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Im Spiegel der Venus

FRAUEN SCHREIBEN

EROTISCHE GESCHICHTEN

Herausgegeben von

INGRID GRIMM

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

HEYNE ALLGEMEINE REIHE


Nr. 01/6801
6. Auflage
Copyright © 1987 by
Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München
Einzelrechte siehe Quellenverzeichnis
Printed in Germany 1991
Umschlagfoto: laenderpress/F. P. G. Düsseldorf
Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München
Satz: IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin
Druck und Bindung: Presse-Druck Augsburg
ISBN 3-453-02412-5
Erotische Literatur ist keine männliche Domäne: Schriftstelleri n­
nen schreiben über ihre Sexualität. Ihre Sehnsüchte, Ihre Phant a­
sien. Ihre Aggressivität. Ihre Zärtlichkeit. Ihre Sinnlichkeit. Ihre
Eroberungen.

Erotische Geschichten erzählt von

Angela Carter • Doris Lessing • Barbara

Sheen • Mary Flanagan • Elula Perrin

Brigitte Blobel • Jayne Anne Phillips

Anaïs Nin • Emmanuelle Arsan

Anne Marie Villefranche

Sandra Paretti • Maude Hutchins

Edna O’Brien • Erica Jong

Rahel Hutmacher

ANGELA CARTER

Blaubarts Zimmer

Ich erinnere mich noch an jene Nacht: Ich lag wach im Schla f­
wagen in einer leichten köstlichen Ekstase der Erregung, die
brennenden Wangen an das makellose Linnen des Kopfkissens
gepreßt, während das Pochen meines Herzens die Stöße der
großen Kolben nachahmte, die den Zug unablässig vorwärts
stießen – den Zug, der mich durch die Nacht trug, fort von Paris,
fort aus meiner Mädchenzeit, fort aus der weißen, eingefriedeten
Stille der Wohnung meiner Mutter, hinein in die unüberschaub a­
ren Gefilde der Ehe.
Und ich erinnere mich daran, daß ich mir zärtlich ausmalte, wie
meine Mutter in eben diesem Augenblick langsam in dem engen
Schlafzimmer herumging, das ich für immer verlassen hatte, und
alle meine kleinen Habseligkeiten zusammenfaltete u nd fortlegte,
die hingeworfenen Kleider, die ich nicht mehr brauchen würde,
die Partituren, für die kein Platz mehr in meinen Koffern gew e­
sen war, die Konzertprogramme, die ich zurückgelassen hatte; ich
malte mir aus, wie sie über diesem zerrissenen Seiden band und
jener verblaßten Fotografie verharrte mit all den halb freudigen,
halb besorgten Gefühlen einer Frau am Hochzeitstag ihrer Toc h­
ter. Inmitten meines bräutlichen Triumphes empfand ich den
Schmerz eines Verlustes, so als hätte ich, als er mir den gol denen
Reif auf den Finger steckte, aufgehört, ihr Kind zu sein, indem
ich seine Frau wurde.
Bist du sicher, hatte sie gesagt, als die riesenhafte Schachtel
abgeliefert wurde, in der das Hochzeitskleid
lag, das er mir gekauft hatte, eingepackt in Geschenkpa pier mit
roten Schleifen wie kandierte Früchte zu Weihnachten. Bist du
sicher, daß du ihn liebst? Es war auch ein Kleid für sie dabei,
schwarze Seide, die matt schimmerte wie Öl auf Wasser, kostb a­
rer als alles, was sie seit ihrer abenteuerreichen Kindheit in Indo­
china als Tochter eines reichen Teeplantagenbesitzers getragen
hatte. Meine adlergesichtige , unzähmbare Mutter; welche andere
Schülerin am Konservatorium konnte sich einer Mutter rühmen,
die einer Dschunke voller chinesischer Piraten die Stirn gebot en,
ein Dorf von der Pest geheilt und eigenhändig einen reißenden
Tiger erlegt hatte, und das alles, ehe sie so alt war wie ich jetzt?
»Bist du sicher, daß du ihn liebst?«
»Ich bin sicher, daß ich ihn heiraten will«, erwiderte ich.
Mehr wollte ich nicht sa gen. Sie seufzte, als ob es ihr wide r­
strebte, daß sie nun endlich das Gespenst der Armut von seinem
vertrauten Platz an unserer mageren Tafel verscheuchen konnte.
Denn meine Mutter selbst hatte sich mit Freuden, Skandalen und
Trotz um der Liebe willen an den Bettelstab gebracht; und eines
schönen Tages blieb ihr galanter Soldat für immer im Krieg und
hinterließ Weib und Kind ein Vermögen aus Tränen, die niemals
völlig trockneten, samt einer Zigarrenschachtel voller Orden und
einem alten Dienstrevolver, den meine Mutter – wegen all der
Mühsal herrlich exzentrisch geworden – stets in ihrem Beutel bei
sich trug, falls sie – wie ich immer neckend sagte – auf dem
Heimweg vom Krämer von einem heimlichen Verfolger übe r­
rascht werden sollte.
Von Zeit zu Zeit huschten Lichter wie Sternschnuppen durch
die heruntergelassenen Jalousien, als hätte die Eisenbahngesel l­
schaft alle Bahnhöfe, durch die wir fuhren, zur Feier der Braut
festlich erleuchtet. Mein seidenes Nachthemd war gerade erst aus
der Verpackung genommen worden und über meine spitzen
Jungmädchenbrüste und meine Schultern geglitten, geschmeidig
wie ein Gewand aus schwerem Wasser; es neckte und streichelte
mich jetzt, und haarsträubend einschmeichelnd schob es sich
zwischen meine Schenkel, als ich mich auf der sch malen Liege
ruhelos hin- und herwälzte. Sein Kuß, sein Kuß mit Zunge und
Zähnen und das Kratzen des Barts gaben mir – wenn auch nur
ebenso zartfühlend wie dieses Nachtgewand von ihm – eine
Vorahnung auf unsere Hochzeitsnacht, voll Wollust auf den
Moment au fgeschoben, in dem wir im großen Bett seiner Vo r­
fahren liegen würden, in dem meerumschlungenen und zinne n­
stolzen Herrenhaus, das noch jenseits meiner Vorstellung lag…
Zauberort, Feenschloß mit Mauern nur aus Meeresgischt, die
sagenumsponnene Stätte, an der er geboren war und der ich,
eines Tages, vielleicht den Erben bringen würde. Unsere Be­
stimmung, mein Schicksal.
Über dem unregelmäßigen Rattern des Zuges konnte ich seinen
gleichmäßigen stetigen Atem hören. Nur die Verbindungstür
trennte mich von meinem Gemahl, und sie stand offen. Wenn
ich mich auf den Ellbogen stützte, erkannte ich seinen dunklen
Löwenkopf und fing einen Hauch jenes üppigen männlichen
Dufts aus Leder und Gewürz auf, der ihn immer umgab und der
allein manchmal, in der Zeit der Werbung, an gedeutet hatte, daß
er in meiner Mutter Salon getreten war, denn obgleich er ein
großer Mann war, bewegte er sich so sanft wie auf Samtsohlen,
als verwandelte sein Schritt die Teppiche in Schnee.
Er hatte mich gern überrascht in meiner selbstversunkenen
Einsamkeit am Flügel. Er bat, daß man ihn nicht ankündigen
möchte, öffnete dann lautlos die Tür und glitt leise hinter mich,
mit einem Strauß Treibhausblumen oder einer Schachtel marrons
glacés, legte seine Gabe auf die Tasten und deckte seine Hände
über meine Augen, während ich noch in ein Prélude von Debu s­
sy versunken war. Doch der Duft von würzigem Leder hat ihn
stets verraten; nach meinem ersten Schreck war ich immer wieder
gezwungen, Überraschung zu heucheln, um ihn nicht zu enttä u­
schen.
Er war älter als ich. Er war sehr viel älter als ich; seine dunkle
Mähne durchzogen Silberfäden. Aber sein seltsames, schweres
und fast wächsernes Gesicht war nicht zerfurcht von der Erfa h­
rung. Ganz im Gegenteil, Erfahrung schien es vollkommen
glattgewaschen zu haben, wie einen Stein am Ufer, dessen Fu r­
chen die immer wiederkehrenden Gezeiten abgeschliffen haben.
Und manchmal, wenn er mir still beim Spielen zuhörte, die
schweren Lider über die Augen gesenkt, die so völlig glanzlos
waren, daß es mich jedesmal verstörte, dann kam mir sein Antlitz
wie eine Maske vor, als ob sein wahres Gesicht, das Gesicht,
welches das ganze Leben spiegelt, das er geführt hatte, bevor wir
uns kennenlernten, ja: bevor ich überhaupt geboren war, als ob
dieses Gesicht hinter der Maske läge. Oder irgendwo sonst. Als
ob er das Gesicht, mit dem er so lange gelebt hatte, beiseite
gelegt hätte, um meiner Jugend ein Gesicht zu bieten, das noch
nicht von den Jahren gezeichnet war.
Vielleicht konnte ich ihn irgendwo unverstellt sehen. Irgendwo.
Aber wo?
Vielleicht in jenem Schloß, zu dem uns der Zug jetzt trug, das
wunderbare Schloß, in dem er einst geboren war.
Selbst als er mich gefragt hatte, ob ich ihn heiraten wollte, und
ich mit »Ja!« geantwortet hatte, zeigte er die schwerfällige Ge­
faßtheit. Ich weiß, einen Mann mit einer Blume zu vergleichen ist
merkwürdig, aber manchmal kam er mir wie eine Lilie vor. Ja,
eine Lilie. Ganz erfüllt von der fremdartigen, unheilvollen Ruhe
einer empfindsamen Pflanze, wie die Friedhofslilien mit ihren
Kobraköpfen, deren weiße Blätter sich aus einem Fleisch gerollt
haben, das der Berührung so fest und selbstbewußt begegnet wie
Pergament. Als ich ihm sagte, daß ich ihn heiraten wollte, rührte
sich kein einziger Muskel dieses Gesichts. Er stieß nur einen
langen und erschöpfte n Seufzer aus. Ich dachte: ›Oh! Wie sehr
muß er mich wollen!‹ Und es war, als hätte das unwägbare Ge­
wicht seines Begehrens eine Macht, der ich nicht widerstehen
konnte, nicht weil sie gewalttätig gewesen wäre, sondern weil sie
so anziehend war.
Er hatte de n Ring in einem mit rotem Samt gefütterten Lede r­
etui bei sich, einen Feueropal, so groß wie ein Taubenei, in einem
kunstvollen Krei s aus altem dunklem Gold. Meine alte Kinde r­
frau, die immer noch bei meiner Mutter und mir lebte, fuhr
entsetzt vor diesem Rin g zurück: ›Opale bringen Unglück‹, sagte
sie. Dieser Opalring aber hatte seiner Mutter gehört, davor seiner
Großmutter und deren Mutter, einer seiner Ahnen hatte ihn einst
von Katharina von Medici geschenkt bekomme n… Seit unden k­
lichen Zeiten trug ihn jede Braut, die in das Schloß zog. »Hat er
ihn dann auch seinen anderen Frauen geschenkt und ihn sich
später zurückgeben lassen?« fragte die alte Frau barsch. Doch sie
war eingebildet und verbarg nur ihre unbeschreibliche Freude
über meine gute Partie – ihre kle ine Marquise – hinter einer
Fassade aus ständiger Nörgelei. Mit dieser Bemerkung freilich
hatte sie mich getroffen. Ich zuckte die Schultern und wandte ihr
trotzig den Rücken. Ich wollte nicht daran denken, wie er vor mir
andere Frauen geliebt hatte, aber der Gedanke daran quälte mich
oft in den nächtlichen Stunden, in denen das Selbstbewußtsein so
fadenscheinig ist.
Ich war siebzehn Jahre alt und wußte nichts von der We lt; mein
Marquis war verheiratet gewesen, mehr als einmal, und ich war
immer noch etwas verwundert, daß er nach all den anderen jetzt
mich ausgewählt hatte. Trauerte er denn gar nicht mehr um seine
letzte Frau? Tz, tz, machte meine alte Kinderfrau. Und selbst
meine Mutter hatte gezögert, ihre Tochter durch einen Mann von
ihrer Seite reißen zu lassen, der erst jüngst verwitwet war. Eine
rumänische Gräfin, eine Dame der großen We lt. Als ich ihn
kennenlernte, war sie erst drei Monate tot, ein Bootsunfall, in
seiner Heimat in der Bretagne. Man hat ihre Leiche nie gefunden,
aber ich durchstöberte alle alten Gesellschaftsmagazine, die
meine Kinderfrau in einem Koffer unter ihrem Bett aufbewahrte,
bis ich ihre Fotografie entdeckt hatte. Scharfe Züge eines hü b­
schen, witzigen und verzogenen Äf fchens, ausdrucksvoller und
bizarrer Charme wie von einem dun klen, strahlend schönen,
wilden, aber weltgewandten Wesen, dessen natürliche Umgebung
der Dschungel eines luxuriösen Inneneinrichters gewesen sein
muß, mit Zimmerpalmen und zahmen kreischenden Papageien.
Und die Frau vor ihr? Ihr Gesicht war öffentliches Eigentum,
alle haben sie gemalt, aber der Kupferstich von Redon gefiel mir
am besten – ›Abendstern am Saum der Nacht‹. Wer ihre knoch i­
ge, rätselhafte Anmut sah, hätte nie vermutet, daß sie Barfrau in
einem Café am Montmartre gewesen war, bis Puvis de Chava n­
nes sie entdeckt und dazu gebracht hatte, ihre flachen Brüste und
ihre schmalen Hüften für seinen Pinsel zu enthüllen . Und doch
hatte der Absinth sie hingerafft, so hatte man wenigstens gemu n­
kelt.
Und die erste von allen seinen Damen? Die Luxusdiva – ich
hatte sie als Kind die Isolde singen hören, früh musikalisch wie
ich war, als ich an meinem Geburtstag in die Oper gehen durfte.
Meine erste Oper – ich hatte sie die Isolde singen hören. Mit
welch lodernder Leidenschaft hatte sie von der Bühne gestrahlt!
Es war schon zu ahnen, daß sie jung sterben würde. Wir saßen
ganz oben im Rang, halbwegs im Himmel der Götter, trotzdem
war ich fast geblendet von ihr. Und mein Vater, der damals noch
lebte (ach, wie ist das lange her), griff nach meiner klebrigen
kleinen Ha nd, um mich beim letzten Akt zu trösten, aber alles,
was ich hörte, war die Glorie ihrer Stimme.
Dreimal war er verheiratet gewesen, während meiner eigenen
kurzen Lebenszeit, mit drei verschiedenen Grazien, und nun
hatte er, wie um seinen wählerischen Gesc hmack zu demonstri e­
ren, mich gebeten, in diese Galerie schöner Frauen einzutreten,
mich, einer armen Witwe Kind mit mausfarbenen Haaren, die
immer noch die Knicke von den Zöpfen zeigten, von denen ich
erst vor kurzem erlöst worden war, mit knochigen Hüften und
nervösen Pianistenfingern.
Er war reich wie Krösus. Am Abend vor unserer Trauung –
eine schlichte Angelegenheit, nur auf dem Standesamt, denn
seine Gräfin war erst jüngst verblichen – hatte er meine Mutter
und mich – seltsamer Zufall – zu ›Tristan und Isolde‹ eingeladen.
Und wahrhaftig, mein Herz schwoll und schmerzte so beim
›Liebestod‹, daß ich dachte, ich müßte ihn wirklich lieben. Ja. Das
tat ich. Ich war an seiner Seite, und alle Augen lagen auf mir. Die
flüsternde Menge im Foyer teilte sich wie d as Rote Meer, um uns
hindurchzulassen. Meine Haut knisterte, wenn er mich berührte.
Wie sehr sich meine Lebensumstände verändert hatten, seit ich
zum erstenmal diese wollüstigen Wohlklänge hörte, die so viel
tödliche Leidenschaft in sich tragen! Jetzt saße n wir in einer Loge
in rotsamtenen Armsesseln, und in der Pause brachte uns ein
Lakai mit Tressen und Perücke einen silbernen Kübel mit eisg e­
kühltem Champagner. Der Schaum perlte über den Rand meines
Glases und benetzte meine Hände, und ich dachte: mein Ke lch
läuft über. Ich trug ein Kleid von Poiret. Er hatte meine wide r­
strebende Mutter bedrängt, daß er mir die Ausstattung kaufen
durfte. Wie sonst hätte ich zu ihm kommen sollen? In doppelt
gestopfter Unterwäsche, fadenscheinigen Schürzen, Sergeröcken,
abgetragenen Sachen von der Stange. So trug ich an diesem
Opernabend ein geschlungenes, gleitendes Etwas aus weißem
Musselin, unter der Brust mit einer seidenen Kordel gebunden.
Und alle starrten auf mich. Und auf sein Hochzeitsgeschenk.
Sein Hochzeitsgeschenk, es schlang sich um meinen Hals. Eine
enge Kette aus Rubinen, zwei Daumen breit, wie eine außerg e­
wöhnlich kostbare, aufgeschlitzte Kehle.
Nach der Schreckensherrschaft in den ersten Tagen des Dire k­
toriums kam unter den Aristokraten, die der Guillotine ent ron­
nen waren, die spöttische Mode auf, sich ein totes Band um den
Hals zu schlingen, gerade an der Stelle, wo das Beil ihn durc h­
trennt hätte, ein rotes Band als Erinnerung an die Wunde. Und
seine Großmutter, die davon begeistert war, hatte sich das Band
mit Rubinen besetzen lassen. Eine Geste luxuriöser Verachtung!
Diese Nacht in der Oper fällt mir gerade jetzt wieder ei n… Das
weiße Kleid; das zerbrechliche Kind darin und die blitzenden
feuerroten Juwelen um den Hals, hell wie das Blut in Arterien.
Ich sah, wie er mich in den goldgefaßten Spiegeln musterte mit
dem abschätzenden Auge des Kenners, der ein Pferd begutac h­
tet, oder einer Hausfrau, die auf dem Markt die Schlachtstücke
auf dem Hackklotz betrachtet. Ich hatte diesen Ausdruck noch
nie an ihm gesehen, ich wußte gar nicht, daß es das gibt, diese
unverhüllte fleischliche Gier; sie wurde merkwürdig riesenhaft
durch das Monokel, das in seinem linken Auge klemmte. Als ich
bemerkte, wie er mich so lüstern ansah, senkte ich die Augen,
aber indem ich von ihm fortblickte, erhaschte ich mein eigenes
Bild im Spiegel. Und plötzlich sah ich mich wie er, mein blasses
Gesicht, die Art, wie meine Muskeln wie dünner Draht aus dem
Hals ragten. Ich sah, wie gut mir dieses grausame Halsband
stand. Und ich spürte zum ersten mal in meinem unschuldigen
und behüteten Leben in mir selbst Potenzen der Verworfenheit,
die mir den Atem nahmen.
Am nächsten Tag wurden wir vermählt.

Der Zug wurde langsamer und hielt ruckelnd an. Lichter, metall i­
sches Klirren, eine Stimme, die den Name n eines unbekannten
Ortes ausruft, den keiner je besuchen will, das Schweigen der
Nacht, der Rhythmus seines Atems, mit dem ich von nun an
mein Leben lang schlafen sollte. Und ich konnte nicht schlafen.
Ich richtete mich heimlich auf, zog die Jalousie etwa s hoch und
lehnte mich an das kalte Fenster, das sofort beschlug durch die
Wärme meines Atems; ich schaute hinaus auf den dunklen Bah n­
steig zu diesen Rechtecken au s heimeligem Laternenlicht, das
nach Wärme, Gesellschaft und einem Abendessen mit Bratwü r­
sten aussah, die schon für den Stationsvorsteher in einer Pfanne
auf dem Ofen zischelten, und seine Kinder lagen schon fest
eingestopft und schlafend in ihrem Bett in dem Backsteinhaus
mit den gestrichenen Fensterläde n… All die Kleinigkeiten des
Alltagslebens, aus dem ich durch meine glänzende Heirat ausg e­
wandert war.
In die Ehe, ins Exil; ich spürte es, ich wußte es; daß ich von
nun an immer allein sein würde. Aber das hatte schon zu dem
inzwischen vertrauten Gewicht des Feueropals gehört, der wie
die Zauberkugel einer Zigeunerin glühte, so daß ich meine Augen
nicht von ihm lösen konnte, wenn ich auf dem Flügel spielte.
Dieser Ring, das Blutband der Rubine, der Schrank voller Kleider
von Poiret und Worth, sein Duft nach Russisch Leder – all das
war miteinander im Bunde, um mich so gänzlich zu verführen,
daß ich nicht behaupten könnte, es hätte mir auch nur einen
Moment lang leid getan, daß mir die We lt aus Butterbroten und
Maman entwich wie von einer Schnur gezogen, wie ein Kinde r­
spielzeug, als jetzt der Zug wie der zu schnauben begann, freudig
ahnend, in welche Ferne er mich führte.
Die ersten grauen Streifen der Morgendämmerung huschten
über den Himmel, und ein geisterhaftes Halblicht sickerte in den
Schlafwagen. Ich hörte keine Veränderung in seinem Atem, aber
meine geschärften, erregten Sinne sagten mir, daß er jetzt wach
war und mich ansah. Ein riesiger Mann, ein enormer Mann, und
seine Augen, dunkel und reglos wie die Augen, die die alten
Ägypter auf ihre Sarkophage gemalt haben, waren auf mich
gerichtet. Ich fühlte eine bestimmte Spannung mitten im Magen,
weil ich so beobachtet wurde, in einer solchen Stille. Ein Streic h­
holz flackerte auf. Er zündete sich eine Zigarre an, ›Romeo y
Julieta‹, dick wie ein Kinderarm.
›Bald‹, sagte er mit seiner nachhallenden Sti mme, die wie eine
Glocke tönte, und ich verspürte ganz plötzlich ein e klare Vora h­
nung von Grauen, die nur so lange währte, wie das Streichholz
flackerte und ich sein breites weißes Gesicht so sah, als ob es
körperlos über dem Laken schwebte, von unten ange strahlt wie
eine groteske Karnevalsmaske. Dann verlosch die Flamme, die
Zigarre glomm und füllte das Abteil mit einem wohlbekannten
Duft, der mich an meinen Vater denken ließ, wie er mich als
kleines Mädchen in eine warme Wolke von seiner Havanna
hüllte, bevor er mich küßte und verließ und starb.
Als mein Gemahl mir die Hand reichte und mir die steilen Stu­
fen vom Zug herabhalf, roch ich sofort den Duft von Jod und
Salz des Ozeans. Es war November; die Bäume waren verkü m­
mert unter den atlantischen Stürmen un d kahl, und der einsame
Bahnsteig war menschenleer, nur sein in Leder gekleideter
Chauffeur wartete untertänig neben dem glänzenden schwarzen
Auto. Es war kalt; ich zog meinen Pelz fest um mich, eine Hülle
aus Schwarz und Weiß, Hermelin und Zobel in breite n Streifen,
mit einem Kragen, aus dem mein Kopf hervorkam wie der Kelch
einer wilden Blüte. Ich schwöre es, bevor ich ihn kennenlernte,
war ich nie eitel. Die Glocke schlug, der Zug riß sich wieder los
und ließ uns an diesem einsamen Ort zurück, wo nur er und ich
ausgestiegen waren. Oh, was für ein Wunder: dieses ganze mäc h­
tige Gebilde aus Stahl und Dampf hatte einzig und allein ihm
zuliebe angehalten. Der reichste Mann in Frankreich.
»Madame.«
Der Chauffeur beäugte mich; verglich er mich jetzt insgeheim
mit der Gräfin, dem Malermodell und der Opernsängerin? Ich
versteckte mich in den Pelzen, als ob sie eine Anordnung von
weichen Schilden wären. Mein Gemahl wollte, daß ich meinen
Opal über dem Glacéhandschuh trug, eine angeberische, theatr a­
lische Geste – abe r in dem Augenblick, in dem der spöttische
Chauffeur seinen schimmernden Glanz erblickte, lächelte er, als
wäre das der Beweis dafür, daß ich die Frau seines Herrn war.
Und wir fuhren in den erwachenden Morgen, der jetzt den ha l­
ben Himmel mit einem winterl ichen Bukett überzog, rosa wie
Rosen, orangefarben wie Tigerlilien, als hätte mein Gemahl einen
ganzen Himmel beim Blumenhändler für mich bestellt. Der Tag
brach rings um mich an wie ein kühler Traum.
Meer, Sand, ein Himmel, der ins Meer schmilzt – eine La nd­
schaft aus dunstigen Pastelltönen, die aussehen, als ob sie ständig
schmelzen. Eine Landschaft mit all den ineinanderfließenden
Harmonien von Debussy, wie die Etüden, die ich für ihn spielte,
die Träume, die ich an jenem Nachmittag im Salon der Prinzessin
gespielt habe, wo ich ihn zum ersten Male traf, zwischen Teeta s­
sen und kleinen Kuchen, ich, eine Waise, aus Wohltätigkeit
gemietet, um ihnen ihre Verdauungsmusik zu servieren.
Ach, und sein Schloß! Die märchenhafte Einsamkeit des Ortes;
dazu die dunstig -blauen Türmchen, der Hof, das Tor mit den
Spießen, sein Schloß, das direkt an der Meeresbucht lag, Seevögel
kreischen um die Dächer, die Kellergewölbe gehen auf den
grünen und purpurnen unbeständigen Ozean, der ganze Ort ist
durch die Flut einen halben Tag lang vom Land abgeschnitte n…
Dieses Schloß, weder auf d em Festland zu Hause noch im Meer,
ein geheimnisvoller, amphibischer Ort, der der Stattlichkeit der
Erde und der Wellen gleichermaßen widerstrebte, besaß die
Melancholie einer Meerjungfrau, die auf ih rem Felsen hockt und
endlos auf einen Liebsten wartet, der längst in der Ferne ertru n­
ken ist. Dieser Ort war eine so liebliche, traurige Meeressirene.
Es war Ebbe; zu dieser frühen Morgenstunde ragte die Zufahrt
aus dem Wasser. Als der Wagen auf die feucht en Steine zwischen
dem tiefstehenden Wasser fuhr, griff er nach meiner Hand mit
dem prunkenden Hexenring, preßte meine Finger und küßte
mich außerordentlich zärtlich auf die Handfläche. Sein Gesicht
war so ruhig, wie ich es kannte, so ruhig wie ein dick zu gefrore­
ner Teich, doch seine Lippen, die zwischen den schwarzen Rä n­
dern seines Bartes immer so merkwürdig rot und nackt aussahen,
verzogen sich jetzt leicht. Er lächelte; er hieß seine Braut bei sic h
daheim willkommen.
Kein Raum, kein Flur, in dem die See nicht rauschte, und alle
Decken, alle Wände, an denen in strenger Reihenfolge die Bilder
seiner Ahnen mit ihren dunklen Augen und ihren bleichen Ge­
sichtern hingen, hatten Streifen aus dem gebrochenen Licht der
Wellen, die unaufhörlich in Bewegung waren; di eses lichterfüllte,
murmelnde Schloß, in dem ich die Herrin war, ich, die kleine
Musikstudentin, deren Mutter all ihren Schmuck verkauft hatte,
selbst ihren Ehering, um die Gebühren für das Konservatorium
bezahlen zu können.
Am Anfang stand eine Feuerprobe – meine erste Unterredung
mit der Haushälterin, die diese außerordentliche Maschinerie
lautlos in Gang hielt, diese n vor Anker liegenden schloßförmigen
Ozeanriesen, gleichgültig, wer au f der Kommandobrücke stand;
wie unbedeutend, dachte ich, wäre hier mei ne Autorität! Sie hatte
ein freundliches, blasses, teilnahmsloses und unangenehmes
Gesicht unter der makellos gestärkten weißen Leinenhaube, der
Tracht dieser Gegend. Ihre Begrüßung war korrekt, aber leblos
und machte mich frösteln, tagträumerisch wagte ic h, mir kraft
meiner Stellung etwas herauszunehme n… überlegte flüchtig, wie
ich meine alte Kinderfrau, die so heißgeliebte, aber auf die
gemütlichste Art und Weise untüchtige Person, an ihre Stelle
setzen könnte. Was für falsche Vorstellungen! Er erklärte mir,
daß diese Frau seine Ziehmutter gewesen und seiner Familie in
feudaler Komplizenschaft verbunden war. »Sie gehört so sehr
Komplizenschaft verbunden war. »Sie gehört so sehr zum Haus
wie ich selbst, meine Liebe.« Jetzt boten mir ihre schmalen Li p­
pen ein stolzes kleines Lächeln. Sie würde meine Verbündet e
sein, solange ich seine war. Und damit mußte ich mich zu frie­
dengeben.
Aber hier würde es leicht sein, zufrieden zu sein. In der Tur m­
suite, die er mir zugedacht hatte, konnte ich weit über den aufg e­
brachten Atlantik blicken und mir vorstellen, ich wäre di e Me e­
reskönigin. Im Musikzimmer stand ein Bechstein -Flügel für
mich, und an der Wand hing, auch das ein Hochzeitsgeschenk,
ein mittelalterliches flämisches Tafelbild der heiligen Cäcilia an
ihrer Himmelsorgel. In dem etwas steifen Charme der Heiligen
mit ihren fahlen Pausbacken und den gekräuselten braunen
Haaren sah ich mich so, wie ich vielleicht gern gewesen wäre.
Eine liebevolle Feinfühligkeit, die ich bisher nicht in ihm verm u­
tet hatte, wärmte mich. Dann führte er mich über eine zierliche
Wendeltreppe in mein Schlafgemach; bevor die Haushälterin
diskret verschwand, versah sie ihn kichernd und in ihrer breton i­
schen Muttersprache mit vermutlich drastischen Segenswünschen
für Frischvermählte. Die ich nicht verstand. Die er, schmu n­
zelnd, sich weigerte zu übersetzen.
Und da stand das großartige, vererbte Ehebett, fast so groß wie
meine kleine Stube daheim, mit eingelegten Dämonenfratzen aus
Ebenholz, Emaillack, Blattgold; und dann die weißen Tüllvo r­
hänge, die sich blähten von der Meeresbrise. Unser Bett. Und
von so vielen Spiegeln umgeben! Spiegel an allen Wänden, in
stattlichen Rahmen aus verschnörkeltem Gold, die mehr weiße
Lilien zurückwarfen, als ich je im Leben gesehen hatte. Er hatte
den ganzen Raum mit Lilien füllen lassen, um die Braut zu gr ü­
ßen, seine junge Braut. Die junge Braut, die sich in eine Vielzahl
von Mädchen verwandelt hatte, die ich in den Spiegeln sah, alle
gleich in ihren eleganten marineblauen Kostümen, für die Reise,
Madame, oder zum Spazierengehen. Eine Zofe hatte sich schon
um den Pelz gekümmert. Von nun an würde sich immer eine
Zofe um alles kümmern.
»Sieh nur«, sagte er mit einer Geste auf all die eleganten Mä d­
chen, »ich habe einen ganzen Harem erworben!«
Ich merkte, daß ich zitterte. Das Atmen fiel mir schwer. Ich
konnte ihm nicht in die Augen sehen und wandte den Kopf ab,
aus Stolz, aus Schüchternheit, und beobachtete ein Dutzend
Ehemänner, wie sie sich mir in ebenso vielen Spiegeln näherten
und mir langsam, sorgfältig und neckend meine Jacke aufknöp f­
ten und von meinen Schultern gleiten ließen. Genug! Nein: mehr!
Fort mit dem Rock; und als nächstes die aprikosenfarbene Le i­
nenbluse, die mehr gekostet hatte als das Kleid für meine erste
Kommunion. Das Spiel der Wellen draußen in der kalten Sonne
glitzerte auf seinem Monokel, seine Beweg ungen erschienen mir
gewollt roh, vulgär. Das Blut schoß mir wieder ins Gesicht und
blieb dort.
Und dennoch, ich hatte es mir so vorgestellt – es würde eine
formelle Entkleidung der Braut geben, ein Ritual aus dem Bo r­
dell. So behütet mein Leben auch gewese n war, selbst in der
ordentlichen Bohème, in der ich lebte, konnten mir Hinweise auf
seine Welt nicht entgehen.
Er entkleidete mich wie ein Feinschmecker, als ob er die Blätter
von Artischocken löste, aber besondere Finesse darf man sich
nicht vorstellen; diese Artischocke war kein besonderer Schmaus
für den Esser, noch verspürte er eine gierige Hast. Er machte
sich mit überdrüssigem Appetit an eine wohlbekannte Speise.
Und als nichts mehr da war als mein scharlachroter, zitternder
Kern, sah ich im Spiegel das lebendige Abbild eines Stichs von
Rops aus seiner Sammlung, die er mir gezeigt hatte, als es uns
unsere Verlobung gestattete, miteinander allein zu sei n… das
Kind mit den dürren Gliedern, bloß bis auf Knöpfstiefeletten
und Handschuhe, das mit der Hand das Gesicht verdeckte, als
wäre das Gesicht die letzte Zuflucht seiner Sittsamkeit; und der
alte Lüstling mit dem Monokel, der sie untersuchte, Glied für
Glied. Er in seinem englischen Schneideranzug; sie nackt wie ein
geschlachtetes Lamm. Pornografischste aller Gegenüberstellu n­
gen. Genauso enthüllte mein Käufer seinen Kauf. Und genau wie
in der Oper, als ich mein Fleisch zum erstenmal mit seinen Au­
gen gesehen hatte, fühlte ich entsetzt, daß ich erregt war.
Sofort schloß er mir die Beine wie ein Buch, und i ch sah wieder
die eigentümliche Bewegung seiner Lippen, die andeutete, daß er
lächelte.
Nicht jetzt. Später. Vorfreude ist das Größte am Vergnügen,
meine kleine Liebe.
Und ich begann zu beben wie ein Rennpferd vor dem Rennen,
aber auch aus einer Art Furcht , denn ich fühlte beides, eine
fremde, unpersönliche Aufgewühltheit beim Gedanken an die
Liebe und gleichzeitig einen Widerwillen, den ich nicht unte r­
drücken konnte, vor seinem weißen, schweren Fleisch, das viel
zuviel gemein hatte mit diesen großen Lilien sträußen in den
riesigen Glaskrügen, die meinen Schlafraum füllten, Lilien von
Beerdigungsunternehmern mit den schweren Staubgefäßen, die
einem die Finger gelb färben, als hätte man sie in Kurkuma
getaucht. Die Lilien, die ich imme r mit ihm verbinde, die weiß
sind. Und die einen beflecken.
Diese Szene aus dem Leben eines Lüstlings war plötzlich
abrupt beendet. Es stellt sich heraus, daß er Geschäfte zu erled i­
gen hat; sein Grundbesitz, seine Unternehmen – auch in deinen
Flitterwochen? Auch jetzt, sagten die roten Lippen, die mich
küßten, ehe er mich mit meinen verwirrten Sinnen allein ließ –
ein feuchtes, seidenes Bürsten von seinem Bart; eine Andeutung
seiner Zungenspitze. Verstimmt wickelte ich mich in ein Négligé
aus alter Spitze und schlürfte die heiße Sc hokolade, die mir die
Zofe als Frühstück gebracht hat; danach, weil es meine zweite
Natur war, konnte ich nicht anders, als ins Musikzimmer zu
gehen und mich gleich an meinen Flügel zu setzen.
Meine Finger brachten jedoch nur ein paar schrille Mißklänge
hervor: nicht gestimm t… nicht ganz richtig gestimmt; aber ich
war mit dem absoluten Gehör gesegnet und konnte nicht weiter
spielen. Seeluft ist schlecht für Flügel; wir werden einen Klavie r­
stimmer brauchen, wenn ich meine Studien fortsetzen soll, und
er muß hier wohnen! Ich klappte den Deckel zu, leich t wütend
vor Enttäuschung; was soll ich jetzt tun, wie soll ich die langen,
meereshellen Stunden vertreiben, bis mein Gemahl mich zu Bett
legt?
Ich bebte, als ich daran dachte.
Seine Bibliothek war offenbar die Quelle seines typischen Dufts
von Russisch Leder. Reihen über Reihen brauner und olivfarb e­
ner Bücher mit Ledereinband und goldgeprägtem Rücken, die
Oktavbände in leuchtendrotem Saffianleder. Ein weichgepolste r­
tes Ledersofa zum Hineinfallen. Ein Lesepult, wie ein Adler mit
ausgebreiteten Schwingen geschnitzt, mit einer aufgeschlagenen
Ausgabe von Huysmans’ ›Làbas‹ darauf, aus einem ganz exquis i­
ten Privatdruck, gebunden wie ein Meßbuch, metallbeschlagen,
mit Schmucksteinen aus buntem Glas. Die dicken Teppiche auf
dem Boden, im pulsierenden Blau des Himmels und dem Rot des
kostbarsten Herzbluts, stammten aus Isfahan und Buchara; das
dunkle Parkett glänzte; dazu die einschläfernde Musik des Meeres
und ein Feuer aus Apfelholz. Die Flammen tanzten über Buc h­
rücken in einem Glasschrank, der noch steife, neue Ausgaben
enthielt. Eliphas Levy, der Name sagte mir nichts. Ich warf einen
flüchtigen Blick auf einen oder zwei Titel: ›Die Initiation‹, ›Der
Schlüssel zum Geheimnis‹, ›Das Geheimnis der Büchse der
Pandora‹, und gähnte. Nichts war hier, was ein siebzehn jähriges
Mädchen hätte fesseln können, das auf die erste Umarmung
wartet. Ich hätte am liebsten einen Schmöker mit billigem Papier
gehabt; ich hätte mich gern auf dem Teppich vor dem knister n­
den Feuer zusammengerollt, in einen Schundroman versenkt und
klebrige Likörpralinen gelutscht. Wenn ich danach läutete, würde
mir sicher eine Zofe Pralinen bringen.
Trotzdem öffnete ich die Türen dieses Bücherschrankes und
stöberte müßig darin herum. Ich glaube, ich wußte es, ich wußte
durch ein gewisses Prickeln in den Fingerspitzen, schon bevor
ich den schmalen Band ohne Titel aufgeschlagen hatte, was ich
darin finden würde. Als er mir den Rops zeigte, den er gerade
frisch erworben hatte und liebevoll pries, hatte er sich da nic ht
schon als Kenner auf diesem Gebiet zu erkennen gegeben? Doch
hiermit hatte ich nicht gerechnet, mit diesem Mädchen, dem die
Tränen auf den Wangen hingen wie angeklebte Perlen, ihr Ge­
schlecht eine gespaltene Feige unter den großen Kugeln ihres
Hinterns, auf den gleich eine geknotete neunschwänzige Katze
niedersausen soll, während ein schwarz maskierter Mann mit der
freien Hand an seinem Glied herumfingert, das sich so steil nach
oben richtet wie das Krummschwert, das er hält. Das Bild hatte
einen Titel: ›Bestrafte Neugier‹. Meine Mutter hatte mir mit der
ganzen Genauigkeit ihres exzentrischen Wesens erklärt, was
zwischen Liebenden passiert; ich war unschuldig, aber nicht naiv.
›Eulaliens Abenteuer im Harem des Großtürken‹ war dem Im­
pressum zufolge 1748 in Amsterdam gedruckt, ein seltenes
Sammlerstück. Hatte es irgendein Ahnherr aus dieser Stadt im
Norden selbst mitgebracht? Oder hatte mein Gemahl es für sich
gekauft, in einem dieser staubigen kleinen Buchläden, links der
Seine, wo einen immer ein alter Mann durch seine zentimeterdik­
ken Brillengläser anstarrt, ob man es etwa wagt, seine Schätze in
die Hand zu nehme n… Ich blätterte die Seiten um in einem
Vorgefühl von Furcht, der Druck war verblichen. Noch ein
Stahlstich: ›Die Opferung der Frauen des Sultans‹. Ich wußte
genug, denn was ich in diesem Buch sah, ließ mir den Atem
stocken.
Plötzlich wurde der Ledergeruch, mit dem die Bibliothek ge­
tränkt war, stechend intensiv; ein Schatten fiel auf das Massaker.
»Meine kleine Nonne hat die Gebetbücher gefunden, nic ht
wahr?« fragte er mit einer sonderbaren Mischung aus Spott und
Appetit; dann, als er meine qualvolle und wütende Verstörung
wahrnahm, lachte er mich laut an, zog mir das Buch aus den
Händen und legte es aufs Sofa.
»Haben die schmutzigen Bilder mein Kindc hen erschreckt? Ein
kleines Mädchen darf nicht mit den Spielsachen der Erwachs e­
nen spielen, bis es gelernt hat, wie man damit umgeht, nicht
wahr?«
Dann küßte er mich. Und diesmal ohne Zurückhaltung. Er
küßte mich und legte seine Hand befehlerisch auf meine Brust,
unter die alte Spitze. Ich stolperte auf der Wendeltreppe , die zum
Schlafraum führte, zu dem geschnitzten, vergoldeten Bett, auf
dem er gezeugt worden war. Ich stammelte töricht: »Wir haben
noch nicht zu Mittag gegessen; und außerdem, es ist hellic hter
Tag…«
Damit ich dich besser sehen kann.
Er befahl mir, mein Halsband anzulegen, das Familienerbstück
einer Frau, die dem Fallbeil entkommen war. Mit zitternden
Fingern schloß ich das Ding um meinen Hals. Es war eiskalt und
ließ mich frösteln. Er wand mir die Haare zu einem Seil und hob
sie mir von den Schultern, damit er die flaumige Mulde unter
meinen Ohren besser küssen konnte; es machte mich schaudern.
Und er küßte auch die flammenden Rubine. Er küßte sie, bevor
er meinen Mund küßte. Er summte entzü ckt: »Und alles, was ihr
blieb, war nur der Wohlklang ihrer Perlenschnur.«
Ein Dutzend Ehemänner durchbohrte ein Dutzend Bräute,
während sich draußen im leeren Himmel die kreischenden Mö­
wen auf unsichtbaren Trapezen schaukelten.

