaffte wie ein Loch in dem

28 rotbraunen Boden. Dunkel war es dort unten, dunkel, heiß,


29 beengend. Lauf, Tim, lauf! Ein letzter fragender Blick,

30 Schulterzucken. Tief atmete ich ein, aus, wieder ein. Lauf

170
1 weg, einfach weg! Auf einem alten Holzklappstuhl hockte

2 einer der Gorillas vor den Treppenstufen, die ebenfalls

3 einem Bunker gehören mussten. Er blätterte in einem Buch,

4 völlig in das Lesen vertieft, und schien mich nicht einmal

5 bemerkt zu haben. Gebückt, im Schatten eines Orangenbaumes,

6 schlich ich an ihm vorbei, Richtung Maschendrahtzaun, der

7 Grenze zur endgültigen, normalen Welt - wenn normal der

8 richtige Ausdruck war. Denn was war schon normal? War es

9 normal, dass ein Einzelner über viele andere herrschen

10 durfte? Sicherlich nicht. War es normal, dass sich die

11 Unterdrückend nicht zur Wehr setzten? Sicherlich nicht. Und

12 war es normal, dass man einem Feind so einfach das

13 Schlachtfeld übergab und ihn ziehen ließ? Sicherlich… Nein!

14 Ich wäre naiv, wenn ich dies geglaubt hätte. Maurice Scott

15 hatte immer ein Aas im Ärmel. Immer. Warum also nicht jetzt?

16 Ein Aas, welches er heimlich unter dem Tisch hervorholte,

17 wie aus dem Nichts herbeigezaubert, plötzlich, ohne, dass

18 man ihn hätte davon abhalten können. Ein Aas, welches er


19 herabsegeln ließ, welches wie ein Geier auf die übrigen

20 Karte herab schoss.

21 Noch versteckte es sich oberhalb des Ellenbogens, wie ein

22 Baby in den Schlaf gewogen zwischen den Knochen und

23 angespannten Muskeln. Dort, ganz ruhig, still unschuldig,

24 dort lag es, eingebettet in die feinen, braunen Härchen und

25 der nach einem Gemisch aus Schweiß und teurer Seife

26 riechender Haut. Bis es erwachte, zuerst die großen,

27 schwarzroten, gefährlich funkelnden Augen, dann die

28 witternde Nase, die sich wie die Blüte einer


29 Fleischfressenden Pflanze aufblähte, und zuletzt der ganze,

30 abstoßende Körper mit ausgefahrenen Krallen, bereit

171
1 jederzeit sein Opfer zu zerreißen. Ein Aas. Verunsichert

2 umklammerte ich das heiße Metall. Blick nach rechts, nach

3 links, wieder nach rechts. Nur dieser eine Wächter, der in

4 sein Buch vertieft war, sonst niemand. Wo war das Aas? Wo

5 lauert es mir im dunklen Wald auf, so wie der böse Wolf dem

6 Rotkäppchen auflauert oder die Katz auf die Maus?

7 Vorsichtig, immer wieder umherschauend, setzte ich den

8 linken Fuß in die Masche, die in meine Sohle schnitt.

9 Unwiderruflich schossen mir die Tränen in die Augen,

10 salzige, braune Tränen. Mit zusammengebissenen Zähnen

11 kletterte ich weiter. Nur noch ein kleines Stück, Tim. Du

12 hast es geschafft… Beinahe geschafft, denn plötzlich, gerade

13 als ich im Begriff war, ein Bein über den Zaun zu schwingen,

14 begann mein rechter Oberarm zu pulsieren. Die Haut

15 verkrampfte sich wie nach einer Impfung, juckte derart

16 bestialisch, als würden tausende von Mücken an dieser einen

17 Stelle ein Kaffeekränzchen veranstalten. Komm, Tim, nur noch

18 dieses eine Stück… Doch das Bedürfnis, mich zu kratzen,


19 überwog. Die eine Hand um das metallische Geflecht

20 geklammert, fuhren die abgekauten Fingernägel der anderen

21 über den Arm, hinterließen rote Striemen. Widererwarten

22 wurde der Juckreiz unkontrollierbar größer, sodass ich bald

23 die Zähne hinzunehmen musste. Tim, klettere weiter.

24 Verdammt, du Feigling. Klettere endlich weiter! Das ist bloß

25 ein Stich, ein kleiner unbedeutender Stich.

26 Der Blick in die Ferne schenkte mir neue Kraft. Kay wartet

27 dort draußen auf dich! Sicherlich haben ihre Eltern etwas

28 gegen dieses Kribbeln. Einen Zaubertrank vielleicht. Kay…


29 Wie ein achtzigjähriger Mann hob ich das Bein über den

30 Zaun. Mathieu, der arme Mathieu, den du befreien musst, der

172
1 vielleicht zusammengeschlagen auf einem Bett lag ohne

2 Matratze und alleine zu schwach war, sich nicht gegen den

3 Meister zu wehren, braucht dich ebenfalls.

4 Nochmals streiften die Zähne über meine errötete Haut,

5 dann schwang ich unter Stöhnen das zweite Bein herüber. Das

6 Pochen wurde noch energischer, ließ mich beinahe wahnsinnig

7 werden. Zum ersten Mal begutachtete ich den Arm genauer. Zu

8 meinem Entsetzen war die Haut an dieser einen Stelle auf die

9 Größe eines Tischtennisballes angeschwollen - und dehnte

10 sich augenscheinlich aus. Schwindel erfasste mich. Plötzlich

11 schien die Erde so weit entfernt zu sein.

12 Der Wächter, der nun herbeieilte, schrumpfte auf

13 Ameisengröße. „Junge!“, brüllte er auf Französisch, „Sieh es

14 ein. Es hat keinen Sinn. Du wirst es nicht schaffen. Komm

15 runter!“

16 Widerwillig schüttelte ich den Kopf, bereit für den

17 entscheidenden Sprung.

18 „Nein!“
19 „Du hast keine Chance, zu entkommen, Junge! Komm zurück.

20 Ich werde dir diese einmal noch helfen.“

21 „Nein…“ Zögernd löste sich die eine Hand von dem Geflecht.

22 Tim, verdammt, spring! Ich schluckte. Wie tief würde ich

23 fallen? Würde es wehtun? Nein, Tim, du darfst nicht darüber

24 nachdenke. Spring endlich! Die zweite Hand legte sich

25 besänftigend auf die juckende Stelle. Bestimmt würde ich mir

26 alle Knochen brechen, wenn ich spränge. Vielleicht gäbe es

27 auch einen anderen Weg… Nein, Tim, nur noch dieses eine

28 letzte Stück. Dann bist du frei. Tu es für Kay, für Mathieu


29 und auch für Tess, damit sie dich nicht länger ertragen

173
1 muss. Tu es einfach. Tief atmete ich durch. Ja, einfach tun.

2 Nicht denken. Streck diesem fiesen Aas die Zunge raus.

3 „Junge, glaubst du wirklich, du bist der Einzige, der

4 versucht, zu fliehen? Ich kenne dich nicht, doch ich weiß,

5 dass du ein Narr sein müsstest, wenn du sprängst.“

6 Ich zögerte. „Egal.“

7 „Vielen Menschen vor dir hat die Version der Freiheit dort

8 draußen den Kopf verdreht. Mir auch. Selbst wenn du es

9 schaffen solltest, diesen Zaun zu überwinden, wird ein

10 weiterer auf dich warten. Aber mit einem gebrochenen Bein

11 wirst du es nie schaffen, auch diesen zu besteigen.“

12 Erneut zögerte ich. „Egal.“

13 „Denke an die Männer, Frauen und Kinder. Kannst du es mit

14 deinem Gewissen vereinbaren, dass sie, wenn sie heute Abend

15 müde und erschöpft von den Feldern heimkehren, auf ihre

16 Mahlzeit verzichten müssen. Deinetwegen. Einige sind

17 vielleicht zu schwach. Ihre Körper schreien nach Essen,

18 selbst dann, wenn es nur eine Orange oder ein Brot ist.
19 Deinetwegen, nur deinetwegen, könnten sie den morgigen Tag

20 nicht mehr erleben. Bist du wirklich bereit, dies aufs Spiel

21 zu setzen, Junge?“

22 Ich zögerte ein drittes Mal, nur kurz, dann sprang ich von

23 dem Zaun herab zur Erde zurück.

24 Was bist du nur für ein Idiot, Tim? Wütend über meine

25 Dummheit scharrte ich mit den Füßen in der lockeren Erde, in

26 der im Laufe der Zeit ein größeres Loch entstanden war.

27 Wahrscheinlich würde hier an dieser Stelle bald ein neuer

28 Orangenbaum zu stehen kommen.


29 Ich hätte mich Ohrfeigen können. Genauso, wie der Wächter

30 es mit seinen beschwörenden Worten beabsichtigt hatte, war

174
1 ich auf die falsche Seite gesprungen, direkt in den Schoß

2 des Mannes zurück. Meine einzige und vorläufig vielleicht

3 sogar letzte Chance zur Flucht in die Freiheit war somit

4 wieder einmal verspielt. Wie konntest du nur so… so naiv

5 sein? Wieder mal hast du die Anleitung exakt befolgt, ganz

6 wie man es von dir erwartet. Meine auf dem Rücken

7 verschränkten Arme strichen über die heiße Haut. Einen

8 Sonnenbrand, großartig! Wenigstens hatte das Jucken auf

9 mysteriöse Weise aufgehört, sodass mich lediglich die roten

10 Striemen daran erinnerten, dass es nicht bloße Einbildung

11 gewesen war. Mein Blick wanderte zu dem Maschendrahtzaun.

12 Von hier unten sah es nach einem Katzensprung aus, aber von

13 dort oben… Seltsam. Mich beschlich das Gefühl, dass Scott

14 seine Finger im Spiel hatte, sogar dann, wenn er weit

15 entfernt, jenseits des Zauns, in seinem Büro hockte, die

16 Schneekugel leicht schüttelnd, damit genau 69

17 Plastikfassetten auf uns herabrieselten. Nur, wenn dem so

18 war, hätte ich dann überhaupt auch nur einen geringen


19 Vorteil, den ich nutzten konnte, bevor der Mann jenen

20 ebenfalls enttarnte? Es musste doch einen Weg. Es musste

21 einfach.

22 „Wie heißt du?“

23 Verwundert, dass man mit mir sprach, wandte ich den Kopf

24 in die Richtung, in der ich die Stimme vermutete. Sie

25 gehörte einem kleinen Mädchen, das sich neben die Holzkiste,

26 an die sie mich gekettet hatten, niederkauerte und

27 vorsichtig im Schneidersitz zu schaukeln begann.

28 Ich zögerte. Was sollte ich ihr antworten? Nummer 448


29 oder…? „Tim. Und du?“

30 „Nummer 274.“

175
1 „Und dein richtiger Name?“, hakte ich nach.

2 „Nummer 274.“

3 Augenblick ballte ich die Fäuste hinter dem Rücken. Wer

4 gab diesem Mann das Recht, einem anderen Menschen das

5 Einzige zu nehmen, was er noch besaßen: Seinen Name?

6 Plötzlich kam mir eine Idee. Eine Idee, wie ich nicht nur

7 der Kleinen endlich eine Identität verschaffen konnte,

8 sondern auch eine, wie ich mich Scotts Tyrannei ein wenig

9 widersetzen konnte.

10 „Was hältst du davon, wenn ich dich…“ Ich betrachte die

11 Kleine aufmerksam. Ihr Haar, zu zwei Zöpfen geflochten,

12 schimmerte im Licht der Mittagssonne dunkelbraun mit

13 rötlichen Strähnchen. „…wenn ich dich Reni nenne?“ Dabei

14 dachte ich an meine Kindergärtnerin Renate. Eine

15 liebenswerte Seele, zu allen gerecht, gleich wie oft man

16 auch in die Hosen gemacht oder mit Sand geworfen hatte.

17 „Reni? Das ist ein toller Name.“

18 „Wir heißen einfach Tim und Reni, einverstanden? Aber es


19 muss vorerst unser Geheimnis bleiben, ja?“

20 Das Mädchen zwinkerte verschwörerisch und legte den

21 Zeigefinger auf ihre rosigen Lippen, als ein Schatten ihr

22 Gesicht bedeckte. Stille. Dann ein dumpfer Schlag, gefolgt

23 von einem erstickenden Schrei. Der Wächter, mit der einen

24 Hand immer noch wild in der Luft wedelnd, zerrte sie vom

25 Boden hoch.

26 „Habe ich dir nicht ausdrücklich befohlen, mit Nummer 268

27 und 257 die Kisten zu säubern, Nummer 274!“, knurrte er

28 böse, wobei er sie derart grob von sich stieß, dass die
29 Kleine stürzte, wofür sie erneut einen Hieb dieses Mal in

30 ihr knochiges Gesicht kassierte.

176
1 „Lassen Sie sie in Ruhe!“, brüllte ich, im Versuch die

2 Kette zu lösen, was natürlich sinnlos war. Tatenlos musste

3 ich zusehen, wie der Mann mit einem spöttischen und zugleich

4 hasserfüllten Grinsen das Mädchen vor sich her zurück zu

5 einer Kiste zog. Sie selbst schien nicht einmal Anstalt zu

6 machen, sich zu wehren. Unter Tränen kniete sie neben einer

7 Box mit dem Aufdruck einer riesigen Orange nieder und

8 schenkte mir lediglich einen letzten traurigen Blick. Nun

9 baute sich der Wächter vor mir auf, sodass ich mir wie ein

10 Insekt vorkam, dass Sekunden später von einem Schuh

11 zerquetscht werden würde. Dennoch… Ich kam mir mit einem Mal

12 stärker vor. Aufrichtig starrte ich in die dunklen Augen und

13 erkannte hinter der Fassade etwas, worüber Maurice Scott

14 sicherlich entrüstete gewesen wäre, wenn jemand ihn darauf

15 aufmerksam gemacht hätte: die Unsicherheit. Freilich, der

16 Wächter war ein Afrikaner. Dieses Mädchen könnte seine

17 Tochter sein. Sie zu verletzten, kostete selbst ihn

18 Überwindung. „Nummer 448“ Er zuckte gleichgültig die


19 Achseln. „Die Geduld des Meisters hat auch ein Ende.“

20 Ich seufzte. „Schätze Sie haben Recht, Ingo.“

21 „Ingo?!“

22 „Ich nenne Sie einfach Ingo, wenn Sie damit einverstanden

23 sind.“

24 „Was?“ Der Mann starrte mich mit offenem Mund an,

25 unwissend, ob er mich ernst nehmen sollte.

26 „Das nehme ich als ‚Ja‟, Ingo.“

27 „Ingo? Moment… Was?“

28 „Irgendjemand muss Ihnen doch einen Namen gegeben haben.


29 Einen Richtigen. Nicht einen wie Ihr großartiger Meister.“

177
1 „Meine Mutter…“ Er dachte kurz nach. „Ja, ich erinnere

2 mich. Jabali. Jabali, nach meinem Großvater. Aber seit ich

3 für Sir Scott arbeite, benutze ich nur noch meine

4 Erkennungsnummer.“

5 „Wieso?“

6 „Ich… Ich muss dringend zurück an die Arbeit.“

7 „Okay, Jabali, wir sehen uns. Ich kann dir ja nicht

8 nochmals davonrennen, Jabali. Jabali, pass gut auf dich auf,

9 ja, Jabali? Oder könntest du mich nicht losbinden? Die Kette

10 schneidet so. Aua, Jabali. Bitte, ich werde dir auch keine

11 Unannehmlichkeiten bereiten. Versprochen! Großen Ehrenwort.“

12 Meine Worte zeigten Wirkung. Nach kurzem Überlegen

13 willigte der Wächter schließlich ein. Mich durchfuhr ein

14 stechender Schmerz, als sich ein Splitter des Metalls in

15 mein Handgelenk bohrte. Dann jedoch sprang die Handschelle

16 endlich auf. Ich war frei! Für einen Augenblick überkam mich

17 erneut das Verlangen, sofort das Weite zu suchen. Vielleicht

18 konnte ich es ein zweites Mal wagen, über den Zaun zu


19 klettern. Vielleicht würde ich es dieses Mal schaffen.

20 Vielleicht… Nein. Ich durfte das Vertrauen des Mannes nicht

21 missbrauchen. Selbst dann nicht, wenn es noch so schwierig

22 war. „Danke, Jabali.“ Lascher Händedruck. Zwinkern. „Ich

23 werde dir bestimmt nicht zur Last fallen.“, beteuerte ich

24 noch mal mit einem leichten Lächelnd auf den Lippen.

25 Der Wächter nickte, wenn auch ein wenig verunsichert, wie

26 es schien. Hatte er einen Fehler begangen, diesen Jungen

27 einfach laufen zu lassen?

28 Nein, dachte ich, du hast genau das Richtige getan,


29 Jabali. Denn unbewusst hast du dich auf die Seite des

30 Feindes deines Meisters geschlagen.

178
1 Mit ihrem heißen Atem drückte die Luft alles nieder. Das

2 Glas des Thermometers schien förmlich schmelzen zu wollen.

3 Träge schleppte ich mich zu einem Orangenbaum. Mein Blut

4 kochte, der Schweiß verdampfte noch auf meiner Haut. Jabali,

5 der mit zwei weiteren Männern die Essensausgabe bewachte,

6 blinzelte zu mir herüber. Die Afrikaner waren an die Hitze

7 gewöhnt. Munter genossen sie ihre Mahlzeit - Ignames, einen

8 Brei, der ähnlich wie Kartoffelpüree schmeckt, dazu eine

9 Schale Wasser - und unterhielten sich leise miteinander. Die

10 Mütter säugten ihre Babys, wickelten sie. Obwohl bei solchen

11 Bedingungen - harter körperlicher Arbeit, geringer Pause,

12 schlechtem Essen, das in etwa der Energiezufuhr eines

13 Müsliriegels entsprach - jeder Europäer sofort das Handtuch

14 weggeworfen und erbitterten Widerstand geleistet hätte,

15 muckste sich hier auf der Plantage niemand. Nicht einmal die

16 hungrigen Kinder stibitzten heimlich eine Orange. Seufzend

17 lehnte ich mich gegen den Stamm des Baumes. Eine Frucht

18 kullerte neben mir zu Boden. Die Versuchung, genüsslich


19 hineinzureißen, war groß, denn wenn man nicht arbeitete,

20 bekam man nicht einmal das Wenige. „Nimm sie.“

21 Erstaunt sah ich auf. Mathieu stützte sich auf seine Hacke

22 und betrachtete stolz den Korb, in dem er eifrig die Orangen

23 gesammelt hatte. Grinsend sprang ich auf, fiel ihm

24 überglücklich um den Hals.

25 „Mach mal langsam. Du musst mich ja nicht gleich

26 erdrücken.“ Er lachte, tätschelte mir zwinkernd den Kopf.

27 „Hallo, Heulsuse.“

28 Zu gerne hätte ich ihm etwas entgegnet, ihn in die Seite


29 geboxt, doch die Freude, ihn endlich wieder zu sehen,

30 überwältigte. „Wie hast du mich gefunden?“

179
1 „Immer dem größten Chaos nach. Nein, ernsthaft. Die Leute

2 reden schon über dich.“

3 „Ehrlich?“

4 „Ja. Ich frag mich, was die an so einem Feigling finden.

5 Kann doch keiner behaupten, dass du auch nur ansatzweise

6 mutig bist, oder? Ich meine, die kleine Heulsuse und…“

7 Ein Schauer lief mir über den Rücken, als ich bemerkte,

8 wie mich alle anstarrten. Freilich, ich war der einzige

9 Hellhäutige hier. Der Einzige, der drei Sprachen sprechen

10 konnte. Der Einzige, der vielleicht das große Pech gehabt

11 hatte, die Tochter des Sirs persönlich kennen zu lernen. Der

12 Einzige, der nur zufällig das Richtige getan hat, indem er

13 Kassian rettete. Der Einzige, der naiv genug sein konnte, zu

14 fliehen. Der Einzige, der einem kleinen Mädchen einen Namen

15 gab…

16 Der Einzige, der Widerstand leistete, unabhängig davon,

17 wie sinnlos es auch war.

18 Ich schüttelte den Kopf. Aber all dies hatte weder etwas
19 mit Mut, noch sonderlich großem Kampfgeist zu tun. Sondern…

20 ja womit? Mit dem Willen endlich, frei zu sein, vielleicht,

21 mit dem Willen, sich noch nicht ganz mit seinem Schicksal

22 abgefunden zu haben, wie der eigene Vater es getan hatte.

23 Vor allem gab mir ein Mädchen Kraft, selbst wenn ich es nie

24 hätte zu geben können: Kay, mein bester Kumpel, meine kleine

25 Schwester, die sogar im Streit hinter mir gestanden hat.

26 „Mathieu, ich muss…“

27 „Nummer 289. Ich weiß zwar auch nicht, warum, aber ist

28 ganz witzig, endlich einmal einen neuen Namen zu haben.“,


29 lenkte mein Freund wie auf Knopfdruck ein.

180
1 Entsetzt klappte ich den Mund auf und zu. „Ganz witzig…

2 Was?!“

3 „Wenn du noch keine Namen hast, musst du es sagen. Sonst

4 kriegst du nachher riesigen Ärger. Die meinen, wir sollten

5 unseren alten vergessen. Deshalb: Nummer 289, falls du mich

6 mal suchen solltest.“

7 „Du also auch! Ich habe gedacht, ich könnte dir vertrauen,

8 Mathieu!“

9 „Nummer 289, merk‟s dir.“

10 „Du bist völlig übergeschnappt! Du bist krank, wie all die

11 anderen auch. Sie hätten dich fast umgebracht. Sie sind

12 schuld, wenn wir nicht nach Spanien kommen. Das war doch

13 dein größter Traum, erinnerst du dich? Oder hat dir dieser

14 scheiß bescheuerte Typ von Sir das Gehirn gewaschen? Kniest

15 du schon vor ihm nieder? Küsst du seine Füße? Vielleicht

16 hast du das große Glück, dass dein Kopf irgendwann einmal in

17 seinem dritten Abstellraum hängt!“

18 Beruhigend legte Mathieu mir die Hand auf die Schultern,


19 doch ich stieß ihn von mir. Tränen liefen mir über die

20 Wangen, rann salzig in meinen leicht geöffneten Mund. Grob

21 wusch ich sie weg. Es hat keinen Sinn. Er ist verloren, Tim.

22 Nein, nicht auch Mathieu… Nein! Ich japste. Der bittere

23 Geschmack der Niederlage lag mir auf der Zunge, gemischt mit

24 einem anwallenden Stück Wut, Verzweiflung und Frust. Maurice

25 Scott, dafür bringe ich Sie um…!

26 „Hey, nur weil ich einen neuen Namen habe, heißt das

27 doch noch lange nicht, dass ich nicht mehr dein Freund bin!“

28 Mathieus Stimme klang seltsam, beinahe so, als ob es jemand


29 anders war, der dort die Lippen bewegte.

181
1 In kleinen Fetzen werde ich Sie zerreißen, wie einen Ast

2 in meinen Händen zerbrechen. Maurice Scott, das schwöre ich

3 Ihnen. Ich… Nein! Ich konnte nicht. Ich bin zu schwach…

4 Ein letztes Mal begegneten sich unsere Blicke. Mein bester

5 Freund… Großes Spanien-Ehrenwort. Dann stürmte ich davon.

6 Mathieu wollte mir folgen, doch Jabali hielt in an der

7 Schulter zurück. „Lass ihn alleine.“, hörte ich ihn

8 flüstern.

9 Ja, lasst mich alle in Ruhe! Ich hasse euch! Schluchzend

10 kauerte ich mich in einem Dickicht nieder, zog die Beine

11 näher an meinen zerkratzten Körper heran. Was war bloß mit

12 mir geschehen? Ein Insekt krabbelte über meinen Rücken. Die

13 Blätter rauschten im Nordwestwind, Richtung der spanischen

14 Küste. Und mit ihm kam die traurige Erkenntnis: Du bist

15 schuld. Denn du hast nicht nur dich, sondern auch Mathieu,

16 in Gefahr gebracht, indem du so egoistisch und versessen

17 darauf gewesen bist, endlich die Wahrheit zu erfahren. Und

18 zu welchem Preis? Du bist in die Fänge eines Wahnsinnigen


19 geraten - bloß, weil du deinem Vater vertraut hast, der

20 nicht ein einziges Mal in deinem Leben für dich da gewesen

21 war… Nein, das stimmte auch nicht. Papa war und ist ein

22 großartiger Mensch. Ein perfekter Mann, der dir viel

23 beigebracht und der sich immer mutig für alle anderen

24 eingesetzt hat. Ein Held. Du bist derjenige, der niemals

25 perfekt ist. Denn du bist ein selbstsüchtiger Feigling, weil

26 du nicht an Mathieu gedacht hast. Dir würde ich auch nicht

27 mehr vertrauen. Du hast es verdient, dass Scott dich dafür

28 bestraft… Nein. Niemand hat es verdient, nicht einmal du,


29 der größte Idiot, den die Welt kennt. Vielleicht kannst du

30 alles wieder gut machen. Vielleicht kannst du diese Menschen

182
1 befreien… Nein, Tim, du hast keine Chance. Du bist alleine,

2 ganz alleine. Sogar Mathieu steht auf der Seite des Sirs.

3 Alle deuten sie herablassend mit dem Finger auf dich, sogar

4 die grünen Marsmensch oder die Götter, Zeus, Venus, Jupiter.

5 Niemand, nicht ein Einziger im ganzen Weltraum oder noch

6 weiter entfernt, ist bereit, dir zu helfen. Womöglich wäre

7 es besser, wenn du eine Ameise wärst, ein rotbraunes

8 Krabbeltierchen in einem nach totem Fleisch und faulem,

9 feuchtem Erdboden stinkenden Hügel, überfüllt von einer

10 riesigen, gut organisierten Gemeinschaft, die lediglich von

11 der Königin, der größten von allen, unterdrückt wird. Oder

12 ein süßer Welpe, in einer Familie, die dich jeden Tag bei

13 Wind und Wetter am Halsband hinter sich her über den Gehweg

14 zerrt. Oder aber ein Meerschweinchen, ein weiches Fellknäul,

15 im Käfig eines Kindes, ständig um Futter oder um

16 Streicheleinheit bettelnd, die immer geringer werden.

17 Vielleicht auch eine Gazelle in der Wüste, ständig in der

18 Angst bei einem Löwenangriff zu sterben. Ein Fisch in von


19 dem Öl verschmutzten, abgestandenen Hafengewässer. Ein Vogel

20 in einer Großstadt… Nein, Tim. Verdammt! Meine Hand krallte

21 sich um eine Wurzel. Ich durfte mir nicht weiter den Kopf

22 darüber zerbrechen, was wäre wenn. Das brächte Mathieu auch

23 nicht wieder zurück. Verdammt, du tust, als sei er völlig an

24 Scott verloren! Du brauchst ihn nicht. Warte ab! Irgendwann

25 kommt er sicherlich zu dir und bittet dich um Verzeihung, so

26 lang konnte er gar nicht schmollen. Bestimmt nicht.

27 Irgendwann boxt er dich wieder in die Seite und alles ist

28 okay. Irgendwann… Hoffte ich jedenfalls.


29 Die Sonne ging auf, ging unter. Ein Tag. Die Sonne ging

30 auf, ging unter. Zweiter Tag. Und immer dann, wenn die Sonne

183
1 aus ihrem Schlaf erwachte, begann die Arbeit. Und immer

2 dann, wenn die Sonne gähnend in ihr Bettchen huschte, endete

3 die Arbeit. Jeden Tag, jeden Tag aufs Neue. Die ganze Woche,

4 immer von vorne, immer dasselbe. Außer sonntags, da hatte

5 man zu lernen: Englische Wörter, um sich mit dem

6 hochwohlgeborenen Meister unterhalten zu können, der sich

7 jeden zweiten Tag einmal auf der Plantage blicken ließ.

8 Meistens, um eine Ration Essen zu streichen, weil wir zu

9 langsam arbeiteten, oder um aus Spaß ein wenig die Peitsche

10 zu schwingen, wenn nicht alles exakt nach seinen Wünschen

11 von statten ging. Nur Tess erschien nie auf dem Feld. Einige

12 der Kinder bezeichneten mich sogar Spinner, als ich

13 erzählte, dass Sir Scott eine Tochter in ihrem Alter hat.

14 Freilich, sie kannten nur, schlafen, essen, arbeiten, essen,

15 schlafen. Alles andere war ihnen fremd. Die Welt jenseits

16 des Zaunes, gleich dem Himmel so fern, so unerforscht.

17 Sofort am Morgen des dritten Tages, noch vor der

18 Dämmerung, hatte ich erneut zu fliehen versucht. Dieses Mal


19 an einer Stelle weiter im Norden. Aber wieder hielt mich

20 dieser verfluchte Juckreiz davor zurück, den Sprung zu

21 wagen. So fand ich mich damit ab, noch einige Zeit auf

22 dieser Plantage verbringen zu müssen. Nachdem Jabali

23 zufällig herausgefunden hatte - wie wusste ich auch nicht -

24 dass ich für mein Alter enorm clever war, bat er mich des

25 Öfteren um den ein oder anderen Gefallen, zu denen vor allem

26 das Führen von verschiedenen Listen und organisatorischer

27 Krimskrams gehörte. Obwohl mein Nebenjob als

28 „Taschenrechner“ zeitweise bedeutete, früh aufstehen zu


29 müssen, damit Scott nichts von alle dem mitbekam, half ich

30 ihm trotz des herrschenden Misstrauens gerne. Schließlich

184
1 saßen wir alle irgendwie in demselben Boot. Einer leitete

2 das Schiff durch den gefährlichen Riff, der andere versuchte

3 sich beim Segeln. Dennoch: Der größte Teil der Afrikaner

4 hielt gebührenden Abstand von mir, da sie mich wohl für

5 einen Spion, einen Dummkopf oder etwas derart halten mochte.

6 Denn was hatte ein hellhäutiger Junge, der lediglich die

7 „leichte“ Aufgabe übernahm, zu übersetzen, und nicht auf dem

8 Feld mitarbeitete wie alle anderen auch, was hatte dieser

9 unter ihnen verloren? Mathieu, mittlerweile vom Sammler zum

10 stolzen Ernter aufgestiegen, würdigte mich wider Erwarten

11 keines Blickes mehr. Dafür Reni umso mehr. Das kleine

12 Mädchen wich mir an keinem Abend von der Seite. Ständig

13 bettelte sie darum, dass ich mit ihr spielte oder ihren

14 Freunden Namen gab. Dabei war mein Kopf leer. Ich konnte

15 kaum noch denken, lief manchmal ziellos am Zaun entlang. Das

16 Gefühl, mich nicht wehren zu können, machte mich schier

17 wahnsinnig. So erfreute es mich auch, dass ich einmal in der

18 Gegenwart des Meisters absichtlich falsch übersetzte und es


19 daher Stunden bedurfte, alle Schwierigkeiten und

20 Missverständnisse zu beseitigen. Jeden Tag, selbst wenn die

21 Hitze mich noch so niederdrücken zu wollen schien, erkundete

22 ich mein Gefängnis. Nach einer Woche hatte ich mir jeden

23 Baum eingeprägt und wenn jemand seine Gruppe verlor, konnte

24 ich ihn sicher zurückleiten. Eifrig fertigte ich Skizzen

25 dieser neuen Welt an, markierte Stellen, an der der Zaun

26 brüchig war oder die sich wegen der lockeren Erde besonders

27 gut für einen Tunnelbau eigneten. Denn, obwohl Maurice Scott

28 glaubte, mich endlich auf seine Perlenkette gefädelt zu


29 haben, kullerte ich immer noch auf dem Regalbrett herum.

185
1 Am Morgen des vierzigsten Tages, dem 9. Juli 2004, mitten

2 im afrikanischen Winter, wurden wir von einem Sturm

3 überrascht. Die Äste der Orangenbäume knickten ab,

4 verletzten die darunter pflückenden Menschen. Kisten und

5 andere lose Gegenstände wirbelten umher. Kinder schrien,

6 jammerten zusammengekauert in den unterirdischen Baracken.

7 Obwohl es Scott sicher missfallen hätte, die Arbeit

8 niederzulegen, stieg Jabali auf die wacklige Leiter zum

9 Wachturm herauf, um die Warnglocke zu läuten. Verzweifelt

10 klammerte er sich an der Sprosse fest, schlug jedoch mit

11 eiserner Willenskraft gegen das Metall. Ich bewunderte ihn

12 von den Treppenstufen aus. Instinktiv wollte ich ihm

13 Beistand leisten, aber sein Befehl, hier zu warten, war

14 ausdrücklich und unwiderruflich gewesen. Ein Afrikaner,

15 einen anderen stützend, humpelte auf die Baracke zu. Nummer

16 171 und 192 hackte ich auf der provisorisch

17 zusammengestellten Liste ab, die ich zu führen hatte.

18 Vorsichtig fuhr ich mit dem Kugelschreiber über die


19 einzelnen Namen. Baracke eins - vollständig, gezählte

20 fünfzehn Personen. Baracke zwei und drei ebenfalls. Und

21 vier… eins, zwei, drei, vier, fünf… vierzehn! Kopfschüttelnd

22 betrachte ich die kleinen Haken. Bestimmt hast du dich

23 verrechnet. Unmöglich, das… Vierzehn! Entsetzt ließ ich

24 meinen Blick über die Schatten im Inneren schweifen. Ein

25 Blitz schoss über den nachtschwarzen Himmel. Regen peitschte

26 mir ins Gesicht.

27 „Rein mit dir Junge!“, brüllte Jabali, den Sturm

28 übertönend, wobei er mich an der Schulter mitreißen wollte,


29 „Gut gemacht.“

30 „ Es… Es sind nur vierzehn.“

186
1 Wie versteinert hielt der Wächter inne, ungläubig auf das

2 karierte Blatt Papier starrend.

3 „Nummer 274... Sicherlich ein Missverständnis.“, erwiderte

4 er wenig überzeugend, lehnte sich gegen das Gemäuer, die

5 Hand vor Augen gelegt und sah hinaus in die Finsternis. Doch

6 ich wusste, dass er log. Selbst wenn ich es zu verdrängen

7 versuchte: Es irrte noch jemand dort draußen umher. Alleine,

8 völlig in Panik. Und als ob Gott es so gewollt hätte,

9 tauchte eine weinende Afrikanerin auf. „Meine Tochter…“

10 „Sicherlich ein Missverständnis.“, wiederholte Jabali

11 nochmals mit gequälter Stimme.

12 Nummer 274... Nummer 274... Reni! Das kleine Mädchen, das

13 mich in den letzten Wochen immer wieder mit ihrem

14 unschuldigen Lachen daran erinnert hatte, dass es Zuneigung

15 gab, die Scott nicht zerstören konnte, dieses Mädchen

16 fehlte. Hektisch wandte ich mich um. Reni, du kennst den

17 Weg. Du bist hier aufgewachsen. Warum…? „Ich habe Angst,

18 wenn es da oben Bum-Bum macht.“ Natürlich!


19 „Es ist zu gefährlich. Niemand kann…“

20 Doch, ich konnte sie finden. Wie oft hatte ich sie beim

21 Arbeiten besucht, ihr das ein oder andere Mal beim Pflücken

22 geholfen, wenn ihr Arme schmerzten.

23 „Ich werde sie suchen.“, entgegnete ich bestimmt, wobei

24 ich Jabali den Zettel in die Hand drückte und die Treppe

25 immer zwei Stufen auf einmal nehmend heraussprang.

26 „Nein, Junge.“ Der Mann packte den Stoff meines T-Shirts,

27 drehte mich zu sich herum. „Sei vernünftig. Es hat keinen

28 Sinn. Wir müssen abwarten.“

187
1 Mein Blick blieb an Renis Mutter hängen, die die Hände vor

2 die Augen geschlagen hatte. Ihre kleine Tochter… Ich musste

3 ihr helfen.

4 Mit aller Kraft stieß ich ihn von mir und wurde

5 augenblicklich von der Dunkelheit verschluckt. Völlig

6 orientierungslos stolperte ich über zurückgelassene Kisten

7 und Macheten. Reni, wo bist du? Es erschien mir eine

8 Ewigkeit, seit ich zuletzt Licht gesehen hatte. Meine

9 Kleidung war durchnässt, die Lampe bereits erloschen. Nass

10 klebte das Haar in meiner Stirn. Wasser spritzte an meinen

11 Bein hoch, als ich in einen Pfütze trat. Erneut zuckte ein

12 Blitz über den Himmel, dicht gefolgt von einem Ohr

13 betäubenden Donnergrollen, als wollen beide gleichzeitig am

14 Horizont zerschellen.

15 „Reni!“, brüllte ich in die Schwärze hinein, „Reni, Reni!“

16 Keine Antwort. „Reni!“ Mit dem Kopf stieß ich gegen etwas

17 Hartes, vermutlich einen Ast. Schmerzend rieb ich die Stirn,

18 tastete mit den Händen den Gegenstand ab. Feucht, sehr


19 feucht. Das musste bedeuten, dass ich… dass ich in der Nähe

20 des Weges war. Denn ansonsten würden die übrigen Bäume einen

21 Teil des Regens abgefangen, sodass die Äste nahe dem Boden

22 kaum hätten nass werden können. Auf den Knien krabbelte ich

23 über die Erde, gleich, ob ich nun wie ein Monster aussehen

24 mochte.

25 „Reni, wo bist du?“ Kies, festere Erde. Von irgendwoher

26 wurde kurzzeitig etwas reflektiert. Der Zaun! Gut, Tim, du

27 bist auf dem richtigen Weg! Dort drüben ist die Stelle, zu

28 der du Reni heute Morgen ein Stück begleitet hast. „Hey…


29 Nummer 274!?“ Wieder keine Antwort. Das durfte doch nicht

30 wahr sein! Vielleicht hatte Jabali recht gehabt und es

188
1 handelte sich lediglich um ein Missverständnis. Unmittelbar

2 über mir krachten die Wolken aneinander. Erschrocken kauerte

3 ich mich unter einem Baum nieder, erstarrte. Was bist du nur

4 für ein Feigling? Wie sollst du so ein kleines Mädchen

5 retten können? Das Verlangen, nicht noch einmal zu versagen,

6 trieb mich plötzlich an. „Reni!“ Leises Wimmern. „Wo bist

7 du?“ Ein atemloses, heiseres „Hier drüben“. Donner, der Ruf

8 des Himmels. Eine Orange traf mich hart am Kopf, als ich

9 mich erheben wollte. Sofort geriet ich ins Taumeln. Ein

10 Blitz, wie ein Aal sah er aus, kräuselte sich in der Nacht.

11 Jemand schrie, aber es war nicht Renis Schrei. Bevor ich

12 auch nur verstand, was dies bedeutete, wurde ich grob zu

13 Boden geschleudert. „Hey!“ Angewidert verzog ich das

14 Gesicht. Matsch war nicht gerade meine Leibspeise. „Bist du

15 verrückt!?“

16 „Spiel dich nicht so auf, Heulsuse! Muss ein Feigling wie

17 du immer gegen den Strom schwimmen?“

18 Ungläubig runzelte ich die Stirn. „Mathieu?“


19 Doch als Antwort erhielt ich lediglich einen Schlag auf

20 den Rücken, der meine Zähne aufeinander presste. „Lernst

21 wohl nie dazu, wie? Nummer 289! Dachte, du wärst der kleine

22 Besserwisser. Oder ist das auch wieder eine deiner Lügen?

23 Aber, ich muss dir für diesen ganzen Scheiß hier danken.“

24 Grob zog er mich hoch, schüttelte mich wie eine Puppe.

25 „Jetzt weiß ich wenigstens, wo ich hingehöre.“

26 „Niemand gehört hier hin.“ Ich zögerte kurz. „Mathieu!“

27 „Nenn mich gefälligst, Nummer 289!“

28 „Nein, Mathieu. Ich wüsste nicht wieso.“


29 Als ich seinen Handrücken erneut verspürte, wollte ich

30 zurückweichen, doch dieses Mal tat ich es nicht. Denn

189
1 unbewusst war ich stärker als mein ehemaliger bester Freund.

2 Glaubte ich jedenfalls. Die eine Hand zur Faust geballt,

3 hätte ich den längsten Fluch meines Lebens aussprechen

4 können… als jemand meine Arme auf den Rücken presste und mir

5 ins Ohr brüllte: „Prügelei im Gewitter?“ Jabali, Gott sei

6 Dank!

7 „Er hat mich angegriffen. Sofort ist er auf mich

8 losgegangen.“, winselte Mathieu und schlüpfte somit

9 unerwartet die Rolle des armen Jungen, dem Unrecht getan

10 wurde.

11 Kopfschüttelnd starrte ich ihn an. „Nein… Ich habe bloß…

12 Ich meine, ich…“

13 „Mir ist es gleich, wer angefangen hat. Ihr habt gegen die

14 Vorschriften verstoßen und euch und andere zudem in Gefahr

15 gebracht. Deshalb kommt ihr jetzt zum Meister… Alle beide!“

16 „Willkommen!“

17 Maurice Scott, in einem maßgeschneiderten, olivgrünen Hemd

18 und einer Dieseljeans, nippte an einer Tasse Tee, stellte


19 sie jedoch sofort zurück auf ihren Unterteller, um mit einem

20 Fingerschnipsen zu verdeutlichen, dass man auch unsere

21 Gläser zu füllen hatte. Die Situation schien absurd. Wie

22 alte Freunde saßen wir an einem runden Tisch im

23 Wintergarten, mit einem aufgenötigten Getränk in der Hand

24 und warteten auf unser Todesurteil. Unser Henker seinerseits

25 wirkte vollkommen gelassen und entspannt. Dabei traf uns

26 jedes Wort wie ein kleines Messer tief in den Brustkorb.

27 „Mir ist zu Ohren gekommen, dass ihr euch gegen sämtliche

28 meiner Gebote aufgelegt habt. Freilich, vielleicht ist einer


29 von euch unschuldig. Diesem kann ich nur raten, die Wahrheit

30 zu sagen. Denn sonst wir es beide treffen und zwar harter

190
1 als euch lieb ist, meine Freunde“ Lächelnd ließ der Mann den

2 Blick über unsere Gesichter schweifen. „Nun?“

3 „Er war‟s, Sir. Als er anfing, zu knallen, haben wir uns

4 in Sicherheit gebracht. Es war zu gefährlich, glauben Sie

5 mir. Nur er…“ Mein bester Freund machte eine Atempause. „Er

6 hat einen Fehler gemacht. Auf seiner Liste war Nummer 274

7 abgehakt. Zum Glück fiel mir auf, dass das kleine Mädchen

8 noch draußen umherirrte und so rannte ich heraus, um sie zu

9 suchen. Beinahe wär‟s mir auch gelungen, hätte er nicht auf

10 mich eingeschlagen. Vermutlich alles, damit sein Fehler

11 nicht auffiel.“

12 Ich schüttelte den Kopf. Wie konnte Mathieu mich nur

13 derart belasten?

14 „Nun, Nummer 448?“ Maurice Scott nickte mir zu, ohne

15 genauer auf die Aussage des Afrikaners einzugehen. „Was

16 sagst du dazu?“

17 Ich zögerte. „Das ist nicht wahr…“, stotterte ich,

18 bewusst, wie gering meine Chancen standen, hier jemals


19 lebend raus zu kommen. Verdammt! Warum stotterst du? Wie

20 soll er dir denn so glauben?

21 Doch bevor der Mann endgültig mein Todesurteil

22 unterschreiben konnte, klopfte es an der milchigen Glastür.

23 Für Sekunden schöpfte ich neue Hoffnung, als ich erkannte,

24 um wen es sich bei dem unerbeten Gast handelte: Reni, eine

25 Decke über die Schultern gelegt, schlich mit gesenktem Kopf,

26 zitternd vor Furcht und Kälte, zu uns herüber, dicht gefolgt

27 von einem Gorilla und Tess. Letztere stützte die Ellbogen

28 auf den Tisch und lächelte mit derselben kühlen, sachlichen


29 Miene wie ihr Vater in die Runde. „Nummer 274 ist Zeugin.“,

30 mischte sie sich ein, ohne vorher von den Ereignissen in

191
1 Kenntnis gesetzt worden zu sein. „ Ich schätze, es ist

2 interessant und von hoher Priorität für uns, wie sie das

3 Vorgefallene bewertet.“

4 Tess nickte dem Mädchen kurz zu, wobei sie ihre Rolle als

5 Staatsanwältin allerdings nicht ablegte. Reni schluckte

6 merklich. Endlich kommt die Wahrheit ans Licht. Aber die

7 Worte, die die Kleine aussprach, waren alles andere als

8 befreiend.

9 „Er“ Sie deutet mit ihren dünnen Finger auf mich. „Er hat

10 ihn überfallen. Ich hab‟s gesehen, weil ich mich versteckt

11 habe. Ich hatte so große Angst, dass ich mich nicht bewegen

12 konnte… und er, ja er, er hat den da geschlagen.“

13 Triumphierend, aber auch ein wenig verwundert, riss

14 Mathieu die Arme hoch.

15 „Sehen Sie‟s, Sir. Ich bin unschuldig. Er war‟s, nicht

16 ich.“

17 Fassungslos starrte ich Reni an. Nein, das ist alles ein

18 Traum. Ein böser, böser Traum. Ganz, ganz sicher bist du im


19 falschen Film.

192
1 7. Kapitel
2 Die Fleischmesser hingen blank poliert über dem Herd, auf

3 dem in einer Keramikpfanne ein herrlich duftendes

4 Reisgericht zubereitet wurde. Trotz des Spülmittels rochen

5 ihre Klingen nach bereits geronnenem Blut, ebenso wie der

6 weiße, geflieste Boden des beinahe fensterlosen Raumes roch,

7 die verschiedenen Geschirrsets oder die schwarzen

8 Ablageflächen. Der Geruch lag wie der verzweifelt

9 weggewischte Staub auf den Regalen, den Schränken,

10 vielleicht sogar auf der hohen, weißen Kochmütze des Mannes,

11 der mir nun in den Weg trat.

12 „Was hast du hier zu suchen?“

13 „Ihr Meister schickt ihn. Er steht ab heute in Ihrer

14 Schuld.“

15 Erstaunt wandte ich mich um. Tess lehnte gegen den

16 Innenrahmen der Tür, die sie nun hinter sich zuzog. „Das ist

17 Tim, Tim River. Sohn eines guten, leider kürzlich

18 verstorbenen Freundes meines Vaters. Nur…“ Sie machte einige


19 Schritte auf uns zu. „Nur hat er es mit seinen irrwitzigen,

20 typisch männlichen Streichen etwas zu weit getrieben. Sehen

21 Sie zu, welche Drecksarbeit Sie ihm aufnötigen können.“

22 Der Koch grinste, wobei er den Kopf senkte. „Danke, Miss.

23 Soll ich dir zu dem Reis eine Muschelsuppe servieren?

24 Frisch, nach Mailänder Art.“

25 Tess kicherte. „Ich weiß Ihr Angebot zu schätzen, aber:

26 Nein, danke.“ Die Hände ineinander gefaltet wandte sie sich

27 ab, doch ich spürte, wie sie noch einen kurzen Blick über
28 die Schulter zu mir zurück warf.

193
1 Sehen zu, welche Dreckarbeit Sie ihm aufnötigen können.

2 Tess hatte nicht übertrieben, als sie dies sagte. Der Mann,

3 ein hochnäsiger Tyrann in der Küche und ein Schwanz

4 wedelndes Schoßhündchen des Meisters, mit dem Namen Kurt

5 Mallium, versuchte fortan, mir jeden Tag zur Höhle zu

6 machen, sodass ich manchmal in den schlimmsten Stunden darum

7 betete, dass Scott mich endlich ans Kreuz über dem Kamin

8 nagelte. Vor allem das Abtrennen des Kopfes eines noch

9 zappelnden Fisches und das anschließende Ausnehmen wurden

10 zur Qual. Dennoch, irgendwie überlebte ich den Tag und den

11 darauf folgenden. Auch den nächsten und übernächsten. Erst

12 gegen Mitternacht, wenn ich mich erschöpft auf den

13 Kartoffelsack zwischen den stinkenden Müllcontainern

14 zwängte, wurde mir klar, wie sehr sich mein Leben verändert

15 hatte. Von dem kleinen Kinderzimmer in der Hochhaussiedlung

16 in Köln nach Afrika, zuerst in ein Dorf, dann in die Weiten

17 des Urwaldes und schließlich in dieses Gefängnis, aus dem es

18 keinen Ausweg zu geben schien. Die einzigen Menschen, denen


19 ich noch vertraute, haben mich im Stich gelassen. Dabei

20 kenne ich die Wahrheit, den Grund, weshalb ich eigentlich

21 hier verdamme, immer noch nicht. Oft hatte ich versuchte,

22 die Luft anzuhalten, bis ich erstickte. Aber jedes Mal, als

23 meine Lungen schmerzten, riss ich den Mund auf, Tränen in

24 den Augen. Es war eine schreckliche Zeit, schrecklicher als

25 die auf dem Feld, schrecklicher als alles, was ich bisher

26 erlebt habe. Doch auch diese Zeit würde vorüber gehen. Nach

27 drei Tagen schien es mir gleich, wie viele Tiere ich

28 umbrachte. Täte ich es nicht, täte es jemand anderes.