Ich kam wieder zu Sinnen, weil das Telefon unablässig läutete. Er


lag neben mir wie eine gefällte Eiche und atmete röchelnd, als ob
er mit mir gerungen hätte. Im Laufe dieses einseitigen Kam pfes
hatte ich seine tödliche Gefaßtheit zerbrechen sehen wie eine
Porzellanvase, die an di e Wand geschleudert wird. Ich hatte ihn
auf dem Höhepunkt schreien und blasphemische Flüche ausst o­
ßen hören, ich hatte geblutet. Und vielleicht hatte ich sein Ge­
sicht ohne Maske erblickt; aber vielleicht auch nicht. Ich war
jedenfalls völlig aus der Bahn geworfen durch den Verlust meiner
Jungfernschaft.
Ich sammelte mich wieder, tastete nach dem Cloisonn é-
Schränkchen neben dem Bett, das das Telefon verbarg, und
meldete mich. Sein Agent in New York. Dringend.
Ich rüttelte ihn wach, rollte wieder auf meine Se ite hinüber und
umschlang meinen erschöpften Körper mit den Armen. Seine
Stimme summte wie ein ferner Bienenstock. Mein Gemahl. Mein
Gemahl, der mir so liebevoll das Schlafzimmer mit Lilien füllen
ließ, daß es wie ein Aufbahrungsraum aussah. Diese schläfri gen
Lilien, die mit ihren schweren Köpfen nicken und ihren üppigen,
aufdringlichen Weihrauch verströmen, der an verwöhntes Fleisch
erinnert.
Nachdem er mit dem Agenten gesprochen hatte, drehte er sich
zu mir um und streichelte das Rubinhalsband, das mir de n Nak­
ken einschnürte, aber diesmal mit solcher Zärtlichkeit, daß ich
nicht mehr zurückwich, und er liebkost e meine Brüste. Mein
Liebling, meine kleine Liebste, mein Kind, hat es ihr weh getan?
Es tut ihm so leid, so ein Ungestüm, aber er konnte es nicht
ändern; denn siehst du, er liebt sie so… Und diese Liebesarien
aus seinem Munde ließen heftig meine Tränen fließen. Ich kla m­
merte mich an ihn, als ob nur derjenige, der mir die Qual zug e­
fügt hatte, mich darüber hinwegtrösten konnte, daß ich sie hatte
erleiden müssen. Eine Zeitlang murmelte er noch mit einer
Stimme, die ich nie zuvor gehört hatte, einer Stimme wie die
sanften Beschwichtigungen des Meeres. Aber dann wand er die
Strähnen meiner Haare von den Knöpfen seiner Smokingjacke,
küßte flüchtig meine Wang e und sagte, der Agent hätte sich mit
einem so dringenden Geschäft aus New York gemeldet, daß er
aufbrechen müsse, sowie die Flut zurückgegangen sei. Fort aus
dem Schloß? Fort aus Frankreich! Und mindestens sechs Wo­
chen fortbleiben.
»Es sind doch unsere Flitterwochen!«
Ein Geschäft, ein riskantes Unternehmen mit einer Gewin n­
chance von Millionen stand auf der Kippe, sagte er. Er zog sich
wieder von mir zurück in seine wächserne Ruhe; ich war doch
noch ein kleines Mädchen, ich verstand das nicht. Und, so gab er
meiner verletzten Eitelkeit ohne Worte zu verstehen, ich habe
schon zu viele Flitterwochen erlebt, um sie auch nur im gerin g­
sten für dringlich zu halten. Ich weiß sehr wohl, daß dieses Kind,
das ich mir mit einer Handvoll bunter Steine und den Fellen toter
Bestien gekauft habe, mir nicht davonrennt. Aber wenn er seinen
Agenten in Paris angerufen hatte, damit er für den kommenden
Tag einen Flug in die Vereinigte n Staaten bucht – nur ein ganz
kurzer Anruf, mein Kleines –, dann würden wir Zeit haben,
zusammen zu Abend zu essen.
Damit mußte ich mich zufriedengeben.
Ein mexikanisches Gericht, Fasan mit Haselnüssen und Sch o­
kolade, Salat, weißer, fetter Käse, ein Sorbet aus Muskatellertra u­
ben und Asti spumante. Damit alles feierlich war, ein festlicher
Champagner von Krug. Und dann bitterer schwarzer Kaffee in
kostbaren kleinen Tassen, so hauchzart, daß die Vögel, die darauf
gemalt waren, Schatten warfen. Ich nahm Cointreau, er einen
Cognac in der Bibliothek, die purpurnen Samtvorhänge waren
zugezogen und sperrte n die Nacht aus; er zog mich auf seine
Knie in einen Ledersessel neben dem flackernden Holzfeuer. Er
hatte mich das keusche kleine Poiret -Gewand aus weißem Mu s­
selin anziehen lassen; es schien ihm besonders gut zu gefallen,
meine Brüste schimmerten durch de n durchsichtigen Stoff, sagte
er, wie weiche weiße Täubchen im Schlaf, jede mit einem ros igen
offenen Auge. Aber ich durfte nicht das Rubinhalsband abne h­
men, das mir unbequem zu werden begann, noch durfte ich die
offenen Haare au fstecken, das Zeichen einer gerade erst gerau b­
ten Jungfräulichkeit, die noch wie eine Wunde zwischen uns
stand. Er wand meine Haare um seine Finger, bis ich zusamme n­
zuckte; ich sagte, wenn ich mich recht daran erinnere, sehr wenig.
»Das Mädchen wird die Laken schon gewechselt haben« , sagte
er, »wir hängen die blutigen Laken nicht zum Fenster hinaus, um
der ganzen Bretagne zu beweisen, daß du Jungfrau warst, das
geschieht nicht mehr in diesen zivilisierten Zeiten. Aber ich will
dir doch sagen, es wäre das erste Mal in all meinen Ehen gewe­
sen, daß ich meinen neugierigen Pächtern eine solche Flagge
hätte zeigen können.«
Da begriff ich, in einem überraschten Schock, wie sehr ihn
meine Unschuld gereizt haben mußte – die leis e Musik, hatte er
gesagt, meiner Ahnungslosigkeit, wie ›La terrass e des audiences
au clair de lune‹, auf einem Klavier gespielt nach ätherischen
Noten. Man darf nicht vergessen, wie unbehaglich ich mich in
dieser luxuriösen Umgebung fühlte, wie das Unbehagen mein
ständiger Begleiter in der langen Zeit gewesen war, in der dieser
grabernste Satyr, der jetzt sanft mein Haar mißhandelte, um mich
geworben hatte. Das Wissen, daß ihm meine Naivität Gefallen
bereitet hatte, ließ mich wieder beherzter werden. Mut! Ich werde
mich schon eines Tages verhalten wie eine feine Dame, die hier
hineingeboren ist, und sei es auch nur mit Hilfe von Unterla s­
sungen.
Dann zog er langsam und neckend, als ob er einem Kind eine
besondere Freude machen wollte, einen Schlüsselring aus einer
Geheimtasche in seiner Jacke – einen Schlüssel nach dem and e­
ren, ein Schlüssel, wie er sagte, für jedes Schloß in diesem Hause.
Schlüssel aller Arten – gewaltige, altertümliche, schwarze Eise n­
dinger, andere schlank und zierlich, fast barock, blattdünne
Yaleschlüssel für Safes und Truhen. Und während seiner Abw e­
senheit sollte ich sie alle hüten.
Ich musterte den schweren Ring mit Vorsicht. Bis zu diesem
Augenblick hatte ich noch nicht im geringsten nachgedacht über
die praktischen Folgen der ehelichen Verbindung mit einem
großen Haus, einem großen Vermögen, einem groß en Mann,
dessen Schlüsselring so riesig war wie der eines Gefängniswä r­
ters. Es gab ungeschlachte, uralte Schlüssel für die Kerker, denn
Kerker besaßen wir in ausreichendem Maße, obgleich sie zu
Weinkellern umgemodelt waren; die verstaubten Flaschen lage r­
ten in Regalen in all den tiefen Marterlöchern in dem Felsen, auf
dem das Schloß errichtet worden war. Dies sind die Schlüssel für
die Küchenräume, dies ist der Schlüssel für die Bildergalerie, eine
Schatzkammer, in fünf Jahrhunderten von emsigen Sammlern
wohl gefüllt – ah! Er sah voraus, daß ich dort Stunden verbringen
würde.
Er hatte eine Vorliebe für die Symbolisten entwickelt, verriet er
mir mit einem Aufflackern von Gier. Er besaß Moreaus großart i­
ges Porträt von seiner ersten Ehefrau, das berühmte ›Geheiligte
Opfer‹ mit dem Abdruck der spitzenfeinen Ketten auf der durc h­
scheinenden Haut. Kannte ich die Entstehungsgeschichte dieses
Gemäldes? Wie sie sich, als sie das erste Mal vor ihm ihre Kleider
abgelegt hatte, direkt aus ihrer Bar am Montmartre gekommen,
ganz unbeabsichtigt in ihr Erröten gehüllt hatte, das Rot überzog
ihre Brüste, ihre Schultern, ihre Arme, den ganzen Körper? Er
hatte an diese Geschichte denken müssen, an dieses liebe Mä d­
chen, als er mich das erste Mal entkleidet hatt e… Dann Ensor ,
der große Ensor, seine monolithische Leinwand: ›Die törichten
Jungfrauen‹. Zwei oder drei späte Gauguins, sein Lieblingsbild
war das von den braunen Mädchen in Trance, in dem verlassenen
Haus, das den Titel trug: ›Wir kommen aus der Nacht, wir gehen
in die Nacht‹. Und, außer seinen eigenen Beiträgen zu der Sam m­
lung, seine großartigen geerbten Watteaus, Poussins und ein Paar
sehr seltener Fragonards, eine Auftragsarbeit für einen zügellosen
Ahnherrn, der, wie es hieß, dem Meister selbst mit seinen beiden
Töchtern Modell gesessen hatt e… Jählings brach er die Aufzä h­
lung seiner Schätze ab.
Dein schmales weißes Gesicht, Chérie, sagte er, als ob er es
zum ersten Male sähe. Dein schmales weißes Gesicht, mit seiner
Verheißung von Unzüchtigem, die nur ein wahrer Kenner en tzif­
fern kann.
Ein Scheit fiel in die Glut und löste ein Feuerwerk von Funken
aus; der Opal an meinem Finger sprühte grüne Flammen. Mir
war schwindlig, als stünde ich am Rande eines Abgrunds; ich
fürchtete mich, nicht so sehr vor ihm, vor seiner ungeheuerlichen
Gegenwart, die so schwer und lastend war, als ob er bei seiner
Geburt mit einem anderen spezifischen Gewicht als wir alle
begabt worden wäre, eine Gegenwart, die mich – auch wenn ich
meinte, ihn tief zu lieben – immer leise bedrückt e… Nein. Ich
fürchtete mich nicht vor ihm, sondern vor mir selbst. Ich schien
in seinen glanzlosen Augen neu geboren, wiedergeboren zu einer
neuen unvertrauten Gestalt. Ich kannte mich selbst kaum wieder
in seinen Beschreibungen von mir, und doch, und doch – en t­
hielten sie nicht vielleicht ein Körnchen einer schrecklichen
Wahrheit? Und wieder errötete ich unmerklich im roten Feue r­
schein, als ich daran dachte, daß er mich möglicherweise ause r­
wählt hatte, weil er in meiner Unschuld eine kostbare Fähigkeit
zur Verworfenheit gewittert hatte.
Hier ist der Schlüssel zum Porzellankabinett – lach nicht, mein
Liebling; in diesen Schränken befindet sich ein königlicher Schatz
von Sèvres-Porzellan und die Aussteuer einer Königin aus Lim o­
ges-Porzellan. Und ein Schlüssel für die verschlos sene und ve r­
riegelte Kammer, in der fünf Generationen von Silbergeschirr
aufbewahrt werden.
Schlüssel, Schlüssel, Schlüssel. Er vertraute mir die Schlüssel zu
seinem Büro an, obgleich ich doch noch ein Kindchen war; und
die Schlüssel zu seinen Safes, wo er den Schmuck aufhob, den
ich tragen sollte, so versprach er mir, wenn wir wieder nach Paris
fuhren. Und das seien Juwelen! Wirklich, ich könne dreimal am
Tag Ohrringe und Ketten wechseln, so oft, wie Kaiserin Joséph i­
ne ihre Unterwäsche gewechselt hatte. Er zweifelte allerdings
daran, sagte er mit diesem hohlen Scheppern, das ihm als Lachen
diente, daß ich an seinen Aktien genauso interessiert sei, obgleich
sie natürlich unendlich viel mehr wert wären.
Ich hörte, wie sich draußen, außerhalb unserer verschwie genen
kleinen We lt im Feuerlicht, die Flut vom Kies des Strandes zu­
rückzog; es war fast Zeit, daß er mich verließ. Ein einziger
Schlüssel hing noch unbeachtet am Ring, und er zögerte; einen
Augenblick lang dachte ich, er würde ihn von seinen Brüdern
trennen, würde ihn zurück in seine Tasche stecken und mitne h­
men.
»Was ist das für ein Schlüssel?« fragte ich, denn sein Versuch,
gleichgültig zu erscheinen, hatte mich kühn gemacht, »der
Schlüssel zu deinem Herzen? Dann gib ihn mir!«
Er ließ den Schlüssel wie ei nen Köder über meinem Kopf
schaukeln, nicht erreichbar für meine ausgestreckten Finger;
seine nackten roten Lippen verzogen sich zu einem Lächeln.
»O nein«, sagte er, »nicht der Schlüssel zu meinem Herzen.
Eher der Schlüssel zu meiner Hölle.«
Er ließ ihn am Ring, hakte ihn wieder zu und schüttelte ihn, daß
es melodisch klirrte wie ein Glockenspiel. Dann warf er mir die
Schlüssel in den Schoß, ich konnte spüren, wie das kalte Metall
durch mein dünnes Musselinkleid hindurch meine Schenkel
frösteln ließ. Er be ugte sich über mich und hauchte mir einen
Kuß aus seiner Bartmaske auf die Stirn.
»Jeder Mann muß vor seiner Frau ein Geheimnis haben, weni g­
stens ein einziges«, sagte er, »versprich mir dies, meine bleiche
Klavierspielerin, du darfst alle Schlüssel benutze n, aber versprich
mir, den letzten kleinen, den ich dir eben gezeigt habe, nicht
anzurühren. Spiel mit allem, was du entdeckst, mit Juwelen und
Tafelsilber, und wenn du Lust dazu hast, dann mach aus meinen
Aktien und Zertifikaten Schiffchen und laß sie hin ter mir her
nach Amerika segeln. Alles gehört dir, alles darfst du öffnen –
nur nicht das Schloß, in das dieser einzige Schlüssel paßt. Er
gehört ohnehin nur zu einem kleinen Raum am Fuß des Wes t­
turms, hinter der Vorratskammer, ganz am Ende eines düsteren
kleinen Flurs voller gräßlicher Spinnweben, die dir nur in die
Haare geraten und dich erschrecken würden, wenn du dich dahin
wagtest. Ach, und du würdest den kleinen Raum doch langweilig
finden! Aber wenn du mich liebst, so mußt du mir versprechen,
ihn ganz in Ruhe zu lassen. Er ist nur ein Privatgemach, ein
Versteck, in das ich manchmal gehen kann in diesen unregelm ä­
ßigen, aber unvermeidlichen Augenblicken, in denen mi r das
Joch der Ehe zu schwer auf den Schultern zu lasten scheint.
Dahin kann ich gehen, ve rstehst du, und das seltene Vergnügen
auskosten, mir vorzustellen, ich hätte keine Frau.«
Als ich ihn zu seinem Wagen begleitete, fest in meine Pelze
eingewickelt, lag nur schwaches Sternenlicht im Hof. Seine let z­
ten Worte sagten, daß er mit dem Festland telefoniert und einen
Klavierstimmer fest angestellt hatte; dieser Mann würde am
folgenden Tag eintreffen und an die Arbeit gehen. Er preßte
mich ein einziges Mal an seine Vikunjabrust und fuhr davon.
Ich hatte den Nachmittag verträumt, und jetzt konnte ich nicht
schlafen. Ich warf mich in seinem Ahnenbett ruhelos hin und
her, bis eine neue Morgendämmerung das Dutzend Spiegel
verfärbte, die im Widerschein des Meeres irisierten. Der Duft der
Lilien lag schwer auf meinen Sinnen; wenn ich mir vorstellte, daß
ich von nun an für immer diese Laken mit einem Manne teilen
mußte, dessen Haut ebenso wie diese Blumen einen krötenhaften
klammen Anflug von Feuchtigkeit besaß, fühlte ich eine unb e­
stimmte Verzweiflung darüber, daß jetzt, wo sich meine weibl i­
che Wunde wieder geschlossen hatte, sonderbare Gelüste in mir
aufstiegen, wie die Gelüste einer Schwangeren nach Kreide oder
Kohle oder verdorbenen Speisen, ein Verlangen nach neuen
Liebkosungen von ihm. Hatte er mir nicht angedeutet , mit se i­
nem Körper wie mit Worten und Blicken, daß es tausend und
aber tausend Möglichkeiten gab, ein Fleisch zu werden? Ich lag in
unserem breiten Bett, die dunkle neuerwachte Neugier wie ein
schlafloser Gefährte neben mir.
Ich lag allein im Bett. Und ich sehnte mich nach ihm. Und er
ekelte mich.
Gab es genug Juwelen in all seinen Safes, um mich für diesen
Jammer zu entschädigen? Enthielt dieses Schloß genügend
Reichtümer, um mich zu entschädigen für die Gesellschaft dieses
Libertins, mit dem ich es teilen mußte? Und was genau war die
Natur meines begehrlichen Grauens vor diesem geheimnisvollen
Wesen, das mich, um seine Herrschaft über mich zu zeigen, in
meiner Hochzeitsnacht verlassen hatte?
Dann fuhr ich senkrecht auf in meinem Bett, unter den spött i­
schen Masken der geschnitzten Dämonen, von einer wilden
Vermutung gejagt. Hatte er mich vielleicht nicht der Wall Street
wegen verlassen, sondern wegen einer zudringlichen Mätresse,
weiß der Himmel wo, die wußte, wie man ihn weit besser am ü­
siert, als es ein Mädchen kann, dessen Finger bis dahin nur Ton­
leitern und Arpeggios geübt hatten? Und langsam und beruhigt
ließ ich mich wieder in die aufgehäuften Kissen sinken; ich stellte
fest, daß der eifersüchtige Schreck, dem ich mich gerade hing e­
geben hatte, nicht frei war von Erleichterung.
Schließlich fi el ich in leichten Schlaf, als Tageslicht den Raum
erfüllte und die bösen Träume verschluckte. Aber das letzte, an
das ich mich erinnern kann, bevor ich einschlief, war die hohe
Vase mit Lilien neben dem Bett, das dicke Glas, das ihre fetten
Stengel noch vergrößerte, so daß sie aussahen wie Arme, gelen k-
lose Arme, ertrunken in grünlichem Wasser schwimmend.
Kaffee und Croissants als Trost für das einsame Erwachen der
Braut. Köstlich. Auch Honig, eine Wabe in einer Glasschale. Das
Mädchen preßte den aromatisch en Saft einer Orange in ein
eisgekühltes Glas, ich schaute ihr zu, während ich im müßigen,
mittäglichen Bett der Reichen lag. Doch nichts erfüllte mich an
diesem Morgen mit so viel Freude wie die Nachricht, daß sich
der Klavierstimmer bereits an die Arbeit gemacht hatte. Als das
Mädchen es mir berichtete, sprang ich aus dem Bett und zog mir
meinen alten Sergerock und die Flanellbluse an, die Kleider
meiner Studentenzeit, in denen ich mich weitaus behaglicher
fühlte als in irgendeinem dieser eleganten neuen Kleider.
Nachdem ich drei Stunden geübt hatte, rief ich den Klavie r­
stimmer herein, um mich bei ihm zu bedanken. Er war blind,
natürlich, aber jung und hatte einen sanften Mund und graue
Augen, die sich auf mich hefteten, obgleich sie mich nicht sehen
konnten. Er war der Sohn des Hufschmieds aus dem Dorf am
Ende des Dammes; er sang im Kirchenchor, und der mitleidige
Pastor hatte ihm ein Handwerk beigebracht, damit er sich das
Geld zum Leben verdienen konnte. Alles sehr zufriedenstellend.
Ja. Er glaubte schon , daß er sich hier glücklich fühlen würde.
Und wenn er, fügte er scheu hinzu, mich manchmal spielen
hören dürfte… Er liebte nämlich Musik. Ja, natürlich , sagte ich.
Aber gewiß. Er schien zu wissen, daß ich gelächelt hatte.
Nachdem ich ihn entlassen hatte, war es, obgleich ich erst so
spät aufgestanden war, immer noch längst nicht Zeit für den Tee.
Die Haushälterin, die von meinem rücksichtsvollen Gatten an­
gewiesen worden war, mich ja nicht beim Spielen zu stören,
suchte mich jetzt auf und machte mir mit ern ster Miene einen
umfangreichen Menüvorschlag für ein spätes Mittagessen. Als ich
ihr sagte, ich brauchte keins , sah sie mich über ihre lange Nase
hinweg schräg an. Ich begriff sofort, daß eine meiner Hauptau f-
gaben als Schloßherrin darin bestand, die ganze Dienerschar mit
Arbeit zu versorgen. Trotzdem gab ich nicht nach und sagte, ich
wollte mit dem großen Essen lieber bis zum Abend warten,
obwohl ich diesem einsamen Mahl schon jetzt unruhig entgege n­
sah. Dann stellte ich fest, daß ich ihr auch Anweisungen ge ben
mußte, was sie für mich vorbereiten lassen sollte; meine Phant a­
sie, immer noch die eines Schulmädchens, schlug über die Strä n­
ge. Geflügelbrüste in Sahne – oder sollte ich Weihnachten vo r­
verlegen und einen gefüllten Truthahn nehmen? Nein; ich hab’
mich entschieden. Avocados und Krabben, jede Menge, aber
überhaupt kein Entrée. Aber überraschen Sie mich dafür zum
Dessert mit jeder Sorte Eiscreme aus dem Gefrierschrank. Sie
notierte sich das alles, rümpfte aber die Nase; ich hatte sie scho k­
kiert. So ein Geschmack! Ich kicherte wie ein Kind, als sie wieder
ging.
Aber jetzt… Was soll ich jetzt anfangen?
Ich hätte gern eine glückliche Stunde lang die Ko ffer mit me i­
ner Aussteuer ausgepackt, aber das hatte die Zofe schon erledigt.
Die Kleider und Kostüme hingen ordentlich in den Wan d­
schränken in meinem Ankleidezimmer, die Hüte auf Holzköpfen,
damit sie die Form behielten, die Schuhe waren auf hölzerne
Leisten gespannt, als ob all die unbelebten Gegenstände den
Schein von Leben nachahmten, um mich zu verspotten. Ich hatte
keine Lust, länger in meinem überfüllten Ankleidezimmer zu
bleiben, auch nicht in meinem unheilvoll nach Lilien duftenden
Schlafzimmer. Wie sollte ich die Zeit verbringen?
Ich könnte ein Bad in meinem eigenen Badezimmer nehmen!
Und ich entdeckte, daß die Wasserhähne kleine goldene Delphine
waren, die Augen aus Türkissplittern hatten. Es gab auch ein
Aquarium mit einem Goldfisch, der zwischen den sich hin - und
herwiegenden Wasserpflanzen hindurchschwamm, genauso
gelangweilt, schien mir, wie ich. Wie sehr wünschte ich mir, er
hätte mich nicht verlassen. Wie sehr wünschte ich mir, ich kön n­
te mit jemandem plaudern, meinetwegen mit einer Zofe; oder mit
dem Klavierstimme r… Aber es war mir bereits klargeworden,
daß es mir meine neue Stellung verbot, mit Unt ergebenen
freundschaftlich anzubändeln.
Ich hatte gehofft, daß ich den Anruf so lange wie möglich hi­
nausschieben könnte, so daß ich in diesem erstickenden Übe r­
maß an Zeit, die ich bis zum Ende des Abendessens vor mir
liegen sah, wenigstens irgend etwas hätte, auf das ich mich freuen
könnte. Doch um dreiviertel sieben, als schon Dunkelheit das
Schloß umgab, konnte ich nicht mehr an mich halten. Ich rief
meine Mutter an. Und war über mich selbst erstaunt, weil ich
beim Klang ihrer Stimme in Tränen ausbrach.
Nein, nichts war los. Mutter, ich habe goldene Badehähne. Ich
sagte: goldene Badehähne!
Nein, darüber muß man wohl wirklich nicht weinen, Mutter.
Die Verbindung war schlecht, ich konnte kaum ihre Glückwü n­
sche, ihre Fragen, ihre Anteilnahme verstehen, aber als ich den
Hörer auflegte, fühlte ich mich ein wenig getröstet.
Es blieb jedoch immer noch eine ganze Stunde bis zum Aben d­
essen, und danach die ganze, unvorstellbare Einöde des restl i­
chen Abends.
Der Schlüsselring lag dort, wo er ihn gelassen hatte, in der Bi­
bliothek auf dem Teppich vor dem Kaminfeuer, das das Metall
so durchwärmt hatte, daß es sich nicht mehr kalt anfühlte, so n­
dern warm, fast so warm wie meine Haut. Wie nachlässig ich war;
ein Mädchen, das sich um das Feuer kümmerte, warf mir einen
vorwurfsvollen Blick zu, als ob ich ihr eine Falle gestellt hätte, als
ich den klirrenden Schlüsselring aufhob, die Schlüssel zu den
innersten Türen seines köstlichen Ge fängnisses, in dem ich
beides war, Ge fangene und Hüterin, und das ich bisher noch
kaum gesehen hatte. Als ich wieder daran dachte, verspürte ich
die freudige Erregung eines Entdeckers.
Licht! Mehr Licht!
Ein Griff zum Schalter, und schon war die träumende Bibli o­
thek strahlend erhellt. Ich rannte wie verrück t durchs Schloß,
knipste alle Lampen an, die ich nur finden konnte – befahl den
Dienstboten, auch ihre Zimmer hell zu machen, so daß das ganze
Schloß wie eine schaumgeborene Geburtstagstorte im Glanz von
tausend Kerzen strahlte, eine für jedes der Jahre seines Best e­
hens, und alle Leute am Ufer drü ben staunten. Als alles so hell
erleuchtet war wie das Café im Gare du Nord, schüchterte mich
die Bedeutungsschwere der Besitztümer, die mit dem Schlüsse l­
ring zusammenhing, nicht länger ein, denn ich war jetzt fest
entschlossen, alles zu durchsuchen auf de r Jagd nach Beweisen
für die wahre Natur meines Ehemannes.
Zuerst sein Büro, selbstverständlich.
Ein kilometerbreiter Mahagonischreibtisch mit einer makellosen
Löschunterlage und einer ganzen Anlage aus Telefonen. Ich
gestattete mir den Luxus, den Safe zu öffnen, der den Schmuck
enthielt, und wühlte gründlich durch alle Lederetuis, nur um
festzustellen, daß mir meine Heirat tatsächlich Zugang zu einem
Feenschatz verschafft hatte – Diademe, Armreifen, Ring e…
Während ich noch in Diamanten wühlte, klopfte ein Mädchen an
die Tür und trat ein, bevor ich noch etwas sagen konnte; eine
winzige Ungehörigkeit. Ich würde mit meinem Gemahl darüber
sprechen müssen. Sie warf einen vielsagenden Blick auf meinen
Sergerock; beabsichtigte Madame, sich zum Diner umzukleiden?
Sie gab einen schwachen Laut des Abscheus von sich, als ich
bei dieser Frage nur lachte, sie war viel mehr Dame als ich. Aber
man muß sich das vorstellen – ich sollte mich jetzt in eine von
meinen Poir et-Extravaganzen werfen, mir einen juwelenbeset z­
ten Turban und einen Federbusch auf den Kopf setzen, mich bis
zum Bauchnabel mit Perlschnüren behängen und mich dann
mutterseelenallein im herrschaftlichen Speisesaal am Kopf des
schweren Eichentisches niederlassen, an dem angeblich König
Marke seine Ritter verkös tigt hatte… Unter ihrem kalten mißbi l­
ligenden Blick wurde ich wieder ruhig. Ich rettete mich in die
kühle Hochmut einer Offizierstochter. Nein, ich wollte mich
nicht zum Diner umziehen. Ich hatte darüber hinaus nicht einmal
genug Hunger. Sie möchte der Hau shälterin sagen, sie sollte die
Internatsgenüsse, die ich mir bestellt hatte, wieder streichen. Ob
man mir ein paar Butterbrote und eine Kanne Kaffee in mein
Musikzimmer stellen könnte? Und ob sich nicht alle heute abend
freinehmen könnten?
Mais oui, madame.
Ihr beleidigter Ton sagte mir, daß ich sie schon wieder vor den
Kopf gestoßen hatte, aber das kümmerte mich nicht; durch den
Glanz dieses märchenhaften Schatzes war ich gegen sie gewap p­
net. Sein Herz konnte ich jedoch unter diesen funkelnden Ste i­
nen nic ht entdecken. Sowie sie sich wieder verzogen hatte, be­
gann ich, die Schubladen seines Schreibtisches systematisch zu
durchsuchen.
Alles war aufgeräumt, deshalb fand ich nichts. Kein zufälliges
Gekritzel auf einem alten Umschlag, keine verblichene Fotografie
einer Frau. Nur Ordner mit seiner Geschäftskorrespondenz,
Abrechnungen von seinen Ländereien, Rechnungen von Schne i­
dern, ›Liebesbriefe‹ von Finanziers aus aller We lt. Nichts. Und
dieser Mangel an Spuren seines wahren Lebens kam mir allmä h­
lich merkwürdig vor; da muß doch, dachte ich, viel zu verbergen
sein, wenn er sich solche Mühe macht, es zu verstecken.
Sein Büro war ein außergewöhnlich unpersönlicher Raum, es
lag nach innen zum Hof hin, als ob er der lockenden See den
Rücken kehren wollte, um einen kla ren Kopf zu behalten, wenn
er einen kleinen Geschäftsmann in Amsterdam in den Bankrott
trieb oder – wie ich mit Entsetzen feststellte – sich in ein Ge­
schäft in Laos einließ, das laut kaum lesbarer Anspielungen auf
seine amateurbotanikerhafte Begeisterung für seltenen Mohn
etwas mit Opium zu tun haben mußte. War er nicht schon reich
genug, um ohne Verbrechen auszukommen? Oder waren es
Verbrechen, aus denen er seinen Profit zog? Ich hatte genug
gesehen, um seinen Hang zur Geheimhaltung zu verstehen.
Nachdem ich seinen Schreibtisch auf den Kopf gestellt hatte,
mußte ich eine konzentrierte Viertelstunde dafür opfern, alles bis
zur letzten Kleinigkeit genau dahin zurückzulegen, wo ich es
gefunden hatte, und während ich noch die Spuren meines Bes u­
ches verwischte, griff ich durch Zufall in eine kleine Schublade,
die sich verklemmt hatte. Dabei mußte ich eine verborgene Feder
berührt haben, denn in der Lade sprang eine zweite, eine Ge­
heimlade auf; und diese geheime Lade enthielt – endlich! – eine
Mappe mit der Aufschrift ›Persönlich‹.
Ich war allein, bis auf mein Spiegelbild im nackten Fenster.
Einen kurzen Augenblick hatte ich die Vorstellung, sein Herz
läge flach gepreßt wie eine Blume, blutrot und zart wie Seidenp a­
pier, in dieser Mappe. Sie war sehr dünn.
Vielleicht wäre mir lieber gewesen, ich hätte diesen rührenden
und schlecht geschriebenen Brief auf einer Papierserviette mit
dem Aufdruck ›La Coupole‹ nicht gefunden. Er begann: ›Mein
Liebster, kann den Augenblick nicht erwarten, wenn Du mich
ganz zu der Deinen machst.‹ Die Diva hatte ihm ein Blatt mit der
›Tristan‹-Partitur geschickt, den ›Liebestod‹, und ein einziges
geheimnisvolles Wort darüber gekritzelt: ›Bi s…‹ Aber der so n­
derbarste von all diesen Liebesbriefen war eine Postkarte mit
einem Blick auf einen Dorff riedhof im Gebirge, wo ein paar
schwarzgekleidete Leichenschänder wie wild in einem Grabe
schaufelten; der Titel dieser kleinen Szene im gespenstisch übe r­
schwenglichen Stil des ›Grand Guignol‹ lautete: ›Typisches Bild
aus Transsylvanien – Mitternacht, Alle rseelen.‹ Und auf der
anderen Seite die Botschaft: ›Anläßlich dieser Heirat mit Draculas
Nachfahrin: Denk stets daran, ›die köstlichste und einzigartige
Wonne der Liebe ist die Gewißheit, Böses zu tun!‹ Toutes amiti­
és, C.‹
Ein Spaß. Ein höchst geschmackloser Scherz; denn war er nicht
wirklich mit einer rumänischen Gräfin verheiratet gewesen? Und
dann erinnerte ich mich an ihr hübsches, gescheites Gesicht und
an ihren Namen – Carmilla. Meine jüngste Vorgängerin in di e­
sem Schloß war offensichtlich auch die durchtriebenste gewesen.
Ich legte die Mappe ernüchtert zurück. Nichts in meinem bi s­
herigen Leben, eingebettet in Familienliebe und Musik, hatte
mich auf diese Erwachsenenspiele vorbereitet, und dennoch
waren sie Hinweise auf sein Wesen, die mir zumindest be wiesen,
wie sehr er geliebt worden war, wenn sie auch keinen einzigen
guten Grund dafür enthüllten. Ich wollte aber noch mehr wissen;
und als ich die Tür zum Büro wieder verschloß, fielen mir die
Mittel dazu direkt vor die Füße.
Sie fielen, im wahrsten Sin n des Wortes; und zwar mit einem
Geklirr und Geklapper wie ein ganzer umgekippter Besteckk a­
sten, denn während ich den dünnen Ya leschlüssel umdrehte,
mußte ich irgendwie den Schlüsselring aufgeschoben haben, so
daß sich alle Schlüssel lösten und zu Boden fi elen. Und der
allererste Schlüssel, den ich aus diesem Haufen aufhob, war, wie
es das Glück oder das Unglück wollte, der Schlüssel zu der
Kammer, die er mir verboten hatte, die Kammer, die er für sich
selbst behalten wollte, damit er sich stets dorthin zur ückziehen
konnte, wenn er wünschte, sich wieder wie ein Junggeselle zu
fühlen.
Ich beschloß, sie zu er forschen, noch ehe ich ein schwaches
Aufflackern unbestimmter Angst vor seiner wächsernen Stille
empfand. Vielleicht stellte ich mir damals schon halbwegs vor,
ich könnte in dieser Höhle sein wahres Ich finden, das darauf
wartete festzustellen, ob ich ihm gehorchte; daß er eine Puppe
statt seiner nach New York geschickt hatte, ein automatisches
Abbild seiner öffentlichen Person, während sich der echte Mann,
dessen Gesicht ich flüchtig im Sturm des Liebesrauschs erkannt
hatte, mit dringlichen privaten Angelegenheiten in seinem Studio
am Fuß des Westturms, hinter der Vorratskammer, beschäftigte.
Wenn das jedoch so war, so schien es mir notwendig, daß ich ihn
dort aufsuchte und kennenlernte; und ich war durch sein offe n­
sichtliches Wohlgefallen an mir zu geblendet, um auf die Idee zu
kommen, mein Ungehorsam könne ihn tatsächlich treffen.
Ich hob den verbotenen Schlüssel auf und ließ die anderen li e­
gen.
Unterdessen war es sehr spät geworden, und das Schloß trieb
so fern vom Festland wie nur möglich mitten im schweigenden
Ozean, auf meinen Befehl in strahlendes Licht gehüllt. Alles war
ruhig, alles schwieg, nur die Wellen murmelten noch.
Ich verspürte weder Furcht noch die Vorahnung von etwas
Grauenvollem. Meine Schritte waren so sicher wie zu Hause in
der Wohnung meiner Mutter.
Überhaupt kein enger, verstaubter kleiner Korridor; warum
hatte er mich angelogen? Freilich, schlecht beleuchtet; aus ir­
gendeinem Grunde rei chten die elektrischen Leitungen nicht bis
hierher, deshalb ging ich in die Vorratskammer zurück und fand
in einem Regal auch ein Bündel Wachskerzen, die gleich neben
den Streichhölzern aufbewahrt wurden, um bei großen Festlic h­
keiten den Eichentisch zu sch mücken. Ich zündete eine kleine
Kerze mit einem Streichholz an und wandelte mit der Kerze in
der Hand wie eine Büßerin durch den Korridor, der mit schw e­
ren, ich glaube venezianischen Wandbehängen verkleidet war.
Die Flamme zeigte hier den Kopf eines Mannes , dort die üppige
Brust einer Frau, die ihr durch einen Riß im Gewand quoll –
vielleicht ›Der Raub der Sabinerinnen‹? Blanke Schwerter und
geschlachtete Pferde ließen auf irgendeine grausame Sage schli e­
ßen. Der Gang schlängelte sich abwärts; unter dem dick en Te p­
pich schien eine Rampe verborgen zu sein. Die schweren Tapi s­
serien verschluckten meine Schritte und selbst mein Ate mge­
räusch. Aus irgendeinem Grunde wurde mir sehr warm; Schweiß
perlte mir auf der Stirn. Ich konnte das Geräusch des Meeres
nicht mehr hören.
Ein langer, gewundener Gang, als ob ich in den Eingeweiden
des Schlosses wäre; und dieser Gang führte zu einer Tür aus
wurmstichiger Eiche, niedrig, oben ein Rundbogen, mit schwa r­
zem Eisen beschlagen.
Immer noch keine Furcht, keine gesträubten Haare , kein Pri k­
keln in den Fingerspitzen.
Der Schlüssel glitt so leicht in das neue Schloß wie ein heißes
Messer in Butter.
Keine Furcht; aber ein Zögern, mein Geist hielt den Atem an.
Wenn ich in einer kleinen Mappe mit der Aufschrift ›Persönlich‹
ein paar Spuren zu seinem Herzen gefunden hatte, so konnte ich
hier in seiner unterirdischen Abgeschiedenheit vielleicht ein
kleines Stück seiner Seele entdecken. Es war das Bewußtsein der
Möglichkeit einer solchen Entdeckung, auch ihrer möglichen
Unheimlichkeit, das mich einen Augenblick lang verharren ließ,
bevor ich in der Torheit meiner schon leicht befleckten Unschuld
den Schlüssel drehte und die Tür knarrend zurückwich.
›Es besteht eine überraschende Ähnlichkeit zwischen dem Li e­
besakt und den Verrichtungen eines Folterknechts‹ hatte einer
der bevorzugten Dichter meines Gemahls gemeint; etwas über
die Natur dieser Ähnlichkeit hatte ich in meinem Hochzeitsbett
kennengelernt. Und jetzt zeigte mir meine Kerze die Umrisse
eines Gestells. Es gab auch ein großes Rad wie diejenigen, die ich
auf den Holzschnitten des Märtyrertods der Heiligen gesehen
hatte, in der Sammlung kleiner frommer Legendenbücher meiner
alten Kinderfrau. Und – nur ein flüchtiger Blick darauf, ehe
meine schwache Flamme verlosch und mich in vollkommen er
Dunkelheit zurückließ – eine Metallfigur, an einer Seite mit einem
Scharnier versehen, und ich wußte, sie ist innen mit Nägeln
versehen und trägt den Namen Eiserne Jungfrau.
Vollkommene Dunkelheit. Und um mich herum Instrumente
zur Verstümmelung.
Bis zu diesem Augenblick hatte dieses verwöhnte Kind noch
nicht gewußt, daß es die Nerven und den starken Willen seiner
Mutter geerbt hatte, die die gesetzlosen Chinesen in Indochina in
Schach gehalten hatte. Der Geist meiner Mutter trieb mich tiefer
hinein in diesen Schreckensort, erfüllte mich mit eisiger Ekstase,
um das Schlimmste zu entdecken. Ich wühlte in meiner Tasche
nach den Streichhölzern; was für ein spärliches und jämmerliches
Licht sie gaben! Und doch genug, ach – mehr als genug, um eine
Kammer zu se hen, die für die tiefste Entwürdigung vorgesehen
war und für finstere Nächte unvorstellbarer Liebender, deren
Umarmungen die Vernichtung waren.
Die Wände dieser kahlen Folterkammer bestanden aus nacktem
Fels; sie glitzerten, als ob sie Angst ausschwitzten. In den vier
Ecken dieses Raumes standen Urnen, sehr alt, vielleicht etru s­
kisch, und auf dreibeinigen Ebenholzständern Schüsseln mit
Weihrauch, die er hatte brennen lassen, und die den Raum mit
Kirchenduft erfüllten. Rad, Streckbett und Eiserne Jungfrau
waren, wie ich sah, so effektvoll aufgebaut, als wären sie Sam m­
lerstücke, und ich war schon beruhigt und auch fast überzeugt,
daß ich nur in ein kleines Museum seiner Perversitäten gestolpert
wäre, daß diese ungeheuerlichen Gegenstände nur seiner Ko n­
templation dienten.
Doch mitten im Raum stand ein Katafalk, eine drohende, un­
heilvolle Totenbahre aus der Renaissance, von Künstlerhand
geschnitzt, um sie herum lange weiße Kerzen und zu ihren Füßen
ein Strauß der gleichen Lilien, mit denen er mir das Schlafzimmer
gefüllt hatte, in einem meterhohen Krug, dunkelrot und feinste
chinesische Emailarbeit. Ich wagte kaum, diesen Katafalk und
seinen Bewohner genauer zu untersuchen; ich wußte jedoch, daß
ich es mußte.
Jedesmal, wenn ich ein Streichholz anriß, um die Kerzen um ihr
Lager anzuzünden, schien eine Hülle meiner Unschuld, die er so
begehrt hatte, von mir abzugleiten.
Die Opernsängerin lag völlig nackt unter einem dünnen Tuch
aus sehr seltenem und kostbarem Leinen, so wie die Leichent ü­
cher, in die die Fürsten in It alien jene einzuwickeln pflegten, die
sie vergiftet hatten. Ich berührte sie, ganz zart, an der weißen
Brust; sie war kühl, er hatte sie einbalsamiert. Auf ihrer Kehle
konnte ich die blauen Würgemale seiner Finger erkennen. Das
kühle, trübe Kerzenlicht fla ckerte auf ihren we ißen, geschloss e­
nen Augenlidern. Das schlimmste aber war, daß ihre toten Li p­
pen lächelten.
Hinter dem Katafalk, in einem Schattenfleck, ein weißer, kn ö­
cherner Schimmer; als sich meine Augen an die dichte Dunke l­
heit gewöhnt hatten, erkann te ich schließlich – o Grausen! –
einen Schädel; ja, einen Schädel, so ganz und gar von allem
Fleisch entblößt, daß es kaum möglich schien, sich diesen nac k­
ten Knochen üppig mit Leben gepolstert vorzustellen. Und
dieser Schädel hing an unsichtbaren Schnüre n, so daß er körpe r­
los in dieser ruhigen, schweren Luft zu schweben schien, und war
gekrönt mit einem Kranz aus weißen Rosen und einem Spitze n­
schleier, ein letztes Abbild seiner Braut.
Der Schädel war jedoch auch jetzt noch wunderschön, hatte mit
seinen Kn ochenplatten das Gesicht, das einst darüber lag, so
unverkennbar bestimmt, daß ich sie auf den ersten Blick erkan n­
te; Gesicht des Abendsterns, wandelnd am Saume der Nacht. Ein
falscher Schritt, ach, mein armes, liebes Mädchen, und du bist die
nächste in der dem Untergang geweihten Schwesternschaft seiner
toten Frauen; ein falscher Schritt, und schon bist du in den dun k­
len Abgrund gestolpert.
Und wo war sie, die letzte Tote , die rumänische Gräfin, die sich
vielleicht eingebildet hatte, ihr Blut würde sein Ge metzel überle­
ben? Ich wußte, daß sie hier sein mußte, an diesem Ort, der mich
wie eine unwiderstehliche Spule durch das ganze Schloß zu sich
gezogen hatte. Zuerst aber konnte ich keine Spur von ihr entde k­
ken. Dann aber gab aus irgendeinem Grund – vielleich t durch
irgendwelche Veränderungen der Atmosphäre, die durch meine
Gegenwart ausgelöst waren – die Metallschale der Eisernen
Jungfrau ein geisterhaftes Dröhnen von sich; meine fieberhafte
Fantasie mochte gedacht haben, ihre Bewohnerin versuchte
herauszukriechen, obwohl ich doch trotz meiner aufsteigenden
Hysterie genau wußte, daß sie schon tot sein mußte, um hier eine
Heimat zu finden.
Mit zitternden Fingern zog ich die Vorderseite dieses aufrec h­
ten Sarges etwas auf, dessen äußeres, gegossenes Gesicht in
einem Schrei der Qual erstickt war. Dann ließ ich den Schlüssel,
den ich immer noch in meiner anderen Hand trug, überwältigt
fallen. Er tauchte in den See aus ihrem Blut.
Sie war durchbohrt, nicht nur von einem einzigen, sondern von
Hunderten von Pfählen, di eses Kind aus dem Land der Vampire,
das gerade erst gestorben schien, so voll von Blu t… Oh, Gott!
Wie kurz war es her, daß er verwitwet war? Wie lange hatte er sie
in dieser fürchterlichen Zelle gehalten? War das die ganze Zeit
gewesen, in der er mich im hellen Licht von Paris umworben
hatte?
Ich klappte den Deckel ihres Sarges ganz leise wieder zu und
brach in einen Sturm von Tränen aus, in dem sich beides misc h­
te, Mitleid für seine anderen Opfer und Todesangst, weil ich
wußte, ich war jetzt auch eine der ihren.
Die Kerzen flackerten, als stünden sie im Zug zwischen der Tür
und irgendwo. Das Licht fiel auf den Feueropal an meiner Hand,
so daß er ein einziges Mal sein unheilvolles Licht aufzucken ließ,
als wollte er mir sagen, das Auge Gottes – sein Auge – läge auf
mir. Als ich den Ring ansah, für den ich mich diesem Schicksal
ausgeliefert hatte, war mein erster Gedanke, wie ich entkommen
könnte.
Ich besaß noch soviel Geistesgegenwart, um die Kerzen rings
um die Totenbahre mit den Fingern auszulöschen, meine kleine
Kerze aufzuheben, mich umzuschauen, wenn auch zitternd, um
mich zu vergewissern, daß ich keine Spuren meines Besuchs
zurückgelassen hatte.
Ich zog den Schlüssel aus dem See von Blut, wickelte ihn in
mein Taschentuch, damit meine Hände sauber blieben , floh aus
dem Raum und schlug die Tür hinter mir zu.
Sie krachte mit dröhnendem Widerhall ins Schloß, wie das Hö l­
lentor.
In meinem Schlafzimmer konnte ich nicht Zuflucht suchen,
denn das bewahrte noch die Erinnerung an seine Gegenwart,
eingefangen im bode nlosen Silberglanz seiner Spiegel. Mein
Musikzimmer schien mir der sicherste Ort zu sein, obgleich ich
das Bild der heiligen Cäcilie jetzt nur noch mit leichtem Grauen
betrachten konnte; wie war sie zur Märtyrerin geworden? Meine
Gedanken tobten; ein Fluch tplan jagte den andere n… Sowie die
Flut den Damm wieder freigab, wollte ich mich zum Festland
aufmachen, zu Fuß, rennend und stolpernd, denn ich traute
weder dem lederbekleideten Chauffeur noch der wohlerzogenen
Haushälterin, und erst recht wagte ich nicht , eine der blassen,
geisterhaften Zofen in mein Vertrauen zu ziehen, denn sicher
waren sie alle seine Geschöpfe. War ich erst einmal im Dorf,
wollte ich mich sofort dem Schutz der Polizei unterstellen.
Aber – konnte ich denen denn trauen? Seine Ahnherren ha tten
diese Küste seit acht Jahrhunderten von diesem Schloß aus
regiert, dessen Burggraben der Atlantik selbst war. Standen nicht
vielleicht Polizeibeamte, Rechtsanwälte, selbst der Richter in
seinen Diensten und übersahen seine Verbrechen, weil er der
Herr war, dessen Wort man gehorchen muß? Wer in dieser
weltabgeschiedenen Gegend würde einem weißgesichtigen Mä d­
chen aus Paris glauben, das mit einer Schauergeschichte von Blut
und Angst und einem Ungeheuer angelaufen kam, das im Scha t­
ten murmelte? Oder noch ärger: Sie würden augenblicklich wi s­
sen, daß es wahr war. Aber ihre Ehre würde es ihnen verbieten,
mich mit dieser Geschichte davonkommen zu lassen.
Hilfe. Meine Mutter. Ich rannte zum Telefon; die Verbindung
war natürlich tot.
Tot wie seine Frauen.
Eine sc hwere Finsternis, von keinem einzigen Stern erhellt,
spiegelte sich noch immer in den Fenstern. In meinem Zimmer
brannten alle Lampen, um die Finsternis draußen zu halten, sie
schien mich jedoch zu umzingeln, neben mir zu verharren, als
wäre sie von meinen Lichtern nur maskiert, die Nacht wie ein
durchlässiger Stoff, der tief in meine Haut sickern konnt e. Ich
warf einen Blick auf die kostbare kleine Uhr mit den heuchlerisch
unschuldigen Blüten, die vor langer, langer Zeit in Dresden
gemacht worden war; die Zeiger waren kaum eine Stunde weite r­
gewandert, seit ich das erste Mal in sein privates Schlachthaus
hinuntergestiegen war. Auch die Zeit war sein Diener; sie würde
mich hier in der Falle halten, in einer Nacht, die erst endete,
wenn er zu mir zurückkam, wi e eine schwarze Sonne an einem
hoffnungslosen Morgen.
Und doch: die Zeit konnte auch mein Freund sein; in dieser
Stunde, genau in dieser Stunde segelte er nach New York ab.
Das Wissen, daß mein Mann in ein paar Minuten Frankreich
verlassen haben würde, bes chwichtigte meine Aufregung ein
wenig. Mein Verstand sagte mir, daß ich nichts zu fürchten hatte;
die Gezeiten, die ihn in die Neue We lt tragen würden, würden
mir den Weg aus der Gefangenschaft in diesem Schloß freim a­
chen. Der Dienerschaft konnte ich siche r mit Leichtigkeit en t­
kommen. Jeder kann sich am Bahnhof eine Fahrkarte kaufen.
Trotzdem war ich voller Unruhe. Ich klappte den Flügel auf;
vielleicht glaubte ich, daß mir jetzt mein eigener Zauber helfen
konnte, ein Schutzschild aus Musik, selbst geschaff en, der allen
Schaden von mir halten konnte, denn wenn ihn meine Musik als
erstes bestrickt hat, konnte sie mir dann nicht auch die Macht
verleihen, mich wieder von ihm zu befreien?
Mechanisch begann ich zu spielen, aber meine Finger waren
steif und zitter ten. Zuerst brachte ic h nichts zustande als die
Übungen von Czerny, aber schon das Spielen selbst besänftigte
mich, und zum Trost, wegen der harmonischen Rationalität der
sublimen Mathematik dieses Stücks, kramte ich so lange in seinen
Noten herum, bis ich das ›Wohltemperierte Klavie r‹ entdeckte.
Ich stellte mir selbst die therapeutische Aufgabe, alle Sätze von
Bach durchzuspielen, einen nach dem anderen, und ich sagte mir,
wenn ich sie alle ohne einen einzigen Fehler spielte – dann würde
mich der Morgen wieder als Jungfrau finden.
Das Klappern eines umfallenden Stockes.
Sein Spazierstock mit dem Silbergriff! Was denn sonst? Leise
und verstohlen war er zurückgekehrt; er wartete draußen vor der
Tür auf mich!
Ich stand auf; die Angst gab mir Kraft. Ich warf herausfordernd
den Kopf zurück.
»Herein!« Meine Stimme verblüffte mich durch ihre Festigkeit
und ihre Klarheit.
Die Tür öffnete sich langsam und zögernd, und ich erblickte
nicht die massige, verhängnisvolle Gestalt meines Gemahls,
sondern die leichte, gekrüm mte Figur des Klavierstimmers, und
er starrte mich weitaus verschreckter an, als es meiner Mutter
Tochter getan hätte, wenn sie den Teufel selbst gesehen hätte. In
der Folterkammer war es mir so vorgekommen, als könnte ich
niemals wieder lachen; jetzt konn te ich nichts als lachen, vor
Erleichterung, und nach einem Moment Zögern entspannte sich
auch das Gesicht des Jungen, und er lächelte ein wenig, fast
verschämt. Obgleich sie blind waren, hatten seine Augen einen
einzigartig warmen Blick.
»Bitte verzeihen Sie mir«, sagte Jean -Yves, »ich weiß, ich habe
Ihnen Grund gegeben, mich zu entlassen, weil ich um Mitte r­
nacht draußen vor Ihrer Tür gehockt hab e… Aber ich hörte, wie
Sie immer hin und her gegangen sind – ich schlafe in einer
Kammer am Fuß des Westturms –, und dann sagte mir eine
Eingebung, daß Sie nicht schlafen können und daß Sie die Stu n­
den der Schlaflosigkeit am Flügel verbringen werden. Und da
konnte ich nicht mehr widerstehen. Außerdem bin ich über dies
hier gestolpert…«
Damit hielt er mir den Schlüss elring entgegen, den ich vor der
Bürotür meines Gemahls fallen gelassen hatte, den Ring, an dem
der eine Schlüssel fehlte. Ich nahm es ihm ab und schaute mich
nach einem Platz um, wo ich es verbergen konnte, saß immer
noch wie festgenagelt auf meiner Klavi erbank, als ob es mich
schützte, wenn ich die Schlüssel versteckte. Er stand neben mir
und lächelte. Es war so schwer, ein Alltagsgespräch mit ihm zu
beginnen.
»Ausgezeichnet«, sagte ich, »der Flügel. Ausgezeichnet ge­
stimmt.«
Aber ihm saß der Schreck noch so in den Gliedern, daß er we i­
terreden mußte, als ob ich ihm seine Zudringlichkeit nur verg e­
ben könnte, wenn er mir die Gründe ausführlich erklärte.
»Als ich Sie heute nachmittag spielen hörte, da dachte ich, so
einen Anschlag habe ich noch nie gehört. So eine Technik. Es ist
ein Vergnügen für mich, einen Virtuosen zu hören! Deshalb habe
ich mich jetzt zu Ihrer Tür geschlichen, bescheiden wie ein kle i­
ner Hund, Madame, und ich hab’ mein Ohr ans Schlüsselloch
gelegt und immer nur zugehört – bis mein Stock auf den Boden
gefallen ist, weil ich einen Augenblick nicht au fgepaßt habe, und
so bin ich entdeckt worden.«
Er hatte ein ganz rührendes aufrichtiges Lächeln.
»Ausgezeichnet gestimmt«, wiederholte ich. Nachdem ich es
einmal gesagt hatte, stellte ich mit Schre cken fest, daß ich nichts
anderes zu sagen wußte. Ich konnte nur wiederholen: »Ausg e­
zeichnet… gestimm t… ausgezeichnet« , wieder und wieder. Ich
sah Verwunderung in seinem Gesicht aufsteigen. Mein Kopf
zersprang fast. Ihn in seiner schönen, blinden Menschlic hkeit vor
mir zu sehen, schien mich irgendwo innen in meiner Brust
schmerzhaft zu durchbohren; seine Gestalt verschwamm, das
Zimmer drehte sich um mich. Nach der entsetzlichen Entde k­
kung jener Blutkammer reichte sein sanftmütiger Anblick aus,
um mich in Ohnmacht sinken zu lassen.
Als ich das Bewußtsein wiedererlangte, merkte ich, daß ich in
den Armen des Klavierstimmers lag und daß er das Seidenkissen
von der Klavierbank unter meinen Kopf stopfte.
»Sie sind sehr verzweifelt«, sagte er, »keine Brau t sollte so viel
leiden. Nicht schon zu Beginn ihrer Ehe.«
Seine Stimme hatte den Rhythmus der Landschaft und der Ge­
zeiten.
»Jede Braut, die in dieses Schloß geführt wird, sollte schon in
Trauerkleidung kommen und einen Priester und einen Sarg
mitbringen«, antwortete ich.
»Was soll das bedeuten?«
Es war zu spät für Schweigen; und selbst wenn er auch eine der
Kreaturen meines Mannes war, so hatte er sich mir doch weni g­
stens freundlich erwiesen. Deshalb erzählte ich ihm alles, von
den Schlüsseln, dem Verbot, meinem Ung ehorsam, dem Raum,
dem Streckbett, dem Schädel, den Leichen, dem Blut.
»Das kann ich kaum glauben«, sagte er verstört, »dieser Herr…
so reich, so hochwohlgeboren.«
»Hier ist der Beweis«, sagte ich und ließ den verhängnisvollen
Schlüssel aus meinem Taschent uch auf den seidenen Teppich
fallen.
»O Gott«, sagte er, »ich kann das Blut riechen.«
Er nahm meine Hand, schlang seine Arme um mich. Obgleich
er kaum mehr war als ein Knabe, fühlte ich, daß sehr viel Kraft
aus seiner Berührung in mich hinüberfloß.
»Wir erzählen uns hier an der Küste insgeheim viele sonderbare
Geschichten«, sagte er, »einmal hat es einen Marquis gegeben, der
auf dem Festland junge Mädchen zu jagen pflegte, er hat sie mit
Hunden gehetzt, als ob sie Füchse wären. Mein Großvater hat
von seinem Großvater gehört, wie der Marquis einen Kopf aus
seiner Satteltasche gezogen und ihn dem Hufschmied gezeigt hat,
während der Mann sein Pferd beschlagen hat. ›Ein schönes Stück
der Gattung, eine Braune, he, Guillaume?‹ Es war aber der Kopf
von des Hufschmieds Frau.«
In diesen Zeiten dagegen, die demokratischer sind, muß mein
Gemahl ganz bis nach Paris reisen, um seine Jagd durch die
Salons veranstalten zu können. Jean -Yves merkte sofort, daß ich
zitterte.
»Oh, Madame! Ich habe immer gedacht, das wären Amme n­
märchen, Narrengeschwätz, Gespenstergeschichten, um unartige
Kinder einzuschüchtern! Wie hätten Sie auch wissen sollen, eine
Fremde, daß der alte Name für diesen Platz Mordschloß lautet?«
Wahrhaftig, wie hätte ich das wissen sollen? Außer ich hätte im
tiefsten Herzensgrunde immer schon gewußt, daß sein Herr mein
Tod sein würde.
»Horch!« sagte mein Freund plötzlich, »das Meer hat seinen
Ton verändert; es muß fast Morgen sein, die Flut läuft jetzt
zurück.«
Er half mir auf, ich sah aus dem Fenster zum Festland hinüber,
den Damm entlang, wo die Steine feucht im schwachen Licht der
sinkenden Nacht glänzten, und mit einem fast namenlosen En t­
setzen, einem solchen Entsetzen, wie ich es niemals beschreiben
kann, sah ich in der Ferne – noch weit weg, aber in jedem Au­
genblick mehr sich nähernd, unausweichlich, die Zwillingslampen
seines großen schwarzen Wagens, wie sie sich helle Tunne l durch
den Morgennebel fraßen.
Mein Mann war also wirklich umgekehrt; diesmal war es keine
Einbildung.
»Der Schlüssel!« sagte Jean -Yves, »er muß wieder an den Ring,
zu den anderen, als wäre nichts geschehen.«
Aber der Schlüssel war immer noch mit feuchtem Blut be­
schmiert, und ich rannte in mein Badezimmer und hielt ihn unter
den heißen Hahn. Hellrotes Wasser sprudelte in den Abfluß, aber
als ob der Schlüssel selbst verwundet wäre, blieb das blutige Mal.
Die Türkisaugen der Delphine blinzelten mir höhnisch zu, sie
wußten, daß mein Mann zu klug für mich war! Ich scheuerte den
Fleck mit meiner Nagelbürste, aber er ließ sich nicht entfernen.
Ich stellte mir vor, wie das Auto lautlos auf das geschlossene
Hoftor zurollte; je mehr ich den Schlüssel scheuerte, desto he ller
leuchtete der Fleck.
Die Glocke im Pförtnerhaus würde anschlagen. Der Sohn des
Torwärters würde jetzt verschlafen die Steppdecke zurückschl a­
gen, gähnen, das Hemd über den Kopf ziehen, mit den Füßen in
die Stiefel fahren… Mach langsam, ach, mach langsam; öffne das
Tor, so langsam du kannst, für deinen Herrn…
Und immer noch triumphiert der Blutfleck über das frische
Wasser, das aus dem Maul des spottenden Delphins rauscht.
»Sie haben keine Zeit mehr«, sagte Jean -Yves, »er ist schon da.
Ich weiß es. Ich will bei Ihnen bleiben.«
»Das dürfen Sie nicht!« entgegnete ich, »gehen Sie jetzt in Ihr
Zimmer zurück, bitte.«
Er zögerte. Ich ließ meine Stimme fest und stählern klingen,
denn ich wußte, ich mußte meinem Herrn allein begegnen.
»Verlassen Sie mich!«
Kaum war er gegangen, beschäftigte ich mich mit den Schlü s­
seln und ging in mein Schlafzimmer. Der Damm war leer; Jean -
Yves hatte recht, mei n Gemahl hatte das Schloß schon betreten.
Ich zog die Vorhänge zu, streifte meine Kleider ab und zog auch
die Bettvorhänge dicht um mich, da kündigte mir eine schwüle
Wolke von Russisch Leder an, daß mein Ehemann wieder an
meiner Seite war.
»Liebste!«
Mit heuchlerischer und lasziver Zärtlichkeit küßte er meine
Augen, und ich spielte die eben erwachte junge Braut und
schlang meine Arme um ihn, denn von meiner äußeren Ruhe
konnte mein Heil abhängen.
»Da Silva in Rio hat mich überboten«, sagte er mit einer Gr i­
masse, »mein New Yorker Agent hat ein Telegramm nach Le
Havre geschickt und mir eine vergebliche Reise erspart. So kö n­
nen wir mit unseren unterbrochenen Freuden fortfahren, meine
Liebste.«
Ich glaubte ihm kein Wort. Ich wußte, ich hatte mich genau
seinen Wünschen entsprechend verhalten; hatte er mich nicht
gekauft, damit ich gerade dieses tat? Ich war in meinen eigenen
Verrat an dieser grenzenlosen Finsternis hineingelockt worden,
ich war gezwungen worden, ihre Quelle in seiner Abwesenheit zu
suchen, und je tzt, da ich auf seine schattenha fte Wirklichkeit
gestoßen war, die nur im Angesicht ihrer eigenen Greueltaten
zum Leben erwachte, mußte ich den Preis für diese neue Er­
kenntnis zahlen. Das Geheimnis der Büchse der Pandora; aber er
selbst hatte mir die Büchs e gegeben, er hatte gewußt, daß ich das
Geheimnis erfahren mußte. Ich hatte ein Spiel gespielt, in dem
jede Bewegung von einem Geschick gelenkt worden war, so
lastend und so allmächtig wie er selbst, denn das Geschick war er
selbst; und ich hatte verloren. Verloren bei dieser Scharade aus
Unschuld und Laster, in die er mich verstrickt hatte. Verloren,
wie das Opfer verliert gegen den Henker.
Seine Hand strich mir unter dem Laken über die Brust. Ich
versuchte mich zu beherrschen, konnte jedoch nicht anders als
vor dieser intimen Berührung zurückweichen, denn sie erinnerte
mich an die durchbohrende Umarmung der Eisernen Jungfrau
und an seine verlorenen Geliebten im Gewölbe. Als er meinen
Widerstand merkte, verschleierten sich seine Augen, ohne daß
ihm der Appe tit vergangen wäre. Seine Zunge fuhr über rote,
schon feuchte Lippen. Schweigend, geheimnisvoll schob er sich
von mir fort, um sich die Jacke auszuziehen. Er zog die goldene
Uhr aus seiner Weste und legte sie wie ein braver Bürger auf den
Nachttisch; schar rte das klimpernde Kleingeld zusammen und
jetzt – o Gott! –, jetzt beginnt er ein großes Theater und klopft
sich seine Taschen ab, schürzt nachdenklich die Lippen, sucht
nach etwas, das er wohl verlegt hat. Dann wendet er sich mit
einem grausamen, triumphierenden Lächeln an mich.
»Aber natürlich! Die Schlüssel hatte ich ja dir gegeben!«
»Deine Schlüssel? Ja, freilich! Hier, unter diesem Kissen; einen
Augenblick – was, ah! Nei n… Also, wo kann ich sie denn gela s­
sen haben? Jetzt fällt’s mir wieder ein, ich hab e mir den Abend
ohne dich am Flügel vertrieben. Ja, natürlich! Das Musikzimmer!«
Barsch warf er mir mein Négligé aus antiker Spitze aufs Bett.
»Dann lauf und hol sie.«
»Jetzt? In diesem Augenblick? Hat das nicht bis morgen Zeit,
mein Liebster?«
Ich zwang mich, verführerisch zu sein. Ich sah mich selbst,
blaß, schwankend wie eine Pflanze, die darum bettelt, zertrampelt
zu werden, ein Dutzend verletzliche, flehende Mädchen, in ebe n­
so vielen Spiegeln wiedergegeben, und ich sah, wie er mir fast
nicht widerstehe n konnte. Wenn er zu mir ins Bett gekommen
wäre, dann hätte ich ihn erwürgt.
Aber so schnaubte er halb: »Nein. Ich will nicht warten. Jetzt.«
Das unirdische Licht der Morgendämmerung füllte den Raum;
hatte ich an diesem Schreckensort wirklich erst einen ei nzigen
Tag gelebt? Und es blieb mir nichts anderes übrig, als hinunterzu­
laufen und die Schlüssel von der Klavierbank zu holen und
darum zu beten, daß er sie nicht zu gründlich mustern würde, zu
Gott zu beten, daß ihn seine Augen im Stich ließen, daß er mit
Blindheit geschlagen würde.
Als ich ins Schlafzimmer zurückkam, den Schlüsselring in der
Hand, der bei jedem Schritt klirrte wie ein wunderliches Musiki n­
strument, saß er in seinem schneeweißen Hemd auf dem Bett,
den Kopf tief in den Händen vergraben.
Es kam mir vor, als wäre er verzweifelt.
Sonderbar. Trotz meiner Angst vor ihm, die mich weißer mach­
te als mein Nachthemd, fühlte ich dort, in jenem Augenblick den
Gestank abgrundtiefer Verzweiflung von ihm ausgehen, scharf
und ekelhaft, als hätten die Lilien um ihn herum zu verfaulen
begonnen oder als zerfiele der Geruch von Russisch Leder an
ihm in die Elemente, aus denen es zusammengesetzt ist: abgez o­
gene Felle und Exkremente. Die unterirdische Schwerkraft seiner
Gegenwart verursachte einen ungeheuerlichen Druck im Raum,
so daß das Blut in meinen Ohren rauschte, als ob wir bis zum
Grund der See gesunken wären, unter die Wellen, die ans Ufer
schlugen.
Ich hielt mein Leben zwischen diesen Schlüsseln in der Hand,
und einen Augenblick später würde ich es in seine wohlmanikür­
ten Finger legen. Die Existenz jener Blutkammer hatte mich
davon überzeugt, daß ich keine Gnade erwarten konnte. Als er
jedoch den Kopf hob und mich mit seinen bli nden, verhängten
Augen anblickte, als ob er mich nicht erkennen könnte, empfand
ich ein entsetzliches Mitleid mit ihm, mit di esem Mann, der an so
seltsamen, geheimen Orten lebte, daß ich, wenn ich ihn genug
liebte, um ihm zu folgen, sterben mußte.
Die schreckensvolle Einsamkeit dieses Ungeheuers!
Das Monokel war ihm aus dem Gesicht gef allen. Seine lockige
Mähne war zerzaust, als ob er sich in seiner Verzweiflung durch
die Haare gefahren wäre. Ich merkte, daß er seinen Gleichmut
verloren hatte und nun voll unterdrückter Erregung war. Die
Hand, die er nach diesen Figuren in seinem Spiel von Liebe und
Tod ausstreckte, zitterte leicht; das Gesicht, das er mir zuwandte,
zitterte düster, wie – so schien mir – in einer gräßlichen Scham,
aber auch in einer furchtbaren, schuldbeladenen Freude, als er
sich bedächtig davon überzeugte, wie sehr ich gesündigt hatte.
Der verräterische Fleck hatte sich verwandelt in ein Mal von
der Form und der leuchtenden Farbe der Herzen auf Spielkarten.
Er löste den Schlüssel vom Ring und brütete einsam eine Zei t­
lang über ihm.
»Es ist der Schlüssel zum Königreich des Unvorstellbaren«,
sagte er. Seine Stimme klang tief und voll wie manche Domo r­
geln, die sich, wenn sie gespielt werden, mit Gott zu unterhalten
scheinen.
Ich konnte einen Schluchzer nicht unterdrücken.
»Oh, meine Liebste, meine kleine Liebste, die mir ein weißes
Geschenk aus Musik gebracht hat«, sagte er fast wie in tiefer
Trauer, »meine kleine Liebste, du wirst niemals ahnen, wie sehr
ich das Tageslicht hasse!«
Dann befahl er scharf: »Knie nieder!«
Ich kniete mich vor ihn, und er drückte mir den Schlüssel leicht
an die Stirn; er hielt ihn einen Augenblick lang dort fest. Ich
fühlte ein schwaches Prickeln auf der Haut, und als ich mich
zufällig selbst im Spiegel sah, bemerkte ich, daß sich der her z­
förmige Fleck auf meine Stirn übertragen hatte, er saß zwisch en
den Augenbrauen wie das Kastenzeichen einer Brahmanin. Oder
das Kainsmal. Und jetzt glänzte der Schlüssel wieder so blank, als
wäre er eben erst gehämmert worden. Er klippte ihn wieder an
den Ring und stieß den gleichen schweren Seufzer aus wie da­
mals, als ich gesagt hatte, daß ich ihn heiraten wolle.
»Meine Jungfrau von den Arpeggios, bereite dich auf dein Ma r­
tyrium vor.«
»Was wird das sein?« fragte ich.
»Enthauptung«, flüsterte er, fast wollüstig, »geh und bade dich;
zieh das weiße Kleid an, das du bei m ›Tristan‹ getragen hast und
das Halsband, das auf dein Ende weist. Und ich werde mich in
die Waffenkammer begeben, meine Liebste, um das Zeremon i­
enschwert meines Urgroßvaters zu schleifen.«
»Und die Dienstboten?«
»Für unsere letzten Riten werden wir ganz unter uns sein; ich
habe sie schon entlassen. Wenn du aus dem Fenster blickst, so
kannst du sie zum Festland hinübergehen sehen.«
Es herrschte jetzt das helle, blasse Licht des Morgens; der
Himmel war grau, unbestimmt, die Wogen träge wie Öl und
drohend, ein trüber Tag zum Sterben. Ich sah sie den Damm
entlang davontrappeln, alle Hausmädchen und Abwäscherinnen,
alle Küchenjungen und Köche, Kammerdiener, Wäscherinnen
und Vasallen, die in dem großen Haus gearbeitet haben, die
meisten liefen zu Fuß, ein paar hatten Fahrräder. Die gesichtslose
Haushälterin marschierte mit einem großen Korb am Arm, in
den sie vermutlich alles hineingestopft hatte, was sie aus den
Vorratsregalen zusammenraffen konnte. Der Marquis mußte dem
Chauffeur gestattet haben, sich für dies en Tag den Wagen ausz u­
leihen, denn er kam als letzter und fuhr so langsam, als wäre der
Auszug der Leute ein Trauerzug und der Wagen trüge schon
meinen Sarg zur Beerdigung auf dem Festland.
Ich wußte jedoch, mich würde keine gute bretonische Erde
bedecken wie ein letzter, treuer Liebster; auf mich wartete ein
anderes Schicksal.
»Ich habe ihnen allen einen Tag freigegeben, zur Feier unserer
Hochzeit«, sagte er. Und lächelte.
So genau ich mir auch die abziehende Gesellschaft betrachtete,
ich sah nichts von Je an-Yves, unserm letzten Diener, der erst am
Tag zuvor angestellt worden war.
»Nun lauf. Bade dich und zieh dich an. Rituelle Reinigung und
zeremonielle Verhüllung; danach das Opfer. Warte im Musi k­
zimmer, bis ich dich anrufe. Nein, meine Liebe!« Er lächelte , als
ich ihn an die tote Verbindung erinnern wollte. »Innerhalb des
Schlosses kann man soviel telefonieren, wie man will; aber hinaus
– niemals mehr.«
Ich scheuerte meine Stirn ebenso mit der Nagelbürste, wie ich
den Schlüssel gescheuert hatte, aber dieser rote Fleck wollte nicht
verschwinden, was ich auch tat. Und ich wußte nun, daß ich ihn
tragen würde, bis ich starb. Das würde freilich auch nicht mehr
lange dauern. Dann ging ich in mein Ankleidezimmer und legte
jenes weiße Musselinkleid an, das er mir gekauft hatte, damit ich
darin den ›Liebestod‹ hören konnte. Zwölf junge Frauen bürst e­
ten sich in den Spiegeln zwölf spröde Schöpfe aus braunem
Haar; bald würde es keine einzige mehr geben. Die Lilien, die
mich in Hülle und Fülle umgaben, strömten jetzt ihr en welke n­
den Duft aus. Sie sahen aus wie die Trompeten von Todesengeln.
Auf der Frisierkommode lag aufgerollt wie eine Schlange, die
gleich zum Biß emporfährt, das Rubinhalsband.
Schon fast nicht mehr lebendig, kalt bis ans Herz, stieg ich die
Wendeltreppe zum Musikzimmer hinunter, doch dort fand ich,
daß ich nicht ganz verlassen war.
»Ich kann es Ihnen leichter machen«, sagte der Junge, »nutzen
kann ich Ihnen nicht.«
Wir schoben die Klavierbank vor das offene Fenster, so daß ich
so lange wie möglich den ur alten, friedenbringenden Duft des
Meeres einatmen konnte, das im Laufe der Zeiten alles reinigt,
alte Knochen weiß wäscht, alle Flecken fortspült. Das letzte
kleine Kammermädchen war vor langer Zeit über den Damm
getrottet, und jetzt stieg die Flut, vom Sc hicksal gelenkt wie ich,
und die ersten Wellen schäumten über die alten Pflastersteine.
»Das verdienen Sie nicht«, sagte er.
»Wer kann sagen, was ich verdiene oder was ich nicht verdi e­
ne?« erwiderte ich, »ich habe nichts getan, aber das mag reichen,
um mich zu verurteilen.«
»Sie haben ihm nicht gehorcht«, sagte er, »das reicht für ihn als
Grund, Sie zu bestrafen.«
»Ich hab’ nur etwas getan, von dem er wußte, daß ich es tun
würde.«
»Wie Eva«, antwortete er.
Das Telefon klingelte schrill und befehlend. Laß es läuten. Aber
mein Liebster hob mich auf und stellte mich auf meine Füße; ich
weiß, ich muß mich melden. Der Hörer fühlte sich schwer an wie
Erde.
»Im Hof. Unverzüglich.«
Mein Liebster küßte mich, nahm meine Hand. Er würde mich
begleiten, wenn ich ihn führ te. Mut. Wenn ich an Mut dachte,
dachte ich an meine Mutter. Dann sah ich einen Muskel im
Antlitz meines Liebsten zucken.
»Hufschläge!« sagte er.
Ich warf einen letzten, verzweifelten Blick aus dem Fenster und
sah, wie ein Wunder, ein Pferd mit Reiter in halsbrecherischer
Geschwindigkeit den Damm entlanggaloppieren, obgleich die
Brandung jetzt dagegendonnerte und dem Pferd bis an die Fe s­
seln schäumte. Eine Reiterin, die schwarzen Röcke bis zur Hüfte
aufgewickelt, damit sie schnell und stetig reiten kann, ei ne ve r­
rückte, kühne Reiterin in Witwentracht.
Das Telefon schrillte wieder.
»Muß ich den ganzen Morgen warten?«
Mit jedem Augenblick kam meine Mutter näher.
»Sie kommt zu spät«, sagte Jean -Yves, aber auch er konnte den
Klang der Hoffnung nicht unterdrücken , daß es, obgleich es so
sein mußte, vielleicht doch nicht so zu sein brauchte.
Das dritte, durchdringende Schrillen.
»Soll ich in den Himmel steigen, um dich herunterzuholen, he i­
lige Cäcilie? Willst du, verdorbenes Weib, daß ich all meine
Verbrechen dadur ch übertreffe, daß ich das Hochzeitsbett
schände?«
So mußte ich also in den Hof hinuntergehen, wo mein Gemahl
wartete, in seinen Londoner Schneiderhosen und dem Maßhemd,
neben dem Richtklotz, mit beiden Händen das Schwert haltend,
das sein Urgroßvater dem kleinen Korporal übergeben hatte –,
bevor er sich selbst erschoß. Ein schweres Schwert, ohne Sche i­
de, grau wie jener Novembermorgen, scharf wie der Entbi n­
dungsschmerz, tödlich.
Als mein Gemahl meinen Begleiter sah, bemerkte er: »Lasset
die Blinden die Blin den führen, wie? Aber kann selbst ein so
beschränktes junges Ding wie du sich vormachen, es wäre wir k­
lich blind für seine eigenen Begierden gewesen, als es meinen
Ring nahm? Gib ihn mir zurück, du Hure.«
Die Feuer in meinem Opal waren längst verloschen. Ic h streifte
ihn mir freudig vom Finger, und selbst an diesem schmerzensre i­
chen Wort war mein Herz leicht und erleichtert, daß ich ihn los
war. Mein Gemahl nahm ihn liebevoll entgegen und steckte ihn
auf die Spitze seines kleinen Fingers; weiter ging er nicht.
»Er wird mir noch für ein Dutzend anderer Verlobter dienen«,
sagte er, »auf den Bock, Weib. Nein, laß den Jungen; den werde
ich mir später vornehmen, freilich mit einem schlichteren In­
strument als dem, mit dem ich meiner Frau die Ehre ihrer Opf e­
rung ant ue. Hab also keine Angst, im Tod werdet ihr nicht ge­
trennt.«
Langsam, langsam überquerte ich die Pflastersteine, setzte einen
Fuß vor den anderen; je länger ich meine Hinrichtung hinausz ö­
gerte, desto mehr Zeit gab ich dem Racheengel, herbeizubra u­
sen…
»Bummel nicht, Mädchen! Bildest du dir etwa ein, ich verliere
den Appetit auf die Speise, wenn du so mit dem Servieren tr ö­
delst? Nein; ich werde mit jedem Augenblick hungriger und
gefräßiger und grausame r… Lauf zu mir, lauf! Ich hab ’ für de i­
nen erlesenen Leichn am einen ganz besonderen Platz in meiner
Ausstellung vorbereitet!«
Er hob das Schwert und hieb damit funkelnde Scheiben aus der
Luft, aber ich zögerte immer noch, obgleich meine Hof fnungen,
eben noch so hoch, wieder zu sinken begannen. Wenn sie jetzt
noch nicht hier ist, muß ihr Pferd auf dem Damm gestolpert sein,
ist es vielleicht in die See gestürzt… Nur eins machte mich noch
froh; daß mein Liebster mich nicht sterben sehen würde.
Mein Gemahl bettete meine gezeichnete Stirn auf den Klotz,
schlang meine Ha are, wie er es schon einmal getan hatte, zu
einem Seil und legte meinen Hals frei.
»So ein schöner Nacken«, sagte er mit scheinbar echter, we h­
mütiger Zärtlichkeit, »ein Nacken wie der Stengel einer jungen
Pflanze.«
Ich fühlte die Seidenbürste seines Bartes und die feuchte Be­
rührung seiner Lippen, als er meinen Nacken küßte. Und abe r­
mals durfte ich nur mein Geschmeide anbehalten; die scharfe
Klinge zerschlitzte mein Kleid in zwei Hälften, und es sank
neben mir nieder. Etwas grünes Moos, das in den Ritzen des
Richtklotzes wuchs, würde das letzte sein, das ich auf dieser We lt
sehen sollte. Das Sausen des schweren Schwerts.
Und dann – lautes Hämmern und Poltern am Tor, das rasende
Wiehern eines Pferdes! In einem einzigen Augenblick ist das
unheilige Schweigen de s Ortes zerbrochen. Die Klinge fuhr nicht
nieder, das Halsband riß nicht, mein Kopf rollte nicht. Denn eine
Sekunde lang schwankte das Ungeheuer beim Streich, ein Seku n­
denbruchteil von verblüffter Unentschiedenheit, und ich sprang
hoch und stürzte meinem Liebsten zu Hilfe, der sich blind mit
den großen Riegeln abmühte, die sie noch aussperrten.
Der Marquis stand da, erstarrt, völlig benommen, verloren. Es
mußte ihm vorkommen, als säh e er seinen geliebten ›Tristan‹
zum zwölften, zum dreizehnten Male, und Tri sten regte sich und
sprang im letzten Akt von der Totenbahre, verkündete in einer
eingeschobenen Jubelarie von Verdi, man solle die Toten tot
bleiben lassen, Schwamm drüber, seiner Meinung nach solle man
glücklich und in Frieden leben. Und wenn er nicht ge storben
ist… Der Puppenspieler sah mit offenem Munde, weit aufgeri s­
senen Augen, in äußerster Ohnmacht, wie sich seine Puppen von
ihren Fäden rissen, alle Rituale hinter sich ließen, die er ihnen
von Anbeginn an vorgeschrieben hatte, und statt dessen anfi n­
gen, ihr eigenes Leben zu leben; der König verfolgte fassungslos
den Aufstand seiner Lehnsherren.
Etwas so Wildes wie meine Mutter hat noch keiner gesehen,
ihren Hut hatte der Sturm gepackt und auf das Meer hinausg e­
weht, so daß sich ihr Haar in eine weiße M ähne verwandelt hatte,
ihre Beine, die in langen schwarzen Baumwollstrümp fen stec k­
ten, waren frei bis zu der Hü fte, die Röcke hatte sie sich in den
Gürtel gesteckt, mit der einen Hand zügelte sie das sich bäume n­
de Pferd, während sich die andere fest um mei nes Vaters Armee­
revolver schloß. Und hinter ihr die Brecher der wüsten, gleichgül­
tigen See, wie Zeuginnen bei einer leidenschaftlichen Gericht s­
barkeit. Und mein Gemahl stand stocksteif da, als wäre sie Me­
dusa, er hatte das Schwert immer noch hoch über den Kopf
erhoben, wie auf diesen bunten Bildapparaten von Blaubart, die
man auf Jahrmärkten bewundern und aufziehen kann.
Und dann war es, als hätte ein neugieriges Kind seine Münze in
den Schlitz gesteckt und alles in Gang gesetzt. Die massige,
bärtige Gestal t stieß einen lauten Schrei aus, brüllte vor Wut,
schwang das ehrenwerte Schwert, als ging es um eine Angelege n­
heit von Ruhm oder Tod, und griff uns an, alle drei.
An ihrem achtzehnten Geburtstag war meine Mutter mit einem
menschenfressenden Tiger fertig geworden, der die Dörfer in
den Hügeln nördlich von Hanoi in Schrecken versetzt hatte. Jetzt
hob sie, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, die Waffe
meines Vaters, zielte und schoß meinem Gemahl eine einzige
unwiderstehliche Kugel durch den Kopf.

Wir führen ein ruhiges Leben, zu dritt. Ich habe natürlich une r­
meßliche Reichtümer geerbt, aber das meiste haben wir an woh l­
tätige Stiftungen verschenkt. Das Schloß ist jetzt eine Schule für
Blinde, und ich bete, daß die Kinder, die hier wohnen, nicht von
irgendwelchen trübseligen Gespenstern erschreckt werden, die
den Gemahl suchen und nach ihm weinen, den Gemahl, der
niemals mehr in die Blutkammer zurückkehren wird, denn ihr
Inhalt ist verbrannt oder begraben, die Tür versiegelt.
Ich fand, ich hatte ein Recht dazu, ein ausreichendes Vermögen
zurückzulegen, damit ich hier, am Rande von Paris, eine kleine
Musikschule aufbauen konnte, und wir kommen gut zurecht.
Manchmal können wir es uns sogar leisten, in die opéra zu gehen,
obgleich wir natürlich nie in einer Loge sitzen können. Wir wi s­
sen, daß wir die Quelle von allerlei Gerüchten und sehr viel
Klatsch sind, aber wir drei kennen die Wahrheit, und bloßes
Geschwätz kann uns nichts anhaben. Ich kann nur die – wie soll
ich es nennen? – die mütterliche Telepathie preisen, die meine
Mutter in jener Nacht nach meinem Anruf direkt vom Telefon
zum Bahnhof getrieben hat. Ich habe dich nie vorher weinen
hören, sagte sie, wie zur Erklärung. Nicht, wenn du glücklich
warst. Und wer hat je über goldene Badehähne geweint?
Der Nachtzug, der gleiche, den ich genommen hatte; sie lag in
ihrem Bett, genauso schlaflos, wie ich war. Als sie vor der verla s­
senen Bahnstation kein Taxi fand, lieh sie sich den alten Dobbin
von einem verwirrten Bauern, denn irgendeine innere Stimme
sagte ihr, sie müßte mich erreichen, ehe die aufsteigende Flut uns
für ewig trennte. Meine arme alte Kinderfrau war schimpfend zu
Hause geblieben – Was? Mylords Flitterwochen unterbrechen?
Sie starb kurz darauf. Es hatte ihr so viel verstohlene Freude
gemacht, daß ihr kleines Mädchen eine Marquise geworden war,
und nun war ich wieder da und kaum einen Penny reicher, mit
siebzehn unter den verdächtigsten Umständen verwitwet und
schon emsig damit beschäftigt, mir ein Haus mit einem Klavie r­
stimmer einzurichten. Arme Alte, sie verschied in einem betrübl i­
chen Zustand der Enttäuschung! Aber ich glaube wirklich, meine
Mutter liebt ihn genauso wie ich.
Keine Schminke und kein Puder, wie dick ich sie auch auftrage ,
kann das rote Mal auf meiner Stirn verbergen; ich bin froh, daß
er es nicht sehen kann – nicht, weil ich fürchte, daß er mich nicht
mehr mag, denn ich weiß, er sieht mich mit dem Herzen; aber: es
erspart mir die Scham.
DORIS LESSING

Zwischen Männern

Der Sessel gegenüber der Tür hatte einen kaffeebraunen Satin be­
zug. Maureen Jeffries trug ein dunkelbraunes Seidentrikot, dazu
eine weiße Rüschenbluse. In dem großen Ohrensessel würde sie
zum Vernaschen aussehen. Kaum hatte sie sich darin zurechtg e­
setzt, als sie auch schon wieder aufstand (mit einem traurigen
Lächeln, dessen sie sich bestimmt nicht bewußt war) und sich
weniger dramatisch in die Ecke des gelben Sofas plazierte. Hier
blieb sie minutenlang sitzen und überlegte, daß es immerhin in
ihrer schriftlichen Einladung, wenn auch scherzhaft, geheißen
hatte (es wa r ihr klar, daß die Wendung etwas Kokettes an sich
hatte, was sie überhaupt nicht mochte): »Komm her und lern
mein neues Ich kennen!« Neu an ihr waren: ihre Frisur, weiter,
daß sie über sechs Kilo abgenommen hatte und daß sie von der
Natur (ein Lieblings wort von ihr) wieder mit einem zarten Teint
ausgestattet worden war. Zweifellos käme dies alles in dem gr o­
ßen braunen Sessel besser zur Geltung: Sie nahm wieder ihren
früheren Platz ein.
Daß sie sich zum zweitenmal auf das gelbe Sofa zurückbegab,
geschah au s purer Anständigkeit, einer rein freundschaftlichen
Überlegung. Peggy Bayley überhaupt zu sich einzuladen, das war
bereits mutig von ihr, sie hatte ihren Stolz herunterschlucken
müssen. Doch Peggy wäre nicht in der Lage, mit dieser seidenen
Rüschenbluse und all dem, was sie so vorteilhaf t unterstrich,
mitzuhalten; und wenn dies auch gerade wegen Peggys Vorteilen
geschähe – sie war sorgenfrei mit einem Professor Bayley verhe i­
ratet (dessen Geliebte, sie, Maureen, vier Jahre lang gewesen war)
–, so brauchte sie ihr dennoch nicht ihre eigene, Maureens, wi e­
dergewonnene und tatsächlich unglaubliche Attraktivität unter
die Nase zu reiben, auch wenn sie es mit den Worten ›mein neues
Ich‹ angekündigt hatte.
Überdies war ihre Attraktivität alles, was sie, Maureen, be saß,
um der Welt wieder entgegentreten zu können; und warum diese
nicht gegenüber der Frau des Professors Bayley zur Schau stellen,
der nicht sie, sondern statt dessen Peggy geheiratet hatte? Ob­
wohl (flüsterte sie heftig und bitter vor sich hin), wenn sie Tom
Bayley dazu verführt, ein bißchen nachgeholfen hätte, wäre sie
nun zweifellos Mrs. Bayle y… Sie würde zu dem braunen Sessel
zurückgehen.
Aber hätte sie Tom dazu verführt, dann wäre ihr nur recht ge­
schehen – so wie Peggy gewiß zu Recht –: Tom Bayley hatte von
Anfang der Ehe an auf einem zweiten Junggesellen -Apartment
bestanden, das sie, Maureen, niemals betreten durfte, genaus o­
wenig wie Peggy. Unter solchen Bedingungen hätte sie, Maureen,
sich geweigert zu heiraten, das mußte sie sich schon hoch an­
rechnen; ja, daß sie auf Toms Treue bestanden hatte – der von
Natur aus ein Schürzenjäger war –, war zweifellos der Grund,
weshalb er sie Peggys wegen verlassen hatte.
Im ganzen beneidete sie also Peggy nicht ernsthaft, die es zur
Heirat mit dem herausragenden un d attraktiven Professor ge­
bracht hatte, als sie schon fast vierzig war, und zwar um den
Preis, daß ihr von Anfang an klar war, sie würde nicht die einzige
Frau in seinem Leben sein; und wenn man bedachte, daß die
Heirat mit dem ältesten Trick der We lt zust ande gebracht wo r­
den war…
Bei diesem Gedanken verließ Maureen zum drittenmal den
braunen Sessel, und da sie das gelbe Sof a zu demonstrativ fand,
setzte sie sich in einem Anfall von Selbstekel auf den Boden. Sie
unterzog den Verfallsprozeß ihres Charakters einer Prüfung,
während sie doch unfähig war, dem Strom bitterer Gedanken
über Peggy Einhalt zu gebieten. Dieses Sich -selbstkritisch-einer­
Prüfung-Unterziehen, ja, damit hatte sie sich während der let zten
sechs Monate ihres halben Rückzugs ebenso beschäftig t wie mit
der Gewichtsabnahme von sechs Kilo und dem Wiedererla ngen
ihrer Schönheit.
Und die hatte sie wieder: Sie war neununddreißig und hatte sich
noch nie so attraktiv gefühlt. Der Wildfang, der sein Zuhause in
Iowa aufgegeben hatte für die Ungebundenhe it in New York,
war reizend gewesen – so wie jedes junge Mädchen, das einige r­
maßen ausgestattet ist, reizend ist –, doch was sie jetzt darstellte,
war das Ergebnis zwanzigjährige r Arbeit an sich. Und auch das
anderer… Sie war eine kleine, rundliche Schönhe it mit weißer
Haut, großen braunen Augen und schwarzen Haaren; ihre Fähi g­
keit, Anteil zu nehmen, ihre Sanftheit, ihre Anziehungskraft
dagegen waren das Werk der Liebesbeziehungen zu einem Du t­
zend intelligenter Männer. Nein, sie verspürte nicht den gerin g­
sten Neid auf ihr Ich von achtzehn Jahren. Neidisch war sie
wohl, und zwar jeden Tag stärker, auf die ursprüngliche Una b­
hängigkeit, Großzügigkeit, den geistigen Horizont und den Mut
des jungen Mädchens von damals.
Vor sechs Monaten hatte ihr letzter – und si e hatte gehofft, ihr
endgültig letzter – Liebhaber, Jack Boles, sie verlassen; ze r­
schmettert blieb sie zurück, und es ging ihr durch den Sinn, daß
noch vor zwanzig Jahren – eigentlich nur zehn Jahren – sie die
Liebhaber abgelegt hatte; sie war es gewesen, die gesagt hatte –
wie Jack nun, verlegen und schuldbewußt, doch nicht mehr als
unbedingt nötig –: »Es tut mir leid, verzeih mir, ich geh e.« Und –
und das war das Entscheidende – sie hatte nie die Folgen für sich
bedacht, hatte von keinem Mann Geld genommen, ausgeno m­
men das, was sie als ihren Verdienst ansah; sie war immer sie
selbst geblieben. (In ihrer Zeit mit Jack hatte sie Meinungen
vertreten, die nicht die ihren waren, nur um ihm zu gefallen: Er
war ein Mann, der es nicht mochte, wenn Frauen ihm nicht
zustimmten.) Vor allem hatte es sie keinen Augenblick gekü m­
mert, was die Leute dachten. Als Jack sie aber sitzenließ, nach
einer Liebschaft, die monatelang durch die Presse gegangen war
(›Berühmter Filmregisseur teilt in Cannes Apartment mit der
Malerin Mau reen Jeffries‹), war ihr allererster Gedanke: Ausl a­
chen wird man mich. Sie hatte jedem – mit guten Gründen –
erzählt, er werde sie heiraten. Dann hatte sie gedacht: Er war ja
weniger als ein Jahr mit mir zusammen; keiner vorher ist meiner
so schnell überdr üssig geworden. Danach: Die Frau, wegen der
er mich hat sitzenlassen, kann mir doch nicht das Wasser reichen,
kann nicht einmal kochen. Und wieder zum Anfang ihrer Übe r­
legungen: Bestimmt lacht man über mich. Selbstverachtung
wirkte in ihr wie ein Gift, bes onders da sie unfähig war, Jack
gehen zu lassen, ihn mit Anrufen, Briefen, Vorwürfen, Mahnu n­
gen, er habe ihr die Ehe versprochen, verfolgte. Sie sprach von
dem, was sie ihm gegeben hatte; ja, tat genau das, was sie an
Frauen aufs tiefste verachtete. Vor al lem hatte sie noch nicht
dieses Apartment verlassen, dessen Miete er gerade kürzlich für
fünf Jahre bezahlt hatte. Worauf das hinauslief, war, er wollte sie
mit dem kostenlosen Überlassen des Apartments abfinden.
Und statt schnurstracks mit ihren Kleidern wegzugehen (auf die
hatte sie doch wohl ein Recht, oder?), war sie immer noch hier,
machte sich schön und kämpfte gegen die schreckliche Angst an.
Als sie mit achtzehn ihr Vaterhaus (er war Postbeamter) verließ,
besaß sie Sex und Mut. Nicht Schönheit. Denn wie viele profe s­
sionelle Schönheiten, Frauen, die ihr Leben mit Männern
verbringen, war sie überhaupt nicht schön. Was sie hatte, war
ausgeprägter Sex, dessen sie sich bewußt und von dem sie ganz
durchdrungen war und der sie schön erscheinen ließ. Jetzt, zwan­
zig Jahre später, nachdem sie die Geliebte von elf Männern
gewesen war, die alle außergewöhnlich waren, zumindest potent i­
ell außergewöhnlich, hatte sie ihren Sex und ihren Mut. Aber da
sie nie ihr eigenes Talent, ihre Malerei, an erste Stelle gesetzt
hatte, sondern immer die Karriere desjenigen Mannes, mit dem
sie gerade zusammenlebte, und das aus einem Instinkt der Gro ß­
zügigkeit, der wahrscheinlich das Beste an ihr war, konnte sie sich
nun nicht den Lebensunterhalt verdienen. Zumindest nicht in
dem Stil, den sie gewohnt war.
Seit sie ihr Zuhause verlassen hatte, hatte sie ihre Talente, ihre
Warmherzigkeit, ihre Fantasie einem Kunstlehrer gewidmet
(ihrem ersten Liebhaber), zwei Schauspielern (damals unbekannt,
heute weltberühmt), einem Choreographen; ein em Schriftsteller;
einem zweiten Schriftsteller; dann jenseits des Atlantik in Europa
einem Filmregisseur (Italien); einem Schauspieler (Frankreich);
einem Schriftsteller (London); Professor Tom Bayley (London);
Jack Boles, einem Filmregisseur (London). We r konnte sagen,
wieviel von ihrem Ich, das sie großzügig angeboten hatte, von
ihrer ständig sich verströmenden Ergebenheit an die Arbeit
dieser Männer verantwortlich für deren Erfolg war? (Wie sie es
sich in den dunklen Stunden heftig weinend fragte.)
Geblieben waren: ihr Mitgefühl, ihr Charme, ihr Talent für
Kleidung und Dekor, ein bescheideneres für Malen (was nicht
hieß, daß sie nicht ein scharfsinniger Kritiker anderer Leute
Werke war), die Tatsache, daß sie eine perfekte Köchi n war, und
ihre Fähigkeiten im Bett, von denen sie wußte, daß sie außerg e­
wöhnlich waren.
In dem Augenblick, wo sie aus diesem Apartment träte, würde
sie auch aus der We lt des internationalen Geldes und Prestiges
treten. Wohin? Zu ihrem Vater, der jetzt in einer Pension in
Chicago wohnte? Nein, ihre einzige Hoffnung war, wieder einen
Mann zu treffen, der ebenso hervorragend und strahlend wie die
anderen war, denn die unbekannten Genies, die bloß potentiellen
Künstler konnte sie sich nicht mehr leisten. Darauf wartete sie,
und darum blieb sie in dem luxuriösen Apartment, das als Au s­
gangsbasis dienen mußte; darum verachtete sie sich selbst auf so
quälerische Weise; darum hatte sie Peggy Bayley eingeladen, sie
zu besuchen. Zum einen: sie mußte sich selbst aufrichten, indem
sie diese Frau sah, deren Karriere (als die Geliebte berühmter
Männer) ähnlich wie die ihre verlaufen war und die jetzt gut
verheiratet war. Zum anderen: sie wollte sie um Hilfe bitten. Sie
war sorgfältig die Liste ihrer Ex -Liebhaber durchgegangen, hatte
dreien geschrie ben und drei freundliche, doch wenig hilfreiche
Briefe bekommen. Sie war offiziell eine ›Freundin‹ von Tom
Bayley geblieben; doch war sie nicht so dumm, seine Frau zu
beleidigen, indem sie sich an ihn heranmachte, es sei denn, die
war damit einverstanden. Sie würde Peggy bitten, Tom zu bitten,
seinen Einfluß auszuüben, um ihr eine Arbeit zu beschaffen, die
sie in die Lage versetzte, die richtige Sorte von Männern kenne n­
zulernen.
Als es geläutet und sie auf den Knopf gedrückt hatte, ging sie
hastig zu dem gr oßen braunen Sessel, diesmal geschah es als
Herausforderung, entsprang auch ihrer Ehrlichkeit. Sie appellie r­
te an die Frau des Mannes, dessen öffentlich bekannte Geliebte
sie gewesen war; und sie wollte nicht die Schwierigkeiten verri n­
gern, indem sie wenig er attraktiv aussah, als es ihr möglich war;
auch wenn Peggy ohne eine Spur ihrer früheren Schönheit he­
reinkäme; denn drei Ehejahre mit Professor Bayley hatten sie zu
einer vernünftigen, gutaussehenden Frau gemacht; das geschme i­
dig Katzenhafte, das sie als unbedeutende Schauspielerin von
Kapstadt nach Europa geführt hatte, war verschwunden; die
Schauspielkarriere hatte sie ganz zu Recht aufgegeben für das
eine, wozu sie geboren war.
Doch als Peggy Bayley hereinkam, war es wie vor vier Jahren:
war Maureen zierlich, zerbrechlich, delikat, so war Peggys Art die
einer Sirene: Maureen setzte sich mit einem Ruck auf, sah, wie
Peggy mit beringter weißer Hand blondes Haar von der braunen
Wange strich und sie mit einem spöttischen Lächeln aus grünen
Augen bedachte. Unwillkürlich rief sie: »Tom hat dich sitzeng e­
lassen!«
Peggy lachte – ihre Stimme hatte wie die Maureens den rauch i­
gen Klang einer verführerischen Frau – und sagte: »Wie hast du
das bloß rausgekriegt?« Hierbei machte sie eine Drehung, die
Hüften in Mannequinpose herausgedrückt, ließ das goldene Haar
übers Gesicht fallen und führte ein enges grünes Leinenkleid vor,
das seine Wirkung dem von neuem aufreizenden Körper ve r­
dankte. Keine Spur mehr von der vernünftigen gesunden Hau s­
frau der letzten drei Jahre: ganz wie bei Maureen war die Sexual i­
tät wieder ihr Brennpunkt, ihr ruhender Pol, ihr Lebensnerv.
Sie sagte: »Dafür, daß man uns hat sitzenlassen, sehen wir beide
aber sehr gut aus!«
Dann, in vollem Bewußtsein ihres Aussehens und ihrer Wei b­
lichkeit nun ganz hin gegeben, nahm sie das gelbe Sofa in Besitz
und sagte: »Gib mir was zu trinken und kuck nicht so überrascht.
Schließlich hätte ich das ja wohl auch voraussehen können,
nicht?« Das war eine Frage an – an eine Mitverschwörerin? Nein.
An ein Opfer? Nein. An ei nen Künstlerkollegen – ja. Maureen
bemerkte, daß die hauchdünn unter der Oberfläche versteckte
Feindseligkeit, die ihre Begegnungen gezeichnet hatte, als Peggy
noch mit Tom Bayley zusammen war, nun völlig verschwunden
war. Doch sie war noch nicht ganz glüc klich über diesen Au s­
bruch von Kameradschaftlichkeit. Mit einem Stirnrunzeln erhob
sie sich aus dem braunen Satinsessel, die Zigarette ungeschickt im
Mundwinkel. Sie erinnert e sich, daß das Stirnrunzeln und die
hängende Zigarette sich eigentlich für die La ge einer Frau gehö r­
ten, die sich eines Mannes sicher ist; ihr Instinkt war also, Peggy
anzulügen, und das gerade deshalb, weil sie selbst jetzt noch nicht
lange nach dem Ereignis zugeben wollte, wie schlecht sie das
Alleinsein verkraftete? Sie goß reichlic h Brandy ein und fragte:
»Wegen wem hat er dich denn verlassen?«
Peggy sagte: »Ich habe ihn verlassen« und hielt ihre grünen Au­
gen fest auf Maureens Gesicht gerichtet, damit sie das hinnähme,
trotz der ungläubigen Miene.
»Nein, wirklich, es ist wahr – natürlich gab’s da die ganze Zeit
andere Frauen, deshalb hat er ja auf seinem Schlupfloch in Che l­
sea bestanden…« Maureen lächelte nun ganz bestimmt, um sie
daran zu erinnern, wie oft sie den Grund für das Schlupfloch
nicht anerkannt hatte. Es sei ›Bills Arbeit szimmer, in das er au s
allzu langweiliger Häuslichkeit entweichen kann‹. Peggy nahm
den Wink mit einem offenen Lächeln hin, das dennoch Ungeduld
zeigte: Natürlich habe ich gelogen und meine Spielchen gespielt,
so wie wir wohl alle, nicht? – besagte das Lächeln; und Maureens
Abneigung gegen sich selbst ließ sie laut sagen, so als wollte sie
ihrer heimlichen, boshaften Kritik an Peggy ein Ende setzen:
»Schon gut, aber gezwungen hast du ihn wohl, dich zu heiraten.«
Sie hatte drei große Schluck Brandy genommen. Hatte sie in den
Monaten, nachdem Jack sie verlassen hatte, viel zu viel getru n­
ken, so verbot die Diät der letzten Wochen ihr Alkohol, und
deshalb war sie jetzt aus der Übung. Sie fühlte, daß sie scho n
beschwipst wurde, und sagte: »Wenn ich langsam beschw ipst
werde, dann mußt du dich aber auch ranhalten.«
»Ich war zwei Monate lang jeden Tag und jede Nacht betru n­
ken«, sagte Peggy, wieder mit dem steten Blick ihrer grünen
Augen. »Aber wenn du weiter hübsch bleiben willst, darfst du
nicht trinken.«
Maureen ging zu dem braunen Sessel zurück, blickte durch den
sich kräuselnden blauen Zigarettenrauch auf Peggy und sagte:
»Ich habe mich damals ständig betrunken – eine Ewigkeit. Eke l­
haft. Ich konnte nicht aufhören.«
Peggy sagte: »Nun gut, damit haben wir Schluß gem acht. Aber,
weißt du, nicht die anderen Frauen – wir haben uns ausgiebigst
über seinen Charakter unterhalten, als wir geheiratet haben
und…« Hier machte sie eine Pause, um Maureens recht säuerl i­
ches Lächeln mit den Worten zu quittieren: »Das gehört doch zu
unserer Rolle, nicht wahr, uns ausführlichst über ihren Charakter
auszulassen?« Und beiden Frauen kamen in diesem Augenblick
Tränen in die Augen, die sie beide fortblinzelten. Eine weitere
Barriere war gefallen.
Peggy sagte: »Ich wollte mich produzieren, deswegen bin ich
hergekommen; wegen deines angeberischen Briefchens – ich
habe doch beobachtet, wie du mich seit meiner Heirat mit Tom
von oben herab behandelt hast, langweilig und gewöhnlich wie
ich war – ich wollte, daß du das neue Ich siehst!… Weiß der
Teufel, warum man seine sexuelle Anziehungskraft verliert, wenn
man unter der Haube ist.«
Plötzlich kicherten die beiden, wälzten sich zur Seite: Peggy auf
ihrem gelben Leinensofa, Maureen auf ihrem glänzenden bra u­
nen Sessel. Dann mußten sie im selben Auge nblick gegen die
Tränen ankämpfen.
»Nein«, sagte Maureen und setzte sich auf, »ich werde jetzt
nicht weinen, oh, nein! Mit dem Weinen habe ich aufgehört, es
gibt nicht den geringsten Anlaß.«
»Dann laß uns noch was trinken«, und Peggy reichte ihr das
Glas.
Sie waren beide schon beschwipst, da sie beide bis au fs Äußer­
ste mit ihrem Fasten gegangen waren.
Maureen füllte die beiden Gläser zur Hälfte mit Brandy und
fragte: »Hast du ihn wirklich verlassen?«
»Ja.«
»Dann hast du mehr Grund, mit dir zufrieden zu sein als ich.
Ich habe gekämpft und Szenen gemacht, und wenn ich jetzt
daran denke…« Sie nahm einen Schluck Brandy, schaute in dem
teuren Zimmer umher und sagte: »Ich leb ’ noch immer auf seine
Kosten, und das ist ja das Schlimme.«
»Nun, meine Liebe, wein nicht«, sagte Peggy. Der Brandy ben e­
belte sie, machte sie träge. Das ›meine Liebe‹ ließ Maureen zu­
sammenzucken. Es war das nichtssagende Wort der Theater- und
Filmleute, das richtig, sogar recht angenehm bei den Theater -
und Filmleuten war, aber von da war es nur ein Schritt bis…
»Nicht«, sagte Maureen scharf. Peggy weitete ihre länglichen
grünen Augen à la charmante, verengte sie dann, bis es wieder
ihre natürlichen Augen waren und lachte.
»Ich versteh ’ dich«, sagte sie. »Besser, wir sind ehrlich, nicht?
Wir sind doch gar nicht so weit davon, oder?«
»Ja«, sagte Maureen. »Ich hab’s mal zu Ende gedacht. Wenn wir
sie geheiratet hätten, Heiratsurkunde und alles, du weißt ja, also
dann hätten wir es ganz in Ordnung gefunden, Geld zu nehmen
als Gegenleistung für alles , für alles und alles!« Sie senkte das
Gesicht und schluchzte.
»Halt den Mund«, sagte Peggy. Doch klang es wegen ihrer
Trunkenheit wie ›Halnmund‹.
»Nein«, sagte Maureen, wobei sie geräuschvoll die Luft einzog
und sich aufsetzte. »Kannst mir glauben. Ich ha b’ nie Geld ge­
nommen – ich meine, ich hab’ nie was anderes als Haushaltsgeld
und Kleidergeschenke genommen – du etwa?« Peggy schaute sie
nicht an, darum fuhr sie fort: »Schon gut, aber laß mich raten.
Tom Bayley ist der erste Mann, von dem du eine feste Su mme,
sprich Alimente, bekommst – ist das nicht so? Und das nur, weil
du mit ihm verheiratet warst.«
»Vermutlich. Ich hatte mir geschworen, ich würde es nicht tun,
aber ich hab’s doch.«
»Und du hast auch kein ungutes Gefühl dabei, und das bloß
wegen dieser Heiratsurkunde, nicht?«
Peggy drehte ihr Glas unablässig zwischen ihren langen, ge­
schmeidigen Fingern und nickte schließlich: Vermutlich.
»Ja. Ist doch klar. Und was haben wir uns beide zu unserer Zeit
lustig gemacht über die Heiratsurkunde. Aber komisch, Geld
anzunehmen, wenn man verheiratet ist, gibt einem nicht das
Gefühl, eine Hure zu sein. Bei all den Männern, mit denen ich
zusammen war, mußte ich ständig mit mir zanken und rechten;
ich hab’ gesagt: überleg mal, wieviel müßte er für das zahlen, was
ich alles für ihn tue – kochen, den Haushalt führen, die Zimmer
wohnlich gestalten, ihn beraten. Ein Vermögen! Also gibt es für
mich überhaupt keinen Grund, mich unwohl zu fühlen, wenn ich
in seinem Apartment wohne und mir Kleider kaufe. Aber trot z­
dem, ich hab’ mich immer unwohl dabei gefühlt. Hätte Jack mich
aber geheiratet, dann würde ich mich nicht wie die letzte Hure
fühlen, nur weil ich in seinem blöden Apartment wohne!« Sie
brach in haltloses Weinen aus, bezwang sich, atmete tief, saß
dann schweigend da, tief atmend. Danach stand sie auf, füllte ihr
Glas und Peggys von neuem und setzte sich. Die beiden Frauen
saßen schweigend, bis Maureen endlich sagte: »Warum hast du
ihn verlassen?«
»Als er mich heiratete, dachten wir beide, ich sei schwange r…
Nein, wirklich, das stimmt. Ich weiß, was du und die anderen alle
gesagt haben, aber es war wirklich so. Ich hatte drei Monate lang
nicht meine Periode, und danach war ich sehr krank; es hieß, ich
hätte eine Fehlgeburt.«
»Will er Kinder?«
»Wollte er mit dir denn keine?«
»Nein.«
»Dann hat er sich geändert. Und wie er die will.«
»Jack wollte nichts von Kindern wissen, absolut nicht, aber das
kleine Luder, wegen dem er mich hat sitzenlassen… wie ich höre,
bist du dick mi t ihnen befreundet?« Sie meinte Jack und das
Mädchen, für das er sie verlassen hatte.
Peggy sagte: »Jack ist ein guter Freund von Tom.« Das klang
kühl, und Maureen sagte: »Ja. Ja. All die Freunde von Jack – ich
habe für sie gekocht, sie unterhalten, aber stell dir vor, nicht ein
einziger von denen hat mic h auch nur einmal angerufen, seit er
mich verlassen hat! Es waren seine Freunde, nicht meine.«
»Genau. Seit ich Tom verlassen habe, habe ich weder Jack noch
sein neues Mädchen gesehen. Sie besuchen Tom.«
»Vermutlich ist eins von Toms Mädchen schwanger?«
»Ja. Er hat mich besucht und davon erzählt. Ich wußte, was er
von mir erwartete, und ich tat es. Ich habe gesagt: Gut, du kannst
deine Scheidung haben.«
»So hast du doch wenigstens deine Selbstachtung behalten.«
Peggy drehte das Glas und blickte hinein; sie verschüttete Brandy
auf das gelbe Leinensofa. Beide Frauen beobachteten, ohne sich
zu rühren, mit ästhetischem Interesse, wie sich der orangefarbene
Fleck verbreitete.
»Nein, habe ich nicht«, sagte Peggy. »Ich habe nämlich gesagt:
›Du kannst deine Scheidun g haben, aber du mußt mir eine sch ö­
ne Summe zahlen, oder ich verklage dich wegen Untreue – ich
hab’ den Beweis für über tausend Fälle.‹«
»Wieviel?«
Peggy errötete, nahm einen Schuß Brandy und sagte: »Ich we r­
de jeden Monat vierzig Pfund als Unterhalt bekomm en. Das ist
eine Menge Geld für ihn – schließlich ist er Professor, nicht
Filmregisseur.«
»Kann er es sich nicht leisten?«
»Nein. Er hat mir gesagt, er müsse sein Schlupfloch aufgeben.
Ich darauf: ›Pech für dich.‹«
»Was ist sie denn für eine?«
»Siebenundzwanzig. Kunststudentin. Sie ist hübsch, süß und
doof.«
»Aber sie ist schwanger.«
»Ja.«
»Hast du nie ein Kind gehabt?«
»Nein. Aber ich hatte einige Abtreibungen und Fehlgeburten.«
Die zwei Frauen schauten sich ganz offen an, ihr Gesichtsau s­
druck war bitter.
»Ja«, sagte Maureen. »Ich habe fünf Abtreibungen gehabt, eine
davon bei so einer alten Frau. Ich nehm ’ gar nichts und werde
auch nicht schwange r… Wie mochtest du denn Jacks neues
Mädchen?«
»Nett«, sagte Peggy abwehrend.
»Eine Intellektuelle ist sie«, sagte Maureen: es klang wie ›Inte l­
lektelle‹.
»Ja.«
»Ist ja soo helle und so gut informiert.« Maureen kämpfte eine
Weile mit ihrem besseren Ich, gewann den Kampf und sagte:
»Aber warum? Sie ist attraktiv, aber doch nichts als ein Schulmä d­
chen; ein nettes, clever es, kleines Schulmädchen mit netten,
hübschen Kleidchen.«
Peggy sagte: »Hör auf. Hör sofort auf.«
»Ja«, sagte Maureen. Doch aus gequälter Seele fügte sie hinzu:
»Und sie kann nicht einmal kochen.«
Und jetzt lachte Peggy, warf sich zurück und verschüttete n och
mehr Brandy mit ihrer vom Trinken unsicher gewordenen Hand.
Nach einer Weile lachte auch Maureen.
Peggy sagte: »Ich habe gerade gedacht, wie oft haben Ehefrauen
und Geliebte über uns gesagt: Peggy, die ist doch so langweilig,
Maureen ist so leicht zu durchschauen.«
»Ich kann sie hören: Natürlich, sie sind sehr hübsch, und natü r­
lich ziehen sie sich gut an, und sie können ganz to ll kochen, und
vermutlich sind sie auch gut im Bett, aber was ist an ihnen dran?«
»Hör auf«, sagte Peggy.
Beide Frauen waren nun richtig betrunken. Es wurde spät. Das
Zimmer füllte sich mit Schatten, die weißen Wände verschwa n­
den in blaue Fernen, von den glänzenden Sesseln, Tischen und
Teppichen kam ein intensives Schimmern.
»Soll ich Licht machen?«
»Noch nicht.« Peggy stand jetzt selbst auf, um sich nachz u­
schenken. Sie sagte: »Hoffentlich ist sie so vernünftig und gibt
ihren Job nicht auf.«
»Wer? Jacks rothaariges Luder?«
»Wer denn sonst? Toms Mädchen ist in Ordnung, die ist ja
schwanger.«
»Du hast recht. Aber ich wette, sie tut’s; ich wette, Jack ve r­
sucht, sie dazu zu bringen.«
»Ich weiß. Kurz bevor ich Tom verlassen habe – bevor er mich
abgespeist hat –, kamen dein Jack und sie zum Abendessen
rüber. Jack griff sie dauernd wegen ihrer Kolumne an, nörgelte
den ganzen Abend an ihr he rum – er sagte, sie zeige die polit i­
sche Sicht einer linken Gesellschaftsdame. Eine linke Sicht von
schön weit oben, hat er gesagt.«
»Er haßte es, wenn ich gemalt habe«, sagte Maureen, »Jedesmal,
wenn ich gesagt habe, ich will den Vormittag über malen, spo tte­
te er über die Sonntagsmaler. Ich hab ’ ihm sein Frühstück ge­
bracht und bin nach oben ins Atelier gegangen – nun, eigentlich
ist es das Gästezimmer. Zuerst hat er irgendwelche witzelnden
Bemerkungen nach oben geschrien, dann ist er selbst gekommen
und hat gesagt, er habe Hunger. Sein Hunger fing schon um elf
Uhr morgens an. Wenn ich dann nicht herunterkam und kochte,
hat er mit mir geschlafen. Danach sprachen wir über seine Ar­
beit. Den ganzen Tag und die halbe Nacht haben wir über seine
verdammten Filme ge redet…« Maureens Stimme verschleierte
sich weinerlich: »Es ist alles so ungerecht, so ungerecht, so un­
gerecht… alle waren so. Ich behaupte ja nicht, ich wäre eine
große Malerin geworden, aber etwas, etwas hätte ich werden
können. Etwas Eigenes… Nicht ein einziger dieser Männer hat
was anderes getan als sich lustig zu machen oder mich gönne r­
haft zu behandeln… sie alle, einer wie der andere. Und natürlich
gibt man immer nach, weil man mehr Interesse dran hat…«
Peggy, die schon halb eingeschlafen war und kraft los auf dem
Sofa hing, setzte sich auf und sagte: »Hör auf, Maureen, was
soll’s?«
»Aber es stimmt doch. Zwanzig Jahre meines Lebens, achtzehn
Stunden am Tag habe ich damit verbracht, den Ehrgeiz irgende i­
nes Mannes zu stärken. Stimmt doch, nicht?«
»Es stimm t schon, aber hör damit auf. Wir haben es so ge­
wollt.«
»Ja. Und wenn das dumme rothaarige Luder ihren Job aufgibt,
kriegt sie genau das, was sie verdient.«
»Dann ist sie da, wo wir jetzt sind.«
»Aber Jack sagt, er will sie heiraten.«
»Tom hat mich auch geheiratet.«
»Er war fasziniert von ihrem klugen rothaarigen Köpfchen. All
die cleveren Bemerkungen über Politik. Aber jetzt versucht er
mit allen Mitteln, ihre Kolumne abzuwürgen. Ein Verlust für die
ganze Nation wäre das nicht gerade, aber sie sollte lieber aufpas­
sen, das sollte sie wirklich…« Maureen bewegte den Brandy vor
ihren hypnotisierten Augen hin und her.
»Was der zweite Grund ist, warum ich gekommen bin.«
»Bist du nicht hergekommen, um mein neues Ich kennenzule r­
nen?«
»Ist doch dasselbe.«
»Nun?«
»Wieviel Geld hast du?«
»Nichts.«
»Wie lang geht der Mietvertrag für dieses Apartment?« Maureen
hielt die Finger einer Hand hoch. »Fünf Jahre? Dann verkauf den
Mietvertrag.«
»Könnte ich nie.«
»Klar könntest du das. Es würde dir, schätz ’ ich, ungefähr zwei­
tausend Pfund einbringen. Wir könnten uns irgendwo eine wen i­
ger teure Wohnung mieten.«
»Wir?«
»Und ich habe vierzig Pfund im Monat. Also dann.«
»Was, also dann?« Maureen lag nun fast ausgestreckt in dem
großen Sessel, ihre weiße Spitzenbluse war auf die Brust h ochge­
rutscht, so daß die schlanke braune Taille und der Bauch sichtbar
wurden über der engen braunen Hose. Sie hielt ihr Glas mit dem
Brandy vor sich und bewegte es vor und zurück, beobachtete,
wie die gelbbraune Flüssigkeit im Glas schwappte. Ab und zu
tropfte Brandy auf ihren braunen Bauch, dann kicherte sie.
Peggy sagte: »Wenn wir nicht was tun, muß ich zurück zu me i­
nen Eltern nach Outshoorn – sie haben dort eine Straußenfarm.
Ich war das aufgeweckte Mädchen, das weglief. Nun, ich werd’s
nie zur Schauspi elerin bringen. Also muß ich zurück und mein
Leben auf einer Zuckerahornpflanzung zwischen Straußen
verbringen. Und wo wirst du hingehen?«
»Dito, dito.« Maureen drehte den Kopf mit dem sanftbraunen
Haar nervös zur Seite und ließ sich Brandy in den Mund fließen.
»Wir werden eine Boutique eröffnen. Wenn’s etwas gibt, wovon
wir beide wirklich was verstehen, dann das, wie man sich hübsch
anzieht.«
»Gute Idee.«
»Welche Stadt stellst du dir vor?«
»Ich denk’ an Paris.«
»In Paris könnten wir nicht mithalten.«
»Nein, könnten wir nicht… Was ist mit Rom? Ich habe drei Ex-
Liebhaber in Rom.«
»Die taugen nichts, wenn man sie wirklich mal braucht.«
»Völlig unbrauchbar.«
»Besser, wir bleiben in London.«
»Besser in London. Möchtest du noch einen Drink?«
»Ja. Jaaaah.«
»Ich hoooliihn.«
»Näxes Mal dürfen wir nich mehr ohne Heiratsurkunde mit
jemandem schlafen.«
»Klarer Fall.«
»Aber es ist gegen meine Prinßipien, so’n Handel.«
»Ach, weiß ich doch, weiß ich.«
»Jaaa.«
»Vielleicht wärn wir besser dran, wenn wir les – bisch wären,
was hältst du davon?«
Peggy stand mit Mühe auf, ging zu Maureen und legte ihre
Hand auf deren nackten Bauch. »Schpürst du was dabei?«
»Nichts.«
»Ich mag Männer auch lieber«, sagte Peggy und ging zum Sofa
zurück, wo sie sich mit einem Plumps hinsetzte und wei teren
Brandy verschüttete.
»Ich auch, und einen Dreck harn wir davon.«
»Nächstes Mal geben wir aber unseren Job nicht auf, wir ble i­
ben bei der Boutique.«
»Jaaah…«
Pause. Dann setzte sich Peggy auf und riß sich zusammen. Sie
war von einer ungeheuren Ernsthaftigkeit durchdrungen.
»Hör zu«, sagte sie. »Nein, verdammt, hör ßu, das willich schon
die ganze Sseit sagen, ich mein’s ernst.«
»Ich auch.«
»Nein. Kein Weglaufen mehr, sobald nur ein Mm mann au f­
taucht. Ich bi n stockbesoffen, aber ich mein’s ernst… Nein,
Maureen, ich fang’ gar nicht erst mit einer Boutique an, wenn das
nich von Anfang an klar is. Wir müssen, wir müssen einig darin
sein, zuerst die Arbeit, denn sons, denn sonst, du weiß ja, wo wir
sonst enden.« Peggy brachte das letzte in einem Schwung heraus
und legte sich zurück, befriedigt.
Darauf setzte sich Maureen auf, ernst, bemüht, ihre Zunge un­
ter Kontrolle zu halten: »Abe r… worin… wir beide wirklich gut
sind, is Aufpäppeln von irgend so’m blöden Schenie, Genie.«
»Nicht mehr. Oh, nein. Du mußt mir das versprechen, Maureen,
versprich mir, oder sons…«
»Inornung, ich versprech’s.«
»Gut.«
»Willst noch einen Drink?«