29 Ermordet werden würden sie sowieso. Versalzte ich die Suppe

30 absichtlich, müsste ich den ganzen Kessel bis zum letzten

194
1 Tropfen auslöffeln und anschließend eine neue aufsetzen,

2 ganz egal, wie schlecht es mir ginge. Je mehr ich mich dem

3 fügte, was der Koch von mir verlangte, desto weniger Schläge

4 bekam ich. Denn mittlerweile hatte ich eines begriffen: Die

5 konnten mir zwar meinen Körper nehmen, nicht aber meine

6 Gedanken. Dort oben war ich völlig frei.

7 Es war der Morgen des 17. Julis, eines warmen Samstags.

8 Gähnend rieb ich mir die Augen und bemerkte entsetzt, dass

9 ich beim Aufräumen der Küche eingeschlafen sein musste. Denn

10 mit der freien linken Hand umkrallte ich bereits den

11 Geschirrlappen. Hastig streckte ich meine Gliedmaßen aus,

12 bloß, um mit dem Kopf gegen den Herd zu krachen.

13 „Noch zu blöd, um richtig aufzustehen, was?“

14 „Tess! Oh, mein Gott… Was… was machst du denn hier?!“

15 Eifrig strich ich die altmodische Laufburschenuniform

16 gerade, bemüht, nicht allzu enttarnt zu wirken.

17 „Alles Gute zum Geburtstag.“

18 „Du gratulierst mir zum Geburtstag?“ Träumte ich oder


19 stand gerade tatsächlich die Tochter des Sirs vor mir in der

20 Küche und streckte mir zögernd die Hand aus?

21 „Irrtum. Reine Höflichkeit. Ich gratuliere dem Tag, das es

22 nun einer weniger ist, den ich dich ertragen muss.“

23 Unschlüssig rappelte ich mich vom Boden hoch. Meinte sie

24 das wirklich ernst?

25 „Danke.“

26 „Nichts zu danken.“, erwiderte sie, wobei sie den Blick

27 durch den Raum schweifen ließ. „Bist du alleine hier?“

28 Ich imitierte ihr hektisches Umherschauen. „Nein, hier ist


29 der Heilige Geist, weißt du. Und die Spinne hinter dem

30 Schrank. Ich nenne sie Spider.“,

195
1 „Sehr witzig. Wirklich sehr witzig.“, zischte sie böse und

2 stemmte die Hände in die Hüften. „Also: Wer ist außer deinem

3 Spinnchen und dem Heilige Geist noch in diesem Raum? Etwa

4 der Weihnachtsmann? Mag sein, dass dieser sich in der

5 Jahreszeit vertan hat.“

6 „Okay, okay. Es tut mir Leid. Ich bin alleine. Die anderen

7 sind zum Markt gefahren. Sie kommen in etwa einer Stunde

8 zurück.“

9 „Gut.“ Tess lächelte. „Hast du Lust, dass ich dir

10 Gesellschaft leiste?“

11 Zu meinem Erstaunen beträufelte sie den zweiten Lappen mit

12 etwas Spülmittel und begann den Herd zu scheuern. „Was

13 guckst du denn so? Wir haben eine Menge zu tun.“

14 Nach etwa einer halben Stunde blitzte die Küche wie neu.

15 Obwohl ich es nie für möglich hielt, war die Tochter des

16 Sirs tatsächlich eine großartige Hilfe gewesen, ohne die ich

17 zugegebenermaßen am Abend vermutlich wieder Schläge kassiert

18 hätte. Wir sprachen nicht viel miteinander. Eigentlich gab


19 es auch nichts, worüber wir hätten reden können. Still, ohne

20 das Warum zu kennen, genoss ich endlich einmal nicht im

21 Stich gelassen zu werden. Selbst, wenn mich Tess höchst

22 wahrscheinlich nach der Arbeit um den Verstand brachte und

23 sich darüber beschwerte, dass ihr Toast nicht eine Minute,

24 sondern nur fünfundfünfzig Sekunden geröstet wurde. Denn

25 dieses Mädchen war das Unberechenbarste von allen.

26 „Danke. Ich schätzte, ich bin dir was schuldig, oder?

27 Warum bist du wirklich hierhergekommen? Soll ich dem Koch

28 ausrichten, dass du demnächst den Pfannkuchen mit einem


29 Mickie Maus-Gesicht haben möchtest oder etwa in

30 Kleeblattform?“

196
1 Sie wrang den nassen Lappen über dem Waschbecken aus. „Wie

2 kommst du darauf, dass ich irgendetwas verlange?“

3 „Das tut dein Vater auch immer.“

4 Ihre Augen verengten sich zu einem schmalen Schlitz. „Ich

5 bin nicht mein Vater, verstanden?“, knurrte sie böse, wobei

6 sie das Handtuch aus meinen Händen riss und einige Schritte

7 entfernt in einen Wäschekorb gleiten ließ. „Ich habe deinem

8 besten Freund das Leben gerettet.“ Irritiert zog ich die

9 Augenbrauen hoch. Was meinte sie damit? „Als ich davon

10 erfuhr, was auf dem Feld vorgefallen war, habe ich das

11 kleine Mädchen dazu gebracht, für mich zu lügen“, fuhr sie

12 fort, „Ja, ich weiß, ich bin eine blöde Ziege. Aber was

13 glaubst du, hätte Dad mit deinem Freund gemacht? Ihn so

14 harmlos entkommen lassen wie dich?“

15 „Harmlos?! Das nennst du harmlos?“ All das war von Anfang

16 an geplant! Ich hätte es ahnen müssen.

17 „Du bist hier, weil ich es so will.“

18 „Und was hindert mich daran, alles zu verraten?“


19 „Nichts. Aber was willst du ihnen erzählen? Niemand wird

20 dir glauben. Du bist alleine. Weglaufen kannst du nicht. Was

21 willst du meinem Dad petzen?

22 „Schon gut. Ich habe verstanden. Was soll ich tun?“

23 Wie zur Antwort warf sie mir eine Magnetchipkarte zu.

24 Hastig fing ich sie auf und wandte sie in meiner Handfläche.

25 Sie war leicht, kaum größer als eine Payback-Karte. Auf

26 ihrer Rückseite, oberhalb des ein Zentimeter dicken

27 Magnetstreifens schimmerte im Licht eine Nummer, daneben ein

28 Name, der meinen Atem stocken ließ: Nummer 08, Marc River.
29 „Keine weiteren Fragen, kapiert? Nimm es als

30 Geburtstagsgeschenk, wenn du magst.“ Im Fortgehen zwinkerte

197
1 Tess mir über die Schultern zu. „Morgen Abend bekommt Dad

2 Besuch. Sicherlich werden auch viele Wachen dort sein.“

3 Behutsam ließ ich die Karte zwischen meinen Fingern hin

4 und her tanzen, bevor ich sie sicher zurück in meine

5 Hosentasche steckte. Seltsam, etwas in den Händen zu halten,

6 was zuvor nur einem einzigen, anderen Menschen gehört hatte.

7 Verträumt kauerte ich mich auf dem alten Kartoffelsack

8 zusammen. Morgen würde ich die Wahrheit erfahren, warum man

9 dich tötete, Papa. Die Wahrheit über das Kamikaze-Projekt.

10 Die Wahrheit, weshalb ich hier bin. Ich musste es nur bis in

11 den ersten Stock schaffen, die Karte durch den schmalen

12 Türschlitz ziehen, mir einen Aktenordner aus dem drei Meter

13 langen Regal fischen und es mir beim Lesen auf deinem Leder

14 überzogenen Schreibtischstuhl gemütlich machen. Das konnte

15 nicht schwer sein, jetzt da ich den Schlüssel bereits

16 gefunden hatte. Oder handelte es sich bei alldem doch um

17 eine Falle? Gaukelte mir Tess etwa nur vor, auf meiner Seite

18 zu stehen? Vielleicht bekam sie von ihrem Daddy einen neuen,


19 gigantischen Schminkkoffer oder ein süßes Pony, wenn sie

20 mich direkt in seine Arme lotste. Hatte ich überhaupt eine

21 andere Wahl als mitzuspielen? Denn, wenn ich ihr nun nicht

22 vertraute, würde ich es nie mehr tun können. Lieber einmal

23 riskieren, enttäuscht zu werden, als ewig alleine zu sein.

24 Ich lächelte in die Dunkelheit hinein.

25 Alles Gute zu deinem ersten runden Geburtstag, Tim.

26 „Gute Nacht. Träum was Süßes, mein Kleiner. Ach, und sei

27 so lieb und leg schon alles für morgen früh bereit, bevor du

28 zu Bett gehst… oder sollte ich besser zu Sack gehst sagen?“


29 Mallium spie diese Worte förmlich aus, als seien sie eine

30 Ekelerregende Flüssigkeit und ich ihr Behälter.

198
1 Von unserer ersten Begegnung an hatte er mich gehasst.

2 Dessen war ich mir sicher. Er schien lediglich auf den

3 Moment zu hoffen, an dem ich einmal versagte. Doch diesen

4 Gefallen würde ich ihm nicht tun. Noch nicht. Mit

5 zusammengebissenen Zähnen stemmte ich mich von dem

6 Kartoffelsack hoch und fingerte pfeifend nach dem Griff der

7 Schublade, in der sich die Glasbrettchen befanden. Im

8 Augenwinkel bemerkte ich den skeptisch und zugleich wütenden

9 Blick, mit dem der Koch zur Tür hinausjagte. Ich blieb

10 alleine in der Küche zurück. 21.37, sieben Minuten nach

11 halb zehn. Die Party draußen musste in vollem Gange sein.

12 Soweit ich wusste, hatte Maurice Scott eine Reihe

13 wohlhabender Gäste eingeladen, die auch für diese Nacht in

14 den zahlreichen Gästezimmern untergebracht werden würden.

15 Einem langen Abend stand demnach nichts im Wege. Ich

16 grinste. Wenn ich es geschickt anstellte - was ich natürlich

17 tun würde - könnte ich in den nächsten zwei Stunden die

18 ganze Wahrheit herausfinden. Bei dem Gedanke daran wurde mir


19 heiß. Zweifel keimten auf. Willst du das überhaupt? - Ja,

20 ich will… sehr sogar.

21 Aufgeregt zog ich die Schubladen auf und verteilte deren

22 Inhalt, wie befohlen, auf der Arbeitsfläche. Dann erst

23 löschte ich das Licht und tappte im Dunkel zu meinem „Bett“.

24 Auch wenn es mir noch so schwer fiel, ich musste warten.

25 Warten, bis Mallium um zehn Uhr nochmals zurückkam, um mich

26 zu kontrollieren. Wie immer. Tatsächlich wurde Punkt zehn

27 die Tür rücksichtslos aufgestoßen. Der Koch stolperte

28 herein. Misstrauischer Blick. Gähnend räkelte ich mich, als


29 hätte ich bereits geschlafen. Da alles ordnungsgemäß an

30 seinem Platz lag und der Mann zufrieden schien, verließ er

199
1 schnell wieder den Raum. Schließlich durfte er auf solch

2 einer Party nicht fehlen! Zur Vorsicht zählte ich dennoch

3 bis hundert, bevor ich auf leisen Sohlen ebenfalls zur Tür

4 schlich, kurz hinausspähte, ob die Luft rein war, und mich,

5 den Rücken gegen die Wand gedrückt, zu den Treppen

6 vorankämpfte. Mittlerweile kannte ich die Villa gut genug,

7 um mich in den verwirrenden Korridoren zu Recht zu finden.

8 Ich wusste, wo sie Kameras installiert hatten, wo

9 Bewegungsmelder angebracht worden waren oder welche Tür zu

10 welchem Zimmer führte. Auch wusste ich, dass die Aufzüge

11 strenger bewacht wurden als die Treppen. Um in den Keller zu

12 fahren, benötigte man einen anderen Magnetchip. Versuchte

13 man trotzdem, dort unten einzudringen, stach der Oberarm

14 derart stark, dass niemand der Qual länger als drei Schritte

15 standhalten konnte. Überhaupt musste Scott sein Anwesen in

16 verschiedene Bereiche eingeteilt haben: Die Plantage war

17 einer, gefolgt von dem Keller, dem Erdgeschoss, zu dem auch

18 die Küche und die Gästezimmer zählten, dem ersten Stockwerk


19 und Scotts Büro, dem Thronsaal, wie es manche nannten. Wie

20 der Meister es jedoch geschaffte hatte, ein so komplexes

21 Überwachungssystem zu errichten, war mir bislang immer noch

22 ein Rätsel.

23 Langsam steckte ich den Kopf um die Ecke. Hier waren sie.

24 Hier waren die Aufzüge nach oben. Doch sie würde ich nicht

25 benutzen. Sicherheitshalber nicht. Denn, obwohl keine Wachen

26 zu sehen waren, konnte ich nicht hundertprozentig

27 ausschließen, ob mich nicht oben jemand in Empfang nehmen

28 würde. Auf Zehenspitzen wollte ich die Treppen hinauf


29 schleichen, als sich eine Hand plötzlich auf meine Schultern

30 legte. Für Sekunden setzte mein Herz aus. Das Blut gefror in

200
1 meinen Adern. Sie haben dich erwischt, Tim. Jetzt bist du

2 tot. Aber nichts geschah. Erstaunt wandte ich mich um.

3 Niemand war da. Hatte ich mich getäuscht oder…? Einbildung,

4 alles Einbildung. Du bist nervös. Das ist alles. Doch ich

5 hätte schwören können, dass mir jemand folgte. Und dieser

6 jemand klebte ganz dicht an meinen Fersen…

201
1 8. Kapitel
2 Zimmer 8. Dritte Tür von links. Vorsichtig ließ ich meinen

3 Blick durch den schwach

4 erleuchteten Gang schweifen. Bisher hatte ich lediglich

5 zwei Wachen bemerkt, die sich über irgendein Fußballspiel im

6 Fernsehen unterhielten. Glücklicherweise schienen sie so in

7 ihrem Gespräch vertieft zu sein, dass sie ihre Arbeit nicht

8 sonderlich ernst nahmen.

9 Seufzend hielt ich vor einer Tür inne. Alle Zimmer waren

10 nummeriert. Keine Namen, nichts, was in irgendeiner Form

11 etwas über die Menschen aussagte, die hier arbeiten. Nur

12 weiße Ziffern auf schwarzem Plastik. Für Sekunden spielte

13 ich mit dem Wunsch, einfach die Karte einzustecken und alles

14 zu vergessen. Man sollte nicht von etwas wissen, was man

15 nicht wissen sollte. Doch zum Umkehren war es bereits zu

16 spät. Mit einem befriedigenden Klick, sprang das Schloss

17 auf. Tief atmete ich ein, aus, wieder ein. Komm schon, Tim.

18 Raum 8 - ein großes, quadratisches Büro mit zwei


19 mannshohen Fenstern, durch die man von dem Lederstuhl aus

20 das Treiben im Innenhof beobachtet konnte. Denn der große

21 Schreibtisch mit den vielen, beschrifteten Schubladen und

22 dem riesigen, schwarzen Monitor stand mit dem Rücken zur

23 Türe, obwohl Papa sich nie für die Außenwelt interessiert

24 hatte. Nun hingen die weißen Vorhänge schlaff hinunter und

25 schienen seit einiger Zeit bereits nicht mehr zurückgezogen

26 worden zu sein. Überhaupt war die Luft abgestanden und

27 stickig. Staub sammelte sich auf den wenigen Möbel. Leer und
28 tot. Lediglich der Kühlschrank in der einen Ecke,

29 unmittelbar neben einem roten Sofa ohne Kissen, rauschte

202
1 noch schwach. Zögernd setzte ich einen Fuß vor den anderen.

2 Du solltest nicht hier sein. Du solltest nicht. Es ist

3 falsch, irgendwie falsch. Dann ließ ich mich auf den roten

4 Lederstuhl fallen. Mein Magen rumorte. Einen Moment lang

5 glaubte ich, ich müsse mich übergeben. In einem winzigen,

6 silbernen Rahmen bemerkte ich das Foto einer blonden Frau in

7 einem weißen Kleid und ihrem Bräutigam. Beiden strahlten

8 glücklich in die Kamera. Der 3. Oktober 1990. Keine Märchen-

9 Hochzeit wegen des schlechten Wetters, aber dennoch einer

10 der schönsten Tage ihres kurzen, gemeinsamen Lebens. Mama

11 und Papa. In der oberen Ecke steckte ein kleines Bild - Ich

12 im Alter von drei, vier Jahren. Es fiel mir schwer, nicht zu

13 weinen, und noch schwerer fiel es mir, zu glauben, dass es

14 diese Menschen nicht mehr in meinem Leben geben würde.

15 Dennoch blieb mir keine Zeit, nun um meine Eltern zu

16 trauern. Wenn ich etwas herausfinden wollte, musste ich es

17 jetzt tun.

18 Hastig riss ich eine Schublade auf. Fünf oder sechs Akten
19 kamen zum Vorschein, keine davon beschriftet. Ich nahm die

20 erste zur Hand, blätterte sie durch. Maschinengeschriebene

21 Blätter, zum Teil in Folie. Auch die übrigen vier Akten

22 erschienen wie die eines gewöhnlichen Forschers.

23 Unauffällig, langweilig. Ohne größere Hoffnung etwas

24 Nennenswertes zu finden, öffnete ich den sechsten Ordner.

25 Auf den ersten Blick glich er den anderen. Dasselbe weiße,

26 ausdruckslose Deckblatt ohne Überschrift. Enttäuscht wollte

27 ich ihn zuschlagen, als ich bemerkte, dass die untere,

28 äußere Ecke geknickt war. Ebenso, wie Papa es bei seinen


29 Bücher getan hatte. Nervös kaute ich auf meiner Unterlippe,

30 wobei zu lesen begann. Doch das, was ich da las, war

203
1 verwirrender und entsetzlicher als alles, was ich mir hätte

2 vorstellen können:

4 Februar 2004

5 „Ich, Marc River, geboren am 22. November 1964, erkläre im

6 Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, dass ich darum gebeten

7 habe, ein Mitglied des Projektes Kamikaze unter der Obhut

8 meines Meister, Sir Maurice A. Scott, zu werden. Des

9 Weiteren werde ich ab diesem Tage lediglich den Vorschriften

10 Folge leisten und im Falle eines Verrates durch meinen

11 eigenen Willen die Konsequenzen dafür auf mich nehmen…”

12

13 ____Marc River, Nummer 8____

14

15 Schluckend ließ ich die Akte sinken. Das konnte nicht wahr

16 sein. Papa hätte sich unmöglich zu einer Marionette dieses

17 Wahnsinnigen gemacht. Vielleicht hatte er das alles nie

18 gewollt. Vielleicht, vielleicht aber auch nicht…

19

20 3. März 2004

21 „Hiermit ernennen wir feierlich unser 8. Mitglied, den

22 Forscher Marc River, geboren am 22. November 1964, zu dem

23 Leiter des Projektes Kamikaze unter der Obhut unseres

24 Meister, Sir Maurice A. Scott. Im Falle eines Verrates durch

25 den eigenen Willen wird diese Ernennung unwirksam und der

26 Ankläger kann je nach Tat mit dem Tode oder der

27 vollständigen Ausschließung bestraft werden …”

28
29 Clemens Henkel Vasco Igmanias

204
1 Manfred Giebels

2 Lorenzo Goldmann Ana-Cornelia Paulus

3 Nora Valencia

4 Maurice A. Scott

6 Blut tropfte von meinem Kinn. Erst jetzt bemerkte ich den

7 pochenden Schmerz in meiner Unterlippe, so sehr war ich in

8 dieses Ereignis verwickelt gewesen. Ich konnte Papa vor

9 meinen Augen sehen, umringt von den anderen sechs fremden

10 Menschen. Sir Scott seinerseits verbeugte sich kurz zur

11 Anerkennung, überreichte ihm anschließend in aller Stille


12 den Vertrag. Getrieben von Stolz und Eifern hatte Papa der

13 Versuchung sicherlich nicht lange widerstanden und auch

14 dieses Teufelspapier unterzeichnet. Ahnte er, welche Aufgabe

15 ihm zu kam? Wusste er vielleicht sogar, dass er sterben

16 würde? Nein… Wie auch? Niemand konnte mit so etwas

17 gerechnet. Bestimmt nicht. Jedenfalls nicht bewusst. Doch…

18 Was genau war Kamikaze eigentlich? „Irgendetwas mit

19 Forschung und… Schmuggel. Keine Ahnung. Verdammt. Ich weiß

20 nur, dass mein Vater etwas damit zu tun hatte… Ist das der

21 Grund, weshalb er sterben musste?“ Schmuggel und Forschung.

22 Steckte hinter dem Wort Kamikaze tatsächlich solch ein

23 Verbrechen? War es damals etwa Intuition, als ich blind

24 riet? Die Antwort hielt ich nun in den Händen. Zumindest

25 einen Teil von ihr. Kurz schloss ich die Augen, wünschte

26 mich weit, weit weg von hier. Wünschte mich an den Strand

27 von Mallorca, an dem ich Mama in dem körnigen Sand eingrub

28 oder mich mit Papa um die lila Luftmatratze stritt. Aus dem
29 Wunsch wurde eine Sehnsucht. Die Sehnsucht, endlich ein

205
1 normaler neunjähriger Junge zu sein. Nicht einer, der sich

2 mit Dingen rumschlagen musste, die in die Welt der

3 Erwachsenen gehörte, die man sowieso nicht verstand. „Wenn

4 du erwachsen bist, wirst du es verstehen.“ Keenan hatte

5 recht. Ich spielte einen Achtzehnjährigen, aber verstehen

6 tat ich trotzdem nichts. Ruckartig öffnete ich die Augen,

7 enttäuscht darüber, dass alles wieder einmal nur ein Traum

8 bleiben würde, und schlug die Seite um. Stickpunktartig

9 hatte mein Vater die folgenden Tage, Wochen und Monate

10 dokumentiert:

11

12 5. März 2004

13 Nummer(n): 201 (weiblich)

14 Blutgruppe(n): rh+ A

15 Arbeit: Entnahme einer Niere.

16 Verkauf für 43.000 US-Dollar. Empfänger unbekannt.

17 Übergabe erfolgreich.

18

19 14. März 2004

20 Nummer(n): 418 (männlich), 371 (männlich) und 374

21 (männlich)

22 Blutgruppe(n): ohne Angaben.

23 Verkauf für 10.000 US-Dollar als Arbeiter nach Brasilien.

24 Empfänger unbekannt.

25 Übergabe erfolgreich.

26

27 27. März 2004

28 Nummer(n): 128 (weiblich)


29 Blutgruppe(n): ohne Angaben.

206
1 Entnahme des Neugeborenen (Nummer 507, männlich). Verkauf

2 an portugiesisches Ehepaar für 17.000 US-Dollar. Übergabe

3 erfolgreich.

5 11. April 2004

6 Nummer(n): 206 (männlich)

7 Blutgruppe(n): rh+ 0

8 Anmerkung: Tod nach Zusammenbruch auf der Plantage;

9 Ursache:

10 Hoher Blutverlust

11 Entnahme der Leber, der Lunge, beider Nieren, der Milz,

12 des Herzens, sowie des Knochenmarks und des Blutes

13 Verkauf für 98.000 (geschätzt). Empfänger unbekannt.

14 Übergabe erfolgreich.

15

16

17 30. April 2004

18 Nummer(n): 422 (weiblich) und 356 (weiblich)

19 Blutgruppe(n): ohne Angaben.

20 Verkauf für je 4.000 US-Dollar nach Europa. Empfänger:

21 Jürg (Striplokalinhaber). Übergabe erfolgreich.

22

23 Ein prickelndes Gefühl durchzog meinen linken,

24 eingeschlafenen Arm. Erstaunt sah ich auf. Auch wenn die

25 Einträge unpersönlich und kalt erschienen, so erzählte jeder

26 von ihnen dennoch seine eigene, grausame Leidensgeschichte.

27 Eine Mutter, die ihr Kind verliert. Zwangsarbeiter.

28 Prostituierte. Organraub. Versuchskaninchen, die ihr Leben


29 für ein Medikament opfern mussten. Und immer ging es nur um

207
1 das ganz große Geld. Was aber das Schlimmste von allem war:

2 Papa war der Leiter dieses Projektes. Er war es, der die

3 Menschen quälte. Mein eigener Vater.

4 Niedergeschlagen blätterte ich weiter, die Hand zur Faust

5 geballt. Ich wollte es nicht lesen. Denn wenn ich las,

6 kehrten die jammernden Geister in diesen Raum zurück, als

7 mochten sie mich Anstelle von Papa dafür verantwortlich

8 machen. Auf der letzten Seite angekommen, atmete ich

9 nochmals tief durch. Es gab nur noch eine Sache, die ich

10 wissen musste. Was geschah am 25. Mai, dem Tag, an dem Vater

11 starb?

12

13 25. Mai 2004

14 Nummer(n): 255 (männlich)

15 Blutgruppe: rh- AB

16 Verkauf für 3.000 US-Dollar als Testperson. Empfänger

17 Labor, Name und Ort unbekannt.

18

19 … und weiter? Erstaunt kniff ich die Augen zusammen, als

20 hätte ich etwas übersprungen. Im Gegensatz zu den anderen

21 Tagen war an diesem letzten Tag in Papas Leben die Übergabe

22 nicht bestätigt worden. „Siehst du, vor vier Tagen ist die

23 Übergabe in der Nähe eines Dorfes drastisch schief

24 gelaufen.“ Natürlich! Etwas ist derart außer Kontrolle

25 geraten, dass dieser Fehler für jemanden so unverzeihlich

26 war, dass Vater dafür bestraft werden musste… Aber… Mir

27 stockte der Atem. Konnte… Konnte es wirklich sein…? Nein,

28 ausgeschlossen. Tim, das ist völliger Unsinn. Dass du… Nein,


29 vergiss es. Ich schüttelte den Kopf. Vergiss es einfach.

208
1 Absolut bescheuert auch nur einen weiteren Gedanken daran zu

2 verschwenden! „Im Falle eines Verrates durch den eigenen

3 Willen wird diese Ernennung unwirksam und der Ankläger kann

4 je nach Tat mit dem Tode oder der vollständigen

5 Ausschließung bestraft werden …“ Aber - wäre es nicht

6 möglich? Rein theoretisch gesehen. Wäre es nicht möglich,

7 dass Scott Papa umgebracht hat? Nein, das ist nicht

8 bewiesen. Möglich ist auch, dass Meerschweinchen vom Himmel

9 fallen oder dass ich von einem König zum Ritter geschlagen

10 werde. Ich hatte nur eine Chance, es herauszufinden. Unruhig

11 trommelte ich mit den Fingern auf der Tastatur, wobei mein

12 Blick an dem schwarzen Bildschirm des Computers hängen

13 blieb: Ich musste den Mann finden, der sich hinter der

14 Nummer 255 verbarg.

15 Morgen, sagte ich mir, morgen ist auch noch ein Tag. Denn

16 jetzt, wo ich es einmal soweit gebrachte hatte, wollte ich

17 meinen kleinen Erfolg nicht mit einem grimmigen Wächter in

18 dem feuchten Weinkeller bei einer Schüssel Wasser feiern


19 oder gar mit den irren Forschern, die mich mit irgendwelchem

20 Brodelzeugs vollpumpten. Für diese Nacht hatte ich genug

21 herausgefunden, dass ich stolz auf mich sein konnte. Sicher

22 wäre es Mama auch. Und Kay. Papa nicht. Bestimmt nicht. Der

23 war nie stolz, selbst dann nicht, wenn ich ein Fußballgott,

24 der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika und ein

25 Star wie Michael Jackson in einer Person gewesen wäre.

26 Obwohl… dann vielleicht schon? Wer wusste das schon? Diese

27 Frage würde ich ihm nie mehr stellen können, damit musste

28 ich mich abfinden. Nie mehr. Vorsichtig lugte ich um die


29 Ecke. Niemand da. Gut. Noch einen weiteren Blick, bevor ich

30 mich zur Treppe schob. Die Wächter waren tatsächlich

209
1 verschwunden, wie ich erstaunt bemerkte. Seltsam.

2 Unwiderruflich blieb ich stehen. Ein unbestimmtes Gefühl

3 verriet mir, dass hier etwas nicht stimmte, aber dann hörte

4 ich erneut die leisen Gitarrenklänge aus dem Speisesaal und

5 atmete erleichtert auf. Was immer auch in der Zwischenzeit

6 gesehen war, unten hatten Scott nichts von alle dem

7 mitbekommen. Hoffte ich jedenfalls. Dennoch löste sich meine

8 plötzliche Anspannung nicht. So wachsam wie möglich nahm ich

9 eine Stufe nach der anderen, hielt jeweils ein paar Sekunden

10 inne, um sicher zu sein, dass mir niemand auflauerte, und

11 wagte mich zögernd noch tiefer in die Ungewissheit hinein.

12 Irgendwie gelang es mir, den Weg zurückzufinden. Wie, weiß

13 ich nicht. Egal, Hauptsache ich hatte es geschafft. Das Wie

14 interessierte nicht.

210
1 9. Kapitel
2 In der Küche brannte kein Licht und auch sonst schien

3 alles unverändert. Auf den ersten Blick zumindest. Denn

4 jemand musste in meiner Abwesenheit hier gewesen sein… oder

5 war sogar noch hier! Bei dem Letzteren stockte mir der Atem.

6 Geradezu als Bestätigung streifte ein Schatten mein Gesicht,

7 tanzte über die rustikalen Wände. Panisch wollte ich zur

8 Türe hinausstürmen, doch eine Gestalt versperrte mir den

9 Weg. Nein, nein. Bitte nicht. Lasst mich in Ruhe! Ich habe

10 das alles nicht gewollt! Bitte, glauben Sie mir. Im selben

11 Moment kam ich mir lächerlich vor. Niemand konnte wissen, wo

12 ich gewesen war, vorausgesetzt ich verplapperte mich nicht.

13 Also… Was sollten sie dir schon antun, Tim? Trotzdem kostete

14 es mich einiges an Überwindung, die Augen zu öffnen. Zaghaft

15 blinzelte ich und prustete los. Vor mir stand lediglich

16 Tess. Um ihren Hals schlang sich ein buntes Tuch, das

17 perfekt bei der ansonsten schwarzen Bekleidung, einer

18 Bolerojacke über einem elegant gemusterten Cocktailkleid,


19 zur Geltung kam. Mit den hochgesteckten Haaren und dem

20 leichten Make-up wirkte sie wie eine Sechszehnjährige. Dies

21 wurde durch ihr selbstbewusstes Auftreten noch untermalt.

22 „Hi.“

23 Ich zögerte verunsichert. „Äh… Hi! Ähm… Was… Was machst du

24 denn hier?“

25 „Hast du etwas herausgefunden?“, setzte sie dagegen, ohne

26 auch nur auf meine Frage einzugehen.

27 „Was?“
28 „Ob du etwas herausgefunden hast, Dumpfbacke?“,

29 wiederholte das Mädchen noch einmal, wobei sie mit dem

211
1 linken Fuß auf den Boden klopfte, um mir zu verdeutlichen,

2 dass sie langsam die Geduld verlor.

3 „Ähm…“

4 „Wer ist mein Vater? Was ist seine Arbeit? Mach schon den

5 Mund auf. Na los.“

6 Jetzt war die Katze endlich aus dem Sack. Allmählich

7 begann ich, zu begreifen, was hier vor sich ging: Die

8 Erkenntnis blitzte plötzlich wie ein Lämpchen in meinen

9 Gedanken auf. Natürlich! Ich hätte es wissen müssen. Das

10 angebliche Geburtstagsgeschenk. Die freundliche Hilfe beim

11 Aufräumen. Das Augenzwinkern, mit dem sie mir verriet, wie

12 ich am leichtesten in den ersten Stock gelangte. Freilich,

13 kein Zufall. Tess hatte all das geschickt eingefädelt und

14 mir die ganze Zeit vorgespielt, sie sei meine Freundin.

15 Dabei…

16 „Du hast mich ausgenutzt, um an die Informationen zu

17 kommen!?“

18 „Wie hätte ich es denn sonst machen sollen? Hätte Dad mich
19 beim Schnüffeln erwischt…“

20 Grob schnitt ich ihr das Wort ab. „Hätte er mich erwischt,

21 könnte ich jetzt tot sein. Hast du darüber mal nachgedacht?“

22 „Nein.“ Tess zuckte gleichgültig die Achsel. „Wieso auch?

23 Wärst du geschnappt worden, wäre niemand auch nur

24 ansatzweise darauf gekommen, dass ich mit dir in Verbindung

25 stehe. Alle hier wissen, dass dein Vater für meinen

26 gearbeitet hat. Wenn wundert es demnach, dass der Sohn ihm

27 nachspioniert. Und außerdem hast du mir sozusagen freiwillig

28 geholfen…“ Mit dem Schal zog sie mich ganz nahe zu sich
29 heran: „… nicht wahr, Timmiboy? So ist es doch gewesen,

30 oder?“

212
1 Im Affekt wollte ich mich losreißen, hielt es jedoch nach

2 kurzem Überlegen für sinnlos. Diese Hartnäckigkeit lag in

3 der Familie Scott und momentan war ich nicht stark genug, um

4 ihr länger standzuhalten. Vor allem, da meine Wut

5 seltsamerweise mit jedem Augenblick verflog, wie ausradiert

6 wurde. Denn, obwohl ich Tess hasste, entwickelte ich dennoch

7 so etwas wie Verständnis. Verständnis dafür, wie sie sich

8 fühlte. Schließlich waren wir einander in einer Sache einig:

9 Wir hatten beide die falschen Väter. Und deshalb beschloss

10 ich nun, dem Mädchen alles zu erzählen, was ich wusste:

11 „Okay, Tess. Wenn du danach die Fliege machst und mich in

12 Ruhe lässt, verrate ich dir alles, was ich weiß.

13 Versprochen?“

14 Die Tochter des Sirs wiegte den Kopf, schließlich nickte

15 sie. „Ich wäre sowieso keine Sekunde länger als nötig mit so

16 einem… übel stinkenden Typen zusammen geblieben.“

17 Als Tess sich umdrehte um auf einem Hocker Platz zunehmen,

18 roch ich rasch an meinen Achseln. Übel stinkend? Zugegeben,


19 sie hatte recht. Mal wieder. Vielleicht sollte ich mir

20 demnächst von ihr mein erstes Deo wünschen?

21 „Ich habe es tatsächlich geschafft, irgendwie in den

22 ersten Stock zu kommen.“, begann ich zu berichten, „Da waren

23 eine Menge Ordner. Alle unbeschriftet. In einem ging es um

24 ein Projekt, das sich Kamikaze nennt. Ich weiß nicht, ob den

25 Namen schon einmal gehört hast.“ Prüfend sah ich in Tess

26 Richtung, die den Kopf schüttelte. „Mein Vater leitete es.

27 Zusammen mit noch sieben weiteren Mitgliedern. Dein Dad

28 gehört auch zu ihnen, ist im Grund so etwas wie der Big


29 Boss. Jedenfalls…“ Wieder ein kurzer Blick in ihre Richtung.

30 „Willst du das wirklich hören?“

213
1 „Hör mal, nur weil ich ein Mädchen bin, heißt das noch

2 lange nicht, dass ich eine Memme bin. Du scheint die

3 Wahrheit verkraftet zu haben, als tue ich es schon lange.“

4 Für einen Moment überlegte ich ernsthaft, ob ich ihr eine

5 scheuern sollte. Sie war diejenige, die etwas von mir wollte

6 und, anstatt mir dankbar dafür zu sein, dass ich sie so nett

7 aufnahm, diskriminierte sie mich.

8 „Sie handeln mit Menschen. Verkaufen Babys Forschen mit

9 ihrem Blut nach neuen Medikamenten. Oder schneiden den armen

10 Leuten draußen auf der Plantage Körperteile raus, damit es

11 irgendwelchen reichen Europäern besser geht.“ So, das war‟s.

12 Kurz und schmerzlos auf den Punkt gebracht. Dabei war es mir

13 seltsamerweise fast ohne größere Bemühungen über die Lippen

14 gegangen. Gespannt beobachte ich nun Tess Reaktion. Würde

15 sie jetzt in Tränen ausbrechen oder lediglich mit den

16 Achseln zucken und zur Türe hinaus marschieren, als wüsste

17 sie von alle dem nichts?

18 „Ist ja eklig.“, kommentierte das Mädchen. Mehr nicht. Ich


19 wartete auf weitere Erläuterungen von „ist ja eklig“, doch

20 sie blieben aus. Stumm hatte sie die Beine übereinander

21 geschlagen und starrte mich an. So schwiegen wir. Jeder für

22 sich und trotzdem wir beide zusammen. Viel Denken tat ich

23 dabei nicht, außer, dass es tatsächlich eklig war, was Papa

24 getan hatte und immer noch tun würde, wäre es nicht… Wieso

25 mussten ihn die Todesengel holen?

26 „Tess? Ich brauche deine Hilfe.“

27 Lächelnd sah sie mich an. Ein feuchtes Glitzern im

28 Augenwinkel. „Brauchst du wieder jemanden, der dir zum


29 Einschlafen ein Gute-Nacht-Lied singt?“ Ihre Stimme klang

30 selbstbewusst, aber tief innerlich konnte man ein leichtes

214
1 Zittern vernehmen, welches verriet, dass sie die Geschichte

2 nicht kalt ließ.

3 „Ich will herausfinden, warum mein Vater sterben musste.“

4 Unbeholfen legte ich ihr einen Arm um die Schultern und

5 erstaunlicherweise stieß sie mich dieses Mal nicht von sich,

6 sondern griff nach dem alten Taschentuch, welches ich ihr

7 reichte.

8 „Okay, klar natürlich. Du hast etwas gut bei mir… Ist

9 meine Schminke verlaufen?“

10 Grinsend schüttelte ich den Kopf. „Nein. Sonst alles in

11 Ordnung bei dir?“

12 „Ja, ich denke schon. Danke, ich bin die Tochter eines

13 Sirs. Die weint doch nicht wegen ein paar dummen Sklaven.“

14 Hastig wusch sich Tess eine Träne von der Wange. „Also, was

15 hast du vor?“

16 „An dem Tag, an dem Papa getötet wurde, sollte ein Mann an

17 ein Labor in Europa verkauft werden. Nummer 255. Vielleicht

18 finde ich ihn im Namensverzeichnis auf dem Computer deines


19 Vaters.“

20 „Das ist riskant.“

21 „Ich weiß, Tess, ich weiß. Aber es ist die einzige

22 Möglichkeit.“

23 „Na gut. Es ist nicht mein Problem, wenn du dabei drauf

24 gehst. Mir ist egal, wenn du so Selbstmord süchtig bist. Ich

25 schätze, ich kann dich nicht davon abhalten. „

26 Ich schüttelte unschlüssig den Kopf, woraufhin Tess

27 seufzte. „Pass auf, folgendes...“ Ihre Stimme war nun zu

28 einem Flüstern geworden. „Dad sollte morgen früh in seinem


29 Büro sein, zweiter Stock, in den nur Familienmitglieder oder

30 ausgewählte Gäste Zutritt haben. Bei dir würden sie schon

215
1 nach zehn Sekunden erkennen, dass du dort einbrechen willst.

2 Also…“ Sie legte mir beiden Hände auf die Schultern und sah

3 mir direkt in die Augen. „Vergiss es. Du hast keine Chance.

4 Ich werde an deiner Stelle morgen mit meinem Vater sprechen,

5 während du dir etwas einfallen lässt, um ihn abzulenken. In

6 der Zeit gebe ich mein Bestes.“ Das Mädchen hielt den

7 Zeigefinger an die Stirn und ließ dann den Kopf leicht

8 kreisen. „Hoffentlich mache ich nicht gerade den größten

9 Fehler meines Lebens.“

10 Erstaunt hob ich die Augenbraue. „Das würdest du für mich

11 tun?“, hackte ich ungläubig nach.

12 „Ja, bevor ich es mir anders überlege. Gute Nacht,

13 vorausgesetzt du kannst jetzt schlafen, wo du das mit den…“

14 Sie stockte. „Das mit den Körperteilen… Du weißt schon.“

15 Dann knipste sie das Licht aus und verschwand auf den

16 hellen erleuchteten Flur.

17 Sie sind groß, kräftig, wiegen das Dreifache von dir. Aber

18 wenn du schnell wärst, könntest du es schaffen. Die Türe,


19 die Rettung ins Freie, befindet sich unmittelbar hinter

20 ihnen, den Monstern ohne Gesicht. Hektisch lässt du den Kopf

21 hin und her schnellen, kämpfst mit den Tränen. Du bist

22 gefangen, ohne zu wissen, was sie von dir wollen oder was du

23 ihnen getan hast. Das Brett, auf dem du liegst, ist aus

24 hartem, glattem Kunststoff und an seiner rechten Seite hatte

25 man eine Röhre angebracht, die viele dunkle Flecken aufweist

26 - Blut, geronnenes Blut. Panisch willst du aufschreien,

27 zerrst an deinen Gurten, als einer von ihnen dir einen

28 Stofffetzen in den Mund drücken, der dir den Atem nimmt. Die
29 Übrigen versammeln sich um dich und beginnen mit ihren

30 Messern deinen Bauch aufzuschneiden…

216
1 Schweißgebadet fuhr ich hoch, wälzte mich unruhig auf dem

2 Kartoffelsack und trat dabei schluchzend mit den Beinen in

3 die Luft, wie ein Käfer, den Kinder absichtlich auf den

4 Rücken gedreht hatten. Immer noch zappelnd warf ich einen

5 Blick aus dem Fenster. Der Wald erwachte langsam wieder zu

6 neuem Leben, selbst wenn ich davon in dem Gefängnis kaum

7 etwas mitbekam. Jedes größere Tier, etwa ein Papagei oder

8 eine Ratte, welches sich hier blicken ließ, wurde umgehend

9 entsorgt. Dabei war entsorgt noch gelinge gesagt. Nun

10 beobachte ich schmunzelnd, wie eine kleine Wüstenmaus

11 verzweifelt versuchte, sich durch die schmale Öffnung des

12 Fensters zu zwängen. Sie musste entweder clever sein oder

13 ungeheuer viel Glück gehabt haben. Erfreut über die

14 abwechslungsreiche Gesellschaft schob ich das Fenster ein

15 weiteres Stück auf, sodass das Nagetier in meinem Schoss

16 landete. Die Pfoten streiften meinen Bauch, die Nase stupste

17 mich zaghaft an. Erst jetzt bemerkte ich, dass ihr Schwanz,

18 fast so lang wie das Tier selbst, zerbissen und zum Teil
19 völlig abgerissen war, ebenso wie zwei Krallen ihrer

20 hinteren Pfote. Wahrscheinlich waren das die einzigen

21 Gründe, warum die Wüstenmaus nicht sofort die Flucht

22 ergriffen hatte. Ich grinste. Eine Maus in der Küche.

23 Mallium wäre davon sicher überaus begeistert. Sollte ich dem

24 Mann tatsächlich einmal in seinem Leben so einen Spaß

25 gönnen? Leise kicherte ich in mich hinein und langte nach

26 einem alten Stück Brot unter dem Kartoffelsack, das ich

27 heimlich aufbewahrt hatte, für den Fall, dass ich wieder mal

28 hungrig zu Bett gehen musste. Die Maus fiepte, wich zögernd


29 zurück. Doch ihr Magenknurren übertönte die Angst und sie

30 begann gierig zu knabbern.

217
1 „Chef, mir fehlt die Petersilie!“

2 Erstaunt, dass jemand sprach, hob ich den Kopf und hielt

3 in der Arbeit inne, wofür ich sofort einen bösen Blick von

4 Mallium kassierte, der mit einem Fußtritt andeutete, dass

5 ich weiter zu kehren hatte.

6 „Hol‟ welches aus der Speisekammer.“, knurrte er zu seinem

7 Adjutanten herüber, der das Fleisch zubereitete.

8 Nummer 167 war ein kleiner Afrikaner, dem seit einem

9 Raubtierangriff die rechte Hand fehlte. Nun wand sich ein

10 rot kariertes Küchentuch um die Wunde. Dennoch hatte er

11 immer noch Schmerzen und er war mir - im Gegensatz zu

12 Mallium - stets dankbar, wenn ich das ein oder andere für

13 ihn erledigte. Denn auch in der Küche war jeder meist auf

14 sich alleine gestellt.

15 „Ich kann nicht, Chef, sonst brennt mir das Fleisch an.

16 Könnten Sie…?“

17 Genervt ließ Mallium den Kochlöffel sinken und atmete

18 mehrmals tief durch, wobei er in die vor sich hin kochende


19 Béchamelsouce starrte. Seine Hände ballten sich zu Fäusten,

20 sein Mund öffnete sich bereits, um zu einem fürchterlichen

21 Gebrüll anzusetzen. Doch bevor es aus ihm herausbrechen

22 konnte, fügte ich schnell hinzu: „Ich geh schon für Sie,

23 Meister“

24 Meister war eines seiner Lieblingswörter. Augenscheinlich

25 hob sich seine Stimmung und er nickte mir beinahe freundlich

26 zu. „Na gut. Aber wehe dir, du treibst irgendwelche Unfug.

27 In zwei Minuten bist du wieder hier!“

28 „Natürlich, Meister.“
29 Mehr würde ich auch nicht benötigen. Die Speisekammer

30 befand sich lediglich einen Türe weiter, ein hoher Raum mit

218
1 vielen Regalen, auf denen sich Lebensmittel jeglicher Art

2 stapelten. Gewürze. Brot, wahlweise hell oder dunkel

3 gebacken. Nudeln, Kartoffel, Reis. Gemüse. Obst, von

4 Kokosnüssen bis hin zu Bananen, Kiwis oder Mangos. Glasige

5 Fischaugen starrten mich durch eine hauchdünne Glasscheibe

6 an, daneben teils noch ganze Tierkörper oder bereits

7 verarbeitete Rückensteaks und Lebern. Ich hasste diesen

8 Anblick, aber nun musste es sein. Kurz warf ich einen Blick

9 auf die Uhr über der Türe. Kurz vor elf. Würde Scott bereits

10 in seinem Büro sein? Ich hoffe es. Wir hatten nur einen

11 einzige Versuch, nur ein Los. Die Chance stand eins zu…

12 Nicht nachdenken. Einfach tun. Mit einem Fußtritt kickte ich

13 die Türe hinter mir zu und kletterte auf die Leiter, um nach

14 der Petersilie zu suchen. Ich musste etwas inszenieren,

15 damit Maurice Scott gezwungen war, hier unten nach dem

16 Rechten zu sehen. Doch wie lange würde Tess brauchen? Fünf

17 Minuten? Zehn? Vielleicht auch eine halbe Stunde? Hastig

18 zählte ich die winzigen Gefäße mit dem teils körnigen, teils
19 mehligen Gewürze ab. Majoran… Chili… Ja, hier Petersiele,

20 vierte Reihe, das fünfte von links, wieder einmal

21 nummeriert. Ich stöhnte. Vermutlich hatten auch die

22 Klorollen in diesem Haus eine Nummer. Das weiße Papier mit

23 den pinken Kreisen musste in den 2. Stock, das mit den

24 pinken Klecksen in das Untergeschoss. Wundern würde es mich

25 jedenfalls nach allem, was ich bisher in dieser Irrenanstalt

26 erlebt hatte, nichts mehr!

27 Vorsichtig verlagerte ich mein Gewicht etwas nach links,

28 um nach der Petersiele zu greifen, als ich plötzlich ins


29 Taumeln geriet. In Panik schrie ich auf, versuchte mich an

30 dem Regalbrett festzuhalten. Dabei riss ich zwei weitere

219
1 Gefäße mit. Ein Drittes schwankte bedächtig. Wie an einer

2 Felskluft klammerte ich mich an das letzte Ästchen, was sich

3 mir bot. Unter mir zerschellten die bereits hinunter

4 gefallenen Töpfe. Draußen, in der Küche war es seltsam still

5 geworden. Ich ahnte, was nun passieren würde, und so geschah

6 es auch: Mallium, mit vor Zorn verzerrte Miene, rauschte in

7 die Speisekammer, dicht gefolgt von seinem Adjutanten, der

8 sich bei meinem Anblick ein Lachen verkneifen musste. Da

9 baumelte nun der Küchenjunge über ihren Köpfen, in Mitten

10 eines Chaoshaufens, der wohl auf seine Rechnung gehen

11 musste. Doch die Aufmerksamkeit des Kochs war nicht auf mich

12 gerichtet, sondern auf das kleine Lebewesen, das genüsslich

13 ein Pfefferkorn verspeiste: Mickie, die Maus. Fassungslos

14 deutete Mallium mit seinen zittrigen, dicken Fingern auf

15 sie. Stille, nur das Knirschen von Glas unter ihren Füßen.