»Köslicher Brandy, köslicher, köslicher, köslicher Brandy.«

»Köstlicher Brandy…«

BARBARA SHEEN

Zwillinge

Die Zwillinge standen vor dem do ppelten Wandschrank und


begutachteten ihre Garderobe. Zwei Ausgaben von jedem Kle i­
dungsstück hingen hübsch ordentlich Seite an Seite zusammen.
Anna Mae seufzte: Bist du sicher, daß du das Blaue tragen
willst? Ich bin irgendwie eher für die orangefarbene Spitze.
Ihre Schwester drehte sich zu ihr. Spiegelbilder. Das Anstec k­
bukett von Pappi ist rosa. Zu orange sähe es einfach nicht gut
aus.
Es ist unser 25. Geburtstag, und wir sollten richtig gut auss e­
hen. Ich dachte, du magst das blaue Kleid. Außerdem sagt Ma ma
immer, daß Blau uns am besten steht, es betont unsere Augen.
Anna Mae runzelte die Stirn: Wahrscheinlich hast du recht,
Billie Jean. Du hast ohnehin einen besseren Geschmack als ich.
Ihre Schwester lächelte.
Unsinn.
Sie drückte die Hand ihrer Schwester.
Du hast einen ausgezeichneten Geschmack. Außerdem – sie
kam näher, fuhr mit der Hand den langen, weißen Hals der
Schwester entlang, streichelte ihr Gesicht.
Ich schaue dich gerne an in dem blauen Kleid. Du siehst so
sexy aus.
Anna Mae seufzte: Billie.
Billie Jean kam näher, drückte sie an sich, ihre Lippen suchten
die von Anna Mae, ihre Zunge ringelte sich um die ihrer Schw e­
ster.
Anna Mae flüsterte heiser: Ich liebe dich, Billie Jean, herzlichen
Glückwunsch zum Geburtstag.
Billie Jean fuhr durch das blonde Haar ihrer Schwester.
Ich liebe dich auch, Anna Mae. Ich liebe dich so sehr.
Ihre Hand umschloß die Brust ihrer Schweste r. Beide atmeten
schwer. Anna Mae schloß die Augen. Ihr Körper bebte.
Wie ich Lust auf dich habe, Billie Jean, solche Lust.
Billie seufzte, schob die Schwester sanft fort.
Ich weiß. Aber wir haben jetzt keine Zeit. Mutter und Pappi
warten auf uns. Sie haben für acht Uhr im Restaurant reserviert.
Wir dürfen sie nicht enttäuschen und einfach zu spät kommen.
Es ist wirklich nett von ihnen, uns auszuführen. Das ist für sie
ein ganz besonderer Anlaß.
Anna Mae nickte. Ich weiß, und wir haben ja die ganze Nacht.
Ihre Schwester seufzte, lächelte. Langsam machten sich die
Zwillinge fertig.
Sie lebten in einem großen, weißen Klinkerhaus. Schon ihr g an­
zes Leben lang. Pappi hatte eine Immobilienfirma. Der Staat
Texas expandierte. Er war ein reicher Mann, ein wichtiges Mi t­
glied der Gemeinde. Mama führte den Haushalt, ging zu Ve r­
einsversammlungen, war Vizepräsidentin vom Junior League,
sammelte Antiquitä ten. Ihre große Liebe waren die Mädchen,
dann kamen die Antiquitäten. Das Haus war voll davon, franz ö­
sische Möbel. Ein Zimmer wie das andere in Weiß und Gold,
rosa Wände. Außer Pappis Schlafzimmer waren alle Zimmer
rosa.
Die Mädchen schliefen im gleichen Zimmer. Hier hatten sie
schon immer geschlafen. Keine von beiden hatte je woanders
geschlafen. Mama hielt nichts davon, wenn sie bei Freundinnen
übernachteten. Während der College -Zeit wohnten sie zu Hause.
Als sie noch jünger waren, sprach Pappi davon anzu bauen, damit
die Mädchen getrennte Zimmer hätten. Mama hielt das für Un­
fug. Die Mädchen waren Zwillinge. Sie teilten alles. Außerdem
hatten beide Angst vor dem Dunkeln. Also blieben die Mädchen
im gleichen Zimmer, ein enormes rosa Schlafzimmer mit riesigen
Fenstern, hinter Organdy -Gardinen und mit einem herrschaftl i­
chen Himmelbett.
Früher nahmen sie Puppen und Stofftiere mit ins Bett. Jetzt
brauchten sie es nicht mehr mit ihnen zu teilen. Sie hatten eina n­
der, jede Nacht. Sie waren zufrieden. Sie waren wunsc hlos glück­
lich.
Seite an Seite gingen die Mädchen ins Wohnzimmer. Pappi und
Mama warteten bereits. Pappi las die Abendzeitung. Mama arbe i­
tete an ihrer Stickerei. Ihr Vater stand auf, als sie das Zimmer
betraten. Mama hielt bei ihrem Anblick den Atem an. Si e waren
so hübsch. Sie waren ihre Mädchen. Das versetzte sie immer
wieder in Staunen. Mama Mae Bel war keine hübsche Frau. Sie
war mager, hatte eine fleckige Haut und strohfarbenes Haar. Sie
wußte, daß Gene sie hauptsächlich wegen ihres Geldes geheiratet
hatte. Sie stammte aus einer reichen Familie. Gene ebenfalls. Es
war eine Vernunftehe. Eine gesellschaftliche Verbindung. Sie
hatte aus der Ehe etwas gemacht.
Gene war glücklich. Sie wußte, daß er fremdging, aber er war
diskret. Innerlich war sie zutie fst erleichtert, daß sie seine plu m­
pen Annäherungsversuche nicht erdulden mußte. Die anderen
Frauen taten ihr leid. Sie und Gene waren Freunde. Das war ihr
lieber so. Sie waren gerne zusammen. Sie spielten Bridge, gingen
reiten. Ihr Vater war Grundstücksmakler gewesen. Sie kannte
sich da aus. Sie sprachen über Geschäfte. Sie beriet ihn. Sie hatte
ihre Antiquitäten. Er hatte seine Arbeit, seine anderen Frauen,
die ihm gefällig waren. Eine perfekte Ehe. Ihre Töchter Bi llie
Jean und Anna Mae waren daraus hervorgega ngen, ihr Stolz und
ihre Augenweide.
Nun, Gene, findest du nicht, daß deine Töchter nett aussehen?
Nett – nun, sie sind die schönsten Mädchen von ganz El Paso.
Es gibt keinen Jungen in der Stadt, der nicht sein letztes Hemd
für ein Küßchen von diesen beiden geben würde.
Die Zwillinge erröteten. Ihr Vater hatte so eine Art, sie in Ve r­
legenheit zu bringen. Sie wollten ihm gefallen, aber all diese
unverheirateten jungen Männer waren ihnen zuwider. Während
der Schulzeit hatten sie die üblichen Rendezvous. Sie waren
Cheerleaders. Sie waren gefragt. Sie waren schöne Mädchen, rund
und rosig mit langen, platinblonden Locken, die sich wie Goldr e­
ben über ihren Busen kringelten. Ihre Körper waren reif, weiß
und füllig. Sie hatten Stupsnasen. Makellose Zähne, strahlend
weiß. Sie waren die perfekten amerikanischen Mädchen.
Sie waren fünfundzwanzig. Sie sahen aus, als kämen sie frisch
aus einer Teenager -Illustrierten. An Verabredungen mit jungen
Männern hatten sie keinen Spaß. Aber es gehörte sich einfach so.
Sie waren zur Anpassung erzogen worden. Es war wichtig, gesell­
schaftlich akzeptiert zu sein. Es gefiel ihrem Pappi, wenn sie
Fußballhelden mit nach Hause brachten.
Sie wollten ihrem Pappi gefallen. Er war gut zu ihnen. Sie ha ß­
ten diese Fußballhelden, die ihre Körper be grabschten. Anna
Mae auf dem Rücksitz, Billie Jean vorne. Sie ekelten sich vor
fremden Lippen, dem rauhen Reiben männlicher Haut. Sie verab­
redeten sich immer gleichzeitig. Das war sicherer. Nie waren sie
getrennt, die eine kam nicht ohne die andere aus. Da s Gerede der
Männer langweilte sie. Mit Ausnahme der Mutter langweilten sie
die meisten anderen Leute. Sie hatten nie Freundinnen. Andere
Frauen waren Eindringlinge. Sie genügten sich selbst. Sie hatten
die gleichen Interessen: Modezeitschriften, Kleider, Freund­
schaftsringe, Kuchenbacken, die Stofftiersammlung. Sie lasen
zusammen Gruselgeschichten, schauten sich alte Spielfilme im
Fernsehen an.
Sie machten alles gemeinsam, es war leicht, miteinander zu re­
den, es war wie Selbstgespräche. Es war leicht, sich zu berühren,
es war wie Selbstbefriedigung. Niemand ahnte etwas. Sie waren
so schön, so süß. Die Leute fanden es so nett, daß zwei Schw e­
stern sich so nahestanden. Verwundert starrten Fremde sie an
wie Ausgeburten auf einem Jahrmarkt, zwei vollkommene Spi e­
gelbilder.
Als sie jünger waren, dachten sie ans Heiraten. Sie malten sich
ihre Brautkleider aus. Natürlich eine Doppelhochzeit mit zwei
Brüdern. Dann könnten sie im gleichen Haus zusammenleben.
Wenn sie sich tagsüber hätten, wäre es leichter, nachts den Eh e­
mann zu ertragen. Aber das war nur Fantasie. Die Zeiten ände r­
ten sich. Heutzutage mußten Frauen nicht heiraten. Sie waren
fünfundzwanzig, anscheinend machte es niemandem etwas aus,
daß sie unverheiratet, daß sie immer noch unschuldig waren.
Niemand wollte ihnen die Unberührtheit nehmen. Den Eltern
machte es nichts aus.
Sie hatten sie gerne zu Hause. Mae Bel sagte oft, die Ehe sei
eine überholte Institution.
Die Mädchen hatten ein gutes Zuhause, sie würden erben und
immer füreinander da sein. Was mehr konnt en sie sich wü n­
schen? Mama verstand. Pappi war es egal. Trotz seines ganzen
Geredes über junge Männer war es ihm egal. Sie waren immer
noch seine kleinen Mädchen. Das würden sie auch bleiben. Er
wollte sie nicht verlieren.
Sie gehörten einander Nacht für Nacht. Seit sechs Jahren. Sie
verzehrten sich nacheinander. Sich in die eigenen Augen blicken,
sich selbst in der anderen spüren. Am Anfang hatten sie Schul d­
gefühle. Sie verstanden nicht, was vorging, nur das brennende
Verlangen. Aber es war so schön: es mu ßte einfach richtig sein.
Sie gaben nach.
Mae Bel runzelte die Stirn, reckte das Kinn.
Unsinn, es gibt keinen einzigen Mann in der ganzen Stadt, der
diesen Mädchen das Wasser reichen könnte. Sie sind viel zu
schade für deine ganzen Junggesellen.
Die Mädchen nickten stumm.
Gene schluckte. Natürlich hast du recht, Liebes. Unsere kleinen
Mädchen sind etwas Besonderes. Weißt du, seitdem sie im Büro
mitarbeiten, ist das Geschäft gewaltig gestiegen.
Anna Mae seufzte. O Pappi, du weißt, es liegt an dem neuen
Einkaufszentrum.
Gene blies ein Küßchen hinüber. Einkaufszentrum, von wegen.
Die Kunden kommen nur herein, um euch zwei zu sehen. Ihr
seid die hübschesten Empfangsdamen in der Stadt.
Die Zwillinge kicherten. Ihr Kichern klang wie Schweizer
Glocken. O Pappi.
Mae Bel unterbrach: Euer Vater hat recht. Obwohl ich eigen t­
lich nichts von berufstätigen Frauen halte. Ihr beiden macht das
wirklich gut. Erst kürzlich hat mir Mrs. Carson gesagt, es sei ein
Vergnügen, in Pappis Büro zu kommen und von euch beiden
begrüßt zu werden. Also, weißt du, Mae Bel, hat sie gesagt, es ist
eine Augenweide und eine Freude, deine beiden Mädchen zu
sehen. Sie sind so frisch und rein, wie der Frühling. Nicht ir­
gendwelche Flittchen ohne BH, die mit dem Hintern wackeln, als
ob sie Flöhe hätten.
Pappi lachte. Angela Carson hat das gesagt?
Mae Bel nickte.
Die Frau hat Humor.
Die Zwillinge schauten auf ihre Lackschuhe, bescheiden und
sittsam. So wie man sie erzogen hatte.
Mae Bel erhob sich: Nun, es wird Zeit, daß wir gehen.
Einen Augenblick noch. Gene runzelte die Stirn. Hast du nicht
etwas vergessen, meine Liebe?
Mae Bel nickte. O je, ja.
Im Takt klopfte sie mit dem Fuß, eins und zwei und drei. Ge­
meinsam sangen sie für ihre Töchter Happy Birthday. Mae Bel
befestigte ein Bukett an der rechten Schu lter von Billie Jean. Das
Bukett war aus winzigen Teerosen, die Lieblingsblumen der
Zwillinge. Gene befestigte das gleiche Bukett an der linken Schul­
ter von Anna Mae. Wie Spiegel. Pappi half den drei Frauen in
den Mantel. Dann holte er das Auto. Die drei w arteten am Bord­
stein geduldig auf ihn, als wären sie behindert.

Das Restaurant war ein beliebtes Steak -House, viele kleine Rä u­


me, ruhige Atmosphäre. Kerzen leuchteten auf den Tischen. Der
Oberkellner zeigte ihnen ihren Tisch.
Guten Abend Mr. Bronson, Mrs . Bronson, Anna Mae, Billie
Jean. Und herzlichen Glückwunsch.
Die Mädchen waren mit dem Oberkellner auf die Schule gega n­
gen. Er war arm. Sie hatten sich nie mit ihm verabredet. Sie
nickten: Danke, Hank.

Sie saßen an einem runden Tisch, Ma und Pa auf der einen Seite,
die Mädchen Hüfte an Hüfte auf der anderen. Unter dem Tisch
umschlang Anna Mae mit ihrem Fuß das Bein von Billie Jean.
Der Kellner brachte eine Flasche Champagner. Überr aschung.
Genes Augen zwinkerten.
Zum Geburtstag ist mir für meine Mädchen nichts gut genug.
Die Mädchen lächelten, Blick auf die Tischdecke. Danke, Pappi.
Mae Bel lächelte. Das ist aber wirklich nett von dir, Gene.
Sie tranken auf die Mädchen, Mae Bel räusperte sich: Auf die
süßesten Mädchen in ganz Texas.
Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, meine Lieblinge.
Sie küßte ihre Wangen. Die Gläser klirrten. Der Kellner nahm
die Bestellungen auf, vier Filetsteaks. Die Mädchen entschuldi g­
ten sich. Gingen Arm in Arm zur Toilette. Der Blick der Eltern
folgte ihnen.
Wir haben wirklich Gl ück, nicht wahr, Mae Bel? Sie sind wir k­
lich ein hübscher Anblick.
Mae Bel lächelte, das Gesicht in tausend Fältchen. Das sind sie
wirklich.
Gene fuhr nachdenklich fort: Ja, wir haben wirklich Glück, weil
sie brave Mädchen sind. Du weißt, was dauernd in der Zeitung
steht, diese jungen Leute, wie sie sich benehmen. Laufen hal b­
nackt herum, drehen durch, feiern Sexorgien, nehmen Drogen, es
ist widerlich. Hast du von Lavonne Davis ’ Mädchen gehört, hat
sich schwängern lassen.
Mae Bel runzelte die Stirn. Ihr Mund zuckte: wie furchtbar. Die
Davis sind so nette Leute. Lavonne bringt das Mädchen nach
Houston, um die Sache zu regeln. Wenn du weißt, was ich meine.
Gene nickte, ja.
Mae Bel runzelte die Stirn, das Gesicht wie eine Pflaume. Das
Davis-Mädchen ist eine Schli mme. Und sie ist nicht die einzige,
weißt du. Ich habe gehört, die kleine Peggy Raynolds hat die
Scheidung eingereicht.
Genes Mund verzog sich voller Mitleid. Wirklich? Und dabei
arbeitet Jack Raynolds so schwer.
Mae Bel nickte: Er ist sehr nett, und sie mit den beiden Kleinen!
Mrs. Carter sagte, es wäre wegen seiner Seitensprünge. Nun, ich
meine, eine Frau muß das in Kauf nehmen. Männer haben and e­
re Bedürfnisse als Frauen. Das ist wissenschaftlich erwiesen.
Gene errötete. Gewissensbisse. Du hast vollkommen recht. Wir
haben wirklich Glück, Mae Bel, daß wir so brave Mädchen ha­
ben. Das hast du wirklich gut hingekriegt. Ich bin so stolz.
Mae Bel lächelte, nahm die Hand ihres Gatten, des Vaters ihrer
Töchter.

Die Mädchen gingen in dieselbe Toilette, schl ossen die Tür


hinter sich ab. Billie Jean schaute zu, wie Anna Mae pinkelte.
Hier ist es wirklich nett.
Anna Mae nickte: Ja, wirklich. Es ist auch nett, mit Mama und
Pappi auszugehen.
Billie Jean nickte, wirklich nett.
Sie wechselten.
Anna Mae schaute ihrer Schw ester zu. Setz dich nicht hin, du
könntest dir was einfangen.
Billie nickte lächelnd. Keine Sorge, mir würde nicht im Traum
einfallen, mich auf eine öffentliche Toilette zu setzen. Man weiß
doch nie, wer zuletzt darauf gesessen hat.
Anna Mae nickte: Das stimmt.
Billie Jean stand auf, zog die Spülung. Die Toilette war eng.
Musik aus dem Lokal übertönte das Wasserrauschen.
Die Mädchen standen sich dicht gegenüber, ihre Körpe r be­
rührten sich, ihre Lippen. Umarmung. Finger auf den Brüsten.
Anna Maes Hand glitt hinunter zur Möse ihrer Schwester. Ihre
Finger drangen unter die Strumpfhose und kraulten das dicke
blonde Haar. Ihre Daumen tauchten gleichzeitig ineinander, mit
der gleichen Bewegung, in vollendeter Harmonie, rein und raus,
rein und raus. Schenkel feucht und heiß. Die Daumen wurden
immer schneller, gleichzeitig. Ihre Körper zuckten, kamen gleic h­
zeitig. So wie sie immer alles zusammen machten. Ihre Lippen
streiften sich. Sie hielten sich fest, küßten sich zärtlich.
Anna Mae und Billie Jean saßen vor dem Sp iegel, legten neues
Lippenrot auf. Im Spiegel lächelten sie einander zu, zufrieden.
Eine Frau kam herein, Mary Peterson, eine Freundin ihrer Mu t­
ter. Sie lächelten sie an, standen artig auf.
Hallo, Mrs. Peterson, wie geht es Ihnen? Wie nett, Sie zu tre f­
fen. Im Chor, zwei Stimmen, die in Wirklichkeit eine waren.
Sie gingen hinaus, lächelten die ältere Frau liebenswürdig an.
Mary Peterson ging in die Toilette. Sie setzte sich und lächelte.
Was für nette Mädchen.
MARY FLANAGAN

Ein Ausblick auf Manhattan

»Ein sehr bedeutender Mann – Goethe, glaube ich – hat einmal


gesagt, daß er nur ein paar Wochen seines Lebens wirklich ge­
nossen hat. Der Rest war Langeweile und Horror«, verkündete
Amaryllis, während Sheldon die Kämme aus ihrem Haar nahm
und die Locken über ihren nackten Rücken fallen ließ.
»Weißt du«, sagte sie, »ich habe davon geträumt, wie du das
tust, Shel. Genau so, mit deiner unnachahmlichen Behutsamkeit.
Das fiel mir gerade in dem Augenblick wieder ein, als du… Einer
von diesen Träumen, die ich in der Klapsmühle hatte – weißt
du?« Sie lächelte.
Sheldon stand hinter ihrem Stuhl, der dicht vor den Spiegel
geschoben worden war. Sein Spiegelbild lächelte ihres an – das
alte Lächeln von vor Jahren, fest und voller Zuversicht. Sie griff
seine Hand und küßte die olivenfarbenen Finger, deren Nägel bis
auf die Kuppen abgebissen waren.
»Wunderschön, Shel.«
Er wickelte sich das blonde Haar um die Hand und zog ihren
Kopf so weit nach hinten, daß sie nach Luft schnappte. Er biß
sie zart in den Hals, dann fester, dan n gab er sie frei. Ihre Augen
trafen sich im Spiegel.
»Zeit für die Nachrichten.« Er blinzelte ihr zu.
»Muß das sein?«
Sie beobachtete, wie sein Spiegelbild das Schlafzimmer verließ,
seinen graden Rücken, der ganze Körper immer natürlich aufg e­
richtet. Ein Adonis von einundvierzig Jahren.
»Liebster, liebster She l.« Amaryllis ’ Lippen formten die Worte,
die er nicht hören konnte. Ein Flugzeug flog über das Haus. Im
Chrysler-Gebäude gingen die Lichter an. Sie bürstete ihr Haar,
während er sich vor dem Fernseher zurücklehnte, die Füße auf
dem gläsernen Kaffeetisch, vertieft in Roger Mudd. Im Spiegel
konnte sie seine Zehen sehen, die in schwarzen Seidensocken
zuckten, und wellenförmigen Rauch, der in die klare Luft stieg.
Gelegentlich reichte sein Arm in die Bildf läche, und er schnippte
die Zigarettenasche in den fünf Kilo wiegenden Malachit -
Aschenbecher.
Der Fernseher war zu laut gestellt. Sie hätte am liebsten mit den
Zähnen geknirscht. Sie sprachen wieder über die Lage und sagten
diese schrecklichen Wörter in di esem schrecklichen Tonfall:
Invasion, Vergeltungsschlag, Aufrüstung, Abschreckungsman ö­
ver, Frontlinie. Warum hörte er sich das an, wo er doch wußte,
daß es den Zauber zerstörte? Oh, es war widerlich und nervt ö­
tend, und wenn das so weiterging, mußte sie ihr e Medikamente
schon vor sechs Uhr einnehmen. (Nein, nein, daran darfst du gar
nicht denken, Amaryllis. Unterdrück das, unterdrücke es. Selbst
Dr. Lutisowski würde zu dem Schluß kommen, das wäre besser.)
Roger Mudd hörte nicht auf: die Türken, die Chinesen, die Ir a­
ner. Sie konnte nichts damit anfangen. Shel konnte das. Sie alle
konnten das. Sie sahen es sich den ganzen Abend lang an und
sprachen den ganzen Tag lang darüber. Für sie war es ein Spiel –
eine lautstarke Abenteuerserie über männliche Spiele; ein i nterna­
tionales Fußballspiel; eine teuflische Sa m-Peckinpah-Fantasie;
Große-Jungen-Zeug à la Ian Fleming, ein Ersatzkitzel für ihre
Blutgier. Konnten sie nicht sehen, wie sie alle im heimlichen
Einverständnis damit waren, alle, wie sie dort saßen und zuschau­
ten, sich davon unterhalten ließen, daran glaubten, es zum Leben
erweckten?
Sie würde krank werden, wenn sie nicht an das Abendessen
dachte, an ihr Haar, den Abend, der vor ihr lag, und an all die
Freude, die sie plötzlich ertragen konnte, eine Freude, di e um so
intensiver war, als sie bald zu Ende sein würde. Ganz richtig,
Goethe oder wer immer du sein magst, nur ein paar Wochen, ein
paar Stunden Glück im ganzen Leben.
»Jetzt…« Sie nahm drei tiefe Atemzüge und legte ihre Make-up-
Döschen auf dem Frisiertis ch zurecht. Porzellanbeige, Pflaumen­
rouge, Pistazzio Mousse, Silberfrost Blaßblau. Sie wü rde die
Tabletten nicht brauchen.
Ohne ihr Make -up war Amaryllis eine verblaßte Blondine, und
das wußte sie auch. Ein bißchen altmodisch, wie sie war, trug sie
lange Unterkleider mit beige Spitze an der Büste, liebte Cha m­
pagnercocktails, russische Romane und teure, etwas schwere
Parfums. Ihr Haa r war gebleicht, beinah geschmackvoll, ihre
flamingorosa Nägel wurden ein um den anderen Tag gelackt und
brachen trotzdem immer irgendwie ab und rissen ein, die Wi m­
pern waren ge färbt, zu dunkel, und ihr Körper behielt den An­
schein seiner ursprünglichen Frische durch drei Besuche im
Lotte-Berk-Studio pro Woche. Sie trug Strümpfe und keine
Strumpfhosen, französische Slips, keine Bik inis, und in einem
Haus in Hampstead, London, in einem Tisch neben ihrem Ei n­
zelbett gab es eine Schublade voll mit Lyrik, so zart wie ihr
kunstvolles kleines Gesicht.
Sheldon Lasky betete sie an, seit der Universitätszeit hatte er sie
angebetet und würde sie immer anbeten. Er liebte ihre Blässe (die
sich immer noch, wie an jenem ersten Morgen vor neunzehn
Jahren, spektakulär gegen seine Dunkelheit abhob), die Lücke
zwischen ihren überkronten Vorderzähnen, das verwirrte Pathos
in ihren Augen, und die Tatsach e, daß sie mit einem anderen
verheiratet war. (Arbeitete dieser Trottel nicht für Exxon? Er
nahm es an, brachte es aber nicht fertig nachzufragen.) Er liebte
sie auch wegen der langen Jahre, die er ohne sie gewesen war, in
denen sie, ganz unbewußt, seine Emotionen sublim gefangeng e­
halten hatte, und weil sie, soweit er das mitbekommen hatte,
verrückt gewesen war. Ihre Anspielungen auf die Klinik waren
vage. Sie sprach sehr viel darüber, ohne ihm wirklich etwas mi t­
zuteilen. Sie war fast ein Jahr lang auf der geschlossenen Abtei­
lung gewesen, dann danach noch monatelang in einem Einze l­
zimmer, ebenfalls mit verschlossener Tür. Und er spürte, daß sie
auch jetzt noch nicht wußte, was in der Zwischenzeit in der We lt
passiert war. Sie stieg in und aus Autos, beantwor tete Telefonan­
rufe, hatte sogar den Atlantik zweimal überflogen, um ihn in
seinem abgelegenen Apartment dreizehn Stockwerke über der
First Avenue zu lieben. Aber sie hatte den Anschluß verloren.
Die wirklichen Dinge machten ihr Kummer und, das konnte er
von ihrem Gesicht ablesen, bekümmerten sie auch jetzt, während
sie auf ihn zukam, vollendet zurechtgemacht.
»Mein Gott, du siehst großartig aus.« Er breitete seine Arme
aus.
Sie kniete vor ihm nieder und schüttelte ihren Kopf wie ein
Kind.
»O Shel, nichts mehr davon.«
»Dann mach es aus, Schätzchen.«
Ihr weißes Gesicht leuchtete sofort auf, sie drückte die Fer n­
steuerungstaste, und während sie ihn unter seinem Hemd stre i­
chelte und wirres Zeug redete, vergaß er alles über die Lage.
»Ich weiß, daß ich töricht bin , Shel. Ich muß einfach eine Zei t­
lang töricht sein. Das ist eine Entschädigung. Du bist eine En t­
schädigung. New York ist eine Entschädigung.«
Sie umarmte ihn. Für einen Wirtschaftsjuristen war er außero r­
dentlich leicht erregbar, dachte sie, und einen Augen blick später
lagen sie nebeneinander auf der Ledercouch, gegen die sie solch
eine Abneigung hatte.
»Findest du, daß ich ein Dummchen bin, eine Gans, eines von
diesen oberflächlichen kleinen Flittchen wie bei Turgenjew?«
»Ich finde, du bist eine Orangenköni gin«, sagte er und spielte
auf eine der achtunddreißig Blumenarten an, die ihre Namensvet­
tern waren und mit denen er das ansonsten asketische Schla f­
zimmer gefüllt hatte.
Er lächelte ihr Gesicht in Nahau fnahme an und hob zum du t­
zendstenmal seit ihrer Ankunf t den Rock eines dieser Seidenkle i­
der hoch, die den Exxon -Manager 500 Dollar das Stück gekostet
haben mußten. Sie war mehr oder weniger dieselbe. Sie hatte
etwas an Biegsamkeit verloren, aber das Wackeln und Gackeln
und der leicht schlafwandlerische Intell ekt waren immer noch
intakt. Wenn er mit ihr zusammen war, schrumpfte alles, was ihm
wichtig war, das Wenige, aber Unumgängliche, auf Null zusa m­
men, obwohl er versuchte, sie das nicht merken zu lassen. Er
verbarg ziemlich viel vor ihr (er verbarg vor jedem ziemlich viel),
zum Beispiel, daß er glücklich darüber war, daß sie nicht mit ihm
zusammenleben konnte. Sie war in London bei diesem Trottel
und bei Dahlia, und das war auch besser so. Aber er war für sie,
mein Gott, und wie er für sie war. Sie konnte – wie sagte man
gleich? – entmannen. Nicht körperlich natürlich, da galt genau das
Gegenteil, aber gefühlsmäßig. O Himmel, wie vor zwei Jahren im
Foyer des Clermont. Er hatte gerade einem Klienten gute Nacht
gesagt, nein, einer Frau, bei der ihm der Gedanke k am, mit ihr zu
schlafen, aber in letzter Minute, das kam öfter vor, hatte er sich
anders entschlossen und sie vor ihrer Zimmertür – eine höfliche
Enttäuschte im Fuchspelz und mit einem Lächeln wie gefrorenes
Joghurt – stehenlassen. Er war auf dem Weg zur Ba r, ihm war
bereits übel von schlechten Martinis und noch schlechterem
Kokain, er haßte London, die Engländer, das süßliche viktorian i­
sche Dekor, haßte es, sich den ganzen Tag lang im amerikan i­
schen Sinne vornehm benehmen zu müssen, war umwölkt von
Melancholie, die Nägel zum Beißen gingen ihm aus, und er wol l­
te, zum Teufel, nichts, als am nächsten Tag nach New York
zurückfliegen. Er hatte seit fünf Jahren nicht an Amaryllis Potter
gedacht – nun durch Ehe zu Amaryllis Gardner aufgestiegen.
Dann sah er sie nahe beim Eingang, sie sah weder ihn noch sonst
jemanden an, sondern hoch in den Raum zu irgendeiner Blume,
einem Stern, einem mystischen Geschöpf, das in diesem absurd
pink- und grünfarbenen Rundbau schwebte, nur für sie sichtbar.
Er näherte sich ihr. (Was wa r sie gewesen? Slawistikstudentin
oder etwas ähnlich Lächerliches. Er hatte mit ihr ebenso geschl a­
fen wie mit ein paar anderen Frauen, darunter ihre beste Freu n­
din, war jedoch eine Zeitlang kurz davor gewesen, sich an sie zu
binden, als sie, was sollte man dazu sagen, einen mittelmäßigen
Typen von der Harvard Business School geheiratet und ihr St u­
dium für immer aufgegeben hatte, diese benebelte Frau.)
Er wollte sie gerade ansprechen, so tun, als wüßte er nicht, ob
sie die sei, die sie war, als er plötzlich auf die Knie fiel. Unmö g­
lich, aber er, Sheldon Lasky, korrekt und zurückhaltend, fiel einer
Frau zu Füßen, die er neunzehn Jahre lan g nicht gesehen hatte,
und weinte.
»Amaryllis, komm und schlaf mit mir.«
»Nicht jetzt, Sheldon, Liebling, ich bin mit…« Sie mußte auf
ihren Ehemann gezeigt haben, aber Sheldon hatte mit beiden
Händen ihren Rock ergriffen und soviel, wie er davon kriegen
konnte, um seinen Kopf gewickelt und sah, hörte und fühlte
nichts außer ihren Oberschenkeln. Er war niemals so von Sinnen
gewesen.
Sie war vollkommen verständnisvoll und hatte keine Eile, die
Szene zu beenden, die ein beachtliches Publikum anzog. Statt
dessen verhinderte sie das Eingreifen ihres Mannes und streiche l­
te Shels weiches, schwarzes Haar, klopfte seine wogenden Schu l­
tern und schien sich an den Tränen und dem Rotz überall auf
ihrem Kleid nicht zu stören.
»Liebster She l, warst immer der liebste She l, der beste aller
Shellys«, gurrte sie mit ihrem erlernten englischen Akzent. »Es
war für uns alle ein fürchterliches Jahr, ni cht wahr? Ich weiß, ich
weiß. Aber weißt du, wir kommen so selten – fast niemals –
hierher, fast eine Schicksalsfügung, möchte ich sagen. Was hältst
du davon? Ein Wunder. Liebster, bester Shel – es ist, es ist –
Schicksal, meinst du nicht auch?«
Der liebst e Shel fuhr am nächsten Tag nicht nach New York
zurück. Er ging zum Tee. In ihrem beängstigend kleinen Haus
voller Bilder und Kissen, mit der aufgedrehten Dahlia, die zw i­
schen seine Beine kroch (er mochte Kinder nicht), das Teeg e­
schirr umkippte, den Zehn -Dollar-Schein zerriß, den er ihr ge­
schenkt hatte, und ihre sich bereits ständig selbst unterbrechende
Mutter unterbrach.
»Stimmt das – irgend jemand hat mir das erzählt, und nun bist
du selbst schon seit einer Weile einer –, daß Wirtschaftsjuristen,
anders als Buchhalter, eine große Fantasie in sich verbergen –
Dahlia, bitte laß das –, immer noch fähig zur Leidenschaft sind?«
Meinte sie das ernst? Oben schrie das Neugeborene, die häßliche,
unglückselige, drei Monate alte Hyacinth, im Todeskampf wegen
eines fehlenden oder mißgestalteten Organs. Ihr Leben würde
kurz und elend sein, das geschmacklose Spiel eines sadistischen
Gottes, und sie würde ihre Mutter für fast zwei Jahre zu einer
Verrückten machen.
Deswegen war Amaryllis nicht nach New York gekommen,
obwohl sie es an diesem Nachmittag, als sie auf Dahlias flausch i­
gem, engem Bett lagen, versprochen hatte. Sie hatte nicht mit
ihm schlafen wollen, jedenfalls nicht so ohne Umstände, und
ganz gewiß nicht in Gesellschaft der drei pickligen Muppet -
Monster und während Dahlia das Badezimmer zertrümmerte und
Hyacinth unten schrie.
Aber sie tat es trotzdem. »Sex macht jeden selbstsüchtig«, sagte
sie.
Sie wurde am fünfzehnten erwartet. Aber keine Amaryllis, kein
Telegramm, nichts. Sie war eingeschlossen, mit Medikament en
vollgestopft, und Hyacinth war tot. Monate später hatte sich ihr
Verstand beruhigt, und sie versuchte, ihn zu erreichen. Es war
schwierig gewesen: das Büro, der Mann, die Sekretärin, das alte
Apartment, das neue Apartment, die Exehefrau, mehrere Fau x­
pas und schließlich ihre Stimme, die am anderen Ende eines
Telefonats über den Atlantik zitterte. Ihre Tante in Providence
war krank, würde vielleicht sterben, und ob er sie gern sehen
wolle? Ja, das wollte er, freundlich, aber ohne eine Spur von
Gefühl gesagt, fast formell. So war er immer am Telefon, aber es
machte sie nervös.
»Hyacinth ist gestorben.«
»Das tut mir leid, Schätzchen.«
»Sie haben gesagt, wahrscheinlich, weil ich zu alt war. Kann ich
dir etwas mitbringen?«
»Nur dich selbst.«
»Danke dafür – daß du nicht angedeutet hast, daß es ein Segen
sei.«
»Schon in Ordnung.«
Sie nahmen ihre Liebesaffäre nach achtzehnjähriger Unterbr e­
chung wieder auf. Es war ein Erfolg gewesen. Jetzt war sie also
zurück, strahlend und verliebt wie eine Elinor-Glynn-Heldin,
angeblich, um Thanksgiving bei ihrer Tante zu verbringen, die in
Wirklichkeit vor sechs Monaten gestorben war.
»Warum sollte er das auch jemals rausfinden. Er zeigt keinerlei
Interesse – es ist wirklich erstaunlich – könnte sich nicht weniger
kümmern – du weißt, daß er niemals auch nur die leiseste – nicht
eine einzige Frage nach meiner Familie gestellt hat. Also habe ich
es ihm nie erzählt. Sie ist gestorben, und ich habe es ihm einfach
nicht erzählt und besuche sie weiterhin. Das ist perfekt. Das
einzige, was ich jemals mit Erfolg organisiert habe.«
Der Gedanke an den Betrug begeisterte sie. Auch She l begei­
sterte er, und er wickelte sie von Kopf bis Fuß in seine Uma r­
mung ein. Wenn er glücklich war, wurde er immer stumm.
»Laß uns niemals über Dinge sprechen, di e uns nicht gefallen«,
sagte sie.
»Laß uns niemals sprechen.«
Er drückte seine Zigarette aus und schlief mit ihr ohne weitere
Umstände. Gegen Ende stieß er sie zweimal fester, als er bea b­
sichtigte, und als sie fertig waren, setzte sie sich auf und unte r­
suchte zögernd die großen roten Flecken auf ihrem Obersche n­
kel. Es tat ihm sehr leid, und er sah so ernst aus mit nichts an als
Socken an den Füßen, daß sie lachte und ihm die Arme um den
Hals schlang. Er ging darauf ein, indem er sofort wieder begann,
sie zu streicheln.
Shels spontane Zuneigung überraschte Amaryllis jedesmal. Er
berührte sie ständig, fühlte sich zu ihr hingezogen, als sei sie ein
sanfter Magnet. Sie nahm an, das kam, weil er ein Krebs war,
aber sie hatte bei keinem anderen Mann eine solche Zä rtlichkeit
erlebt.
Sie fühlte sich so glücklich, daß sie nahe daran war, überz u­
sprudeln. Unter gewöhnlichen Umständen hätte sie versucht, sich
zurückzuhalten, aber Shel war so tolerant.
»Also«, seufzte sie, »es gibt Romantik in unserem Leben. Und
obwohl wir in Schmerz und Düsternis und in einer drittklassigen
Welt leben, können wir zusammenkommen und uns gegenseitig
Belohnung für all das Elend sein. Und wir werden uns nie stre i­
ten, dazu haben wir keine Zeit; nur Zeit für Liebe und Freude,
die uns für alles entschädigen. Shel, Liebling, verzeih, wenn ich
zuviel rede. Das kommt von der Klinik und den Medikamenten
und all den Monaten, die ich allein und ohne dich eingesperrt
war. Du hast so hübsche braune Augen.« Die Küsse, die sie ihm
auf die Lider gab, waren wie zwei warme Regentropfen.
Sie würde sich zum Abendessen noch einmal ganz neu zu­
rechtmachen müssen. Lachend über ihre Verfassung stand sie auf
und ging aus dem Schla fzimmer, die Strümpfe ringelten sich um
ihre Fersen, und die Haarnadeln fielen mit einem kleinen Plink!
aus ihrem Haar auf den Parkettfußboden. She l beobachtete sie,
seine Knie gegen den Brustkorb gezogen, hielt sich selbst wä h­
rend dieses geräuschlosen inneren Kicherns umfangen, das,
soweit sie wußte, niemals zu etwas Heftigerem wurde. In eine m
Augenblick kehrte sie zurück, stand da und schaute ihn an, spli t­
ternackt, ganz blauäugige Offenherzigkeit.
»Ich habe gedacht, daß ich sie verloren habe, Shel, für immer
verloren, aber du hast sie mir zurückgebracht.«
»Was denn?«
»Meine Fähigkeit, Freude zu ertragen. Eine Zeitlang habe ich
gedacht, daß es mich umhauen würde, wenn ich jemals wieder
etwas Erfreuliches erleben sollte. Aber jetzt kann ich sehr viel
davon verkraften, wirklich übermenschlich viel.«
»Du bist so ein gutes Mädchen.«
Alle We lt sprac h über die Lage. Ihre himmelschreienden Ei n­
zelheiten hielten sogar das Restaurant besetzt, das normalerweise
so dunkel und ruhig war, der einzige Ort, den Amaryllis kannte,
an dem es keinen erkennbaren Kontrast zwischen grün und rot
gab. Sie konnte die Dis kussionen an den anderen Tischen hören.
Die Ober murmelten über ihren Wärmeschüsseln und Tra n­
chiermessern, benutzten Worte wie Vergeltungsschlag und wa r­
fen sich religiöse und adelige Titel des Mit tleren Ostens zu, die
inzwischen schon gängig geworden waren ; trotz ihrer Anstre n­
gungen, sie aus ihrem Bewußtsein zu sperren, konnte sie sie nicht
mehr in ihren eigentlichen Einflußbereich zurückverweisen. Sie
nahm schnell die Tabletten und trank, gegen die Anweisungen
des Arztes, drei Champagnercocktails.
»Ich möc hte den Lachs mit Sauerampfersauce und Klößen.«
Der Ober blickte scheel auf die kichernde Blondine, die sich an
den amüsierten Sheldon lehnte.
»Jetzt erzähl mir etwas von deiner litauischen Großmutter –
oder hast du georgisch gesagt? Ich bewundere alles Ru ssische,
vor allem…«
Er küßte ihr die Hand. »Dat, mein Lieplink, wird sehr schnell
ein unangessenes Thema für Begeisterunk werden.«
»Dann werde ich dir etwas erzählen über – hast du schon be­
merkt, wieviel besser ich mich ausdrücken kann, wenn ich be­
trunken bin?«
Am Nachbartisch erhoben sich Stimmen.
»O She l, mach, daß sie still sind. Sprechen die New Yorker
denn nicht mehr über Baseball oder Straßenbau oder Konzep t­
kunst oder Ehebruch? Sind die Bürgerrechte denn kein Thema
mehr?«
»Liebling, nichts ist zur Zeit ein Thema – außer das eine große.«
Er versuchte, die kniffligen Einzelheiten der Lage für sie zusa m­
menzufassen.
»Aber das ist doch bestimmt nur in ihren Köpfen. Shelly, Lie b­
ster, glaubst du nicht? Es ist in Wirklichkeit ein Symptom ihrer
Geistesgestörtheit, eine Erfindung ihrer krankhaften Fantasie –
genau wie die schwarzen Löcher. Ich habe das begriffen, als ich
in der Klapsmühle war. (Ich habe dort so vieles begriffen, mehr
als ich dir jemals erzählen kann.) Die schwarzen Löcher sind in ihren
Köpfen«, flüsterte sie melodramatisch, als teile sie ihm streng
geheime Informationen mit. »Die Raketen sind in ihren Köpfen,
die Neutronenbombe ist in ihren Köpfen. Und sie projizieren
diese verdrehten Fantasien auf dich und mich, um wie üblich
alles andere zu ver derben. Sie hassen Schönheit und Glück und
wollen beides töten. Niemand kann Freude ertragen, oder fast
niemand. Was sind das nur für Kreaturen. Hassenswert, absche u­
lich. Man schrickt vor seiner eigenen Art zurück. Aber wir spr e­
chen über Dinge, die ich nicht mag, und wir entschädigen uns bei
weitem nicht genug. Was gibt es im Modern?«
»Du sprichst viel intelligenter, wenn du betrunken bist.«
Im Taxi kam er noch einmal auf das Thema der globalen Krise
zu sprechen. Seit er neun Jahre alt gewesen war, hatte Sh eldon
die Weltereignisse genauso gierig verfolgt wie Fußball. Er war
sehr gut informiert. Aber Amaryllis schrak vor seinen Statistiken
zurück. Es hatte keinen Zweck, er wußte, daß es grausam war, sie
ihr aufzudrängen, und ließ das Thema fallen.