16 Dann brach sich die Welle von Ereignissen auf dem Festland.

17 Der Küchenchef eilte hinaus, mehr verzweifelt als wütend, um

18 den Meister über den Vorfall zu informieren, während Nummer


19 167 dem „Ungeziefer“ den Gar ausmachen sollte. Ich

20 meinerseits ließ mich zu dem Afrikaner hinunterfallen und

21 half ihm, die Wüstenrennmaus einzufangen, aus Angst, Scott

22 könne sie tatsächlich töten. Bevor ich den verwirrten Mickie

23 hastig aus dem Speisezimmer schaffte und unter meinem

24 Kartoffelsack verbarg, besah ich mir belustigt das Chaos,

25 was ich angerichtet hatte. Mein Teil des Plans war bis

26 hierhin erfüllt. Tatsächlich würde es den Anschein erwecken,

27 es sei ein Unfall gewesen. Und eine Maus hat es nie gegeben.

28 Diese existierte nur in der Fantasie des Kochs, der


29 vielleicht etwas mit seiner Verantwortungsbewusstsein

30 übertrieben hatte.

220
1 Scott runzelte nachdenklich die Stirn, wobei er den Blick

2 zwischen mir und Mallium hin und her wandern ließ.

3 Tatsächlich war er kurze Zeit später in der Küche

4 aufgetaucht, um mein Werk aus nächster Nähe zu begutachten.

5 Doch seltsamerweise hatte er bisher noch nicht ein einziges

6 Wort gesprochen, sondern lediglich mehrmals tief durchatmen

7 müssen. Ein Zeichen dafür, dass er innerlich vor Wut bebte.

8 „Ich kann mir das nicht erklären“, faselte der Koch, „Da

9 war eben eine Maus in der Speisekammer…“ Er warf sich

10 nochmals auf die Knie, um unter allen Schränken und Regalen

11 nach dem Ungeziefer zu suchen, als der Meister ihn grob an

12 der Schulter hochriss. Es konnte nicht wahr sein, dass er

13 sich derart vor seinem Gott blamierte?

14 „Eine Maus wie? Ich sehe aber keine.“

15 „Aber, ich versichere Ihnen…“

16 Beschwichtigend hob Scott die Hände, um ihn zum Schweigen

17 zu bringen, wobei er sich an mich wandte: „Ich muss schon

18 sagen, Nummer 448, du bereitest mir mehr Ärger, als ich


19 erwartet hatte.“ Er beobachte mich mit höflichem Interesse.

20 „Dein Vater war mir wesentlich angenehmer.“

21 „Nur weil er nicht erkannt hat, was Sie für ein… ein

22 kranker…“ Gerne hätte ich den längsten Fluch meines Lebens

23 ausgestoßen, doch nun wollte mir einfach kein Schimpfwort

24 einfallen. Im Grunde wäre es auch überflüssig gewesen, denn

25 als ich den Mann ohne „Sir“ und noch dazu „unerzogen“

26 ansprach, spürte ich augenblicklich Malliums Handrücken an

27 meiner Wange. „Wie redest du mit deinem Meister, Junge!“,

28 brüllte er und wollte abermals ausholen, doch Scott hielt


29 ihn zurück.

30 „Lass gut sein. Nummer 448...“

221
1 Hastig schnitt ich ihm das Wort ab. „Tim. Ich heiße Tim.“

2 Im selben Moment hätte ich mich Ohrfeigen können. Wie konnte

3 ich nur so dämlich sein, mich dem Mann derart offensichtlich

4 zu widersetzen. Mein Teil des Plans war es, ihn abzulenken,

5 aber nicht indem ich mich umbringen ließe.

6 „Also gut… Tim. Du bist ein wahrlich hartnäckiger Fall.

7 Von Glück kannst du sagen, dass mir an dir etwas liegt, denn

8 sonst…“

9 „Sonst hätten Sie mich in Stücke geschnitten und einzeln

10 in Päckchen nach Europa geschickt?“

11 Verflucht seiest du, Tim! Halt endlich einmal deine

12 Klappe!

13 „Aber nein. Wie kommst du denn auf so eine absurde Idee?“

14 Er lachte ohne Emotionen, als ob ich gerade einen Witz von

15 mir gegeben hätte, der nur höflicherweise belächelt werden

16 sollte. Mit einer Hand winkte er ab. „Das Chaos wird

17 beseitigt. Auf der Stelle!“

18 Obwohl der Mann nicht weiter auf mich einging, spürte ich
19 dennoch seinen durchdringenden Blick. Unruhig verlagerte ich

20 mein Gewicht auf den anderen Fuß. Wusste er etwa, dass ich

21 das richtige Hütchen des Hütchenspielers auf den La Ramblas

22 in Barcelona aufgedeckt und das winzige rote

23 Plastikkügelchen, das so unscheinbar klein im Verborgenen

24 wartete, gefunden hatte? Wenn ja, dann war ich ein Idiot.

25 Doch darüber würde ich mir später Gedanken machen müssen.

26 Erst einmal zwang mich Mallium mit einem noch finsteren

27 Blick als gewöhnlich auf die Knie. Freilich, schließlich

28 hatte ich ihn gerade vor seinem Herrn gedemütigt. Dieser


29 seinerseits verschwand ohne Abschiedsworte, aber auf seinen

30 hoch angezogenen Schultern saß das Auge aus Stahl.

222
1 Die Tage schlichen schier endlos dahin und lediglich

2 Mickie, die Maus, spendete mir etwas Trost, wenn ich abends

3 völlig erschöpf auf meinem Kartoffelsack zusammensackte.

4 Gewöhnlich schlief ich Sekunden später ein - ganz im

5 Gegensatz zu den ersten Nächten, an denen ich noch lange

6 wach gelegen hatte und an denen ich vor allem auch am

7 nächsten Morgen vor Sonnenaufgang munter gewesen war. Nun

8 taumelte ich benommen durch die Küche und registrierte nicht

9 einmal mehr, wenn Mallium mich schlug oder mich in diesen

10 vier Wänden gefangen halten wollen zu schien. Nummer 448,

11 kehre den Boden, bis er glänzt - Ich tat es. Nummer 448,

12 wisch den Herd ab - Ich tat es. Nummer 448, der Meister

13 wünscht, dass du ihm das Fleisch zu bereitest - Ja, auch das

14 tat ich. Es machte mir nichts aus, in diese starren, grauen

15 Augen zu sehen. Was aber noch viel, viel schlimmer war als

16 diese Machtlosigkeit, waren die Schnittwunden oder Einstiche

17 in Arm und Bein, von denen ich weder wusste woher, noch wie

18 lange ich sie schon hatte. Manchmal, in den Stunden, in


19 denen ich mich fit fühlte, drang mir ins Bewusstsein, dass

20 etwas nicht stimmte. Irgendjemand oder irgendetwas versucht

21 dich auszuschalten, Tim. Doch ich konnte mich nicht wehren,

22 ich konnte nicht. Es erschien beinahe zum Verrückt werden.

23 Dies rührte zudem auch daher, dass sich Tess nicht mehr hat

24 blicken lassen. Hatte sie etwas herausgefunden oder war sie

25 von ihrem Vater beim Schnüffeln erwischt worden? Wurde sie

26 für ihr Verbrechen bestraft, vielleicht sogar verletzt?

27 Scott traute ich einiges zu. Auch, dass er seiner eigenen

28 Tochter wie ein gieriges Insekt, welches nicht zu


29 befriedigen war, das Blut aussaugen würde. So sehr ich Tess

30 Art auch hasste, ich betete inständig darum, dass es ihr gut

223
1 gehen mochte - vorausgesetzt, ich befand mich in der Lage

2 dazu. Gott, lieber Gott, hör‟ mich an, wenn es dich irgendwo

3 dort draußen geben sollte. Ich weiß, in den letzten Wochen,

4 Monaten, habe ich nur selten freundlich zu dir gesprochen…

5 Zugegeben, ich habe mehr geschrien und gemeckert, als dir

6 dafür zu danken, dass es mir noch gut geht… einigermaßen

7 jedenfalls. Ich bin wütend, verstehst du? Wütend darauf,

8 dass du mir all das genommen hast und mich nicht davor

9 warntest, hier herzukommen… Für einen Augenblick unterbrach

10 ich mich. Sicherlich wäre ich trotzdem in dieses Drecksloch

11 hineingestampft. Davon hätte mich niemand abbringen können,

12 selbst dann nicht, wenn er mir noch so viel Süßkram und

13 Ähnliches bot. Auf alle Fälle, Gott, möchte ich dich wissen

14 lassen, dass nicht ich dich brauche, sondern Tess. Sie ist…

15 hm ja… Was ist sie? Meine Freundin, schätze ich. Sie hat

16 viel für mich riskiert… Indirekt zumindest. Und…

17 Und dann eines Tages öffnete sich die Tür ein Stück weit

18 und das wohl gebräunte, kantige Gesicht einer jungen Frau


19 kam zum Vorschein. Ihr zu winzigen Löckchen gedrehtes,

20 dunkelbraunes Haar strich sie mit ihren dünnen Fingern

21 elegant hinters Ohr. Mallium, der einem Dessert den letzte

22 Schliff verlieh, indem er die Sahne mit türkisen Streuseln

23 verzierte, legte beinahe im Akkord die Schüssel zur Seite,

24 streifte die Arbeitshandschuhe von den Händen und reichte

25 sie der Lady mit einem leichten Knicks. Tess erwiderte die

26 Geste höflichen. „Ich soll Ihnen von meinem lieben Herrn

27 Vater ausrichten, dass er in einer Woche verreisen wird und

28 Sie daher bereits jetzt alles dafür Notwendige vorbereiten


29 sollen.“ Ihr Lipgloss glänzte im Licht und verlieh ihrem

30 Lächeln etwas Verführerisches. Nur schwer konnte ich meinen

224
1 Blick von ihr ablenken, um mit der Arbeit fortfahren.

2 Schließlich durfte niemand bemerken, dass wir sozusagen

3 Komplizen waren. Unauffällig beobachte ich sie dennoch

4 weiterhin im Augenwinkel, als sie bei der Übergabe eines

5 Briefes stürzte, ohne dass irgendjemand im Raum sie hätte

6 auffangen können. Glücklicherweise landete das Mädchen auf

7 meinem Kartoffelsack.

8 „Mylady… Was für eine Tragödie! Ich muss sofort deinen

9 Vater darüber informieren. Oh je, welch ein Unglück. Hast du

10 dich verletzt?“

11 Stöhnend rieb Tess sich den Kopf und begann, den Staub aus

12 ihrer Lunge zu husten.

13 „Ich glaube nicht.“, flüsterte sie mit zittriger Stimme,

14 wobei sich an Malliums Ärmel hochzog. „Danke.“

15 „Soll ich dir helfen?“

16 Sie schüttelte den Kopf und zwinkerte dem Koch beruhigend

17 zu, bevor sie, ohne mich eines Blickes zu würdigen, die

18 Küche verließ.
19 Ich stutzte. Doch zu meiner Verblüffung mischte sich Wut

20 und Enttäuschung. Hatte Tess mich etwa wieder einmal nur

21 ausgenutzt, um ihrem Vater zu zeigen, auf wessen Seite ich

22 stand? Lief sie vielleicht sogar zu ihm nach jedem

23 Geheimnis, welches ich ihr preisgab? Warum hatte ich

24 Dummkopf ihr schon zum dritten Mal vertraut, obwohl ich

25 geahnt hatte, dass sie mich erneut betrog? So wie sie es

26 bereits bei der Geschichte mit Mathieu oder der Nacht getan

27 hatte, in der ich in Papas altes Arbeitszimmer eingebrochen

28 bin…

225
1 Aber bevor ich zu einem Entschluss kam, verschwamm das

2 Bild vor meinen Augen und begann sich wild im Kreis zu

3 drehen.

4 Bald erreichst du den Fluss. Kühles Nass befeuchtet

5 wohltuend deine Sohlen. Atemlos lässt du dich auf die Knie

6 fallen, die Hände im halbverdorbenen Gras verkrampft. Der

7 Kadaver eines Fisches treibt in der Strömung des

8 Wasserrades, welches wie ein Sägeblatt durch das Wasser

9 schneidet. Seine glasigen, beinahe grauen Augen sind starr,

10 gleichwohl die Schwanzflosse noch gelegentlich zuckt, um

11 sich gegen dieses Ende, nun von den Artgenossen genüsslich

12 verspeist zu werden, zur Wehr zu setzen. Über der Türe des

13 Fischerhäuschens weht eine Flagge im Wüstenwind. Die Mauern

14 des Hauses sind vermodert, mit Schlingpflanzen bewachsen,

15 sodass die rauen Steinwände kaum noch zum Vorschein kommen.

16 Rot, schwarz, farblos. Wie ein Welpe rollst du dich im Sand

17 zusammen, den Rücken gegen die Überreste eines gestrandeten

18 Bootes gepresst. Zitterst, wimmerst tonlos. Du bist alleine,


19 ganz alleine...

20 Panisch ließ ich meinen Blick durch die dunkle Küche

21 huschen, im verzweifelten Versuch dieser Einsamkeit zu

22 entkommen. Wo seid ihr alle? Wo? Erst nach wenigen Minuten

23 wurde mir klar, dass ich wieder einmal einen Albtraum gehabt

24 haben musste. Sie schienen mich regelrecht zu verfolgen,

25 diese Träume: Einmal in meine Vergangenheit zurück, ein

26 anders Mal an einen unbekannten Ort. Doch am Ende war ich

27 jedes Mal alleine. Und seltsamerweise vergaß ich diese

28 Träume nicht, wie man es sonst immer tat. Nein, jedes Detail
29 - die Fahne, die Aschenbahn, das Licht - alles tauchte

30 wieder und wieder in meinen Gedanken auf.

226
1 Ich gähnte herzhaft und wollte mich mit einem flüchtigen

2 Blick auf die Uhr umdrehen, um weiter zu schlafen. Wollte…

3 Als ich plötzlich ein leises Rascheln vernahm. Verwundert

4 tastete ich mich in dem schwachen Lichtschein ab, dann den

5 Kartoffelsack. Dabei musste ich Mickie wohl mit dem Finger

6 fort gestupst haben, denn die Wüstenrennmaus jagte

7 verwundert davon. Schnell entschied ich mich ebenfalls

8 auszuspringen, um sie wieder einzufangen, als mich etwas

9 zögern ließ. Ein Stück Papier etwa in der Größe eines

10 Abziehbildes segelte zu Boden. Im Normalfall hätte ich es

11 zerknüllt und weggeschmissen. Im Normalfall. Nun spielte

12 diese Geschichte aber nicht in Deutschland in einer

13 Etagenwohnung im neunten Stock in dem Kinderzimmer eines

14 zehnjährigen Jungens, auf dessen Schreibtisch sich die Hefte

15 und Blöcke mit den Hausaufgaben stapelten. Nein, die

16 Geschichte spielte tausende Kilometer entfernt in der Küche

17 eines Hauses, in dem selbst der letzte Winkel besenrein war.

18 Nicht auszudenken, dass sich dort ein Zettel auf


19 Wanderschaft befand. Neugierig klappte ich das Papier auf -

20 und erstarrte. In seiner Mitte waren lediglich wenige, wegen

21 der Dämmerung schwer lesbare Worte mit Bleistift gekritzelt:

22 Also: Nummer 255:Zarin K. zurzeit: Be- und Entladung von

23 Waren / Kurierdienste

24 Tess

25 Hastig wandte ich den Zettel in meiner Handfläche, als

26 würden dadurch neue Informationen hinzukommen, die ich

27 vielleicht überlesen hatte. Aber nein, es blieb bei den elf

28 Wörtern, den zweiundsiebzig Zeichen, davon drei Zahlen, drei


29 Doppel- und zwei normalen Punkte. Doch dieser winzige Zettel

30 reichte aus, um einen gerade mal zehnjährigen Jungen völlig

227
1 aus der Bahn zu werfen. Zarin, der Mann, der an dem Tag an

2 ein Labor verkauft werden sollte, an dem Papa starb, war

3 niemand anderes als der Ehemann von Keenans verstorbener

4 Schwester Ismen. An den Riesen im Dorf konnte ich mich noch

5 gut erinnern, gleich wohl er manchmal ohne ein Wort

6 verschwand und ich ihn daher nicht oft zu Gesicht bekommen

7 habe. Nun schien auch dies zum Teil einen Sinn zu ergeben,

8 wenn man bedachte, für wen er gearbeitet hatte und immer

9 noch arbeitete. Kurz tauchte in meinen Gedanken das Bild des

10 Internetcafés auf, in dem ich mich vor ihm verstecken

11 musste. Damals - es erschien mir wie eine Ewigkeit - hatte

12 Zarin mich verzweifelt gesucht, um mich zurück nach

13 Deutschland zu bringen. Zu meinem Besten, damit mir nichts

14 zustoße.

15 Irgendwie musste der Mann schon vor Scott gewusst haben,

16 dass ich entweder dem Business auf der Website

17 www.leber_im_sonderangebot.de ein Dorn im Augen sein würde

18 oder Zarin hatte mich tatsächlich aus irgendwelchen Gründe


19 davor bewahren wollen, dieses Fehler zu begehen. Ich

20 seufzte, wobei ich den an mir hochkletternden Mickie

21 vorsichtig am Schwanz anhob und zur Strafe ein wenig in der

22 Luft baumeln ließ. Leise fiepend zappelte er und in seinen

23 winzigen, schwarzen Mausaugen lag etwas Flehendes, welches

24 das Herz eines jeden Tierliebhabers sofort erweichte. Bitte,

25 bitte, lieber Tim, lass mich runter. Lächelnd legte ich mich

26 zurück auf den Kartoffelsack und verstaute den Zettel sicher

27 in einer Ritze, damit ihn niemand finden würde. So gut es

28 ging, kuschelte ich mir auf das Kissen, formte für das Tier
29 eine Art Nest und setzte es sanft am Kopf streichelnd

30 hinein. Wenigstens du hast keine Probleme außer Essen und

228
1 Schlafen, erwiderte ich in einer lautlosen, fremden Sprache,

2 die lediglich die Maus verstand.

3 Es war hell, als ich erwachte. Die ersten Sonnenstrahlen

4 fluteten bereits durch die wenigen Fenster die Küche.

5 Gähnend räkelte ich mich. Die Ereignisse der Nacht schienen

6 mehr wie ein böser Traum und erst, als ich das Stück Papier

7 heimlich in einem unbeobachteten Moment auseinanderrollte,

8 begriff ich, dass es weder Traum noch Scherz war. Viel mehr

9 ähnelte es einem Puzzle, welches man nicht zu Ende

10 zusammensetzen wollte, weil einem das Motiv missfiel. Ich

11 bräuchte Zeit, die ich nicht hatte, um dies alles zu

12 verstehen.

13 Heute musste ein großer Teil für Scott vermeintliches

14 Verreisen vorbereitet und anschließend in hochgradigen

15 Schüsseln verpackt und verstaut werden. Bisher habe ich (wie

16 jedes anderen Kind meines Alters wahrscheinlich auch) die

17 Eltern die Koffer hieven oder den Urlaub planen lassen,

18 während man sich selbst pfeifend, mit Gameboy oder Buch


19 bewaffnet, vom Acker machte, damit sie dabei ihre Ruhe

20 haben. Als Dank wird man dann im Auto oder Flugzeug ständig

21 angefaucht, wenn man lieb und nett zum siebten Mal fragt, ob

22 hinter den Bergen endlich die Nordsee ist.

23 Nun begutachte ich argwöhnisch die Liste unseres

24 Meisters, verblüfft, wie viel eine einzelne Person für eine

25 Woche an Proviant benötigte. Mit dem Essen könnte locker

26 meine Grundschulklasse in der Jugendherberge satt werden.

27 Glaubte ich jedenfalls. Vielleicht würde es auch noch für

28 die halbe Parallelklasse reichen. Wer wusste das schon


29 genau? Für Scott wäre es auf alle Fälle zu viel,

229
1 vorausgesetzt er will nicht Afrikas neue Hoffnung im

2 Schwergewichte werden, was ihm durchaus zu zutrauen war.

3 Mit Hilfe von Malliums Adjutanten verstaute ich in

4 Plastiktüten gepacktes Obst und Gemüse in einem Karton und

5 klebte ihn an beiden Enden zu. Die exakte Beschriftung

6 erfolgte durch einen hageren Mann Mitte sechzig, der in

7 seinem Leben scheinbar schon einige Kisten für Scott hatte

8 schleppen müssen. Gekrümmt hievte er den schweren Karton

9 hoch, wobei er unter dem Gewicht taumelte. Ohne dass der

10 Küchenchef eingreifen konnte, fasste ich den Entschluss, dem

11 Alten zu helfen. Dankbar lächelte er mir ein wenig schief zu

12 und gemeinsam schleppten wir die Kisten über den Kiesweg in

13 Richtung eines warteten, weinroten Cabrios. An seine

14 Kupplung befestigte gerade in diesem Augenblick ein weiterer

15 Mann den Anhänger, über dessen Fläche eine weiße Plane mit

16 dem Aufdruck einer lachenden Orange gespannt war. Diese

17 reichte ein weißer Mann - mit erstaunlicher Ähnlichkeit zu

18 Scott - einem Farbigen. Unter dem Logo, fein säuberlich


19 durch eine regenbogenfarbene Linie abgetrennt, waren in

20 goldgelber Schnörkelschrift die Buchstaben M.A.S für

21 Miteinander am Sonnenplatz projiziert wurden. Scott spielte

22 sich doch tatsächlich als Wohltäter auf! Und vermutlich

23 kaufte ihm der größte Teil Afrikas dieses Spiel auch noch

24 ab, wenn er dafür ein oder zwei Orangen in die Hand gedrückt

25 bekam? Bei diesem Gedanken würde mir speiübel. Tief sog ich

26 die frische Luft ein und vergaß augenblicklich alles um mich

27 herum. Ein Schmetterling, der sich vermutlich von dem Klouto

28 hierher verirrt hatte, tanzte im Sonnenschein um mich herum


29 und flatterte dann weiter zu den Blumenbeeten herüber.

30 Wassertropfen der Bewässerungsanlage der Rasenflächen

230
1 sprenkelten meine nackten Beine, ebenso wie der Brunnen

2 zwischen dem Hauseingang und dem Tor zur Außenwelt mein

3 Gesicht. Der Karton erschien plötzlich federleicht, der Kies

4 stach nicht unter meinen Füßen, sondern führte mich wie auf

5 kleinen Kissen fortan - bis ein Schatten die Sonne

6 verdeckte, ein Windstoß die bunte Welt fortfegte.

7 Der zweite Mann erhob sich, als er bemerkte, dass wir

8 unser Gut in dem Anhänger lagern wollten, der mit den

9 unverderblichen Lebensmitteln bereits zu einer kleinen

10 Speisekammer angereichert war - und erstarrte in seiner

11 Bewegung. Immer noch gehockt, die Augen weit aufgerissen,

12 wusch er sich mit den dreckigen Hand einmal übers Gesicht.

13 „Nummer 255?“ Der Alte stieß ihn leicht mit dem Fuß an,

14 nachdem er die Kiste vor sich auf den Boden abgestellt

15 hatte. Doch der Genannte reagierte kaum, sondern starrte

16 mich weiterhin mit ausdrucksloser Miene an, dass mir ein

17 wenig unbehaglich zu Mute wurde. Zarin, in einem weißen

18 Hemd, welches sich über seinen seltsam durchtrainierten


19 Bauch spannte, und hellblauer Jeans, wirkte mit den etwas

20 längeren, ordentlich gekämmten Haaren wie ein Sekretär. An

21 dem Ringfinger seiner rechten, großen Hand trug er immer

22 noch den kleinen Hochzeitsring. Auch wenn der Mann über den

23 Tod seiner Frau und dem seines neugeborenen Sohnes gut

24 hinweggekommen zu schien, konnte man dennoch erkennen, wie

25 sehr er litt.

26 „Nummer 255? Der Junge hat mir bloß beim Tragen

27 geholfen. Nicht schlimm. Unser Meister wird es nicht

28 erfahren.“ Der Alte sprach mit dem für Togolesen typischen


29 Akzent Eve, den ich, was er nicht wusste, auch zum Teil

231
1 beherrschte. Ich musste. Schließlich hätte ich sonst niemals

2 beim Indianerspielen eine Chance gehabt.

3 „Er sollte nicht hier sein.“, brummte Zarin mehr zu sich

4 selber als zu dem alten Afrikaner, bevor er sich mit einem

5 letzten Blick wieder der Kupplung zuwandte.

6 Wütend stampfte der Mann mit dem Fuß auf, dann hinkte er,

7 ohne mich weiter zu beachten, zurück in die Küche.

8 Seufzend sah ich ihm nach. Was ging hier eigentlich vor

9 sich? Warum sollte ich nicht hier sein? Was verschwieg Zarin

10 mir? Unbeholfen marschierte ich von links nach rechts über

11 den Kiesweg, wohl bedacht, dabei viel Lärm zu machen, damit

12 der Riese gezwungen sein würde, mir Aufmerksamkeit zu

13 schenken. So hatte mein Freund Phil es in der Schule auch

14 immer geschafft. Und irgendwie hat er die Lehrerin nach

15 seinen Papierkügelchenwürfen gegen die Tafel jedes Mal dazu

16 gebracht, ihn früher gehen zu lassen. Je lauter man ist,

17 desto eher wird man gehört.

18 Tatsächlich… Es funktionierte! Nach wenigen Minuten drehte


19 sich der Mann genervt zu mir um. „Was willst du hier?“,

20 brummte er, „Du hast hier nichts zu suchen, verstanden?“

21 Meine Augen wurden zu einem Schlitz. Am liebsten hätte ich

22 den Afrikanern nun in die Seite geboxt, so wütend war ich.

23 „Glaubst du eigentlich, ich bin freiwillig hier, Zarin!?“,

24 fauchte ich zurück, als sich eine Hand über meinen Mund

25 legte und mir die Arme auf den Rücken drehte. Nein, nicht

26 mit mir! Zornig begann ich, um mich zu treten, in die Hand

27 zu beißen. So schnell würde ich nicht Ruhe geben! Da müsst

28 ihr euch schon etwas Besseres einfallen lassen! Mit aller


29 Kraft lehnte ich mich nach vorne, als sich der eiserne Griff

30 unerwartet löste. Bei dem unvermeidbaren Sturz auf den Kies

232
1 renkte ich mir alle Knochen aus. Tausende von kleinen

2 Steinchen bohrten sich durch das dünne Oberteil zwischen

3 meine Schulterblätter. Staub brannte ihn meinen Augen. Doch

4 damit war noch nicht genug. Der vermeintliche Angreifer

5 baute sich vor mir auf und zog mich am Gürtel zu sich hoch.

6 „Sei still… Tim.“ Hastig ließ Zarin seinen Blick

7 umherschweifen, stieß mich nach kurzer Zeit von sich. „Mit

8 dir habe ich nicht gerechnet. Es tut mir leid. Dir sollte

9 dies erspart bleiben.“

10 Mit angezogenen Schultern hockte er sich auf die Kante des

11 Anhängers, vergrub das Gesicht in den Händen.

12 „Was sollte mir erspart bleiben? Dass ich weiß, dass…“

13 „Kannst du dort raus?“ Er deutete mit einen Kopfnicken auf

14 die Küchentüre, in der der alte Mann wieder erschien. Ich

15 wiegte den Kopf, schließlich schüttelte ich ihn

16 niedergeschlagen. Nein, ausgeschlossen dort abzuhauen, auch

17 wenn ich darin mittlerweile Übung hatte. Falls es mir

18 tatsächlich gelingen würde, heimlich aus der Küche ins Freie


19 zu fliehen, wäre ich drei Sekunden später im Rahmenlicht.

20 Dann könnte ich sehr wahrscheinlich ein Lied davon singen,

21 wie sie mich Stück für Stück auseinander nehmen. Nein, viel

22 zu riskant.

23 Auch Zarin schien dies einzusehen, denn er malte

24 nachdenklich mit dem Finger im Kies. „Ich schätze, du wirst

25 dich gedulden müssen. Zwar nicht eine deiner Stärken, aber…“

26 Er hielt kurz inne, um dem älteren Mann beim Verstauen des

27 Kartons zu helfen, der ihm einen vernichtenden Blick zu

28 warf, woraufhin der Togolose die Stirn krauste. „Verschwinde


29 jetzt besser, Junge! Siehst du denn nicht, dass ich zu tun

30 habe?“, brüllte er, dass selbst die Papageie, die sich in

233
1 der kugelförmig geschnittenen Baumkrone versteckt hatte,

2 aufgeregt davon flatterten. Eine elegante, bunte

3 Schwanzfeder segelte dabei langsam zu Boden. Beide Hände in

4 die Hüften gestemmt, pustete ich einmal in die Luft, drehte

5 dann mich fort, langte im Gehen nach der Feder, die ich mir

6 wie die eines Indianers ins Haar steckte, und rannte zurück

7 in die Küche, in der mich ein ziemlich mürrisch

8 dreinschauender Koch empfing.

9 „Wo warst du, Bursche?“, knurrte er, tippte dazu im Takt

10 mit dem Fuß auf die Fliesen.

11 Ich schwieg. Egal, was ich geantwortet hätte, es wäre

12 immer falsch gewesen.

13 Geduld war genau das richtige Stichwort…

234
1 10. Kapitel
2 Und so wartete ich. Und wartete und wartete. Ohne

3 eigentlich konkret zu wissen, worauf ich wartete. Ich

4 wartete einfach. Manchmal alleine, manchmal gemeinsam. Die

5 einen Stunden vergingen im Flug, andere schienen ein

6 unendlich langer Bann von Sekunden und Minuten. Aber ich

7 wartete dennoch. Vom Morgengrauen bis zum Mittag. Vom Mittag

8 bis zur Dämmerung. Von der Dämmerung bis zur Stunde null.

9 Und von der Stunde null bis zur Morgendämmerung. Warten,

10 gedulden. Von Montag bis Dienstag, dann von Dienstag bis

11 Mittwoch, bis Donnerstag, bis Freitag. Von Freitag bis

12 Samstag und Sonntag. Solange, bis dieses Warten ein Ende

13 haben würde, wenn es denn eines hätte.

14 Das weinrote Cabrio mochte seit vier Tagen verschwunden

15 sein; eines Morgens, als ich beim Erwachen einen flüchtigen

16 Blick aus dem Fenster geworfen hatte, war er wie vom

17 Erdboden verschluckt. Und Scott mit ihm.

18 Doch dies änderte kaum etwas an der Tatsache, dass der


19 Meister nicht ein halbes Dutzend Stellvertreter unter Obhut

20 haben musste, die seine Rollen hervorragend nacheiferten.

21 Diese Kopien konnte vor allem noch um einiges harter

22 bestrafen, was ich des Öfteren bemerkte. Einmal erlaubte

23 sich ein Dienstmädchen den Fehler, die schwarzen

24 Spannbetttücher von Zimmer Nummer 16 und 17 zu vertauschen.

25 Schließlich hätte es nie jemand bemerkt, da die Bettwäsche

26 jeden zweiten Tag um dieselbe Uhrzeit gewechselt wurde und

27 sich zu dieser Zeit niemand in dem Raum aufhalten sollte.


28 Und selbst wenn… wer konnte zwei völlig identische, schwarze

29 Lacken voneinander unterscheiden? Über diese Frage konnte

235
1 die junge Frau noch etwas länger grübeln, als sie mit dem

2 Freifahrtschein zur Hölle in der Hand in den Keller geführt

3 wurde. Das Letzte, was ich von ihr hörte, war ein

4 erstickender Schrei.

5 Nummer 167, der zweite Koch, hatte mich bereits im

6 Flüsterton davor gewarnt, Scotts Abwesenheit auszunutzen.

7 Dort, meinte er, wo sonst nur zwei Augen lauern, dort sind

8 nun zwölf oder mehr. Vielleicht hast du Glück, mein Junge,

9 vielleicht hast du es nicht. Aber ich an deiner Stelle würde

10 nichts riskieren. Bei dieser Ansprache nickte ich lediglich,

11 selbst wenn ich schon einige Gedanken an Flucht verschwendet

12 hatte. Ich wusste, indem, was er sagt, hat der Mann recht.

13 Wahrscheinlich wäre ich ohnehin zu feige gewesen, nun etwas

14 zu unternehmen.

15 Und so habe ich gewartete, immerzu gewartet. Wie sonst nur

16 auf das Glöckchen des Christkindes. Nur ahnte ich damals,

17 dass es wieder einmal ein neues Plastikparkhaus, das 101.

18 Kuscheltier oder später ein Gameboy-Spiel sein würde. Auf


19 alle Fälle zählte die Vorfreude auf Weihnachten. Doch nun

20 stützte ich mich Tag für Tag ins Ungewisse. Was würde

21 geschehen? Würde dieses XY mir helfen oder mich nur weiter

22 zerstechen? Fragen über Fragen, nichts als Fragen…

23 … Bis dieser Tag kam oder einer dieser Tage. Der 31. Juli

24 2004, grau, ohne Sonnenschein, kühler bei 22 Grad Celsius.

25 Wenn man davon absah, dass an diesem letzten Samstag im Juli

26 mit Atakpamé in der togoischen Region Ogou das Ernte-

27 Festival der Süßkartoffeln, das Odon-Tsu, gefeiert wird,

28 hätte man annehmen können, es sei ein Tag wie jeder andere
29 auch. Dennoch, als ich heute die Orangen auspresste,

30 bemerkte ich eine Veränderung: Der Meister war von seinem

236
1 Ausritt um die Welt zurückgekehrt: Mallium jagte wie ein

2 gescheuchtes Tier unter der Peitsche durch die Küche, rührte

3 mal hier im Tee, füllte mal da eine Schüssel mit Obst und

4 Cornflakes, das einzige Ungesunde, was Lady Tess zu sich

5 nehmen durfte. Hinter der Tür hörte ich gelegentlich das

6 leise Klirren von Besteck, den Staubsauger. Auf dem Hof

7 polierte bereits jemand den Wagen, auch wenn Scott erst vor

8 wenigen Minuten ausgestiegen sein mochte. Den Anhänger hatte

9 man von der Kupplung gelöst, jedoch nicht fortgefahren,

10 vermutlich weil dies wegen des vielen Inhalts nur für drei

11 Herkulese zu bewältigen war. Dessen Plane hing mit mehreren

12 Riemen festgeschnürt straff herunter, bläute sich nur

13 gelegentlich seltsam merkwürdig auf. Verwirrt rieb ich mir

14 die Augen. Eben, vor etwa drei Sekunden, war da links noch

15 eine Delle gewesen… Nein, ausgeschlossen. Sicher spielte dir

16 nur jemand einen Streich. Wie sollte sich die Plane bewegen,

17 wenn es derart windstill ist?

18 „Nummer 448!“ Geistig abwesend zuckte ich zusammen.


19 Mittlerweile hatte ich mich zwar an diesen Namen gewöhnt,

20 aber es brauchte einige Augenblicke, bis ich registrierte,

21 dass man mich meinte.

22 „Jawohl, Sir!“

23 „Brüll mich nicht so an, Junge!“, knurrte Mallium böse

24 zurück, wobei er sich, ein Obstmesser in der Hand,

25 bedrohlich näherte, „Mach dich einmal nützlich und helfe

26 Nummer 255 beim Entladen des Gepäcks.“

27 Zarin! Zarin ist wieder da! Hastig ließ ich das Messer

28 meinerseits auf die Ablagefläche klirren und setzte bereits


29 zum Sprint nach draußen an, als der Küchenchef mich an der

30 Schulter zu sich herum riss. „Und wehe dir, du machst mir

237
1 Ärger. Dann kannst du dafür beten, dass ich dir nur das

2 Genick breche. Hat dein kleines Hirn das da oben k-a-p-i-e-

3 r-t?“ Mit zusammengekniffenen Augen schlug er mir seine

4 Handfläche auf den Rücken, „Und nun verschwinde endlich!“

5 Noch bevor Mallium etwas entgegnen konnte, rannte ich, die

6 Küchentüre im Lauf aufstoßend, auf den Hof, wo mich bereits

7 jemand sehnsüchtig erwartete. Der alte Mann, dem ich schon

8 einmal geholfen hatte, zwinkerte mir freudig zu. Sein

9 anderes Auge zuckte dabei unkontrolliert.

10 „Es nicht viele Junge gibt, die helfen wollen hier.“ Es

11 fiel ihm sichtlich schwer, die Worte selbst in seiner

12 Sprache zu richtigen Sätzen zusammenzufügen. Bei jedem

13 Buchstaben verzog sich sein Gesicht wie bei einem Theater.

14 Mal saß die Brille oben auf dem Nasenrücken, mal rutschte

15 sie in derselben Bewegung derart tief, das man fürchtete,

16 sie könne herunter fallen.

17 Ich wiegte den Kopf, erwiderte jedoch nichts, aus Angst,

18 Mallium beobachte mich.


19 Vorsichtig begann ich die Plane des Anhängers zu lösen,

20 als mir plötzlich eine Hand auf die Finger schlug. Zarin in

21 voller Lebensgröße, mit ärgerlichem Gesichtsausdruck und

22 einem Zigarrenstängel zwischen den Lippen, den er nun auf

23 den Boden austrat, bäumte sich neben mir auf. „Lass das! Du

24 bist lediglich hier, um das zu tragen, wozu wir dich

25 beauftragen.“, brummte er, aber in seinem Blick lag etwas

26 Mitfühlendes.

27 Wütend trat ich gegen die Kiessteine auf dem Weg. Zum

28 Schleppen bin ich euch gut genug, wie?! Euch werde ich es
29 zeigen, selbst wenn es mich noch so viel kostete! Ohne dass

30 einer der beiden Männer hätte reagieren können, riss ich an

238
1 dem letzten, bereits halbgelösten Riemen und lugte ins

2 Innere, welches auf den ersten Blick leer erschien. Auf den

3 ersten Blick.

4 Vorsichtig zwängte ich mich zwischen den Körben hindurch

5 auf die Ladefläche, als mein Herzschlag für ein paar

6 Sekunden aussetzte. Meine Lungenflügel zogen sich zusammen,

7 sodass ich röchelnd nach Luft schnappen musste. Gleichzeitig

8 übergab ich mich über einer Kiste mit Orangen, fiel auf die

9 Knie. Nein… Bitte nicht! Mit Tränen in den Augen stieß ich

10 einen Schrei aus, der um die gesamte Welt zu wandern schien.

11 Von New York bis nach Sydney. Vom Nordpol bis in die

12 Antarktis. Meine Hände verkrampften sich an der Kiste, meine

13 Beine wollte mich nicht mehr tragen, konnten nicht mehr

14 weiter. Das Bild des Mädchens, welches blutverschmiert in

15 seinem blauen, schottischen „Hardrock-T-Shirt“, mit

16 zusammengefalteten Händen, zur Seite gedrehtem Kopf,

17 schlief, wurde in tausende Splitter zerschlagen. Sein

18 haselnussbraunes Haar war länger, ein wenig verfilzt und


19 zerzaust. Die Haut um einiges dunkler, aber dennoch heller

20 als die eines Afrikaners. Zweifellos - ich würde es noch so

21 verleugnete können - es war meine beste Freundin, die dort

22 vor mir auf der Ladefläche des Anhängers meines größten

23 Feindes lag. Kay, von der ich gehoffte hatte, sie niemals an

24 diesem furchtbaren Ort wieder zu sehen. Mein Schwesterchen.

25 Nein, das muss ein böser Streich sein, ein Albtraum.

26 „Tim?“ Zarin, der hinter mir her geklettert war, legte mir

27 sanft die Hand auf die Schulter. „Es tut mir so leid. Ich

28 habe es verhindern wollen, wirklich. Ich habe es verhindern


29 wollen.“ Als ich schwieg, fuhr er murmelnd fort: „Da war ein

30 Dorf in der Region um Ogou, das Erntedank feierte. Um ihr

239
1 Vertrauen zu gewinnen, hat der Meister ihnen Orangen und

2 andere Lebensmittel geschenkt. Genauso wie damals in unserem

3 Dorf. Wir haben es alle geglaubt, verstehst du? Alle haben

4 wir es geglaubt, uns täuschen lassen. Auch ich, auch Keenan,

5 wir alle. Das Mädchen wollte an diesem Nachmittag mit einer

6 Schulfreundin spielen, die in diesem anderen Dorf lebte. Sie

7 musste wohl auf Klo. Anders kann ich es mir jedenfalls nicht

8 erklären, warum der Meister ein Kind ‚zur Flucht in ein

9 neues Paradies‟ entführt.“

10 Er machte eine Atempause, damit ich die Möglichkeit bekam,

11 zu begreifen, und mir nicht zu viel auf einmal zumutete.

12 Aber ich sah ihn nicht an, nur Kay. Wie konnte so etwas bloß

13 passieren? Kay, hörst du mich? Ich bin‟s Tim… Der Tim, der

14 an allem schuld ist. Erinnerst du dich? Wenn nicht… Ich kann

15 es verstehen. Auch, dass du mich jetzt vermutlich hasst.

16 Ich bin ja, zu nichts zu gebrauchen! Immer mache ich alles

17 falsch. Es tut mir leid, Kay Linn.

18 Behutsam hob ich ihren kleinen Kopf an, streichelte ihr


19 über das zerzauste Haar, in dem noch ein braunes Haarband

20 steckte.

21 „Wo sind die anderen?“, fragte ich mit erdrückender

22 Stimme, sodass ich kaum einen Laut herausbekommen mochte.

23 „In einem Essenzimmer. Der Meister wird ihnen ihre Aufgabe

24 erklären und was sie dafür tun müssen, damit sie immer

25 genügend zu essen haben. Das mag sich für einen Jungen wie

26 dich seltsam anhören, aber diese Menschen sind derart

27 verzweifelt, dass der Meister für sie tatsächlich so etwas

28 wie ein Messias, ein Heiliger ist, der ihnen einen Weg aus
29 dem Nichts bietet. Jeder glaubt ihm, auch ich habe ihm

30 Buchstabe um Buchstabe, Wort um Wort geglaubt. Und den

240
1 meisten geht es hier besser. Du hast überhaupt keine Ahnung,

2 wie das hier in Afrika läuft! Frauen werden vergewaltigt.

3 Draußen in Kpalimé verhungern die Kinder auf der Straße!“

4 „Nummer 255!“

5 Zarin atmete tief durch, damit sich seine Stimme nicht

6 überschlug. „Ja?“, erwiderte er etwas gefasster, wobei er

7 den Kopf aus dem Anhänger steckte und leise mit dem alten

8 Mann zu flüstern begann, der scheinbar draußen gewartet

9 haben musste. Ich gab mir keine Mühe, sie zu belauschen,

10 sondern versuchte, Kay zu schultern. Unter gar keinen

11 Umständen würde ich sie alleine lassen!

12 „Was machst du da?“, fauchte der Togolese, der mich im

13 Blickwinkel zu beobachten schien. Ohne ihm etwas zu

14 entgegnen, wollte ich gebückt an ihm vorbei krakeln, als er

15 mich grob zurückstieß, sodass Kays Kopf beinahe auf der

16 Kiste aufgeschlagen wäre, hätte ich sie nicht

17 geistesgegenwärtig gefangen.

18 „Bist du denn völlig übergeschnappt?“ Der Finger des


19 Mannes näherte sich drohend. „Wo willst du sie hinbringen?“

20 Ich überlegte kurz. „In Sicherheit.“

21 „Und wo ist es deiner Meinung nach sicher?“

22 „Aber ich kann sie doch nicht einfach hier liegen

23 lassen.“, murmelte ich niedergeschlagen. Ein feuchtes

24 Glitzern im Augenwinkel.

25 Während Zarin nacheinander die Kisten und Körbe zum

26 Ladeflächenrand schob, besah er sich das kleine Mädchen zum

27 ersten Mal genau. Sie wirkt so zierlich, so schwach, beinahe

28 zerbrechlich, wie sie hilflos da lag. Obwohl sie unverletzt


29 schien, überkam mich erneut dieses Bedürfnis, sie zu

30 beschützen. Ich konnte sie nicht verlassen…

241
1 „Bitte, Zarin. Du musst ihr helfen, bitte.“

2 „Ich kann nicht.“, erwiderte Zarin grob, dann kletterte er

3 von der Ladefläche herab. Unten angekommen streckte er

4 nochmals den Kopf hinein: „Und du auch nicht, Tim. Das weißt

5 du! Komm endlich! Sei ein braver Junge, sei vernünftig.

6 Komm.“

7 Ich schüttelte den Kopf. „Nein, ich will bei ihr bleiben.“

8 Es klang bestimmt und hartnäckig, verzweifelt.

9 Der Togolese stöhnte. Genervt kletterte er nochmals in den

10 Anhänger zurück, sah mich von oben bis unten an. „Du wirst

11 jetzt mit mir kommen“

12 „Nein, ich mag bei Kay bleiben.“

13 Ohne dass ich mich wehren konnte, packte Zarin mich unter

14 den Armen, schleifte mich wie eine Puppe zum Ladeflächenrand

15 und stieß mir den Ellenbogen in den Rücken, sodass ich vorne

16 überfiel. Wild ruderte ich mit den Armen, schrie, als ich

17 unsanft im Kies landete. Kleine Steinchen hatten ihre

18 Druckstellen auf meinem Körper hinterlassen, aber anstatt zu


19 weinen, rappelte ich mich auf, um erneut zu meiner besten

20 Freundin vorzubringen, was in Anbetracht dessen, dass der

21 Afrikaner sich wie eine riesige, schwarze Wolke vor mir

22 aufbäumte aussichtslos war. „Dein Vater hat dich nie

23 erwähnt, Tim. Nie. In seiner Welt existiertest du nicht. Ich

24 habe mich immer gefragt, warum. Jetzt weiß ich es: Du

25 bereitest einem nichts als Ärger.“, zischte er. Diese

26 unerwartete Wendung des Gesprächs irritierte mich für einen

27 Moment. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis die aneinander

28 gereihten Zeichen in meinem Gehirn wie eine geheime


29 Botschaft entschlüsselt werden konnte. Doch selbst als aus

30 den Zeichen Buchstaben, aus den Buchstaben Wörter, aus den

242
1 Wörter Sätze wurde, selbst dann begriff ich den Sinn dieser

2 Nachricht nicht. Weshalb erzählte der Mann mir nun von Papa?

3 Von Papa, der mich gehasst hat?

4 „Nein… Nein, das ist nicht wahr.“ Tränen liefen mir über

5 die Wangen. Hektisch zwinkerte ich mich den Augen, rieb

6 dabei mit dem Zeigefinger über das Lid.

7 „Doch.“, entgegnete Zarin, wobei er mich am Handgelenk

8 fasste und zerrte mich über den Kies zurück zum Gebäude.

9 „Nummer 448?“

10 Erstaunt hob ich den Kopf, drehte ihn in Richtung Türe.

11 Mallium, der gleich agierte, erhob sich von seiner Arbeit,

12 die Schubladen neu einzusortieren. Tess mit einer schwarzen,

13 weiten Hip-Hop-Hose und einer roten Trainingsjacke

14 bekleidet, erschien unerwartet auf der Bildfläche. Ohne dem

15 herbeieilenden Küchenchef Beachtung zu schenken,

16 gestikulierte sie mir, dass ich ihr unverzüglich folgen

17 sollte. „Ich versichere Ihnen, es ist alles in Ordnung.

18 Nummer 448 soll lediglich auf Wunsch meines Vaters in dessen


19 Arbeitszimmer erscheinen.“.

20 Ich erschrak. Um nichts in aller Welt würde ich nochmals

21 dieser Zimmer betreten! Doch Tess ließ mir keine Wahl. Kurz

22 warf ich einen Blick über die Schulter zurück. Nein, bitte,

23 ich würde auch noch ein paar Kartoffeln schälen. Mallium,

24 der mit jedem Meter schrumpfte, sah mir nicht nach. Er

25 schien mich bereits vergessen zu haben, noch bevor die Türe

26 überhaupt hinter uns zu schlug. Draußen auf dem Flur blieb

27 das Mädchen stehen.