»Küß mich , Shel, einen langen, langen feuchten, wie nur du ihn
geben kannst.« Er gehorchte.
Amaryllis stand mit ihrer Kaffeetasse da, die auf dem Unterse t­
zer klapperte, und sah in das k alte Licht der First Avenue hinaus.
Jede Minute konnten die Tabletten jetzt anfa ngen zu wirken.
Letzte Nacht hatte das teuflische Glitzern der Stadt ihr gefallen.
Heute morgen kam sie ihr entblößt vor, wie ein Raum, der für
neue Tapeten vorbereitet worden war. Der Platz der Vereinten
Nationen summte. Gerade waren mehrere Limousinen mi t Poli­
zeieskorten eingetroffen. Sirenen heulten, und eine Flotte von
weißen Motorrädern lungerte neben dem Bürgersteig. »In diesem
Monolithen aus Beton«, wurde ihr kurz klar, »entscheiden hal b­
gebackene Diplomaten über unser aller Schicksal.«
An einigen der Gebäude an der First Avenue flatterten amer i­
kanische Flaggen, und die Läden waren mit politischen Plakaten
und Slogans geschmückt. »Ein Wiederaufleben des Patriotismus«,
hatte der Sprecher in den Nachrichten gesagt; She l hatte darauf
bestanden, sie zu seh en, bevor er ins Bett ging. Ihr schauderte.
Sie waren alle verrückt.
Sie ging in das Schlafzimmer mit seinem prächtigen Ausblick
auf das Chrysler -Gebäude. »Damit hätte es enden sollen«, mu r­
melte sie diesem Ausbund an kapitalistischer Anmut zu.
Sie beobacht ete Shel und lauschte seinen regelmäßigen Ate m­
zügen. Nachdem er eine Stunde mit ihr im Bad verbracht hatte
(das ganze Apartment duftete nach Pfirsichkernbadegelee, Am­
beröl und Ziegenmilchseife, die sie wahllos in ihr hedonistisches
Badewasser gekippt hatte ), war er zurück ins Bett gegangen und
lag nun vollkommen gelassen auf dem Rücken, die Arme über
seine wohlgestaltete Brust gefaltet und den Kopf auf drei Kissen
gestützt, um sich eine mittägliche Quizsendung besser ansehen
zu können, die vor einem Wall au s Amaryllisblüten geräuschlos
dahinflimmerte.
»Der große, stattliche Shel. Es würde lächerlich wirken, fast
schon trist, wenn jemand anders so gut aussähe wie du.« Er
schnarchte niemals, roch niemals schlecht, und seine Haare
standen niemals ab. Sein Fell lag sanft und geschmeidig an wie
das einer Burma -Katze. Er scheuerte ihr niemals das Gesicht
wund, indem er versäumte, sich zu rasieren. Wohin, fragte sie
sich oft, ist nur all das Unerfreuliche, Abstoßende, das andere
Männer an sich haben, verschwunden – ihm schien nichts davon
eigen zu sein. In seine Melancholie, nahm sie an. In seinen traur i­
gen Materialismus.
Das Apartment, trotz seines beneidenswerten Ausblicks auf
Manhattan, für das er, sie konnt e nicht raten, wieviel, aber be­
stimmt mehr, als er sich le isten konnte, bezahlt hatte, zeugte für
seine kahle, vermögende Existenz.
Es schien aus leeren Räumen zu bestehen. Die Möbel, sorgsam
unpersönlich, waren in regulären Abständen aufgestellt, ohne daß
ein Stück mit einem anderen telepathische Verbindungen einging,
vielmehr existierten sie alle solide und teuer für sich allein. Er
hatte die Wohnung für sie gekauft, sagte er (Umgebungen inte r­
essierten ihn nicht; er hätte auch auf einer Couch im Büro ge­
schlafen), um mit ihr allein zu sein, um seine Partner notfa lls
anlügen und ihnen sagen zu können, er sei für eine Woche nach
Key West geflogen; und auch, um sich seiner Frau entziehen zu
können, von der er sich entfremdet hatte, irgendeiner eleganten,
frostigen Frau aus Philadelphia, die absolut nicht amüsant gew e­
sen war.
Der Kühlschrank schaltete sich ein, und sie sprang hoch, ve r­
schüttete den Kaffee über ihren Veloursmorgenmantel. Ganz
Amerika schien von den Geräuschen der Kühlschränke zu vibrie­
ren oder an der Leere zu leiden, die zurückblieb, wenn sie von
ihrer Mühsal ausruhten. Dieses Modell war riesig, antiseptisch
und leer, abgesehen von der Dose mit She ls Instantkaffee, dem
Marihuana im Gefrierfach und der Ananas, auf deren Kauf sie
bestanden hatte. Sie füllte ihre Tasse an der Kaffeemaschine
nach, die aussah wie eine tödliche Falle aus einem James -Bond-
Film. Sie wurde von dem teuersten Mixer und der teuersten
Saftpresse flankiert, die auf dem Markt waren. Keines der beiden
Geräte war jemals benutzt worden.
Dann ging sie zurück ins Schlafzimmer und setzte sich zw i­
schen die Blumen mit ihren großen, üppigen Blütenmäulern.
Welch ein Gegensatz zu ihrer Umgebung: ein Warho l-Druck im
obligaten Metallrahmen, sonst nackte Wände, ein Zweitfernseher
mit Videozubehör, ein kahler Kleiderständer, kopf- und fußloses
französisches Bett, eine Sci -fi-Leselampe, für Shels Sci -fi-
Taschenbücher und Luxusbände mit erotischer Kunst. Ihr pe r­
sönliches Durcheinander wirkte genauso widersprüchlich; sel t­
same weibliche Dinge, wie Treibgut über einen verlassenen
Strand verstreut: Schuhe mit hohen Absätzen und Schleifen mit
Pünktchenmuster, Täschchen mit Knipsverschluß, Romane,
Make-up, Parf um, Tabletten – zahllose Tabletten – und die
Schachtel mit Marzipan aus dem Laden in der 89. Straße, für She l
gekauft, aber von ihr verzehrt.
Der Nachttisch blieb eisern seiner: Digitaluhr, Taschenrechner,
eines der drei Telefone des Drei -Zimmer-Apartments und eine
Sammlung von Nasensprays – lauter Dinge, die für ihn womö g­
lich lebenswichtiger waren als sie. Aber das war ein weinerlicher
Gedanke und einer fa st vierzigjährigen Frau nicht würdig, die es
schließlich doch noch gelernt hatte, Freude auszuhalten. Trot z­
dem ärgerte die sich über die Art, wie die Uhr die Sekunden
verschluckte, sie ihr mit all ihren flüchtigen Möglichkeiten zeigte
und dann wegschluckte , noch ehe sie nach einer greifen konnte.
Die Minuten zogen sich etwas länger dahin, aber auch sie rollten
in die Maschine zurück wie die Augen in einem Puppenkopf.
Auf einem Stuhl, auf dem niemals jemand gesessen hatte, die
getragenen Kleider der letzten drei Tage in abwechselnden
Schichten – Amaryllis, Sheldon, Amaryllis, Sheldon, Sheldon,
Amaryllis. Die unterste Schicht bestand aus ihrem weiten, blaßka­
rierten Schottenrock, den sie im Flugzeug getragen hatte. Sie
hatte ihn gekauft, weil sie etwas Üppiges und leicht Zugängliches
für ihre erste Begegnung haben wollte, etwas, das man dem
sofortigen Glück zuliebe ohne große Umstände abwerfen kon n­
te. Die Frage, das fiel ihr nun wieder ein, war gewesen, ob er sie
abholen oder nicht abholen sollte. Sie änderte ih re Meinung
dreimal. Sie würde allein ankommen und dann auf dem Rücksitz
eines Taxis den ganzen Weg vom Flughafen daran denken, wie
sie ihm immer näher kam. Köstlich für sie, aber der Plan schloß
ihn nicht ein. Nein, er mußte sie abholen, aber nur, wenn er eine
Limousine mietete, so daß sie auf dem ausladenden Rücksitz
Champagner trinken und knutschen konnten. Nein, sie mußten
sofort freudig übereinander herfallen (das andere war er allmä h­
lich satt); keine schmierigen pubertären Vorspiele, sie würde
allein in sein Apartment kommen, ja, sie war sich ganz sicher, ja,
sie würde auf jeden Fall kommen. Sie buchte den Flug.
Nach ihrer Dreiviertelstunde im Waschraum klopften verärge r­
te Passagiere an die Tür. Wußte sie denn nicht, daß sie in fün f­
zehn Minuten landen würden? Sie warf ihnen ihr kühnstes und
leichtestes ›Nur noch einen Augenblick!‹ zu und zog die Lippe n­
konturen zu Ende. Oh, das Licht in Flugzeugen war grausam. Es
zeigte ihr Falten, Narben und Härchen, die sie seit Monaten nicht
wahrgenommen hatte. Und dan n die Statik – es war unmöglich,
ihr Haar in Form zu bringen (mit mehreren Kämmen, alle ve r­
schieden aussehend, aufgesteckt, Locken, die über ihre Stirn
fielen, sie hatte es in einem Film gesehen; ein bißchen absurd,
selbst sie mußte das zugeben, aber doch reizvoll). Erneutes
Pochen an der Tür. O mein Gott, und sie hatte noch nicht ei n­
mal gepinkelt. Vorsichtig legte sie Streifen aus Toilettenpapier auf
den Sitz und zog ihren französischen Slip herunter. Das ›Bitte ­
anschnallen‹-Zeichen leuchtete auf und zog eine energische
Stewardeß nach sich. Würde sie bitte sofort auf ihren Sitz zurüc k­
kehren. Amaryllis stand auf und fing an, die Kosmetiksachen und
die Tabletten in eine teure Ledermappe zu fegen, in der sie alles
Lebensnotwendige bei sich trug und ohne die si e nirgendwo
hingehen konnte. Dann zögerte sie, zog sich den Schlüpfer aus
und stopfte ihn in die Mappe. Sie nahm ihre Vierzehn -Uhr-
Tablette, wischte das Waschbecken sauber, wie das Schild es ihr
höflich, aber bestimmt nahelegte, und kehrte auf ihren Sitz zu­
rück, errötete angesichts der empörten Blicke von Passagieren,
die ihretwegen nicht drangekommen waren und die sich in der
nächsten halben Stunde sehr ungemütlich fühlen würden.
Shel fegte den Küchenboden, als sie ankam, hörte auf, Tequila
zu nippen und seine Nägel zu kauen. Er war sehr nervös, das
wußte sie, aber o so glücklich, sie zu sehen, obwohl er versuchte,
ihr nicht zu zeigen, wie sehr. Sie war im Vorteil mit ihren ausg e­
zeichneten erotisierenden Antidepressiva.
»Shel, Liebster, ich sehe, du brauchs t noch ein, zwei Tequilas,
nicht? Aber was wäre, wenn ich meine Hände dort hinlegen wür­
de?« Sie wandte sich kokett ab.
Er packte sie von hinten, preßte ihre Brüste mit seinen Armen
zusammen.
»Ich liebe dich, ich liebe dich, ich liebe dich, Amaryllis, ich will
dich, ich will dich, ich liebe dich, liebe dich, liebe dich.« Das war
schon besser.
»Ich weiß. Ich glaube dir, Shelly.«
Sie legte sich vor ihm auf das Bett und schlug ihren Schottenkilt
auf. Er zeigte sich nicht im geringsten überrascht, fast so, als
hätte er erwartet, daß sie unter dem Rock nackt sein würde, und
zerriß wie üblich ihre Strümpfe. Statt das Erwartete zu tun, legte
er dann sein Gesicht zwischen ihre Beine und küßte und leckte
sie, und trotz ihrer süßesten Verlockungen, ihn in sich zu ziehe n,
behauptete er, daß er für immer so weitermachen könne. Aber
nein, nicht bevor sie nicht dreimal gekommen war (er hatte eine
Art, mit seinen o so eigenen Lippen an ihr zu saugen, und die
Tabletten bewirkten, daß sie zutiefst entspannt war), gab er ihr
schließlich ihren eigenen Geschmack zu kosten und schlüpfte auf
die altmodische Art in sie, als ob der Garten Eden gerade erst
verlorengegangen wäre und dies das allererste Mal sei. Und sie
schrie, und als er schließlich mit Penis, Fingern und Zunge zu­
gleich alles mit ihr getan hatte, was ihm einfiel, war es halb zwölf
und zu spät für das Abendessen.
Sie war gerade dabei, zur nächsten Schicht überzugehen und die
Szene mit dem Jean -Muir-Kleid neu zu erleben, als She l halbbe­
wußt seinen Arm hob.
»Amaryllis«, sagte er, »wollten wir nicht irgendwo hingehen?«
»In die Weidenfeld -Sammlung, aber die ist noch bis zum zwe i­
ten geöffnet.«
Er küßte ihre Handfläche. »Bring mir eine Tasse Kaffee, Lie b­
ling, und die Zeitung, und dann bin ich bereit, mit dir loszugehen
und die Kultur zu lieben, obwohl die Oilers heute gegen die
Steelers spielen.«
Sie ließ die Sonntagsausgabe der New York Times mit ihren gro­
ßen schwarzen Schlagzeilen auf seine Brust fallen. »Da hast du’s:
Katastrophen, Blutvergießen, Massaker, globale Verschwöru n­
gen, verkrüppelte Kinder, skrupellose Politiker. Wie kannst du so
etwas nur lesen?« Er wollte etwas sagen. »Schon gut, Shel, ich
werde mich nicht beklagen, solange du mit mir nicht darüber
diskutierst. Da sind mir sogar deine Ehemaligen lieber.«
»Es gibt ke ine Ehemaligen, Liebes.« Er lachte sein geräuschl o­
ses inneres Lachen, das in sich selbst zurückzurollen und sich
selbst aufzuzehren schien, so wie die Digitaluhr die Minuten und
Sekunden verzehrte. Er bat sie, den Fernseher einzuschalten, der
jetzt den Eur hythmieunterricht von June Ally son und Peter
Lawford zeigte. Sie strich die Kissen für ihn glatt, und eine Stu n­
de lang las er grimmig mit der dicken, schwarz gerahmten Brille,
die ihm über seine herrliche Nase rutschte, wobei er tassenweise
schwarzen Kaff ee trank und schon fertig gerollte Joints mit
kolumbianischem Marihuana rauchte.
Als Resultat davon, daß Amaryllis es nicht hatte vermeiden
können, einen Blick auf die Führer zu wer fen, die sich über
nichts anderes als die Lage heisersch rien, mußte sie ihr e Tablet­
ten zu früh nehmen und vergaß also das meiste von dem, was sie
in der Literaturbeilage las.
»Herzchen«, sie lehnte sich vor und klopfte mit dem längsten
ihrer rosa Fingernägel zart gegen de n Wirtschaftsteil. Shel lächel­
te ihr über den Rand von Seit e 131 beruhigend zu. »Wir sollten
gehen.«
Er legte die Zeitung beiseite. »Ich liebe dich, Amaryllis.«
»Wirklich? Selbst wenn die Welt aus den Fugen geht?«
»Dann sogar noch mehr.«
Sie sah, wie das Bettuch unterhalb seines Nabels auf und nieder
hüpfte, ganz zart, als ob er mit einer Katze spielte.
»Shel, das hier ist eine Liebesgeschichte, oder?«
»Ja, das ist es.«
»Das ist alles, was zählt, weißt du.« Sie krabbelte zu ihm und
legte sich auf ihn. »Es ist so greifbar, ich meine, ich kann ins Bett
gehen und mich damit mitten in der Nacht allein hinlegen, bei
heulenden Stürmen und Dunkelheit draußen, und kann es halten
und an mich drücken, und die verrückte Welt geht zugrunde, und
du bist hier in mir drin, tiefer als tief, Shel, für immer verwu r­
zelt.«
Er, dann sie , dann eine Dämmerzone voll wahlloser, halbb e­
wußter Küsse.
»Backgammon?«
»Scrabble.«
Sie schafften es niemals bis in die Weidenfeld-Sammlung.
Eine Stunde später führte Houston vor Pittsburgh mit dreißig
zu sieben, aber niemand Bestimmtes gewann das Scrabbl e-Spiel.
Sie vergaßen mitzuzählen und brauchten zehn Minuten für die
Wörter mit drei Buchstaben. Halb zurückgelehnt in ein Gewirr
aus Bettzeug, aßen sie das Marzipan und sprachen kaum, dafür
lächelten sie sich um so häufiger an.
»Du warst der Beste«, sagte sie.
Seine braunen Augen wanderten runter bis dort, wo der Ve­
loursmorgenmantel offenstand, ihm eine Haut zeigte, die ihn
immer noch an Nektarinen erinnerte. »Nein, du.« Die Menge
brüllte.
Geschickt ließ er sie nach hinten gleiten, verstreute überall die
Plastikbuchstaben. »Werden wir jemals aufhören könne n… wo
hast du das alles nur gelernt, meine Lieb e… Liebste, Liebst e…
ich freue mich, daß du die Beste bist.«
Sie schliefen. Houston gewann. Es fing an zu schneien, und die
Lichter im Chrysler -Gebäude gingen an. Das Telefon läutete
neunmal.
»Deine Frau?« stöhnte Amaryllis, als es schließlich aufhörte.
»Haben wir gevögelt?«
»Weißt du es nicht mehr?«
»Nein«, neckte er sie.
»Dann muß ich dir sofort ein Wiederholungsspiel bieten.«
»Amaryllis, bist du…«
»Wund? Bin ich nicht, ich meine, doch, aber um so besser.«
»Gott, Amaryllis, was ist, wenn ich dich umbringe?«
»Tu so, als ob – « er kam – »du es vorhast.«
»Oh, Süße.«
Donnerstag würde Thanksgiving sein. Mittwoch abend erinne r­
te si e ihn daran und bestand darauf, ihm einen Truthahn zu
braten. Er protestierte schwach, hätte es vorgezogen, wenn sie es
gelassen hätte. Essen langweilte ihn beinah so sehr wie Wo h­
nungseinrichtungen. Aber er gab nach, sie war mit einem solchen
Eifer dabei. Alles, was sie wollte, alles.
Natürlich war der Schrank leer bis auf die Ananas und das Ma­
rihuana, also mußten alle Zutaten erst eingekauft werden, und es
war jetzt halb neun Uhr am Vorabend von Thanksgiving. Sie
nahmen ein Taxi ins Village zu Ba lducci, denn Amaryllis sagte
beharrlich, das sei der einzige Laden, wo es alles gebe, was sie
brauche. Sie schoben den Einkaufswagen zusammen, sie brach
bei allem in Begeisterungsrufe aus, er hatte seinen Arm um sie
gelegt und schmuste mit ihr, wenn sie anhielten, ganz ungeniert
über öffentliche Lieb esbekundungen. Großartige Dinge kaufte
sie, köstliche, extravagante Dinge, und brachte es sogar zustande,
den gelangweilten Shel mit ihrer Begeisterung anzustecken.
Die Truthähne waren enorm groß, also entschieden sie sich für
Fasane. Sie wußte die köstlic hste Sauce dazu. Er würde schon
sehen, würde staunen, was für eine fantastische Köchin sie war –
und so durchorganisiert –, das war das Ergebnis jener Abendku r­
se, die ihr hatten helfen sollen, ihr seelisches Gleichgewicht
wiederzufinden. Cordon bleu, korea nisch, persisch, kreolisch –
sie konnte in jeder Tonart kochen. Das Ganze würde fast so
werden wie bei Sabrina und Linus Larabee.
»Hat sie das Soufflé nicht aus Kräckern gemacht?«
»Sie sagte, sie könne ein Souffl é aus Kräckern machen.« Sein
Gedächtnis, wie seine Zärtlichkeit, erstaunte sie immer wieder.
Auf dem Weg nach Hause kamen sie am UNO -Gebäude vor­
bei, aber sie hielt ihn mit einem Kuß davon ab, etwas über Si t­
zungen oder die Lage zu sagen.
Amaryllis hatte ihrem Mann versprochen, ihn an Thanksgiving
anzurufen. Da dieser Anruf eine ganze Menge Lügen erforderte,
hatte sie sich im Schlafzimmer eingeschlossen, sagte die vorb e­
dachten Unwahrheiten mit gedämpfter Stimme auf und überließ
es Sheldon, über die Vögel zu wachen, die in einem Ofen, groß
genug, um Hänsel und Gretel darin zu rösten, lebhaft vor sich
hinbrutzelten.
Vor dem Telefonieren hatte sie zögernd vor der Schlafzimme r­
tür gestanden und sich zu ihm umgedreht.
»Ist es nicht merkwürdig, daß die einzige Möglichkeit, dich die
ganze Zeit für mich zu haben , darin besteht, daß ich dich die
meiste Zeit nicht für mich habe?« Sie sagte das mit einem Anflug
von Lächeln. Dann mußte er ihr versprechen, nicht zu lauschen.
Und obwohl er ohne Gewissensbisse mit dafür gesorgt hatte, daß
in Büros und einmal auch in ein er Privatwohnung kleine Abhö r­
geräte installiert wurden, war sein Charakter doch solcher Art,
daß er nicht einmal im Traum daran gedacht hätte, etwas von
ihrem Gespräch mitzubekommen. Zum Teil war er nobel, und er
war großzügig genug und vernünftig genug, Amaryllis ihr sonst i­
ges Leben nicht schwerzumachen. Es war ihm so widerwärtig,
daß er keinerlei Wunsch verspürte, mehr darüber zu erfahren, als
er bereits wußte. Trotzdem hätte ein anderer an seiner Stelle
vielleicht ein perverses Vergnügen daran gefunden, Staub aufzu­
rühren.
Sollte er sie retten? fragte er sich. Sollte er sie sich nehmen und
für immer bei sich behalten, indem er sie ganz offiziell im dre i­
zehnten Stock unterbrachte? Sollte er ihr helfen, die fixe Idee zu
überwinden, daß sie für ihre Lust mit monatelanger stoisch
ertragener Mühsal bezahlen müsse, sie davon überzeugen, wie
verrückt es war, daß sie in ihrem Alter Märtyrer der Liebe spie l­
ten? Er dachte darüber nach, er war in Versuchung. Aber er
wußte genau, in kürzester Zeit würde sie sich zahme Kaninchen
wünschen und Blumenständer, und er würde die Wände hochg e­
hen. Sie würde ein Vermögen bei Psychiatern und bei Bendel ’s
lassen und mit ihm über Solschenizyn sprechen wollen. Dann
würden Opernbesuche fällig werden: einen ganzen Abend ›La
Traviata‹, wenn er einen Boxkampf sehen oder um die Ecke ins
Kino gehen wollte. Sie würde ihm ständig bröckche nweise In­
formationen anbieten, wie wessen Ausstellung sich Mussorgsky
angesehen hatte, wobei sie den naßkalten Nachmittag in Peter s­
burg – oder war es Moskau – heraufbeschwor, und das alles,
wenn er einen klaren Kopf bewahren und Geld verdienen mußte.
Aber er liebte sie, er konnte ihr nicht widerstehen. Sie war eine
Oase der Zuneigung in einer Wüste aus trockenem Sex, und
wenn sie in zwei Tagen abreiste, würde es ihm das Herz brechen.
Inzwischen dachte Amaryllis, die hinter der Schlafzimmertür ihr
vorprogrammiertes Gespräch mit dem Exxon -Manager führte,
daß sie ihren Ehemann nicht so sehr haßte oder er sie langweilte,
sondern daß er ganz einfach für das Geld da war. Sie war ihm
beinah dankbar dafür, daß er so schlimm war, wie er war; daß er
die Bezahlung so schmerzhaft, so abstoßend werden ließ. Das
war natürlich ein Teil des Tricks.
Oh, der Trick, der Trick; wo wäre sie ohne den Trick?
In der Klinik hatte sie an gefangen, den Trick zu verstehen.
Allmählich, während dieser wirren, leeren Stunden, hatte sie
verstanden, wie sie sich selbst durch das erschreckende Spiel des
Lebens würde dirigieren müssen, um da herauszukommen, gewiß
nicht als Gewinnerin, aber mit etwa s Kleinem, überhaupt mit
irgend etwas. Ein Vertrag mußte geschlossen werden, ein Au s­
gleich der Bezahlungen, mit einem anonymen Schicksal ausg e­
handelt, das es nicht gern hatte, wenn irgendwer auf eigene Faust
abrechnete. Es würde schwierig werden, aber sie mußte es versu­
chen. Sonst würde die Vergangenheit sie lähmen. Sie würde
Trübsal blasen wegen Hyacinth, Dahlia vernachlässigen, Abne i­
gung gegen ihren Mann verspüren und sich für alle Zeiten dumpf
und leer fühlen.
Es dauerte Monate, ehe der Handel zustande kam. Unfähig zu
kämpfen, wurde sie von Erinnerungen und Träumen überflutet.
Aber die Erinnerungen waren ihre Wegweiser, ihre Reiseführer,
ihr Halt im Leben. Zum Beispiel: ein frostiger Nachmittag in
Boston zu einer Zeit in ihrem Leben, als ihre Nägel die gl eiche
Farbe hatten wie die der meisten Leute und sie noch sorglos
schön war. Sie war neunzehn, She l einundzwanzig. Sie hatten
sich gerade getroffen, hatten ein-, zweimal zusammen geschlafen,
waren aber scheu miteinander und hatten irgendwelche lärmigen
Bekannten besucht, um bis zur Schlafenszeit nicht zu lange unter
sich zu sein. (Es machte sehr viel Spaß, wenn sich ihre Augen ab
und zu tra fen und über das betrunkene Geschnatter hinweg
unsichtbare Brücken schlugen.) Ihr war kalt, sie kauerte sich in
ihren Stuhl und fröstelte. Shel fing die Bewegung auf und sprang
ohne zu zögern auf, nahm von der Wand eine Navajo -Decke, die
angeblich sehr wertvoll war und von ihrem Besitzer sehr in
Ehren gehalten wurde, und wickelte sie um sie, stopfte sie sor g­
fältig ringsum fest. Irgendwer lachte nervös auf, verlegen ge­
macht durch den spontanen Zauber dieser Geste. Aber niemand
bat ihn, die Decke wieder aufzuhängen.
Nachdem Dr. Lutisowski sie aus der Nervenheilanstalt entla s­
sen hatte, verbrachte sie viele Wochen in ihrem Zimm er, fühlte
sich ausradiert wie eine Zeichnung oder eine beschriebene Seite.
Nur ein paar Spuren waren noch auf dem Papier, so schwach,
daß man es gegen das Licht halten mußte, um sie sehen zu kö n­
nen. Aber die Erinnerungen kamen weiterhin, und die meisten
kreisten um Shel. Sie stärkten sie, und sie drehte und wendete sie
wieder und wieder in ihrem Kopf, hielt wie besessen an der
Szene im Foyer des Clermont fest. ›Das damals‹, sagte sie dann
zu sich, ›war Schicksal, Amaryllis, du alberne, ruinierte, früher
einmal intelligente Frau. Um Gottes willen, erkenne das doch
und handle danach.‹ Aber sie konnte nicht – noch nicht.
Sie ging wieder in die We lt hinaus. Alles, was sie dort vorfand,
war eine Menge Leute, die so taten, als ob sie erwachsen wären,
und alles, was sie wußte, war, daß ihre besten Kräfte, offenbar
ohne daß sie es wußte, in Banken, Restaurants, Läden und Kla s­
senzimmern versandet waren, bis sie sich selbst, zu spät, gefu n­
den hatte, als eine verblaßte Blondine. Und diese Orte warteten
immer noch auf sie, bereit, ihr die Lebenskraft im Namen des
wiederhergestellten inneren Gleichgewichts auszusaugen. War es
nicht besser, von diesen kostbaren Kräften zu retten, was noch
zu retten war, und sie an She l zu verschwenden? Sie löste ihr
Versprechen verspätet ein und rief ihn an.
Als sie dann dem Exxon -Manager auf Wiedersehen sagte, war
sie voller Entschlossenheit, als ob ihr ganzes Aggregat an DNS,
jetzt durch sie selbst freigesetzt, nur immer darauf gewartet hätte,
für diese eine entschädigende Romanze eingese tzt zu werden.
Und sie wollte keine Kameradschaft oder gemütliche Sicherheit
oder kulturelle Übereinstimmung oder Gleichberechtigung oder
vernünftige Gespräche, die mit leeren, klugen Kompromissen
endeten. Sie wollte eine üppige Freude mit unüberwindlichen
Hindernissen dazwischen. Ohne diese Hindernisse konnte die
Freude nicht blühen, sie kräftigten ihr Wachstum. Das, meine
Damen und Herren, war der Trick! Und Shel – der alte, gutau s­
sehende, verschwiegene sexuelle Fatalist –, Shel war der perfekte
Komplize. Er forderte keine Erklärungen, Rechte oder Pflichten.
Wie sie konnte auch er sein Auge auf das einzig Wichtige ko n­
zentrieren, ohne es sich durch Gier und Gemeinheiten zu ve r­
derben, wie diese verrückten Leute, die ihren Trieb nicht zügeln
konnten und ihr ganzes Leben lang immer nur bewiesen, daß sie
Freude und Schönheit haßten. Es war, als kenne Shel den Trick
schon seit seiner Geburt.
Sie legte den Hörer auf und dachte an die Fasane.
»Shel, mein Schnäuzchen, hast du die Fasane begossen?«
Er saß auf dem Ran d der Couch, sah sich die Nachrichten am
Mittag an und kaute an seinen Fingernägeln.
»Mein Gott, Amaryllis, sie haben die Türkei besetzt.«
»Und das zur richtigen Zeit. Wer immer sie auch sein mögen,
sie scheinen zumindest etwas Humor zu haben. Aber die Fas än­
chen, mein Süßer«, sie küßte ihn auf den Kopf, »sie müssen
ständig begossen werden.«
Er folgte ihr in die Küche, wo sie sich zum Backofen bückte,
mit der Schöpfkelle über den Vögeln herumfummelte, während
das Haar ihr ins Gesicht fiel und ihr Morgenmante l über den
nackten Oberschenkel wegglitt (sie machte mit der Kleidung
keine großen Umstände mehr). She ls normalerweise unberührte
Küche wurde überschwemmt von schmutzigen Töpfen, ve r­
schmierten Küchengeräten und exotischen Saucen. Sie hatte alles
hervorgekramt.
»Shel, was bedeutet das?«
»Was, Süße?« Er kniete sich hin und schob seine Hände unter
ihren Morgenmantel.
»Die Besetzung.«
»Du würdest das gar nicht wissen wollen. Komm und leg dich
mit mir hin.«
»O Liebling«, sie drehte sich halb zu ihm um. »Ich kann jetzt
hier nicht weg. Gerade ist der kritische Augenblick. Sie müssen
alle fünf Minuten begossen werden.«
»Okay, Herzchen, wie du meinst«, sagte er, während er seinen
Finger in sie schob und spürte, daß sie vom letzten Mal vor einer
Stunde immer noch feuc ht war. Behutsam kippte er sie nach
vorn auf Hände und Knie, hob den Morgenmantel über ihrem
Hintern hoch, zog sie etwas zurück und auf sich drauf. Sie gab
einen leisen Ton von sich. Die Schöpfkelle rollte über den gek a­
chelten Fußboden und stieß gegen den Kühlschrank.
»Vergiß nicht die…«
»O ja…« Während sie ihn in sich hielt, ihn leicht zusamme n­
drückte, um ihn bei Laune zu halten (das war ein guter Trick von
ihr; nur eine von einer Million Frauen konnte das, sagte er),
öffnete sie die Backofentür, um nach dem Abendessen zu schau­
en. Die Vögel konnten noch weitere fünf Minuten warten, nahm
sie an. Er drückte ihren Bauch flach auf den kalten Fußboden
und stieß in sie hinein, bis sie zu atemlos war, um ihm sagen zu
können, daß er aufhören solle, dann rollte er sie herum und
küßte sie, wobei seine Zunge fast bis zu ihren Mandeln vorstieß.
In einem wundervoll panischen Augenblick bemerkte sie, daß er
völlig außer Kontrolle war. Plötzlich stand sie wieder aufrecht,
wurde dann umgedreht, ihre Handgelenke knickten weg und die
Haut an den Knien scheuerte ab, während seine Finger ihre
Hüften so fest umklammerten, daß sie dachte, er würde das
Fleisch durchlöchern.
»Mußt du nach ihnen schauen?« keuchte er.
Sie schritt über den zusammengebrochenen Sheldon hinweg,
um die Sch öpfkelle wiederzuholen. Die Fasane waren ungefäh r­
det.
»Amaryllis, holst du mir meine Zigaretten?« Er rauchte eine, da
wo er lag.

»Ich glaube, ihm geht ein Licht auf. Ich spüre es. Ich weiß, daß
er irgendeinen Verdacht hat. Geh auf keinen Fall ans Telefon.
Was meinst du? Was wäre denn, wenn mein Onkel etwas hätte –
bei welcher Krankheit außer Krebs braucht man denn noch sehr
lange, um zu sterben?«
Er hielt ihre Hand über die Überreste der Thanksgiving -
Festtafel hinweg.
»Dir gehen die Verwandten aus, Liebling.«
»Wie wäre es dann mit alten Schulfreunden – nein, ich glaube,
das gilt inzwischen als sehr altmodisch. Aber wenn ich darüber
nachdenke – du bist ja ein alter Schulfreund. Aber wenn ich lüge
– lügen muß –, nützt mir das nichts. Ich bin schon so lange aus
dem Geschäft, daß ich gar nicht mehr weiß, was die Leute als
Entschuldigung gebrauchen. Welche Entschuldigung ist denn
dieses Jahr modern? Wer weiß, vielleicht ist die Wahrheit mo­
dern. Bin ich jetzt albern? Du läßt mich einfach auflaufen, She l,
du solltest meinem Delirium manchmal ein Ende machen. Nein,
nein, tu das nicht. Du bist so ein Liebling, wie du mich Verrückte
tolerierst. Darum weißt du auch so viel mehr von mir als ich von
dir. Ich erzähle alles. Ich brabbele alles aus. Siehst du, ich kann es
nicht kontrollieren!« Sie machte eine komische, hilflose Geste mit
den Händen. »Ich sollte sanft und kultiviert sein, aber das bin ich
nicht. Ich bin schlampig, und das weiß ich auch, aber trotzdem
kann ich den Mund nicht halten. Du, du bist so geheimnisvoll
wie eine ägyptische Statue. Du nimmst so viel hin und sagst so
wenig. Du erzählst gar nichts, und das macht mich verrückt vor
Begehren. Du wirst dich mit mir langweilen, wenn ich meinen
Mund nicht endlich halt e… weißt du, was ich getan habe, als
Hyacinth ge storben ist? Ich habe mich in mein Zimmer eing e­
schlossen und eine Stunde lang onaniert. Genau weiß ich es nicht
mehr, vielleicht war es keine Stunde. Auf jeden Fall war es lange.
Die ganzen Seconal habe ich erst eine Woche später eingeno m­
men.«
Sie hielt mi t einem gedankenvollen Blick inne, unsicher, was er
wohl denken mochte, unsicher, was sie selbst über das dachte,
was sie ihm gerade erzählt hatte. Er las Unsicherheit und Tra u­
rigkeit in ihren Augen, aber keine Verlegenheit. Er schenkte ihr
ein breites, zu versichtliches Lächeln und drückte ihre Hand
zwischen seinen beiden Händen.
»Sex und Tod?« sagte er fröhlich.
»Ja«, sie lächelte zurück.
»Laß die Teller stehen, Liebes, die Putzfrau kommt morgen.«
Er nahm eine Flasche Tequila aus dem Ständer und winkte sie
ins Schlafzimmer. »Das Spiel fängt in fünf Minuten an.«
»Und noch ein Nachmittag mit Vögeln und Fußball. Man könn­
te denken, wir wären immer noch auf der High-School.«
Sie schaute aus dem Fenster auf das graue Manhattan und das
UNO-Gebäude, wo sich die Ges chäftigkeit gelegt zu haben
schien.
»Keine Lage heute?« She l hatte den Fernseher angeschaltet und
war bereits eingeschlafen, den Kopf fast senkrecht auf einem
Kissenberg.
Am späten Nachmittag desselben Tages traf er sie mitten in
einem ihrer ausgedehnten Baderituale an. Und obwohl er ganz
schläfrig war, konnte er nicht widerstehen, sie mit ihm heru m­
spielen zu lassen, während sie in der Wanne saß, ihn einhüllte,
liebkoste, streichelte, bis seine Knie nachgaben und er nach dem
heißen Handtuchständer griff, wo durch er sich Blasen an der
linken Hand zuzog. Dann lehnte sie sich im Schaum zurück, und
er zeigte sich ihr mit Zeige - und Mittelfinger erkenntlich, wä h­
rend er ihre schlüpfrigen Brustwarzen zusammendrückte und die
Nippwellen der Lust beobachtete, unter de nen ihr Gesicht sich
leicht verzerrte.
»Wie kommt es nur«, fragte sie ihn später, als er auf der Toilette
und sie auf seinem Schoß saß, während Wasserbäche aus ihren
nassen Haaren über ihren Rücken liefen, »wie kommt es nur, daß
ich mit dir mehr schmutzige Sachen machen kann, als jemals mit
irgendwem in meinem Leben, und dich trotzdem so liebe, wie ich
als Sechsjährige das Jesuskind geliebt habe?«
»Ich denke, weil es Schicksal ist und ich ein Fatalist bin.«
»Komische Antwort.« Aber es stimmte. Er folgte ein fach seiner
Natur, wie eine Katze, die sich an einen Vogel heranpirscht.
»Komische Frage.«
Am nächsten Morgen – ihrem letzten – fand er sie in der Kü­
che. Sie stand vor der Anrichte und trug kein Make-up.
»Was machst du da?«
»Ich mache Kräcker.«
»Woraus denn?«
»Aus einem Soufflé.« Sie brach in Tränen aus.

Shel schaltete die Nachrichten aus und sah etwas düster drein, als
er ihr mit ihren Koffern half. Die Lage war an diesem Tag
schlecht.
»Denk an die schwarzen Löcher.« Sie versuchte, heiter zu sein.
»Sie sind das gleiche wie die Raketen. Glaub nicht an sie, und es
gibt sie auch nicht. Wenn du nachdenken mußt, dann denk an die
Zeit in vier Monaten. Denk an mich.«
»Nimm den Fensterplatz über den Flügeln«, riet er ihr und
fummelte an der Schnalle des Koffers herum, auf dem Amaryllis
saß und ihre Augen blau umrandete. »Es ist der sicherste.«
»Und es ist eine klare Nacht. Ich werde einen wunderbaren
Ausblick auf Manhattan haben.«
Es war Zeit, aufzubrechen. Ihr war schlecht, und sie mußte
einen ganzen Batzen Table tten einnehmen, ehe sie in den Fah r­
stuhl steigen konnte. Auf dem Weg nach unten legte er beschü t­
zend seine Arme um sie. Sie hatte erwartet, daß er das Ganze
stoisch überstehen würde, konnte aber sein Herz in ihre Ohren
schlagen hören.
»Ich will gar nicht erst versuchen, dir zu erzählen, wie ich mich
im Augenblick fühle.« Der Pförtner verstaute ihre zu vielen
Koffer in einem Taxi. »Aber ich möchte, daß du mir noch einmal
sagst, daß du mich liebst.« Er sagte es. Er tat ihr jeden Gefallen.
Sie stieg ein und se tzte sich auf den Rücksitz. Shel stellte sich
zwischen sie und die Tür und griff ihre Hand. »Amaryllis«, sagte
er und hielt dann inne. Es fiel ihm schwer.
»Dein kleiner Finger ist mehr wert al s… mehr als das ganze
verdammte Chrysler -Gebäude.« Er küßte den rosa Fingernagel
und schloß die Tür. Als er sie durch das offene Fenster anscha u­
te, liefen ihm die Tränen in Strömen übers Gesicht.
Als das Taxi schließlich die Lichter der 41. Straße erreicht hatte,
heulte sie völlig unkontrolliert und mußte durch die Gla strenn­
scheibe dem Fahrer zuschreien, daß sie gern eine Zigarette von
ihm hätte, ihre erste innerhalb von zwei Jahren.
Er fing ihren Blick im Rückspiegel auf. »Für Liebende gibt es
keinen Abschied«, sagte er grinsend.
Sie fummelte mit der Zigarette und ihre r Ledermappe herum,
so beschäftigt mit einer Packung Kleenex, daß sie beinah vergaß,
sich umzudrehen, als sie den Mid -Town-Tunnel verließen (der
Tunnel, in dem man sich bei der Ankunft zusammenreißt, um
Manhattan ertragen zu können , und auf dem Rückweg, um es
ohne Manhattan auszuhalten), und ihre Lieblingsansicht zu
bewundern. Es war so dramatisch, New York zu verlassen. New
York zu verlassen war das gleiche, wie sich selbst zu verlassen;
aber sie selbst, ebenso wie New York, war besser für Besuche
geeignet, als um dort für immer zu leben. Wenn man in New
York wohnte, wurde es London oder Stuttgart oder Akron, und
man sollte seine Geliebte nicht heiraten. Also, die Zeit ist vorbei,
Amaryllis; die Zeit ist vorbei, Sheldon. So wenig Zeit, aber sie
war die kommende Langeweile wert, und wie sie es wert war.
Durch das Rückfenster glänzte und blinzelte die Stadt und ve r­
änderte das Bild ihrer Beziehung zu ihr, wann immer das Taxi die
Fahrbahn wechselte. Aus dieser Entfernung, weg von den Scha t­
tenseiten der Straßen, war New York beinah heilig. Sie wollte
eine Hymne auf die hohe Stadt komponieren, um ihre Ehrfurcht
und ihre Dankbarkeit auszudrücken. Sie ließen sie hinter sich. Sie
waren jetzt mitten in Queens, Schilder, die auf den Flughafen
hinwiesen, tauchten vor ihnen auf und verschwanden wieder.
Sie weinte noch etwas, verbarg ihr Gesicht in ihrem Pelzmantel,
um She l zu riechen, oder besser die Mischung aus seinem und
ihrem Duft. Was würde er heute abend tun, fragte sie sich –
Tequila trinken und Gras rauchen, bis er wegtrat, sich nackt ins
Bett legen und einen Boxkampf anschauen, eine Nutte anrufen?
War er überhaupt imstande, es vierundzwanzig Stunden lang
auszuhalten, ohne daß jemand mit ihm im Bett lag? Sie mußte
ihn das nächste Mal danach fragen.
Als sie am J. -F.-Kennedy-Flughafen ankamen, mußte sie den
Fahrer, dem sie wie gewöhnlich zuviel Trinkgeld gab, um eine
weitere Zigarette bitten. Das Spiegelbild in der automatischen
Tür zeigte ihr, daß sie fürchterlich aussah, also verbrachte sie,
nachdem sie ihr Gepäck ab gegeben und auch dem Träger zuviel
Trinkgeld gegeben hatte, fast eine Stunde auf der Damentoilette,
um sich instandzusetzen. Sie gab der verzweifelten Versuchung,
ihre Zehn-Uhr-Tabletten schon um acht zu nehmen, nicht nach
und versuchte, ihre Gedanken davo n abzuhalten, in den dre i­
zehnten Stock zu wandern und darüber zu grübeln, was der
schlimme Shel dort wohl treiben mochte. Ihr Gesicht sah zufri e­
denstellend aus. Amaryllis gehörte zu den Frauen, die am besten
aussehen, wenn sie etwas verstört sind, und es entging ihr nicht,
wie die Männer an der Bar sie anstarrten. Sie nahm eine Tuinol
mit zwei Champagnercocktails, um sich für den Start zu rüsten,
und hielt ihre Nase hoch. Keiner dieser Männer konnte sich mit
Shel messen.
Sie bekam ihren Fenstersitz. Sie sch nallte den Gurt fest un d
schlug einen Roman auf, um die irische Dame im mittleren Alter
neben sich auf Abstand zu halten, die, das spürte sie, auf ein
Schwätzchen brannte. Während des Starts hielt sie sich aufrecht
und blinzelte so gut sie konnte die Träne n zurück (die irische
Dame würde sicherlich versuchen, sie zu bemuttern), dann hob
sie ihre Auge n lange genug, um die Stewardeß auf sich aufmer k­
sam zu machen und zwei Fläschchen eines markenlosen Sekts zu
bestellen – das war alles, was Pan Am anzubieten ha tte. Sie be­
gann zu trinken, die Ledermappe zu ihren Füßen, falls sie die
Tabletten gegen Übelkeit brauchen sollte. Das Flugzeug übe r­
kreiste die Stadt in einem weiten Bogen. Sie drehte sich in ihrem
Sitz um und preßte ihre Nase gegen das Fenster, reckte sic h, um
das Chrysler-Gebäude sehen zu können. Da war es, seine silberne
Turmspitze glänzte unter ihr, und der schöne She l nur fünf
Häuserblocks weiter.
Das Schauspiel verblaßte, während das Flugzeug Richtung
Norden Kurs auf Boston nahm, war aber durch den Tr änen­
schleier und die endlich einsetzende Wirkung der letzten Tuinol
hindurch immer noch zu sehen. Es half nichts, sie mußte sich ein
Kleenex von der irischen Dame ausborgen. Während sie sich die
Augen trocknete, drehte sie sich noch einmal auf einen letzte n
Blick zum Fenster um, gerade noch rechtzeitig, um ein riesiges
weißes Aufblitzen am Himmel mitzubekommen, so kurz, daß sie
nicht sicher war, ob sie es wirklich gesehen hatte, und so ble n­
dend, daß sie einen Augenblick lang dachte, es hätte sie blind
gemacht. Dann eine unvorstellbare Explosion. Das Flugzeug
bebte von ihrem Widerhall. Die Passagiere drängten sich auf
ihrer Seite der Kabine, um eine gigantische Feuersäule anz u­
schauen, die zum Himmel hochschlug.
Die Lage hatte sich selbst erledigt. New York br annte. Das
Chrysler-Gebäude war in zwei Hälften zersplittert, die wie fant a­
stische Eistüten schmolzen, während fünf Häuserblocks weiter
die beklagenswerten Überreste von Sheldon Laskys Körper in
einer Wolke von giftigen Schwefeldämpfen auf das Inferno der
Fifth Avenue prasselten.
Amaryllis hörte auf zu weinen. Einen Augenblick lang starrte
sie vor sich hin, bemerkte nicht, daß die irische Dame in Oh n­
macht ge fallen war, und auch nicht die Schreie und Schluchzer
der anderen Passagiere und die entstellten Ansa gen des Flugkapi­
täns, der bei gestörter Tonübertragung versuchte, sie wissen zu
lassen, daß das Flugzeug, wenn möglich, seinen ursprünglichen
Kurs halten würde. Natürlich würde er sie über jede neue En t­
wicklung auf dem laufenden halten. Und bitte, bitte ke ine Panik.
Es war Stille in der Bordsprechanlage, dann kam etwas über
Gander.
Amaryllis goß sich den Rest Sekt ein, den Arm auf das Plasti k­
tablett gestützt, um ihre Hand zu beherrschen. Während sie den
Becher in der einen Hand hielt, langte sie mit der and eren nach
der Ledermappe und zog sie sich auf den Schoß. Langsam nahm
sie die Flaschen heraus, die ihre Tabletten enthielten – es mußten
Dutzende sein –, und reihte sie auf dem Tablett auf.
›Die Zeit ist vorbei, Amaryllis. Die Zeit ist vorbei, Sheldon. Die
Zeit ist vorbei, New York.‹
Die Leute drängten sich noch immer vor den Fenstern und
zeigten auf den flammenden Horizont in der Ferne. Unbeachtete
Ansagen kamen wiederholt über die Bordsprechanlage. Stewa r­
dessen versuchten vergeblich, hysterischen Passagie ren beizuste­
hen. Es war solch ein Höllenlärm, daß niemand auf Amaryllis
achtete, die geschützt in ihrem Fenstersitz saß, nicht ohne
Schwierigkeiten die Sicherheitsverschlüsse aufschraubte, aber
ohne wie gewöhnlich zu fluchen oder sich die Nägel abzubr e­
chen, die Tabletten in verschiedenen Farben eine nach der and e­
ren aus ihren Behältern nahm und mit kleinen Schlückchen
Champagner langsam und systematisch herunterschluckte.
ELULA PERRIN

Anna und Françoise

›September… Bald fängt die Schule wieder an‹, da chte Anna


traurig. Vorbei die Stunden in Gesellschaft der Freundin, vorüber
die Unbeschwertheit, die ausgedehnten Fahrradtouren, die So n­
nenbäder, das Schwimmen im warmen Chinesischen Meer…
Françoise Laujac würde wieder ihren offiziellen gesellschaftlichen
Verpflichtungen nachkommen müssen, und sie würden sich nur
noch gelegentlich sehen. Glücklicherweise aber – oh ja! glückl i­
cherweise – blieb der Unterricht in Annamitisch.
Françoise hatte wirklich Fortschritte gemacht. Annamitisch, das
ausschließlich über einsilbige Wörter verfügt, ist andererseits
reich an Betonungen und Modulationen, die diese Sprache be­
sonders singend und melodisch machen.
Wie alle Europäer, hatte auch Françoise unglaubliche Schwi e­
rigkeiten, die kaum wahrnehmbaren Unterschiede in der Bet o­
nung herauszuhören, die ihr Anna geduldig nahezubringen ve r­
suchte. Es gab schallendes Gelächter, wenn Françoise ›franzö­
sisch, Hände, Ohren‹ oder ›Bindfaden, Schuh, Dicke und Papier‹
verwechselte, weil sie nicht die richtige Note ›gesungen‹ hatte.
»Ich werd’s nie schaffen!« rief sie dann lachend, den Kopf nach
hinten gebogen, die blonde Mähne schüttelnd.
»Sie können bereits viel mehr als viele andere Europäer. Ganz
ehrlich. Jedenfalls mehr als Ihr Mann!«
»Der ist kein Maßstab für mich! Mein armer Bernard hat mit
den Schwarzen nicht ein Wort in ihrer Sprache reden können,
also bitte!«
›Und sie tun so, als wären sie die Herren dieses Landes‹, übe r­
legte Anna. Eines Landes, dessen Sprache, Gebräuche und Ge­
schichte zu verstehen unter ihrer Würde wa r… Nur ein paar
Leute mit Niveau interessierten sich für die anna mitische Kultur.
Dennoch gab es eine. Anna dachte daran, wie ihr die Mutter
früher, als sie noch klein war, Auszüge aus diesem literarischen
Werk vorgelesen hatte, das als Kim Van Kieu bekannt ist. Und die
Schwestern Trung? Wie viele Franzosen kannten diese anna miti­
schen Johannas von Orl éans lediglich dem Namen nach, wä h­
rend zahlreiche Plätze hier nach der französischen Jeanne d’Arc
benannt waren.
Sie allein, die Mestizen, die Tausende Annas und Pauls Hong,
bildeten die wenigen Verbindungsglieder, die schwache Brücke
zwischen den beiden Kulturen. Die Mestizen: kleine Beamte,
Untergeordnete, zwangsläufig notwendige Rädchen in den Ge­
trieben bis in die Amtsstellen der Provinz. ›Hühnerkopf, Ente n­
steiß‹, nannten sie die Eingeborenen verächtlich. Die ›kleinen
Mestizen‹ stellten die Verkehrs - und Kriminalpolizei, die Zöllner,
füllten die Sekretariate der hierher abkommandierten Franzosen.
Die weniger Begünstigten, die, die es nicht schafften oder nicht
verstanden, ih re Lage zu verbessern, die ›annamitischen Misc h­
linge‹, die von der Gemeinschaft der Gelben verachtet wurden
und sich niemals irgendwo integrierten, vegetierten verbittert
zwischen zwei We lten, haßten die Franzosen ebenso wie die
›französischen Mischlinge‹.
Anna sprach nicht darüber. Wozu auch? Das war nicht Françoi­
ses Problem. Annamiten wie Mestizen würden ihr immer völlig
fremd bleiben. Sie lernte ihre Sprache, wie sie Griechisch und
Latein gelernt hatte, tote Sprachen, die für sie überflüssig waren,
die sie nicht praktisch anwenden konnte. Noch immer verstand
sie nicht, was ihr die Boys erzählten, und ausgenommen in An­
wesenheit ihrer Lehrerin hätte sie es als unpassend, ja sogar
lächerlich empfunden, annamitisch herumzukrächzen, selbst mit
Thi-Ba.
»Also weiter, eine letzte Seite«, fuhr Anna fort.
Sie sah auf die Armbanduhr und seufzte. Kurz vor halb si e­
ben… Die Nacht brach herein, diese asiatische Nacht, die so
plötzlich einsetzt, stets zur gleichen Stunde, Sommer wie Winter.
Nur schwer konnte sie sich eine europäische Dämmerung vo r­
stellen, die, wie man ihr erzählt hatte, im Winter nachmittags um
vier und im Sommer um zehn Uhr abends begann. Was für ein
Durcheinander mußten diese Abweichungen in den Lebensg e­
wohnheiten verursachen!
»Chung Toi cho xoa i… wir br ingen Mangofrüchte«, las Fra n­
çoise mit höchster Konzentration.
Mit einer unabsichtlichen Bewegung streifte ih r Arm den von
Anna. Keine der beiden zuckte zusammen. Anna spürte die
Berührung wie etwas Brennendes. Der weiche blonde Flaum
streichelte ihre Haut , erhitzte sie, ließ ihr das Blut in die Wangen
steigen.
»Cam, mang cau… Orangen, Zimtäpfel…«, fuhr Françoise fort.
Anna wiederholte leise die Betonung des letzten Wortes.
Was war das für eine plötzliche Hitze, die sie umgab? Nichts als
ein Arm, kaum ein Kontakt, und doch war sie verwirrter als bei
den seltenen Küssen, die sie Georges, ihrem einzigen Flirt aus
der Zeit, da sie sechzehn war, zugestanden hatt e… Was war das
für eine Flamme, die in ihren Adern brannte, ihr Herz, ihren Leib
versengte? Sie spürte etwas Feuchtes zwischen ihren Schenkeln,
preßte sie verschämt zusammen, aus Angst, Françoise würde ihre
Erregung bemerken und ihren Arm wegnehmen. Aber Françoise
schien nichts zu bemerken. Sie las weiter, ein wenig stockend,
aufmerksam, stolperte über die zungenbrecherische Betonung
des Wortes ›quoc ngu‹. Gleich mußte die Seite umgeblättert
werden. Nicht länger unter ihrer Berührung erbeben, nicht länger
ihre Haut spüren, ihr Fleisch, ihr Blut. Anna schloß die Augen.
Das war wie ein Todesurteil. Françoise blätterte um. Leere, Kälte.
Und dann, beim Weiterlesen, glitt ihr Arm wie selbstverständlich
in die vorherige Position zurück.
Annas Herz klopfte so heftig, daß sie es am liebsten mit beiden
Händen festgehalten hätte. Gleich würde es zerspringen, be­
stimmt, und sie würde sterben, ihr Kopf an Fran çoises Schulter
sinken, an ihre Brust und schließlich in ihren Schoß. Süßer Tod,
schöner Tod.
Das Telefon läutete, wie eine Alarmglocke. Françoise sprang
auf, schaute sich leicht verwirrt um, schien von weither zu ko m­
men, vielleicht aus einem Traumland, in dem zwei Frauen, die
eine an der Seite der anderen, in völliger Harmonie erschaudern
und erbeben konnten.
Der Zauber war gebrochen, der Unterricht beendet.
Gelassen beantwortete Françoise den Anruf, verdrehte die Au­
gen, bedeutete Anna, indem sie das Gesicht verzog, wie lästig ihr
diese Unterbrechung war.
Sie nahm die Einladung zu einer – wie man neuerdings in An­
lehnung an die englischen Nachbarn in Hongkong und Malaysia
zu sagen pflegte – ›Party‹ an. Als das Gespräch seinem Ende
zuging, faßte sie nochmals zusammen:
»Liebe Madame Archinard, dürfte ich eine Freundin der Familie
mitbringen?… Tausend Dank.«
Sie legte auf und strahlte Anna an.
»Sie kommen am nächsten Dienstag mit uns zu den Arch i­
nards.«
Annas Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen.
»Zu den Archinards? Von der Garde der Einheimischen? Was
für eine Überraschung!«
»Warum denn nicht? Sind Sie nicht meine Freundin, Mademo i­
selle Hong?«
»Mademoiselle ›Hong‹, wie Sie das gerade betonen, hat noch nie
diese Ehre gehabt. Soll sie das so verstehen, daß Sie sie von jetzt
an anstelle von Thi-Ba in Ihrem Gepäck mitschleppen?«
Im selben Augenblick, da sie dies sagte, hätte sie gerne diese
dümmliche, von falschem Stolz diktierte Bemerkung zurückg e­
nommen. Sich die Zunge abbeißen, sieben Mal die Worte im
Mund umdrehen, bevor man sprach! Sie eilte Françoise entgegen
und legte ihr die Hand auf den Arm.
»Verzeihung. Ich wollte nicht ungezogen sein. Sie kennen doch
meinen albernen Hochmut! Ich freue mich, diesen Abend zu­
sammen mit Ihnen zu verbringen!«
Françoises Augen, in denen Betroffenheit zu erkennen gewesen
war, schimmerten wieder in diesem Jadegrün, das die Freundin
bezauberte. Sie ergriff ihre Hand, drückte sie leicht.
»Ich verstehe. Aber Sie sollten Ihre Meinung ändern. Sie haben
sich bereits verändert… Sie sind eine Raubkatze, die Krallen stets
zum Angriff bereit. Das sollte nicht sein. Sie sind schön, intell i­
gent, charmant. Keine dieser Spießerinnen kann Ihnen das Wa s­
ser reichen, das wissen Sie selbst ganz genau!«
»Mir ist egal, was die anderen meinen. Wer auch immer. Das
einzige, woran mir etwas liegt, ist, was Sie denken. Sie sind diej e­
nige, der ich gefa… deren Freundschaft ich mir wünsche.«
»Sie haben sie. Sie sind die einzige Freundin, die ich hier habe.«
›Beinahe hätte ich gesagt: der ich gefallen möchte! Bin ich ve r­
rückt geworden? Sagt man denn so etwas? Denkt man das übe r­
haupt? Reiß dich zusammen, du Kindskopf, sonst verlierst du
alles. Du wirst sie verlieren, ihre Freundschaft verlieren – du, die
nichts möchte als das, die sich nichts sehnlicher wünscht.‹
»Sie sind meine einzige Freundin, Françoise. Die einzige, die ich
jemals hatte.«
Françoise hob langsam die Hand, strich Anna über das Haar,
lächelte. Wieder glaubte Anna schwach zu werden, in diese Arme
zu sinken, deren Wärme, deren weiche Haut sie jetzt kannte.
»Also dann bis morgen um fünf Uhr, zum Unterricht?«
»Bis morgen.«
Beherrscht und mit einemmal wieder überaus förmlich, schü t­
telten sich die beiden jungen Frauen die Hand. Wie immer seit
drei Monaten.
Als Anna nach einem letzten Zuwinken mit ihrem Fahrrad ve r­
schwunden war, kehrte Françoise langsam in das Arbeitszimmer
zurück. Die aufgeschlagenen Bücher und Hefte, die verloren auf
dem Schreibtisch lagen, kamen ihr ebenso unanständig vor wie
ein ungemachtes Bet t, wie nach einem Liebesakt zerwühlte La­
ken.
Was für eine Unruhe hatte sie plötzlich erfaßt? War es richtig
von ihr gewesen, Anna den Archinards aufzudrängen? Was
würde Bernard dazu sagen?… Zum Teufel mit Bernard, zum
Teufel mit den Archinards. Léon Debarge nahm Anna ja auch zu
den Empfängen mit, zu denen er eingeladen war. Anna, die
hinreißende Mestizin, der die Männer den Hof machten, die von
Frauen mit Argwohn betrachtet wurde. Anna, die Geheimnisvo l­
le, hinter ihrer gepanzerten Zerbrechlichkeit und dünnh äutigen
Aggressivität nach Zärtlichkeit, nach Liebe Hungernd e… ›Ihre
Haut an meinem Arm vorhi n… Was ist nur in mich gefahren?
Die Haut einer Frau… Lächerlich! Aber es war so schön!‹
Nachdenklich klappte Françoise die Bücher und Hefte zu. Siehe
da, Anna hatte ihr seidenes Kopftuch vergessen! Bis sie zu Hause
wäre, würde sie ganz zerzaust sein. Es sei denn, sie käme zu­
rück… Aber nein, das war ja lächerlich.
Françoise machte sich über sich selbst lustig. Das Alter der
Pensionatsliebschaften hatte sie doch wirk lich hinter sich! Die
hübsche Nicole aus der 3A, die ihr Herzklopfen verursacht hatte,
wenn sie im Lateinunterricht ihre Hand nahm. Dieses so heftige,
so süße Herzklopfen, das sie in den Armen der jungen Männer
nicht gespürt hatte. Und wie ihre kleinen Flirts in Bordeaux, hatte
auch Bernard nicht mehr als eben diese zarte, zärtliche, gedämp f­
te Empfindung in ihr ausgelöst.
Sie hatte Lust, sich diesen Gefühlen aufs neue zu überlassen.
Wie hatte sie sie vergessen, abhaken können? Jetzt empfand sie
ein heißes Verlangen danach. Anna konnte sie ihr zurückgeben.
Sie besaß den Schlüssel zu einem Königreich, das keineswegs nur
das Vorrecht – oder die Schwäche – der Jugend war. Ein Köni g­
reich der Sanftmut, der zärtlich verschworenen Freundschaf t…
Diese Schwester, die sie sich immer gewünscht hatte.
Unwillkürlich nahm sie das Kopftuch, legte es an ihre Wangen,
ihre Nase, ihre Lippen. Annas Parfüm, würzig und süß, Salz und
Zucker wie Anna selbst, hüllte sie ein. Plötzlich selbst überrascht
von dieser unüberlegten Geste, knüllte sie die duftende Seide
zusammen und warf sie auf einen Sessel.
Lächerlich. Wirklich lächerlich das alles!
Seit dem 2. September befanden Frankreich und England sich im
Krieg gegen Deutschland.
Hier in Indochina hatte das keine großen Auswirkungen . Mo­
bilmachung vor Ort, die Zivilisten verblieben größtenteils an
ihren Arbeitsplätzen, tauschten lediglich ihre weißen Anzüge
gegen eine von geschickten einheimischen Schneidern maßgefe r­
tigte Khakiuniform.
Noch immer tanzte man im Frégate nahe dem Grand Lac oder
im Pagode, den beliebtesten Tanzlokalen von Ha Dong, den
Lambeth Walk und den Horsey Horsey. Die Phonographen
spielten Ray Ventura, und gleichzeitig beschloß General Catroux,
der neue Generalgouverneur, die Entsendung der ersten ONS -
Brigaden – annamitische Arbeitskräfte – nach Frankreich.
Der Krieg, alle We lt wußte das, würde nicht einmal ein paar
Monate dauern. Die Schiffe der ONS hätten nichts weiter zu tun,
als umzukehren und ihre Truppen zurückzubringen. Außerdem
hieß es, ›der Ansturm ist abgewe hrt‹ und ›wir werden gewinnen,
weil wir die Stärkeren sind‹.
Von der Kinoleinwand herunter ereiferte sich Paul Reynaud,
›unsere tapferen Soldaten in den Schanzen entlang der Maginotl i­
nie sind kampfbereit .‹ Und als sie sangen, sie würden sehr bald
ihre Wäsc he an der Siegfriedlinie zum Trocknen aufhängen,
strickten ihnen alle Damen Indochinas mit heißer Nadel bequ e­
me Pullover für die kurzfristige Invasion.
Paul Hong, zum Einsatz im Krankenhaus Lanessan selbst ab­
kommandiert, wäre brennend gern nach Frankreich gezogen, um
an vorderster Front zu dienen.
Annas Überlegungen beschränkten sich darauf, daß die Laujacs,
falls der Krieg eine Zeitlang dauerte, nicht so schnell ihren He i­
maturlaub in Frankreich antreten würden.
Die Flamboyants warfen ihre Blüten ab, deutet en auf diese
Weise den nahenden Herbst an. Wenn Anna nach Ha Dong oder
zu Françoise fuhr, radelte sie über einen Teppich aus purpurfa r­
benem Schnee, der unter ihren Rädern aufstob.
Seit dem Nachmittag, der die beiden jungen Frauen so aufg e­
wühlt hatte, war ihr Verhalten kaum verändert.
Gekünstelt, belastet von so vielen Gedanken, die sie sich seither
machten, gehemmt durch ihre pragmatische Erziehung, eing e­
schnürt in Konventionen, blind aus Unwissenheit vor dem ›A n­
derssein‹ – wie hätten sie, unschuldig und gelähmt wie sie waren,
die Schläge ihres Herzens als Liebe begreifen können?
Als sie sich verabschiedet hatten, war Anna wütend in die Peda­
le ihres Fahrrads getreten und hatte sich mit Tränen in den Au­
gen geschworen, Françoise niemals wiederzusehen. Da küß te die
eine also jetzt ein Kopftuch, um es dann irgendwo hinzuwerfen,
während die andere die junge Französin verteufelte, die sich
zweifellos über sie lustig machte.
›Ich werde nicht zu den Archinards gehen. Nein! Was soll ich
dort? Als Anhängsel der Lauja cs! Ihre Dienerin oder die Geliebte
des Ehemanns, genau das werden die Leute denke n… Und
außerdem wird es ihr lästig werden, mich zu oft zu sehe n. Sie
wird keine Lust mehr haben. Und wenn ich sie nicht mehr sehen
kann, werde ich sterben…‹
Widersprüchlichkeiten in Sachen Liebe!
Nach einer unruhigen Nacht und weil sie sich für den nächsten
Tag, einen Donnerstag, zu einem Spaziergang auf dem Deich
verabredet hatten, erschien Anna am Treffpunkt.

So als sei tags zuvor nichts geschehen, als sei ihr Himmel von
keinem Wölkchen getrübt worden, bestiegen sie die Rikschas und
ließen sich vor dem Pont Doumer absetzen. Von dort aus gingen
sie in Richtung Krankenhaus Lanessan langsam den Deich en t­
lang, der jetzt den halbgezähmten Roten Fluß eindämmte, bli e­
ben zuweilen stehen, um zuzusehen, wie die Kulis ihre dickb au­
chigen, mit Bergen von Wassermelonen gefüllten Dschunken
entluden, indem sie sich, eine Reihe bildend, diese großen grünen
Kugeln zuwarfen, um sie dann an Land pyramidenförmig zu
stapeln. Hin und wieder griff einer beim Fangen daneben, worauf
die längliche Frucht zu Boden fiel, platzte und der untergehenden
Sonne ihr blutendes Fleisch darbot.
Weiter entfernt, auf anderen kleinen Schiffen, bereiteten die
Frauen über einem kleinen Holzkohlenfeuer am Heck des Sa m­
pans das Abendessen zu. Der Geruch von Rauch und der Duft
von Nuocmam-Reis drang bis zu den beiden jungen Frauen, die
regungslos am Rande der Böschung standen, an der splitternac k­
te kleine Kinder herumtobten.
»Wie schön das ist!« murmelte Françoise.
Sie ha tte sich zur Brücke umgewandt, deren Eisenbögen sich
gegen den flammenden Himmel abhoben.
Ein lauer Wind hatte sich erhoben, ein sanftes Lüftchen. De n­
noch fröstelte sie.
»Ist Ihnen kalt?«
Anna wandte sich ihr zu.
»Nein. Mir geht es gut.«
Sie setzten ihren Weg fort. Wie selbstverständlich fanden sich
ihre Hände, und Anna schlenkerte die Arme genauso wie die
jungen Eingeborenenmädchen, wenn sie Spazierengehen und
sich dabei an der Hand fassen.
Wenn ihnen zu diesem Zeitpunkt irgendwelche Damen des
Roten Kreuze s oder anderer wohltätiger Einrichtungen den
Deich entgegengekommen wären – eine höchst unwahrscheinl i­
che Annahme, da es nur ein paar einsame Villen in dieser öden
Gegend gab –, wären diese Damen höchst erstaunt und zwe i­
felsohne sprachlos gewesen, die so hübsche, aber doch so junge
Madame Laujac Spazierengehen zu sehen, übermütig lachend
und Hand in Hand mit einem gewiß entzückenden Mädchen,
aber eben einer Mestizin.