28 „Tim.“, erwiderte sie mir den Rücken zugewandt, wobei sie


29 auf nackten Füßen über den kalten Fliesenboden davon

30 tänzelte. „Ich weiß nicht, was Dad mit dir vorhat. Tut mir

243
1 Leid.“ Mit einer eleganten Drehung fiel sie mir flüchtig um

2 den Hals. „Pass auf dich auf, ja? Sonst habe ich niemanden

3 mehr, den ich ärgern kann.“

4 Mehr sagte sie nicht, jetzt nicht und auch nicht später.

5 Es blieb bei diesen Worte, die hart und kalt klangen,

6 teilnahmslos. Doch ich spürte, dass sie sich unbehaglich

7 fühlte. Wie eine Prinzessin, die einen Freund zum Galgen

8 führen musste. Anderseits konnte Tess auch ein Drache sein,

9 der mich an einer goldenen Kette in den Vulkan stoßen

10 mochte.

11 Erst jetzt bemerkte ich, dass ich sie nicht kannte. Weder

12 die eine Tess, noch die andere. Ich mochte beide und ich

13 glaubte, sie mochte mich auch ein bisschen mehr, als sie zu

14 gab. Vielleicht hätten wir einander besser kennen lernen

15 müssen, vielleicht reichte es aber auch, dass wir nun den

16 gleichen Weg hatten. Ich wusste es nicht, auch wenn ich es

17 gerne tun würde. Dann könnte ich sie wenigstens darum

18 bitten, für Kay zu sorgen. Und für Mathieu. Dass ihnen


19 nichts passierte. Aber dafür war es nun zu spät, als ich

20 mich vor dem Schreibtisch jenes Monsters wieder fand, das

21 sich Sir Maurice Anthony Scott nannte.

22 „Nummer 448! Was für eine Überraschung!“ Der Sprecher

23 breitete mit gespielter Freude die Arme aus, wobei er auf

24 mich zu stolzierte, als wären wir alte Freunde, die einander

25 zufällig wieder gefunden hatten. Dabei musterte er mich mit

26 einem Blick, den ich wohl nie vergessen würde. Ein Blick,

27 der vielleicht Neugier zeigte, vielleicht auch so etwas wie

28 Zufriedenheit. Aber gleich, welche Gefühle es auch sein


29 mochten, in diesem Blick. Sie waren kalt, eingefroren,

30 gefangen hinter einer undurchdringbaren Eisschicht. Nicht

244
1 einmal der bunte Überwurf, wie er meist bei afrikanischen

2 Festen getragen wurde, ließ sie schmelzen.

3 Um diesem vernichtenden Blick auszuweichen, ließ ich

4 meinen eigenen durch das Zimmer schweifen. Auch wenn ich

5 mich noch genau an die Einrichtung, die Farben, erinnern

6 konnte, bewunderte ich den Architekten. Dieser Raum könnte

7 direkt aus den Seiten eines teuren Lifestyle-Magazins

8 stammen. Alles perfekt. Die gleichen Farbtöne. Die Nippes

9 waren Millimeter genau voneinander aufgereiht. Die Gemälde

10 brachte alles in einen seltsam harmonischen Einklang. Kein

11 Staub und selbst das Sonnenlicht, welches durch das Fenster

12 einfiel, wirkte fast künstlich, so als sei es nur da, um

13 alles, was es streifte, in noch besserem Licht erscheinen zu

14 lassen.

15 Mit einer Handbewegung gestikulierte Scott mir, auf einem

16 der beiden Ledersessel Platz zu nehmen, während er mich

17 höflichem Interesse fragte, wie es mir ginge. Dabei faltete

18 er die Hände aufmerksam auf dem Tisch.


19 Ich erwiderte nichts auf diese Anspielung. Obwohl ich

20 nicht wusste, weshalb ich hier saß, ahnte ich, dass sich

21 hinter der freundlichen Fassade eine Falle verbarg.

22 „Dein Hals scheint trocken. Möchtest du etwas trinken?

23 Eine Cola vielleicht? Auch wenn ich dieses Zeug ungesund

24 finde, aber nun gut. Ich gönne jedem den Erfolg dieser

25 sinnlosen Erfindung.“

26 Als ich erneut schwieg, zuckte der Sir mit den Achseln,

27 wobei er einen scheinbar unter dem Tisch versteckten Knopf

28 betätigte, woraufhin sich der Kühlschrank öffnete, eine Dose


29 auf einem hinter einer Leiste versteckten Band zu uns

245
1 herüberrollte und von einem weiteren auf die Oberfläche

2 befördert wurde.

3 „Eine sinnvolle Erfindung, findest du nicht auch?“,

4 erklärte der Meister stolz, wobei er zischend die Dose

5 öffnete und mir in einem ebenfalls herbei gerollten Glas den

6 Inhalt exakt bis zu der 200 Milliliter-Markierung einfüllte

7 und sich mit einem Lächeln auf den Lippen nach Strohhalm und

8 Eiswürfeln erkundigte.

9 „Kommen wir zum Wesentlichen: Möchtest du mir nicht etwas

10 erzählen, mein junger Freund? Ich bin für all deine Probleme

11 offen. Du kannst mir dein Herz ausschütten, wenn du diesen

12 Drang verspürst. Ich werde dir bis zum Ende zu hören.“

13 Etwas Gefährliches lag in seiner Stimme, etwas das mich

14 zögern ließ. Gleich, wie ich reagieren würde, der Mann war

15 mir wieder einmal haushoch überlegen. Wenn ich schwieg,

16 würde er einen seiner Gorillas bestellen, der mich

17 ausquetschte wie eine Orange. Aber selbst wenn den Mund

18 aufmachte… Das Ergebnis wäre in jenem Fall dasselbe.


19 „Nein, Sir, ich wüsste nicht, was.“ Dies entsprach der

20 Wahrheit. Ich ahnte tatsächlich bis zu diesem Zeitpunkt

21 nicht, weshalb er mich zu sich befohlen hatte.

22 „Nun gut. Ich will dir auf die Sprünge helfen.“ Seine

23 rechte Hand langte nach einer Akte unter dem Tisch, die er

24 auf den Tisch schlug. Papas Akte… Die Akte, die ich in

25 seinem Arbeitszimmer gefunden hatte! Meine Gedanken

26 überschlugen sich und mir fiel es sichtlich schwer, den

27 Blick von ihr abzuwenden.

28 „Ich schätze, du kennst den Inhalt ebenso gut wie ich,


29 Nummer 448.“, fügte der Meister triumphierend hinzu. Seine

30 Finger glitten über jede Seite, bis sie auf der letzten

246
1 angelangten. „Dein Vater war wahrlich ein ordentlicher Mann.

2 Wahrlich intelligent.“

3 „Intelligenter als Sie? Ist das der Grund, weshalb Sie ihn

4 mir weggenommen haben?“

5 Nun da der Mann schon herausgefunden hatte, dass ich in

6 das Arbeitszimmer eingebrochen und die Akte gelesen habe,

7 wäre es ohnehin zu spät gewesen, es zu verleumden.

8 Scott betrachte mich von oben bis unten. „Lass uns ein

9 Spiel spielen. Ein sehr, sehr einfaches Spiel. Du

10 beantwortest all meine Fragen und ich all deine,

11 einverstanden?“, schlug er vor, ohne auf meine Frage

12 einzugehen, „Und ich an deiner Stelle würde mir überlegen,

13 ob ich lügen würde. Denn…“ Sein Zeigefinger berührte kurz

14 einen weiteren Knopf, der dem einer Klingel glich. Zu meinem

15 Entsetzten öffnete sich augenblicklich eine Tür, aus dessen

16 Rahm ein fluchender Afrikaner auf den Boden gestoßen wurde.

17 Den kahl rasierten Kopf anhoben starrte er mich durch seine

18 blutunterlaufenen Augen für einige Sekunden unentwegt an.


19 „Ihr kennt euch, wie ich sehe?“ Scott erhob sich, um den

20 Mann mit einem Fußtritt gegen die Schläfe auf den Rücken zu

21 drängen. Ohne zu zögern, sprang ich ebenfalls auf, um meinem

22 Freund zur Hilfe zu eilen. Ich konnte ihn doch nicht einfach

23 im Stich lassen! Doch weit kam ich nicht. Eiserne Hände

24 zerrten mich von dem Meister weg. Ich schrie, versuchte

25 verzweifelt, mich loszureißen. Sinnlos. Aus dem Augenwinkel

26 bemerkte ich einen Stofffetzen, der sich langsam über meinen

27 Mund legte. Mir wurde übel. Der Schrei wurde in meiner Kehle

28 erdrückt. Meine Kräfte ließen nach. Nein, Sie…! Im Begriff,


29 das Bewusstsein zu verlieren, ließ ich den Kopf blitzartig

30 herumschnellen, wobei ich den Angreifer hart am Kinnhaken

247
1 traf. Der Gorilla taumelte. Für einige Sekunden war ich fei.

2 Aber was nun? Das Zimmer verschwamm vor meinen Augen.

3 Maurice Scott, ein Tisch, die Coladose, Zarin… Alles

4 wirbelte durcheinander. Von links nach rechts, drehte sich.

5 Ruhig, Tim. Konzentrier dich! Nein, du kannst nicht. Meine

6 Lider flackerten. Du schaffst es…

7 Mein kleiner Aufstand war vollkommen töricht gewesen war,

8 aber zum Aufgeben war es noch zu früh. Dumpfe Schritte

9 erklangen auf dem Teppich. Ich konnte sie nicht ordnen.

10 Näherten sie sich von Norden, von Süden? Im Winkel meines

11 Blickfeldes nahm ich eine ruhige Bewegung war. Hektisch fuhr

12 ich herum. Zu spät. Zwei funkelnde Augen starrten mich

13 wutentbrannt an. Die Faust, die zu ihnen gehörte, schnellte

14 wie ein Geschoss hervor, versetzte mir einen

15 Handkantenschlag mitten ins Gesicht, sodass ich das Gefühl

16 hätte, ich wäre gegen eine Betonwand gelaufen. Ich spürte

17 jeden einzelnen Knochen. Weißes Licht blendete mich,

18 explodierte hinter meinen Augen. Dann brach ich zusammen.

248
1 11. Kapitel
2 „Los, mach die Augen auf, Nummer 448.“

3 Ich hörte diese Worte wie auf weiter Ferne. Stöhnend hob

4 ich mein schmerzendes Gesicht von dem weichen Lederbezug der

5 Rückbank. Für einen kurzen Moment flammte in mir die

6 Hoffnung auf, endlich gerettet zu sein. Doch dann, als sich

7 die Gestalt auf dem Beifahrersitz zu mir umdrehte, erkannte

8 ich, dass meine Situation dieselbe war. Unverändert.

9 Lediglich der Ort war ein anderer: Ein Cabrio mit

10 verdunkelten Scheiben und Verdeck. Vorsichtig drückte ich

11 den Kopf in den Nacken, bis es knackte. Ich konnte von Glück

12 sagen, dass er noch dran war, selbst wenn er noch so zu

13 zerspringen drohte.

14 Langsam stürzte ich aus der Schwerelosigkeit des

15 Universums zurück auf die grelle, harte Erde. Der Aufprall

16 trieb mir kurz die Luft aus den Lungen, dann öffneten sich

17 die Poren wie winzige Tore und auf einmal fiel es mir

18 leicht, einen Atemzug zu tun, einen zweiten und auch noch


19 viele weitere.

20 Scott beobachte mich bei jeder meiner Bewegungen amüsiert.

21 „Du faszinierst mich. Das muss ich immer wieder zugeben.“

22 Schmunzelnd reichte er mir einen Keks, den ich dankbar

23 annahm. Obwohl ich einige Zeit geschlafen haben musste,

24 verspürte ich dennoch ein plötzlich aufsteigendes

25 Hungergefühl. Gierig knabberte ich an dem selbstgebackenen,

26 mit Orangenmarmelade gefüllten Gebäck, stopfte es mir

27 schließlich in den Mund und langte nach einem weiteren,


28 diesmal in Form einer Schnecke, mit Schokostreuseln

29 verziert. Als meine Zähne aufeinander prallten und ich mich

249
1 an den übrigen Krümeln verschluckte, drang mir ruckartig ins

2 Bewusstsein, dass es sich hierbei nicht um einen Ausflug

3 handelte. Sofern es meine missgünstige Lage zuließ, hob ich

4 den Kopf, um ausmachen zu können, wo wir uns befanden.

5 Wir mussten bereits ein ganzes Stück gefahren sein.

6 Vermutlich in die entgegen gesetzte Richtung. Das blutrote

7 Abendlicht ergoss sich über dem schlammigen, uneben

8 asphaltierten Weg, der scherzhafter Weise als Landstraße

9 bezeichnet wurden. An dessen grob gekennzeichnetem

10 Fahrbahnrand erstreckte sich zu beiden Seiten der Wald.

11 Zeitweise auch hoch über dem Verdeck, sodass es den Eindruck

12 verschiedener, kleinerer Lichttunnel erweckte.

13 „Du magst dich sicher fragen, wo wir sind.“ Scott ergriff

14 derart unerwartet das Wort, dass ich zusammenzuckte. „Ich

15 will es dir sagen, mein Junge. Wir befinden uns im

16 südlicheren Teil des Forstes, exakt achtzehneinhalb

17 Kilometer von meinem Anliegen entfernt und weitere

18 siebenundzwanzig von dem nächstgrößeren Dorf. Dich


19 verunsichert unsere Spazierfahrt wahrscheinlich. Ich

20 jedenfalls würde dir dies nicht verübeln.“ Er lachte

21 versuchsweise, aber es klang kalt und emotionslos, während

22 er dem Fahrer mit einem knappen Handzeichen verdeutlichte,

23 unmittelbar vor der Kurve zu halten.

24 „Wieso bringen Sie mich hierher?“ Was mochte dem

25 Meister gerade an dieser Stelle liegen? Bäume, soweit das

26 Auge reicht, nur mäßiger Verkehr… Allmählich näherte sich

27 der Finger dem Lichtschalter. Die Glühbirne flackerte kurz,

28 dann begann sie grell aufzuleuchten. Doch die Gedanken am


29 Horizont der Dämmerung jagten mir einen Schauer über den

30 Rücken.

250
1 „Steig aus!“, befahl Scott barsch, wobei er den

2 Sicherheitsgurt löst. Langsam setzte ich mich auf, rieb mir

3 behutsam mit den Fingern über die pochende Schläfe. Ich

4 wollte nicht aussteigen. Unter gar keinen Umständen! Wenn

5 ich das Auto verließ, könnte der Mann mich sofort töten,

6 noch ehe ich überhaupt registriert hätte, was geschehen war.

7 Würde er es hier drinnen tun, müsse er anschließend das Blut

8 von den Sitzen scheuern. Sicherlich eklig, die ganzen

9 winzigen, rotbraunen Flecken. Na, wenigstens würden sie sich

10 dann einmal ernsthafte Sorge um dich machen, dachte ich

11 verbitterte. Von außen wurde die Tür aufgerissen, das

12 Verdeck zurück gefahren, sodass ich dem völlig ausgeliefert

13 war. Okay, soviel zu deinem Plan… Widerwillig kletterte ich

14 daher aus dem Cabrio, als ich erstaunt ein weiteres Fahrzeug

15 bemerkte, welches ebenfalls am Straßenrand parkte: Ein

16 Kleinlaster mit ausgebeulten Türen, einem zersprungen

17 Spiegel, verdreckten Scheiben. Der Fahrer, ein

18 Dunkelhäufiger mit verfilztem Bart, sprang aus seiner


19 Kabine. Ihm folgte der Geruch von Zigarrenrauch und Schweiß,

20 der wohl noch drei Meilen entfernt zu riechen sein würde.

21 Faszinierend, wie der zweite Mann, der nun einen gefesselten

22 Dritten hervorzerrte und ihn neben sich über die Straße zu

23 uns herüberführte, diesen Gestank überleben konnte. Aber ich

24 schätzte, dies wäre mein wahrscheinlich kleinstes Problem.

25 Im Grunde stand ich schutzlos am Rand einer Kurve und wurde

26 von allen Seiten umzingelt. Hinter mir die Fahrzeuge,

27 rechts, wo man nun Zarin mit dem Rücken gegen die Rinde

28 presste, die Bäume, links das Stinktier und der gepflegte


29 Fahrer des Cabrio. Und vor mir, vor mir wurde die Sicht

30 durch einen durchtrainierten Oberkörper verdeckt, zu dem ich

251
1 nun gezwungen war, aufzusehen. Aussichtslos, meine Chancen

2 aus dieser Lage unbeschadet herauszukommen, standen gleich

3 null. Alleine zumindest. Hilfe suchend sah ich zu Zarin

4 herüber, der abweisend den Kopf schenke, als wolle er nicht

5 sehen, was nun geschah. Aber was, was wollte er verbergen?

6 Und warum? Was war passiert? Weshalb hatte man nun auch ihn

7 hierher gebracht? Oder besser, warum waren wir überhaupt

8 hier? Das ergab doch alles keinen Sinn. Den Meister kostete

9 es lediglich Zeit, Zarin womöglich sein linkes Augen.

10 „Wieso bringen Sie mich hierher?“, fragte ich deshalb ein

11 zweites Mal, während ich unruhig das Gewicht von einem Fuß

12 auf den anderen verlagerte. Mir missfiel diese Situation.

13 Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht. Etwas war faul und

14 es waren nicht die Zähne des Fahrers. Weshalb veranstaltete

15 Scott einen derartigen Aufstand, bloß, um mit dir einen

16 Ausflug in den Wald zu unternehmen? Wohl kaum, um die

17 Blätter der verschiedenen Pflanzen zu sammeln. All dies

18 stand in keinerlei Zusammenhang. Oder etwa doch?


19 „Sei nicht so ungeduldig.“, erwiderte der Sir, auf einen

20 Baum zu wandernd. „Siehst du diese Kratzer dort an der

21 Rinde?“

22 Verwirrt kniff ich die Augen zusammen, mich ebenfalls der

23 bestimmte Pflanze nähernd, auf die er mit dem Zeigefinger

24 seiner rechten Hand deutete. Natürlich, sie waren kaum

25 übersehbar, vorausgesetzt man mochte nicht blind sein.

26 „Lackspuren. Kratzer. Zwar ein wenig verwischt, aber

27 dennoch deutlich sichtbare Kennzeichnungen eines Unfalls.

28 Vermutlich ist der Fahrer bei zu hoher Geschwindigkeit in


29 dieser Kurve ins Schleudern geraten und frontal mit diesem

30 Baum zusammengestoßen. Den Verletzungen der Rinde zur Folge

252
1 musste der Mann oder die Frau kaum Überlebenschancen gehabt

2 haben. Vor allem, da man hier draußen niemanden findet.“

3 Papa! Keinen Sicherheitsgurt angelegt. Die Kontrolle über

4 den Wagen verloren. Konnte dem sich rasend nähernden Baum

5 nicht mehr ausweichen. Zu spät. Hier also, hier ist Papa…

6 Nein! Nein, ich wollte den Gedanken nicht zu Ende führen.

7 Nein. Niemals. Papa lebt. Bestimmt hat der den Unfall

8 genutzt, um unterzutauchen, und wollte mich später holen.

9 Ja, genau so musste es sein. Er ist schließlich ein Held und

10 Helden sterben nie.

11 Scott, der meine Gedanken gelesen haben zu schien, zuckte

12 mit den Achseln. „Dein Vater war auf der Stelle tot…“,

13 entgegnete er, ohne seinen Blick von der wilden Struktur der

14 Lackspuren zu lösen. Kurz rauschten lediglich die Blätter im

15 Wind, ansonsten war es ungewöhnlich still. Beinahe so, als

16 ob all das Leben aus diesem Ort gewichen war. Totenstille,

17 betroffenes Schweigen. Dann ein plötzliches Räuspern. „…aber

18 bereits vor dem Aufprall.“


19 Der Meister sah mich unbeteiligt von der Seite an, um

20 meine Reaktion auf diese Worte abzuschätzen. Doch es gab

21 keine Reaktion, weil ich nicht verstand. Dein Vater war auf

22 der Stelle tot, aber bereits vor dem Aufprall. Wie sollte

23 ein Mensch… Wie sollte ein Mensch bei einem Autounfall

24 sterben, ohne dass es einen Autounfall gegeben hat? Sogar

25 jedes Baby wusste, dass ein Fahrzeug erst nach einen Crash

26 mit einem anderen kaputt sein würde. Jeden Sonntag konnte

27 man es bei der Formel 1 mitverfolgen. Im Fernsehen, im

28 wahren Leben auf den deutschen Straßen. Jeden Tag. Nun


29 stellte der Sir all das Logische in Frage, indem er das

30 Gegenteil behauptete. Dein Vater war auf der Stelle tot,

253
1 aber bereits vor dem Aufprall. Auf der Stelle tot vor dem

2 Aufprall. Ich fuhr mir mit der verschwitzten Hand über die

3 Stirn. Unmöglich. Völlig unmöglich. Papa vor dem Aufprall

4 tot. Ich habe dich tausende von Wegen sterben lassen, Papi.

5 Tausende Bilder, Skizzen habe ich gemalt. Immer nach dem

6 dasselbe Muster. Eine scharfe Kurve. Mal musstest du einem

7 Tier ausweichen, mal nahmst du einen letzten Schluck Kaffee

8 aus deiner Tasse. Jedes Mal habe ich in deine weit

9 aufgerissenen Augen gestarrt, Papa, jedes Mal bevor du

10 bemerktest, dass du sterben würdest. Jedes Mal habe ich

11 hilflos auf dem Rücksitz gekauert, habe dich warnen wollen.

12 Aber kein Mal, nicht ein einziges Mal, habe ich einen

13 Gedanken daran verschwendet, dass es ein anderes Bild sein

14 könnte, das ich zeichnen musste.

15 „Das hast du nicht gewusst, wie? Nun, ich denke, dein

16 Freund hat dir etwas verschwiegen.“ Scott stolzierte zu

17 Zarin herüber, presste ihm den Zeigefinger unters Kinn,

18 damit er aufsah, wobei er mit einem Kopfnicken befahl, die


19 Fesseln zu lösen. „Vielleicht solltest du ihn danach fragen.

20 Nur zu, ich erlaube es dir, mein Junge.“

21 Entsetzt ließ ich meinen Blick zwischen den beiden Männer

22 hin und her wandern. Verständnislos. „Zarin?“

23 Der Genannte hob traurig den Kopf, erwiderte jedoch

24 nichts.

25 „Was ist wahr? Was ist passiert? Was verschweigst du mir?“

26 „Es tut mir Leid, Tim. Es tut mir so leid.“ Zarin strich

27 mir mit seiner dreckigen Hand über die Wange, doch ich stieß

28 ihn von mir.


29 „Was?“, fragte ich beinahe schreiend.

254
1 Scott lächelte, über den Stein, den er ins Rollen gebracht

2 hatte. „Los sag‟s ihm.“

3 Sag‟s mir, Zarin. Bitte, sag„s mir…

4 Tief holte der Togolese Luft. Ein feuchtes Glitzern im

5 Augenwinkel.

6 „Ich weiß nicht, ob du dich daran erinnern kannst. An den

7 Tag, an dem ihr in unserem Dorf um Aufenthalt betteltet. Ein

8 heißer Februartag. Es war kein Zufall, selbst wenn es dir

9 vielleicht so vorgekommen sein musste. Noch bevor ihr

10 überhaupt einen Fuß auf afrikanisches Land gesetzt hattet,

11 hat der Meister mir befohlen, euch ständig zu beobachten.

12 Wir trauten deinem Vater nicht. Nicht, dass er nicht ein

13 großartiger, intelligenter Mensch gewesen ist, der von

14 ungeheurer Wichtigkeit für die Zukunft von M.A.S war. Nein.

15 Aber wer wusste schon, welche Absichten er besaß? Ich

16 jedenfalls…“ Zarin machte eine Atempause. Es fiel ihm

17 sichtlich schwer, das Gesehene in Worte zu fassen. „Ich

18 hatte die Aufgabe, herauszufinden, wer er war, mit wem er in


19 Verbindung stand. Wie er die Gabel an den Mund führte. Ob er

20 Links- oder Rechtshänder war. Ob er irgendwelche Schwächen,

21 irgendwelche körperlichen oder geistigen Beschwerden hatte.

22 Diabetes, Allergien, Rückenschmerzen, abhängig vielleicht?

23 Das Letztere traf leider zu. Jeder Körper hat eine Schwäche,

24 weißt du. Sie liegt meist tief verborgen. Doch findet man

25 sie, ist es leicht, sie demjenigen zum Verhängnis zu

26 machen.“

27 „Du bist also ein Spion? Wie James Bond?“

28 „Sozusagen ja. Auch wenn ich James Bond nicht kenne.“


29 Ich nickte langsam. Ein weiteres Puzzleteil rückte an

30 seinen Platz. Aber… „Aber, wenn du alles wusstest, warum

255
1 wusste der Meister, als er mich sah, nicht, dass Papa einen

2 Sohn gehabt hat?“

3 Zarin lächelte. „Er hat mich nie danach gefragt.“

4 „Ich hätte niemals damit gerechnet, dass River ein Kind in

5 die Welt gesetzt hatte.“ Scott, der auf einem für ihn

6 aufgestellten Klappstuhl Platz genommen hatte, erhob sich

7 nun. „Bis du vor mir hocktest.“ Mit der Hand wedelnd, um die

8 Moskitos zu vertreiben, signalisierte er dem Afrikaner, dass

9 dieser weiter zu sprechen hatte.

10 „Dein Vater hat zunächst von dieser Beschattung nichts

11 bemerkt. Alles lief nach Plan. Dann dieses… dieses

12 Missgeschick…“ Hoffnungsvoll warf er Scott einen flehenden

13 Blick zu, damit er die Geschichte zu Ende erzählte, aber

14 dieser wich mit einem Kopfschütteln aus. „Irgendwie musste

15 River dahinter gekommen sein. Meine Deckung flog auf. Ich

16 hatte versagt. Dafür, für diesen Fehler, sollte ich… sollte

17 ich an ein Forschungsinstitut verkauft werden. Dein Vater

18 selbst leitete diesen ‚Handel‟. Zuverlässig, skrupellos.


19 Perfekt im Dunkeln. Aber, als er erkannte, wen er an diesem

20 Tag, dem 25. Mai, zum Schlachter führte, welches arme

21 Schwein, verweigerte er den Befehl. Wie dumm von ihm. Das

22 kommt einem Verrat gleich. Und bei Verrat…“

23 „Im Falle eines Verrates durch den eigenen Willen wird

24 diese Ernennung unwirksam und der Ankläger kann je nach Tat

25 mit dem Tode oder der vollständigen Ausschließung bestraft

26 werden.“ Diese Zeilen des Vertrages tauchten plötzlich in

27 meinen Gedanken auf.

28 „Sehr gut, Nummer 448.“ Begeistert klatsche der Meister in


29 die Hände. „Ein Jammer, das er das Kleingedruckte nicht

256
1 gelesen hatte, bevor der dieses Bündnis mit Kamikaze

2 einging.“

3 Dein Vater war auf der Stelle tot, aber bereits vor dem

4 Aufprall… und sein Mörder war nicht die Kurve gewesen,

5 sondern… „Sie haben ihn getötet! Sie haben mir meinen Vater

6 genommen!“

7 Ich hatte es gespürt, lange bevor es in greifbare Nähe

8 rückte. Unbewusst trug ich dieses grausame Geheimnis in

9 meinem Herzen. Wie eine tickende Bombe, eine Sanduhr. In

10 gewisser Weise schockierte mich die Wahrheit nicht. Papa war

11 ermordet worden. Ermordet, wie sonst nur die fremden

12 Menschen bei einem Tatort oder einem Fernsehkrimi. So

13 manches Kind wäre sicherlich an meiner Stelle

14 zusammengebrochen - doch ich konnte nicht. Meine Gedanken

15 waren leer, völlig kalt. Papa…

16 „Nein, ich habe ihn nicht umgebracht.“, entgegnete Sir

17 Scott, abwehrend die Hände gehoben. „Das hat er selbst

18 gemacht, indem er diesem Mann…“ Er deutete auf Zarin. „Indem


19 er diesem Mann das Leben schenkte.“

20 Ein überladener Bus näherte sich von Süden der Kurve.

21 Hupend grüßte der Fahrer und auch die anderen Insassen

22 winkten, überrascht, hier Menschen anzutreffen. Scotts

23 Wächter ihrerseits gestikulierten dem nun langsam werdenden

24 Transporter, dass dieser sich nicht weiter um sie scheren

25 sollte. Alles sei in bester Ordnung. Nein! Von einem inneren

26 Zwang getrieben wollte ich auf die willkommene Hilfe zu

27 stürzen. Aber damit hatte der Meister gerechnet. Unauffällig

28 stellte er sich hinter mich, um mir drohend ins Ohr


29 flüstern, dass ich auf der Stelle tot sein würde, riskiere

30 ich auch nur den vagen Versuch, zu fliehen. Ich nickte

257
1 seufzend. Es hätte keinen Sinn. Der Mann wäre tatsächlich zu

2 allem fähig. Und wenn ich die Businsassen mit einbezöge,

3 würde ich ihre Sicherheit ebenfalls gefährden. So musste ich

4 widerwillig zu sehen, wie der Fahrer ein letztes Mal hupte

5 und schließlich seinen Weg fortsetzte.

6 Als der Bus beinahe am Horizont verschwunden war, wandte

7 sich Scott uns lächelnd zu: „Das war es dann wohl, schätze

8 ich. Sieh es ein, mein Junge, du bist dazu verdammt, alleine

9 zu sein. Für immer. Ich weiß, wie das es ist. Es ist kein

10 schönes Gefühl, sicher. Stell dir vor, es kann nur einen

11 treffen. Aber es wird einen treffen. Und dieser eine bist

12 du.“

13 „Das gilt vielleicht für Sie. Ich bin nicht alleine. Ich

14 habe Freunde.“, erwiderte ich bestimmt. Kay. Tess und ihre

15 Tanzlehrerin. Jabali, der Wächter. Reni. Keenan, die anderen

16 Dorfbewohner. Mathieu, vielleicht. Und Zarin. Sie alle waren

17 in Gedanken immer bei mir. Immer. Ermutigten mich, gaben mir

18 Kraft. Immer. Sie beschützten mich. Vor allem Mama und Papa,
19 wenn er nicht im Himmel dort oben ebenfalls etwas Wichtiges

20 zu tun hatte.

21 „So? Wo denn? Tolle Freunde, die einen verraten, findest

22 du nicht auch?“

23 „Nur weil man Sie im Stich gelassen hat, heißt das nicht,

24 dass es für mich auch zu trifft!“

25 „Vielleicht, vielleicht auch nicht. Nummer 255 möchten Sie

26 dem Jungen nicht sagen, wie sein Papi gestorben ist?“

27 Erschrocken fuhr Zarin zusammen. „Ich…“, stotterte er, den

28 Rücken gegen den Baum gepresst. „Ich… Ich kann nicht.“ Sein
29 linkes Auge zuckte. Tränenflüssigkeit, gemischt mit Blut,

30 bildete darüber eine winzige Nebelschicht.

258
1 „Wie? Was haben Sie gesagt? Ich habe es nicht verstanden.“

2 „Ich kann nicht.“

3 „Natürlich, natürlich. Ich könnte einem Kind auch nicht

4 erzählen, dass ich seinen Vater umgebracht hätte.“

5 „Was?!“, brach es lautlos aus mir heraus. „Du?!“

6 „Man ließ mir keine andere Wahl.“

7 Getroffen sank ich auf die Knie, die Hände im Gras

8 verkrampft, um nicht zu weinen. Zarin hat Papa… Nein… Wie

9 konnte Zarin so etwas nur tun? Dein Freund, der dich vor dem

10 Meister, vor der bösen Welt dort draußen, hat warnen wollen.

11 Wie konnte man so tun, als ob all dies nie geschehen wäre?

12 Hatte er Papa erschossen, erstickt? Deinen Papa. Bitte, Tim,

13 bitte wach aus diesem Albtraum auf.

14 „Es tut mir Leid, Tim. Ich habe es nicht gewollt.“

15 „Du hast mir meinen Vater gestohlen! Meinen Vater!“

16 „Es tut mir Leid.“

17 „Davon kann ich Papa auch nicht zurückholen. Die Engel,

18 die haben ihn. Denen hast du ihn geschenkt. Und geschenkt


19 ist geschenkt.“

20 Tief atmete ich durch. Ich hatte nur noch eine Frage. Eine

21 Einzige. Ich war mir nicht sicher, ob ich es wirklich wissen

22 wollte, aber… „Wie ist Papa gestorben?“

23 „Es ging alles sehr schnell. Ich bin mir sicher, er hat es

24 kaum gespürt.“ Aufgewühlt kratzte Zarin über seinen Arm.

25 Innerlich wie äußerlich erlebte er dieses schreckliche

26 Ereignis ein zweites Mal durch. „Dein Vater hat mich laufen

27 gelassen. In der Nähe von Kpalimé. Ich weiß noch, wie er zu

28 mir sagte, ich solle mich verstecken. Jemanden anrufen. Er…


29 Er würde sich darum kümmern, dass niemand je erfuhr, was

30 geschehen sei. Dann war er weg, wohin sagte er nicht.

259
1 Einfach weg. Und ich? Ich streunte immer noch schockiert,

2 ziellos, über den Markt, über die Straßen. Vermutlich hatte

3 ich Glück, dass mich dabei kein Bus erwischt… Oder Pech.

4 Jedenfalls fand ich ein Internetcafé. Dasselbe, indem ich

5 dich getroffen habe. Sah das Telefon auf dem Tresen und

6 wählte - die erste Nummer, die mir einfiel.“ Er schluckte,

7 japste nach Luft. „Es war die von dem Meister. Und als ich

8 mir dessen bewusst wurde, war es bereits zu spät. Natürlich

9 ahnte man in der Villa sofort, dass die Übergabe gescheitert

10 sein musste. Schließlich wäre ich andernfalls niemals dazu

11 in der Lage gewesen, zu telefonieren. Damit habe ich selbst

12 das Todesurteil des Menschen unterzeichnet, der mir das

13 Leben gerettet hatte. Aber… Aber es wurde noch schlimmer.

14 Sie fanden mich schreiend gegen eine Häuserwand gepresst.

15 Ich dachte, jetzt sei es aus. Jetzt töteten sie dich doch,

16 Zarin. Doch seltsamerweise behandelte man mich wie einen

17 Helden. Damals habe ich dies nicht verstanden. Ich war

18 schließlich ein geflohener Versager. Ein Niemand. Nun aber,


19 als sie mich in dem Kleinlaster zurück zu dem Anliegen

20 brachten, feierte man mich. Wieso, fragte ich mich, wieso.

21 Erst hinterher wurde es mir klar. Ich hatte einen Aufgabe:

22 Ich sollte deinen Vater töten, den größeren Verräter von uns

23 beiden. Anfangs weigerte ich mich gegen diesen Befehl, doch,

24 als sie mir damit drohte, mich zu ertränken, willigte ich

25 ein. Ich weiß, Tim, du hältst mich für einen Feigling. Und

26 der bin ich auch. Aber ich hatte Angst, verstehst du? Ich

27 hatte Angst, zu sterben, wie Ismen, meine Frau. Ich war noch

28 nicht bereit dafür. Und so… So stellte ich deinem Vater eine
29 Falle. Hier, hier in dieser Kurve. Wir wussten, River würde

30 dort vorbeikommen, wenn er in Lomé untertauchen wollte. So

260
1 wartete ich. Zehn Minuten, zwanzig, vielleicht auch länger.

2 Ich habe jedes Gefühl von Zeit verloren, überhaupt spürte

3 ich weder Schmerz noch Trauer. Nichts, nur die Kälte, die

4 spüre ich.“ Seine Hände zitterten merklich. „Noch heute,

5 wenn ich daran zurückdenken“, fügte er hinzu, bevor er im

6 Flüsterton weiter sprach. „Siehst du das Dickicht dort

7 drüber? Dort habe ich gelegen, versteckt, lauernd. Alleine.

8 Nur die beiden Messer in meinen tauben Händen. Wie Freunde

9 umklammerte ich sie. Es musste gegen Abend gewesen sein. Ja,

10 in der Dämmerung des 25. Mais. Das Cabrio deines Vaters

11 schoss heran. Ich sah ihn, deinen Papa, jedes einzelne Haar,

12 die kleine Falter auf seiner Stirn. Beinahe mechanisch hob

13 ich die rechte Hand. Nein, ich konnte nicht. Nicht werfen,

14 dachte ich noch, auf gar keinen Fall, als sich plötzlich

15 meine Finger um die beiden Messer lösten. Zu spät. Das Erste

16 bohrte sich in den Hals, das Zweite grub sich in den linken,

17 hinteren Reifen, sodass das Auto ins Schleudern geriet und…

18 und gegen den Baum stieß. Gesehen habe ich es nicht. Ich
19 konnte nicht. Wollte nicht sehen, was ich getan hatte. Ich

20 habe einen Menschen getötet. Einen Mann mit einem kleinen

21 Kind. Gehört habe ich lediglich diesen dumpfen,

22 entsetzlichen Schrei, dann den lauten Zusammenprall wie

23 einen Donner. Und dann… dann ganz plötzlich nichts mehr.

24 Stille, unheimlich Stille. Tot, vermutlich war dies das

25 richtige Wort dafür. So jedenfalls fühlte ich mich. T-o-t.

26 In gewisser Weise bin ich in dem Moment gestorben, als das

27 Messer aus dem Dickicht auf mich zu schoss. In Gedanken war

28 ich der Fahrer gewesen und nicht dein Vater. So wäre es


29 gerecht. Erst, als sich die Nacht über den Tag senkte, wie

30 ein schwarzes Leichentuch mit vielen, funkelnden Sternchen,

261
1 traute ich mich, in den Spiegel zu sehen, indem ich… indem

2 ich von mir selber aus dem Fahrzeug gezogen und ins Gras

3 gebetet wurde. Überall Blut, auch an meinen Fingern, meinem

4 ganzen Körper. Was in den folgenden Stunden passierte, weiß

5 ich nicht mehr. Irgendwann so gegen Mitternacht tauchte ein

6 Polizist auf, daran erinnerte ich mich noch. An seinen

7 lustigen Schnurbart.“ Zarin lächelte versuchsweise. „ Dem

8 habe ich erzählt, der Mann neben mir hätte einen Autounfall

9 gehabt - das wonach es den Anschein erweckte. Keine Fragen.

10 Freilich glaubte er mir und so fuhr er fort, um auf meine

11 Bitte hin die traurige Nachricht im Dorf zu verkünden. Es

12 war das Letzte, was ich tun konnte. Kurz habe ich dabei auch

13 an dich gedacht. An Rivers kleinen Sohn, dem ich den Vater

14 genommen hatte… Tim, ich weiß, du glaubst mir nicht. Aber

15 ich habe in jener Nacht geschworen, dass ich auf dich

16 aufpassen werde. Heimlich. Ich war dabei, als du Kay vor den

17 Hyänen rettetest. Das war mutig von dir. Rührend. Ich war

18 stolz auf dich, stolz wie auf ein eigenes Kind. Für eine
19 Weile habe ich durch dich dieses Erlebnis verdrängt - bis

20 ich eines Morgens feststellte, dass du mit Mathieu geflohen

21 warst. An jenem Morgen, an dem ich dich sicher nach

22 Deutschland zurückbringen wollte. Ganz, wie ich es deinem

23 Vater versprochen habe. Zunächst habe ich all dies nicht für

24 möglich gehalten. Warum sollten zwei kleine Jungen von zu

25 Hause weglaufen? Doch, als ich dich dann später in Kpalimé

26 wieder fand und erkannte, dass du Rivers Email geöffnet

27 hast… Ich habe versucht, dich aufzuhalten, aber bevor ich

28 reagieren konnte, war es zu spät. Zum zweiten Mal in meinem


29 Leben zu spät. Du bist den Spuren deines Papas gefolgt. Bis

30 hierher, Tim.“

262
1 Schweigen. Es gab nichts mehr zu sagen. Die Geschichte war

2 erzählt. Die Geschichte meines Papas, eines Helden. Jedes

3 Wort, jeder Tonfall, jedes Bild, welches dabei in meinem

4 Kopf entstanden war, brannte sich in mein Gedächtnis. In

5 gewisser Weise betete ich, dass es sich bei dem tatsächlich

6 um eine Lüge handelte. Dass Zarin plötzlich losprusten würde

7 und mit einem jodelnden Applaus, Papa auf die Bühne bat.

8 Aber dem war nicht so. Dem sollte nie so sein, nie mehr.

9 Vielleicht ist es Schicksal, bestimmt ist es die Wahrheit.

10 Du bist alleine, Tim. Für immer alleine. Alleine in diesem

11 dunklen, verlassenen Erdloch, fern ab deiner Heimat, fern ab

12 deines Hauses mit den alten Holzstufen, die jeden Abend beim

13 Zubettgehen wie die Rasseln eines Gespenstes knirschten,

14 oder der Küche, aus der es immer so gut gerochen hatte, wenn

15 Mama lachend den Kochlöffel im Kreis führte und dir ein

16 Kinderlied vorsang, wobei du auf dem Spielteppich neben der

17 Sitzbank knietest und mit die Autos und Legomännchen durch

18 die Landschaft fuhrst. Manchmal, wenn Papa gut gelaunt war,


19 trugt ihr auch ein Rennen auf den Stoffstraßen aus. Diese

20 Zeit würde nie wieder zurückkommen.

21 Ich zitterte. Ein Zucken durchfuhr meinen Körper. Tränen

22 liefen mir über die Wangen, blutige Tränen. Ich wollte

23 aufstehen, vergessen, weglaufen vor mir, vor dem gesamten

24 Universum. Doch ich konnte nicht. Wohin auch? In den Urwald

25 hinein vielleicht, wenn ich es schaffte… was bei den

26 Aasgeieraugen geradezu unmöglich schien? Zögernd hob ich den

27 Kopf ein Stück, wobei sich Zarins und mein Blick kurz

28 trafen. Der Afrikaner zwang sich ein müdes Lächeln auf,


29 obwohl er ebenso wie ich wusste, dass kein Lächeln dieser

263
1 Welt das wieder gut machen konnte, was er mir angetan hatte.

2 Du hast mir Papa genommen.

3 Ich öffnete den Mund, um etwas zu entgegen, schloss ihn

4 jedoch wieder. In der Ferne donnerte es und die ersten

5 Tropfen prasselten auf meine Schultern. Sehr bald würde ein

6 Gewitter losbrechen. Scott, der die Hände in den Himmel

7 gehoben hatte, als könne er so die Wolken teilen,

8 gestikulierte seinen Wächtern, uns zu fesseln und zu den

9 Fahrzeugen zu führen, gereizt, dass etwas nicht nach seinen

10 Vorstellungen verlief. Niedergeschlagen kroch ich auf allen

11 Vieren rückwärts, den Blick nicht von den sich bedrohlich

12 nähernden Männern abwendend. Lasst mich in Ruhe!

13 Verschwindet! Zarin, der mich immer noch ansah, rührte sich

14 nicht. Lediglich seine aufgeplatzten Lippen formten ein

15 „Vergib mir.“ Ein Gemisch aus Blut und Wasser lief in seinen

16 Mund. Blitze jagten über den nachtschwarzen Himmel. Bäume

17 bogen sich im aufkommenden Wind. Die warmen Tropfen schoss

18 wie die Kugeln einer Pistole auf uns herab. Schützend hielt
19 ich mir die Hand vor Augen. die Beine nahe an meinen Körper

20 heranziehend. Vielleicht wäre es besser, freiwillig

21 aufzugeben. Sowie Zarin, der die Hände hob. Er hatte

22 versagt. Zum zweiten Mal. Mit eisernem Griff wollte einer

23 der Gorillas mich hoch zerren. Ich wehrte mich nicht,

24 kauerte mich nur wie ein kleines Tier zusammen. Es wäre

25 ohnehin sinnlos gewesen, Widerstand zu leisten. Der Mann war

26 größer und um einiges stärker als ich. Dennoch hielt er

27 plötzlich inne. Entsetzt schoss sein Kopf herum. Ich folgte

28 seinem Blick verwundert. Obwohl die Sicht verschwommen war,


29 konnte ich eine Gestalt ausmachen, die sich auf eine weitere

30 Abgewandte stürzte. Zarin! Ein Schrei. Donnergrollen. Ohne

264
1 mich länger zu beachten, rannte der Wächter seinem Meister

2 zur Hilfe. Erschrocken rappelte ich mich auf, beobachtete

3 den ungleichen Kampf. Die drei Gorillas schlugen auf den nun

4 am Boden liegenden Afrikaner ein. Traten ihm gegen den Kopf,

5 in den Bauch. Scott seinerseits presste sich die Hand auf

6 die Stirn, humpelte fluchend davon. Zarin, nein! Ihr tut ihm

7 weh! Ich wollte ihn verteidigen - gleich was er getan hat,

8 gleich, ob er mir den Vater genommen hat - aber meine Beine

9 gehorchten mir nicht mehr. Verdammt, lasst mich zu ihm! Seht

10 ihr nicht, dass sie ihn totschlagen?! Anstatt nachzugeben,

11 trugen sie mich in die andere Richtung davon. Immer

12 schneller, immer weiter. Braun, dunkelgrün, schwarz. Nur

13 grobe Farbtupfer in Mitten einer endlosen Landschaft. Im

14 Lauf sprang ich über eine Wurzel, stolperte, fiel ins Laub.

15 Mein Herz drohte, meinen Brustkorb zu zerreißen. Mit

16 ausgestreckte Armen lag ich da, den Kopf zur Seite gedreht,

17 um Atem zu schöpfen. Der Ekel erregende Geschmack von Blut

18 füllte meinen Mundraum und, als ich die Lippen öffnete,


19 sprudelte das Rot hinaus, verfärbte den Boden neben mir. Es

20 donnerte noch, ansonsten war es still. Von Zarin und den

21 Männern war nichts mehr zu hören. Kein Schrei, keine dumpfen

22 Schläge. Ob die Engeln auch ihn bereits geholt hatten? Oder

23 kämpfte er noch dagegen an, wovor er die ganze Zeit über

24 Angst gehabt hat? Immer noch auf dem Bauch liegend faltete

25 ich die zitternden Hände zum Gebet. Lieber Gott, wie viele

26 meiner Freunde möchtest du noch zu dir holen, um mich

27 endlich zum Schweigen zu bringen? Zarin war kein guter

28 Mensch, schätze ich. Er hat Papa ermordet und derjenige, der


29 mordet, verstößt gegen eines der zehn Gebote. Aber das

30 konnte er nicht wissen! Er glaubt an einen anderen Gott. Und

265
1 außerdem, du dort oben im Himmel, hätte ich ihm verziehen.

2 Nun ist es zu spät. Deinetwegen. Nun wird auch er bald an

3 dein Tor klopfen. Bitte lass ihn herein. Hier unten ist es

4 kalt und er hat es nicht verdient, zu frieren. Bitte, lieber

5 Gott, wenn es dich wirklich geben sollte als den gerechten

6 Herrscher, bitte…

7 Wie ein Soldat robbte ich ein Stück durch das Laub, den

8 Blick bei jedem Meter prüfend umherschweifen lassend. Vor

9 Scotts Männern wäre ich erst einmal sicher. Vermutlich haben

10 sie noch nicht bemerkt, dass ich geflohen war, so sehr

11 mochten sie mit dem Verarzten ihres heiligen Meisters und

12 dem Fortschaffen des leblosen Körpers beschäftigt sein.

13 Hoffte ich jedenfalls. Und selbst wenn sie es bemerkten,

14 würden sie Zeit brauchen, um den Wald zu durchforsten, wozu

15 sie frühestens in den Morgenstunden aufbrechen konnten, denn

16 sogar der Sir musste einsehen, dass es geradezu unmöglich

17 wäre, einen Jungen bei Dunkelheit im dichten Unterholz

18 aufzuspüren - vorausgesetzt, er wollte nicht mit Flutlicht


19 und Helikoptern nach mir suchen lassen. Seufzend rappelte

20 ich mich auf. Dieser Urwald war das reinste Chaos, schlimmer

21 als jedes Maislabyrinth und viel schlimmer als aus der Sicht

22 eines Playmobilkindes in meiner Spielkiste. Wenn ich mich

23 hier verlief, würde ich nie wieder zurückfinden. Das wäre

24 das Schrecklichste, was ich mir vorstellen konnte. Nur einen

25 falschen Schritt… Ich wollte es mir nicht ausmalen. Doch

26 welcher Weg war der richtige? Oder besser, wohin wollte ich

27 eigentlich? Der Wald war riesig, endlos groß. Also… wohin?