Wenn sie sich von nun an tra fen, gaben sie sich nicht mehr die
Hand; sie küßten sich. Das war zwar nur eine flüchtige Berü h­
rung, aber auch wenn sich keine der beiden erinnerte, wer damit
angefangen hatte, wußten sie, daß ihnen dieses Ritual jetzt etwas
bedeutete.
Ebenfalls von jetzt an und nach einigen zunächst vorsichtigen,
dann verärgerten Einwänden, auf die seine Frau unverhältnism ä­
ßig heftig reagiert hatte, fand sich Bernard Laujac damit ab, daß
Anna Hong sie für seinen Geschmack ein wenig zu häufig ›in die
Stadt‹ begleitete und bei jedem Essen erschien, zu dem die La u­
jacs bei sich zu Hause einluden.
Nicht, daß ihm das junge Mädchen unangenehm gewesen wäre;
Anna war hübsch, freundlich, nicht mehr so zurückhaltend,
lachte über die Scherze, die er sich gelegentlich erlaubte. Kurzum,
ein charmanter Gast. Was ihn verstimmte, waren die erstaunten
Blicke, die er hin und wieder bei seinen Gästen oder Gastgebern
entdeckte. In der gesellschaftlichen Oberschicht von Hanoi, der
die Laujac aufgrund Bernards Stellung angehörten, begann man,
über dieses seltsame Trio zu klatschen. Ein paar Kollegen waren
sogar so weit gegangen, zarte Anspielungen auf diesen ›verdamm­
ten Schlaumeier Laujac‹ zu machen, der es verstanden hatte, das
Beste aus seinem nicht gerade berauschenden Leben in der Ko­
lonie zu machen: neben der hinreißendsten Gattin eine bildhü b­
sche Mestiz in als Mätresse, und das Erstaunlichste – die beiden
Frauen schienen sich prächtig zu verstehen.
Wenn es nur so gewesen wär e… Sobald er den leisesten Ve r­
such machte, mit ihr zu flirten, lächelte ihn die kleine Hong zwar
liebenswürdig an, aber ihre dunklen Augen wurden abgrundtief
schwarz, eisig, geradezu beängstigend. Nun, Verfü hren war ja
auch nicht seine Stärke. Er wunderte sich noch immer, wie er es
geschafft hatte, seine Frau so schnell herumzukriege n… Welch
mitfühlender Liebesgott hatte ihn an der Hand genommen und
geleitet?
Selbst wenn es ihn nach anderen Frauen gelüstete, nach and e­
rem Fleisch, anderen, heißblütigeren, für die Sinnenlust empfäng­
licheren Körpern, ließen ihn, den noch immer von seiner Erob e­
rung freudig Überraschten, seine Liebe und der Stolz, den er
angesichts einer derart charmanten, derart wirkungsvollen Eh e­
frau empfand, sich mit seinem nicht unbedingt vollständigen
Glück zufriedengeben und nicht mehr verlangen.

An einem trüben Novemberabend brach ein heftiges Gewitter


herein, das den Bäumen im Garten schwer zusetzte. Geknickte
Äste fielen ächzend zu Boden.
Anna saß am Boulevard Garnier fest.
»Kommt nicht in Frage, daß Sie bei diesem Wetter nach Hause
gehen«, entschied Françoise, als der Unterricht beendet war. »Sie
übernachten hier bei uns, im Gästezimmer.«
Anna protestierte schwach, aber Françoise, die keinen Einwand
zuließ, gab Thi-Ba bereits Anweisungen.
Buchstäblich wie aus dem Wasser gezogen kam Bernard nach
Hause; ein Dienstwagen hatte ihn hergefahren.
»Man sagt, es handle sich um den Ausläufer eines Taifuns«,
verkündete er und schüttelte sich. »Am schwersten ist Na m Dinh
betroffen. Muß schlimm sein!«
Die Laujacs hatten noch keine Bekanntschaft mit den Taifuns
Indochinas gemacht. Auf ihre Bitte hin versuchte Anna, sie zu
beschreiben.
»Normalerweise sagt das Wetteramt in etwa die Uhrzeit voraus;
Boten laufen dann durch die Stadt und informieren die Bewo h­
ner. Unmittelbar darauf beginnt das große Durcheinander. Die
gesamte Bevölkerung, Franzosen und Annamiten, treffen ihre
Vorbereitungen. Jeder eilt so schnell er kann nach Hause; die
Fensterläden werden dichtgemacht, falls vorhanden, besondere
Stangen zum Schutz vor dem Taifun angebracht. Zwei Stunden
vor der Stunde X wird das Wasser und die Elektrizität abgestellt.
Alle Ventilatoren sind außer Betrieb; wenn eine Zimmerdecke
einstürzt, würden die Propellerblätter zur Guillotine werden.
Kein Wasser mehr, um ein Bersten der Rohre und Übe r­
schwemmungen zu vermeiden. Die Bewohner der aus Stroh und
Lehm gefertigten Hütten suchen, nachdem sie so gut wie mö g­
lich Schweine und Hühner vergattert haben, Schutz in den Ma u­
ern öffentlicher Gebäude, der Kirchen, der Pagoden oder bei
Nachbarn.«
»Wie um dem Ruf, der ihm voraneilt, gerecht zu werden«, fuhr
sie fort, »erhebt sich urplötzlich der Wind. Zunäc hst als leichte
Brise, nach und nach aber immer stärker werdend, zu heftigen
Böen anschwellend. Die Häuser beben, die Fensterläden sind
abgerissen, man muß sie rasch wieder befestigen, der Wind heult,
weitaus stärker als jetzt, und es sind nicht Äste, die abknicken,
sondern ganze Bäume, die auf die Häuser stürzen und die Stro m­
leitungen kappen; Straßen und Wege sind blockiert. Und dann,
so plötzlich, wie er gekommen ist, verstummt der Wind, nur das
Geräusch des strömenden Regens ist noch zu hören. Aber der
Regen richtet nicht so viel Unheil an… Bei Wind dagegen gibt es
oft Tote.«
Françoise seufzt und zuckt beim berstenden Geräusch des
Donners zusammen.
»Das ist nichts. Nur ein heftiges Gewitter, mehr nicht.«
»Anna bleibt heute abend hier. Wir können sie bei d iesem Wet­
ter nicht heimfahren lassen.«
»Nein, wirklich nicht. Zumal ich auch den Wagen zurückg e­
schickt habe. Wenn ich gewußt hätte, daß Sie noch da sind…«
Das Abendessen verlief ruhig. Die Unterhaltung war schle p­
pend. Die beiden Frauen, die vor Leben sprüh ten, wenn sie
zusammen oder in Gesellschaft anderer waren, mußten zum
ersten Mal nur mit dem Ehemann vorliebnehmen. Keiner der
drei wußte so recht, wie er sich in dieser neuen Situation dem
anderen gegenüber verhalten sollte. Die charmante Liebenswü r­
digkeit, die der Mann Anna gegenüber in der Öffentlichkeit an
den Tag legte, war hier fehl am Platze.
›Im Grunde bin ich ein bißchen eifersüchtig auf diese Kleine‹,
dachte er bestürzt und belustigt zugleich. ›Sie verbringt mehr Zeit
mit meiner Frau als ic h… Sie wirken wie zwei verschworene
Pensionatsschülerinnen vor der Mutter Oberin.‹
Sie sprachen über den neuesten Film von Annabella. Beide ha t­
ten eine gemeinsame Leidenschaft für das Kino im allgemeinen
entdeckt und für Annabella, Jean Murat und Pierre-Richard Wilm
im besonderen. Françoise bekam aus Frankreich Cine-Revue
zugeschickt, Vogue und Marie-Claire und lieh diese Zeitschriften
natürlich ihrer Freundin aus. Bernard las Ulilustration und Gringoi­
re, und auch diese Publikationen borgte sich Anna mit schöner
Regelmäßigkeit. Ihr Lese - und Informationshunger war une r­
schöpflich. Die dickköpfige, ehrgeizige Neunzehnjährige wollte
die We lt entdecken, die ganze We lt, die Politik, den Krieg, die
Mode, das Kino. Sie verschlang alles, wie es kam; ihr mit Rati o­
nalität un d Methodik gekreuzter asiatischer Verstand bewahrte
sie davor, in einem intellektuellen Wirrwarr zu ertrinken.
»Für Ihr Alter sind Sie sehr ernst.« Diese so häufig fallende
Bemerkung löste kalte Wut in ihr aus, die sie mit einem Lächeln
überspielte.
»Sie möchten in mir nur das anschmiegsame Püppchen für ihre
tägliche Siesta sehen«, vertraute sie Françoise an.
Sie, die ihr Herz niemandem öffnete, brachte inzwischen bei
der Freundin persönliche Belange zur Sprache.
»Was für ein Glück Sie haben, durch und durc h Französin zu
sein«, fügte sie mit einem Seufzer hinzu.
Ohne Groll, denn dieser neuen Freundin gegenüber hegte sie
nichts dergleichen. Sie stellte lediglich fest, und Françoise, für die
Anna eine Freundin war, nicht eine Mestizin wie die anderen,
erwiderte darauf:
»Für Sie, Anna, macht das keinen Unterschied. Sie sind so an­
ders, daß die Tatsache, ein Mischling zu sein, für Ihr Leben
bedeutungslos ist. Doch, doch, da bin ich mir ganz sicher. Sie
sind Sie selbst. Sie beißen sich durch, so erfolgreich, daß Si e es
noch weit bringen werden. Warten Sie ’s ab. Ich bin mir da ganz
sicher. Sie werden eine glänzende Partie machen, sich vielleicht
sogar einen Verwalter angeln. Der junge Lapierre zum Beispiel
sieht in Ihnen keineswegs ein Püppchen! Meiner Meinung nach
hat er ernsthafte Absichten…«
Anna lachte hell auf.
»Weder Lapierre noch sonst jemand! Ich habe nicht die gerin g­
ste Lust, einen dieser aufgeblasenen Hampelmänner zu heiraten!«
Wieder einmal drehte sich das Gespräch um dieses Thema. Sie
stiegen hinauf in den ersten Stock; Françoise führte die Freundin
ins Gästezimmer.
Es regnete nicht mehr so heftig. Françoise hatte sich auf das
Bett gesetzt; Anna ging auf und ab, die Arme bald über der Brust
verschränkt – eine Haltung, die sie häufig einnahm –, bald ge­
dankenlos mit der Hand ein Möbelstück streifend oder in sich
gekehrt, nicht wissend, wo sie sich hinsetzen, was sie tun, was sie
sagen sollte.
»Also, dann wünsche ich Ihnen eine gute Nacht«, sagte Fra n­
çoise.
Ihre Hand strich unwillkürlich über die weiße Baumwoll decke
auf dem Bett, fuhr mit dem Finger aufmerksam das eingewebte
Muster entlang. Mit einem Ruck blieb Anna vor ihr stehen. Ihre
Blicken trafen sich.
»Ich bin glücklich, hier zu übernachte n… in Ihrem Haus… in
Ihrer Nähe.«
»Ich auch. Mein Zimmer ist dort, gleich nebenan. Morgen früh
komme ich Sie wecken.«
»O nein! Das ist nicht nötig. Ich werde vorzeitig aufstehen, ich
muß vor dem Unterricht noch schnell nach Hause, damit sich
meine Mutter keine Sorgen macht.«
»Vielleicht ist die Straße gesperrt.«
Anna läche lte. »Damit rechne ich eigentlich nicht. Das war
doch nur ein winziger Ausläufer des Taifuns. Ein Hase n­
schwänzchen… wenn überhaupt.«
»Sie können ja morgen krank sein. Die Schule schwänzen –
kommt das bei Ihnen nie vor?«
»Niemals, jedenfalls bis jetzt noch nie.«
Françoise verzog den Mund wie ein verwöhntes Kind. Ihre
grünen Augen wurden so klar wie ein Bergsee.
»Um mir eine Freude zu machen. Ich langweile mich so… Wir
werden eine Menge Spaß haben, wenn Sie bleiben. Ich schreibe
Ihnen eine Entschuldigung für die Rektorin.«
Beide lachten. Annas Herz hämmerte gegen ihre Brust, wollte
sich Luft machen, sie zum Bett drängen, zu der Frau, die dort saß
und die sie so in ihren Bann zog, sie vielleicht sogar ein wenig
gern hatte.
Françoise stand auf, strich ihren Rock glatt, fuhr sich mit der
Hand durch die blonden Locken.
»Also? Sie bleiben morgen?«
»Ich weiß nicht… Sie wissen ja nicht, was Sie da von mir ve r­
langen.«
Françoise riß erstaunt die Augen auf.
»Nicht doch! Nur ein Tag Urlaub, um mir eine Freude zu ma­
chen.«
»Um Ihnen eine Freude zu machen!« wiederholte Anna tonlos.
»Nur um Ihnen eine Freude zu machen.«
Sie stand unmittelbar vor Françoise, faßte die Freundin sacht
am Unterarm. Françoises Hände umfingen Annas Ellenbogen,
drückten sie.
»Um Ihnen eine Freude zu machen, würde ich wer weiß was
tun«, sagte Anna.
Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. Françoise hob
leicht den Kopf, die Blicke der beiden Frauen tauchten ineina n­
der.
»Ich muß spüren, daß Sie in meiner Nähe sind. Das wissen Sie
doch, nicht wahr?«
Beide Körper drängten gleichzeitig aneinander. Anna schmiegte
ihr Gesicht an das der Freundin, preßte ihre Wange an die von
Françoise. Sie umfingen sich, umklammerten sich, drückten sich
eng aneinander. Zum ersten Mal spürten sie, wie ihre Körper in
all ihre n Unebenheiten miteinander harmonierten. Ihre Brust
entdeckte die Rundung der anderen weichen, biegsamen Brust;
der warme, ein wenig hastige Atem an ihrem Hals drang wie das
Raunen einer Lawine an ihr Ohr.
›Jetzt würde ich am liebsten sterben‹, dachte Anna mit ihrer
romantischen Ader.
›Es geht mir gut. Ich fühle mich wohl‹, sang es in Françoise, die
sich in diese Arme kuschelte, die sie festhielten, ohne sie zu
erdrücken, Annas Herzschlag an ihrer Brust spürend.
Ein leises dumpfes Donnern, wie das Knurren e ines gesättigten
Tigers, der das Weite sucht, ließ sie sich noch enger aneinande r­
klammern. Sie sprachen nicht. Sie wagten nicht, sich zu bewegen.
Wie überwältigt von ihrer Kühnheit, deren Tragweite ihnen nicht
bewußt war, machtlos gegenüber dem Gefühl, das sie einander
zugeführt hatte und das sie dem Gewitter zuschrieben, der Ne r­
vosität, die es bei ihnen ausgelöst hatte, blieben sie eine Weile, die
ihnen wie eine Ewigkeit vorkam, unbeweglich stehen.
Ein lautes Geräusch, das von unten zu ihnen drang und dara uf
schließen ließ, daß Bernard Laujac die Treppe hochkam, brach
den Bann.
Langsam, behutsam, so als beugten sie sich dem Schicksal, das
sie einander in die Arme getrieben hatte, lösten sie sich. Angst,
Empörung – nichts mehr von alldem. Über Wochen hinweg, seit
dem vergessenen Kopftuch, hatte ihre gegenseitige Zuneigung
wie ein kleiner, aber steter Wassertropfen allmählich den Stein
gehöhlt. Und jetzt blitzte die Wahrheit aus ihren erstaunten,
unschuldigen Augen:
»Ich liebe Sie«, flüsterte Anna. »Ich liebe Sie so sehr!« Françoise
hob die Augen, faßte Annas Hände, drückte sie gegen ihre Brust.
»Bleiben Sie. Bleiben Sie morgen hier«, raunte sie.
Eine Tür fiel ins Schloß. Bernard Laujac hatte das eheliche
Schlafzimmer betreten.
Françoise fuhr herum, wandte sich zum Gehen, drehte sich
noch einmal um. Anna hatte sich nicht bewegt. Sie stand wie
angewurzelt neben dem Bett, blickte Françoise durchdringend
an. Pechschwarze Augen tauchten in jadefarbene. Schön war sie,
atemberaubend schön.
Françoise schlüpfte durch die angelehnte Tür.
»Morgen…«, flüsterte sie ein letztes Mal.
Erneut Regen, ein gleichmäßiges Prasseln. Es mußte etwa vier
Uhr früh sein, vielleicht auch schon später. Sie wagte nicht, auf
die Uhr zu schauen. Bernard schlief auf dem Rücken; schwere
Atemstöße, zum Glück schnarchte er nicht, drangen durch seine
halbgeöffneten Lippen.
Zweifellos angeregt durch die Gegenwart der niedlichen Mest i­
zin im Nebenzimmer, hatte er bei Françoise einen Annäherung s­
versuch gewagt, dem sich Françoise jedoch unter dem Vorwan d
entzogen hatte, das Gewitter mache sie nervös. Er hatte nicht
darauf bestanden. Das tat er nie. Nur allzu gut wußte er, wie sehr
sich seine hübsche Frau, nur um ihm einen Gefallen zu erweisen,
zwingen mußte, seinen Wünschen nachzukommen. Noch nie
hatte er diesem Körper, den er anbetete, den kleinsten Schrei
entlocken können, kaum ein gelegentliches unterdrücktes Stö h­
nen, Schmerz oder Lust? Das zu ergründen hatte er niemals
gewagt.
Immerhin hatte er es verstanden, andere Frauen zum Höh e­
punkt zu bringen. Ne in, stürmisch war er nicht, auch nicht ego i­
stisch. Aber seine wissenden Liebkosungen, die mehr als eine
Frau in seinen Armen erregt hatten, diesen Liebkosungen entzog
sich Françoise. Völlig verstört von seinen ersten Versuchen, hatte
sie ihn angefleht, sie nicht mehr mit diesen Küssen und Berü h­
rungen, die sie als unangenehm empfand, wie sie ihm gestand, zu
demütigen. Was er zunächst als jungfräuliche Zurückhaltung
angesehen hatte, wurde ständige Abscheu und Verweigerung.
Sobald der Mund ihres Mannes den Ver such unternahm, sich
von ihren Brüsten hinunter zu ihrem Bauch zu tasten, wurde
Françoise steif wie ein Stock, preßte Schenkel und Knie zusa m­
men, rollte sich auf die Seite und keuchte: »Nein!«
»Warum? Warum denn?«
»Ich will nicht, ich will nicht«, stieß si e dann mit zusammeng e­
preßten Zähnen aus.
Nach einigen weiteren Anläufen war ihm klar, daß es nicht ge­
lingen würde, sie umzustimmen. Er beließ es dabei. Kaum daß
sie ihm erlaubte, sie ein wenig zu streicheln, bevor er in sie ei n­
drang. Und bei all seiner Lie be, seinem heißen Verlangen nach
seiner jungen Frau spürte Bernard nicht einmal, daß der Schmelz­
tiegel, der ihn empfing, vielmehr eine Grotte war, in der nicht das
kleinste Tröpfchen Wasser rann.
Die Hand ihres Mannes, die diesen Abend ihren Busen berüh r­
te, hatte sie angewidert. Noch völlig benommen von dem, was
geschehen war – sie wagte nicht, daran zu denken –, schien ihr,
als reiße sie diese fordernde Hand, die sich in ihr Fleisch krallte,
um sie an ihn zu ziehen, aus einem Traum. Si e hatte nein gesagt,
zu der Ausrede gegriffen, es sei unangebracht, miteinander zu
schlafen, während im Nebenzimmer jemand übernachtete. Je­
mand… Machte sie sich da nicht selbst etwas vor? Hatte sie sich
Bernard nicht auch im Haus der Familie hingegeben, nur wenige
Schritte vom Schlafzimmer der Eltern entfernt, damals, während
ihrer Verlobungszeit? Aber nein, das war etwas ganz anderes.
›Ich möchte zu ihr. Neben ihr schlafen. In ihren Armen. Das
müßte wunderschön sein.‹
Sie spürte noch immer Annas Atem an ihrem Hals, an ihrem
Ohr, war verstört, nur wegen eines Atemhauchs derart erregt zu
sein… Anna schlief, von ihr getrennt lediglich durch diese Wand.
Wenn sie leise zu ihr hinüberginge, ihren Atem einsog, ihn wi e­
der wie einen sanften, lauen Wind auf ihrer Haut spürt e… Ihr
Puls flog jetzt. Sie hatte Angst, das Pochen ihres Herzens, das ihr
vorkam, als habe es einen wilden Galopp angeschlagen, würde
ihren Mann aufwecken. Sie wandte ihm den Rücken zu. Behu t­
sam glitt ihre Hand über ihren Hals, ihre Schulter, ihre Brüste,
ihren Bauch. Durch ihr Satinnachthemd fühlte sie die Wölbung
ihrer Scham. Sie schloß die Augen, zog ihre Hand nicht weg.
Versuchen zu schlafen. Morgen würde sie Anna wecken.
›Ist das in Kartause von Parma oder Rot und Schwarz, wo sich die
beiden Liebenden mitten in der Nacht begegnen, sich an die
hölzerne Tür schmiegen, die sie trennt, und nicht wissen, daß auf
der anderen Seite der andere steht, brennend vor Liebe und
Verlangen? Wie hinreißend Stendhal diesen unvergeßlichen
Augenblick beschrieben hat, als diese beiden Liebesblinden sich
berühren, ohne es zu ahnen!‹
Anna wäre gern aufgestanden. Barfuß und nur mit dem Nach t­
hemd bekleidet, das ihr Françoise geliehen und dessen Seide sie
gestreichelt hatte, ehe sie hineingeschlüpft war, wäre sie dann auf
den Korridor gegang en, hätte ihre Hände an die Tür des ehel i­
chen Schlafzimmer gelegt, ihre Wange an die Türfüllung gepreßt,
um das Gefühl zu verspüren, der, die sie liebte, näher zu sei n…
Aber nein…
Vielleicht hätte sie gehör t… Gehört. Laute gehört, an die sie
nicht denken wollte. Françoise war verheiratet. Sie mußte heute
nacht mit ihrem Mann schlafen. Wie jede Nacht. Wenn er schon
das Glück hatte, eine so schöne Frau zu besitzen, schlief er
bestimmt jede Nacht mit ihr.
Für Anna war körperliche Liebe ein völlig abstrakter Be griff.
Aber sie hatte genug Bücher gelesen und mehr als häufig ges e­
hen, wie sich Tiere paarten, um bei der Vorstellung, Bernard
bemächtige sich Françoises, von Kummer und Qual erfüllt zu
sein. So blond war sie, so rein, ihr Blick so klar und offe n… Sich
vorzustellen, wie sie sich unter diesem Mann wand, schnitt ihr ins
Herz.
In einer einzigen Nacht entdeckte sie Liebe und Verlangen,
Eifersucht und Haß. Fast zuviel für eine von all diesen Empfi n­
dungen noch unberührte Seele.
Die Stunden verrannen wie der Rege n auf den Jalousien. Sie
schlief nicht.
›Morgen, sobald es hell ist, verschwinde ich. Ich möchte sie
nicht mehr wiedersehen. Ich liebe sie. Ich liebe eine Frau! Wah n­
sinn!‹ Sie mußte an die beiden Mädchen denken, die des Internats
Sainte-Marie verwiesen wor den waren. Wegen ›abartiger Freun d­
schaft‹, ›Zwei lasterhafte Schülerinnen, die die anderen anstecken
könnten‹, hatte Schwester Félix gesagt. Annas Mitschülerinnen
hatten verstohlen gegrinst und gemeint, diese Dummerchen
hätten besser daran getan zu warten, bis ihnen ein gutaussehe n­
der junger Mann über den Weg liefe. Genau wie sie es sich für
sich selbst erträumten. Anna hatte sich aus der Diskussion he­
rausgehalten. Liebe, wie sie in Filmen dargestellt und in Bücher n
beschrieben wurde, war ihr fremd. In ihre n Augen war Liebe nur
Literatur oder Poesie. Niemals hatte sie das Gefühl gehabt, aba r­
tig, minderwertig oder anomal zu sein, weil sie Liebe weder
kannte noch begehrte. In diesem Punkt fühlte sie sich mehr gelb
als weiß. In Asien spricht man über Liebe in Gedichten und
Romanen; im Alltagsleben, wo der Kampf um das tägliche Brot,
um den Arbeitsplatz, um die Versorgung der Scharen von Ki n­
dern den vollen Einsatz von Mann und Frau verlangt, begegnet
man ihr nicht.
Und jetzt hatte die Liebe von ihr Besitz ergriff en. Denn was
war es sonst, wenn nicht Liebe, dieses Feuer, das sie verzehrte,
sobald sie an Françoise dachte? Was war es, wenn nicht Liebe,
diese Gier, dieser Hunger, der alles was nicht Françoise war ,
trostlos erscheinen ließ?
War es nicht Liebe, dieses Bedürfnis, jedesmal, wenn sie sie
wiedersah, jedesmal, wenn sie von ihr ging, zu lachen und zu
weinen? Diese leidenschaftlichen Briefe, tausendmal geschrieben
und wieder zerrissen, in denen sie sie um ihre ewige Freundschaft
bat und ihr schwor, niemals zuzu lassen, daß irgend jemand diese
Freundschaft trübte?
›Ich habe kein Recht, eine Frau zu lieben. Das ist nicht normal.
Männer, die Männer lieben, ja, das gibt es. Man zerreißt sich den
Mund über sie, aber es gibt sie. Frauen, die sich liebe n… davon
habe ich noch nie etwas gehör t… Jedenfalls nicht in Hanoi.
Auch nicht in Büchern gelesen. Es heißt, Gide und auch
Montherlant und die Männer der Antike… Ja. Aber Frauen?
Keine einzige. Nicht einmal George Sand. Sie trug Männerkle i­
dung, rauchte Zigarren, war aber die Geliebte von Musset, Cho­
pin und weiß Gott wem noc h… Himmel, wenn meine Familie
ahnte… Onkel Léon, Marna, Paul.‹
Ein Kranker, dem man soeben mitgeteilt hat, er leide an Krebs,
kann keine entsetzlichere Nacht verbringen als die, durch die sich
Anna Hong quälte.
Sie fühlte sich in den Fängen einer unbekannten und demnach
unheilbaren Krankheit, vor allem einer Krankheit, von der sie um
nichts auf der Welt genesen wollte.
Françoise hatte die Augen geschlossen, tat, als schliefe sie.
Nach kurzem, unruhigem Hal bschlummer hatte sie schließlich
das Rauschen der Dusche aus dem Badezimmer geweckt. Sie
bewegte sich nicht, spürte de n flüchtigen Kuß, den ihr Bernard
auf die Lippen hauchte, bevor er ins Büro ging. Sie wartete das
Zuschlagen der Gartentür ab, das Geräusc h des sich entferne n­
den Autos. Erst dann öffnete sie die Augen. Helles Tageslicht,
das durch die Ritzen der geschlossenen Fensterläden drang, ließ
darauf schließen, daß sich das Ungewitter endgültig verzogen
hatte. Das Ungewitter in ihrem Herzen jedoch, de r Sturm, der sie
lange Stunden hindurch wachgehalten hatte, war nicht verebbt.
In der Villa war es still. Thi -Ba würde nicht eher zu ihr herau f­
kommen, bis sie klingelte.
Eilig schlüpfte sie in ihre Hausschuhe, zog sich einen Morge n­
rock über, warf einen Bli ck in den Frisierspiegel, fuhr sich ung e­
duldig mit der Bürste durch das Haar und ging zur Tür.
Sie fühlte sich beschwingt, ausgeglichen, selbstsicher. Sie wußte,
was sie wollte; nie hatte irgend etwas, irgend jemand sie von dem,
was sie vorhatte, abhalten können.
Sie legte die Hand auf die Türklinke des Gästezimmers, blieb
dann plötzlich wie angewurzelt stehen. Wenn Anna, entgegen
allen Erwartungen, doch das Haus verlassen hatte? Nein. Sie
hätte sie gehört… Aber während sie schlief… Ein leichter
Schreck durchfuhr sie. Zu öffnen und ein leeres Zimmer vorz u­
finden – welch unerträglicher Gedanke. Das würde sie ihr nie
verzeihen. Sie wollte Anna, sie begehrte sie. Ohne sie hatte das
Leben in Hanoi, das Leben überhaupt, keinen Sinn mehr. Sie
schloß die Augen, lehn te die Stirn gegen die Tür. Das Bedürfnis
zu weinen. Was war nur mit ihr los? Wo war die stolze Reiterin,
die auf ihrer Jélicha draufgängerisch durch die Dünen, die We l­
len, den Wind galoppierte?
Ein kleines schlummerndes Mädchen hinter dieser Tür oder
nicht, und schon war sie wie gelähmt. Langsam drehte sie den
Emailknauf, trat ein, schloß behutsam die Tür hinter sich, ging
leise auf das Moskitonetz zu, unter dem sich das Bett verbarg.
Anna schlief. Nachdem sich Françoises Augen an das Hal b­
dunkel gewöhnt ha tten, betrachtete sie die Freundin eingehend.
Das junge Mädchen lag auf dem Bauch, die Arme um ein Kop f­
kissen geschlungen, das Haar zerzaust. Das Nachthemd, dessen
einer Träger verrutscht war, entblößte eine runde Schulter, auf
der das Kinn der hübschen Sc hläferin ruhte. Ein Bild der Anmut
und Hingabe.
Françoise kniete neben dem Bett nieder, hob unendlich vo r­
sichtig eine Bahn des Moskitonetzes, schob ihren Kopf, ihren
Oberkörper durch die Lücke im Tüll. Einen Augenblick lang
zögerte sie noch. Dann beugte si e sich hinunter, drückte die
Lippen auf die sich ihr darbietende Haut.
Anna zuckte zusammen, öffnete die Augen. Die blonde Mähne
auf ihrem Gesicht nahm ihr die Sicht. Rasch richtete sie sich auf.
Ihre Arme umschlangen den Körper, der sich ihr entgegenneigt e.
Leise stöhnte sie: »François e…« Ihr sehnender Mund suchte die
Wangen, die Augen derer, die sie umfangen hielt. Eng aneina n­
dergepreßt, halb ausgestreckt, bedeckten sie sich über und über
mit flüchtigen Küssen; die Hände der einen streichelten die
Arme, die Schultern der anderen. Sie sprachen nicht, flüsterten
nur ihre Namen. Anna murmelte »mein Liebes – mein Liebes«,
aber so verhalten, daß sie ihre Lippen nur zu bewegen schienen,
um die Freundin von neuem mit Küssen zu überhäufen. Ihre
warmen Körper, ihre Haut erregten sie. Ein Meer süßer und
aufgewühlter Wogen erfaßte sie. Endlich riß sich Anna aus
Françoises Armen, die das Gleichgewicht verlor und auf das
Kopfkissen sank. Anna beugte sich über sie. Lange sahen sie sich
an. Anna schüttelte langsam den Kop f, wie um eine Versuchung
von sich zu weise n… oder eine Angst zu bannen. Es war die
andere, die ihre Hand an Annas Hals legte, sie an ihre Lippen
zog. Thi-Ba hätte eintreten oder der gewaltigste aller Wirbelstü r­
me sich austoben können; die beiden Liebenden erfuhren zum
ersten Mal in ihrem Leben das schwindelerregende, berauschende
Losgelöstsein derer, die sich endlich finden.
BRIGITTE BLOBEL

Hotel Ahla

Die Fliege war vom Fenstersims, auf dem Gael die Hälfte einer
Wassermelone hatte liegenlassen, an de r weißgekachelten Wand
entlang zu dem weißen Eisenbettgestell gekrabbelt. Sie war nur
einmal stehengeblieben und hatte mit den zwei vorderen Bei n­
chen über den Kopf und die Fühler gewischt. Wenn sie die
schrägen Lichtstreifen der Jalousien durchquerte, schi mmerte das
runde, schuppige Hinterteil metallisch -blau. Die Fliege machte
nicht das geringste Geräusch, und trotzdem war Gael sicher, daß
das kleine Tier sie aus ihrem erschöpften, ohnmächtigen Schlaf in
die We lt zurückgeholt hatte. Die Stille um sie herum schien
vollkommen, nicht einmal der Ventilator an der Decke bewegte
sich.
Als sie sich gestern abend auf das Bett geworfen hatte, zu er­
schöpft, um frische Laken zu verlangen, rotierten die schwarzen
Schaufelblätter des Ventilators noch mit müder Gleichmäß igkeit.
Gael erinnerte sich jetzt, während sie die Fliege beobachtete, daß
das eintönige Brummen des Ventilators ihr wie eine tröstliche
Nachricht aus der Zivilisation erschienen war, eine Botschaft aus
der Welt, zu der sie gehörte. Sie dachte an Stromkabel, Überland­
leitungen, an das heimelige Licht, das der Lampenschirm über
dem Eßtisch ihres Elternhauses verbreitete, dachte in diesem
Zustand von Erschöpfung und Erleichterung plötzlich voller
Dankbarkeit, daß jemand so etwas wie einen Kühlschrank erfu n­
den hatte, der, wenn man ihn öffnete, eine frische, kühle Luft
ausströmte, dachte an Erdbeeren in kleinen, blauen Schalen, mit
einer Folie überzogen, die sich so fort mit einem Film winziger
Tröpfchen bedeckte wenn man sie herausnahm, an eine eiskalte
Sodaflasche, an der das Kondenswasser herunterlief. Natürlich
gab es an diesem gottverlassenen Ort keinen Kühlschrank, aber
immerhin einen durch Generationen betriebenen Ventilator, der
sie mit allem, was sie sonst in ihrem Zimmer entdeckte, versöhnt
hatte. Das Bettlaken, dessen Schmutzflecken intime Geschichten
anderer Reisender preisgab, die sie lieber nicht gewußt hätte,
zerdrückte Mücken, die dunkle Blutstropfen auf den weißen
Kalkwänden hinterlassen hatten, der windschiefe Schrank, dessen
hellblau lackierte Tür nur noch an der unteren Ampel hing, die
verbogenen Drahtbügel, die Zigarettenkippen in dem Topf mit
der knisterndtrockenen Palme, die zerschlissenen, hellgrauen
Mousselinegardinen, die verbogenen Lamellen der Jalousien, die
weder das gleißende Sonnenlicht noch die Hitze aus dem Raum
fernhalten konnten, der schmierige Steinfußboden, auf dem die
nackten Fußsohlen klebten und auf dem jeder Schritt ein
schmatzendes Geräusch machte. Alles das war erbärmlich, ab­
stoßend, und dennoch hatte der Ventilator, der auf ihrem erhitz­
ten, sandverklebten Körper die Illusion von Frische und Kühle
verströmte, sie mit allem versöhnt.
Jetzt war die dicke blaue Stubenfliege nur noch wenige Zent i­
meter von ihrem Bett entfernt, und der Ventilator stand still.
Ganz plötzlich änderte die Fliege ihre Richtung und steuerte nun
nicht mehr auf das Kopfende des Bettes zu, sondern auf Gaels
Hand, die sie, um Kühle zu suchen, gegen die kalkweiße Wand
gepreßt hatte. Gael fragte sich, welcher Instinkt ihr die Ric h­
tungsänderung vorgeschrieben ha tte. Es war ihr vollkommen
logisch erschienen, daß die Fliege zu ihrem Kopf wollte, direkt zu
ihren Augen, zu dem dünnen Sekret, das die Schleimhäute un­
entwegt absonderten, um die Staub - und Sandkörnchen der
langen Wüstenreise herauszuschwemmen. Gael hatte auf ihrer
Fahrt unzählige Männer, Frauen und Kinder gesehen, deren
Augen umschwirrt waren von Fliegen, und es hatte sie gleichze i­
tig angezogen und abgestoßen, die instinktive Gier, mit der die
kleinen Schmarotzer sich auf dieses empfindliche Sinnesorgan
der Menschen stürzten.
Die Fliege hatte jetzt die Spitze ihres Mittelfingers erreicht, der
Nagel zeigte noch schwache Spuren des Perlmuttlackes, den sie
am Vorabend ihrer Reise durch die Sahara aufgetragen hatte, ein
bleiches, muschelfarbenes Ros é, das sie für diesen Anlaß als
passend empfunden hatte, dezent und irgendwie klassisch. Vie l­
leicht hatte sie in jenem Augenblick noch angenommen, daß die
Durchquerung der Wüste mit dem Auto einem Landausflug
vergleichbar wäre, ähnlich dem heiteren Picknick französis cher
Kolonialbeamter unter schattigen Palmen, das man von vergil b­
ten alten Fotos kannte.
Als sie morgens in den für die Reise sorgfältig ausgerüsteten
Landrover gestiegen war, hatten ihre Haare noch jenen bleichen,
seidigen Glanz gehabt, der arabische Frauen überall in Verzücken
versetzt und dessen mystischer Anziehung die Männer nie wide r­
stehen können. Immer hatten sie, die ansonsten gern ihre Ve r­
achtung westlichen, unverschleierten Frauen gegenüber zeigten,
irgendeinen Vorwand gefunden, um verstohlen dies e feinen,
europäischen Haare zu berühren, und Gael hatte, weil es sie
amüsierte, so getan, als bemerkte sie es nicht. Sie hatte sich oh­
nehin ohne allzu große Skrupel den Ritualen unterworfen, wie sie
von einer arabischen Männergesellschaft für die Frauen aufge­
stellt worden waren. Sie war mit niedergeschlagenen Augen in
den Palästen der Scheichs herumgegangen, nicht anders als deren
Lieblingsfrauen, hatte schamhaft die Formen ihres Körpers
verhüllt, auch wenn sie nicht verhindern konnte, daß jeder
Schritt, jede Bewegung zeigte, wieviel schlanker und kra ftvoller
ihr Körper war, als der ihrer arabischen Gastgeberinnen. Sie
hatte, wenn sie sich auf den Seidenpolstern zum Essen niederließ,
ihre nackten, sorgfältig manikürten Füße unter den langen Br o­
katstoffen ihrer Kleider verborgen, und sich nur selten den kle i­
nen Spaß erlaubt, die silbernen Glöckchen ihrer Fußketten kli n­
geln zu lassen, immer in einem Augenblick, in dem der Gastgeber
zu einer Rede anheben wollte, und zu ihrer Genugtuung hatten
die Männer jedes Mal den Faden ihrer Rede verloren. Sie ve r­
stummten, schauten zu ihr hin, wandten den Blick wieder ab und
fühlten sich irritiert.
Es war ein Spiel gewesen, ein Spiel, das sie von den arabischen
Frauen abgeschaut hatte, ein Spiel, bei dem sie gelernt hatte, mit
den Augen mehr zu sagen, als die Frauen in Europa. Sie hatte
gelernt, den klebrigen Zimthonig, der aus den Täubchenpasteten
herauslief, so aufzulecken, daß die Männer, die ihr gegenüber
Platz genommen hatten, mit kaum unterdrückter Begierde jede
Bewegung ihrer Zungenspitze verfolgten. Sie hatte gelernt, sich
die kleinen Fleischbällchen mit der rechten Hand so zwischen die
Lippen zu schieben, daß es den Männern, die ihr gegenüber
saßen, wie ein e obszöne Handlung erschien. O ja, sie hatte viel
gelernt, und es hatte sie sehr amüsiert. Aber das war es ja nicht,
was sie wollte.
Dennoch war es ein schönes aufregendes Spiel gewesen in den
Häusern, die sie als Gast bewohnen durfte, in der salzigen Nähe
des Mitte lmeeres oder in den heißen, troc kenen Wüstenzonen
am Rande des Atlasgebirges. Dort in den schattigen Innenhöfen,
angefüllt mit dem heiteren Plätschern von Springbrunnen, dem
murmelnden Geplapper der Wasserläufe, die über die blau ­
goldenen Mosaiktreppen abwärtsrollten, war die Luft immer kühl
und frisch gew esen, wie kaltes Soda. Morgens hatte man ihr auf
einem feinsilbernen Tablett heißen, süßen Pfefferminztee ge­
reicht, zusammen mit einem kleinen Strauß gebundener Jasmi n-
knospen. Sie hatte in den Hammams zusammen mit den arab i­
schen Frauen die erregende Sinnli chkeit von Waschungen, Ma s­
sagen und Henna -Bemalungen erlebt, hatte später, auf kühlen
Lederkissen lehnend, süßes Mandelgebäck gegessen und dem
Flötenspieler gelauscht, der aus sieben Tönen das Lieblingslied
des Sidi Ben Faoud so spielte, das kein Ende und keinen Anfang
hatte und wie der Seufzer eines sehnsüchtigen Herzens klang. In
all den ungezählten Räumen und Höfen des Hauses von Sidi Ben
Faoud hatte es nicht ein einziges Insekt von der Gemeinheit und
Scheußlichkeit dieser schimmernden Stubenfliege gegeb en, die
jetzt über ihren Handrücken kroch, zwischen Zeige - und Mitte l­
finger verharrte und mit ihrem Rüssel die feine Haut zwischen
den Fingern absuchte nach Schweiß und Sand oder den letzten
Tropfen des Saftes, der Gael abends durch die Finger geronnen
war, als sie gierig, die Melonenhälfte in beiden Händen haltend,
in das rosa Fleisch gebissen hatte. Der Saft war an ihrem Kinn
herunter auf ihre Brüste getropft, zwischen den Fingern hindurch
auf den Steinboden, aber es hatte sie nicht bekümmert, die Kerne
hatte sie in eine kleine Keramikschüssel gespuckt und sich da­
nach etwas von dem abgestandenen Wasser aus der Thermosfl a­
sche über die Hände und das Gesicht laufen lassen.
Wie die Propeller eines Hubschraubers rotierten plötzlich die
Flügel der Fliege, sie kr eiste über Gaels nacktem Bauch, als
betrachtete sie ihr Beuterevier von oben, aus einer überschaub a­
ren Perspektive, und ließ sich dann direkt oberhalb des Bauchn a­
bels wieder nieder, genau dort, wo der Schweiß einen flachen See
bildete.
Die Fliege bewegte sich durch die salzige Flüssigkeit, und diese
leichte, fast zärtliche Berührung ließ Gaels Hautoberfläche wie
unter einem kühlen Luftzug erschauern. Während sie mit ge­
schlossenen Augen den Weg auf ihrer Haut verfolgte, dachte
Gael, daß sie sich nicht erinne rte, ob sie den Wirt nach einer
Dusche gefragt hatte. Sie war zu erschöpft gewesen, zu dankbar,
endlich das Hotel gefunden zu haben, nach der einsamen, vie r­
zehn Stunden dauernden Fahrt durch den letzten Wüstena b­
schnitt. Sie konnte sich jedoch erinnern, daß der Wirt fünfzig
Dinar für das Zimmer verlangt hatte, eine geradezu aberwitzige
Summe für diese Absteige. Aber ihre Müdigkeit war zu groß
gewesen, um mit dem Wirt zu feilschen. Wahrscheinlich hatte sie
sich durch diese Schwäche um jeglichen Respekt gebrac ht, hatte
sich als jemand ausgewiesen, der von arabischen Gewohnheiten
nichts wußte, denn natürlich war dieses Zimmer keinen Centime
mehr als zehn Dinar wert, und natürlich hatte der Wirt diesen
schamlos überhöhten Preis nur gefordert, weil er annahm, daß sie
höchstens ein Zehntel zahlen würde. Und inzwischen wußte
jeder in dieser kleinen Oase Qued Ksar Khalil, daß eine Weiße
angekommen war, die eine lächerliche Figur machte, jemand, den
man nicht ernst nehme n mußte. Sicherlich war sie heute das
Gesprächsthema bei den Dattelpflückern im Palmenhain, bei den
Frauen, die sich zum Wasserholen am Brunnen trafen, bei den
alten Männern, die vor dem Café Tatouine ihre Wasserpfeife
rauchten. So oft kommt es nicht vor, daß ein Fremder sich nach
Qued Ksar Khalil verirr t. Einmal pro Woche nur hält hier der
Linienbus, der von Bord Mechehed kommt, aber es steigen
immer nur Leute aus und ein, die hier wohnen oder hier Ge­
schäfte machen wollen. Der Soldatenkonvoi auf dem Weg zur
Wachablösung an der Grenzstation machte hier im mer seltener
Station, um Wasservorräte und Benzinkanister aufzufüllen oder
sich mit frischen Datteln und Ziegenkäse zu versorgen. Für ein
paar Stunden sitzen dann die Soldaten in ihren verstaubten Un i­
formen im schattigen, von Fliegen summenden kahlen Raum des
Café Tatouine, rühren den Blechlöffel in der winzigen Tasse und
machen ein paar tapfere Scherze, um sich Mut zu machen für die
endlosen Monate, die sie an der Grenzstation würden verbringen
müssen, ohne eine Frau, nur mit den Titelseiten billiger Illus trier­
ten, die sie sich in der Hauptstadt besorgt haben.

Gael war in die Oase gekommen, kurz bevor das letzte rote
Abendlicht ganz von der schwarzen Nacht verschluckt worden
war, aber sie wußte, daß die Staubwolke, die ihr Jeep während der
Fahrt aufwirbel te, schon lange von den Dattelhainen der Oase
beobachtet worden war, sie wußte, daß all die vermummten
Männer in ihren hel lblauen Djellabahs, die zu dieser Stunde auf
den wackeligen Stü hlen vor dem Café saßen, nur ihretwegen
noch nicht zu ihren Frauen zurü ckgegangen waren. Vielleicht
hofften sie, ein Verwandter würde kommen und Neuigkeiten und
Klatsch aus der Stadt mitbringen, oder ein Händler, der ihnen
endlich ein paar Teppiche und Decken abkaufen würde, die die
Frauen und Mädchen in den langen einsamen Tagen gefertigt
hatten. Der Dattelhändler wurde nicht vor Ende des Monats
erwartet, und der Mann, der ihren Ziegenkäse aufkaufte, lag im
Krankenhaus mit einem zerquetschten Arm, den ihm ein tollw ü­
tiges Kamel (wie man sagte) mit den Kiefern zermalmt hatte.
Gaels Jeep war an der Grenze von den Soldaten notdürftig re­
pariert worden, das Kupplungsseil bestand aus einem rostigen
Stück Maschendraht, das jeden Augenblick wieder reißen konnte,
deshalb fuhr sie sanft durch die Schlaglöcher und wechselte auf
der Straße nicht ein einziges Mal den Gang, sie mußte im Fahren
die letzten Reste ihrer Wasserration trinken, im Fahren von den
trockenen Keksen abbeißen, das Kopftuch zum Schutz vor dem
Wüstensand immer wieder zurechtzupfen und die Ärmel ihres
Hemdes ganz weit über die Hände streifen, die unter den be i­
ßenden Sonnenstrahlen glühten als stünde sie unter Strom. Als
sie vor dem Café hielt, waren einige Männer, vor allem jüngere,
aufgestanden, um sich dem Auto zu nähern, um zu helfen, wie
sie es gewohnt waren. Meist reic hte einer dem Fahrer eine Tasse
Minztee oder eine Schale Wasser hinauf, noch bevor der Motor
abgestellt war, denn hier in der Wüste kann man ohne die Si­
cherheit der Gastfreundschaft nicht überleben.
Als die Männer erkannten, daß sie eine Frau war, wichen sie
zurück, schürzten ihre Djellabahs und ließen sich langsam, aber
doch irgendwie alle gleichzeitig wieder auf ihren Stühlen nieder.
»Salam«, sagte Gael. Ihr Mund war von der trockenen Hitze
spröde und aufgerissen, das eine Wort brannte wie Feuer in ihrer
Mundhöhle.
»Assalama«, murmelten die Männer zwischen zusammeng e­
preßten Lippen. Die schwarzen Augen musterten sie aufmer k­
sam, verfolgten jede ihrer Bewegungen, als warteten sie darauf,
daß sie einen unentschuldbaren Fehler machte, daß irgend etwas
geschah, was ihnen das Recht gab, sich zu entrüsten. Aber Gael
machte, obwohl sie zu Tode erschöpft und durstig war, keinen
Fehler. Sie betrat das Café nicht, sondern fragte auf arabisch
einen der sehr alten Männer, dessen Augen verschleiert waren
vom Grauen Star, ob man ihr wohl eine Tasse Tee herausbringen
könne. Der Alte nickte und rief einem Jüngere n etwas zu, und
Gael stand und wartete neben ihrem staubverkrusteten Jeep und
blickte an all den Männern vorbei auf die Wüste, aus der sie
gekommen war. Zwei dünne, schlanke Palmen reckten sich vor
dem tiefen Himmel, auf dem die ersten Sterne aufblitzten.
Man brachte ihr den Tee, und sie fragte nach dem Hotel Ah la.
Es wurde ihr geantwortet, das Hotel sei am Ende der Straße, und
sie ließ ihren Jeep da stehen, vor dem Ca fé, weil sie Angst hatte,
ihn noch einmal in Gang zu setzen. Dann hob sie ihren Koffer
heraus und ging, gefolgt von den Blicken der Männer, die wie
eine Schar hellblauer Krähen nebeneinander vor der ockerfarb e­
nen Wand des Cafés saßen, die Straße hinunter, an dem Brunnen
vorbei, an niedrigen, weißgekachelten Lehmhäusern, deren Türen
alle verriegelt waren. Ein zäher magerer Hund auf drei Beinen
rannte vor ihr her, drehte sich immer wieder nach ihr um, als
wolle er ihr de n Weg zeigen, einmal leuchteten ihr aus einer
Fensterhöhle die großen, runden Augen in einem Kindergesicht
entgegen: automatisch lächelte Gael, aber da verschwand das
Gesicht. Zwei Frauen, tief verhüllt in ihre mannigfachen Schleier,
hasteten an ihr vorbei, blieben aber gleich stehen und schaut en
ihr nach, Gael fühlte es, weil sie die Schritte der Frauen nicht
mehr hören und nicht mehr den Luftzug spüren konnte, der von
dem Wehen ihrer Schleier ausging. Sie ging weiter mit dem leic h­
ten Kof fer, in dem nur ihre Aufzeichnungen waren und etwas
frische Wäsche, ein weiteres Paar Sandalen und natürlich das
Geld und ihre Papiere, die während ihrer Fahrt hundertmal
vorgezeigt und geprüft worden waren, an jeder Grenzstation, von
jedem Polizisten, der ihrer ansichtig wurde. Die Männer hier
lieben die Macht, die von den Papieren ausgeht, und sie lieben
den schwerfälligen Apparat der Bürokratie, Stempel, Unterschri f­
ten, Zahlen, Fingerabdr ücke. Gael hatte das alles über sich erg e­
hen lassen, denn man hatte sie vorher gut informiert.
Die Fliege kroch vom Bauchnab el abwärts auf ihre Schamhaare
zu, verfing sich in den ersten krausen Locken, zitterte und ließ
die Flügel rotieren, Gael hob den Kopf ein wenig, um ihr besser
zuschauen zu können, beinahe war es ihr, als warte sie auf Hilfe,
aber je mehr sie zappelte, des to tiefer verstrickte sie sich, und
Gael begann, das leichte Zupfen und Zerren an den Härchen als
angenehm zu empfinden. Vielleicht war es auch nur die Schade n­
freude zu sehen, wie jemand sich selbst in dem tückischen Netz
des Fremden verfing. Vielleicht wa r sie auch einfach zu er­
schöpft, um etwas zu tun. Ganz plötzlich hörte sie von unten aus
dem Haus ein Rumoren, so als werde ein Aggregat angewor fen,
und auf einmal begann über ihr an der Decke das Summen, und
schwerfällig setzten sich die Flügel des Ventil ators in Bewegung.
Gael wurde aus der Trägheit aufgeschreckt, sie beugte sich vor
und zog die Fliege an einem Flügel, der sofort abriß, aus dem
Gestrüpp ihrer Härchen, die Fliege taumelte zu Boden, Gael
machte, als sie aufstand einen großen Schritt über si e hinweg und
ging zum Fenster.
Die Streifen des strahlenden Lichtes zeichneten ein geometr i­
sches Bild auf ihren nackten Körper. Gael zog die Plastiklamellen
der Jalousien auseinander und schaute hinaus. Das Dorf wirkte
verlassen und leer, schattenlos unter einer erbarmungslosen
Sonne. Ein Kamel schrie in der Ferne, und von unten aus dem
Haus kamen Geräusche der Unruhe und Geschäftigkeit. Ge­
schirrklappern, das Rauschen von Wasser, Stimmen. Männe r­
stimmen, scharf, dann ein Frauenlachen. Dann wieder, etwas
sanfter, die Stimme eines Mannes. Dann das Klatschen der Ba­
bouche, der Pantoffeln, auf dem Steinfußboden, und als Gael
sich umdrehte, stand ein Mann in der Tür, er hielt eine große,
hellblaue Schüssel in der Hand, aus der es dampfte, und er sagte:
»Salam.«
Gael schwieg. Sie wußte nicht, was sie tun sollte. Das Bett war
zwei Meter entfernt, sie hätte ein Laken nehmen können und sich
darin einwickeln, aber das würde fünf Schritte vor seinen Augen
bedeuten, fünf Schritte, bei denen er ihren Körper noch deutl i­
cher betrachten konnte als jetzt, wenn sie stehenbliebe, reglos wie
ein Stein, wie eine Statue.
Sie wußte nicht, ob dieser junge Mann schon jemals eine nackte
Frau gesehen hatte, in diesem Land zeigen ja nicht einmal Mütter
sich ihren Söhnen nackt, nicht einmal Schwestern, niemand
außer der eigenen Frau in der Nacht der Hochzeit.
»Das Wasser«, sagte der Mann, »Sie haben gestern abend wa r­
mes Wasser bestellt. Ich bringe es. Es ist zwölf Uhr Mittag. Ich
dachte, Sie warten vielleicht auf das Wasser.«
»Ja«, sagte Gae l, »gut. Schukran.« Schukran heißt danke, es fiel
ihr im letzten Augenblick wieder ein. Zwölf Uhr Mittag. Sie hatte
also mehr als vierzehn Stunden geschlafen!
»Ich stelle das Wasser hier ab«, sagte der Mann, der sich bückte
und die Schüssel genau auf die Türschwelle stellte.
»Ja«, sagte Gael, »Schukran.«
Der Mann beugte sich tief, sehr tief und verschwand. Seine
Babouchen machten auf den Steinplatten nicht das geringste
Geräusch.
Unten wieder das Lachen einer Frau, eine leise männliche
Stimme. Dann Musik. Arabische Schlager, plärrend aus einem
Radio, das mit schwacher Batterie lief. Kaffeeduft drang zu ihr
herauf. Gael war endlich fähig, sich zu bewegen. Sie nahm die
Schüssel, trat mit dem Fuß die Tür zu und trug die Schüssel zum
Bett. Als sie ging, spürte sie etwas unter ihrer rechten Fußsohle,
aber erst als es zu spät war, merkte sie, daß sie auf die Fliege
getreten war. Sie zerrte eines der Laken vom Bett, tauchte es in
das Wasser und begann, ihren Körper zu waschen. Das heiße
Wasser war trotz der Hitze an genehm. Mit einem anderen Laken
trocknete sie sich ab. Es gab keinen Spiegel in dem Zimmer, sie
hätte sich gerne betrachtet, ganz bleich war ihr Körper, weil er
während der tagelangen Fahrt vor der Sonne geschützt war, sie
hätte gern ihr Gesicht gesehen, ihre Augen, ob jetzt ein anderer
Glanz in ihnen war, ob sich etwas anderes in ihnen spiegelte als
früher, vor ihrem Aufbruch. Aber es gab keinen Spiegel. Sie
suchte in dem Koffer nach ihrem Kamm, aber die Haare waren
so widerborstig, daß es schmerzte. Gael wickelte sich in ein
Laken und öffnete die Tür.
»Holâ!« rief sie. »Me lechrab, schukran.« Me lechrab bedeutete
kostbares Trinkwasser, das Wort für Wasser fiel ihr nicht ein. Es
dauerte nur einen Augenblick, dann war ein junges Mädchen da,
unverschleiert, vielleicht zehn Jahre alt, das balancierte eine
schöne Schüssel mit gemalten Rosen in der Hand und lächelte.
»Salam«, sagte das Mädchen, »ich bin Laila.«
»Assalam«, erwiderte Gael. Sie wartete, bis das Mädchen die
Schüssel abgesetzt hatte. Dann zeigte sie auf ihre Haare und sagte
in holprigem Arabisch, »ich muß meine Haare waschen, ich bin
durch die Wüste gefahren. Mein Haar ist voller Sand.«
Laila lächelte, verschwand, kam zurück mit einem Stück Seife,
an dem Gael riechen sollte, es war Sandelholzseife. Lai la holte
einen Stuhl und bedeutete Gael, sich zu setzen. Dann stellte sie
die Schüssel auf einen zweiten Stuhl. Gael beugte sich über die
Waschschüssel, und das Mädchen begann, ihre Haare zu wa­
schen.
Geschickt ließ Laila das klare lauwarme Wasser über Gael s
Kopf rieseln, massierte in sanften runden Bewegungen die Kop f­
haut und verstärkte leicht den Druck an den schmerzenden
Schläfen. Laila schien zu spüren, an welchen Stellen Gael die
Massage als besonders lindernd und wohltuend empfand. Sie
lachte dann leise und glucksend, und Gael spürte das Lachen, das
im Bauch des Mädchens begann, wenn Laila ihren Körper leicht
gegen Gaels Rücken preßte.
Etwas von der Sandelholzlauge lief in Gaels Augen. Laila be­
merkte es sofort und bog Gaels Kopf zurück, um mit dem Zip fel
des Leinentuchs zärtlich und behutsam die Augen zu trocknen.
Einen Augenblick trafen sich ihre Blicke und Laila senkte ihre
langen dichten Wimpern schüchtern und mit anmutiger Besche i­
denheit etwas weiter über die Augen. Gael hoffte, dieses Ritual
des Haarewaschens würde nie zu Ende gehen, immer könnte sie
Lailas Hände an ihren Schläfen, in ihrem Nacken, am Haaransatz
spüren, immer diesen leichten sich verstärkenden Druck von
Lailas kindlichem Mädchenkörper gegen ihren gebeugten Rü k­
ken. Gael beugte sich wi e ein Opferlamm über die Waschschü s­
sel, und Becher für Becher rann das klare Wasser über ihre Haare
und spülte die letzten duftenden Sandelholzreste fort, bis Lai la
ihre beiden weichen Handflächen an Gaels Hals legte und sagte:
»Fertig.«
Laila reichte ihr das Leinentuch, und Gael wickelte es wie einen
Turban um den Kopf. Das Mädchen lächelte und schaute zur
Seite.
»Schukran«, sagte Gael leise, beinahe zärtlich. »Schukran.« Sie
berührte mit den Fingerspitzen den Scheitel des Mädchens.
Später würde sie Laila ein paar Dinar geben, später zum Ab­
schied.
Der Kamm ließ sich jetzt leicht durch die Haare führen, sie
fühlten sich weich und seidig an. Das Mädchen lächelte und
verschwand. Gael stand unter dem Ventilator. Hob die Haare
vom Nacken auf und ließ die Luft hi ndurchfächeln. Aus der
Melone auf dem Fenstersims tropfte langsam der Saft. Sie bog
den Kopf in den Nacken und genoß die fächelnde Luft mit
geschlossenen Augen.
»Ich hätte nicht gedacht, daß du es schaffst«, sagte eine Stimme
in ihrem Ohr. Warmer Lufthauch streifte ihre Ohrmuschel wie
ein Kitzeln. »Bei Allah, was seid Ihr nur für Frauen.«
Gael öffnete nicht die Augen. Nur ihre Nase kräuselte sich ein
wenig. »Das darf nicht wahr sein«, flüsterte sie, »daß du schon
hier bist. Wir haben das nicht so ausgemacht . Du hast die Spie l­
regeln verletzt.«
Jetzt erst öffnete sie die Augen. Machmout sah aus wie ein
wohlhabender Weltreisender, den es durch ein Mißgeschick an
einen schäbigen verlassenen Ort verschlagen hat. Er trug einen
hellen Leinenanzug, leicht zerknitter t, der dadurch aber um so
weltmännischer wirkte. Die Hände hatte er in den Taschen der
weiten Hosen vergraben, wahrscheinlich, dachte sie, will er der
Versuchung widerstehen, mich sofort zu berühren. Wahrschei n­
lich will er so etwas wie Anstand wahren. Aber seine Blicke
tasteten ihren Körper ab, verweilten an manchen Stellen lange,
fast zu lange, und kehrten rasch zu ihren Augen zurück, um
Verzeihung bittend, irrten wieder weiter.
»Warum bist du gekommen?« fragte Gael. »Hast du gedacht, ich
schaffe es nicht? Hast du gedacht, eine europäische Frau kann
eine arabische Wüste nicht durchqueren? Hast du das gedacht?«
Er schaute sie nur an.
»Die Tür schließen«, sagte Gael sanft, »aber von außen. Und
dann anklopfen. Und vielleicht sage ich dann herein.«
Er schaute sie an. Schluckte, senkte den Kopf. Dann wandte er
sich ab. Er schlenderte, mit den Hosenbeinen schlackernd, zur
Tür. Gael meinte einen Augenblick, in einem Film zu sein. Nur
der Hut fehlte, ein weißer Borsalino, den er in diesem Augenblick
in den Nacken ge schoben hätte, um dann so, mit zurückgebog e­
nen Schultern, aus dem Raum zu gehen, während sie immer noch
dastand, unter dem rotierenden Ventilator, mit dem Scha ttenbild
der Jalousien, das ihren Körper in Streifen zerteilte. Und draußen
die Hitze. Das Kniste rn der Palmwedel, die sich aneinanderri e­
ben. Und von unten das Lachen des jungen Mädchens. Und
dieser Generator, der wie ein Dieselmotor brummte.
Gael wartete, bis er die Tür geschlossen hatte, dann nahm sie
das Handtuch und wickelte es sich wie eine Kikuy u-Frau um den
Körper, so daß ihre weißen Schultern nackt blieben und auch
ihre Beine, und sie rief: »Herein.«
Er kam, schloß die Tür, er lächelte traurig. »Ich habe mir ge­
dacht, daß ich dich nicht wieder so sehen würde wie eben. Du
hast gemerkt, daß ich mi r beinah die Augen verbrannt habe?
Aber dieses Brennen ist ein Schmerz, der auf dem Weg zu me i­
nem Herzen immer süßer wurde.«
Gael hob langsam einen Arm und fuhr ihm durch die schwa r­
zen, krausen Haare. »Du bist ein komischer kleiner Poet«, sagte
sie zärtlich. »Schade, daß du erst heute lebst. Früher hätten reiche
Haremsfrauen dich fürstlich für solche Sätze bezahlt. Aber dieses
ist ein anderes Leben, und ich bin eine andere Frau. Ich habe die
Wüste durchquert, wie ich es dir gesagt habe, ganz alleine. Wenn
du vor einer Stunde gekommen wärst, hättest du noch den Staub
auf meiner Haut gefühlt und den Sand in meinen Haaren. Ich
hatte die Wüste noch an mir wie ein Kleid, Machmout. Vielleicht
hätte es dir gefallen.«
»Ich sehe die Wüste immer noch in deinen Augen«, sagte
Machmout. »Und das gefällt mir auch.«
»Dann habe ich jetzt Augen wie Lawrence of Arabia, nicht ?
Siegreich und triumphierend. Sehe ich siegreich und triumphi e­
rend aus?«
Er blickte sie an. Seine Augen waren schwarz wie Kohle. Das
Weiße wirkte gelblich , und seine Wimpern waren von einem
bläulichen Schwarz. »Ja«, sagte er zaghaft, »ja, ich glaube.«
Er wich ihrem Blick aus. »Es ist schwerer als ich gedacht habe,
sich neben dir als Mann zu fühlen. Mit arabischen Mädchen ist
das leichter. Arabische Mädchen haben einen anderen Blick.«
»Ich bin allein durch die Wüste gefahren, Machmout. Mein A u­
to ist kaputtgegangen. Die Soldaten haben es mir repariert. Ich
habe meinen Stolz noch, weißt du. Meine Würde. Ich wollte dir
zeigen, daß ich ebenso viel wert bin wie ei n Mann. Ich wollte
ebenso viel von dir verlangen können wie du von den Frauen
verlangst.«
Machmout schwieg.
Gael ging zum Fenster und öffnete es. Die glühende Wüste n­
hitze strömte ins Zimmer, wurde vom Ventilator mit dem Sa n­
delholzduft ihrer Haare, dem Geru ch ihrer Haut vermischt. Sie
bewegte langsam ihre bloßen Füße auf dem nackten Steinboden.
Machmout verfolgten jeden ihrer Schritte. Draußen schrie ein
Junge, der ein Kamel vor sich hertrieb, und unten im Haus lachte
das Mädchen, das vielleicht einmal im Fr isiersalon der Haup t­
stadt einer Diplomatenfrau die Haare waschen würde.
Gael liebte die Berührun g seiner Augen auf ihrer Haut. Sie
drehte sich langsam unter dem Ventilator und dehnte sich, wie
eine Katze sich unter dem Streicheln ihrer Herrin dehnt.
»Möchtest du lieber erst frühstücken?« fragte Machmout, seine
Stimme war rauh. Er räusperte sich wiederholt. »Bist du nicht
sehr hungrig? Du siehst so mager aus. Deine Schultern, mager
wie bei einem kleinen Mädchen. Wann hast du zuletzt etwas
gegessen?«
»Ich kan n mic h nicht erinnern. Irgendwann gestern habe ich
Datteln gegessen und trockene salzige Kekse, von denen ich
Durst bekam. Aber meine Thermosflasche war leer. Mein Mund
hat gebrannt. Ich dachte, die Lippen platzen mir. Aber sie sind
nicht geplatzt, oder?« Sie trat ganz nahe an ihn heran, und er war
ihrem weichen großen Mund so nah, daß seine Lider vor Aufr e­
gung zuckten. Er kräuselte seine Lippen, er lächelte, verlegen,
während er auf ihren Mund starrte. »Nein«, sagte er, »sie sehen
wunderbar weich aus, deine Lippen.«
»Kann sein«, sagte Gael, während sie mit ihrer Nase sein Ge­
sicht kitzelte, »kann sein, daß ich auf süße Tortillas Lust hätte, auf
Feigenmarmelade, Rühreier und heißen, schwarzen Kaffee.« Sie
legte ihre weißen schlanken Arme um seinen Hals, und e r beugte
sich vor, um erst ihre Lippen zu küssen und dann über ihren
Hals zu streifen. Er küßte ihre Achselhöhlen mit seinen trock e­
nen, nervösen Lippen, und die weichen Haare seines Bärtchens
streichelten ihre Haut.
Seine Hände schoben sich nur langsam aus den Hosentaschen,
und als er sie zuerst berührte, fühlte sie nur seine Fingerkuppen
auf den Hüften, einen leichten Druck, dem sie nachgab, sofort,
weil sie auf diesen Druck gewartet hatte. Sie beugte den Obe r­
körper zurück und seine Lippen streiften ihre Brüste.
Gael starrte an die Zimmerdecke. Die Fliege fiel ihr plötzlich
wieder ein, die unausweichlich angezogen worden war, vom
Geruch ihres Schweißes, ihrer Haut, magisch angezogen vom
Unglück, das unweigerlich dem Augenblick der Begierde folgen
würde, abe r ohne Instinkt für die Gefahr, die Verstrickungen,
ohne Angst, flügellos auf den Boden zu stürzen, wo man zertr e­
ten wird.
Machmout legte seine Hand zwischen ihre Schenkel. Er hatte
angenehm trockene Hände, die herrlich kühl waren. Am Anfang
fand Gael all diese Berührungen immer angenehm.
Am Anfang schaute sie gerne zu, wenn eine Männerhand über
ihren Körper wanderte, Männerlippen ihre Haut liebkosten, am
Anfang war es immer eine Lust, diese Liebe zwischen Mann und
Frau.
JAYNE ANNE PHILLIPS

Unzucht

Auch wenn ich kein Geld habe, muß ich mir schließlich verschaf­
fen, was ich zum Leben brauche. O ja, ich weiß genau, welchen
von meinen Liebhabern ich anrufen muß, wenn mich die Polizei
dabei ertappt, wie ich gerade ein paar Pornofotos an den Mann
bringe; wen n mir die Ladendetektive die Handgelenke rumdr e­
hen und mir die geklauten Strümpfe aus dem Ärmel ziehen. Und
die Metzger hauen mir ins Kreuz, bis die eingewickelten Haxen
unten rausfallen; das Papier reißt, und die weißen Knochen mit
dem durchwachsenen Flei sch kommen zum Vo rschein, und sie
schubsen mich hart gegen die Wand. Sie beschimpfen mich, und
ich rufe meine Liebhaber an. Ich werde bald 15, meine Liebhaber
werden immer älter. Ich weiß genau, wer von ihnen mir freud e­
strahlend entgegenkommen wird, für di e Kaution aufkommt und
mich mit nach Hause nimmt in sein Bett und mich mit Whiskey
aufwärmt. Ich kann den ganzen Tag lang dableiben; ich kann
genausogut gleich wieder abhauen, sobald die Tür des großen
Autos aufgeht. Selbst im Davonlaufen höre ich noch, wi e sie
amüsiert hinter mir herlachen.
Ich treibe mich mit meinen Bildern in der Nähe der Schule he r­
um. Die kleinen Jungen paffen Zigaretten, sind weibisch wie
Schwuchteln, aber sie lassen den Starken raushängen. Ihre Ca­
mels sind krumm und zerknittert, wenn sie sie aus der Hosent a­
sche ziehen, am Ende schon ein bißchen abgelutscht. Ich sehe es
richtig vor mir, dieses feuchte Mundstück, rosa verschmiert,
abgefärbt vom zarten Rosa ihres Schmollmunds. Ich sehe die
harten Nippel unter ihren T-Shirts; ihr Brustkast en ist schmal
und fest. Die Umrisse des flachen Bauches und ihr kleiner Penis,
irgendwo in der kurzen Unterhose versteckt. Um den lächelnden
Mund sprießt schon der erste Flaum, zeigen sich die ersten list i­
gen Fältchen. Aber keine Akne; ich mache mich an si e heran,
bevor sie Pickel kriegen, nehm’ sie mir vor, wenn sie das erste
Mal diesen entrückten Blick in die Augen kriegen, ihre Augen
unruhig hin und her gehen. Ich zeige ihnen, was ich zu bieten
habe. Zu fünft oder sechst stehen sie um mich herum, klimper n
mit ihren Münzen, wippen unruhig auf den Ballen ihrer Tur n­
schuhe. Ich weiß, in der Grundschule haben sie einen Basketbal l­
trainer, ein ehemaliger Jockey, der sich mit seinem Bierbauch und
‘nem Ständer in der Trainingshose in den Umkleideräumen
rumdrückt, und sowas haut mich völlig aus den Socken. Sie
kommen näher. Ich beobachte die verkrampften Zehen in ihren
Turnschuhen. Jetzt arbeite ich nur mit den Augen. Schaue hoch
und suche mir den aus, der mir paßt. Ich sage ihm, daß er das
Geld einsammeln soll und verabrede in der Pause einen Treff mit
ihm im Park auf der anderen Straßenseite; im hohen Rohr eines
Abzugskanals oder in einer weichen Graskuhle, in einem verla s­
senen Auto unter der Brücke oder sonst an einem schattigen
Plätzchen. Kommt vor, daß ich ihnen auch ein paar Pillen zeige.
Oder eins von den Bildern; eine schlampige Rothaarige mit einer
Blondine, das Mädchen liegt wie ein Eunuch auf den weißen
Knien. Die Rothaarige hat prachtvolle Beine, man sieht ihre
straff gespannten Muskeln, und es kommt ihr im Stehen. Ich
erzähle ihnen davon. Schon mal einer von euch im Stehen ge­
kommen? Ich frage sie, und ihre Blicke gehen vom einen zum
anderen. Ich weiß, sie haben es schon in dunklen Schlafzimmern
unter der Decke gemacht. Das klatschende Geräusch und dieser
trockene Drang. Aber sie kapieren nicht, wieso ihre kleinen
Schwänze plötzlich ganz steif sind, wenn sie morgens aufwachen,
ahnen nicht, was da noch alles auf sie zukommt.
Dann warte ich also mittags auf sie. Ich rauche nicht, finde ich
abscheulich. Ich lut sche einen glatten Kieselstein, warte. Auf
einem Tankstellenklo habe ich mir die Zähne geputzt. Ich beiße
mir mit den Zähnen auf den Lippen ru m, sauge daran, damit sie
geschmeidig und weich sind. Reibe mir einen Tupfer Öl auf den
Hals und einen zwischen di e Hände. Ambergris oder Moschus
zwischen meine Brüste, dann unten auf die verborgene Stelle
unter meinem Nabel, wo die haarige Spur zu sprießen beginnt.
Vielleicht bürste ich mir auch das Haar. Ich lasse sie dabei zu­
schauen; öffne die Puderdose und fahre mir langsam mit der
Zunge über die Lippen. Von meiner Zunge sehen sie nur vorn
die weiche Spitze; ich tu so, als sei das nichts für sie.
Meist kommt nur einer von ihnen, der, den ich mir ausgesucht
habe, und sein Freund wartet irgendwo in einem Versteck, vo n
wo er uns belauert.
Ich sehe es ihnen an, ob sie alleine kommen oder nicht.
Manchmal sind sie high, sind auf irgendwas drauf; das ist mir
gleich. Ich empfange sie in einem alten Autowrack irgendwo in
einem Hinterhof, habe eine Decke über den Sitz gebreit et, oder
statt des Rücksitzes liegt eine alte Matratze drin. Im Fond sind
die Fenster mit Papiersäcken verhängt, mit gesprenkeltem Lehm
zugeschmiert, und das Sonnenlicht wirft breite Muster durch die
dreckverkrusteten Scheiben, durch das braune Packpapier.
Er ist nervös. Hält mir in der ausgestreckten Hand das Geld
hin. Oder er tut ein bißchen unwirsch, knufft mich mit seiner
kindlichen Faust. Vielleicht kommt ein hübscher Blondschopf
an, mit einem süßen Hals, dessen Schlüsselbeine sic h hervorwöl­
ben wie ein Flügelpaar; oder ein Sommersprossiger, dem das
aschfarbene Haar über die Augen fällt. Oder ein dunkler Junge
mit dicken Augenwimpern und kurzgestutztem, wolligem Haar,
vollen rosigen Lippen, die auf dem düsteren Rücksitz noch ein
bißchen voller werden. Ic h gebe ihm einen Schluck Whiskey,
krame in den Fotos, tue so, als würde ich sie ordnen. Nehme
auch einen Schluck, scherze mit ihm. Diesen Teil mag ich am
liebsten; er lehnt sich im Sitz zurück, die Augen blicken schläfrig
drein. Ich streichle über seine fe sten Schenkel, seine Brust ; ich
will, daß er sich wohl fühlt.
Ich lege die Bilder neben uns hin, manche von ihnen sind nicht
mal postkartengroß. Wir stecken die Köpfe zusammen, um sie
miteinander zu betrachten. Ein blondes Girl, ein schwarzes Girl;
sie sch auen sich immer gern die Fotos an. Die eine lehnt sich
zurück, ihre weiße Mähne fällt herunter, während die andere sich
über sie beugt, sie an der Taille festhält, ihren Mund auf eine der
Brüste drückt; sie ist so klein, daß man bloß den abstehenden
Nippel sieht. Auf dem Bild kann jeder sehen, daß sie den Nippel
zwischen ihren Lippen rein und raus flutschen läßt. Eine schwa r­
ze Hand berührt fast das bleiche Schamhaar, der Zeigefinger
leicht gekrümmt, beinahe zärtlich tastet er sich vor zum Spalt,
von dem kau m was zu sehen ist unter der vorgereckten Hüfte.
Ich mag keine Bilder von rasierten Girls; sie kriegen es mit der
Angst, wenn sie zuviel auf einmal sehen. Dann kommen sie nicht
mehr.
Ich zeige ihnen Dinge, die sie nie zuvor gesehen haben. Ich
könnte mich von ihnen anfassen lassen, doch nein. Ich lege
ihnen die Hände und Füße zurecht, und schön so liegenbleiben,
ja? Manchmal erzählen sie mir Geschichten, ständig erzählen sie
mir von ihren Baseballspielen und den wilden Kämpfen mit ihren
Freunden. Die Lippen weich und schmollend, in den Augen ein
harter, gläserner Glanz. Sie verschlucken die Worte und nuscheln
wie Babys, ich halte sie im Arm, halte sie fest, singe die ältesten
Songs. Manchmal werden ihre Gesichter in meinem Blickfeld
immer kleiner und kleiner. Ich konzentriere mich auf ihren Hals,
auf die Schultern. Lockere ihnen die Kleider, massiere ihnen die
Kopfhaut, kneife sie fest am Ansatz des Nackens. Zum Beispiel
dieser spanische Typ mit dem dunklen Haar, seine Augenlider
beginnen zu flattern, und ich ziehe ihn herüber zwischen meine
Beine, knöpfe ihm das Hemd auf. Schiebe ihm die Hose runter
bis auf die Knie, und man sieht seine dünnen Beine, den glatten
Schwanz, und unser Atem geht heiser und stoßweise, es klingt
wie Musik. Er ist unfähig, die Beine zu bewegen, kriegt aber
einen Steifen in meinem Schoß, liegt auf mir drauf, die Handfl ä­
chen nach außen gekehrt. Im nächsten Moment wird er die
Augen verdrehen, und ihm kommt’s, und ganz sanft werde ich
ihm meine schlüpfrigen nassen Finger zwischen die Lippe n
schieben. Dann ziehe ich mein Hemd aus, massiere mir mit den
glibberigen Fingern meine Brüste, bis die Warzen sich hart au f­
richten, mit schaumigen Schlieren außenrum. Ich drücke seinen
Mund darauf. Lasse meine Hand hinuntergleiten zu der geheimen
engen Stelle zwischen seinen Arschbacken. Manchmal treibt es
ihnen die Tränen in die Augen.
Von meinen Pflegeeltern bekam ich immer Puppen geschenkt,
und ich spielte Kirche. Anfangs wartete ich immer, bis alle außer
Haus waren; später war es mir dann völlig schnu ppe, ob mir
dabei jemand zuschaute. Ich reihte die ganzen Puppen auf der
Couch auf, setzte sie in Reih und Glied hin. Es waren häßliche
Dinger dabei, die meisten hatten nicht mal Kleider an, oder sie
hatten die Arme nach hinten gebogen. Die Puppen stammten
vom Müll, aus der Weihnachtssammlung der Heilsarmee, vom
Trödelmarkt. Eine von ihnen hatte im Feuer gelegen. Eine der
Plastikhände war völlig weggeschmolzen, es war nur noch ein
aufgequollener, von lauter kleinen Lu ftbläschen durchsetzter
Stumpf zu sehen; das heiße, tröpfelnde Plastik war auf dem Arm
zu kleinen Knoten erstarrt. Wir saßen alle zur Stirnseite des
Raumes hin. Stundenlang saßen wir so, ohne uns zu rühren, als
ob wir jemandem zuhörten, beim Predigen im Auge behielten.
Onkel Wumpy schenkte mir eine Puppe. Sie nennen ihn so. Er
hatte ein blatternarbiges Gesicht, ein Paar riesige Ohren und
graues, weiches Fleisch. Sein Gesicht ist übersät mit lauter winz i­
gen Narben, die Haut ist gerötet , wir haben auf dem Jahrmarkt
gewonnen, Cowboyhüte, einen Gummi revolver, einen Plüsc h­
leoparden mit grünen Glitzeraugen für Kitty. Wir machten uns
gerade auf den Nachhauseweg, um Kitty von der Arbeit abzuh o­
len, liefen zwischen den Ständen und Attraktionen hindurch, das
Sägemehl am Boden war ganz klebrig von all dem süß en Kram
und dem verschütteten Bier. Da kamen wir an der Schießbude
mit den Enten vorbei. Wumpy war so besoffen, daß ich ihm
helfen mußte, als er das Gewehr anlegte, und wir schossen sie ab,
eine nach der anderen. Kleine gelbe Enten mit toten Augen und
aufgesteckten Schwanzfedern; sie glitten vorbei, waren an einer
Schnur festgehakt. Wir trafen, und mit einem knackenden Ge­
räusch kippten sie nach hinten, als bräche etwas mittendurch.
Wir landeten zwölf Treffer; die ganze Bande klappte wieder
hoch, zog wieder nacheinander an uns vorüber, die Augen so tot
wie zuvor. Und wir hielten drauf, sch ossen und sch ossen… bis
der Ausrufer hinter seiner Theke hervorkam, in der Hand die
dicke Zigarre mit dem langen Aschekegel. Er hielt sie zwischen
zwei Fingern, wie etwas Schmutziges, das er dennoch zu schätzen
wußte. Dann zog er daran und nahm uns prompt das Gewehr
weg. Die Menge hinter uns murrte. Er knallte mir die Puppe vor
den Bauch. Sie war fast einen Meter groß, hatte Perlenohrringe,
hochhackige Schuhe aus Lackleder. Trug ein langes weißes Kleid
und einen Schleier, der mit einem durchsichtigen Plastikvogel
festgesteckt war. Ich machte den Vogel ab, hielt ihn an Wu mpys
Feuerzeug. Sein Hals schmolz und krümmte sich, der flache
Kopf sackte auf die Flügel. Den Vogel hatte ich immer an einem
Platz liegen, wo ihn keiner sehen konnte. Schließlich buddelte ich
ein Loch und begrub ihn, an einer Stelle, bei der ich mir sicher
war, daß ich sie vergessen würde.

Wie ich Wu mpy traf? Ich war zwölf und wohnte bei Minnie. Sie
nahm mich mit in den Schnel limbiß, wo ich immer mit dem
Lappen die Resopaltische abw ischen mußte. Ich bückte mich,
rubbelte das hartgewordene Ketchup von den Aluminiumbeinen.
Neben dem Grill lagen die Tiefkühlfritten zum Auftauen, sie
waren schlaff und glitschig wi e ein Fisch. Sie warf sie in das
siedende, rußgeschwärzte Fett; es zischte und brodelte, und als
sie rauskamen, waren sie glänzend und knusprig. Sie war vierzig
und hatte ein altes, verkniffenes Rattengesicht. Trug eine Brille
mit dicken Gläsern und auf de m Kopf ein rotes Taschentuch;
drehte gern das Radio laut, wenn die Gospelshows kamen. Eine
ihrer Hände war ganz verkrümmt. Sie hatte Arthritis, Rheuma,
Hühneraugen, und wenn sie zu Hause in die Dusche lief, sah ich
ihre wunden Füße mit den knotigen Zehen. In ihren langen
Bademantel gehüllt, vornübe rgebeugt, den Blick starr auf die
Badezimmertür gerichtet, huschte sie vorbei, die Arme um die
Taille geschlungen und schlug die Tür hinter sich zu.
Nach der Schule ging ich zum Schnellimbiß, wo ich ihr bis si e­
ben beim Abräumen der Tische half. Leise fluchte sie über die
Bergarbeiter. Gab mir einen Klaps auf den Hintern, wenn ich
nicht schnell genug war, oder packte mich mit dieser harten
Hand mit den arthritischen Knöcheln am Arsch, zwickte hinein.
Abends kam Wumpy immer auf einen Kaffee herein. Er arbe i­
tete bei der Straßenmeisterei, stutzte das Gebüsch und Gestrüpp
an den Straßenrändern. Beobachtete Minnie und mich. Dann
kam immer Kitty mit ihm rein. Hatte eine Zellophantüte voll
White Crosses dabei, billiges Spee d. Sie bestellte sich ein Pepsi,
schluckte ein paar von ihren Pillen, zerdrückte sich auf der
Tischplatte noch einige zu Pulver. Sie zwinkerte mit den Augen,
schenkte mir Haarschleifen, sagte, sie würde mich gerne mitne h­
men ins Kino. Wumpy sagte zu Minnie, ich hätte mal ein paar
neue Kleider nötig, er und Kitty würden mit mir nach Pittsburgh
fahren und mir ein paar Kleider kaufen. Sie gaben ihr dreißig
Dollar.
Im Motel stand ich im Badezimmer und kotzte. In der Kl o­
schüssel schwammen die rausgewürgten Sopors, Klümpchen von
weißem, unaufgelöstem Pulver in einer Lach e aus klarem
Schleim. Mir kam es immer wieder von neuem hoch, es ging so
einfach, daß ich fast lachen mußte. Dann kamen sie nackt herein
und zogen mir die Kleider aus. Ich konnte nicht mehr auf den
Füßen stehen; sie trugen mich ins Bett. Wumpy machte sich von
hinten an sie ran und fickte sie, sie sagte immerzu diese Worte,
aber ich konnte einfach nicht mehr die Augen aufhalten. Sie zog
mich rüber, sagte zu mir Honey, Honey. Ich hing in einer dun k­
len Kuhle und wippte immerzu auf und ab. Seine großen Arme
hielten mich umschlungen, bis er mich dann hochhob. Hob mich
an den Hüften hoch, und ich spürte ihren Mund an meinen
Beinen, hatte das Gefühl, als würde ich immer größer werden.
Die Decke begann sich zu drehen, wie die Lichter in den düst e­
ren Fluren des Kinderheims, wenn ich mitten in der Nacht au f­
wachte. Dann ein Flash, ein Zucken der Muskeln, und ich rollte
mich zusammen, kuschelte mich in die Laken.
Ich stand am Fenster und befühlte die dünnen Vorhän ge. Ich
beobachtete die beiden, wie sie schliefen, rannte nicht davon. Ich
schaute auf Wumpys breiten Rücken, wie er sich hob und senkte.

Wumpy machte es nie mit mir; er gab mir Bilder, die ich an den
Mann brachte. Ich wollte ihm das Geld geben, doch er lachte
mich aus. Im Fleisch auf seinen Händen hatte er lauter winzige
Sterne. Er nahm mich mit in die Bars. Wir schleppten dann einen
Mann mit in irgendein Motel; Wumpy sagte immer, er müsse
aufpassen… stand neben dem Bett, während ich ein bißchen
japste und würgte, als hätte ich lauter kleine explodierende Sal z-
brocken im Hals.
Immer wieder kommt der Traum, der Traum ist immer noch
da. Natalie hat den Traum gemacht. Ich schlief mit ihr, als ich
acht Jahre alt war, sechs Monate lang schlie fen wir zusammen.
Nachts fing sie an zu wimmern, machte ins Bett. Wir waren beide
Mündel unter Amtsvormundschaft, und sie kriegten Geld für
uns. Das Schlafzimmer war kalt, sie schlang ihre schmächtigen
Ärmchen um mich. Fragte, ob sie mich anschauen dürfe. Doch
ich schlief ei n, wollte mir nicht mit ihr im Bett die Kleider au s­
ziehen. Ich schlafe ein, und immer wieder kommt derselbe
Traum.
Natalie steht im Sand. Hinter ihr schwappt der Ozean über, die
Wellen haben schwarze Kämme. Natalie mit ihrem zerfetzten
Slip, den knubbelige n Knien, ihren wäßrigen, blauen Augen.
Natalie steht reglos da wie eine Statue, die Beine breit, hat die
Hand da unten. Ihre Finger am Fummeln, und ihr Gesicht weiß
wie Schnee. Sie kneift und zerrt so hart dran ru m, daß es blutet,
sie ruft um Hilfe, sie will zu mir. Überall um uns herum tanzende
Gesichter, große Gesichter, nichts als Lippen und Zähne, und sie
halten mich fest für Natalie. Natalie auf mir drauf, Natalie drückt
sich auf mich. Ihre wäßrigen Augen sind stumm.
Sie seufzt vor Wollust, und um uns herum kocht ihr heißer
Urin.
Ich weiß noch, wie Natalie mich immerzu anschaute. Die Leute
sind den ganzen Tag über weg, wir sind allein mit dem ruhigen
Baby. Einmal ist nichts zu essen da, nur eine Dose Salz. Eine
hellblaue Dose, der silberne Ausgießer spr ingt heraus. Vorndrauf
ist ein Mädchen mit schimmernder weißer Haut und Grübchen,
sie hat einen wehenden Pferdeschwanz und trägt einen Schirm in
der Hand. Ich kann es essen, Natalie. Ich kann es alles auf einmal
aufessen. Sie steht am Fenster und schaut hi naus in den Schnee.
Ich weiß, sie hat Angst. Ich setzte mich auf den Boden, direkt
vor ihre Füße. Die Dose ist rund wie ein Tomtom, ich kippe sie
um. Das Salz schießt in meinen Mund, er wird immer voller, aber
ich kann nicht aufhören, es hineinfließen zu lassen… ich bin am
Ersticken, aber Natalie weigert sich strikt, mic h anzuschauen, sie
schreit und schreit. Sie tritt nach mir mit ihren nackten, blauen
Füßen, die Dose fliegt quer durchs Zimmer, Fontänen von Salz
schießen heraus. Als es dunkel wird, glitzer t das Salz am Boden
in einem eigenartigen, kühlen Glanz. Natalie bleibt in ihrem
Sessel sitzen, rührt sich nicht von der Stelle, und ich muß alleine
schlafen gehen.
Im Kinderheim kriegte ich immer die protzigen, aufwendigen
Grußkarten; schätze, da steckte irgendein Witzbold dahinter. Der
lieben Tochter von ihrer Mutter zu Weihnachten, mit Girlanden aus
Goldpapier und samtigen Weihnachtssternen. Ich dachte, wo­
möglich stecken die Pförtner dahinter oder die Jungens in der
High-School; ich stellte mir vor, wie sie mit verschmitzten Augen
den Umschlag zukleben, ihr Atem stinkt nach Bie r… irgendwie
drehten sie es, daß die Briefkarten aus Wichita oder Tucson
kamen. Die Behörden vermittelten mich von den einen Pflegee l­
tern an die nächsten. Die Ferien über war ich im mer im Heim,
und sie erledigten unterdessen die nötigen Formalitäten, um mich
bei einer neuen Pflegefamilie unterzubringen. Dann war jedesmal
ein neuer da von diesen Jungen mit den käsigen Gesic htern und
den abgefressenen Fingernägeln, dem graubraunen Stru bbelkopf.
Die Karten kamen, und immer verkehrt. Als ich zehn wurde,
Dem Baby zum ersten Weihnachtsfest, – ein aufklappb ares Stecke n­
pferd und eine Ma mmi mit blondem Haar und großen Augen.
Ich wurde sieben, und auf der Karte stand Der Debütantin in
silberner Prägeschrift; das Bild zeigte ein Mädchen mit Ner zstola
und Stöckelschuhen. Als ich die ersten paar Male von den Bullen
hopsgenommen wurde, empfahl der Psychiater, meine Post
einzubehalten. Sie sagten, wahrscheinlich käme ich in eine An­
stalt.
Kleinkind, weiblich, Alter ca. 14 Monate, ausgesetzt im De­
zember 1960, Diagnose: stumm. Aber als ich drei war, machte
ich Geräusche wie Lastwagen und Wespen, ich schrie und sang.
Sie denken, ich würde spinnen, zum Beispiel wegen dieser einen
Sache.
Nachts schließe ic h mich gern im Badezimmer ein. Stelle mich
vor den Spiegel, halte mir eine brennende Kerze unters Kinn.
Starre die Schatten auf meinem Gesicht an und sehe die weißen
Konturen eines Schädels. Ich lege mich vor den Toiletten auf die
kalten Bodenfliesen und mache es mir selbst. Ich besorge es mir,
liege auf dem Bauch dabei. Halte den Atem an und reite auf
meinen Fingerknöcheln, und mir ist schwarz vor den Augen, ich
spüre das leise Rauschen des Wassers in den Rohren im Fußb o­
den. Galoppiere über diesen Hügel un d rolle in die Hitze, bis
mich ein durchdringendes Geräusch innehalten läßt. Wenn ich
mich umdrehe und die Augen aufschlage, ist die Decke höher als
sonst, hat die Farbe von Elfenbein, durch die Gitter fällt das
Licht der Straßenlaternen herein. Ich mach ’ mir’s bequem, mach’
es mir. Liege auf dem kalten Boden, den geometrischen Fliesen.
Meine Haut weiß wie Porzellan, ich bin so groß wie die alten
Waschbecken dort und die Toiletten, die leeren weißen Wannen.
Milchglas, Marmor, Stein, und es gluckst in den al ten Rohren.
Wenn mir diese weißen Blitze vor den Augen hin und her zu k­
ken, lauf ich immer hierher. Ich beobachte sie. Ich weiß, das bi n
ich. Sie rennt von einer Toilette zur nächsten, zieht die Spülung,
rennt immer wieder von der einen zur anderen. Das Rau schen
des Wassers schwillt immer lauter an, dann das schrille Zischen,
wenn die Wasserkästen wieder vollaufen. Es gluckst und röhrt.
Ich liege am Boden und lausche. Ich lasse keinen herein.

Ich glaube, Natalie ist längst tot. Sie sagte, wenn sie zwölf wä re,
würde sie sterben. Aber nur dann. Im August saßen wir unter
den Bäumen und stemmten Steine. Sie vergrub ihre Füße im
Sand und sagte, sie wäre ein Stein. Ich konnte sie zwicken, bis
mir die Fingernägel blau anliefen, und wenn sie nicht dabei
schrie, mußte ich tun, was sie von mir verlangte. Sie wollte wi e­
der ›Haus‹ spielen: ich bin ein Haus, ein riesengroßes Haus.
Krabbel zwischen meinen Beinen durch, das ist die Tür. Und sie
klettert auf meinen Rücken, legte mir ihre Hände ums Kinn, bog
meinen Kopf nach hinten, und ich sah ihr Gesicht über mir. Sie
streichelte meinen Hals, steckte mir ihre rosa Zunge ins Ohr und
zischelte. Schschsch. Zischelte noch mal. Schschschsch. Brum m­
te, ganz tief kam es aus ihrem Bauch. Sie machte eine Männe r­
stimme nach. Ich liebe dich. Du gehörst nur mir allein. Iß deinen
Teller leer. Und ich leckte ihr über die ganze Hand, leckte zw i­
schen ihren Fingern auf und ab.
Einmal schlich die Alte hinter uns her. Wir waren in dem
Schuppen hinterm Haus. Natalie gefiel es in diesem Raum mit
seinen Werkzeugen und Krügen, den verrosteten Rechen, den
Holzstapeln und quiekenden Ratten. Sie zog sich aus, hängte ihre
Kleider an irgend welche Nägel an der Wand, so daß es aussah
wie ein Mädchen ohne Arme. Ihre Füße verschwanden in einem
großen Paar sc hwarzer Männer stiefel. Ganz weiß war sie und
ohne Haar, sie klapperte mit den metallenen Schnallen. Natalie
lachte und lachte. Wir hatten die stumpfen Hämmer in den
Händen, wir ließen sie mit voller Wucht herabsausen. Es gab
kleine, flache Dellen auf dem Boden, lauter kleine runde Kreise,
die sich in das alte Holz drückten, wie von unsichtbaren Münzen.
Natalie sagte, wir machen Geld. Immer mehr, auf den Wänden,
auf dem Boden. Natalie am Fenster, ich höre es splittern, die
Glassplitter liegen in glitzernden Häufchen auf ihren glänzenden
schwarzen Gummistiefeln.
Er öffnet die knarrende Tür. Was zum Teufel macht ihr hier.
Ich versteckte mich neben der Werkbank, hinter den Spinnw e­
ben. Er schnallt seinen Gürtel auf, ich höre ein kurzes schwirre n­
des Sirren, als der Gürtel aus den Schlaufen fährt. Er kriegt sie zu
fassen, wirft sie über die Werkbank. Natalie wird still, die großen
Stiefel fallen ihr von den Füßen. Ihre Fußsohlen sehen fast aus,
als hätten sie Gesichter aus Alabaster, sie baumeln vor meinem
Gesicht; ihre dünnen weißen Beine hängen herunter. Das kla t­
schende Geräusch des Gürtels und das tiefe Atemholen zw i­
schendurch. Du kleines Miststück. Er nimmt einen Penny und
wirft ihn, er verschwindet zwischen den Schatten im Staub. Sie
weiß es, sie weiß immer, woh in er rollt, sie findet ihn jedesmal.
Hände voll klimpernder Münzen. Natalie läuft umher mit ihrer
Gänsehaut, häuft vor seinen Schuhen ein Häufchen Kupferpe n-
nies auf. Er stößt sie runter auf die Knie, Natalie läßt ein unte r­
drücktes Kichern hören. Ich sehe seinen Rücken, die breiten
Hüften, die grüne Arbeitshose. Nimm es in die Hand, sagt er.
Natalie sagt, sie kann nicht, ihre Hände seien giftig.
Ich bin so rein wie der treibende Schnee. Ich halte das Haus in
Ordnung, mache Suppe aus der Dose. Wu mpy trinkt sein Bier.
Die leeren Dosen drückt er immer zusammen, bis sie völlig
verbeult sind, und wirft sie in die Ecke. Ich möchte ihn anfassen,
ihn ganz fest drücken; dann macht er immer die Augen zu und
gibt mit seiner kratzigen Stimme diese Laute von sich. Wenn ich
mein Hemd ausziehe, haut er mir eine rein. Kitty hält mich im
Arm, o mein Baby. Sie will, daß ich tue, was sie will. Wumpy tut,
was sie sagt. Immer mehr will sie, was ich will. Wir bewegen uns
hin und her auf dem schwarzweiß karierten Boden.
Kitty ist auf Bewährung. Wir geben ihr viel Kaffee zu trinken
und helfen ihr auf die Beine. Jeden Samstag muß sie zu ihrem
Bewährungshelfer, mit ihm quatschen. Manchmal treibt sie was
auf, kommt mit einem Briefchen Heroin retour. Die Tage we r­
den immer trüber, der Sch nee sinkt wie Federn herab, schneit
uns ein. Kitty ist im Tran, hockt auf dem Fensterbrett, rollt sich
in ihrem ausgebeulten roten Mantel zusammen wie eine Hase l­
maus. Sie lehnt sich immer gern so weit hinaus, bis sie fast herun­
terfällt. Und Wumpy, ich beob achte ihn durch das schiefe Loch
in der Badezimmertür, er ist am liebsten alleine dabei. Bindet den
Arm ab, pumpt, bis die Vene anschwillt. Er summt vor sich hin;
dann seufzt er auf. Aus den Wasserrohren, die sich durch die
Wände ziehen, kommt ein wäßriges Gähnen und Sirren. Es ist so
ruhig, daß ich das Klicken höre, wenn die Neonreklame draußen
umspringt und die blaue Schrift über den Boden wirft. Zimmer
frei, verkündet sie, Zimmer frei. Wenn ich jemand näher ko m­
men sehe, kriege ich es mit der Angst: Wenn Natalie nicht tot
wäre, sie würde mich finden.
ANAÏS NIN