28 Weg, einfach nur weg von der Straße, schoss es mir durch den
29 Kopf, weg von Scott, ganz, ganz weit weg. Zögernd lief ich

30 los, immer wieder einen Blick über die Schulter

266
1 zurückwerfend. Der Dschungel Afrikas hatte mich bereits wie

2 eine Tablette im Mund verschluckt. Turmhohe Bäume

3 umzingelten mich wie Zähne; dazwischen spannte sich die

4 schwüle Luft. Gelegentlich konnte man auch den Atem hören,

5 wenn ein Papagei kreischte oder ein Affe von Ast zu Ast

6 schwang. Moskitos, die meinen Schweiß gerochen haben musste,

7 summten vor meinem Gesicht. Hastig versuchte ich, nach ihnen

8 zu schlagen. Ohne Erfolg. Plötzlich berührte mich etwas

9 leicht am Rücken. Kaum vernehmbar, aber dennoch bewegte sich

10 etwas. Ich wusste es erst mit Sicherheit, dass da etwas war,

11 als es über meine Schulter und den Poloshirtkragen auf

12 meinen Nacken kroch - aber das war es bereits zu spät.

13 Vorsichtig drehte ich den Kopf zur Seite. Und dann sah ich

14 sie im äußersten Winkel meines Blickfeldes: Eine Spinne. Sie

15 hing seitlich an meinem Nacken, knapp unterhalb meines

16 Kiefers. Ich schluckte. Nicht, dass ich Angst vor diesen

17 Viechern gehabt hätte. Nein, es war etwas anderes, das mich

18 entsetzte: Die Tatsache, dass es sich bei dieser hier um


19 keine Hausspinnchen, sondern eine im afrikanischen Urwald,

20 handelte. Wie eine reife Orange auf haarigen Beinen,

21 schwarz, ohne Kopf, absolut hässlich, kletterte sie über

22 meine linke Gesichtshälfte. Augenblicklich versteifte sich

23 mein Hals, lediglich die Ader pochte wild. Ohne mir das Tier

24 genauer anzusehen, ahnte ich, dass ihr Gift tödlich war. Wie

25 so ziemlich alles auf diesem Kontinent. Panisch wollte ich

26 dieses eklige Ding mit der Hand weg schlagen. Vielleicht

27 hätte ich Glück. Doch wenn ich Pech hätte, wären zwei,

28 winzige, rote Punkte auf meiner Haut zu sehen sein, bisse


29 sie dabei zu. Schnell würde sich das Gift in meinem Körper

267
1 verteilen. Innerhalb einer Stunde geriete ich in Atemnot

2 und,

3 während ich taumelnd durch den Wald irrte, wären die

4 Krämpfe nicht auszuhalten. Irgendwann schliefe ich ein und

5 erwachte nie wieder - mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit.

6 Nein! Ich hatte es nicht bis hier her geschafft, um mich

7 dann von dieser grauenhaften Kreatur fertig machen zu

8 lassen! So mal ich zwanzig Köpfe größer war. Dennoch konnte

9 ich nicht klar denken. Ein Bein berührte meine trockenen

10 Lippen. Sofort zuckte ich zusammen, sodass das Tier

11 zurückwich. Nein, nicht beißen! Kerzengerade stand ich da.

12 Die Spinne machte es sich an meinem Hals bequem, um

13 genüsslich meine Ader zu beobachten, als liefe dort ein

14 spannender Kinofilm. Innerlich atmete ich erleichtert auf.

15 Bewegungslos huschten meine Augen von dem Insekt durch den

16 Urwald. Mir blieb nicht mehr viel Zeit, bis es sich

17 entschied, dieses Nervenspiel zu beenden. Und ich hatte nur

18 eine einzige Chance. Wir hatten in der Schule die Spinnen


19 erst später durchnehmen wollen - zu spät. Vermutlich wäre

20 mir sowieso nichts mehr eingefallen. Im Blickwinkel erkannte

21 ich den Baumstamm, von dessen Ästen das Tier

22 heruntergefallen sein musste. Dann kam mir plötzlich eine

23 Idee, die derart lächerlich war, dass es sinnlos wäre, auch

24 nur einen weiteren Gedanken an ihr zu verschwenden. Behutsam

25 legte ich den Kopf zu Seite. Es musste funktionieren! Es

26 musste einfach! Eins… zwei… Bis drei konnte ich nicht mehr

27 zählen. Energisch krachte mein Gesicht gegen die harte

28 Rinde. Blut spritzte über meine Wange. Ein Spinnenbein


29 klebte noch dort, wo das Insekt gehangen hatte. Der übrige

30 Körper war zerfetzt von der Wucht des plötzlichen Aufpralls.

268
1 Langsam fuhr ich mit dem Zeigefinger über die Stelle. Ob die

2 Spinne gebissen hatte? Fühlen konnte ich es nicht, nur

3 hoffen, dass dem nicht so war. Als ich mich über eine Pfütze

4 beugte, fiel mir ein Stein von Herzen. Nichts zu sehen.

5 Trotzdem würde ich nicht einen einzigen Schritt weiter tun.

6 Lieber sollte Scott mich quälen, als irgendein Krabbeltier

7 oder womöglich eine Schlage, die sich um meinen Hals legte,

8 wenn ich erschöpft zusammensackte! Denn nach Stunden des

9 Umherirrens würde ich unachtsam werden und der Urwald wusste

10 ohnehin, wo ich war. Seine Augen, seine gelben,

11 blutunterlaufenen Augen, lauerten im Unterholz auf mich.

12 Aber diesmal würde ich keine so leichte Beute abgeben!

13 Achtsam tastete ich mich voran, kontrollierte jeden Meter

14 mit dem Fuß, den Blick dabei prüfend umherschweifen lassend.

15 Den Gedanken, dass dies im Notfall nicht ausreichen mochte,

16 verdrängte ich. Wenn ich nun noch unruhiger wurde, würde ich

17 Fehler machen. Fehler, die mich mehr als nur ein paar Euro

18 kosten würden oder eines meiner Modelautos. Vor allem die


19 wallende Dunkelheit erschwerte mir die Sicht. Jede länger

20 ich lief, desto mehr verlor ich die Orientierung. Bald

21 musste ich mich vollendend auf meinen Instinkt verlassen.

22 Wie bei einem „Blindenspiel“ nur ohne Führer torkelte ich

23 umher, bis ich schließlich in einiger Entfernung Stimmen

24 hörte. Der Wille, einfach loszulaufen, überkam mich, doch es

25 gelang mir, ihn nieder zu kämpfen. Reiz dich gefälligst

26 zusammen! Du darfst Scott nicht einfach in die Arme rennen,

27 ihm womöglich noch vor die Knie fallen und betteln, dass er

28 dich zurück zur Villa mitnimmt! Das hätte Zarin nicht


29 gewollt. Dafür sollte er nicht gestorben sein. Streng dein

30 Gehirn an, Tim! Denk nach. Ich nickte, wobei ich mich

269
1 zusammengerollt in einem Erdloch verbarg und durch einen

2 Blättervorhang auf der Straße hinausspähte. Überrascht

3 bemerkte ich, dass der Kleinlaster verschwunden war.

4 Lediglich das Cabrio, vor dem der Meister, ein Tuch an die

5 Schläfe pressend, auf dem Klappstuhl kauerte, parkte noch.

6 Der Fahrer suchte im Standlicht des Wagens das umliegende

7 Waldstück ab und kniete schließlich nieder, um ein Zelt

8 errichtet. Allem Anschein nach wollte der Sir an dieser

9 Kurve übernachten. Dass er persönlich geblieben und nicht

10 aufgrund seiner Verletzungen zurück zur Villa gefahren war,

11 ließ mich stutzen. So mal es in der Wildnis durchaus

12 gefährlich sein konnte. Unberechenbar, was Maurice Scott

13 hasste. Doch der Wille, mich aufzuspüren und auseinander zu

14 nehmen, schien größer. Bedacht keinen Lärm zu machen, zog

15 ich mich ein wenig zurück. Mein Blick fiel erneut in den

16 Wald. Ich hatte keine Chance. Würde ich hier bleiben, würden

17 sie mich sofort finden. Würde ich zum zweiten Mal dort

18 hineinlaufen, würde der Wald sein Übriges tun, um mich zu


19 erledigen. Oh Mann! Ich stöhnte. Warum konnte das Spiel

20 nicht einmal fair sein? Hatte ich überhaupt eine

21 Würfelkombination, die mich sicher ins Ziel brächte?

22 Vermutlich nicht. Erneut lugte ich unter den Blättern

23 hervor. Die Situation hatte sich nicht verändert mit der

24 Ausnahme, dass der Fahrer das Aufbauen des Zeltes beendete

25 und nun ein paar Lebensmittel aus dem Kofferraum auf eine

26 Decke beförderte. Leise plärrte dabei Musik aus dem Inneren

27 des Autos, zu der der Mann zu summen begann. In gewisser

28 Weise erweckte es den Eindruck zweier, alter Campgenossen,


29 die gemeinsam auf Rucksacktour waren. Vielleicht könnte ich

30 mich einfach zu ihnen setzen, wenn wir für kurze Zeit keine

270
1 Feinde wären. Mein Magen knurrte bei dem Gedanken an die

2 knusprigen, gebackenen Bananen oder den anderen

3 Köstlichkeiten. Die Kekse auf dem Beifahrersitz… ein Genuss.

4 Ohne nachzudenken und von dem Hungergefühl angetrieben,

5 schlich ich gebückt zu dem Cabrio herüber. Inzwischen war es

6 so dunkel, dass ich kaum erkennbar sein würde, wenn ich

7 nicht in das Licht träte. Tatsächlich ahnte Scott nicht,

8 dass er seinem Opfer näher war, als er jemals für möglich

9 gehalten hätte. Meine Hand streifte jenen Baum, gegen den…

10 Ich hielt zögernd inne, malte mit dem Finger das

11 Kreuzzeichen an die Rinde. Im Namen des Vaters und des

12 Sohnes und des Heiligen Geistes Amen. Geh hin in Frieden. So

13 hatte ich es oft in der Kirche an Sonntagen gehört, kurz

14 bevor ich endlich zum Spielen hab auf die Straße gehen

15 können. Ich habe nie verstanden, was der alte Mann in dem

16 Gewand erzählt hatte, aber diese Abschiedsworte bedeuteten,

17 dass es Zeit war, zu gehen. Papa… Mögest du hingehen in

18 Frieden. Meine Lippen berührten vorsichtig die kalte Rinde,


19 dann wich ich einen Schritt zurück, faltete die Hände, den

20 Kopf gesenkt. Dabei vergaß ich alles um mich herum. Selbst

21 die Angst, entdeckt zu werden, verschwand. Ich stand einfach

22 nur da. Bilder meines Vaters rauschten an mir vorbei. Wie

23 wir im Winter über den zugefrorenen See im Stadtpark

24 gelaufen sind. Als er mir half, die Schleifennudel aus

25 meiner Nase zu ziehen, die ich hineingesteckt hatte, um

26 auszuprobieren, ob sie da hineinpasste. Das Fußballgucken

27 auf Papas Schoss, wobei ich bei jedem Tor, egal für welche

28 Mannschaft, meine kleine Kölnfahne schwenkte. Meinen ersten


29 Schluck Bier, bei dem er mich heimlich erwischte, um

30 anschließend meinen kleinen Kopf beim Erbrechen zu halten.

271
1 Unseren Besuch im Phantasialand, einem der größten

2 Vergnügungsparks in der Nähe von Köln. Ich grinste bei dem

3 flüchtigen Gedanken an das schwarzweiße Schaukelpferd namens

4 Fiona auf dem zweistöckigen Karussell, das mir einen

5 derartigen Schrecken eingejagt hatte, dass ich um ein Haar

6 über die Brüstung gefallen wäre, hätte Papa mich nicht in

7 aller letzter Minuten aufgefangen. Mein Papa, mein Held.

8 Daran, dass er mich geschlagen hatte oder dass ich wegen

9 diesem ekligen Qualm immer weniger Spielzeug bekam, wollte

10 ich mich nicht erinnern. Nein, mein Vater, der war jemand,

11 der perfekt war. Mutig, schlau vor allem und alles andere,

12 was man von mir nicht behaupten konnte. Ich seufzte leise.

13 Komm zurück, Papa. Ich brauche dich. Dich und Mama…

14 Plötzlich spürte ich einen warmen Luftzug an meinem Ohr.

15 Augenblicklich versteifte sich mein Körper. Meine Muskeln

16 spannten sich an. Mit angehaltenem Atem versuchte ich, im

17 Winkel meines Blickfeldes auszumachen, was geschehen war.

18 Musik drang noch aus dem Radio. Gelegentlich konnte ich auch
19 das Schnaufen des Meisters ausmachen - nur viel, viel näher!

20 Zu nah, unmittelbar hinter mir. Hau ab! Verschwinde! Aber

21 presto, presto. Ich gehorchte. Ohne einen weiteren Gedanken

22 zu verschwenden, schoss ich über die Straße hinweg. In der

23 Dunkelheit war ich völlig orientierungslos und erst, als ich

24 den harten Untergrund bemerkte, ahnte ich, dass ich in der

25 Falle saß. Sie würde nur das Licht des Wagens auf die Kurve

26 lenken müssen und, obwohl sie nur zu zweit waren, wäre es

27 ein Leichtes, mich einzukesseln. Ich war hilflos. Scott

28 näherte sich. Sein Lächeln wirkte im Schatten wie eine


29 grausame Grimasse.

272
1 „Da bist du ja endlich, Nummer 448! Ersparst mir die Mühe,

2 dich zu suchen. Nett, muss ich sagen, äußerst

3 entgegenkommend. Willst du dich nicht zu uns setzen? Ich

4 habe hier auch einen extra großen Keks für dich. Also, mein

5 Junge?“ Er wedelte mit einem Gebäck in der Luft, wobei er

6 einen weiteren Schritt auf mich zu machte. Ich blinzelte zu

7 dem Cabrio herüber. Der Fahrer beobachtete die Szene

8 entspannt, da er sicher sein mochte, dass ich aufgeben

9 würde. Erneut sah ich zu dem Meister auf. Der Geruch von

10 frischem Mehl stieg mir in die Nase. Lecker mit Marmelade.

11 Mein Magen knurrte. Nimm endlich den Keks, meldete er. Nur

12 das Gebäck vor Augen leckte ich mir mit der Zunge über die

13 Lippen und stolperte wie hypnotisiert darauf zu.

14 „Ja, Nummer 448, komm. Ich habe auch noch welche mit

15 Schokosplittern.“, behauptete Scott, die Hand nach mir

16 ausstreckend. Ruckartig blieb ich stehen. Hast du vollkommen

17 den Verstand verlassen? Reiz dich gefälligst zusammen. Es

18 gibt noch viel köstlichere Kekse auf der Welt!


19 Hastig löste ich meinen Blick von dem Mann ab, der wie

20 eine männlich wirkende Hexe Hänsel und Gretel zum

21 zuckersüßen Häuschen lockte. Und rannte, noch bevor jemand

22 reagieren konnte. Meine Fußsohlen tippten nur flüchtig auf

23 die Erde. Ich sprang über einen umgekippten Baumstamm am

24 Fahrbahnrand. In den Wald wagte ich mich nicht mehr, zumal

25 mir auch der Schatten der Bäume am Rand ausreichend Schutz

26 bot. So konnte ich sicher sein, dass die Männer mich nicht

27 mit dem Auto verfolgten und es schwerer hatten, mich zu

28 finden. Wie nach einem Tausendmeterlauf ich hechelte nach


29 Luft, lief jedoch weiter. Hinter mir hörte ich Schritte.

30 Wie viele wusste ich nicht, aber es war auch nicht wichtig.

273
1 Es war nur eine Frage der Zeit. Wer hielt länger durch?

2 Maurice Scott oder ich? Derjenige hätte gewonnen. Ich die

3 Freiheit, jedenfalls vorläufig, mein Gegner den Spaß beim

4 Quälen eines neuen Feindes. Bäumen flogen an uns vorbei wie

5 Markierungen, die auf das Ziel zu liefen. Nur, dass es bei

6 diesem Rennen kein Ziel gab. Ich spürte bereits, wie meine

7 Gelenke zu schmerzen begannen, meine Seite stach. So

8 gleichmäßig wie möglich atmete ich ein und aus. Atmen,

9 laufen, atmen. Aus, ein, wieder aus. Vielleicht hätte ich

10 das Glück und ein Bus oder jemand, der mich half, käme

11 vorbei, doch ich bezweifelte dies. Wer sollte schon ohne

12 erdenkbaren Grund selbst in Afrika nachts unterwegs sein?

13 Aber es würde bald etwas passieren müssen. Irgendetwas.

14 Allmählich konnte ich jede einzelne Faser in meinem Körper

15 spüren, vor allem, da ich mich nicht aufgewärmt hatte. Meine

16 Geschwindigkeit und der Abstand zu Scott wurden mit jedem

17 Meter geringer. Langsamer, als ich durfte, joggte ich

18 weiter. Dennoch würde ich auch dieses Tempo nicht mehr


19 halten können, vorausgesetzt, ich wollte nicht umkippen.

20 Verdammt, wie konnte der Meister nur ein derart guter Läufer

21 sein? Und noch dazu verletzt! Vorsichtig riskierte ich einen

22 Blick über die Schulter. Der Mann war unmittelbar hinter

23 mir, doch zu meinem Erleichtern verlor auch er an

24 Schnelligkeit und taumelte bereits - als er plötzlich vor

25 meinen Augen zusammenbrach. Noch im Lauf beobachtete ich,

26 wie seine Knie einknickten, die Hände sich auf den rauen

27 Boden pressten. Du hast gewonnen, Tim! Er hat dich nicht

28 gekriegt! Erneut sah ich zurück. Zu meinem Entsetzten fiel


29 der Sir zur Seite und blieb regungslos auf dem Rücken

30 liegen, wobei sich sein Brustkorb immer unregelmäßiger

274
1 senkte. Tief Luft holend blieb ich stehen, wandte mich

2 vorsichtig um. Nun, dachte ich verbittert, nun sehen Sie wie

3 es ist, wenn man am Boden kriecht! Ein tolles Gefühl, nicht

4 wahr? So viele Leute haben Sie niedergedrückt und selbst,

5 als sich diese flehend vor Ihnen wälzten, haben Sie nochmals

6 zugetreten, bis auch das Betteln ein Ende hatte! Genauso

7 soll es Ihnen jetzt auch ergehen! Sie Schwein, Sie haben den

8 Befehl gegeben, meinen Papa zu töten! Unbeirrt wollte ich

9 weiterlaufen, aber etwas hielt mich zurück. Stöhnend hob ich

10 die Schultern, senkte sie. Geh schon! Hau endlich ab! Zum

11 dritten Mal schweifte mein Blick zu dem Meister herüber. Den

12 Kopf zu Seite gedreht, die Lippen leicht geöffnet versuchte

13 er, sich aufzurichten, sackte jedoch sofort wieder in sich

14 zusammen. Sein Oberkörper verkrampfte sich, sodass der Mann

15 nach Luft schnappte. Es entsetzte mich, Scott derart hilflos

16 zu sehen. Bisher lebte er in einer Welt, die er voll und

17 ganz kontrollierte, doch nun? Das ist nicht dein Problem,

18 Tim. Der Meister würde dich auch dort verbluten lassen -


19 aber ich bin nicht der Meister! Ohne einen weiteren Gedanken

20 daran zu verschwenden und mich ohrfeigend, schlich ich

21 zögerlich zurück, kniete mich neben den Kopf des Sir. Dessen

22 Augen schlossen sich, auf, zu, auf, jedoch verlangsamt und

23 unregelmäßig. Des Weitern erkannte er mich - wenn überhaupt

24 - nur flüchtig. Nun, in dem Moment, jetzt, wo ich neben

25 diesem Menschen kauerte, verspürte ich den Hass, der in mir

26 aufkeimte wie eine Bohne im Wasser, züngelnd wie Flammen in

27 der Nacht. Sie haben mir alles genommen! Alles, was mir

28 etwas bedeutete! Zum einen meinen Papi, den Sie erpresst


29 haben. Nicht etwa mit Gummibärchen, sondern mit diesem

30 ekligen Gras von irgendeiner Wiese, abartig, absolut eklig.

275
1 Vor allem der Rauch. Wegen Ihnen ist mein Papa zu so

2 Stinktier geworden, das sich einen Dreck um die anderen

3 schert. Ihr Abbild. Und dann Mathieu, meinen besten Freund?

4 Der, der mit mir nach Spanien wollte, aber seinen Traum aus

5 den Augen verloren hat. Wegen Ihnen. Oder Zarin? Tot, wegen

6 Ihnen. Oder Jabali, der Wächter, der gegen seinen Willen

7 seine Freunde schlagen muss, die kleine Reni zum Beispiel?

8 Wegen Ihnen. Oder Kay, mein Schwesterchen, das fröhlichste

9 Mädchen, das ich kenne? Okay, sie hat sich vielleicht in

10 Angelegenheiten eingemischt, die sie nichts angehen, aber…

11 Ihre Eltern machen sich Sorgen. Wegen Ihnen. Und was ist mit

12 Tess? Mit Tess, Ihrer Tochter? Haben Sie auch ein einziges

13 Mal in Ihrem Leben an sie gedacht? Vermutlich nein. Nein,

14 Ihnen ist ja alles egal. Alles außer Ihnen selbst! Sie sind

15 ein Monster, ein verdammter… Ich hasse Sie!

16 „Nummer 448...“ Scotts Stimme klang völlig emotionslos,

17 als er dies flüsterte.

18 Ich hasse Sie…! „Ja…?“ Vorsichtig öffnete ich den Mund des
19 Mannes ein wenig, damit dieser besser atmen konnte. Sie

20 ahnen gar nicht, wie sehr ich Sie hasse! „Ich bin hier.“

21 Der Sir blinzelte. Für den Bruchteil einer Sekunde

22 berührten sich unsere Hände, als er in die Dunkelheit hinein

23 tastete. Seine war völlig kalt. Erschrocken wich ich zurück,

24 mit dem Finger eine Strähne aus der Stirn streichend. Fassen

25 Sie mich nicht an! Der Mann hob zögernd einen Mundwinkel an

26 und im Schein des halben Stücks Käse am Himmel wirkte sein

27 Kopf wie ein Totenschädel. Die Brille musste er verloren

28 haben und als ich mich umsah, entdeckte ich sie tatsächlich
29 in ein paar Meter Entfernung. Ihre Gläser reflektierten im

30 Licht wie zwei glasige Splitter. Seine sorgfältig gezupften

276
1 Augenbrauen verdeckten die kleine Platzwunde, aus der eine

2 rötliche Säure schoss, die auch meine Hände verätzte.

3 Dennoch zog ich mein T-Shirt aus, um es dem Meister unter

4 den Kopf zu legen, einen Teil des Stoffes auf die Blutung

5 drückend. Bah! Ist das eklig! Ich spürte das Kitzeln im

6 Hals. Ein bitterer Geschmack füllte meinen Mundraum.

7 „Nummer 448...?“ Scott versuchte, erneut aufzustehen, die

8 Hand zur Faust geballt. Doch ein Schwindel musste ihn

9 erfasst haben, denn er fiel zurück auf die Straße. Grunzend

10 wie ein Monster. Dann übergab er sich, nach Luft röchelnd.

11 Ob er an sich selbst erstickte? Hoffentlich, hoffentlich tat

12 er das. An dem letzten Stück Fisch, der für ihn sterben

13 musst! Behutsam klopfte ich auf seinen Rücken, als er

14 gellend aufschrie. Warum kommt denn niemand? Wo bleibt

15 dieser Idiot von Gorilla? Wenigstens gute Leute anstellen,

16 hätte der Meister können müssen, wenn er schon sonst so ein…

17 Verdammt, ich hasse Sie! Warum bin ich überhaupt noch hier?!

18 Mein Blick wanderte zu dem Mann, wobei ich mich aufrappelte.


19 Wie ein verletztes Tier krümmte er sich zusammen, der Big

20 Boss, der King, vollkommen hilflos. Lauf, Tim, lauf!

21 „Tim…“ Ja, jetzt fällt Ihnen mein Name wieder ein! Jetzt,

22 wo Sie sich nicht mehr wehren können, Sie, Sie…! Gott, was

23 sind Sie nur für ein Mensch?!

24 Über den Nachthimmel hoch über unseren Köpfen schoss ein

25 Geier, wilde Rufe ausstoßend, auf der Suche nach seinen

26 Opfern. Auf der Jagd nach Tieren, die sich nicht wehren

27 konnte. Ständig lag er auf der Lauer, getarnt als Wohltäter,

28 indem er nur das fraß, was bereits nicht mehr zu retten war.
29 „Tim…“ Sprechen Sie nicht meinen Namen aus! Sie widern mich

30 an! Sie hätten meinem Vater helfen müssen! Aber nein,

277
1 stattdessen haben Sie ihn umgebracht! Und stattdessen

2 wollten Sie auch mich umbringen!

3 Seufzend fuhr ich mir mit den Händen durch das zerzauste

4 Haar. Der Wind ließ mich frösteln. Kurz sah ich zu meinem T-

5 Shirt hinunter, welches nun dem Teufel als Kopfkissen

6 diente. „Tim…“ Mit dem knöchrigen Finger gestikulierte er

7 mir, dass ich näher herankommen sollte. Ich gehorchte.

8 Wieso, weiß ich nicht. Auch nicht, warum ich nicht

9 weggelaufen bin, ich Feigling. Langsam setzte ich mich neben

10 den Mann, brachte in die stabile Seitenlage, wie ich es oft

11 im Fernsehen gesehen hatte. Ob es richtig war, keine Ahnung,

12 aber etwas Besseres fiel mir in diesem Moment nicht ein. Ein

13 weiteres Mal erbrach er, diesmal hielt ich seinen Kopf,

14 damit die Ekel erregende Flüssigkeit hinauslaufen konnte.

15 Mehr konnte ich nicht tun, außer warten. Warten darauf, dass

16 jemand kam, der uns half. Gleich, ob es für mich wieder

17 quälende Stunden in der Gewalt Malliums bedeutete. Das Leben

18 des Meisters hatte höhere Priorität. Schließlich war er


19 trotz allem ein Mensch und ein Mensch bedurfte Hilfe, ganz

20 egal, um wen es sich dabei handelte. So stand es in der

21 Bibel und so war es Gesetz. Auch wenn es ein ziemlich blödes

22 Gesetz ist, Gott, und du dich selbst nicht einmal daran

23 hältst. Ich tue es, denn ich bin anders als du. Anders,

24 einfach anders…

25 Erschöpft kauerte ich mich ebenfalls auf den Boden, auf

26 den kalten Asphalt, die Knie nahe an den nackten Oberkörper

27 herangezogen, das Kinn dort abgestützte. Das Letzte, was ich

28 erkannte, bevor ich in das noch schwärzere Loch fiel, war


29 der blutgetränkte Schnabel des Aasgeiers, der ein zappelndes

30 Küken mit sich riss.

278
1 12. Kapitel
2 In eine wattweiche Decke eingemummelt lag ich auf dem

3 rustikalen, aber dennoch geschmackvollen Doppelbett. Obwohl

4 das Zimmer nicht sonderlich groß zu sein mochte, wirkte es

5 warm und freundlich, was nicht zuletzt auch den zwei Raum

6 hohen, leicht geöffneten Fenstern zu verdanken war, durch

7 die man einen herrlichen Blick auf den Urwald hatte. Gähnend

8 räkelte ich mich auf der Bettkante, wobei ich mir den Sand

9 aus den Augen rieb. Auf der Nachtkommode stand ein goldener

10 Wecker, der ein Uhr anzeigte. Dies stimmte exakt mit meinem

11 knurrenden Magen überein. Zeit zum Mittagessen. In schwarzen

12 Boxershorts tapste ich zur Tür, rüttelte an dem Griff - aber

13 sie blieb verschlossen. Verdammt! Natürlich alles hatte

14 wieder einmal einen klitzekleinen Hacken! Stöhnend fuhr ich

15 mir mit der Hand über das Gesicht. Mir würde nichts anders

16 übrig bleiben, als zu warten. Gelangweilt zog ich eine der

17 Schubladen der Kommode auf. Zeitschriften von Mickie Maus,

18 englische Kinderbücher. Zumindest etwas, um die Zeit


19 totzuschlagen, bis jemand kam. Daher begann ich zu lesen und

20 bemerkte wegen meiner Vertiefung nicht einmal das leise

21 Klicken des Schlüssellochs, mit dem sich die Tür öffnete.

22 „Hey! Was liest du denn da?“

23 Erschrocken fuhr ich zusammen. Langsam, ganz langsam,

24 drehte ich den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme

25 erklang. Fassungslos. Kay legte lachend die gestapelte

26 Kleidung auf einen Stuhl, dann fiel sie mir um den Hals,

27 sodass ich das Gleichgewicht verlor und auf der Matratze


28 landete, das Mädchen über mir. Für eine Ewigkeit presste ich

29 sie an meine Brust, wollte sie nie wieder loslassen. Ihr

279
1 Atem strich warm über meine Wangen. „Ich kriege keine Luft

2 mehr.“, flüsterte sie mir schließlich sanft ins Ohr.

3 Widerwillig löste ich meinen Griff ein wenig, starrte sie

4 nur an, als sei sie ein Engel. So überirdisch war sie.

5 Einfach wunderschön, ihre blauen Augen, ihr dünner, zarter

6 Körper, von dem sie immer behauptete, er sei muskulös, wenn

7 ich sie damit neckte, und die feinen Fingernägel, auf die

8 sie früher Symbole gezeichnet hatte, irgendwelche mystischen

9 Zeichen. Aber noch außergewöhnlich war der liebenswerte,

10 aufgeweckte Geist, der in ihrem Körper wohnte.

11 Vorsichtig richtete wir uns auf, hockten gemeinsam auf der

12 Bettkante, glücklich darüber, einander wieder gefunden zu

13 haben. Kay, mein Schwesterchen. Ich legte ihr den Arm um die

14 Schulter, zog sie näher an mich heran, aber sie stieß mich

15 behutsam von sich.

16 „Hallo Tim.“, murmelte das Mädchen, wobei es mir die

17 Kleidung reichte. „Mein Meister befielt, dass du dies

18 anziehen sollst. Er erwachtet dich zum Essen.“ Traurig


19 senkte sie den Kopf, doch ich hob ihr Kinn leicht an, damit

20 sie aufsah.

21 „Kay…“ Ich wollte ihr so viel erzählen in diesem Moment.

22 Dass ich endlich wusste, wie mein Papa gestorben war. Wie

23 wir durch die Wälder gezogen sind, Mathieu und ich, bis man

24 uns entführte. Dass es mir Leid täte, was ich ihr angetan

25 habe. Von der Arbeit auf der Plantage und in der Küche. Dass

26 ich sie vermisse. Aber in diesem Moment sagte ich nichts

27 dergleichen und auch nichts, als er verstrichen war, dieser

28 Moment. Ich schwieg, versank in der Tiefe ihrer Augen.


29 Obwohl ich Mädchen immer blöd gefunden hatte, dieses Mädchen

30 mochte ich mehr als alles andere auf dieser Welt. Zögernd

280
1 näherten sich meinen Lippen ihrer heißen Stirn. Nein, igitt,

2 du küsst doch nicht deinen besten Kumpel! Aber da war es

3 bereits zu spät. Kay lächelte verschmitzt, sich eine Träne

4 aus dem Augenwinkel reibend. Dann wandte sie sich abrupt ab

5 und schloss die Tür hinter sich. Alleine blieb ich zurück,

6 dem Ticken der Uhr lausend. Gott, wie schlecht bist du nur

7 in diesem Sabberspiel! Jetzt hast du sie verjagt, Tim. Die

8 arme Kay. Sie musste sicherlich denken, du bist genau wie

9 dieser schreckliche Sulkan aus der Schule, der ständig

10 gebettelt darum gebettelt hat, mit ihr spielen zu dürfen.

11 Langsam öffnete ich die Lippen, schloss sie wieder. Ein paar

12 ihrer salzigen Schweißperlen vermischten sich mit meinem

13 Speichel. Ich grinste schief in den Spiegel gegenüber, der

14 an der Tür des kunstvoll geschnitzten Kleiderschranks hing.

15 Kay, Kay, Kay…

16 Meine Hände strichen leicht über die gefaltete Kleidung

17 auf meinem Schoß. Augenblicklich versteifte sich mein

18 Nacken, meine Fingerkuppen pochten beinahe taub. Erst


19 langsam wurde mir bewusst, dass mich die Realität wieder

20 eingeholt hatte. Kay und ich befanden uns nicht auf Mallorca

21 in einem Hotel mit Meerblick. Auch nicht auf dem Spielplatz

22 oder dort, wo wir tatsächlich hätten sein sollen. Nein, wir

23 steckten gemeinsam im Nest eines Geiers, der uns zum Essen

24 erwartete. Zögernd richtete ich mich auf, die Kleider auf

25 dem Bett ausbreitet. Mir war nicht klar, worauf ich mich

26 einließ, aber ich beschloss, erst einmal mitzumachen - vor

27 allem, weil ich einen Bärenhunger hatte. Staunend

28 betrachtete ich mich im Spiegel, drehte mich nach links,


29 nach rechts, wobei ich versuchte, auch meinen Rücken zu

30 begutachten. Man hatte für dieses Mittagessen ein teures,

281
1 weißes Hemd mit Kragen gewählt, dazu eine knielange,

2 dunkelblaue Jeans. Die weißen Turnschuhe von Nike, die zwar

3 zwei Nummer zu groß und bereits getragen schienen, ergänzten

4 gemeinsam mit einer Designeruhr das Outfit des schnicken

5 Stiefsohnes. Ebenfalls dabei lag eine Bürste und eine Tube

6 Gel, die ich nun misstrauisch beäugte. Den Mund zu einem

7 Schmollen verzogen, drehte ich den Schraubverschluss auf und

8 leerte den Inhalt auf meiner Handfläche. Ich hasste Gel.

9 Diese durchsichtige, relativ feste Masse fühlte sich

10 unglaublich fies an, verklebte jedes Haar. Schon früher als

11 wir an Weihnachten in die Kirche gingen, klatschte Mama mir

12 das Zeug auf den Kopf. Es nun auf der eigenen Haut zu

13 spüren… Ich wollte nicht weiter drüber nachdenken.

14 Angewidert strich ich den Glibber dennoch mit einem Finger

15 auf eine Strähne, entschied mich dann jedoch, es bleiben zu

16 lassen, als es erneut an der Tür klopfte. Hoffnungsvoll

17 stürmte ich herbei, um die Klinge mit dem Handrücken

18 hinunter zu drücken. Bitte lass es Kay sein! Aber es war


19 nicht Kay. Auch nicht Tess oder ein anderes Dienstmädchen.

20 Es war ein Wächter, der mich zum Essen rief. Seufzend hob

21 ich die Schultern und deutete auf das Gel, um zu

22 demonstrieren, dass ich noch etwas Zeit benötigte.

23 Nein, keine Zeit mehr. Gut, auch gut. Dann eben auch kein

24 Geld. Auf der Suche nach einem Waschbecken, in dem ich die

25 Hände säubern konnte, ließ ich meinen Blick umherschweifen.

26 Ohne fündig zu werden, wusch ich das Gel grob an den

27 Boxershorts ab, spülte mit Spucke nach. Kleben tat es immer

28 noch, aber daran würde sich wohl scheinbar vorläufig nichts


29 ändern. Ich konnte nur hoffen, dass ich dieses eine Mal dem

30 Meister die Hand geben musste. Widerwillig folgte ich dem

282
1 Mann durch den Flur hinüber zu dem riesigen Speisesaal.

2 Flüchtig erinnerte ich mich an dieses Zimmer. Dunkelroter

3 Teppich, ein polierter Glastisch mit sechzehn Stühlen. Doch

4 etwas hatte sich an dem verlassenen Raum verändert, wie ich

5 erstaunt bemerkte: Er lebte. Sein Atem pulsierte förmlich.

6 Farbspektren durchfluteten ihn. In meinem Kopf begann es,

7 sich zu drehen. Ich spürte, wie jemand mir anerkennend auf

8 die Schultern klopfte, hörte die leisen Klänge der Musik im

9 Hintergrund.

10 „Tim!“ Tess sprang von ihrem Stuhl hoch. Der Löffel, mit

11 dem sie gespielt hatte, klirrte auf den Tellerrand. So

12 neutral wie möglich schritt sie auf mich zu, ihr

13 geflochtenes Haar über die Schulter werfend. Unmittelbar vor

14 mir blieb sie stehen, sah zu mir auf. „Tim.“, wiederholte

15 sie nochmals grinsend, bevor sie mir den Arm um die Schulter

16 legte, um mich zum Tisch zu führen. „Tim, Tim, Tim, was

17 machst du nur für Sachen?“ Erst, als sie einen Stuhl neben

18 sich zurückzog, bemerkte ich den Meister, der bisher kein


19 Wort gesagt hatte - nicht einmal zu dem unangemessenen

20 Verhalten seiner Tochter. Mit der genähten Platzwunde über

21 der Augenbraue und dem Veilchen wirkte er wie ein

22 niedergeschlagener Boxer. Er reagierte kaum, als ich Platz

23 nahm, nickte lediglich. Außer Familie Scott befand sich

24 niemand in dem Zimmer, obwohl für sechs weitere Menschen

25 gedeckt war. Ich fühlte mich unbehaglich und verlassen an

26 dem großen Tisch, unwissend, ob ich etwas auf eine

27 ausgesprochene Frage erwidern oder schweigen sollte. So

28 starrte ich auf den gefüllten Brotkorb vor mir, bei dessen
29 Anblick mein Magen augenblicklich zu knurren begann. Lecker,

30 diese knusprige Kruste, der lockere, sicherlich noch

283
1 lauwarme Teig. Gerade als ich mich dazu durchgerungen hatte,

2 mir eines zu genehmigen, räusperte sich der Mann. Sofort

3 zuckte meine Hand zurück.

4 „Schon gut, bediene dich. Iss so viel du möchtest.“,

5 erklärte der Meister mit ruhigem, heiser klingendem

6 Unterton, wobei er auf einen Knopf am Tisch drückte,

7 woraufhin Sekunden später Mallium in der Tür zur Küche

8 erschien. Bei meinem Anblick verfinsterte sich sein Gesicht.

9 Wir werden wohl nie Freunde werden, dachte ich und streckte

10 ihm zur Provision heimlich die Zunge raus. Tess kicherte,

11 bemüht, nicht zu lachen. Hinter dem Küchenchef tauchte

12 dessen Adjutant auf, der strahlend den Daumen hob. Erstaunt

13 hob ich die Augenbraue. Was wurde hier für ein übles Spiel

14 mit mir gespielt? Weshalb durfte ich mit dem Meister zu

15 Mittag essen? Und weshalb waren alle mir gegenüber derart

16 freundlich? Nun gut, ich konnte damit leben, endlich einmal

17 etwas Richtiges zwischen die Zähne zu bekommen, daher

18 stellte ich keine dieser Frage, wunderte mich lediglich.


19 Vorsichtig nippte in an meinem mit winzigen Diamanten

20 verziertem Glas, welches zur Hälfte mit herrlich

21 erfrischendem Wasser gefüllt war, das auf meiner Zunge

22 sprudelte. Gierig schnappte ich mir dabei eines der Brote

23 und tauchte es in die Suppe, die ein Dienstmädchen als

24 Vorspeise servierte.

25 Schweigend sah ich in Runde. Tess führte den Löffel an den

26 Mund. „Lecker.“, murmelte sie mehr zu sich selbst als zu

27 ihrem Vater, dem sie halb den Rücken zuwandte.

28 Scott nickte beipflichtend. „Wirklich, exquisit. Findest


29 du nicht auch, mein Junge?“

284
1 Erschrocken darüber, dass man mit mir sprach, verschluckte

2 ich mich an dem Stück Brot. „Ja, ja… Echt super.“

3 „Weißt du, Tim, ohne dich könnte ich diese Suppe heute

4 vielleicht gar nicht mehr genießen.“, meinte der Sir nach

5 einer Weile des Schweigens.

6 Ich hustete, nachdem mir die Krümel bei dieser Ansprache

7 im Hals stecken geblieben waren. Was? Unruhig rutschte ich

8 auf meinem Stuhl hin und her, bemüht mit Tess Blickkontakt

9 aufzunehmen, aber diese aß unbeteiligt weiter.

10 „Ja, Tim, du hast mir in der vergangen Nacht vermutlich

11 das Leben gerettet. Das war äußerst heldenhaft von dir.“

12 Ich wiegte nachdenklich den Kopf. Du dem Sir das Leben

13 gerettet? Unmöglich, völlig ausgeschlossen. Du hast doch

14 deinen Vater, Zarin und all den anderen Menschen rächen

15 wollen! Stattdessen hast du nun dafür gesorgt, dass dieses

16 Monster weiterhin quält. Großartig, Tim! Wirklich eine

17 Spitzenleistung!

18 „Meine Assistenten, die sechs anderen Mitglieder von


19 Kamikaze, jedenfalls sind dieser Meinung. Auch sie erkennen

20 deinen Mut an.“ Der Meister klatschte in die Hände. „Mister

21 Henkel?“

22 Daraufhin wurde die Tür geöffnet und sechs gut gekleidete

23 Gestalten, vier Männer und zwei Frauen, betraten

24 nacheinander den Speisesaal. „Clemens Henkel… Vasco

25 Ignamias, Manfred Giebels… Lorenzo Goldmann… Ana-Cornelia

26 Paulus und zu guter letzt Nora Valencia. Alles mir treu

27 ergebene Freunde. Aber ich bin mir sicher, ihre Namen kennst

28 du bereits.“

285
1 Ich nickte knapp, während ich misstrauisch beobachtete,

2 wie die übrigen Mitglieder ihre Plätze einnahmen. Jeder von

3 ihnen nickte mir aufmerksam zu, sagte jedoch nichts.

4 „Ich dachte mir, dass es dich interessiere, einmal ihre

5 Gesichter zu sehen, bevor…“

6 Ich lauschte auf, doch seinen Worten folgten keine

7 weiteren mehr. „Bevor was?“, hackte ich daher nach und

8 senkte den Löffel.

9 „Nichts. Jedenfalls nichts von belangen für uns.“ Scott

10 lächelte. „Lasst uns alle gemeinsam speisen!“ Er hob sein

11 Glas, die anderen taten es ihm gleich.

12 Mit diesen Worten öffnete sich die Küchentüre erneut.

13 Mallium, gefolgt von seinem Adjutanten, trug eine riesige

14 Fleischplatte herbei. Dazu wurde Gemüse und Nudel gereicht.

15 Angewidert beobachtete ich den toten Berg, von dem alle

16 einen Teil abschabten. Mir war mittlerweile der Appetit

17 vergangen. Angewidert rieb ich meine immer noch klebenden

18 Hände an der Tischdecke ab. Die sechs Kamikazemitglieder


19 grinsten mir zu, doch auch diese Aufmerksamkeit schien wie

20 eingefroren. Ob sie höflichkeitshalber jedem von Scotts

21 Feinden zu lächelten, bevor sie ihn auf dem Operationstisch

22 auseinander nahmen?

23 Ich schluckte. Daran wollte ich nun nicht denken.

24 Unauffällig huschte mein Blick zu Tess, der die Situation

25 ebenfalls zu missfallen schien. Skeptisch beäugte sie die

26 ihr fremden Menschen, dann zischte sie ihrem Vater etwas ins

27 Ohr, woraufhin dieser den Kopf wiegte.

28 „Meine lieben Freunde,“ verkündete er schließlich, „Als


29 Zeichen meines Dankes würde ich dem Menschen, dem ich es zu

30 verdanken habe, heute mit euch an diesem Tisch zu sitzen,

286
1 einen Wunsch erfüllen. Es ist ein Wunsch von Freiheit. Eine

2 lange Sehnsucht. Geradezu ein Schrei danach. Tim River, ich

3 möchte dir…“

4 Die Anspannung pulsierte durch den Raum, als Scott sich

5 bückte, um etwas hervorzuholen. Man konnte förmlich spüren,

6 wie es die Luft aus allen Lungen heraus sog. Mein Herz

7 pochte wild. Einen Wunsch? Einen freien Wunsch nur für mich?

8 Gespannt kaute ich auf meinen Fingernägel, sodass ich

9 augenblicklich der bittere Geschmack des Gels meinen Mund

10 anfüllte. Fest schloss ich die Augen und, als ich sie

11 Sekunden später wieder öffnete, hielt ich ein Schiff in der

12 Flasche in der Hand.

13 Enttäuscht schüttelte ich es. Ein Schiff in einer Flasche?

14 Heute war nicht der erste April. Und nein, heute war auch

15 nicht Karneval oder ein anderer Tag, an dem man sich solche

16 üblen Scherze erlauben konnte. Nicht, dass ich viel erwartet

17 hätte, aber…

18 „Du siehst nicht glücklich aus, mein Sohn. Gefällt es dir


19 etwa nicht?“, bemerkte Scott und legte das Messer beiseite.

20 „Doch, doch.“

21 „Warte nur, bis du das Original gesehen hast.“ Die ältere

22 der beiden Frau, die mir schräg gegenüber saß, zwinkerte mir

23 durch ihre moderne, randlose Brille zu. Sie trug

24 Freizeitkleidung, obwohl sie sich darin seltsam unwohl zu

25 fühlen schien. Ihrem ernsten, kritischen Gesichtsausdruck

26 entsprechend fand man sie wahrscheinlich die meiste Zeit

27 ihres Lebens in einem Labor, in dem sie jedes einzelne noch

28 so winzige Teilchen aufspürte und bis zu Perfektion


29 analysierte.

287
1 „Es liegt in Lomé vor Anker.“, fügte der Mann neben ihr

2 mit einem hörbaren Spanisch-Portugisischen Akzent hinzu,

3 „Dort ist der Heimathafen unserer Schiffe.“

4 „Das Original?<

5 „Ja.“ Maurice Scott hielt kurz inne, um Mallium zu

6 gestikulieren, dass man seinen Gästen Wasser nachschenken

7 sollte. Auch mein Glas wurde von der nun herbeieilenden

8 Afrikanerin neu mit Wasser und Eiswürfel gefüllt, obwohl ich

9 es erst zur Hälfe geleert hatte. Dankend nickte ich ihr zu.

10 „Ich ermögliche dir, mit einem meiner Handelsschiff über die

11 Weltmeere nach Spanien zu segeln.“, fuhr Scott fort.

12 „Ich und segeln? Nach Spanien?“

13 Es fiel mir nicht schwer, meine Verblüffung zum Ausdruck

14 zu bringen.

15 „Natürlich nicht alleine, versteht sich. Mit einer kleinen

16 Besatzung deiner Wahl.“

17 „Cool!“ Mehr brachte ich in diesem Moment nicht hervor.

18 Wir könnten nach Spanien, nach Spanien, in das Land, in dem


19 niemand mehr hungern und leiden musste. In das

20 Schlaraffenland. Den ganzen Tag über würden wir im Wasser

21 plantschen können, ohne Angst vor giftigen Wesen haben zu

22 müssen, und nach einem Abendessen mit warmen Nutellabrötchen

23 und einen riesigen Auswahl an Cornflakes in dem abgekühlten

24 Sand Fußball spielen. Wir alle hätten ein großartiges Haus

25 unmittelbar am Stand mit kleinem Swimmingpool und jedes von

26 uns Kindern ein eigenes Zimmer, ausgestattet mit Fernseher

27 und einer Menge Spielzeug. Unser Traum wäre erfüllt und ich

28 hätte niemanden enttäuscht, nicht einmal Mathieu.


29 „Ich weiß nicht, wie ich dir anders danken sollte. Du bist

30 nicht weitergelaufen, hast mich nicht dort liegen lassen…

288
1 obwohl es für dich vielleicht besser gewesen wäre. Ich liebe

2 Ehrlichkeit. Sie ist das, was den meisten Menschen fehlt und

3 das bedauere ich.“

4 Erstaunt über die plötzliche Veränderung des Sirs runzelte

5 ich die Stirn. Noch vor Tagen hätte er behauptet, dass

6 Ehrlichkeit einem keinen Ruhm verleiht, sondern eher

7 schadet. Dass man alles nehmen sollte, nur sich selbst

8 gerecht zu werden. Aber nun? Vergiss einfach, was der Mann

9 gesagt hat und was nicht. Es ist nicht mehr wichtig, sagte

10 ich mir und vielleicht übersah ich in meinem Glück deshalb

11 das Entscheidende.

12 „Du hingegen bist aufrichtig. Und aus diesem Grund sollest

13 du das bekommen, was du verdienst.“ Der Meister erhob sich

14 unter Applaus seiner Anhänger und reichte mir die Hand. „Ich

15 möchte dir die ewige Freiheit schenken, Tim River, Sohn

16 unseres achten Mitgliedes, Marc River, den wir alle in guter

17 Erinnerung behalten werden.“

18 Misstrauisch beäugte ich die knochigen, skelettähnlichen


19 Finger. Los, nimm schon die Hand, gleich ob deine eigene

20 noch so sehr klebt. Alles wird wieder gut. So wie es vorher

21 war, nur besser. Doch auf einmal ließ mich ein unbestimmtes

22 Gefühl zögern. Mein Blick schweifte über die Köpfe der

23 Menschen hinweg, die sich ebenfalls erhoben hatten und

24 gespannt meine Reaktion beobachten. Nur Tess nicht. Tess

25 kauerte mit verschränkten Armen neben mir auf ihrem Stuhl.

26 Sicherlich war sie wütend, dass man ihr keine Aufmerksamkeit

27 schenkte, obwohl sie die Lady des Hauses war. Den Kopf ein

28 wenig schief gelegt, nickte ich langsam. Ja, Tim, du darfst


29 nach Spanien reisen, darfst alles hinter dir lassen, was in

30 den vergangenen Monaten geschehen ist. Wie einen bösen

289
1 Albtraum, aus dem du endlich erwachst. Ich lächelte. Und Kay

2 kann dich wieder auf die Nase boxen, wenn ihr zusammen eine

3 Burg aus weißen, feinen Sand baut, sie aber deinetwegen am

4 nächsten Morgen vom Wasser zurück ins Meer gezogen wird.

5 Ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, ob es

6 das Richtige war - was war es überhaupt, was richtig war? -

7 schüttelte ich die Hand jenes Mannes, der mein Leben

8 zerstört hatte.

9 Frühling 2000.

10 Das Frachtschiff ist groß, welches in Travemünde an der

11 deutschen Ostsee vor Anker liegt. Größer als alles, was ich

12 bisher gesehen habe. Mich faszinieren die Kräne, die wie

13 Dinosaurier die Vielzahl der kleinen, bunten, viereckigen

14 Container von Bord tragen, ebenso wie es mich fasziniert,

15 dass der dunkelhäutige Kapitän mit dem wettergegerbten

16 Gesicht die Macht über dieses riesige Seeungeheuer besitzen

17 konnte. Dessen metallischen Seiten sind ausgebeult, der Name

18 „Tasarama I.” kaum mehr lesbar. Das Schiffe erweckt den


19 Anschein, als sei es von allen Geister dieser Welt verlassen

20 worden - mit Ausnahme seines Führers, der es durch die

21 sieben Weltmeere lenkt, ob im Sturm oder in Ruhe, in Kriegs-

22 oder Friedenszeiten, immer Meine Hände umklammern den

23 Maschendrahtzaun, bis mir das Metall in die Haut schneidet,

24 als ich an dem verschlossene Tor mit dem deutlichen, gelben

25 Hinweis „Schwergebiet. Kein Zutritt!” vergeblich rüttele.

26 Mama zieht mich sanft zu einer Bank herüber, auf der Papa

27 mit drei Kugel Eis wartet. Meins ist eines mit

28 Erdbeergeschmack. Aber ich reiße mich los, renne zurück zu


29 dem Zaun.

290
1 „Mami, Mami! Wenn ich groß bin, will ich mal auf so einem

2 Schiff fahren.“

3 „Natürlich, Timmy.“ Mama streicht mir lachend eine Strähne

4 aus der Stirn, „Mein kleiner Seeräuber.“

5 Diese Erinnerung, die nun in meinen Gedanken auftauchte,

6 als ich das Frachtschiff in der Flasche auf der bemalten

7 Truhe am Fußende des Bettes betrachtete, ließ mich

8 schmunzeln, stimmte mich jedoch zugleich traurig.

9 Geisterabwesend wandte ich den Blick ab, die Hände an dem

10 metallischen Geländer des Balkons abgestützt, und starrte in

11 den Sternenübersäten Himmel. Nur der Westwind der Nacht des

12 2. Augustes trug gelegentlich das gruselige Heulen eines

13 Tieres zu uns herüber, ansonsten schwieg die Erde, wie ein

14 in den Schlaf gewiegt Kleinkind, beschützt von den tausenden

15 und abertausenden Lichtern um es herum. Vorsichtig, bedacht

16 diese Ruhe nicht zu zerstören, zog ich die Jacke enger um

17 meine Schultern. Ich fror und eigentlich hätte ich mich

18 längst für die Reise erholen sollen, aber seltsamerweise


19 konnte ich nicht. Schon bald würde ich Afrika verlassen und

20 gemeinsam mit meinen Freunden auf einem Schiff nach Spanien

21 segeln. Ich, euer großer Sohn, Mama und Papa. Doch - selbst

22 wenn ich dort wäre, wo wärt ihr dann? Was, wenn ihr mich

23 nicht mehr findet, in all den Menschenmassen aus den Augen

24 verliert, sowie einst in dem riesigen Einkaufscenter. Bitte,

25 Mama, bitte Papa, ich brauche euch doch so sehr, kommt

26 zurück! Vergeblich wartete ich auf ein Zeichen. Die Sterne

27 standen bewegungslos am Himmel. Ja, leuchtet nur, ihr

28 Blöden, leuchtet, bis ihr zerplatzt. Euer Licht bringt


29 sowieso niemandem etwas, völlig schwachsinnig, dass ihr

30 überhaupt da seid!

291
1 „Läuft dort oben ein toller Film oder warum starrst du in

2 den Himmel?“

3 Erschrocken fuhr ich herum. „Ähm... Nein. Eigentlich

4 nicht.“

5 Tess schloss leise die Tür hinter sich, während sie mitten

6 im Zimmer inne hielt, um ihr weißes, kurzer Jäckchen über

7 dem rot gepunkteten Nachthemd zuzuknöpfen. Dabei blieb ihr

8 Blick an dem Schiff hängen. „Du willst also wirklich?“,

9 erkundigte sie sich nach einer Weile, als sie auf den Balkon

10 hinaustrat.

11 Ich zuckte, ohne mich umzudrehen, die Achseln, nickte

12 schließlich weniger überzeugt.

13 „Warum?“

14 Warum war eine gute Frage. Wenn ich ehrlich bin, habe ich

15 keinen Grund. Ob ich nun in Spanien einsam wäre oder hier…

16 was machte dies schon für einen Unterschied? Hier hätte ich

17 wenigstens - auch auf die Gefahr hin, dass es dumm klingen

18 könnte - hier hatte ich ein Dach über dem Kopf, jemand der
19 sich um mich kümmert, etwas zu essen, saß nur selten alleine

20 im Boot… Warum also? Vielleicht, weil es ein Traum war.

21 Unser großer Traum. Der Einzige, an den ich mich noch

22 klammern konnte, der mir Kraft gab, nach vorne zu blicken.

23 Vermutlich aber trieb mich der Gedanke an Mama dorthin. An

24 unseren letzten, gemeinsamen Sommerurlaub. Und auch ein

25 bisschen die Hoffnung, meine Tante dort anzutreffen, die es

26 nach ihrem Studium auf die kanarischen Inseln gezogen hat.

27 Dies erwiderte ich der Tochter des Sirs, die daraufhin den

28 Kopf schief legte und ebenfalls nachdenklich in die Sterne


29 sah. „Dort draußen geht es einem besser, oder?“

30 „Weiß nicht.“

292
1 „Ich meine, gefährlich ist es. Was geschieht mit einem,

2 wenn man drüber ist? Wo wohnen, wo spielen? Glaubst du in

3 Spanien gibt es Tanzschulen?“

4 „Weiß ich nicht, Tess.“

5 Das Mädchen schluckte bedächtig, als wolle es noch etwas

6 sagen, kaute aber lediglich auf seinem Kaugummi. Unauffällig

7 beobachtete ich es von der Seite. Ich mochte Tess. Denn

8 trotz all des Misstrauens haben wir viel zusammen erlebt,

9 viel zusammen erreicht. Wir kennen beide die Wahrheit über

10 unsere Väter und waren darüber hinaus so etwas wie Freunde

11 geworden, selbst wenn wir es noch so abstritten und

12 feierlich zu jedem Anlass geloben würden, dass wir einander

13 nicht ausstehen konnten. Nur morgen oder übermorgen oder an

14 dem Tag danach werden wir uns niemals wieder sehen und ich

15 ahnte, dass ich sie ein klitzekleines bisschen vermisste.

16 Schließlich gehörte sie neben Kay, Mathieu, Jabali, dem

17 Wächter, Reni, Kassian, Enrique und deren Familien,

18 ebenfalls zur Besatzung.


19 „Willst du mitkommen?“

20 Erstaunt stieß Tess sich von der Brüstung ab, um mit einem

21 Schwung eine Drehung auszuführen. „Was?“, fragte sie, als

22 hätte sie mich nicht verstanden.

23 „Ob du mitkommen willst. Mit nach Spanien.“, wiederholte

24 ich daher, mich ebenfalls von dem Balkon abwendend.

25 „Ich? Spinnst du, wie kommst du denn darauf?“

26 „War nur eine Idee.“ Ich winkte ab. „Einer meiner

27 lächerlichen Einfälle.“

28 Schweigen. Zögernd nahm ich ihre Hand, drückte sie fest,


29 während ich sie sacht unter meinem Arm durch eine weitere

30 Drehung tanzen ließ. Sie kicherte verlegen, seltsam

293
1 vergnügt, als sei sie auf einmal ein anderer Mensch

2 geworden. Als sei sie nicht die selbstsichere, eitle Tochter

3 eines Sirs, sondern ein Freund. In Gedanken zählte ich ein

4 eins, zwei und führte das Mädchen blindlings durch das

5 Gästezimmer. Musik und Takt entstanden in unseren Köpfen.

6 Wir tanzten – Seit, Schritt, Platz, Cha-Cha, bis es

7 plötzlich ruckartig in Mitten eines Tores stehen blieb und

8 mich anstarrte. Beinahe lautlos murmelte es: „Kay, ich habe

9 Kay vergessen!“

10 Das Jäckchen über ihre Brust glatt streichend, stolzierte

11 Tess zur Türe. Bevor sie verschwand, drehte sie sich

12 nochmals im Hinunterdrücken der Klinke zu mir um: „Es war

13 kein lächerlicher Einfall, Tim.“

14 Verwirrt kratzte ich mich am Kopf, ein wenig enttäuscht,

15 dass Tess mich im Stich ließ. Kay, ich habe Kay vergessen,

16 hatte sie behauptet, doch was meinte sie damit? Langsam

17 wollte ich ebenfalls einen Blick auf den Flur hinauswerfen,

18 als ich im selben Moment mit jemandem zusammenstieß. Das


19 Mädchen, das nicht mit dieser Kopfnuss gerechnet hatte,

20 taumelte zurück und wäre vermutlich gestürzt, hätte ich es

21 nicht im letzten Augenblick aufgefangen. Dankbar lächelte

22 Kay mich an, während ich sie behutsam zu mir hochzog und mit

23 dem Zeigefinger über ihre leicht gerötete Schläfe fuhr. Das

24 würde eine schöne Beule werden! Erst jetzt bemerkte ich die

25 Bluttropfen auf ihrer angeschwollenen Unterlippe. Tim, was

26 hast du wieder getan?

27 „Es tut mir Leid. Es tut mir Leid, Kay.“, stotterte ich

28 einige hundert Male und setzte sie auf einen der beiden
29 Stühle auf dem Balkon. Stöhnend rieb sie sich über ihr

294
1 Gesicht, scheinbar belustigt darüber, wie fürsorglich ich

2 wegen meines schlechten Gewissens sein konnte.

3 „Schon okay. Von dir hätte ich auch nichts anderes

4 erwartet.“

5 Während ich ebenfalls einen Stuhl für mich heranzog,

6 betrachtete ich meine beste Freundin von oben bis unten. Ihr

7 haselnussbraunes Haar wurde von einer Spange festgehalten.

8 Dennoch fielen einige Strähnen eigensinnig heraus,

9 umspielten zart ihr kantiges, hübsches Gesicht. Sie trug ein

10 weites T-Shirt, dazu eine etwas ältere, kurze Jeans, sodass

11 ihr Tattoo in Form eines kleinen, springenden Delphins gut

12 zu Geltung kam. Auch ihre Zehennägel, die aufgrund der

13 Sandalen sichtbaren waren, wiesen eigenartige Hieroglyphen

14 auf. Was sie bedeuteten, wusste ich nicht, obwohl ich mich

15 das schon damals oft gefragt hatte, wenn sie im Schatten der

16 Bäume etwas auf ihren Block kritzelte, es anschließend

17 zerriss und von Neuem begann, während wir anderen

18 umhertollten. Kay war ein geheimnisvolles Wesen,


19 geheimnisvoller als jedes Schokoladenüberraschungsei oder

20 jede Wundertüte. Wahrscheinlich mochte dies der Grund sein,

21 weshalb ich sie so sehr liebte, auch wenn ein Junge

22 hinsichtlich der Zuneigung zu einem Mädchen nicht derart

23 schwach sein sollte. Männer weinen nicht, Männer sind

24 tapfer. Papa hat das mehrmals betont, wenn ich nachts an

25 sein Bett tapste, aus Angst vor den gruseligen Schatten an

26 den Wände oder den knurrenden Monstern unter der

27 Schlafcouch. Ich sei eine Heulsuse. Nicht einmal

28 Fruchtzwerge würden noch helfen, aus mir einen einigermaßen


29 großen und starken Jungen zu zaubern.

30 „Wie bist du eigentlich hierhergekommen?“

295
1 Wie betört von ihren blauen Augen zog es mich in die

2 Realität zurück. Kay, die ein Bonbon lutschte, legte mit

3 einem fragenden Blick den Kopf ein wenig schief.

4 Zögernd räusperte ich mich, doch dann verspürte auch ich

5 plötzlich das dringende Bedürfnis, meine Erlebnisse zu

6 erzählen. Vielleicht, so dachte ich, würden die Worte, wenn

7 ich sie aussprach davon fliegen und nie wieder zurückkehren.

8 Ja, ich könnte meine Geschichte tatsächlich für etwas frei

9 Erfundenes halten, etwas, was nur in meinen Albträumen

10 geschehen war. Und so begann ich, ihr von der Flucht aus dem

11 Dorf zu erzählen. Oder im Grunde fing ich noch viel, viel

12 früher an: Damit, dass meine Mutter gestorben war. Dies

13 mochte der Auslöser dafür gewesen sein, weshalb ich nun hier

14 tausende Meilen von meiner Heimat entfernt neben ihr auf dem

15 Balkon einer fremden, weißen Backsteinvilla kauerte. Denn

16 wäre Papa mit Mamas Tod zurechtgekommen, hätte der Meister

17 ihn, - wenn überhaupt - nur schwer mit Drogen verführen und

18 für seine fiesen Pläne missbrauchen können. So reisten wir


19 nach Afrika, ich lernte dich kennen, Kay, mein

20 Schwesterchen, und bis zu dem Tag, an dem Papa diesen Unfall

21 hatte, war ich eines der glücklichsten Kinder im gesamten

22 Universums.

23 „Wie ist dein Dad gestorben?“

24 „Autounfall. Er hat in der Kurve die Kontrolle über den

25 Wagen verloren und ist unangeschnallt gegen einen Baum

26 gekracht.“ Seltsamerweise floss mir diese Lüge leicht von

27 den Lippen. Theoretisch gesehen beinhaltete diese Aussage

28 lediglich das, was man mir vorgegaukelt hatte und, obwohl


29 ich Kay vertraute, hielt ich es für besser, wenn auch sie

296
1 sich an diese Fassade der Wahrheit klammern konnte. Alles

2 Übrigen würde sie vermutlich verunsichern und schockieren.

3 Und so beließ ich es dabei und berichtete mit Händen und

4 Füßen, wie es Mathieu und mir gelungen war, uns unbemerkt

5 nach Kpalimé durchzuschlagen. Wie ich herausfand, dass Sir

6 Scott mit dem Unfall in Verbindung stand und wie wir letzten

7 Endes hier gelandet sind.

8 Kay nickte gelegentlich, ansonsten lauschte sie schweigend

9 meinen Worten.

10 Dass mich irgendwelche irren Ärzte um ein Haar auseinander

11 genommen hätten, aber aus einem schleierhaften Grund daran

12 gehindert wurde. Die Narbe am Oberarm mochte die einzige

13 Spur dieser schrecklichen Nacht sein, die sie hinterließen…

14 obwohl ich im Nachhinein, bei meinem missglückten

15 Fluchtversuch über den Zaun der Plantage, auf der ich nun

16 arbeiten sollte, verstand, wieso. Das Haus ist in

17 verschiedene Zonen unterteilt, die man nur mit verschiedenen

18 Magnetchips betreten darf, die entweder unterhalb der


19 Hautschicht platziert werden oder in Form von Karten

20 auftauchen. Versucht man dennoch, auszubrechen oder in einen

21 verbotenen Teil zu gelangen, setzt ein Jucken ein, welches

22 bereits nach Sekunden kaum auszuhalten ist.

23 Bei diesem Gedanken musste ich mich augenblicklich

24 kratzen, als hätte mich eine Mücke gestochen. Mit den

25 abgeknabberten Fingernägeln rieb ich über die errötete

26 Stelle, während ich weitererzählte. Von meinen neuen

27 Freunden, die ich gefunden hatte, aber auch von den vielen

28 Feinde, die mir das Leben zur Höllen machten. Als ich
29 Mathieu auflistete, mit dem ich mich im Gewitter geprügelt

30 und wegen dem ich zum Glück nur in der Küche unter der

297
1 Fetische des absolut grässlichen Kochs Malliums Fischen die

2 Köpfe abschlagen musste, klappte sich Kays Mund auf und

3 wieder zu, doch mit einem Handzeichen verdeutlichte sie mir,

4 dass ich mich von ihr nicht weiter ablenken lassen sollte.

5 Ein wenig stolz berichtete ich von dem Einbruch in das

6 Arbeitszimmer meines Vaters.

7 Um sie vor den grausamen Details des Kamikazebündnisses zu

8 schonen, murmelte ich lediglich, dass sowohl Scott, als auch

9 Papa und die anderen Mitglieder vielen Menschen wehgetan

10 hätten. Sehr, sehr weh getan, ergänzte ich in Gedanken.

11 Glücklicherweise hackte Kay nicht weiter nach, sondern

12 schien sich viel mehr damit zufrieden zu geben, was ich ihr

13 preisgab. Mittlerweile lutschte sie ein weiteres Bonbon; aus

14 ihrer Richtung strömte ein herrlicher Duft nach Kirschen.

15 Ihre schmalen Lippen waren leicht bläulich vor Kälte, aber

16 ihr edler Schein verlieh auch ihnen einen überirdischen

17 Glanz. Bemühte, mich davon nicht beeinflussen zu lassen,

18 führte ich das Männchen namens Tim zum Ziel des


19 Spielbrettes. Lediglich die Felder, dass ich dich, Kay,

20 gemeinsam mit Zarin, der ebenfalls für den Meister arbeiten

21 musste, in dem Anhänger gefunden und bei einem Ausflug

22 zufällig das Leben dieser Monsters gerettet hatte, weshalb

23 dieser mir die Freiheit und das Schiff schenkte, mit dem wir

24 unseren Traum erfüllen konnte, fehlten. Ende. Aus, vorbei.

25 Die Geschichte war erzählte, zumindest bis hierhin. Oder

26 fast jedenfalls… Kurz überkam mich erneut das Verlangen, ihr

27 die vollständige Wahrheit nahe zu bringen, doch dann

28 entschied ich mich dagegen. Ich hätte sie nicht belogen, ihr
29 bloß einige Fakten verschwiegen.

298
1 Schweigend wartete ich auf eine Reaktion meiner besten

2 Freundin. Aber diese mochte völlig anderes ausfallen, als

3 ich jemals für möglich gehalten hätte. Ich wusste auch nicht

4 recht, was ich erwartet hatte. Eine anerkenne Umarmung

5 vielleicht, ein erleichtertes Aufatmen.

6 „Tess war bei dir, nicht wahr?“

7 Die Frage traf ich unverhofft, sodass ich stutzte. Kay

8 lächelte, doch in ihren Augen erkannte ich, wie verzweifelt

9 sie dabei wirkte.

10 „Ja, Tess war bei mir. Warum?“, erwiderte ich irritiert,

11 während ich nach einem Bonbon langte, dass sie mir, ohne

12 mich eines Blickes zu würdigen, reichte.

13 „Magst du sie?“

14 Zögernd wiegte ich den Kopf, nickte schließlich, wobei ich

15 das Bonbon in der Hand wog. „Ja, wieso auch nicht? Ich weiß,

16 sie ist manchmal eine angeberische Ziege, vollkommen

17 übergeschnappt, wenn du mich fragst, aber eigentlich nett.“

18 Das durchsichtige Papierchen raschelte. „Ich habe sie


19 gefragt, ob sie mit uns kommen nach Spanien will.“

20 Kay verschluckte sich an dem Zuckerklumpen in ihrem Hals,

21 sodass sie hustend nach Luft ringen musste. Panisch sprang

22 ich auf. Der Stuhl kippte hinten über, aber selbst wenn der

23 Krach den Meister oder jemanden geweckt haben sollte, so

24 wäre es mir egal. „Kay!“ Behutsam klopfe ich ihr auf den

25 Rücken. Einmal, dann zweimal etwas fester, bis sie das

26 schleimige Bonbon aus ihrem Rachen zurück auf den gefliesten

27 Boden des Balkons beförderte. „Alles okay?“

28 Keine Antwort. Betroffenes Schweigen. Um mir auszuweichen,


29 drehte das Mädchen den Oberkörper ein wenig zur Seite und

299
1 starrte in den Himmel, als gäbe es dort, Wundervolles zu

2 entdecken.

3 „Alles okay bei dir? Rede mit mir!“

4 Doch sie würde mir auf ewig eine Antwort schuldig bleiben.

5 Für den Bruchteil einer Sekunde strichen ihre Härchen am

6 Unterarm über die meine. Ihre dünnen, kalten Finger

7 verkrampften sich in meiner schweißnassen Hand, als wollten

8 sie diese nie wieder loslassen. Dabei bohrte sie einer ihrer

9 Nägel tief in mein Fleisch, doch dieser Moment war es nicht

10 würdig, von einem Aufschrei gestört zu werden. Leise, mit

11 einem sehnsuchtsvollen Blick in die Sterne, begann sie, ein

12 Lied zu summen. Sein Text wurde von einer Melodie untermalt,

13 die ebenso schön, wie traurig durch die Dunkelheit

14 davongetragen wird. Dennoch spürte ich in diesem Augenblick

15 nichts weiter als das überwältigende Gefühl von etwas, dass

16 ich nicht zu zuordnen vermochte, weil es kein Wort dafür gab

17 und vermutlich auch nie eines geben würde. Unbeschreiblich,

18 nannte ich es daher, obwohl diese wiederum eine Beschreibung


19 wäre, die das beschrieb, was nicht zu beschreiben war. Im

20 Grunde mochte es auch gleich sein, wie es hieß. Denn solch

21 ein Gefühl empfand jeder Mensch anders, schätze ich. Für

22 mich war es eine willkürlich zusammen gemischte Suppe aus

23 Glück, Pech, Hass, Liebe, Geborgenheit, Einsamkeit, Trauer,

24 Freude, Wärme, Kälte, Erleichterung, Angst, Sicherheit,

25 Verzweiflung, Leidenschaft, Unbehagen, Sehnsucht. Vor allem

26 aber Verwirrung, die wie ein Gewürz die kochende, wohl

27 riechende Flüssigkeit schmückte.

28 Mein Herz pendelte wie ein getroffenes Tier durch meinen


29 Brustkorb, sodass ich für Sekunden glaubte zu sterben.

30 Bewegungslos beobachte ich Kay im Blickwinkel, während ich

300
1 gespannt ihrer sanften Stimme lauschte, ohne den Sinn zu

2 verstehen. Kay, bitte sieh mich an! Als hätte es meine

3 Gedanken lesen können, brach das Mädchen seinen Gesang

4 abrupt ab.

5 „Ich komme nicht mit nach Spanien.“

6 In diesem Moment ist für mich eine Welt zusammengebrochen.

7 „Ich komme nicht mit nach Spanien, Tim.“ Meine beste

8 Freundin, meine Schwester… Nein! Sicherlich hast du dich

9 bloß verhört. Es war unser Traum, unser gemeinsamer Traum,

10 etwas, für das wir gekämpft haben, wir alle zusammen.

11 Weshalb wollte sie dies plötzlich aufgeben? Das machte doch

12 keinen Sinn!

13 „Ich glaube an dich, Tim. An dich und Mathieu. Hoffentlich

14 werdet ihr es schaffen, aber für mich…“

15 Energisch schüttelte ich sie an den Schultern, doch sie

16 wich mir aus, als sei ich nicht da, nur die Sterne hoch über

17 ihrem Kopf, das leise Plätschern des Brunnens, der

18 Nachtwind, der sacht durch ihr Haar fuhr.


19 „Warum?“, fragte ich beinahe brüllend.

20 „Ich kann nicht. Meine Eltern und … Ich habe Angst…“

21 „Die haben wir alle. Aber egal was auch passiert, ich

22 werde dich niemals im Stich lassen, versprochen? Großes

23 Spanien-Ehrenwort, okay?“

24 Zuversichtlich lächelnd hielt ich ihr meine Hand hin, wie

25 so oft, als wir geschworen hatten. Doch dies Mal griff sie

26 nicht danach, betrachtete sie nur. „Ich kann nicht.“,

27 wiederholte sie stattdessen noch einmal. „So viel Wasser.

28 Überall.“
29 Natürlich! Plötzlich ergab alles in dem Labyrinth mit den

30 vielen, ineinander verworrenen Gängen einen sinnvollen Weg

301
1 hinaus. Deshalb war Kay niemals in den Fluss gesprungen,

2 sondern hatte sich wenn überhaupt nur zögerlich

3 hineingetastet, obwohl die anderen dann immer verächtlich

4 spotteten. Sie hatte schlicht und ergreifend panische Angst

5 davor in diesen dunklen, geheimnisvollen Fluten zu

6 ertrinken. Und du Tim, du hast ihr niemals geholfen, gleich,

7 obwohl sie deine beste Freundin ist. Du hast sie sogar

8 einmal absichtlich unter Wasser gedrückt. Was bist du nur

9 für ein Idiot? Vielleicht hättet ihr gemeinsam eine Lösung

10 finden können, einen Ausweg. Denn diesen mochte es immer

11 geben… jedenfalls theoretisch.

12 „Ich verspreche dir, dass dir nichts passieren wird. Wir

13 sind auf einem Schiff, das Wasser liegt ganz tief unter uns

14 und kommt nicht an dich ran. Und wenn… Ich werde auf dich

15 aufpassen!“

16 Unbeholfen strich sie eine Strähne aus der Stirn, während

17 sie sich von dem Stuhl erhob, die Lippen zu einem schiefen

18 Lächeln verzogen. „Nein. Tut mir Leid…“ Ich spürte ihren


19 warmen Atem an meinem Hals, konnte förmlich ihrem

20 unregelmäßigen Herzschlag lauschen. Poch… Poch, poch… Oder

21 mochte dies mein Eigener sein? Poch, poch-poch, poch… Ich

22 wusste es nicht. Vielleicht war es auch ein Bündnis aus

23 unseren beiden - was machte dies schon für einen

24 Unterschied? Unschlüssig standen wir voreinander, ohne uns

25 anzusehen. Es gab nichts mehr zu sagen. Außer… „Du bist

26 meine bester Kumpel, Kay.“

27 Das schottische Mädchen nickte, streichelte mir beruhigend

28 über den Unterarm.


29 „Du meiner auch, Tim.“ Schluckend wandte sie sich ab,

30 umklammerte das Geländer, als schenkte es ihr den fehlenden

302
1 Halt. Kay… Bitte, bitte komm mit nach Spanien. Ich will dich

2 nicht noch einmal verlieren… Nicht noch einmal… Ich mag dich

3 so sehr. Wie soll ich es nur ohne dich schaffen, etwas auf

4 die Beine zu stellen? Siehst du denn nicht, dass ich mich

5 selbst nur in Schwierigkeiten und Chaos stürze, wenn du

6 nicht da bist? Sanft schlang ich meinen Arm um ihre Taille,

7 legte meinen Kopf auf ihre Schultern, genauso, wie ich es

8 oft in den Filmen gesehen hatte. Frauen mochte das in der

9 Regel - mit Ausnahme von Kay. Diese stieß mich traurig zur

10 Seite.

11 „Nimm Tess mit.“, murmelte sie, „Ich bin sicher, ihr, du

12 und sie, werdet…“ Das Mädchen stockte. „…bessere Freunde.“

13 Mit diesen Worten wollte sie davon stürmen, doch ich hielt

14 am Ellenbogen fest.

15 „Nein, Kay, das werden wir nicht.“, versicherte ich ihr,

16 wobei ich ihr Tränen überströmtes Gesicht an meine Brust

17 drückte. Eine Weile standen wir einfach nur da, bis sie alle

18 ihre salzigen Flüssigkeitsvorräte aufgebraucht hatte und


19 nach Luft ringen musste. „Wenn du einen Delphin siehst,

20 grüßt du ihn von mir, ja?“

21 „Mach ich, Kay. Großes-Spanien-Ehrenwort. Und jetzt nicht

22 mehr weinen, klar?“

23 Sie wiegte den Kopf, ein feuchtes Glitzern im Augenwinkel.

24 „Okay.“, gähnte sie, einen flüchtigen Blick auf den Wecker

25 werfend. „Ich muss schlafen gehen.“

26 „Du kannst hier schlafen. Ich habe genug Platz. Dann

27 können wir noch etwas Mau-Mau spielen oder so.“, schlug ich

28 vor, wobei ich die Schublade aufzog und ein neues


29 Kartenspiel zu Tage beförderte.

303
1 „Mau-Mau? Du hast echt keine besseren Einfälle, als nachts

2 um 11 Uhr Mau-Mau zu spielen?“ Kay grinste. „Nein,

3 ernsthaft. Ich bekommen Riesenärger, wenn ich morgen früh

4 nicht da bin.“ Flüchtig umarmte sie mich zum Abschied und

5 schlich zwinkernd zur Tür. „Vielleicht einander Mal.“, fügte

6 sie beim Hinausgehen hinzu.

7 Vielleicht einander Mal. Doch es würde niemals einander

8 Mal geben. Das wussten wir beide in jener Nacht, auch wenn

9 wir nicht wagten, dies auszusprechen.

10 Vielleicht einander Mal.

304
1 13. Kapitel
2 Der abgebrochen Ast, der mir als Paddel dient, ist zu

3 kurz, das Kajak hoffnungslos wacklig. Als ich mein Gewicht

4 beim Abstoßen von dem Stein zu verlagern versuche, gerät

5 derart heftig ins Schwanken, dass es zu kentern droht. Im

6 letzten Augenblicklich, das Wasser läuft mir über das

7 Gesicht, fange ich es auf. Erneut, diesmal etwas

8 vorsichtiger, drücke ich mich ab und tatsächlich gelingt es

9 mir, dass Kajak, das sofort von der Strömung mitgerissen

10 wird, waagerecht auf den Fluten gleiten zu lassen. Immer

11 schneller entferne ich mich von der Villa. Aber jubeln kann

12 ich dennoch nicht, weil ich spüre, dass das, was mich nun

13 erwartet, eine noch größere Herausforderung sein würde.

14 Tosendes Wasser, irgendwo hinter der nächsten Biegung.

15 Vorsichtig tauche ich den Ast ins Wasser, um herauszufinden,

16 wie ich das Kajak lenken kann und wie es reagiert, wenn ich

17 im Fluss auf irgendwelche Hindernisse treffe.

18 Die Strömung ist stark, das Ufer steil, eine Möglichkeit


19 zum Anhalten gibt es nicht. Die Wurzeln der Bäume hängen von

20 den Felsen herab, verschwinden in der braunen Brühe, die von

21 den Steinen wie in einer natürlichen Rutsche eingegrenzt

22 wird. Weiß und wild säumt das Wasser, bahnt sich seinen Weg.

23 Ich will aufschreien, als das Kajak von der ersten

24 Stromschnelle beinahe gegen den Fels geschleudert wird, doch

25 die Ekel erregende Flüssigkeit in meinem Mund unterdrückt

26 dies. Und, obgleich ich nicht weiß, wohin mich meine Fahrt

27 führt, ahne ich, dass es zweifelsohne keine leicht werden


28 würde. Panisch rudere ich gegen den Storm, bis ich erschöpft

305
1 aufgebe. Es hat keinen Sinn, überhaupt keinen Sinn gegen das

2 Mitreißen anzukämpfen. Die Fluten gewinnen immer.

3 Tief atme ich durch, presse die Lippen aufeinander, bis

4 sie weiß werden. Fest umkrallen meine Hände den Ast und

5 dann… Dann beginnt sich die Welt zu drehen. Nach links, nach

6 rechts, weiter nach rechts, nach links. Wasser klatscht mir

7 wie ein nasser Schwamm ins Gesicht. Erkennen kann ich nur

8 noch undeutliche Umrisse. Ein grünes Blätterdach über meinem

9 Kopf, Schatten zu allen Seiten. Ich weiß nicht mehr, wo ich

10 bin, weiß nicht mehr, wie lange ich schon fahre. Weiß nur,

11 dass es endlich aufhören soll, das Grauen. Gott, lass das

12 Boot kentern, lass mich ertrinken. Aber ich ertrinke nicht.

13 Irgendwie schaffe ich es, kann wieder sehen, wieder hören.

14 Egal, wie zerschlagen und erschöpft ich mich fühle: Ich habe

15 den Fluss besiegt. Ätsch, Sio River! Plötzlich erfasst mich

16 eine weitere Stromschnelle, wütender als die erste, und

17 reißt mich fort ins Ungewisse.

18 Verträumt starrte ich durch die Ritze, die die Plane bot,
19 zum Sio River hinüber, der neben der unebenen Straße her

20 Richtung Lomé treibt, den Kopf schwer auf die Hände

21 gestürzt. Ich hatte davon geträumt, einmal auf ihm davon

22 getragen zu werden, wie ein Reiter auf seinem Wasserpferd,

23 selbst wenn ich wusste, dass es nur den Mutigen dieser Welt

24 diese Ehre erweisen würde, zu denen ich zweifellos nicht

25 zählte. Ich wäre zu feige für solch ein Abenteuer. Als mir

26 der scharfe Motorqualm in die Nasse stieg, musste ich

27 husten. Kay, die eingepfercht zwischen zwei Holzkisten neben

28 mir auf der Decke hockte, die nur durch die dünnen
29 Ladefläche von dem rechten Hinterreifen getrennt wurde,

30 sodass wir jedes Schlagloch zu spüren bekamen, klopfte mir

306
1 sanft auf den Rücken. Angewidert verzog auch sie das

2 Gesicht. „Bah! Die armen Tiere da draußen. Die ersticken

3 bestimmt! Ist das eklig. Igitt.“

4 Seltsamerweise sagte sie dies in Englisch und nicht in

5 Französisch, wie es angebracht gewesen wäre. Verständnislos

6 starrte Reni von dem Schoss ihrer Mutter aus zu uns herüber,

7 widmete sich dann jedoch sofort wieder Kassians

8 sechszehnjähriger und bereits verheirateten Schwester

9 Dominique. Ihr und ihrem an HIV erkranktem Ehemann Amani

10 hatte man den gemeinsamen Sohn genommen, was beide noch

11 nicht verkraften konnten. Mit der Trauer wurde die junge,

12 wieder schwangere Frau lediglich fertig, indem sie sich mit

13 anderen Kindern beschäftigt, so wie jetzt, als sie vergnügt

14 mit dem kleinen Mädchen spielte. Amani hingegen, der sich

15 angeregt mit Jabali, dem Wächter, und seinem Schwiegervater

16 unterhielt, schwor heimlich Rache - ein Grund dafür, weshalb

17 er zu den wenigen zählte, die nicht an mir zweifelten.

18 Suleika, Tess Tanzlehrerin, die kichernd ihren Mann Faraji


19 und Kassian beim Raufen zurecht wies, ließ ihre Finger auf

20 dem Metall tanzen, um der Tochter des Sirs die neuen

21 Tanzschritte zu erklären, die man sicherheitshalber auf den

22 Vordersitz des Lasters verfrachtet hatte, der durch eine

23 dünne Trennwand von dem übrigen Teil der Ladefläche

24 abgeschnitten wurde. Dabei legte die Frau den Arm schützend

25 um die Schultern eines älteren Mannes, der abwesend vor sich

26 starrte. Einen Namen mochte er nicht haben, auch kein

27 Gesicht, keine Stimme. Dennoch war er darüber nicht

28 sonderlich traurig. Vielmehr schien es ihm egal. So wie


29 alles, was um ihn herum geschah. Nur Kalli, Tess Hund, der

30 natürlich auch nicht vergessen wurde, konnte diesem

307
1 unnahbaren Menschen ein Lächeln auf die geschwollenen Lippen

2 zaubern.

3 Seufzend wanderte mein Blick über die Köpfe aller

4 Anwesenden hinweg, bis er an der letzten Person hängen

5 blieb, die fernab auf dem Rücken lag und stur schweigend die

6 Wölbung der Plane über ihrem Kopf betrachte: Mathieu, mein

7 bester Freund. Als ich ihm auf der Plantage beim Ernten

8 begegnet bin, hat er mich kaum beachtet und als ich auf ihn

9 zu gegangen bin, hat er mir kaum Antwort gegeben. Ich hatte

10 das Gefühl, er sei immer noch wegen dieser ganzen Geschichte

11 gereizt und sauer. Dennoch entschied er sich, mich auf

12 dieser Reise zu begleiten. Großes-Spanien-Ehrenwort, hat er

13 mit einem schiefen Grinsen gemeint, die einzigen

14 zusammenhängenden Worte, die wir über Wochen ausgetaucht

15 haben. Auch Kay gegenüber war er abweisend, hatte ihr bei

16 einem flüchtigen „Hey, Kay-Linny!“ die Zunge

17 herausgestreckt. Seither schwieg er beharrlich und ich

18 zweifelte ins Geheim schon meine Entscheidung an, ihn


19 überhaupt eingeladen zu haben. Trotz allem, flößte ich

20 meinem Gewissen ein, er sei mein Freund und Freunde ließe

21 man nicht im Stich.

22 Das also waren die Menschen, mit denen ich nach Spanien

23 reisen würde: Mathieu, Tess, Kalli, dem Hund, Kassian,

24 dessen Familie - bestehend aus seiner Schwester Dominique,

25 ihrem Ehemann Amani, ihrem ungeborenen Kind und dem Vater

26 Richard - Jabali, dem Wächter, Suleika, deren Freund Faraji,

27 Reni und ihrer Mutter, dem Mann ohne Namen und zu guter

28 Letzt auch Mickie, der Wüstenrennmaus. Nur die Wichtigste


29 fehlte… Kay. Von ihr würde ich mich in Lomé vor dem Hôtel

30 Sarakawa, wo ihre Mutter als Managerin arbeitete,

308
1 verabschieden müssen. Vielleicht könnten wir an unserem

2 letzten gemeinsamen Abend noch einmal die Boulevard du Mono

3 (die Hafenstraßen mit einem herrlichen Blick auf den Golfe

4 de Bénin) entlang spazieren oder die Cathédrale de Lomé

5 besuchen können, aber dann… Ich sah zu ihr herüber, ein

6 feuchtes Glitzern im Augenwinkel. Dann… Als ihr Kopf

7 ebenfalls verwundert zu mir herum schoss, trafen sich unsere

8 Blicke, als hätte sie meinen auf ihrer Haut spüren können.

9 Oh Gott, Tim, jetzt starr sie nicht so an! Du siehst sicher

10 aus wie ein durchgedrehter Professor, der unter einem dieser

11 Mikroskope etwas wundersam Spannendes entdeckt hat… Okay,

12 zugegeben, das mit dem durchgedreht stimmt, aber… Tim!

13 Erst jetzt bemerkte ich, dass ich unbewusst ihr Handgelenk

14 mit meinen Finger umkrallte. Verlegen wollte ich sie lösen,

15 aber Kay legte sie vorsichtig in ihre warme und klappte

16 einen Finger nach dem anderen um. Die ganze Fahrt über und

17 selbst bei der Pause in Kéve, einer Stadt im Südwesten an

18 der Grenze Ghanas, brach dieses Bündnis nicht, sodass wir


19 gemeinsam auf die Toilette gingen, was in Anbetracht dessen,

20 dass sie groß musste, leicht problematisch wurde.

21 Nach einer vierzig Meilen langen Fahrt näherten wir uns

22 der Küste Togos. Bitte, lass uns auf ewig weiter fahren…

23 Kays Hand verkrampfte sich kurz in meiner, dann ließ sie

24 mich los, um durch ein Loch in der Plane auf der

25 gegenüberliegenden Seite neben Suleika hinauszusehen. Ich

26 senkte den Kopf, atmete tief durch. Tim, du wirst doch jetzt

27 nicht heulen, bloß weil du dich von diesem Mädchen

28 verabschieden musst! Immerhin hat sie dir oft genug


29 wehgetan. Nicht zuletzt die Nase!

309
1 Auch ich lugte durch eines der Löcher. Obwohl Lomé mit

2 seinen siebenhundertfünfzigtausend Einwohner das

3 Wirtschafts- und Handelszentrum des 56.785

4 Quadratkilometergroßen Landes in Westafrika sein mochte, so

5 erschien die Hauptstadt vor allem außerhalb ihres Kernes wie

6 ein Dorf: Niedrige, zumeist einstöckige Gebäude mit

7 hölzernen Vorbauten, an deren Stützen oder Balkan bunte

8 Tücher im Wind flatterten. Ein einem Container ähnlich

9 sehender Laden mit einer Telefonzelle, der durch alte

10 Autobatterien und Reifen vor Bodennässe geschützt werden

11 sollte, zwängte sich zwischen zwei Häuser. Vor dem einen

12 kauerten Kinder, die trotz des Staubes Kleider wuschen. Das

13 andere mochte eine Art Autowerkstatt sein, in der ein

14 Afrikaner mit großem Geschick ein Auto reparierte, welches

15 in Deutschland vermutlich längst auf dem Schrotthaufen

16 gelandet wäre. Gegenüber, nur durch eine breite, matschige

17 Straße getrennt, auf der sich das Wasser nach einem kurzen

18 Regenschauer gestaut hatte, war eine Bar mit dem Namen „Bel
19 Air“ zu finden, die sogar über einen Biergarten - ein

20 ovaler, liebevoll bemalter Tresen mit viereckigen Hockern -

21 verfügte. Dicht, manchmal nur durch Palmen oder andere

22 Pflanzen unterbrochen, die ebenfalls zum Aufhängen von

23 Schildern, Weiterleiten des Stromkabels, oder dergleichen

24 genutzt, erstreckte sich eine Siedlung. Ein beinahe

25 familiäres Miteinander, ähnlich dem Leben in Kpalimé.

26 Doch nachdem die Avenue de la Victoire den Kanal Lac

27 Ouest überquert hatte, musste ich mehrmals blinzeln, um das

28 zu glauben, was ich nun sah. Oder vielmehr, wovon ich nun
29 Teil wurde.

310
1 „Du siehst entsetzt aus.“, bemerkte Faraji. Grinsend legte

2 er mir die Hand auf die Schultern und schob die Planen ein

3 Stück weit zur Seite. „Das ist Lomé.“

4 Ich wiegte den Kopf, spähte dann gebahnt zu der von

5 tausenden, verschiedenen Verkaufsständen verstopfte Kreuzung

6 herüber, auf der sich der Verkehr mühsam voran quälte.

7 Hupen, Fluchen. Hochbeladenen Fahrzeugen schlängelten sich

8 in rasanten Manövern durch die drückende Hitze hindurch.

9 Menschen - Frauen mit kunstvoll auf ihren Köpfen

10 aufgetürmten Bananenkörben, Männer, die auf wild zusammen

11 gezimmerte Gerüsten arbeiten, Kinder, die nach der Schule,

12 vorausgesetzt ihre Eltern können die 2300 CFA, umgerechnet

13 3,55 €, jährlich entbehren, ebenfalls an den Marktständen

14 mithelfen müssen - all diese Menschen ließen Lomé, von dem

15 Dach eines Hochhauses betrachtet, wie einen bunten

16 Ameisenhaufen wirken. Diese Vorstellung kam mir vor allem

17 dadurch in den Sinn, als ich in die Luft schnupperte. Es

18 stank. Nicht nach den Abgasen der alten Auto. Nicht nach
19 Schweiß… Nein, es stank nach Müll. Nach dem Müll, der aus

20 jedem Loch, aus jeder Bordsteinabsenkung wie ein Geschwür

21 hervorquoll. Denn diesen Luxus einer Müllabfuhr genoss man

22 in Togo nicht. Auch die Elektronik gehörte für viele

23 Familien, die in den engen Wohnungen der mehrstöckigen,

24 grauen, quadratischen Bauten lebten, zu einem Komfort, den

25 sie sich nicht leisten konnten, obgleich sie täglich an

26 ihren Ständen, bestehend aus einem abgenutzten Sonnenschirm

27 und grob getischlerten Regalen, ihre Waren anpriesen.

28 Verkauft wurde alles: Von Kleidung, über Früchte oder andere


29 Lebensmittel, zu Spielen oder, was ich als am grausamsten

30 empfand, zum Schlachten von Tieren auf offener Straße,

311
1 mitten im Dreck, im Abgas der Fahrzeuge. Ihre leblosen

2 Körper bluteten an Leinen aufgehängt aus. Abgeschlagene

3 Köpfe trat man, wenn sie nicht mehr weiterzuverarbeiten

4 waren, achtlos zur Seite.

5 Unser Laster kreuzte die Boulevard du Javier, setzte aber

6 nach einem Stau den Weg durch den Kern Lomés in Richtung

7 Hafen fort. Ich konnte zu meiner Rechten das hübsche Gebäude

8 des Siége du Parlement ausmachen, an dem die togolesische

9 Flagge im Wind flatterte, dann am Ende der Straße im weiter

10 Ferne den Palais de Justice. Keines dieser Häuser würde ich

11 jemals betreten. Warum auch? - Ich wusste nicht einmal,

12 wofür sie derart gut errichtet waren und die der armen

13 Menschen dort draußen derart armselig. Doch als wir nun nach

14 links auf die Hafenstraße abbogen, erschien es mir

15 unwichtig, darüber nachzudenken. Blau glitzerte das Meer vor

16 uns. Der Golfe de Bénin, wir hatten ihn erreicht. Die Küste

17 von Togo. Die Sonne strahlte. Palmen bogen sich sanft wie

18 Fächer im Wind. Weiße Bänder umspülten mit schlangenartigen


19 Bewegungen die tausenden, feinen, winzigen Perlen. Die

20 bunten Handtücher der Touristen verliehen dem Strand aus der

21 Sicht eines Papageis, der krähend in einer Baumkrone hockte

22 oder seinen Flügel ausbreitete, um sacht über unsere Köpfe

23 hinweg zu segeln, etwas Harmonisches. Verträumt schloss ich

24 die Augen, betend, dass ich niemals von hier fortgehen

25 musste. Wäre es nicht möglich, ein Haus unter diesen Palmen

26 dort drüben zu bauen? Wir sind doch in Togo, da ist alles

27 egal. Vogelfrei, warum nicht auch das? Warum nicht auch der

28 Traum, immer mit Kay zusammen bleiben zu können? Schön, es


29 mochte der zweite Traum sein, aber überwog dieser nicht

30 sogar den ersten? Nachdem du, Kay, mich am Morgen aus der

312
1 Hängematte, in der ich im Sonnenuntergang mit einem Comic in

2 der Hand eingeschlafen wäre, geworfen hättest, könnten wir

3 gemeinsam im Sand kochen. Ich kann gut kochen, finde ich.

4 Nudeln, geröstetes Brot, sicher auch dein Lieblingsgericht,

5 süße, gebratene Bananen. Versuchen kann ich es jedenfalls,

6 selbst wenn es bedeutet, dass ich mich wieder einmal in den

7 Finger schneide oder verbrenne. Tess, Mathieu und die

8 anderen besuchen uns immer und abends, wenn wir alle müde

9 von der Schule oder Arbeit heimkämen, sängen wir Lieder.

10 Vielleicht würde Amani mir beibringen, wie man Panflöte

11 spielt. Fragen konnte ich ihn ja einmal. Für dich Kay… Gott,

12 Tim, fängst du jetzt schon mit diesem Liebesgedusel an,

13 obwohl es dich in den Filmen derart aufgeregt hat, wenn das

14 Bild eines sich überschlagenen Autos durch einen dieser

15 ekligen Küsse geschnitten wurde?! Oje, eindeutig, du hast…

16 Fieber. Sicher, Fieber, natürlich Fieber - was auch sonst?

17 Plötzlich scherte der Lasten ruckartig aus. Panisch schrie

18 Reni auf. „Mami! Mami!“ Auch die übrigen Menschen krallten


19 sich an allem fest, was sich ihnen bot. Dabei traf mich

20 Farajis Ellenbogen hart am Kinnhacken, sodass ich

21 unkontrolliert gegen die Plane fiel. In meinem Kopf

22 wirbelten die Gedanken durcheinander. Chaos, pures Chaos.

23 Der Geschmack von Blut lag mir auf der Zunge und, als ich

24 ihn öffnete, tropfte tatsächlich rötlich gefärbter Speichel

25 auf mein Hemd. Was passiert da draußen? In weiter Ferne, wie

26 es schien, konnte ich Tess Stimme vernehmen, die etwas

27 angeschlagen klang, geradezu schockiert. Hupen. Noch immer

28 drohte das Fahrzeug zu kippen. Bitte nicht! Irgendwie gelang


29 es dem Fahrer mit einem Ruck das Steuer herumzureißen,

30 sodass der Transporter zurück auf die Fahrbahn fiel und

313
1 unter ächzendem Motor langsam neu startet. Ein tiefes Raunen

2 durchfuhr die Menge.

3 „Alles okay?“ erkundigte sich Amani, der sich als

4 Erster von dem Schock erholte und sich aufrichtete, um den

5 Blick prüfend über die Köpfe seiner entsetzten Mitreisenden

6 schweifen zu lassen. Als er erleichtert feststellte, dass

7 niemand schwer verletzt war, löste sich seine Anspannung.

8 „Wir sollten alle einmal ganz ruhig durchatmen. Bald sind

9 wir am Hafen.“, meinte er achselzuckend.

10 „Einmal durchatmen?“ Der erzürnte Jabali, der die kleine

11 Reni im Arm hielt, sprang ebenfalls auf. „Beinahe wäre wir

12 alle tot…“

13 „Nur noch das eine Stück.“ Mit einem abschätzenden Blick

14 kniete er nieder, um mir mit einem alten Papierschnipsel das

15 Blut von der Lippe zu tupfen. „Nur noch dieses eine Stück.“

314
1 14. Kapitel
2 Die regenbogenfarbene Fontäne schoss aus der Pore,

3 befeuchtete wohltuend unsere verschwitzten Gesichter. Drei

4 goldene Sterne blitzten in meinen funkelnden Augen. In

5 kursiv gedruckten Buchstaben erhob sich der Name von dem

6 weißen, plastischen Untergrund: Mercure Sarakawa.

7 Klimatisierte Luft schlug mir entgegen, als ich nun das

8 noble Hotel betrat, welches etwa fünf Minuten vom

9 Stadtzentrum entfernt inmitten eines 25 Hektar großen Garten

10 voller Kokosnuss-Palmen lag. Von ihrem Schreibtisch aus, auf

11 dem sich einige Unterlagen stapelten, lächelte mir eine

12 freundlich aussehende Afrikanerin zu, die sich aufrichte,

13 ihren knielangen Rock glatt streichend. „Gute Tagen! Was

14 kann ich für dich tun?“, erkundigte sie aufmerksam, „Suchst

15 du deine Eltern?“

16 Hastig schüttelte ich den Kopf, doch bevor ich etwas

17 erwidern konnte, stolperte Kay ebenfalls durch die Drehtür

18 in weit geöffneten Eingangsbereich. „Meine Mum. Wir suchen


19 meine Mutter. Josefine Brown. Ist sie da?“

20 Überrascht ließ die junge Frau den Blick zwischen uns hin

21 und her wandern, langsam nickend: „Selbstverständlich. Ich

22 werde sofort nachsehen, ob sie im Hause ist. Entschuldigt

23 mich einen Moment.“ Als sie sich mit einem höflichen Knicks

24 abgewandt hatte, begann Kay belustigt zu kichern.

25 „Hätte nicht gedacht, dass einmal jemand auf mich hören

26 würde. Komm, das nutzen wir aus.“ Verschwörerisch zwinkerte

27 sie mir zu. „Ich hab tierischen Durst.“


28 Mich an der Hand hinter sich herziehend, schleifte sie

29 mich über den Gang in Richtung einer Bar namens Le Mono.

315
1 Nachdem wir einander gegenüber auf zwei Hockern Platz

2 genommen hatten, eilte ein Kellern herbei, um unsere

3 Bestellungen, zwei Colas, aufzunehmen.

4 „So habe ich mir Urlaub vorgestellt.“, flüsterte Kay,

5 wobei sie sich die Sonnenbrille, die einer der Gäste

6 vermutlich vergessen hatte, aufsetzte und den Kopf in den

7 Nacken legte. Ich wünschte, dem wäre so. Dass wir

8 tatsächlich im Urlaub wären und dort draußen vor diesen

9 Toren in der glühenden Hitze nicht zwölf weitere Menschen

10 und ein Hund in einem Laster auf uns warteten.

11 Unsere Getränke wurden serviert, beide herrlich gekühlt

12 mit Eiswürfel und einem bunten Strohhalm. Im Hintergrund

13 rauschte der Wasserhahn, den derselbe Keller scheinbar

14 vergessen hatte, zu zudrehen. Konzentriert verzierte der

15 Mann nun ein Cocktailglas, in das er eine milchige

16 Flüssigkeit füllte, und es dann auf einem Tablett auf die

17 geflieste Terrasse trug. Leise plätscherte das Wasser

18 regelmäßigen Abständen in die Schüssel, die bereits


19 überlief. Kostbares Wasser, lebensnotwendig für die meisten

20 Afrikaner, für die hier wohnend Touristen allerdings nur

21 überschüssiger Komfort, um den sie nicht einmal mehr baten.

22 Ich konnte kaum glauben, dass auch ich noch vor einigen

23 Monaten ebenfalls zu diesem gleichgütigen Haufen gehört

24 hatte. Daher sprang ich nun von meinem Hocker, um zumindest

25 einen Teil des Wassers zu retten. Als ich von meiner Mission

26 zurückkehrte, hielt mir Kay die Hand zur High Five hin.

27 „Vielleicht sollten wir den anderen auch etwas zu trinken

28 bringen.“, meinte das Mädchen nach einer Weile. „Oder ein


29 paar Schüsseln mit Wasser, damit sie sich waschen können.

30 Ich weiß nämlich nicht, ob es Mum Recht ist, wenn fremde

316
1 Leute den Pool benutzen.“ Es deutete auf den fünfzig Meter

2 langen Becken inmitten einer grünen Oase. „Du darfst

3 natürlich.“

4 Plötzlich vernahm ich hinter mir einen piepsigen

5 Aufschrei. „Kay Linn! Oh mein Gott!“

6 Josefine Brown stürmte auf ihre strahlende Tochter zu und

7 riss diese beinahe von ihrem Barhocker. „Gott, ich hatte

8 solche Angst um dich. Wo bist du gewesen? Und Tim…“ Sie

9 umarmte mich ebenfalls, tätschelte mir liebevoll den Kopf.

10 „Du bist ja auch hier. Keenan hat mir erzählt, du und

11 Mathieu seien abgehauen, als ich noch einige Dinge im Dorf

12 erledigen musste. Wirklich? Ist das wahr? Was habt ihr euch

13 nur dabei gedacht? Vor allem nach diesem Hyänenangriff. Du

14 kannst dir gar nicht vorstellen, wie unendlich erleichtert

15 ich bin, euch wieder in die Arme schließen zu können. Wo

16 habt ihr nur gesteckt?“

17 „Dafür bin ich verantwortlich.“

18 Entsetzt wandte ich mich um. Die Cola in unseren Gläsern


19 gefror. All die Wärme starb, ließ nur den eisigen Tod

20 zurück. Maurice Scott schritt gefolgt von der wütend

21 dreinschauenden Tess durch die Tür.

22 „Und Sie sind?“ Höflich streckte Josefine Brown dem

23 elegant gekleideten Herr die Hand aus, doch dieser erwiderte

24 die Geste mit einem unerwarteten Handkuss.

25 „Sir Maurice Anthony Scott. Britischer Großgutbesitzer und

26 Professor aus Kpalimé... Meine Tochter. Tess Ann-Caroline“

27 „Oder einfach nur Tess.“, fuhr das Mädchen ungehalten

28 dazwischen, wobei sie neben mir auf einem Barhocker Platz


29 nahm. „Hi Tim.“ Ohne zu fragen, langte sie nach meiner Cola,

317
1 wofür sie von Kay einen abschätzenden Blick kassierte. „Hi

2 Kay.“

3 „Fühlen Sie sich wie einer unsere Gäste, Sir Scott. Darf

4 ich Ihnen und Ihrer Tochter etwas zu trinken anbieten?“

5 „Danke, nein.“ Mit einem flüchtigen Blick durch die leicht

6 getönten Fenster, fügte er hinzu: „Ich wollte mich nur

7 vergewissern, dass das Mädchen sicher nach Hause gelangt

8 ist.“

9 „Ist es mir erlaubt, Sie zu fragen, was sie mit den

10 Kindern gemacht haben?“

11 „Natürlich! Sie haben ein Recht darauf, alles zu erfahren.

12 Sehen Sie, Ihr Junge schlich mit einem seiner Freunde um

13 meine Villa, sodass ich habe annehmen müssen, er wolle mich

14 bestehlen, worin ich jedoch irrte. Einen ähnlichen Verdacht

15 erweckte Ihre Tochter, aber es bestätigte sich nach gewissen

16 Nachforschungen ebenfalls, dass diese nur versehentlich in

17 all das hineingeraten war. Leider war ich aufgrund meiner

18 Arbeit verhindert, die Kinder in ihre Familien


19 zurückzugeben. Aber seien Sie versichert, Mrs. Brown, wir

20 hatten unseren gemeinsamen… Spaß, nicht wahr Tim? Nicht wahr

21 Kay?“

22 Verblüfft nickte ich. „Spaß hat es wirklich gemacht,

23 Josefine. Sir Scott hat ein tolles Haus mit einem

24 gigantischen Pool und einer riesigen Wiese.“

25 „Einmal sind wir ausgeritten. Aber Tim ist vom Pferd

26 gefallen.“, ergänzte Tess leise, „Deshalb die ganzen Narben.

27 Und weil er mich ab und zu geärgert hat, wenn ich mit Kay

28 getanzt habe.“
29 Kays Mutter lachte, wobei sie die Hände auf die Schultern

30 ihrer Tochter stützte. „Danke, Sir Scott.“, entgegnete sie,

318
1 eine ihrer blondierten Haarsträhnen hinter das Ohr

2 streichend. „Ich hatte solch eine Angst, den Kindern wäre

3 irgendetwas Schlimmes zugestoßen. Dort draußen sollen

4 allerlei böse gesinnte Menschen herumstreunen, die nur

5 darauf warten, Ausländer zu entführen und zu erpressen. Ich

6 weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken kann.“

7 Am besten gar nicht! Tief durchatmend starrte ich in mein

8 halb ausgeleertes Glas, die Hände in den Stoff meiner Hose

9 gekrallt. Das durfte doch nicht wahr sein! Der Meister

10 verkauft sich tatsächlich als der Wohltäter, der Held, der

11 Hänsel und Gretel vor der Hexe gerettet hatte, sie aber

12 gleichzeitig in den Ofen stieß.

13 „Nicht der Rede wert. Sicherlich hätten Sie dasselbe für

14 meine Tochter getan.“ Maurice Scott streichelte mir

15 freundschaftlich über das Haar, dann nahm er meine Hand, um

16 mit Kugelschreiber eine Nummer auf die Innenfläche zu

17 kritzeln. „Nicht vergessen, Tim.“ Er ballte meine Finger zu

18 einer Faust. „Du kannst immer anrufen, wenn etwas sein


19 sollte. Wenn du einmal Rat brauchst, jemanden, der dir zu

20 hört… wie dein Vater. Ich weiß, ich werde ihn nie

21 zurückholen können, aber ich hoffe, ich kann ihn ein wenig

22 für dich ersetzen.“ Mit diesen Worten stolzierte er zu Kay

23 herüber und küsste sie vorsichtig auf die Wange. „Auf

24 Widersehen, meine Kleine. Du wirst mir fehlen, besonders

25 deine lebhafte Fantasie.“

26 Angewidert verzog sie das Gesicht, bemüht ruhig zu

27 bleiben, obwohl sie innerlich zu beben schien. „Ich werde

28 Sie auch vermissen. Vor allem die leckeren Kekse.“,


29 behauptete sie mit gespielter Höflichkeit.

319
1 „Nun denn. Lebt wohl! Ich hoffe, wir sehen uns eines Tages

2 einmal wieder. Ihr seid jeder Zeit willkommen! Sie im

3 Übrigen auch, Mrs. Brown und ihr Mann. Ich würde die Eltern

4 dieses netten, kleinen Mädchens zu gerne einmal näher kennen

5 lernen.“

6 Josefine Brown zeigte dem Mann den Weg nach draußen. „Ich

7 werde Sie noch bis zur Türe begleiten. Eine angenehme

8 Heimreise! Und noch mal meinen Dank, dass Sie sich so gut um

9 die Kinder gekümmert haben.“

10 „Tess! Kommst du, Schatz?“, rief Scott, ohne sich

11 umzudrehen, bereits hinter dem Türrahmen verschwunden.

12 „Ich möchte mich noch verabschieden, Daddy!“

13 „Okay, ich werde im Wagen auf dich warten.“

14 Anerkennend hob ich die Augenbraue. Du musst noch viel

15 über die Kunst des Schauspiels lernen, dachte ich seufzend,

16 Denn dies hier war ein Theaterstück der Meisterklasse.

17 Sowohl Tess, als auch Maurice Scott und Kay, hatten ihre

18 Rollen unabhängig voneinander eingeübt, sodass es Kays


19 Mutter sicherlich nicht schwer gefallen war, dass zu

20 glauben, was man ihr vorgetäuscht hatte. Immerhin hatte ihr

21 einer der reichsten Männer dieses Landes persönlich die Hand

22 geküsst, um sich zu entschuldigen, dass ihre Tochter

23 seinetwegen derart spät nach Hause kam! Nur du, Tim,

24 kanntest nicht einen einzigen Satz dieses Drehbuchs. Wie

25 immer. Was hast du anderes erwartet?

26 „Dein Dad weiß also nichts über deine Pläne nach Spanien

27 zu fahren?“

28 Kays Frage riss mich aus meinen Gedanken. Verwirrt ließ


29 ich meinen Blick zwischen den beiden hin und her schweifen.

320
1 Der unterschwellig verächtliche Tonfall, den die Stimme des

2 schottischen Mädchens anschlug, war kaum zu überhören.

3 „Nein. Er würde mich niemals gehen lassen. Ebenso wenig

4 wie meine Mom. Deshalb haue ich ab. Nach Spanien. Von dort

5 aus fliege ich nach Amerika, wo mein Bruder lebt. Meinen

6 Pass habe ich. Geld auch. Und den Rest werde ich schon

7 regeln.“

8 Den Rest werde ich schon regeln. Ins Geheim bewunderte ich

9 Tess selbstbewusste Art. Denn im Gegensatz zu mir hatte sie

10 so etwas wie einen Plan. Wenn ich nach Spanien käme, hätte

11 ich… nichts. Nichts, außer einem durchnässten Rucksack mit

12 ein paar Spielsachen drin. Kein Geld, keine Unterkunft, in

13 der ich leben könnte, keine Eltern, die mich wie nach einer

14 Klassenfahrt herzlich empfingen. Ich hätte absolut gar

15 nichts.

16 „Und wie bitte willst du das anstellen? Ich meine, willst

17 du dich einfach in Luft auflösen, ein paar Stunden warten

18 und dann auf das Schiff teleportieren.“


19 „Zum Beispiel. Wäre doch eine Lösung, Kayli. Aber lass

20 das einmal meine Sorge sein. Auf gar keinen Fall werde ich

21 in diesem Land versauern.“ Mit dem Finger schnipste sie in

22 die Luft und rief dem herbeieilenden Kellern ihre

23 Bestellung, zwei Limonaden, zu.

24 Warum zwei? Wir sind doch zu dritt! Oder ist Tess derart

25 durstig, dass sie zwei Getränken unmittelbar hintereinander

26 in sich hinein kippen wollte?

27 Doch, als der Kellner nun die beiden herrlich

28 erfrischenden Limonadengläser, die mit seiner Orange und


29 jeweils einem Strohhalm verziert waren, auf den Tisch

30 stellen, bemerkte ich erstaunt, wie Tess mir ihr zweites zu

321
1 schob. „Lecker. Probier‟ mal.“, fügte sie grinsend hinzu,

2 wobei sie die Flüssigkeit an ihrem spiralförmigen,

3 durchsichtigen Strohhalm ansaugte.

4 „Und Kay?“, fragte ich, ohne meine Limonade anzurühren.

5 „Ist schon okay, Tim. Ich hatte sowieso keine Durst

6 mehr.“, erklärte das schottische Mädchen, sprang von ihrem

7 Barhocker, um die leeren Gläser zurück auf den Tresen zu

8 stellen und sich anschließend in die ausgebreiteten Arme

9 ihrer Mutter zu flüchten, die an der Tür erschien. Strahlend

10 küsste die Frau die Stirn ihrer Tochter, säuselte undeutlich

11 etwas.

12 Wie meine Mama wohl gewesen wäre. Ob sie sich auch

13 derartige Sorgen gemacht hätte. Für einen Moment schloss ich

14 die Augen, stellte mir vor, dass meine Mutter in der Tür

15 stände, mir lächelnd das Haar küsste. Dabei wäre es

16 unwichtig, was sie flüsterte. Allein ihre Wärme würde

17 ausreichen, um mich zu einem der glücklichsten Jungen zu

18 machen. Mama…
19 „Wo ist deine Mutter, Tess?“

20 Das Mädchen zuckte die Achseln. „Irgendwo in den USA. Aber

21 wenn ich dort bin, werde ich meinen Bruder nach ihr fragen

22 und sie finden, da bin ich mir sicher.“

23 „Meine Mama ist immer bei mir, egal wo ich bin.“,

24 erwiderte ich lautlos, mehr zu mir selbst, als zu Tess, die

25 den Blick von Kay abgewandt hatte und misstrauisch das

26 Gelände des Hotels betrachtete. Von ihren Liegen aus,

27 winkten ihr zwei ältere, hellhäutige Jungen zu, die das

28 Mädchen bemerkt haben musste. Der eine, ein Hagerer mit


29 blonden Locken und einer schwarzen, modischen Sonnenbrille

30 im Haar, zwinkerte. Tess ihrerseits tat das gleich,

322
1 gestikulierte mit den Finger ein Zeichen, woraufhin der

2 zweite belustigt den Daumen hob.

3 Seufzend wanderte mein Blick zurück zu Kay, die nun mit

4 ihrer Mutter auf uns zukam.

5 „Meine Mum fährt heute Abend nicht nach Hause, weil sie

6 sich um das Hotel kümmern muss. Wieso verstehe ich nicht.

7 Aber das war damals auch schon so, also von daher…“ Sie

8 zuckte die Achseln. „Einer der Tagungsräume ist frei. Darin

9 könnten wir für einen Nacht schlafen, vorausgesetzt, wir

10 bereiten Mum keinen Ärger. Und… Tess?“

11 Widerwillig drehte sich die Genannte um. „Ja?“

12 „Du auch, wenn dir das nicht zu… zu eklig ist. Mum meinte,

13 weil es unsere letzte gemeinsame Nacht ist, würde sie

14 versuchen, deinen Dad zu überzeugen. Morgen müsse sie

15 ohnehin in Kpalimé einige Besorgungen machen. Da könnte sie

16 dich auf dem Weg nach Hause bringen.“

17 „Wirklich? Danke, Mrs. Brown, wenn Sie meine Anwesenheit

18 nicht stört.“
19 Josefine Brown lachte. „Nein, Tess. Es ist das Mindeste,

20 was ich als Entschädigung für dich tun kann. Oder gäbe es

21 Problem mit der Schule? Mit Privatlehrern?“

22 „Nein. Samstags habe ich keinen Unterricht.“

23 „Okay, dann werde ich nochmals mit deinem Vater sprechen.

24 Kay, Schatz, könntest du bitte den Tagungsraum vorbereiten?“

25 „Klar, Mum. Helft ihr mir?“

26 Ich nickte. Der Gedanke, eine ganze Nacht über mit Kay

27 zusammen sein zu können, setzte in mir Glückgefühle frei,

28 die ich lange nicht mehr gespürt hatte. Im Grunde sogar sehr
29 lange nicht mehr. Auch wenn es nur ein paar Sekunden wären,

30 es wäre Sekunden, in denen ich vergessen konnte. In denen

323
1 ich vergessen konnte, was in dieser Villa geschehen, wie

2 Papa gestorben war, wie ich die Cola bezahlen muss, wann und

3 wo ich wieder zur Schule gehen werde. Ich bin frei, wenn sie

4 mich berührt, frei, wenn sie einfach nur in meiner Nähe ist,

5 dass ich ihren warmen Atem auf meiner Haut spüren, das

6 Flattern ihrer dunklen Wimpern hören kann.

7 Verheißungsvoll spreizte Tess die Lippen, ein wenig

8 enttäuscht, die beiden Jungen, die ihr nun eine Kusshand zu

9 warfen, verlassen zu müssen. Dennoch folgte sie Kay und mir,

10 drängelte sich zwischen uns, ihre Arme um unsere Schultern

11 gelegt. „Dann lasst uns mal aufräumen.“

12 Kay breitete die Decke auf dem rot karierten Teppich aus.

13 „Fertig!“

14 „Fertig!“, pflichtete ich ihr lachend bei, mit dem Rücken

15 einen Tisch gegen die Wand drückend, die in einem warmen

16 Gelb-orange gestrichen worden war.

17 Als hätten wir uns abgesprochen, schossen unsere Köpfe zu

18 dem anderen Mädchen herum, das damit kämpfte, einen Kasten


19 Wasser in den Raum zu schaffen, den Josefine Brown

20 großzügiger Weise spendiert hatte. Das Wiederauftauchen

21 ihrer Tochter musste sie derart glücklich stimmen, dass es

22 sogar ihren ansonsten oftmals geradezu krankhaften,

23 egoistischen Geiz verdrängte. So bemerkte sie zudem nicht

24 einmal mehr, dass die von ihr herbei getragenen

25 Nahrungsmittel zum größten Teil auf mysteriöse Weise

26 verschwanden. Auch mochte sie den zerbeulten Laster nicht

27 realisieren, der vor dem Hotel parkte. Vielleicht aber sah

28 Kays Mutter all dies, konnte sie jedoch keinen Reim darauf
29 machen. Wer wusste dies schon? Ich jedenfalls wusste es

30 nicht.

324
1 „Tess, bist du fertig?“, erkundigte sich Kay.

2 Das Mädchen zog eine Grimasse. Entkräftet schwang es sich

3 auf einen der Tisch und tupfte sich mit dem Ärmel seines T-

4 Shirts den Schweiß von der Stirn. „Und wie fertig ich bin!“,

5 stöhnte es und ließ sich vollenden auf den Rücken fallen,

6 die Arme ausgebreitet.

7 Ich kicherte, Kay stimmte mit ein, wofür wir beide einen

8 beleidigten Blick kassierten, der Bänder sprach.

9 „Du bekommst gleich auch einen großen Lolli, Tess Ann-

10 Caroline.“, stichelte ich sie an.

11 „Sag niemals diesen Namen!“, fauchte sie, sprang auf und

12 gestikulierte mir drohend mit dem Finger, wobei sie ein paar

13 Schritte auf uns zu machte. „Niemals, kapiert?“

14 „Natürlich, Tess Ann-Caroline.“

15 „Ich hasse dich!“ Wütend drehte sie sich weg. Als wir ihr

16 folgten, hob sie abwehrend die Hände. „Lasst mich in Ruhe!“,

17 rief sie zu einem Teil ernst, zum anderen belustigt. Dann

18 stürzte sie zur Türe hinaus, die hinter ihr zu fiel.


19 Ich wollte ihr nachlaufen, um mich zu entschuldigen, doch

20 Kay hielt mich an der Schulter zurück. „Lass sie. Sie wird

21 darüber hinweg kommen müssen. Glaubst du nicht, wir sollten

22 einmal nach Mathieu und den anderen sehen? Sonst haben sie

23 nachher den leckeren Pudding ganz alleine gegessen!“

24 „Du sagst mir aber nicht erst jetzt, dass in dieser gelben

25 Schüssel Pudding war, oder?!“ Als sie mir die Frage mit

26 einem Nicken bestätigte, jagte ich augenblicklich davon.

27 „Pudding! Ich will Pudding!“

28 Ein älteres, gut gekleidetes Ehepaar, welches mir in den


29 Weg trat, schüttelte irritiert den Kopf, flüsterte etwas in

30 einer fremden Sprache.

325
1 Heiße Luft schlug mir entgegen. Obwohl die silbernen

2 Zeigen der riesigen Uhr im Eingangsbereich erst sieben

3 anzeigten, trug der Himmel bereits sein rötliches

4 Abendkleid. Wie Schleifer warf die untergehende Sonne ihre

5 Schatten auf den kleinen Laster, aus dem nicht das kleinstem

6 Geräusch nach draußen auf den Parkplatz drang. Scheinbar

7 mochte Amani die anderen angewiesen haben, sich ruhig zu

8 verhalten, aus Angst, ein Hotelgast könnte auf sie

9 aufmerksam werden und sich im schlimmsten Fall über sie

10 beklagen. Vorsichtig ließ ich meinen Blick umherschweifen

11 und, als ich mir sicher war, dass mich niemand beobachtete,

12 öffnete ich die Plane und starrte in die elf mir

13 wohlbekannten Gesichter.

14 „Tim, Kay! Kommt rein!“ Dominique, die in diesem

15 Augenblick das Essen gerecht zu verteilen versuchte, winkte

16 mir verschwörerisch zu.

17 „Ist noch Pudding da?“

18 „Ja, ein Rest. Warum?“


19 „Weil Tim Angst hat, sein Pudding hätte Beine bekommen und

20 würde ihm weglaufen.“, antwortete Kay, wobei sie sich

21 atemlos auf einer Holzkiste neben Suleika nieder.

22 „Wenn das so ist.“ Kichernd hielt Dominique mir die

23 Schüssel hin. Ohne Besteck.

24 Dies war der Anfang eines amüsanten Abends, wie jeder von

25 uns ihn seit langem nicht mehr erlebt hatte. Von unseren

26 Decken am Boden aus, erzählten wir einander Witze und

27 Geschichten, aßen dabei mit den Finger, die wir anschließend

28 gierig ableckten. Obwohl es kaum ausreichte, um gesättigt zu


29 werden, fühlte ich mich, wie sich Jesus von Nazareth

30 vielleicht bei seinem letzten Abendmahl gefühlt haben

326
1 musste: Irgendwie verraten von der Welt, aber beschützt von

2 dem kleinen Kreis Freunde um mich herum.

3 „Hast du Lust, spazieren zu gehen?“ Kay beugte sich etwas

4 vor, um mir dies ins Ohr zu flüstern. Kurz überlegte ich. Im

5 Grunde wollte ich Farajis Geschichte weiterhin lauschen,

6 aber dann entschied ich mich, den Wunsch meiner besten

7 Freundin zu erfüllen. Unseren letzten gemeinsamen Abend. Der

8 Gedanken daran schnürte meinen Hals zu, sodass ich kaum Luft

9 bekam. Hastig verbahnte ich ihn in den hintersten Winkel

10 meines Gedächtnisses. Nicht jetzt. Noch war dieser Abend

11 nicht vorbei.

12 In gebührendem Abstand folgte ich ihr über den Parkplatz

13 ins Hotel hinein, dann durch das Le Mercure, ein

14 klimatisiertes Restaurant mit einem atemberaubenden Blick

15 auf die tropischen Pflanzen im Garten des Hauses.

16 Größtenteils europäische Urlauber speisten an luxuriösen,

17 holzfarbenen Tischen im sanften Licht der Abenddämmerung.

18 Leise klang Musik aus der Bar Sio unmittelbar daneben, in


19 der ein afrikanischer Künstler auf seiner Gitarre spielte.

20 Auch Tess entdeckte ich unter den Anwesenden. Angeregt

21 unterhielt sie sich mit den beiden Jungen, die sie bereits

22 von dem Nachmittag her kannte. Dabei genoss sie es

23 sichtlich, derart umschwärmt zu werden.

24 Ich gönnte es ihr. Wie lange hatte sie unter ihrem Vater

25 gelitten? Immer alleine, mit Ausnahme von Kalli, der sich

26 nun gähnend unter dem Tisch räkelte.

27 Kays beschleunigte ihre Geschwindigkeit, sodass es mir

28 schwer fiel, ihr zu folgen. Die Umgebung blendete ich völlig


29 aus - bis das Mädchen plötzlich anhielt. Neben ihr verlief

30 der 50 Meter lange, in ein bläuliches Licht getauchte Pool,

327
1 der von einem gefliesten Weg umrundet wurde. Die Liegen

2 musste jemand nach Ende der Badezeit feinsäuberlich alle in

3 eine Richtung gedreht haben, denn nicht ein einziger dieser

4 blauen Stühle war abgewandt.

5 „Tim…“ Kay drehte sich auf der Zehnspitze ihrer Sandalen

6 um ihre eigene Achse, wobei sie beinahe das Gleichgewicht

7 verlor, hätte ich sie nicht in letzter Minute festgehalten.

8 Dicht drückte ich sie an meine Brust. Ich erwartete, dass

9 sie mich von sich stieß, aber stattdessen verlagerte sie ihr

10 Gewicht zur Seite des Pools. Schwankend wurde ich im Kampf

11 um meinen Balance besiegt, denn, als ich das nächste Mal

12 etwas realisierte, tauchte mein Kopf durch die glatte

13 Wasseroberfläche. Für Sekunden verschwanden die Klänge der

14 Musik, das Rauschen der Bäume, es wurde totenstill. Ich

15 konnte nicht mehr sehen. Nur ein verschwommenes Blau.

16 Explodierend Luftblasen strichen über meine Wangen. Wo ist

17 Kay? Mein Blick schweifte hektisch über das Becken, während

18 ich zurück zum Beckenrand kraulte. Sie kann nicht schwimmen,


19 schoss es mir durch den Kopf. „Kay? Kay!“, brüllte ich.

20 Keine Antwort, kein Lebenszeichen. Im Begriff

21 zurückzutauchen, drückte mich jemand unter Wasser. „Glaub ja

22 nicht, ich hätte nichts gelernt, wenn ihr am Fluss wart.“

23 Das Mädchen klammerte sich mit einer Spur von Respekt an den

24 Beckenrand, schien aber ansonsten munter.

25 „Wenn das so ist.“ Ich zuckte die Schultern, umklammerte,

26 ohne dass sie hätte reagieren können, ihre Taille und warf

27 sie ein Stück weiter ins Wasser, immer darauf bedacht, sie

28 jederzeit hinaus zu ziehen, für den Fall, dass sie in Panik


29 geriet.

328
1 Wie ein Küken in einer Schüssel Wasser ruderte sie wild

2 mit den Armen. In Gedanken zählte ich bis drei, dann kraulte

3 ich zu ihr herüber und zog sie an meiner Hand an den

4 Beckenrand zurück. „Alles okay?“, fragte ich besorgt, als

5 sie zu husten begann. Bitte, lass mich keinen Fehler gemacht

6 haben. Nicht bei diesem Mädchen, das niedlicher ist, als

7 Strupi, mein Meerschweinchen, damals als es gerade einmal

8 ein paar Wochen alt war und noch ganz weiches Fell hatte…

9 Tim, sie ist dein bester Kumpel! Sie muss so etwas

10 wegstecken können.

11 „Du bist gemein.“, erwiderte sie in einem bemühten,

12 ernsten Tonfall, der ihr misslang.

13 Ich schüttelte mein nasses Haar. „Ich weiß. Aber du wehrst

14 dich auch nicht.“

15 Sie wiegte den Kopf. „Ich…“ Furchtvoll blickte sie auf die

16 glatte Wasseroberfläche, stellte sich vor, wie es wäre,

17 darin zu ertrinken, erdrückt von den Tonnen von Wasser über

18 ihr.
19 „Keine Angst. Ich bin ja bei dir. Es tut mir Leid. Ich

20 hätte es nicht tun dürfen.“

21 „Warum?“

22 „Warum?“

23 „Weißt du, ich hatte überhaupt keine Angst… Jedenfalls

24 nicht mehr so viel. Weil ich wusste, du würdest mich nicht

25 im Stich lassen. Ich konnte sogar schwimmen.“, erklärte das

26 Mädchen stolz und ließ ihre Hand einige Mal auf das Wasser

27 klatschen, als wolle sie es schlagen. Ich tat es ihr gleich.

28 Immer größer werdende Kreise zogen, wölbten sich,


29 verschwanden.

329
1 „Warum kannst du nicht hier bleiben?“, fragte Kay nach

2 einer Weile.

3 Ich sah sie nicht an, starrte nur in das tiefe Wasser.

4 Warum kannst du nicht hier bleiben? Ja, warum? Warum konnte

5 ich es nicht? Ich wäre bei Kay, so wie ich es mir damals in

6 den Fängen des Meisters oft gewünscht hatte. Aber

7 irgendetwas in mir drängte mich dazu, diese Menschen nach

8 Spanien zu führen. Ohne mich würde sie…

9 „Sie können nicht ohne dich in See stechen, nicht wahr?“

10 Erstaunt schüttelte ich den Kopf. Woher weiß sie, woran

11 ich denke?

12 Das Mädchen zog sich lächelnd am Beckenrand entlang zu

13 einer Leiter, um den Pool endlich zu verlassen. Nass hing

14 seinem Wickelrock und Top von seinem Körper herab. Nur die

15 linke Sandale, die fehlte. Kurzerhand tauchte ich unter und

16 nach dem dritten Versuch entdeckte ich ihre verschwommen

17 Umrisse.

18 „Du bist viel zu lieb, Tim. Ständig sorgst du dich um alle


19 anderen um dich herum. Bloß um dich selbst, sorgst du dich

20 nie.“, flüsterte sie auf einer Liege hockend, um ihre

21 Kleidung auszuwringen. Nachdem ich ebenfalls die Leiter

22 hinaufgeklettert war, setzte ich mich neben sie. „Ist das

23 schlecht?“

24 Schweigen. „Nein.“, meinte Kay nach einer Weile, „Nein.

25 Das ist es, was ich so sehr an dir mag.“ Zögerlich näherten

26 sich ihre Lippen meinen, doch kurz vor der Berührung wandte

27 sie sich errötet ab. Verdammt, was ist die Liebe für eine

28 blöde Erfindung! Wer diese Art von Gefühl in einen Menschen


29 eingebaut haben musste, weil er es für eine großartige Idee

30 hielt, musste seinen Spaß an diesem Spiel haben. Ich hatte

330
1 in der Schule hoch und heilig geschworen, dass mich diese

2 komische Liebe niemals fangen könnte, nachdem ich wochenlang

3 einer meiner damaligen Freunde dahin schmelzen gesehen

4 hatte, wenn eines der Mädchen ihm einen Zettel mit einem

5 Filzstift „HDL“ zuwarf. Weil ich für sie viel zu schnell

6 wäre. Schließlich war ich einer der schnellsten Läufer

7 meines Alters. Warum also hätte ich mir Sorgen machen

8 sollen, wenn ich einfach davon rennen kann? Doch nun hatte

9 sie mich doch bekommen, schätzte ich, denn seltsamerweise

10 mochte ich Kay anders als Tess oder Reni. Anders, vielleicht

11 war dies der richtige Ausdruck dafür. Denn anders ist nicht

12 falsch. Anders ist… anders. Verschieden halt. Oh Mann! Warum

13 kann man nicht wenigstens davor verschont bleiben. Kay ist

14 doch dein allerbester Kumpel, ausgeschlossen, dass… Nein,

15 Tim. Hör endlich auf damit! Du bist zu langsam gewesen,

16 nicht schnell genug. Und nun verlässt du dieser Mädchen. Für

17 immer vielleicht. Nein, für immer klingt so lange, so

18 unendlich. Sagen wir für ein paar Jahre. Ein paar Mal
19 Silvester feiern. Ja, das klingt so, als wäre ich nur kurz

20 weg. Als käme ich wieder. Und dann wäre ich wie Papa. Älter,

21 nicht mehr zehn, sondern ein starker Mann. Mit einem Auto,

22 einem Porsche Cabrio in Stahlblau.

23 „Wollen wir heiraten?“, fragte ich Kay unvermittelt,

24 obgleich ich mich im selben Augenblick Ohrfeigen können

25 hätte. Tim, du bist ein Junge. Jungen fragen nicht, ob sie

26 ein Mädchen heiraten will - vor allem nicht, wenn es der

27 beste Kumpel ist! Verfluchter Mist!

28 „Ja.“, entgegnete sie grinsend. Mädchen antworten nicht


29 auf solche Fragen von Jungen - vor allem nicht, wenn es die

30 ihres beste Kumpel ist! Zweifach verflucht Mist!

331
1 „Okay.“

2 „Okay... Und jetzt?“

3 „Weiß nicht.“, gestand ich achselzuckend. „Ich habe so

4 etwas noch nie gemacht.“

5 „Ich auch nicht.“

6 „Hm… Dann sind wir jetzt einfach verheiratet.“

7 „Okay.“

8 Kay legte den Kopf schief, aber ich boxte sie lediglich

9 liebevoll in die Seite, woraufhin sie, ohne zu zögern, mit

10 ihrer kleinen Fäusten konterte. Außer Atem und prustend

11 landeten wir gemeinsam auf der Liege, als plötzlich ein

12 zornig dreinschauender Bademeister vor uns stand, der uns

13 befahl, wegen der Nachtruhe augenblicklich in den

14 Tagungsraum zurückzugehen.

15 Da keiner von uns beiden müde war, beschlossen wir

16 einstimmig, nochmals unsere afrikanische Familie zu

17 besuchen, doch mit Ausnahme des alten Mannes, der gegen die

18 Wand gelehnt vor sich hinstarrte, schlief diese bereits.


19 Lautlos glitt ein Gebet von seinen wulstigen Lippen. Völlig

20 vertieft in seinem Gespräch mit Mawu, der Göttin der Ewe,

21 realisierte er nicht einmal mehr, dass wir die Plane

22 zurückgezogen hatten und uns nun erschöpft zu unserem

23 Schlafnest begaben. Das Letzte, was ich spürte, bevor ich

24 einschlief, war Kays Hand, die die meine kurz drückte.

332
1 15. Kapitel
2 Eine Ratte schwamm aufgedunsen zwischen den vom Salz

3 zerfressenen und längst an Glanz verlorenen Rümpfen der

4 Schiffe in dem öligen, schwarzen Wasser - obwohl man dieses

5 Gemisch dort unter dem Steg nicht einmal mehr Wasser hätte

6 nennen dürfen.

7 Der moderne Tiefseehafen von Lomé ist von großer

8 Bedeutung. Denn das Transitland Togo gilt als eine

9 internationale Drehscheibe für den Drogenschmuggel.

10 Nun erinnerte ich mich an den Artikel in der Zeitung, den

11 ich einmal aus Langweile verständnislos überflogen hatte.

12 Weil Papa stolz darauf war, dass ich mich für die Welt der

13 Erwachsenen interessierte, hatte versucht, mir all dies zu

14 erklären, doch erst jetzt, als ich Teil dieses Artikels

15 wurde, verstand ich seine Worte.

16 „Das Schiff liegt dort drüben vor Anker.“, erklärte Sir

17 Scott, wobei er mir leicht die Kiste, die er trug, in den

18 Rücken stieß, damit ich weiterging.


19 Gemeinsam mit den anderen sechs Kamikazemitgliedern hatte

20 der Meister in den frühen Morgenstunden vor dem Hotel

21 Sarakawa auf mich gewartet, um uns persönlich zu dem Schiff

22 zu führen. Wie Kay vermutete, tat er dies wahrscheinlich

23 nicht aus Freundlichkeit, sondern vielmehr aus dem Interesse

24 daran, zu wissen, dass wir dieses Land wirklich endgültig

25 verließen. Unbehagen keimte ihn mir auf. Ein unbestimmtes

26 Gefühl begleitete mich über den Steg zu einem kleinen,

27 motorisierten Boot hinüber, welches zwischen zwei weiteren


28 Schiffen seiner Größe angekettet war. Man hatte es auf den

333
1 Namen Kamikaze 08 getauft, dessen verblasste Buchstaben sich

2 sowohl an der Seite als auch am metallischen Heck erhoben.

3 „Unser Schiff.“, flüsterte Reni gebannt ihrer Mutter ins

4 Ohr. Fasziniert ließ sie die Lebensmittel fallen und stürmte

5 über eine winzige Brücke auf das hölzerne Decke. Die anderen

6 Togolesen lachten verschmitzt, wobei sie einer nach dem

7 anderen ebenfalls ihre neue Hoffnung betraten. Nur ich

8 rührte mich nicht, blieb bewegungslos am Kai stehen, ohne

9 meinen Blick von dem Boot abzuwenden. Unser Schiff. Aber

10 würden wir damit die zu Spanien gehörenden, 3000 Kilometer

11 entfernten Kanarischen Inseln erreichen können? Diese Frage

12 beschäftigte mich seit einigen Stunden und je länger ich

13 darüber nachdachte, desto mehr begann ich, an meiner

14 Entscheidung zu zweifeln. Vor allem nachdem Kay mir von

15 ihrem Albtraum erzählte hatte, in dem ein Schiff in den

16 Fluten des Meeres versank, seine Besatzung mit sich in die

17 Tiefe riss und nie wieder auftauchte. Für immer verschluckt

18 von den tausenden, Milliarden Tonnen von Wasser.


19 „Tim! Worauf wartest du denn noch? Komm endlich!“, brüllte

20 Kassian über die Reling, hinter der auch Mathieu Kopf

21 schüttelnd auftauchte.

22 Geh schon, Tim. Es ist dein Schiff, es gehört dir, dir

23 alleine. Aber erneut ließ dieses unbestimmte Gefühl jede

24 meiner Bewegungen zu Stein erstarren. Du kannst es nicht. Du

25 kannst es einfach nicht. Mein Blick wanderte über die

26 strahlenden Gesichter der Kamikazemitglieder, die die Daumen

27 hoben, zu Maurice Scott, der mir beiden Hände auf die

28 Schultern legte, damit ich gezwungen war, ihm in die Augen


29 zu sehen. „Versprich mir, dass du diese Menschen sicher nach

30 Spanien bringst. Du bist immer ein starker Junge gewesen,

334
1 Tim. Genau wie dein Vater. Selbst wenn du mir diese

2 vermutlich nie glauben wirst, aber ich werde dich vermissen.

3 In den letzten Monaten habe ich durch dich so viel Neues

4 gelernt. Danke.“ Sich eine Träne aus dem Augenwinkel

5 reibend, fiel er mir um den Hals, als sei ich sein Sohn, der

6 für längere Zeit verreiste.

7 „Danke, Sir.“, entgegnete ich, dem Meister ausweichend.

8 Ich fühlte mich von ihm bedrängt, vor allem wenn man

9 bedachte, dass dieses Mensch uns derart lange in seinen

10 Klauen quälte und mich im Grunde längst hätte töten wollen,

11 wäre nicht dieser… unglückliche Unfall passiert. Hatte

12 dieses Erlebnis tatsächlich seine Sicht auf ein Leben in

13 Freiheit verändert? Seltsamerweise bezweifelte ich dies,

14 obgleich ich nicht wusste, weshalb. Im Augenblick schien mir

15 all dies auch völlig gleich. Es gäbe kein Zurück. Nie mehr.

16 Ich versank in ihren blauen, geheimnisvoll Augen. Immer

17 tiefer sank ich herab zum Grund, umschwärmt von tausenden

18 leuchtenden Seesternen.
19 „Kay…“ Unbeholfen kitzelte ich sie unter dem Kinn, damit

20 sie lachte. Aber dieses Mal blieb ihr trauriger Blick starr

21 an mir hängen. Kalt, bemüht, wenig Gefühl in ihre Stimme zu

22 legen, erwiderte sie leise: „Tim, du musste nichts sagen…“

23 Weiter kam sie nicht. Die Tränen, die über ihre rosigen

24 Wangen liefen, unterdrückten jedes ihrer Worte. „Ich werde

25 dich vermissen.“, formte ihre glänzend roten Lippen immer

26 wieder. „Ich werde dich vermissen.“ Ihr zarter Körper

27 zitterte. Ihre Knie drohten, nachzugeben, doch, bevor sie

28 auf den verschmutzen Boden sinken konnte, presste ich sie


29 fest an meine Brust. Ich würde meine beste Freundin nicht

30 loslassen. Selbst dann nicht, wenn uns zwei Raketen

335
1 auseinander reißen wollten. Einmal hatten sie es geschafft,

2 damals in jenem Dorf in Kpalimé, aber nochmals würde sie es

3 nicht schaffen. Denn ich würde mich verbissen dagegen

4 wehren… Ich würde…

5 „Wir sind mit dem Einladen fertig.“

6 „Das Schiff legt gleich ab, mein Junge. Du solltest dich

7 beeilen.“

8 „Tim! Kommst du?“

9 Wild wirbelten die Stimmen in meinen Kopf durcheinander.

10 Eindrücke - Gerüche, Geräusche, Berührungen -, alles

11 prasselte auf mich nieder, sodass ich mein kleines

12 Schwesterchen plötzlich nicht mehr spürte. Entsetzt schlug

13 ich die Augen auf. „Kay? Ich möchte dir noch etwas sagen.“

14 Ich möchte dir sagen, dass ich dich mehr liebe als nur einen

15 besten Kumpel. Aber diese Worte erklangen lediglich wie

16 dumpfe Silben in meinen Gedanken. Es war zu spät. Amani

17 zerrte mich von dem Mädchen weg zur Brücke, obwohl ich mich

18 dagegen zu wehren versuchte. Nein, sie ist meine Freundin!


19 „Du musst sie loslassen, Tim.“, raunte er mir zu, aber ein

20 letztes Mal schüttelte ich ihn ab, stürzte zum Kai zurück.

21 Ich bleibe hier, ich werde nicht fortgehen. Nicht…

22 Die immer noch weinende Kay Linn starrte in das schwarze

23 Wasser. Als ich ihre Schulter streifte, drehte sie

24 überrascht den Kopf. In diesem Moment berührten sich unsere

25 Lippen. Leicht lagen sie aufeinander, leicht und warm. Der

26 süßliche Geschmack ihres Himbeerbonbons füllte meinen

27 Mundraum, kitzelte in meinem ganzen Körper. In meinen Ohren

28 konnte ich das gemeinsame Schlagen unserer Herzen hören.


29 Poch, poch. Ganz leise und harmonisch, als wären wir eins.

30 Zwei Seelen, die einander glich wie zwei Schokoladentafeln

336
1 derselben Marke, derselben Sorte. Erst langsam tauchte ich

2 aus diesem Traum auf und die Erkenntnis traf mich wie einen

3 Blitz. Ich hatte Kay geküsst! Meinen besten Kumpel! Gott,

4 wie konntest du nur? Küssen ist doch etwas für Ältere, für

5 Mamas und Papas! Als ich mich entschuldigen wollte, legte

6 Kay sacht ihren Zeigefinger auf meine noch feuchte

7 Unterlippe. Sie lächelte kopfschüttelnd. „Du musst nichts

8 sagen.“, wiederholte sie, „Ich bin dir nicht böse… deswegen,

9 denn…“

10 Stöhnend packte Amani meinen Arm und riss mich endgültig

11 von meiner besten Freundin fort. Dieses Mal war meine

12 Gegenwahr sinnlos, ich zu schwach. An Bord des Schiffes

13 angelangt, legte dieses bereits vom Kai ab. Entsetzt rannte

14 ich zur Reling. Es waren nur wenige Meter. Wenn ich nun

15 sprang, könnte ich es schaffen. Auch wenn du dir dabei

16 vermutlich sämtliche Knochen brichst, ergänzte ich in

17 Gedanken.

18 Das schottische Mädchen inmitten der winkenden Erwachsenen


19 zwinkerte mir zu, wobei sie den Kuscheltierlöwen hochhielt,

20 den ich ihm geschenkt hatte, damit dieser mich ebenfalls

21 verabschieden konnte. Der zweite Teil meines Lebens, den ich

22 in diesem Land zurücklassen musste. Dass du mir gut auf sie

23 aufpasst, wies ich ihn tonlos an.

24 „Komm zurück!“, schrie meine beste Freundin, die über den

25 Kai hinter dem Schiff her rannte. „Komm zurück irgendwann!“

26 Ich nickte. Ja, ich werde zurückkommen. Bestimmt. Großes-

27 Togo-Ehrenwort. Versprochen. Irgendwann würden wir beide

28 einander wieder sehen. Vielleicht nicht jetzt, vielleicht


29 erst in ein paar Jahren, aber irgendwann, irgendwann ja.

30 Seufzend starrte ich, die Reling umklammert, zurück, bis ich

337
1 realisierte, dass nun auch der wichtigste Mensch in meinen

2 Leben verschwunden war.

338
1 16. Kapitel
2 Auf dem Rücken liegend lauschte ich dem Rauschen des

3 Motors. Über mir spannte sich wie ein Tuch der Nachthimmel,

4 unter mir das schwarze Wasser, welches das Schiff von dem

5 Land dort drüben in weiter Ferne trennte. Beinahe bildete

6 ich mir ein die Lichter der Stadt San Pedro, Elfenbeinküste,

7 sehen zu können, obwohl dies unmöglich schien.

8 Seufzend beugte ich mich über den Plastikeimer, in dem

9 sich ein großer Teil meines Mageninhaltes angesammelt hatte.

10 Die drei Tage auf hoher See mochte nicht nur meine

11 Orientierung beeinträchtigen, sondern auch alle übrigen

12 Funktionen meines Körpers. Röchelnd spie ich in den Eimer,

13 wobei ich mich an der Reling hochzog, um ihn über dem Meer

14 zu entleeren. Doch mein Gleichgewichtssinn war ebenfalls

15 angegriffen, sodass ich zurücktaumelte, alles doppelt

16 sehend. Schwindel erfasste mich und hätte Dominique mich

17 nicht besorgt aufgefangen, wäre ich vermutlich gestürzt.

18 Behutsam legte mich die junge Afrikanerin auf die Decke


19 zurück, tätschelte mir den Kopf. „Alles wird wieder gut.

20 Ruhe dich erst einmal aus.“

21 Dann half sie der schwach fluchenden Tess neben mir auf.

22 Ich hasse es, seekrank zu sein, hörte ich das Mädchen

23 stöhnend, bevor auch es sich erbrach. Ob es den übrigen

24 Passagieren ebenso erging wie uns beiden, wusste ich nicht.

25 Auch wusste ich nicht, wer das neun Knoten, umgerechnet 16,2

26 km/h schnellem Schiff steuerte, denn soweit ich mich

27 erinnern konnte, war niemand an Bord, der Erfahrungen als


28 Kapitän gesammelt hatte. Zu Beginn unserer Reise hatte

29 Faraji das Boot lenken wollen, aber als dieses sich nun

339
1 langsam fortbewegte, hatte Amani angeordnet, einen neuen zu

2 suchen. Seither mochten wir etwa 780 Kilometer zurückgelegt

3 haben, obwohl es mir aufgrund der Übelkeit weitaus mehr

4 vorkam.

5 Am vierten Tage hatte sich mein Körper an die ungewohnten

6 und neuen Gegebenheiten angepasst, sodass zum ersten Mal

7 wieder den Drang verspürte, etwas zu essen. Trotz der

8 unruhigen Nacht gelang es mir, mich langsam zu den

9 Nahrungsmitteln zu bewegen - oder dort, wo ich sie

10 vermutete hätte. Die Erkenntnis traf mich wie einen Schlag

11 in den Magen. Doch es war nicht die Tatsache, dass ich

12 seekrank war, die mich dazu veranlasste, mich über die

13 Reling zu beugen, um zu erbrechen, sondern vielmehr der

14 Schock. Obwohl wir erst vor vier Tagen in See gestochen

15 waren und noch mindestens drei oder vier weitere hier

16 draußen auf dem Atlantik ausharren musste, bis wir

17 spanisches Festland erreichten, mochten unsere Vorräte zu

18 Neige gehen. Hektisch schüttelte ich einen Wasserkanister


19 nach dem anderen. Spärlich lief einigen Tropfen in meinen

20 Mund. Sicherlich ein Irrtum. Amani hatte die übrigen

21 Kanister bestimmt zu einer anderen Stelle schaffen lassen,

22 als ich schlief. Dennoch, gleich wie sehr ich mir dies

23 einzureden versuchte, ahnte ich, dass Scott für uns noch ein

24 letztes Ass im Ärmel gehabt hatte, einen letzten durchaus

25 geglückten Spielzug. Wie konnte ich nur so dumm sein und

26 diesem Menschen trauen!? Es hätte mir auffallen müssen. Es

27 hätte…

28 „Tim? Weiß du, wo das Wasser ist?“ Reni lehnte mit einer
29 grob zusammengeflickten Puppe im Arm gegen die

30 Kapitänskajüte. Ihr rotbräunlich schimmerndes, langes Haar

340
1 fiel geflechtet über ihre schmalen Schultern. Sie wirkte so

2 zierlich, wie sie da stand, oberkörperfrei nur in ihrem

3 bunten Wickelrock. Und sie braucht das Wasser. Dringend.

4 „Nein, aber ich werde Amani danach fragen. Warte, ich bin

5 gleich wieder da.“, log ich, wobei ich mich an der Kleinen

6 vorbei drückte, um unseren Führer zu suchen. Denn Amani war

7 derjenige, der für mich noch eine Art Überblick hatte, den

8 wir übrigen längst verloren haben mussten. Kurz lugte ich

9 durch die verschmierte Scheibe der Kajüte, in der ich den

10 Afrikaner vermutete. Tatsächlich unterhielt er sich im

11 Inneren mit seinem am Steuer stehenden Schwiegervater.

12 Kassian hockte in einer Ecke und spielte mit dem Gameboy,

13 den ich ihm ausgeliehen hatte. Er schien von der Diskussion,

14 die seine Familie führte, vollkommen unberührt. Für einen

15 Moment zögerte ich, ob ich mich einmischen sollte, entschied

16 mich aber mit dem flüchtigen Blick auf einen der Kanister,

17 Amani schnellstmöglich davon zu berichten. Je früher, desto

18 besser. Vielleicht würden wir den Kurs noch ändern können


19 und spätestens am nächsten Morgen irgendwo in Liberia an

20 Land gehen. Was dort mit uns als illegale Einwanderer

21 geschehen würde, wäre egal. Denn bei dem Gedanken, zu

22 verdursten…

23 „Amani, Richard? Wir…“ Als mich die beiden erstaunt

24 ansahen, biss ich mir auf die Zunge. Wie um alles in der

25 Welt sollte ich ihnen sagen, dass…? „Wir haben ein Problem.

26 Ein ziemlich großes Problem.“ Komm endlich zur Sache, Tim.

27 Doch bevor ich fortfahren konnte, vernahm ich an Deck einen

28 plötzlichen, entsetzten Aufschrei. Im Winkel meines


29 Blickfeldes bemerkte ich Renis Mutter, die neben den

30 Wasserkanistern zu Boden ging. Dort, wo ihre Tochter

341
1 gestanden hatte. Ohne mir weitere Beachtung zu schenken,

2 stieß Amani mich zu Seite, drängelte sich durch die Menge

3 der anderen Passagier zu der Frau, die den Kopf des kleinen

4 Mädchens in ihren Schoss legte. Beschwörend flüsterte sie

5 etwas, strich ihm immer wieder das Haar aus der Stirn. Mach

6 die Augen auf, Reni. Los, mach endlich die Augen auf,

7 bettete ich, als ich mich ebenfalls neben ihr niederkniete.

8 Aber aus ihrem Mund rann lediglich eine durchsichtige

9 Flüssigkeit. Vor Minuten hatte sie noch mit mir gesprochen.

10 Was war bloß geschehen? Ihre dunkle Haut fühlte sich seltsam

11 an, heiß und… und ausgetrocknet! Verwunderte ließ ich meinen

12 Blick umherschweifen, der plötzlich an einem Eimer hängen

13 blieb, der umgekippt in einer Lache lag. Dessen Inhalt

14 musste sich vor nicht allzu langer Zeit auf dem hölzernen

15 Untergrund verteilt haben. Wasser? Die Kanister mochte alle

16 leer gewesen sein. Trotz der misstrauischen Augenpaare im

17 Rücken kroch ich zu der Lache herüber, tauchte meinen Finger

18 in die Flüssigkeit. Es war Wasser… Sehr, sehr salziges


19 Wasser! Und Reni, Reni hatte es getrunken. Im Zweifelsfalle

20 drei Viertel des Eimers. Entsetzt fuhr ich zu dem kleinen,

21 immer schwächer atmenden Mädchen herum. Sie würde

22 austrocknen, bekäme sie nicht bald etwas zu trinken.

23 „Holt Wasser!“, schrie ich aufgeregt, doch als sich

24 Suleika in Bewegung setzte, realisierte ich die Ironie, die

25 das Leben meiner Freundin bestimmte. Sie hatte Wasser

26 getrunken, damit der sie quälende Durst aufhörte und nun

27 drohte sie, an diesem zu ersticken. Und ich konnte nichts

28 dagegen tun. Ich fühlte mich vollkommen hilflos, alleine


29 gegen Gottes ungerechte Welt.

342
1 „Wir haben kein Wasser mehr.“, meldete Suleika tonlos und

2 sprach somit das aus, wozu ich nicht fähig gewesen sein

3 mochte, bevor es zu spät war. Nein, es ist noch nicht zu

4 spät! Noch nicht! Irgendetwas mussten wir doch für Reni tun

5 können. Irgendwas! Ich war kein Arzt, ich hatte verdammt

6 noch mal keine Ahnung, aber ich wusste, ich würde das

7 kleinen Mädchen nicht im Stich lassen. Ohne Punkt und Komma

8 erklärte ich der Menge in knappen Worten, weshalb die

9 Jüngsten unter ihnen mit dem Tod rangen, als plötzlich Panik

10 ausbrach. Fassungsloses Gejammer. Wütende Beschimpfungen,

11 weil jeder jeden verdächtigte, die Vorräte für sich

12 beansprucht zu haben. Nur Reni lag da, völlig regungslos im

13 Schoss ihrer Mutter, konnte nicht mehr fluchen, nicht mehr

14 weinen, bloß schlafen. Verzweifelt klopfte ich auf ihren

15 Rücken, als könne ich so das Salz aus ihrem Körper prügeln.

16 Wach auf, Reni. Bitte, wach auf. Ihre Puppe, die sie immer

17 noch im Arm hielt, rollte zur Seite. Ihr Herz hatte

18 aufgehört zu schlagen. Nein, wach endlich auf! Ohne es zu


19 beabsichtigen, drückte ich auf ihre Oberkörper. Einmal

20 leicht, dann etwas fester. Immer darauf bedacht, ihr keine

21 Rippe zu brechen. So hatte ich es im Fernsehen gesehen - nur

22 mit dem Unterschied, dass in dem flimmernden Kasten niemand

23 wirklich Hilfe benötigte. Plötzlich fiel ein Schatten auf

24 mein Gesicht. Der alte Mann ohne Namen kniete sich vor mir

25 nieder, stieß die ängstliche Mutter und mich fort, um das

26 Ohr auf Renis Oberkörper zu legen. Traurig schüttelte er den

27 Kopf. Nein! Obwohl ich in diesem Augenblick verstanden, dass

28 es vorbei war, wollte ich es nicht wahrhaben. Verzweifelt


29 versuchte ich noch einmal, sie wieder zu beleben, betend,

343
1 dass sie endlich die Augen öffnete. Aber diese blieben

2 verschlossen. Kein Herzschlag, kein Lebenszeichen.

3 Auch das kleinen, fröhliche Mädchen, welches niemals die

4 Hoffnung aufgeben hatte, befreit zu werden, gleich, ob es in

5 Gefangenschaft aufgewachsen war, hatten die Todesengel zu

6 sich in den Himmel geholt.

7 Warum? Gott verdammt warum?

8 Den Kopf in die Hände gestützt, starrte ich fassungslos in

9 die sich unter mir schäumenden, wölbenden Fluten des

10 Atlantiks. Reni war weg; die Wellen hatten ihren in ein Tuch

11 eingehüllten, kleinen Körper fort getragen. Ob an Land oder

12 nur noch weiter auf den Ozean heraus entgegen der Grenze des

13 Horizontes, wäre vollkommen gleich, denn sie würde es nicht

14 spüren. Weder die Einsamkeit, die sie umgab, noch die Kälte.

15 Nichts mehr. Und daran war ich alleine Schuld, weil ich sie

16 nicht gerettet hatte. Sicherlich hätte es einen Weg gegeben.

17 Es musste einen Weg gegeben haben, doch diesen hatte ich

18 nicht genutzt. Ich war dafür verantwortlich, dass ihre


19 Mutter nun dort drüben neben der leeren Orangenkiste am

20 Boden kauerte, nach ihrem Kind weinend, flehend, dass dieses

21 zurückkäme. Warum? Gott verdammt warum? Das quälende

22 Bewusstsein, für etwas Schreckliches Rechenschaft ablegen zu

23 müssen, ließ mir zum wiederholten Male diese Frage vor Augen

24 erscheinen. Wie Neonleuchtreklamme, eine Irrfahrt durch eine

25 längst verlassene Stadt mit demselben Schild an jeder Ecke,

26 in jedem Schaufenster: Warum? - Du bist schuld, Tim. Gott

27 verdammt warum? - Du bist Schuld. Und ich könnte es nie

28 wieder gutmachen. Ich hatte sie sterben lassen an diesem 7.


29 August, dem ersten Samstag des Monates, an dem wir

30 eigentlich Gbagba-Za, das Erntedankfest der Ewe feiern

344
1 wollten. Doch seit Reni… Nein, ich durfte diesen Gedanken

2 nicht zu Ende führen. Glücklicherweise lenkte mich Tess ab,

3 die plötzlich neben mich trat.

4 „Amani hat mich gebeten, nach dir zu sehen. Ähm… Alles in

5 Ordnung?“

6 Sie machte ein trauriges Gesicht. Da sie als blinde

7 Passagierin an Bord gelangt war, wurde sie vor allem in

8 unserer momentanen Situation von dem Großteil der

9 Afrikanerin - wenn auch oftmals unbeabsichtigt -

10 diskriminiert. Die Tatsache, dass sie die Tochter jenes

11 Mannes war, der uns gequält hatte, verstärkt dies zudem.

12 Immerhin hatte sie in den vergangen Tagen trotz ihrer

13 Krankheit einige der Nahrungsmittel für sich beansprucht,

14 die jetzt der Gesamtheit fehlten. Umgerechnet hätten wir

15 ohne sie jeder im Durchschnitt etwa einen halben Liter

16 Wasser und ein paar Brote mehr essen und trinken können,

17 doch das Ergebnis, dass wir alle gemeinsam entweder

18 verhungern oder verdursten würden, bliebe unverändert.


19 Lediglich der Zeitpunkt verschöbe sich um einen Tag nach

20 hinten.

21 „Dumme Frage, schätze ich.“, fügte das Mädchen zögerlich

22 hinzu.

23 Ich hatte sie noch nie derart verunsichert erlebt. „Nein,

24 schon gut.“

25 „Es tut mir Leid, was mit der Kleinen passiert ist. Ich

26 habe sie kaum gekannt, aber nett war sie. Hat mich gestern

27 noch mit ihrer Puppe getröstet, als…“ Sie unterbrach sich

28 hastig, beobachtete die Wellen. „ Vergiss es.“


29 „Ich weiß, was du meinst.“

30 „Okay, gut, dann werde ich jetzt… Ähm… gehen.“

345
1 Vorsichtig schlich sie zu dem besorgten Amani herüber, der

2 versuchte, einen Konflikt zwischen Suleika und ihrem Freund

3 Faraji zu lösen. Dabei schien er mit der Situation völlig

4 überfordert, denn er konnte nichts mehr tun, um seine

5 Mitreisen zu ermutigen. Diejenigen, die eine Orange mehr

6 gegessen haben, würden nicht einfach beim nächsten Mal auf

7 eine verzichten. Denn es gab nichts mehr, worauf sie hätte

8 verzichten müssen:

9 Unsere Kanister, Kisten, Kartons waren leer.

346
1 17. Kapitel
2 Menschen wissen, wenn ein Todesengel über ihnen die Arme

3 ausbreitet, um sie in Empfang zu nehmen. Menschen wissen,

4 wenn sie sterben. Die Passagiere der “Kamikaze” wusste dies

5 ebenfalls, als die erste Welle gegen ihr Schiff schlug. Es

6 war der 8. August, genau einundzwanzig Uhr fünfzehn, an dem

7 sich die vielen Adern dieser Welle wie Bleistifte durch ein

8 Papierboot zu bohren versuchten. Meerwasser prasselte wie

9 der Speichel des Himmels auf ihre Köpfe herab. Erst wenig,

10 langsam, schwach, plötzlich immer mehr, immer schneller,

11 immer kräftiger. Blitze zuckten über die schwarzen Wolken.

12 Es setzte zu regnen ein.

13 Dann traf die zweite Welle auf das Schiff.

14 Blind kroch ich über das schwankende Boot, rutschte auf

15 dem nassen Holzboden ab. Da wir alle zu sehr mit dem Streit

16 um die Nahrungsmittel beschäftigt waren, hatte niemand von

17 uns die drohende Wolkenwand bemerkt, die sich rasend von

18 Osten näherte. Aber selbst wenn wir die Gefahr rechtzeitiger


19 wahrgenommen hätten, wäre unser Schicksal trotzdem besiegelt

20 gewesen. Denn wo sollte unser kleines Schiff Schutz suchen?

21 In gewisser Weise ähnelten wir einem Kaninchen auf einer

22 Lichtung, welches der Jäger längst im Visier gehabt hat.

23 Die Glasscheibe der Kajütentür barst, Splitter schnitten

24 mir ins Fleisch. Qualvoll riss ich den Mund auf, doch bevor

25 ich schreien konnte, füllte er sich mit Meerwasser. Salzige

26 Tränen rannen über meine Wangen, vermischten sich mit Blut.

27 Wild flatterte die togolesische Flagge am Heck im


28 aufkommenden Sturm. Ihr Schatten huschte über die Gesichter

29 der in Panik versetzten Menschen, die wie Gespenster in

347
1 ihren durchnässten Gewändern über das Deck irrten. Durch die

2 zerbrochene Fensterscheibe konnte ich Richard ausmachen, der

3 das Steuer fest in seinen Händen hielt, jedoch nicht gegen

4 das Kippen ankämpfte. In einem Fünfzigrad-Winkel neigte sich

5 das Schiff. Wasser flutete über die Reling. Kanister und

6 andere lose Gegenstände rollten über das Deck, fielen in die

7 Dunkelheit herab. Nicht einmal der Aufprall, mit dem sie

8 versanken, war zu hören. Schliddernd rutschte auch ich dem

9 Abgrund entgegen, mit Händen und Beinen strampelnd, Augen

10 und Mund geschlossen. Warmes Erbrochenes tropfte von meinen

11 Mundwinkel in den Atlantik. Plötzlich wurde das Boot

12 zurückgeworfen. Alles wirbelte durcheinander, drehte sich.

13 Chaos. Ich sah nichts, spürte nur das Brennen der

14 Schnittwunden, sonst nichts. Gott, lass es endlich vorbei

15 sein. Doch anstatt meine Bitte zu erhören, spülte mich eine

16 Welle erneut über das Deck. Kullernd wie ein altes Rohr

17 krach ich mit dem Rücken gegen die Außenwand der Kajüte.

18 Schmerzen jagten durch meinen Körper. Völlig entkräftet


19 blieb ich auf dem Bauch liegen. Gleich, was mit mir

20 geschehen würde, ich konnte nicht mehr.

21 „Tim!“ Tränenblind grunzte ich leise, bäumte mich schwach

22 auf. Ein Blitz schoss über den Himmel, gefolgt von einem

23 tiefen Donnergrollen. Dadurch motiviert, zu töten, erfasste

24 eine drei Meter Welle das Boot, ließ es auf sich reiten, nur

25 um abschließend über ihm zusammenzubrechen. Als sich das

26 Wasser für einen neuen Angriff zurückzog, war Suleika

27 verschwunden, die mir hat aufhelfen wollen. Sekundenspäter

28 verlor auch Faraji den Halt, der sich an die Reling


29 gegenüber gekrallt hatte. Im Sturz wurde er hart von einer

30 Orangenkiste am Kopf getroffen, woraufhin sein entsetztes

348
1 Brüllen nach seiner Freundin augenblicklich erstarb. Er war

2 tot, noch bevor er mit weit ausgebreiteten Armen in der

3 Finsternis aufschlug. Nein! Verzweifelt klammerte ich mich

4 an allem fest, was sich mir bot, fand… nichts! Nichts als

5 Leere. Wind strich an meinen Wangen vorbei. Irgendwo - ich

6 konnte nicht einmal mehr die Richtung ausmachen - schrien

7 Menschen. Der Klang ihrer panischen Stimmen brannte sich wie

8 ein Tinitus in mein Gehör. Als könne ich gegen den Fall

9 ankämpfen, versuchte ich in den zwei Sekunden, die ich in

10 der Luft verbrachte, wie ein Vogel mit den Armen zu rudern.

11 Nur fliegen, fliegen konnte ich nicht. Fest presste ich die

12 Lider aufeinander. Unter mir rauschten die Wellen wie eine

13 Herde wild gewordener Stiere…

14 Die brutale Kälte des Atlantiks war das Erste, was ich

15 spürte, als mein, zu einem Stein gewordener Körper durch die

16 Wasseroberfläche stieß. Wie ein Hammerschlag trieb sie mir

17 die Luft aus der Lunge, hüllte mich in Eis, schleuderte

18 meine Gefühle fort. Ich spürte mich selbst nicht mehr, nicht
19 mehr das Kribbeln, mit dem die Bläschen meine Lippen

20 berührten, nicht mehr den Druck auf meinen Ohren, der

21 entstand, als ich immer weiter in die Dunkelheit herab sank.

22 Hier unten war es tot. Lautlos, still. Um mich herum alles

23 schwarz. Salzwasser füllte meinen Mundraum, sodass ich

24 diesen entsetzt aufriss. Hoffnungen, jemals wieder

25 aufzutauchen und so etwas wie Wärme zu empfinden, hatte ich

26 nicht, aber einen noch kläglichen Rest an Überlebenswille.

27 Und dieser winzig kleine, klägliche Rest war stark. Du musst

28 atmen, Tim. Meine Lungen waren bereits zum Zerreisen


29 gespannt. Blut pochte in meinen Adern. Atme. Langsam

30 vollführte ich einen schwachen Brustbeinschlag, einen

349
1 zweiten, einen dritten. Doch jedes Mal wurde ich von einer

2 eisernen Klaue zurückgezogen. "Lasst mich los!", schrie ich

3 tonlos, lasst mich endlich los! Ich hatte keine Kraft mehr,

4 ich musste aufgeben, ich war kurz davor, ohnmächtig zu

5 werden. Kay würde ich niemals wieder sehen. Schockiert

6 schlug ich mit den Armen um mich. Nein, Tim, kämpfe. Kämpfe

7 weiter. So schwer kann es nicht sein, diesem Meer zu

8 entkommen. Es hat keine Augen, keine Ohren, keine Nase. Es

9 kann dich nicht riechen, hören, sehen. Erneut unternahm ich

10 einen Versuch, als ich plötzlich kurz vor dem Auftauchen das

11 Bewusstsein verlor. Meine weit aufgerissenen Lider

12 flatterten. Du schaffst es… Nein, meine Lungen waren

13 ausgepumpt, alle Wärme aus meinem Körper gewichen. Schwach

14 machte ich einen letzten Brustarmzug. Verloren… Ob mich Haie

15 ausfressen würden? Oder mich andere Fische in Stücke rissen?

16 Wäre ich jetzt in den Fluten ertrunken, wäre dem sicherlich

17 so gewesen. Aber seltsamerweise hörte ich einen

18 verzweifelten Ruf. Um diesem zu antworten, klappte ich den


19 Mund auf, wieder zu, auf. Erstaunt bemerkte ich, dass der

20 Widerstand des Wassers fehlte, und da wurde mir bewusst, ich

21 hatte es geschafft. Irgendwie. Irgendwie, egal wie, ich

22 hatte es geschafft. Japsend schnappte ich nach Luft, legte

23 mich dabei auf den Rücken, damit mich die Wellen nicht

24 sofort übermahnten. Meine Zähne klapperten, meine Lippen

25 waren blau. Ich zitterte am ganzen Körper und könnte ich

26 nicht meine bloßen Füße sehen, würde ich behaupten,

27 tatsächlich zu einer Eisskulptur geworden zu sein. In weiter

28 Ferne vernahm ich ein tiefes Raunen, Rufe. Langsam glitt ich
29 auf den Bauch. Hilfe! Hierher! Die dünne Kleidung bauschte

30 sich unter Wasser auf, erschwerte mir das Schwimmen. Salz

350
1 brannte in meinen Augen, die ich zusammenkniff, um besser

2 meine Rettung auszumachen. Dabei winkte ich, erwiderte die

3 Rufe. Hilfe! Ich bin hier! Hierher, hallo! Beinahe senkrecht

4 geneigt, kippte die Kamikaze zur Seite. Ihr Todeskampf war

5 entschieden, sie geschlagen. Und plötzlich erkannte ich,

6 dass es keine Rettung gäbe.

7 Ich konnte immer noch nicht begreifen, vielleicht wollte

8 ich es auch gar nicht. Vielleicht wollte ich nicht einsehen,

9 dass ich sterben würde. Hier draußen, einsam, verlassen,

10 alleine. Aber… Die ungeheure Kraft der Welle, die entstand,

11 als sich das stolze Schiff langsam auf dem Grund zu Bett

12 legen wollte, zog mich mit in die Tiefe. Für einen

13 Augenblick hatte ich das Gefühl, nun wäre tatsächlich alles

14 vorbei, doch die Angst, im Himmel gefangen zu werden und nie

15 wieder zurück auf diese Erde zu können, spritzte mir

16 Adrenalin. Zurück an der Wasseroberfläche versuchte ich,

17 meine aufsteigende Panik niederzukämpfen, um mir einen

18 Überblick zu verschaffen. Obwohl mir dies kaum gelang und


19 ich immer hektischer mit den Armen zu rudern begann,

20 erkannte ich zu meinem Glück in einiger Entfernung einen

21 länglichen Schatten. Hoffnungsvoll kraulte ich gegen die

22 Wellen auf ihn zu, schrie dabei um Hilfe. Hallo? Ist hier

23 jemand? Hallo! Keine Antwort. Tess? Mathieu? Amani,

24 Dominique? Irgendwer? Bitte… Keine Antwort, keine Reaktion.

25 Verzweifelt klammerte ich mich an den Gegenstand, bei dem es

26 sich wohl um ein Brett handeln musste.

27 Leise heulte der Wind, besänftigte die wütenden, Unheil

28 bringenden Fluten, als wolle er sagen, dass es ihm Leid


29 täte. Doch dadurch erwachte die Kamikaze dennoch nicht zu

30 neuem Leben. Auch nicht Suleika oder Faraji.

351
1 Kopf und Hände auf das Brett gelegt, den restlichen Körper

2 im Wasser hängen lassend, aus Angst, dass Stück Holz könne

3 unter meinem Gewicht sinken, schloss ich erschöpft die

4 Augen, obgleich ich wusste, dass es ein tödlicher Fehler

5 wäre, einzuschlafen. Ich dachte an Mama und Papa. Trieb

6 ziellos dahin. Dachte an Kay. Ob meine beste Freundin jemals

7 davon erfährt, dass unser Schiff gesunken ist? Hoffentlich

8 nicht. Sie soll sich keine unnötigen Sorgen machen müssen,

9 sondern glücklich sein. Einfach nur glücklich in einer

10 gerechten Welt, die es nicht gibt. Die Erinnerung an Kay

11 erweckte in mir neuen Überlebenswillen. Ich will sie wieder

12 sehen. Schließlich hatte ich ihr dies versprochen. Und

13 Versprechen sind nicht zum Brechen da. Vorsichtig tauchte

14 ich die rechte Hand ins Wasser, dann die linke. Wie groß ist

15 der Atlantik? Ein paar tausend Meilen? Egal, ich werde bis

16 zum Ende dieses Universum schwimmen, wenn es erforderlich

17 wird. Mama und Papa, euch treffe ich später. Und die gute,

18 alte Oma auch. Meine Beine unterstützten die Armbewegungen,


19 jedoch nur langsam, um Kraft zu sparen. Da ich keinerlei

20 Orientierung mehr besaß, entschied ich mich zunächst zu der

21 Stelle zurück gelangen, wo die Kamikaze verschluckt worden

22 war. Vielleicht wäre ich nicht alleine. Immer wieder brüllte

23 ich um Hilfe, rief die Namen der anderen. Lauschte dem

24 schwach Südostwind, dem Rauschen der nun milden Wellen. Im

25 Mondschein erkannte ich zwei regungslose Menschenkörper. Ein

26 Bild des Grauens. Renis Mutter lag auf dem Rücken, die Augen

27 starr. Als ich sie zögernd antippte, ertrank sie.

28 Bewegungslos sank ihre Leiche in die Finsternis herab,


29 obgleich ich verzweifelt versuchte, sie festzuhalten. „Es…

30 Es hat keinen Sinn, Tim…“, flüsterte eine heisere Stimme.

352
1 Der alte Mann ohne Namen schüttelte schwach atmend den Kopf.

2 Glücklich, nicht alleine zu sein, paddelte ich auf die Kiste

3 zu, die er zitternd wie einen Schatz umklammerte. Eine Weile

4 trieben wir schweigsam auf den Wellen, horchten dem

5 Zähneklappern des anderen, sodass ich trotz der Müdigkeit

6 wach blieb. Wie lang konnte ein Mensch frieren, bis sein

7 Wärme vollständig aus allen Zellen seines Körpers gewichen

8 wäre? Ein paar Stunden vielleicht, schätze ich, um mir Mut

9 zu machen. Je nachdem, wie dick sein Fell war.

10 „Wo sind die anderen?“ Die Frage erklang als Echo in

11 meinem Gedanken. Wo sind die anderen? Wo sind die anderen…

12 die anderen? Dabei war dieser Einwurf lediglich einer, der

13 den Frieden spaltete. Denn solange niemand antwortete,

14 bliebe mir die Hoffnung. Der alte Mann wich meinem Blick

15 aus, starrte auf die sich sanft wölbende Wasseroberfläche.

16 Aus seinem leicht geöffneten Mund qualmte sein im Mondlicht

17 sichtbarer Atem Vorsichtig hauchte er unterschiedlich große

18 Kreise in die alte Nachtluft, sodass ich annahm, er habe


19 mich nicht verstanden. Doch dann plötzlich schoss ein Kopf

20 ruckartig zu mir herum. Sekunden beäugte er mich durch seine

21 glasigen, fast grauen Augen, die Brauen ein Stück

22 hochgezogen.

23 „Sie sind tot. Alle samt.“

24 Entgeistert schüttelte in den Kopf. Nein! Und möglich.

25 Alle samt tot. Ausgeschlossen. Sicher haben sie es geschafft

26 und der Afrikaner hatte sie lediglich nicht bemerkt.

27 Bestimmt waren wir getrennt worden und trieben verstreut

28 herum. Denn das Meer war groß. So groß.


29 „Richard wollte das Steuer nicht loslassen.“, fuhr der

30 Alte tonlos fort. „Selbst, als das Schiff sank und er nicht

353
1 mehr hätte tun können. Seine Kinder Dominique und Kassian

2 blieben bei ihm. Amani ebenfalls. Dieses Mädchen… Die

3 Tochter des Sirs…“ Er unterbrach sich.

4 Nicht auch noch Tess. Bitte… „Was ist mit ihr?“ Bitte, sie

5 ist nicht tot. Gott, lass sie nicht in der Kajüte gewesen

6 sein, als das Schiff von den Fluten verschluckt wurde.

7 „Ich weiß es nicht.“, erwiderte der Togolese zu meiner

8 Erleichterung, „Da war ein Hund, der durch das zerbrochene

9 Fenster stürzte. Kalli, hat sie geschrien. Völlig panisch.

10 Ich hatte ihre Schultern umklammert, um sie zu beruhigen,

11 aber ich konnte sie nicht aufhalten, als sie ebenfalls

12 losließ, um ihrem Tier zu helfen. Wie im Affekt löste auch

13 ich das Seil, mit dem ich mich gesichert hatte. Im Fall

14 bemerkte ich eine weitere Gestalt. Einen Jungen. Doch, was

15 nach dem Aufprall mit ihm geschah, kann ich dir nicht sagen.

16 Nur, dass kurz danach der Todeskampf unseres Schiffes

17 beendet war und dass es die anderen mit sich in die Tiefe

18 zog. Sie hatten keine Chance mehr. Faraji nicht. Suleika


19 nicht. Amani nicht. Dominique nicht. Kassian nicht. Richard

20 nicht. Renis Mutter mochte es wohl noch geschafft haben,

21 aber sie konnte nicht schwimmen. Und ich nehme an, die

22 beiden anderen Kinder und Jabali ebenfalls nicht. Es tut mir

23 Leid.“ Den Kopf gesenkt faltete er die Hände zum Gebet und

24 murmelte unverständlich etwas auf Ewe. Ich selbst tat es ihm

25 gleich. Gott, was hast du mit ihnen gemacht? Sie alle haben

26 dir gedient. Alle samt ehrliche, wenn auch arme Togolesen…

27 meine Freunde. Dir haben sie gedient, obgleich sie litten.

28 Unter Hunger, unter Krankheit, unter dem Tod ihrer Familie.


29 Warum hast du sie zu dir in den Himmel geholt, jetzt, wo ihr

30 Traum greifbar wurde? Wieso hast du sie nicht zu einem

354
1 früheren Zeitpunkt von ihrem Leid befreit? Ich kann dich

2 nicht verstehen. Damals, Gott, habe ich dir geschworen, für

3 Gerechtigkeit zu kämpfen. Leichtsinnig habe ich angenommen,

4 du würdest mich dabei trotz unserer Feindschaft

5 unterstützen, weil es auch in deinem Interesse sein musste,

6 Menschen zu helfen. Doch scheinbar irre ich wie in sehr

7 vielen Dingen. Vermutlich lerne ich nie dazu. Gott,

8 allmächtiger Vernichter, meine Familie, Oma, Mama und Papa

9 sind Gläubige. Jeden Sonntag waren wir in der Kirche, vor

10 jedem Mahl haben wir gebetet und vor dem zu Bett gehen

11 ebenfalls. Abends wenn ich müde bin, zehn Englein mit mir

12 schlafen gehen… Wo ist deine Mannschaft? Wo sind die

13 Verteidiger, die die bösen Träume vertreiben? Wo die

14 Stürmer? Wo bist du Gott? Wo bist du? Schaust du bei einem

15 Glas Blutorangensaft von deinem hohen Trainerstuhl auf das

16 Feld herab, ohne einzugreifen? Wie soll ich dir vertrauen,

17 wenn du das Spiel aus dem Gleichgewicht bringst? Nun gut,

18 ich persönlich vertraue dir nicht mehr. In deinem Namen,


19 bitte beschütze Amani, der immer ein guter Anführer und

20 sicherlich auch ein wunderbarer Vater und Mann für Dominique

21 gewesen wäre. Beschütze Kassian, meinen Freund, der oft das

22 aussprach, was wir übrigen nicht taten. Faraji und Suleika,

23 die mit ihrer Eleganz Probleme für Sekunden einfach fort

24 wichen konnten. Bewahre auch ihren Frieden. Und den von

25 Renis Mutter, die das aufgeweckte, kleine Mädchen zur Welt

26 gebracht hat, das uns selbst in schwierigen Zeiten durch

27 sein Unwissen ein Lächeln auf die Lippen zauberte. Den von

28 Richard ebenfalls, der nie die Vorstellung von Freiheit


29 losgelassen hat, und den von…

355
1 „Jabali!“ Der erstaunte Aufschrei riss mich jäh aus meinen

2 Gedanken. Verwirrt ließ ich meinen Blick durch die Schwärze

3 der Nacht gleiten, als sich tatsächlich grobe, unförmige

4 Bewegungen vor uns abzeichneten. Zunächst hatte ich den

5 Körper aufgrund seiner Hautfarbe für den Schatten eines

6 Monsters gehalten, aber beim Nähern wirkte er durchaus

7 menschlich. Jabali, der großwüchsige Wächter des Hauses

8 Scott, hob grüßend die zitternde Hand.

9 „Mawu sei Dank, dass wir euch finden.“

10 Wir? Dies musste bedeuten, dass noch jemand anders den

11 Untergang des Schiffes überlebt hatte. Für einen Augenblick

12 vergaß ich unsere missgünstige Lage. Strahlend vor Glück

13 trommelte ich mit den tauben Fingern auf das Holz.

14 „Wir? Wer ist wir?“, fragte ich von Spannung erfüllt. Noch

15 bevor Jabali antworten konnte, tauchten hinter ihm zwei, mir

16 wohlbekannte Gestalten auf. „Mathieu! Tess!“ Freudig machte

17 ich den beiden auf dem Brett Platz, damit sich diese

18 festhalten konnten. Ich wusste es. Ich wusste, sie waren


19 nicht tot. Ein forscher Seitenblick jedoch verdeutlichte mir

20 zu meinem Entsetzen, dass es nicht mehr lange dauern würde,

21 fände uns nicht bald jemand. Obwohl uns das sterbende Schiff

22 nicht mit in die Tiefe gezogen haben mochte, nagte dennoch

23 die Kälte an uns wie eine Ratte an einem Stück Brot. Es war

24 eine Frage der Zeit und des Willens, wie lange jeder

25 Einzelne ihr fortlaufen konnte. Da die anderen drei bereits

26 ein größeres Stück hatten schwimmen müssen, zerrte der Tod

27 deutlicher an ihren Kräften, als es bei dem alten Mann und

28 mir der Fall war.


29 „Timothy…“ Zaghaft berührten Mathieus Finger meine Wangen,

30 doch ich spürte sie kaum. „Vielleicht vergesse ich es, wenn

356
1 wir in Spanien sind. Und damit du mich nicht in meiner

2 Hängematte störst… Ich war dabei, als dein Papa starb.“

3 Entsetzt fuhren die Blicke zu meinem besten Freund herum,

4 der eine Grimasse schnitt. Dabei zuckte sein zerfallenes

5 Gesicht immer wieder, seine Mundwinkel hoben sich

6 unregelmäßig.

7 Schon damals, als wir im Sand gesessen und die Orange

8 geschält hatten, beschlich mich das Gefühl, dass der

9 afrikanische Waisenjunge mehr wusste, als er preisgeben

10 wollte. Viel mehr. Woher kannte er den Namen Scotts, ahnte,

11 dass dieser ein Häscher war, ein böser Mensch? Das wirst du

12 noch früh genug herausfinden. Nun war es beinahe zu spät.

13 „Hat mein Dad etwas damit zu tun gehabt?“, raunte Tess am

14 anderen Ende des Brettes. Die Hand des britischen Mädchens

15 umklammerte den Hals eines erfrorenen Hundes. Ob es merkte,

16 dass Kalli ebenfalls längst von den Todesengeln geholt

17 worden war? Selbst falls dem so wäre, würde es niemand zu

18 lassen, dass sein geliebtes Tier im Meer versank.


19 „Nein.“, erwiderte ich an Mathieus Stelle kopfschüttelnd.

20 Tess sollte es nicht wissen. Nicht jetzt, vielleicht

21 einander Mal. Kays Stimme tauchte in meinen Gedanken auf.

22 Vielleicht einander Mal. Ja, wenn sie dies sagte, klang es

23 voller Hoffnung. Mein leerer Magen flatterte. Der Geschmack

24 von Erdbeeren lag mir auf der Zunge, die bislang nur noch

25 den des Salzes wahrnahm. Kay…

26 „Ich wollte Keenan an seinem Geburtstag unbedingt eine

27 Freude machen. Weil ich am Morgen keinen Fisch gefangen

28 hatte, beschloss ich kurzer Hand flussabwärts mein Glück zu


29 suchen. Dabei musste ich mich verlaufen haben. Schon gut,

30 ich gebe es zu. Mit dir, Besserwisser, wäre das natürlich

357
1 nicht passiert. Jedenfalls bin ich in meinem Eifer einfach

2 weiter gerannt. Bis zu einer Lichtung, auf der dieses Haus

3 mit einer Plantage stand, das aussah wie eine…“

4 „…Burg?“

5 „Burg? Was ist denn eine Burg? Egal. Ein tolles Haus. Dort

6 wollte ich einen Fisch für Keenan stehlen, damit endlich

7 einmal jemand meine Fangkünste bewundert. Die riesige Mauer

8 wäre kein Hindernis gewesen. Schließlich bin ich ein guter

9 Kletterer. Aber die Menschen. Wie sollte ich an denen

10 vorbei? Als ich mich dazu durchgerungen hatte, es zu

11 versuchen, entdeckte ich… Zarin. Wirklich, er war‟s. Einer

12 der Männer war Zarin. Erinnerst du dich?“ Nach meinem

13 bestätigenden Nicken fuhr er fort: „Ich habe ihn fragen

14 wollen, ob er mir hilft, einen Fisch zu holen, doch dann ist

15 er verschwunden. Zunächst habe ich mich gewundert, als

16 plötzlich der Motor des Planwagens startete, in dem ich mich

17 versteckt hatte. So musste ich wahllos mitreisen. In einer

18 Kurve angekommen, stieg Zarin aus, verbarg sich in einem


19 Gebüsch. Aus Angst vor anderen Männer bin ich auf der

20 Ladefläche geblieben und habe das nun Folgende beobachtet:

21 Ein Cabrio kam, bremste leicht in der Kurve ab. Sein Fahrer

22 war dein Papa, Tim. Zarin bewegte sich langsam. Geschockt

23 realisierte ich die beiden Messer in seiner Hand. Er zielte,

24 zögerte, warf sie dennoch. Alle beide. Und beide trafen.

25 Dann gab es einen fürchterlichen Aufprall. Ich dachte nur,

26 vergiss den Fisch, lauf. Das tat ich auch. So schnell ich

27 konnte.“

28 Atemlos rang Mathieu nach Luft. Das Sprechen fiel ihm


29 sichtlich schwer, sodass lediglich die dumpfen Schatten

30 seiner letzten Worte in meinem Gehör erklangen.

358
1 Zitternd wollte ich ihm auf die Schultern klopfen, als

2 sein Kopf plötzlich widerstandslos nach vorne sackte und

3 beinahe auf dem harten Holz aufgeschlagen wäre, hätte der

4 alte Mann diesen nicht vorher aufgefangen.

5 „Mathieu! Hey, Mathieu!“

6 „Was… was ist mit ihm?“, erkundigte sich die entgeisterte

7 Tess leise.

8 Niemand antwortete ihr. Der Alte flüsterte Jabali etwas

9 ins Ohr, woraufhin dieser mit traurigen Gesicht die

10 festgefrorenen Hände des Jungen vom Brett löste. Sofort

11 versank mein bester Freund in den Tiefen des Meeres.

12 Mathieu! Nein, wir müssen ihm helfen. Großes-Spanien-

13 Ehrenwort. Er muss es schaffen. Es ist sein Traum. Ohne zu

14 zögern, tauchte ich unter, fingerte blind nach seiner Hand,

15 um ihn zurückzuholen. Salz brannte in meinen Augen. Schwarz,

16 überall schwarz. Mathieu, Mathieu! In Spanien ist alles

17 bunt. Sonnenschirme, Strand, Meer. Komm zurück. Ich bin dir

18 nicht böse. Niemals! Du bist doch mein Freund. Lass uns für
19 immer Freunde sein, ja? Doch, als ich versuchte, weiter in

20 das Herz des Ozeans vorzubringen, zerrte mich etwas am

21 klammen Stoff meines T-Shirts zurück an die

22 Wasseroberfläche. Nein, Mathieu! Dort unten ist nicht

23 Spanien.

24 Schwach strampelnd klammerte ich mich an das Brett. Tränen

25 rannen mir über die Wangen. Wie durch eine zerschlagene

26 Fensterscheibe betrachte ich die drei übrigen Menschen. Ihre

27 weißen Gesichter verschwammen vor meinen Augen, wurden in

28 tausend Stücke eines Mosaiks zerschlagen. In der Dunkelheit


29 erkannte ich, dass auch Jabali seine Schwimmhilfe losließ.

359
1 „Mir ist so kalt… So… so kalt.“, hörte ich Tess in weiter

2 Ferne säuseln.

3 Väterlich küsste der alte Mann der Tochter des Monsters

4 die Stirn. „Mawu möge dich beschützen.“ Mit einem

5 absichtlich gewählten, beruhigenden Unterton drückten seine

6 Hände dabei die ihre. „Euch… euch beide.“ Die Klauen der

7 Kälte, die dort untern lauerte, zupfte immer kräftiger an

8 seinem Gewand. Die von ihm in die Luft geblasenen Ringe

9 wurden unregelmäßiger, bis sie vollständig verschwanden.

10 Es ging alles derart schnell, dass ich es kaum begreifen

11 konnte. Wir sind zu erschöpft, um zu trauern. Zu erschöpft,

12 um wahrzunehmen, wie jeder unserer Freunde von uns geht… bis

13 wir schließlich selber gehen, jeder für sich an einen

14 unbestimmten Ort. Ob ich zu Mama und Papa in den Himmel

15 komme, obwohl ich ungezogen bin? Und werde ich dort oben

16 Mathieu und Reni und Zarin und die anderen wieder sehen?

17 Verdammt, ich mag kein Weiß, ich hasse es sogar. Ich möchte

18 nicht gehen müssen, möchte hier unter auf der Erde bleiben.
19 Hier unten bei Kay.

20 „Bestimmt kommt bald ein Schiff vorbei.“, flüsterte ich in

21 die Stille hinein, als wir inmitten des riesigen,

22 atlantischen Ozeans trieben, tausende Meilen von unserem

23 Ziel, der Küste Spaniens, entfernt.

24 Es soll der einzige Satz bleiben, der in den nächsten

25 Minuten und Stunden meine blauen Lippen verlässt. Bestimmt

26 kommt bald ein Schiff vorbei. Doch es kommt kein Schiff,

27 weder heute, noch morgen, noch irgendwann. Nie mehr, Kay…

360
1 Epilog
2 Am 9. August 2004 wurde unmittelbar vor der britischen

3 Atlantikinsel Sankt Helena Wrackteile eines aus Togo

4 stammenden Schiffes entdeckt. Die bisher gefundenen

5 Flüchtlinge an Bord konnten jedoch nur tot aus den Fluten

6 geboren werden. Unter den Opfern seien, laut Aussage eines

7 Polizisten, auch zwei europäische Kinder, deren Alter auf

8 zehn bis zwölf Jahre geschätzt wird. Die Ursache für die

9 Tragödie ist bislang unklar.

10 Dennoch kann vermutet werden, dass sich das Schiff in

11 einem bereits nicht mehr seetauglichen Zustand befunden

12 haben musste, als es das afrikanische Festland verließ, und

13 daraufhin in dem gestern wütenden Sturm gekentert war.

14 Obwohl man dem britischen Millionär und Forscher Sir

15 Doktor Maurice Anthony Scott aufgrund der Telefonnummer, die

16 man bei der Obduktion des toten Junges in dessen Handfläche

17 fand, mit dem Sinken der Flüchtlingsschiffes “Kamikaze” in

18 Verbindung brachte, konnte diesem nie etwas nachgewiesen


19 werden.

20 Vierzig Jahre nach der Tragödie erlag Scott einer

21 Überdosis eines von seinem eigenen Unternehmen hergestellten

22 Medikamentes, welches vor dem HIV-Virus schützen sollte.

23 Daraufhin beendete der portugiesische Neurologe Vasco

24 Igmanias als letzter Anhänger des Mannes kurze Zeit später

25 aus Angst vor Enthüllung die Ausbeutung der togolesischen

26 Bevölkerung.

27 Kay Linn Brown erfuhr nie von dem Tod ihres besten
28 Freundes, obgleich sie nach ihrem Studium als

29 Heilpraktikantin zwei Jahre lange vergebens in Spanien

361
1 Nachforschungen anstellte, bei denen sie ihren späteren

2 Ehemann Riccardo O‟ Neil kennen lernte, mit dem sie ein lang

3 ersehntes Leben genoss.

4 Der Kuscheltierlöwe erhielt einen Ehrenplatz neben ihrem

5 Kopfkissen und wenn immer ihre beiden Töchter oder ihre

6 Enkel sie danach fragten, erzählte sie mit einem Strahlen in

7 ihren geheimnisvoll funkelenden Augen von dem kleinen

8 Jungen, der mit seiner Angst, die aller Übrigen vertrieb.

9 “Stell dir vor, es kann nur einen geben. Aber es wird

10 einen geben. Und dieser eine, der warst du, Tim.”

362

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