Linda

Linda stand vor dem Spiegel und betrachtete sich kritisch – am


hellichten Tag. Sie hatte die Dreißig überschritten und machte
sich Sorgen wegen ihres Alters, obwohl es nichts gab, das ihr e
Schönheit hätte beeinträchtigen können. Sie war schlank, sie sah
jung aus. Sie konnte jeden ohne weiteres über ihr Alter täuschen,
nur sich selbst nicht. Nur sie glaubte zu wissen, daß ihr Fleisch
nicht mehr so straff wäre, es hätte ein wenig von der mar mornen
Glätte, die sie so oft im Spiegel bewundert hatte, verloren. Dabei
wurde sie keineswegs weniger geliebt. Im Gegenteil: Sie besaß
jetzt eine Anziehungskraft auf alle diejenigen unter den jüngeren
Männern, die überzeugt waren, daß nur eine reifere Fra u sie in
die Geheimnisse der Liebeskunst einweihen könnte; Mädchen
ihres eigenen Alters, glaubten sie, wären zurückgeblieben, naiv,
unerfahren und stets unter dem wachsamen Auge ihrer Familie n­
angehörigen.
Lindas Mann, ein gutaussehender Vierziger, hatte si e jahrelang
mit der Inbrunst eines jugendlichen Liebhabers geliebt. Daß nun
jüngere Männer Linda bewunderten, schien ihm nichts auszum a­
chen. Er war überzeugt, sie nähme sie nicht ernst, er dachte, ihr
Interesse entstammte ihrer Kinderlosigkeit und dem Bedü rfnis,
sich mütterlich jungen Menschen zuzuwenden, deren eigentliches
Leben gerade begonnen hatte. Dagegen stand er selbst in dem
Ruf, sich an Frauen aller Klassen und jeder Art heranzumachen.
Sie dachte oft an ihre Hochzeitsnacht zurück, in der sich André
als ein höchst rücksichtsvoller Geliebter gezeigt hatte. Er hatte
buchstäblich jeden Fleck ihres Körpers angebetet, als sei er ein
Kunstwerk. Er hatte sie berührt, er hatte sie bewundert und ihr
geschmeichelt, er war entzückt über ihre zierlichen Ohren, ihre
wohlgeformten Füße, ihren schlanken Hals, ihr üppiges Haar,
ihre feingeschnittene Nase, ihre sanften Wangen, ihre wollüstigen
Schenkel. Sein Geflüster, seine Stimme, sein Streicheln öffneten
ihr Fleisch, wie eine Blume sich der Wärme und dem Licht öf f­
net.
Er machte aus ihr ein vollkommenes Instrument der Liebe, das
bei jeder Art von Zärtlichkeit vibrierte. So brachte er ihr zum
Beispiel bei, ihren Körper nur mit Ausnahme des Mundes einz u­
schläfern und all ihre Sinnlichkeit im Mund zu konzentrieren. Sie
war jedesmal wie eine halb betäubte Frau und lag völlig passiv da.
Ihr Mund und ihre Lippen waren zum Geschlechtsorgan gewo r­
den.
André war besessen vom weiblichen Mund. Wenn er auf der
Straße ging, hielt er Ausschau nach Frauenmündern. Er sah im
Mund ein Ab bild der Vagina. Waren die Lippen schmal, verkni f­
fen, dann bedeutete das auch keine offene, sinnliche Möse. Wa­
ren sie dagegen voll, versprachen sie auch eine großzügige Mu­
schi. Feuchte Lippen verfolgten ihn. Ein Mund, der sich nach
außen stülpte, der geö ffnet war wie für einen Kuß – dem stellte
er beharrlich nach, bis er die Frau, zu der er gehörte, nehmen
und wieder einmal seine Überzeugung von den verräterischen
Eigenschaften des weiblichen Mundes unter Beweis stellen konn­
te.
Es war Lindas Mund, der ihn von Anfang an gefangengeno m­
men hatte. Er war pervers, er war wie schmerzlich verzerrt. In
der Art, wie sie ihn bewegte, wie sie ihre Lippen leidenschaftlich
entfaltete, war etwas, das einen Menschen verriet, der wie ein
Sturmwind über den Geliebten hinwegfe gen würde. Als er ihr
zum erstenmal begegnete, gab es für ihn nur diesen Mund, der
ihn einsog, als befände er sich bereits in ihr. So war es auch in der
Hochzeitsnacht. Ihr Mund faszinierte ihn. Über ihren Mund
hatte er sich geworfen und ihn geküßt, bis er brannte, bis die
Zunge erlahmte, die Lippen geschwollen waren. Und dann, als er
endlich ihren ganzen Mund erregt hatte, war er in ihn gedrungen.
Er hatte sich über sie gekauert und seine muskulösen Hüften
gegen ihre Brüste gedrückt.
Er behandelte sie niem als wie eine Ehefrau. Er umwarb sie
jedesmal wieder von neuem, machte ihr Geschenke, brachte ihr
Blumen, bereitete Überraschungen vor. Er führte sie zum
Abendessen in chambres séparées, zeigte sich mit ihr in den besten
Restaurants, wo die Kellner stets gl aubten, sie wäre seine Mätre s­
se.
Er bestellte die erlesensten Speisen und Getränke, er berauschte
sie mit geflüsterten Zärtlichkeiten, er umwarb ihren Mund. Er
bestürmte sie, bis sie ihm gestand, daß sie ihn begehrte. Dann
fragte er sie: »Wie willst du mic h? Welcher Teil von dir will mich
heut nacht?«
Manchmal antwortete sie: »Mein Mund will dich, ich will dich in
meinem Mund spüren, ganz tief in meinem Mund.« Oder sie
erwiderte: »Ich bin naß zwischen den Beinen.«
So unterhielten sie sich über Restauranttis che hinweg und in
den cabinets particuliers, die für Liebespaare reserviert sind. Wie
diskret doch die Kellner waren, wie genau sie wußten, wann sie
nicht stören durften! Musik erfüllte die kleinen Zimmer, es gab
einen Diwan. Während man ihnen die Mahlzeit servierte, hatte
André Lindas Knie gedrückt und sie verstohlen geküßt. Nun
nahm er sie auf dem Diwan in all ihren Kleidern, als seien sie ein
Liebespaar, das es zu eilig hatte, um sich auszuziehen.
Er begleitete sie in die Oper und ins Theater, wo es dunk le Lo­
gen gab, er liebte sie während der Vorstellung. Er liebte sie in
Taxis, auf einem Hausboot, das vor der Kathedrale von Notre
Dame vertäut war und Liebespaaren als Absteige diente. Er fuhr
mit ihr in kleine, abgelegene Ortschaften und übernachtete mit
ihr in romantischen Dorfgasthöfen. Oder aber er nahm sich ein
Zimmer in einem der Luxuspuffs, die er aus seiner Junggeselle n­
zeit kannte. Dort behandelte er sie wie eine Hure, er zwang sie,
sich seinen Launen zu fügen, ihn anzuflehen, sie auszupeitschen,
er befahl ihr, auf allen vieren herumzukriechen und ihn nicht
etwa zu küssen, sondern ihn wie ein Tier überall abzulecken.
Diese Praktiken machten sie so scharf, daß sie es mit der Angst
zu tun bekam. Sie fürchtete den Tag, an dem Andr é ihr nicht
mehr genüge n würde. Ihre Sinnlichkeit, das wußte sie, war erst
zum Leben erweckt worden, während seine das letzte Auffla k­
kern eines Mannes war, der im Exzeß gelebt hatte und ihr nun
das Beste, Auserlesenste präsentierte.
Eine Unruhe hatte sich Lindas bemächtigt. Der Tag kam, da
André zehn Tage verreisen mußt e. Ein Bekannter rief sie an, ein
Freund von Andr é, der Modemaler von Paris und Liebling aller
Frauen. Er sagte: »Langweilst du dich denn nicht, Linda? Willst
du zu uns kommen? Wir geben eine unserer speziellen Par tys.
Hast du eine Maske?«
Linda wußte, worauf er anspielte, denn sie und Andr é hatten
sich oft über Jacques ’ Partys im Bois de Boulogne amüsiert. Sie
waren seine Lieblingsform der Unterhaltung und bestanden
darin, daß sich an lauen Sommernächten maskierte Pariser Pr o­
minenz versammelte, die, wohlversorgt mit Champagner, in den
Bois fuhr und sich auf einer geeigneten Lichtung vergnügte.
Die Versuchung war groß, denn Linda hatte niemals eine dieser
Partys mitgemacht. André war dagegen gewesen und hatte beiläu­
fig erklärt, die Sache mit der Maskierung gefiele ihm nicht, denn
er könnte aus Versehen die falsche Frau erwischen.
Linda beschloß, die Einladung anzunehmen. Sie wählte eines
ihrer neuen, aus schwerer Seide gemachten Abendkleider, das
ihren Körper wie ein nasser Handschuh modellierte. Sie trug
keine Unterwäsche und auch keinen Schmuck, der sie hätte
verraten können. Sie änderte ihre Frisur, indem sie aus ihrem
gewohnten Pagenkopf eine nach oben gekämmte Coiffure mac h­
te, die ihre zierliche Kopfform und ihren langen Nacken betonte.
Dann band sie sich eine schwarze Maske vor und steckte sich
vorsichtshalber das Gummiband mit einer Haarnadel fest.
Im letzten Moment entschied sie sich, auch ihre Haarfarbe zu
ändern, und tönte sich ihr Blondhaar blauschwarz. Dann kämmte
sie es wieder hoch und war selber erstaunt, wie sehr es sie verä n­
derte.
Etwa achtzig Gäste hatten sich in dem Atelier des Malers ve r­
sammelt. Das Licht war gedämpft, um die Anonymität der Gäste
zu wahren. Als alle da waren, wurden sie auf die wartend en
Autos verteilt. Die Fahrer wußten, wohin es ging. Dort, wo der
Wald am dichtesten war, befand sich eine ideale, moosige Lic h­
tung.
Dort ließ man sich nieder, schickte die Fahrer weg, und die
Champagnerkorken knallten. In den überfüllten Autos hatten
sich die Gäste bereits angeheizt. Die Masken verschafften offe n­
bar selbst den vornehmsten und zurückhaltendsten unter ihnen
die Illusion der Freiheit, denn sie benahmen sich wie hungrige
Bestien. Hände fuhren unter elegante Roben und faßten an, was
sie berühren wollten, Knie kämpften miteinander, der Atem ging
schneller.
Zwei Männer hatten es auf Linda abgesehen: Der eine gab sich
große Mühe, sie durch Küsse auf Mund und Brüste scharf zu
machen. Der andere hatte mehr Erfolg, denn er verstand es gut,
unter ihrem langen Kleid ihre Beine zu streicheln. Als er merkte,
wie ihre Erregung stieg, wollte er sie ins Dunkel schleppen.
Der andere protestierte, aber er war zu betrunken, um seinen
Rivalen aus dem Feld schlagen zu können. Sie ließ sic h von der
Gruppe wegführen und auf den moosigen Waldboden legen,
dort, wo die Bäume besonders dunkle Schatten warfen. In der
Nähe erklang Protestgekreisch, Grunzen und die Stimme einer
Frau: »Mach’s mir, mach ’s mir, ich kann nicht länger warten,
mach’s mir, mach’s mir!«
Die Orgie war in vollem Gange. Frauen liebkosten einander.
Zwei Männer kitzelten eine Frau, bis sie fast den Verstand verlor.
Dann hörten sie auf, nur um sich an ihrem Anblick zu weiden.
Ihr Kleid war verrutscht, ein Träger abgerissen, eine Brust en t­
blößt. Verzweifel t versuchte sie, sich zu befriedigen. Mit einer
obszönen Geste preßte sie sich gegen die beiden Männer und
rieb sich an ihnen.
Linda war verblüfft über die Wildheit ihres Angreifers. Sie, die
bisher nur die wollüstigen Zärtlichkeiten ihres Ehemannes erfa h­
ren hatte, befand sich im Gri ff von etwas ungleich Mächtigerem,
einer Begierde, die so ungestüm war, daß sie sie verzehrte.
Seine Hände hatten sich wie Klauen in ihr Fleisch gegraben, er
hatte ihren Schoß seinem Schwanz entgegengehoben, als wäre es
ihm glei ch, ob er ihr dabei die Knochen brach. Wie ein Bock
stieß er zu, es war wie ein Horn in ihr, wie ein Aufspießen, das
aber nicht weh tat, sondern sie herausforderte, Gleiches mit
Gleichem zu vergelten. Nachdem er sich einmal mit einer Veh e­
menz und Gewalt be friedigt hatte, die sie überwältigten, wisperte
er: »Jetzt will ich, daß du dich befriedigst, daß du dich ferti g­
machst, verstehst du? Und zwar so, wie du es noch nie zuvor
getan hast.« Dabei streckte er ihr seinen steifen Schwanz wie
einen holzgeschnitzten Phallus entgegen, hielt ihn ihr hin, damit
sie über ihn ganz nach Wunsch verfügte.
Er stachelte sie an, ihren Heißhunger an ihm zu stillen. Sie füh l­
te es kaum, als sie ihre Zähne in sein Fleisch schlug. Er stöhnte
ihr ins Ohr: »Weiter, mach weiter, ich kenne euch Frauen, ihr laßt
euch niemals richtig gehen, um einen Mann so zu nehmen, wie
ihr es wollt.« In bisher ungeahnten Tiefen, ja im Kern ihres
Wesens loderte ein Feuer, das sich nicht löschen ließ, dem Mund
und Zunge des anderen nicht genügten, auch ni cht der Schwanz,
der in ihr war. Es war ein Fieber, das selbst ein Orgasmus nicht
linderte. Sie spürte seine Zähne, die sich in ihre Schulter gegraben
hatten, sie biß ihn in die Kehle. Dann sank sie zurück und verlor
die Besinnung.
Als sie wieder erwachte, befand sie sich auf einem Messingbett
in einem ärmlichen Zimmer. Neben ihr schlief ein Mann. Sie war
nackt, er war es auch, aber ein Laken deckte ihn halb zu. Sie
erkannte den Körper, der sie in der Nacht im Bois fast vergewa l­
tigt hatte. Es war der Körper eines Athleten, groß, sonneng e­
bräunt, sehnig. Er war ein gutaussehender Mann mit einer wilden
Mähne. Während sie voller Bewunderung auf ihn herabblickte,
schlug er die Augen auf und lächelte.
»Ich konnte dich einfach nicht wieder mit den anderen zurüc k­
gehen lassen«, sagte er. »Wer weiß, ob ich dich jemals wiederg e­
sehen hätte.«
»Wie hast du mich hierhergebracht?«
»Ich habe dich gestohlen.«
»Und wo sind wir?«
»In einem armseligen Hotel. Ich wohne hier.«
»Dann bist du nicht…«
»Nein, ich gehöre nicht zu den an deren, wenn du das meinst.
Ich bin ein einfacher Arbeiter. Eines Abends, als ich durch den
Bois nach Hause radelte, wurde ich unfreiwilliger Zeuge eures
Spielchens. Ein Ringelpiez, dachte ich. Da habe ich mich einfach
ausgezogen und mitgemacht. Den Frauen schien es zu gefallen.
Es war ja dunkel, also blieb ich unentdeckt. Nachdem ich sie
gevögelt hatte, schlich ich mich davon. Und gestern abend, als
ich von der Arbeit kam, hörte ich wieder Stimmen. Ich beobac h­
tete, wie dieser Mann dich küßte. Da habe ich di ch ihm einfach
ausgespannt. Nun bist du hier, bei mir. Es ist gut möglich, daß du
Unannehmlichkeiten haben wirst, aber ich konnte dich einfach
nicht aufgeben. Du bist eine richtige Frau. Die anderen waren
nur Attrappen im Vergleich zu dir. In dir lodert ein Feuer.«
»Ich muß jetzt gehen«, sagte Linda.
»Aber nicht, ehe du mir versprichst, wiederzukommen.«
Er setzte sich auf und sah sie an. Seine körperliche Vollko m­
menheit gab ihm etwas Würdevolles. Seine Nähe ließ sie vibri e­
ren. Er fing an, sie zu küssen. Ein e wohlige Mattheit überschlich
sie. Sie legte die Hand auf seinen steifen Schwanz: Die Ekstasen
der vergangenen Nacht pulsierten immer noch in ihrem Blut. Sie
ließ ihn wieder in sich hineinkommen; es war, als wollte sie sich
überzeugen, daß sie nicht träum te. Es war kein Traum. Dieser
Mann, der sie wie mit einem heißen Eisen durchbohrte, der sie
küßte, als sei es der letzte Kuß für ihn, er war wirklich.
Und Linda kam zurück, denn nur bei ihm fühlte sie sich wir klich
lebendig. Aber ein Jahr später verlor sie ihn. Er verliebte sich in
eine andere Frau und heiratete sie. Linda hatte sich inzwischen
derart an ihn gewöhnt, daß ihr nun jeder andere Mann zu weich,
zu rücksichtsvoll, zu schwach und blaß erschien. Unter den
Männern ihrer Bekanntschaft war keiner, der die animalische
Stärke und Leidenschaft ihres verlorenen Geliebten besaß. Sie
suchte ihn überall, in den bistros, den trostlosen quartiers der Stadt
– überall. Sie gab sich mit Boxern, Zirkusartisten, Athleten ab,
aber keiner konnte sie erregen.
Als Lin da nun ihren Arbeiter für immer verloren hatte, weil
dieser eine Frau für sich allein, ein Heim und einen Menschen
haben wollte, der sich seiner annahm, beichtete sie ihrem Friseur.
Der Pariser Coiffeur spielt im Leben einer eleganten Französin
eine Schlüsselrolle, denn er frisiert sie nicht nur, sondern er weiß
auch immer, was gerade Mode ist. Er ist ihr schärfster Kritiker
und gleichzeitig auch ihr Beichtvater in Liebesdingen. In den
zwei Stunden, die eine Frau im Frisiersalon zubringt, wo man ihr
Haar wäscht, in Wellen legt und trocknet, kann man vieles beic h­
ten. Und die kleine Kabine bewahrt Geheimnisse wie ein Beich t­
stuhl.
Als Linda aus der kleinen Provinzstadt im Süden Frankreichs
nach Paris gekommen war und dort ihren künftigen Mann ke n­
nenlernte, war sie knapp zwanzig gewesen. Sie war ein unvortei l­
haft angezogenes, schüchternes, naives Ding mit herrlich üpp i­
gem Haar, mit dem sie aber nichts anfangen konnte. Sie
schmückte sich auch nicht. Tagsüber bummelte sie die Rue Saint
Honoré entlang und besah sich die eleganten Auslagen. Dabei
ging ihr auf, woran es ihr fehlte. Es wurde ihr klar, was mit dem
berühmten Pariser Chic gemeint war, jenem minuziösen Sinn für
das kleinste Detail, das aus jeder Frau ein Kunstwerk macht. All
das diente ausschließlich der Betonung der körperlichen Vorzüge.
Zum größten Teil war dieses Kunstwerk ein Erzeugnis der
Schneiderin, denn sie verstand es wie keine andere, der französ i­
schen Kleidung ein erotisches Flair zu geben und die Linien des
Körpers und alle seine Reize mittels der Kleider hervorzuheben.
Diese Künstlerinnen wußten nur zu gut, daß schwere schwarze
Seide den Schimmer eines nackten, nassen Körpers suggeriert.
Sie verstehen es vorzüglich, die Konturen der Brüste zu mode l­
lieren und den Faltenwurf den Bewegungen der Glie der anzupas­
sen. Sie kennen die Wirkung koketter Schleier, wissen, wie Spi t­
zen auf der Haut, wie aufreizende Unterwäsche, wie ein gewagt
geschlitztes Kleid wirken können.
Der Schnitt einer Sandale, die Glätte eines Handschuhs – sie
verleihen der Pariserin einen einmalig verwegenen Chic, der den
Zauber anderer Frauen in den Schatten stellt.
Die Kunst der Verführung hat in Frankreich Tradition, und sie
hat im Verlauf der Jahrhunderte eine Vollkommenheit erreicht,
die nicht nur bei wohlhabenden Frauen, sondern auch bei kleinen
Ladenmädchen zum Vorschein kommt. Der Friseur ist der Ho­
hepriester dieses Kultes der Perfektion. Er ist es, der die Mä d­
chen, die aus der Provinz kommen, schult, er ist es, der vulgäre
Frauen lehrt, raffiniert zu sein, er gibt blassen Kreat uren Farbe,
er verleiht ihnen eine neue Persönlichkeit.
Linda hatte das Glück, in die Hände von Michel zu fallen, der
in der Nähe der Champs -Elysées einen Salon betrieb. Michel war
ein schlanker, eleganter, ein wenig effeminierter Vierzigjähriger.
Er war stets zuvorkommend und besaß untadelige Manieren. Er
küßte seinen Klientinnen die Hand, er trug stets einen gepflegten,
gewachsten und an den Enden hochgezwirbelten Schnurrbart.
Seine Konversation war geistreich und niemals langweilig. Er war
ein Philosoph, er kreierte Frauen.
Als Linda ihn das erstemal aufsuchte, legte er den Kopf zur
Seite wie ein Porträtmaler, der gerade eine Skizze beginnt.
Nach ein paar Monaten wurde aus Linda ein perfektes Produkt
und Michel zu ihrem Beichtvater und Regisseur. Übrigens war er
nicht immer der Friseur der Damen der Pariser Hautevolee
gewesen; er machte keinen Hehl daraus, daß er aus ärmlichen
Verhältnissen stammte und in einem Armenviertel, wo sein Vater
einen Frisierladen betrieb, seine Lehrjahre absolviert hatte. Die
Frauen, die dort aus und ein gingen, hatten ungepflegtes, durch
Unterernährung, billige Shampoos und lieblose Behandlung
verdorbenes Haar. »Trocken wie eine Perücke«, sagte er. »Und
viel zuviel ordinäres Parfüm. Da war ein junges Mädchen, an die
entsinne ich mich noch genau. Sie arbeitete in einem Schneide r­
atelier und war verrückt nach Parfüm, konnte es sich aber nicht
leisten. Darum hob ich ihr immer auf, was in den Flacons übri g­
geblieben war. Jedesmal, wenn ich einer Frau das Haar mit einer
wohlriechenden Lotion spülte, hob ich einen kleinen Rest davon
auf. Und wenn Gisèle kam, goß ich es ihr in den Ausschnitt. Sie
war so entzückt, daß sie überhaupt nicht wahrnahm, wie gerne
ich es tat, denn jedesmal nahm ich den Kragen ihres Kleides
zwischen Daumen und Zeig efinger, schob ihn ein wenig beiseite
und ließ das Parfüm in den Ausschnitt laufen. Dabei erhaschte
ich einen Blick auf ihre jungen Brüste. Und sie hatte eine Art,
sich danach wollüstig zu drehen, sie schloß die Augen, si e atmete
den Duft ein, ja sie schwe lgte darin. Manchmal rief sie: ›Ach
Michel, diesmal hast du mich ja ganz naß gemacht‹. Und dann
rieb sie ihre Brüste an dem Kleid, um sie zu trocknen. Eines
Tages konnte ich einfach nicht widerstehen: Ich ließ das Parfüm
in ihren Halsausschnitt rinnen, und als sie den Kopf zurückwarf
und die Augen schloß, fuhr ich ihr mit der Hand über die Brüste.
Natürlich ist Gisèle nie wiedergekommen.«
Er fuhr fort. »Das war aber nur der Beginn meiner Laufbahn als
Parfumeur der Frauen. Ich fing an, mich ernsthaft damit zu
beschäftigen und besorgte mir einen Zerstäuber, um damit die
Busen meiner Kundinnen einzusprühen. Sie haben es niemals
abgelehnt. Dann lernte ich, sie nach Sitzungen abzubürsten.
Auch das macht Freude – den Mantel einer gut gebauten Frau
abzubürsten.«
»Vielleicht«, sagte er, »wissen Sie, daß das Haar mancher Frauen
– nun, es versetzte mich in einen Zustand, den ich Ihnen kaum
beschreiben kann, möglich, Sie nehmen daran Anstoß. Jedenfalls
gibt es Frauen, deren Haar intim duftet, nach Moschus. Es wirkt
eben auf einen Mann, und ich kann mich nicht immer beher r­
schen. Sie wissen bestimmt, wie ausgeliefert und schutzlos Fra u­
en sind, wenn sie sich zurücklehnen, um ihr Haar waschen zu
lassen, wenn sie unter der Trockenhaube sitzen oder sich gerade
eine Dauerwelle machen lassen.«
Manchmal fixierte Michel eine Kundin und sagte dann: »Sie
könnten leicht Ihre fünfzehntausend Francs im Monat machen.«
Und damit meinte er ein Apartment auf den Champs -Elysées,
einen Wagen, elegante Kleidung und einen Freund, der sie au s­
hielt. Oder aber sie hatte das Zeug zu einem jener Luxusgeschöp­
fe, die das Zeug hatten, die Mätresse eines Senators, eines prom i­
nenten Schriftstellers oder eines beliebten Schauspielers zu we r­
den.
Gelang es ihm, einer Frau zu einem derartigen Status zu verhe l­
fen, blieb es sein Geheimnis, denn er war diskret, und wenn er es
erwähnte, dann nur verschlüsselt. So kannte er eine Frau, die seit
zehn Jahren mit dem Vorsitzenden eines großen amerikanischen
Konzerns verheiratet war. Sie besaß noch immer ihren Ausweis
als eine registrierte Pariser Prostituierte und war sowohl der
Polizei als auch den Ärzten der Krankenhäuser bekannt, bei
denen sich Pariser Huren allwöchentlich untersuchen lassen
mußten. Selbst nach zehn Jahren noch konnte sie sich nicht an
ihren nun gar nicht mehr neuen Stand gewöhnen und vergaß
manchmal, daß sie ja genügend Bargeld bei sich hatte, um den
Stewards, die sie während ihrer Transatlantikflüge bedienten, ein
Trinkgeld zu geben. Statt dessen überreichte sie ihnen eine kleine
Karte mit ihrer Adresse.
Michel war es, der Linda geraten hatte, nie eifersüchtig zu sein
und immer daran zu denken, daß in Frankreich die Frauen in der
Überzahl waren und daß jede Ehefrau ihrem Mann gegenüber
großzügig sein sollte. Er gab ihr zu bedenken, wie viele Frauen
niemals die Liebe erfuhren. Er meinte das sehr ernst, denn er sah
in der Eifersucht eine Form von Geiz. Die einzig wahrhaft gro ß­
zügigen Frauen – das waren Huren, das waren Schauspielerinnen,
die sich niemals versagten. Für ihn gab es kein geizigeres Wesen
als den typisch amerikanischen Gold-Digger, eine Frau, die wußte,
wie man den Männern das Geld aus der Tasche holte, die ihnen
aber nichts dafür gab. Michel hielt es für ein Zeichen von
schlechtem Charakter. Er war der festen Überzeugung, daß in
jeder Frau eine Hure steckte und daß die Erfahrung einer Hure
einer jeden von ihnen guttun würde, denn es gäbe keine bessere
Art, sie daran zu erinnern, daß sie weibliche Wesen waren.
Als Linda ihren Arbeiter verlor, war es selbstverständlich, daß
sie Michels Rat einholte. Er riet ihr, auf den Strich zu gehen. Nur
so, erklärte er ihr, hätte sie die Gelegenheit, nicht nur sich und
ihre Anziehungskraft zu bestätigen, sondern auch, ohne daß die
Liebe dabei eine Rolle spielte, einen Mann zu finden, der sie mit
der notwend igen Wildheit behandelte. In ihrer eigenen We lt
würde sie zu sehr angebetet, idealisiert, verwöhnt, um ihren
wahren Wert als weibliches Wesen zu erkennen.
Linda sah ein, daß dies in der Tat der beste Weg war, ihre An­
ziehungskraft, ihre Potenz, ihre Reize auf die Probe zu stellen.
Darum nahm sie die Adresse, die ihr Michel gab, stieg in ein Taxi
und ließ sich zu einer Wohnung in der Avenue du Bois fahren.
Der Wagen hielt vor einem versteckt liegenden, vornehmen
Privathaus. Man empfing sie, ohne weiter zu fragen.
›De bonne famille?‹ war alles, was man wissen wollte, denn es war
ein Nobelbordell, wo man sich auf Frauen der besten Gesel l­
schaft spezialisierte. Sofort nahm die Madame den Telefonhörer
ab und ließ sich mit einem der Kunden verbinden. »Wir haben
einen Neuzugang, eine Dame von großer Eleganz.«
Linda wurde in ein geräumiges Boudoir mit elfenbeinbeschl a­
genen Möbeln und Brokatvorhängen geführt. Sie hatte Hut und
Schleier abgelegt und stand vor einem großen, goldgerahmten
Spiegel, um sich ihr Haar zu kämmen. Die Tür tat sich auf.
Der Mann, der hereinkam, war eine groteske Erscheinung,
klein, von gedrungener Gestalt und mit einem viel zu mächtigen
Kopf. Seine Gesichtszüge waren die eines alten Kindes, weich,
verschwommen und viel zu zart für sein Alter und seinen massi­
gen Körper. Er schritt rasch auf sie zu und küßte ihr zuvorko m­
mend die Hand. Dann sagte er: »Meine Liebste, wie wunderbar,
daß Sie sich meinetwegen von Ihren häuslichen Verpflichtungen
freigemacht haben.«
Linda wollte protestieren, aber dann mer kte sie, daß der Mann
Wert auf dieses Spiel legte. Sofort übernahm sie die ihr zugewi e­
sene Rolle, aber gleichzeitig überkam sie ein unheimliches Ge­
fühl, gerade diesem Mann zu Gefallen zu sein. Ihr Blick ging zur
Tür, sie überlegte, ob und wie sie fliehen könnte. Er mußte ihre
Gedanken erraten haben, denn er sagte: »Sie brauchen sich nicht
zu fürchten. Was ich von Ihnen will, ist nicht zum Fürchten. Ich
bin Ihnen sehr verbunden, daß Sie Ihren guten Ruf für mich aufs
Spiel gesetzt, daß Sie Ihren Gatten um mei netwillen verlassen
haben. Ich verlange nur ganz wenig, und Ihre Gegenwart hier hat
mich überglücklich gemacht. Noch nie habe ich eine schönere,
vornehmere Frau gesehen. Ich liebe Ihr Parfüm, die Art, in der
Sie sich kleiden, Ihren erlesenen Schmuck. Bitte gestatten Sie mir,
Ihre Füße zu betrachten. Was für schöne Schuhe, wie elegant sie
sind, was für zierliche Knöchel Sie haben. Bitte glauben Sie mir,
es geschieht nicht oft, daß eine so attraktive Frau zu mir kommt.
Ich habe kein Glück bei Frauen.«
Ihr kam es vor, als hätte er sich noch mehr in ein Kind verwa n­
delt, alles an ihm schien infantil, seine ungeschickten Gesten,
seine weichen Hände. Als er sich eine Zigarette anzündete, hatte
sie den Eindruck, er hätte noch nie geraucht, so unsicher benahm
er sich dabei, so neugierig verfolgten seine Augen den Rauch.
»Ich kann nicht lange bleiben«, sagte sie, denn ihr wurde immer
unheimlicher. So etwas hatte sie sich nicht vorgestellt.
»Ich will Sie auch nicht lange beanspruchen«, sagte er. »Darf ich
Sie um Ihr Taschentuch bitten?«
Sie gab ihm ihr duftiges, zart parfümiertes Tuch. Er vergrub
entzückt seine Nase darin und sagte: »Ich beabsichtige nicht, mit
Ihnen zu schlafen, ich will Sie nicht besitzen, wie Sie es sicherlich
von anderen Männern gewohnt sind. Ich möc hte Sie nur bitten,
dieses Taschentuch zwischen Ihren Beinen hindurchzuziehen
und es mir dann zu überlassen. Das ist alles.«
Also war es doch viel einfacher, als sie befürchtet hatte. Berei t­
willig tat sie, was der Mann verlangte. Er sah ihr gespannt zu, wi e
sie ihren Rock hob, ihr spitzenbesetztes Höschen aufhakte,
hinunterschob und mit dem Taschentuch langsam zwischen den
Beinen durchfuhr. Dann beugte er sich vor und preßte die Hand
auf das Tuch. Er wollte den Druck verstärken, er bat sie, es noch
einmal zu tun.
Dabei bebte er am ganzen Körper. Die Augen waren glasig
geworden. Linda merkte, wie erregt er war. Er nahm das Ta­
schentuch an sich und betrachtete es, als wäre es eine Frau, ein
kostbares Juwel.
Alles das nahm ihn zu sehr in Anspruch, um irgend etwa s zu
sagen. Er ging hinüber zum Bett, breitete das Taschentuch auf
der Überdecke aus und warf sich, indem er sich gleichzeitig die
Hosen aufknöpfte, darüber. Er stieß und rieb. Dann setzte er
sich im Bett auf, wickelte das Tuch um seinen Schwanz und
masturbierte, bis es ihm kam und er vor Wollust au fschrie. Linda
war vollkommen vergessen. Er war wie von Sinnen. Das Ta­
schentuch war durchnäßt. Dann legte er sich nach Luft ringend
zurück.
Linda verließ ihn. Im Korridor begegnete ihr die Frau, die sie
empfangen hatte. Sie war offenbar überrascht, daß Linda schon
gehen wollte. »Ich habe Ihnen unseren distinguiertesten Klienten
vorgestellt«, meinte sie, »eine harmlose Kreatur.«

Kurz nach diesem Zwischenfall saß Linda eines Sonntagvormi t­


tags auf einer Bank im Boi s, um die neuesten Frühjahrstoiletten
zu bewundern. Sie berauschte sich an der Farbenpracht, der
Eleganz, den Parfüms. Aber dann bemerkte sie einen seltsamen
Geruch in ihrer unmittelbaren Nähe. Sie wandte den Kopf zur
Seite. Zu ihrer Rechten saß ein gutaus sehender, etwa vierzigjähri­
ger Mann von gepflegtem Äußeren. Sein glänzend schwarzes
Haar war glatt und sorgfältig zurückgekämmt. War es seine
Pomade, die so merkwürdig roch? Der Duft versetzte Linda
zurück in eine Zeit, da sie sich in Fez aufgehalten hatte. Jedenfalls
wirkte es erregend.
Sie sah den Mann an. Auch er hatte sich umgedreht und läche l­
te ihr mit blendend weißen Zähnen zu. Die Eckzähne waren ein
wenig schief gewachsen und gaben seinem Lächeln etwas Ve r­
schmitztes.
Linda sprach ihn an. »Sie benutze n ein Parfüm, das ich in Fez
kennengelernt habe.«
»Das stimmt«, erwiderte der Mann. »Ich war auch in Fez und
habe mir das Parfüm dort auf dem Markt besorgt. Ich liebe
Parfüms. Aber seit ich dieses entdeckt habe, gibt es für mich kein
anderes.«
»Es duftet wie Edelholz«, fuhr Linda fort. »Ich meine, Männer
sollten immer wie Edelhölzer riechen. Mein Traum ist es, Sü d­
amerika zu besuchen, wo es ganze Wälder von Edelhölzern
geben soll, die ganz wunderbare Düfte ausströmen. Einmal hatte
ich mich in Patschuliparfüm verliebt, einen sehr alten Duft. Er
wird heute gar nicht mehr verwendet. Ursprünglich kam er aus
Indien, und die indischen Schals unserer Großmütter rochen
immer noch nach Patschuli. Ich gehe auch gern in der Gegend
der Docks spazieren, wo die Speicherhäuser einen Gewürzgeruch
ausströmen. Tun Sie das auch?«
»Ja«, entgegnete er. »Und ich verfolge manchmal Frauen, nur
weil ihr Parfüm, ihr Duft mich anzieht.«
»Fez war eine Stadt voll der schönsten Männer. Ich wollte dort
bleiben und einen Araber heiraten.«
»Weshalb taten Sie es nicht?«
»Weil ich mich in einen anderen Araber verliebte. Ich hatte ih n
mehrmals besucht. Er war der schönste Mann, den ich jemals
gesehen hatte. Sein Teint war dunkel, er hatte riesige, pec h­
schwarze Augen und einen derart leidenschaftl ichen Ge­
sichtsausdruck, daß ich ganz hingerissen war. Seine Stimme klang
wie ferner Donner, aber er selbst war ganz sanft. Sprach er mit
jemandem, selbst auf der Straße, ergriff er ihn bei den Händen,
ganz zärtlich, als wollte er jedes Lebewesen mit dersel ben Zunei­
gung und Zärtlichkeit berühren. Ich war ganz weg, aber dann…«
»Was dann?«
»Einmal, es war sehr heiß, saßen wir in seinem Garten und
tranken Pfefferminztee. Er nahm den Turban ab. Darunter war
sein Kopf völlig kahl. Das ist eine arabische Sitte. Of fenbar
rasieren sich die Männer das Haupthaar. Jedenfalls ernüchterte
mich der Anblick, und ich wurde von meiner Leidenschaft ge­
heilt.«
Der Unbekannte lachte.
Als seien sie verabredet, waren sie beide aufgestanden und gi n­
gen nun nebeneinander. Linda war be täubt von dem Duft, den
seine Haare ausströmten, berauscht, als hätte sie zuviel getru n­
ken. Ihre Beine schienen ihr nicht mehr zu gehorchen, ihr Kopf
schwamm. Ihre Brüste hoben und senkten sich, sie holte bei
jedem Schritt tief Luft. Der Unbekannte neben ihr betrachtete
das Wogen, als wäre es das Meer, das sich zu seinen Füßen au s­
breitete.
Am Rande des Bois hielt er an. »Dort oben wohne ich«, sagte er
und wies mit dem Spazierstock auf ein Apartmenthaus mit vielen
Baikonen. »Würden Sie einen Augenblick hereinkommen und auf
meiner Terrasse einen Apéritif nehmen?«
Linda nahm die Einladung an. Sie glaubte, sie würde ersticken,
wenn man ihr den Duft, der sie so verzauberte, plötzlich entzöge.
Sie saßen auf der Terrasse vor ihren Ap éritifs und schwiegen.
Linda hatte sich zurückgelehnt und ihre Augen geschlossen. Die
Augen des Unbekannten waren auf ihre Brüste geheftet. Dann
aber machte er sie auch zu. Keiner von beiden rührte sich. Beide
verfielen ins Träumen.
Er machte die erste Bewegung. Er küßte Linda und verset zte
sie zurück in jene Tage in Fez, da sie in dem Garten des hochg e­
wachsenen Arabers gesessen hatte. Sie entsann sich an alles, was
sie damals empfunden hatte, an ihr Verlangen, in das weiße Cape
des Arabers gehüllt zu sein, an ihr Verlangen nach seiner mä chti­
gen Stimme, seinen brennenden Augen. Das Lächeln des Unb e­
kannten war ihr Araber, aber diesmal mit dichtem, parfümiertem,
schwarzem Haar, das duftete wie die Stadt Fez. Die beiden Mä n­
ner liebten sie. Sie hielt die Augen geschlossen. Der Araber
entkleidete sie, berührte sie mit seinen feurigen Händen. Schw a­
den von Parfüm dehnten ihren Körper aus, öffneten ihn, bereit e­
ten ihn zur Hingabe vor. Ihre Nerven waren zum Zerreißen
gespannt.
Sie öffnete die Augen einen Spalt und sah das weiße Gebiß, die
wunderbaren Zähne und wie sie im Begriff waren, sich in sie zu
vergraben. Sein Glied berührte sie, drang ein. Es war, als wäre er
unter Strom gesetzt, als jagte jeder Stoß einen elektrischen Im­
puls durch ihren Körper.
Er zwang ihr die Beine auseinander, als wollte er sie zerbrechen.
Sein Haar hing ihr ins Gesicht. Der Geruch stieg ihr in die Nase,
sie fühlte ihren Orgasmus nahen und feuerte den Mann an,
schneller zuzustoßen, damit sie gemeinsam kämen. Im Auge n­
blick des Orgasmus brüllte er wie ein Tiger, es war ein üb erwälti­
gender Aufschrei der Ekstase, der Wonne, des Entzückens,
ungezähmt wild, wie sie ihn noch nie vernommen hatte, das
Gebrüll eines Urwaldtieres, das sich seiner Beute freut, das vor
Vergnügen brüllt. Sie machte die Augen auf. Ihr Gesicht war
noch immer bedeckt mit seinem schwarzen Haar. Sie nahm es in
den Mund. Ihre Körper waren ineinander verstrickt. In der Eile
hatte sie ihr Höschen nur halb heruntergezogen, es hatte sich um
ihren Knöchel gewunden. Sein Fuß hatte sich darin verfangen,
und beide sahen hinunter auf ihre durch ein Stück schwarzen
Chiffon aneinandergefesselten Beine. Sie mußten lachen.
Sie besuchte ihn viele Male. Ihre Sehnsucht nach ihm fing lange
vor ihrer Zusammenkunft an, lange bevor sie sich für ihn anzog.
Mitten am Tag überfiel sie die Erinnerung an das Parfüm, und
wenn sie gerade im Begriff war, die Straße zu überqueren, schien
eine Wolke von Duft auf sie zuzukommen, aus dem Nirgendwo.
Sie war so überwältigt, daß es ihr zwischen die Beine fuhr und sie
stehenbleiben mußte, hilflos, geöffnet. Ihre Haut duftete danach,
und der Geruch weckte sie, wenn sie allein schlief. Noch nie war
sie so leicht zu erregen gewesen. Sie hatte immer einen langen
Anlauf gebraucht, sie wollte liebkost, gestreichelt werden, aber
für den Araber, wie sie ihn in Gedanken getauft hatte, war sie
stets bereit. Sie war geil, ehe er sie noch überhaupt berührt hatte,
sie hatte Angst, sie könnte kommen, wenn er nur die Hand auf
ihre Möse legte. So war es einmal geschehen. Sie hatte ihn be­
sucht und war schon feucht und zitterte. Die Schamlippen waren
hart, als hätte man sie gestreichelt, ihre Brustwarzen standen, ihr
ganzer Körper vibrierte. Als er sie küßte, spürte sie die Spren g­
kraft in sich und legte seine Hand direkt auf ihren Venusberg.
Das Übermaß erotischer Spannung ließ sie explodieren.
Und dann passierte es – es war etwa zwei Monate, nachdem sie
einander kennengelernt hatten –, daß sie ihn besuchte, er sie in
die Arme nahm und nichts geschah. Es war, als sei er nicht mehr
derselbe Mann. Er stand vor ihr, ein zwa r gepflegter, aber doch
ganz durchschnittlicher Mann, der genauso aussah, wie irgende i­
ner von einem Dutzend gutgekleideter Franzosen, wie einer von
vielen, die auf den Champs -Elysées flanierten, Theaterpremieren
besuchten oder sich beim Pferderennen zeigten.
Was war geschehen, was hatte diesen Wandel bewirkt? Wo war
der überwältigende Rausch geblieben, den sie in seiner Nähe
gefühlt hatte? Weshalb kam er ihr auf einmal so durchschnittlich
vor? Er war wie jeder andere Mann, er war dem Araber ganz
unähnlich. Sein Lächeln war weniger blendend, seine Stimme
weniger wohlklingend. Sie stürzte sich in seine Arme, sie wollte
den Duft seines Haares einfangen. Dann rief sie verzweifelt:
»Dein Parfüm! Du trägst ja kein Parfüm!«
»Es ist mir ausgegangen«, erklärte der Ar aber-Franzose, »und
ich kan n es nicht mehr beschaffen. Weshalb sollte dich das so
verstören?«
Linda versuchte verzwei felt, die Stimmung wieder heraufz u­
beschwören, in die er sie jedesmal versetzt hatte. Aber ihr Körper
reagierte nicht: In ihrer Fantasie muß te sie einfach den Garten in
Fez, den Garten des Arabers sehen. Sie stellte sich vor, er säße
neben ihr auf einem niedrigen, weichen Diwan. Der Araber hatte
sie auf den Diwan geworfen und sie geküßt, während der kleine
Springbrunnen sanft plätscherte. Das geliebte Parfüm brannte als
Weihrauchstäbchen in einem Gefäß an ihrer Seite. Aber nein:
vergebens, der Traum schwand wieder. Es gab keinen Wei h­
rauch, es roch genau so wie in jeder französischen Wohnung.
Der Mann an ihrer Seite war ein Fremder geworden, die Magie,
die ihn so begehrenswert gemacht hatte, war gewichen. Linda
kam nie wieder zu ihm zurück.

Obwohl Linda das Abenteuer mit dem Taschentuch nicht be­


sonders gefallen hatte, plagte sie nach Monaten des Eingeschlo s­
senseins in ihre eigene Sphäre wieder die Unruhe.
Erinnerungen quälten sie, Geschichten, die man ihr erzählt ha t­
te, und das Bewußtsein, inmitten von Männern und Frauen zu
leben, die einander liebten. Sie fürchtete, da ihr eigener Gatte ihr
nun nicht mehr genügte, körperlich abzusterben.
Sie erinnerte sich, daß sie schon in sehr jungen Jahren sexuelle
Reize gespürt hatte. Ihre Mutter hatte ihr einen zu engen Slip
gekauft, der ihr zwischen den Beinen scheuerte. Dies hatte ihre
Haut gereizt, und nachts, als sie gerade einschlafen wollte, hatte
sie sich da unten gekratzt. Beim Hinüberdämmern wurde aus
dem Kratzen ein Streicheln. Sie merkte, daß es ein wohliges
Gefühl verursachte. Deshalb machte sie weiter, bis ihre Finger
einen ganz bestimmten Punkt im Zentrum berührten. Dann
steigerte sich das Gefü hl. Unter ihren Fingern wurde diese Stelle
hart und noch empfindlicher.
Ein paar Tage später ging sie zur Beichte. Der Priester saß auf
einem Stuhl, und sie mußte zu seinen Füßen niederknien. Er war
ein Dominikaner und trug einen langen Gürtel mit einer Qu aste,
die fast auf den Boden reichte. Linda hatte sich an sein Knie
gelehnt und spürte den Druck der Quaste. Der Priester hatte eine
wohlklingende warme Stimme, die einschläfernd wirkte, wenn er
sich vorbeugte und sie anredete. Als sie ihre läßlichen Sünde n –
trotz, Lügen und so weiter – gebeichtet hatte, zögerte sie. Es fiel
ihm auf, und er flüsterte ihr nun mit einer viel leiseren Stimme
ins Ohr: »Hast du unkeusche Träume gehabt?«
»Was für Träume, Vater?«
Die harte Quaste befand sich genau zwischen ihren Beinen und
preßte gegen die Stelle, die sie in den Nächten zuvor mit ihren
Fingern liebkost hatte. Sie rutschte noch ein wenig dichter heran.
Sie wollte die warme, einschmeichelnde Stimme des Priesters
noch näher hören, die sie wegen ihrer unkeuschen Träum e be­
fragt hatte.
Er sagte: »Träumst du, daß du jemanden küßt oder von ihm
geküßt wirst?«
»Nein, Vater.«
Inzwischen hatte sie herausbekommen, daß die Quaste viel
wirksamer war als ihre Finger, denn sie war auf eine rätselvolle
Weise Teil der warmen Stimme u nd der geflüsterten Worte – wie
›geküßt‹ – geworden. Sie drückte sich an ihn und sah zu ihm auf.
Er ahnte, daß sie noch etwas auf dem Herzen hatte. »Hast du
dich jemals gestreichelt?«
»Selber gestreichelt?« fragte sie. »Wo denn?«
Der Priester wollte schon zur nächsten Frage übergehen, denn
er könnte sich ja geirrt haben, aber der Ausdruck ihres Gesichts
bestätigte seinen Verdacht.
»Berührst du dich jemals mit den Händen?«
Genau in diesem Augenblick wünschte sich Linda, sie könnte
eine Bewegung machen, damit durch die Reibung jenes unve r­
gleichliche, überwältigende Lustgefühl einträte, wie sie es ein paar
Nächte zuvor das erstemal erlebt hatte. Aber sie fürchtete, der
Priester könnte Verdacht schöpfen und sie von sich stoßen. Und
dann würde sie das Gefühl ganz und gar verlieren. Deshalb war
sie entschlossen, seine Aufmerksamkeit um jeden Preis abzule n­
ken. »Vater, es stimmt, ich muß Ihnen etwas sehr Schlimmes
beichten. Eines Nachts habe ich mich da unten gekratzt, und
dann…«
»Mein Kind, mein Kind«, unterbrach si e der Priester, »du mußt
sofort damit aufhören. Es ist unkeusch. Sonst wirst du dein
Leben ruinieren.«
»Weshalb ist es unkeusch?« fragte Linda und drückte sich wi e­
der gegen die Quaste. Ihre Erregung stieg. Der Priester beugte
sich so dicht über sie, daß se ine Lippen fast ihre Stirn streiften.
Ihr wurde schwindlig. »Das sind Liebkosungen, die dir nur dein
Gatte geben darf. Wenn du es selbst tust, wenn du dich mi ß­
brauchst, wirst du dich schwächen, und niemand wird dich später
lieben. Wie oft hast du es getan?«
»Dreimal, Vater. Und dann habe ich auch etwas geträumt.«
»Was hast du geträumt?«
»Daß mich jemand gerade dort berührt.«
Jedes Wort, das sie sprach, steigerte ihre Erregung. Unter dem
Vorwand, sich schuldig, sic h beschämt zu fühlen, warf sie sich
gegen die Knie des Priesters und beugte den Kopf, als wollte sie
in Tränen ausbrechen. In Wahrheit aber war es die Berührung
der Quaste, die ihr den Orgasmus verschaffte. Sie bebte. Der
Priester hielt es für Schuld und Scham, bückte sich, hob sie aus
ihrer kniende n Stellung auf, nahm sie in die Arme und tröstete
sie.
EMMANUELLE ARSAN

Hetäria

Was wäre unser Geist, o Herr, wenn er nicht das Brot der ird i­
schen Dinge, den Wein der Schönheiten hätte, die für seinen
Rausch erschaffen wurden?… Der Pfad, den wir erkl ettern, um
uns zu erheben, besteht aus Materie.
R. P. PIERRE TEILHARD DE CHARDIN
Um ein Uhr nachts reichte man in Maligath eine Consommé
mit roten und grünen Pfefferschoten, Zitronensaft, Basilikum
und Minze, Tintenfisch -Suppe mit Lotusherzen und Kebala -
Früchten, Haifischflossen in Krabbenmilch, ganz junge, in feine
Scheiben geschnittene Sirenen, bei denen nichts mehr an die
obszöne Form und den wenig appetitlichen Anblick erinnerte,
die sie zu Lebzeiten hatten, mit Ingwer farcierte Hummersch e­
ren, ferner in Kokosmilch eingelegtes Barracudafleisch, ge­
schmort in 27 verschiedenen Gewürzen, die aus China, Indones i­
en und Vietnam eingeschmuggelt worden waren, winzige Vögel,
bei denen man auch die langen, zarten Schnäbel, die knackenden
Krällchen und den sahnigen Schädel essen mußte, Kämme von
Perlhähnen und Hähnen, die mit Salbei und dem Extrakt der
Arakapalme garniert waren und wie Feuer auf der Zunge bran n­
ten, sowie durchsichtige, irisierende, gallertartige Fäden, die wie
Glasnudeln aussahen, aber in Wirklichkeit die gifthaltigen Tent a­
kel der Chrysaor-Meduse waren, die in ihrer Jugend männlich, als
ausgewachsene Qualle hermaphroditisch und im Alter weiblich
ist: Alle diese Speisen, die für ihren Reichtum an Proteinen und
Phosphorsäure berühmt sind, aber völlig neu tral schmecken,
servierte man – ohne es zu sagen – roh.
Junge Männer mit nackten Hinterbacken, nur mit einem Gürtel
bekleidet, an dem eine Art winziger Schurz aus Emailketten und
Eisenmaschen hing, der ihr Genital erkennen ließ, und Mädchen
mit knospenden Brüsten, den Schamhügel mit Jasmin - oder
Hibiskusblüten geschmückt, am Hals seidene Kordeln mit gol d­
gefaßten Elfenbeinamuletten in Form von Phalli, so jung, daß
gewisse Gäste im Laufe des Festes Gelegenheit hatten, sie zu
deflorieren (denn man hatte nur Ju ngfrauen ausgesucht, die es
nach dieser Nacht nicht mehr sein sollten), huschten durch die
Säle und über die Terrassen, um diese Gerichte sowie entzweig e­
schnittene Kürbisse anzubieten, auf denen man Schildkröteneier
in einer Brühe aus Schwalbennestern schw immen sah; sie reic h­
ten ferner Krokodilfleisch mit Curry, Eichhörnchenleber, Ko­
braklößchen, in Pollen und zerstoßenen Hirschgeweihen geso t­
tene Pilze, in Austernöl sautierte Bambusschößlinge und Pal m­
blättchen sowie kleine, mit Niello ausgelegte Schalen, der en
Deckel frisches Affenhirn verbargen.
Emmanuelle kostet von allem, nascht zum Dessert kandierte
Alraunwurzeln, glacierte Skarabäen und Nachtfalter, trinkt wa r­
men Khouang -Tong-Schnaps, weißes Reisbier aus Khorat und
das Sonnenwasser des Südens, das wie ei n Peitschenhieb schmerzt.
Nach dem Mahl kann sie kaum noch sagen, ob sie schon einen
Tag, eine Stunde, ein Jahr oder ein ganzes Leben in Maligath ist.
Sie weiß nicht mehr, in welchem Teil des Palastes sie sich be­
findet. Sie sitzt auf dem Boden, zwischen un bekannten Leuten,
die sich unterhalten, anlächeln, ausruhen, und bei denen sie sich
wohl fühlt. Ein großer brauner Mann, der auf dem hochflorigen
Teppich aus blauer Wolle liegt, stützt seinen Nacken auf Emma­
nuelles Schenkel, ein anderer streichelt ihre Füß e. Ihr Herz singt
trunkene Barkarolen: süße Nacht, o Liebesnacht!
Einen Augenblick darauf kommt der Fürst zu ihr, um sie an
seinen Tisch zu führen, in einen anderen Raum. Er stellt sie vor:
Man umringt sie, Männer und Frauen bewundern sie, berühren
ihre Ha are, küssen ihre Lippen, umfassen ihr e Taille. Sie kann
kaum die Gesichter unterscheiden, so heiß ist ihr, und sie sagt es
ihrem Gastgeber, der sie an der Hand nimmt, den anderen Gä­
sten entzieht, in einen Innenhof geleitet.
Die frische Luft beleb t sie. Kön nte sie ihr Kleid wieder anzi e­
hen? Der Fürst willigt ein, ruft einen Diener, erteilt einen Befehl;
sie warten, und Emmanuelle fragt sich, ob der junge Mann ihre
schöne Tunika aus Jade finden wird: Es wäre schade, wenn sie
das Gewand verloren hätte. Aber da bringt er es schon, und auch
den Gürtel und die goldene Fibel, er hat nichts vergessen. Er sagt
ihr mit einer Geste, wo sie einen Spiegel findet, um die Falten zu
ordnen, duftende Essenzen, um ihre Haut zu erfrischen, eine
Bürste für ihr Haar. Sie dankt ihm, und er nimmt ihren Dank
entgegen, indem er die Hände vor dem Gesicht zusammenlegt
und den Kopf neigt.
»Kommen Sie mit mir«, sagt der Fürst anschließend. »Sie haben
meine Gärten noch nicht gesehen. Ein Spaziergang wird uns
guttun.«
›Wird er es nun auch mit mir machen?‹ fragt sie sich. Sie hat
sich noch nicht ganz von der Behandlung erholt, die der Se e­
mann ihr zuteil werden ließ.
Sie folgt dem Herrn des Besitzes, vorbei an Wasserbecken und
Treibhäusern, und versucht sich vorzustellen, ob er sie auf einer
dieser fontänenfeuchten Rasenflächen oder auf einer rosafarb e­
nen Sandsteinbank unter den Luftwurzeln der Banjan -Bäume
nehmen wird. Wird er dieses merkwürdige Damastgewand abl e­
gen, in dem er aussieht wie eine Paraventfigur? In diesem Fall
würde er vielleicht ein wenig von seiner Erhabenheit einbüßen.
Zwei junge Mädchen, durch ihr Kommen aufgeschreckt, spri n­
gen in einer Laube hoch und sind mit zwei Sätzen außer Sich t­
weite. Ihre Sarongs haben sie zurückgelassen. Emmanuelle schaut
den samtenen Körpern nach.
»Ich weiß, daß Ihnen auch Frauen gefallen. Haben Sie heute
abend eine gefunden, die Ihnen zusagt?«
Sie will protestieren.
»Man scheint alles von mir zu wissen. Und ich bin doch erst seit
drei Wochen hie r… Interessiert sich denn die ganze Stadt nur
noch für mich?«
»Nicht die ganze Stadt, aber eine Stadt in der Stadt. Warum
sollte sie sich nicht für Sie begeistern? Sie hat lange auf Sie gewar­
tet.«
»Warum? Wenn ich recht verstehe ähneln mir in dieser Stadt
alle Frauen…«
»›Man kann nur seine eigene Schwester lieben, seinen natürlichen oder
siamesischen Zwilling‹, hat ein bedeutender Mann einmal gesagt. Es
ist ganz natürlich, daß wir Sie lieben.«
»Und Anna Maria Serguine , ist sie nicht Ihre Schwester?« fragt
Emmanuelle, immer noch ungehalten.
Aber es ist nicht leicht, ihn aus der Ruhe zu bringen.
»Wer kann das sagen?« murmelt er. »Man braucht manchmal
ein ganzes Leben, um seinen Bruder zu erkennen. Dann und
wann sogar mehrere Leben.«
»Glauben Sie an eine Wiedergeburt?«
»Ich weiß nichts darüber. Ich weiß noch nicht ei nmal, ob man
sterben kann.«
»Ich will jedenfalls nicht sterben.«
»Dann werden Sie auch nicht sterben.«
Er läßt sie auf Marmorstufen Platz nehmen, die in ein
Schwimmbecken führen.
»Hören Sie dieses Gedicht von einem jungen chinesischen In­
genieur unserer Zeit:
Der Berg ist mein Kopfkissen, Der Himmel ist mein Dach: Morgen werde
ich den Berg spalten, Aber der Himmel wird nicht einstürzen.«
Emmanuelles Kehle bleibt wie zugeschnürt.
»Ich weiß, was ich aus meinem Leben machen soll«, sagt sie.
»Aber was mache ich aus meinem Tod?«
Der Fürst betrachtet sie mitfühlend und antwortet:
»Du kennst das Leben nicht. Wie willst du den Tod kennen? Das hat
Konfuzius gesagt. Wozu quälen Sie sich?«
»Anna Maria hat mit mir über den Sinn des Lebens gesprochen.
Seitdem muß ich daran denken.«
»Denken Sie, woran Sie wollen«, erwiderte der Fürst, »aber Sie
dürfen keine Angst haben. Wenn Sie sich den Kopf zerbrechen,
weil Ihnen das Leben und der Sinn des Lebens geheimnisvoll
erscheinen, werden Sie letzten Endes doch nur Gott sehen. Und
dann werden Sie sich vor ihm fürchten. Was für ein Fortschritt!«
Emmanuelle muß lachen. Aber sie ist betrübt. Der Fürst mu n­
tert sie auf:
»Ein Schriftsteller aus Ihrem Land, Georges Bataille, hat etwas
sehr Vernünftiges gesagt. ›Ich will mich nicht rühmen, aber der Tod
scheint mir die lächerlichste Sache auf der Welt zu sein.‹«
»Das finde ich nicht«, gesteht Emmanuelle.
Der Fürst lächelt. Sie seufzt:
»Ich weiß nicht, was mit mir los ist, aber seit zwei oder drei
Tagen lande ich immer wieder an diesem Punkt. Ich habe noch
nie soviel Liebe gemacht – und soviel vom Tod geredet! Das
paßt doch nicht zusammen.«
»Warum nicht? Im Gegenteil, nichts ist logischer: Was das Le­
ben wertvoll macht, reizt zum Weiterleben.«
»Eben. Man müßte alles verlieren.«
»Wer kann das wiss en? Mario Serghini hat mir erzählt, daß Sie
die Mathematik lieben. Sie müßte Ihnen helfen, die Sache zu
verstehen. Die Berechnungen Ihrer Gelehrten zeigen doch, daß
sich die Materie verringert und zu verschwinden scheint, wenn
sie die Lichtgeschwindigkeit erreicht. Zugegeben, für unsere
Augen oder unsere Meßgeräte verschwindet sie, aber wer kann
sagen, daß sie tatsächlich nicht mehr existiert? Für diejenigen, die
uns vom anderen Ende des Kosmos beobachten, haben wir aus
denselben Gründen aufgehört zu existi eren. Wir sind im gleichen
Nichts der Geschwindigkeit untergegangen, in dem wir ihre rund
zehn Milliarden Lichtjahre von uns entfernten Galaxien versi n­
ken zu sehen glaubten. Und wir werden uns nie wieder gegense i­
tig sehen können. Getrennt durch eine verwir rende Konstante
der Natur, durch ein Zahlenrätsel, werden wir vielleicht in ve r­
schiedenen Ordnungen, in Räumen ohne jede Verbindung zuei n­
ander fortfahren zu leben.«
»Das stimmt«, sagt Emmanuelle, »ich weiß.«
»Dann wissen Sie auch, daß die Zeit nicht zur Hö lle führt. Die
Zukunft ist nicht der Tod der Gegenwart, sondern einfach ein
anderes Jenseits. Früher kannten wir nur die eine Seite des Mo n­
des, aber das bedeutete nicht, daß die andere Seite der Tod war.
Vielleicht werden wir im Tod weiterbestehen, jedenfa lls in den
Augen anderer, auf andere Weise sichtbar…«
Emmanuelle war glücklich und hätte zugleich weinen mögen.
Zweifellos lag das Glück auch darin, Tränen auf dem strahlenden
Gesicht des Lebens zu spüren? Den Kopf nach hinten geworfen,
die schwarzen Haare auf den marmornen Stufen ausgebreitet, sah
sie, das Herz voller Hoffnung und Verzweiflung, zu jenen fer n­
sten Sternen auf, die ständig an den Grenzen des Universums
erloschen, ihren sibyllischen Sturz begannen und alles mit sich
rissen, die Liebe, die sie ihnen beimaß, und den fantastischen
Traum, den sie träumte, den sie immer würde träumen müssen:
Sie träumte nämlich, sie würde sie eines Tages kennen, sie würde
lange genug leben, weit genug kommen, um ihre flammenden
Schultern und Leiber zu umarmen.
Ein Mann setzte sich zu ihnen. Dunkelrotes, sehr kurz ge­
schnittenes Haar betonte seine Jugend. Emmanuelle fand ihn
interessant und nahm ihm die Störung nicht weiter übel.
»Michael«, sagte der Fürst. »Ihre Gesellschaft bekommt dieser
jungen Frau besser als meine. Unterhalten Sie sie!«
Sie widersprach: Sie wünsche sich nichts anderes, als mit dem
Fürsten zusammen zu sein, sie habe keinerlei Bedürfnis, ›unte r­
halten‹ zu werden. Doch ihr Gastgeber nahm ihre Hand und
legte sie in die des jungen Mannes:
»Los«, sagte er. »Schwimmt mit meinen Schwänen.«
Das Wasser des Beckens wirkte im Licht der weißen Lotuskö p­
fe und Mondreflexe sanft und einladend. Emmanuelle hielt einen
Fuß hinein und stellte fest, daß es lauwarm war. Sie wandte sich
dem Neuankömmling zu und blickte ihn fragend an. Er bejahte
mit einem Lächeln. Da entzog sie ihm die Hand, stand auf, en t­
fernte sich einige Schritte und hob den Arm, um die goldene
Eule auf ihrer Schulter zu lösen.
Obgleich sie den größten Teil des Abends nackt gewesen war,
schien es ihr, al s ob diese Geste, mit der sie sich in diesem Park,
in dieser durchsichtigen Dunkelheit entkleiden wollte, mehr
herbeiführen würde als nur Nacktheit. Eine archaische Scham
lähmte ihre Finger. Dann gab ihr der Gedanke, daß ihre Begleiter
die Metamorphose erw arteten, daß sie ihnen die Verwandlung
zum Geschenk machen wollte, den Mut wieder. Das Entkleiden
hatte also einen Sinn, bildete einen erotischen Akt, mit seinem
spezifischen Protokoll, seinen spezifischen, feierliche Präliminari­
en.
Sie legte zuerst den Gü rtel ab, und ihre Tunika füllte sich mit
Wind, glitt an ihrem Leib hinab, entblößte den gebeugten Rücken
mit der langen Furche, die ihn in zwei lange Schatten teilte. Der
Stoff blieb einen Augenblick an den Hüften hängen, wobei an
den Schenkeln und Knöcheln jener Faltenwurf entstand, mit dem
die Bildhauer so gern die Figur der Venus schmückten. Sie schien
tatsächlich einem antiken Traum zu entsteigen; glich so genau
dem Bild, das sich jahrhundertelang in den Herzen der Männer
gehalten hatte, daß die Wirklichkeit nur Unglauben einflößte.
Plötzlich streckten sich die Hände der Männer nicht mehr der
menschlichen Schönheit Emmanuelles entgegen, die vollkomm e­
ner war als die göttlichen Rundungen, sondern der steinernen
Verlockung, die ihr für die flüchtigen Sekund en einer Fata Mo r­
gana den Zauber ihrer ewigen Unwirklichkeit verliehen hatte.
Wer hätte den steinernen Brüsten der Aphrodit e von Knidos,
wären sie von Leben erfüllt gewesen, neben dem Busen Emm a­
nuelles noch einen Blick geschenkt? Doch so unnachahmlich
dieser Frauenbusen selbst für den Künstler der Götter war, er
würde nie die unsagbare Liebe, die mythische Liebe kennen, von
der diejenigen verzehrt wurden, die die Göttin in den Tempeln
und Grotten, in denen sie ihr steinernes Bildnis gefangenhielten,
entweihten – und den zerschmetterten Torso befragen die Mä n­
ner noch heute.
Ohne zu sprechen, sahen der Fürst und Michael das Traumbild
im Wasser zerfließen. Die gekräuselten Wellen machten es zu­
nichte; es zerteilte sich, seine Fragmente hörten auf zu existieren.
Schließlich war es unwiederbringlich dahin, und nur die Wolke
der Haare blieb schwimmen, wie der dunkle Fleck an der Obe r­
fläche des Meeres, der noch lange an die versunkene Triere mit
den Amphoren erinnert, an deren Wölbungen junge Mädchen
fromme Tänze tanzen und von fernen Inseln träumen.
Michael entkleidete sich und schwamm, inmitten der duftenden
Lotussterne und abfallenden Jasminblüten, die das Becken
schmückten, zu Emmanuelle. Sie ließen sich treiben, verfingen
sich manchmal in den Netzen langer Wasser pflanzen oder tauch­
ten spielerisch unter den riesigen, flachen, schwimmenden Blä t­
tern jener Seerosen hindurch, die angeblic h das Gewicht eines
Mannes tragen können. Der Fürst war gegangen. Sie preßten sich
aneinander. Emmanuelle spürte das Verlangen, die Rute zu
berühren, die, lang und hart wie eine Flöte, von der Lust des
Mannes kündete. Er versuchte, sie im Wasser zu lieben: linkisch,
weil ihre Körper keinen Halt fanden und weil er zu ungeduldig
und zu stark war; trotzdem gelang es ihm, in sie einzudringe n
und ihr Schreie der Wollust und des Schmerzes zu entlocken. Sie
bat um Gnade und wollte wieder ans Ufer. Dort liebkoste sie ihn
mit der Zunge und den Fingern, mit ihrem Bauch und ihren
Schenkeln, mit ihren Brüsten, die sie aneinander drückte, damit
der Penis fest dazwischen eingebettet war wie in der Scheide
einer Jungfrau. Sie brachte ihn endlich zum Erguß, und sein
dickflüssiger Samen quoll in langen Stößen hervor, so reichlich,
daß sie ihn kaum in ihren zusammengelegten Händen auffangen
konnte. Sie füh rte ihn an die Lippen, hielt ihn dann ihrem Lie b­
haber hin:
»Möchtest du trinken?«
Lachend schüttelte er den Kopf, legte seine Wange aber an ihre,
um zuzusehen, wie sie trank, und die feuchten Haare E mmanuel­
les bedeckten ihrer beider Schultern, ließen ihren Zwillingskörper
in einem einzigen Kopf enden.
Da sie fror, legte er sich anschließend der Länge nach auf sie,
und sie sagten sich Worte der Liebe. Der Orion mit seinem
Schwert aus Spiralnebeln und seinem Gürtel aus Edelsteinen
steht über ihnen, und Emmanu elle spricht leise die ihm geltende
kabbalistische Formel: Aniam, Alnitak, Mintaka… Ihre Gedanken
verlieren sich im Traum.
Schmerzlich und ohnmächtig wurde sie sich wieder der Ge­
genwart bewußt, des Parks, in dem sie unter einem nackten, wie
leblosen Mann lag, den sie noch nie gesehen hatte, der vielleicht
schon tot wa r… Ihr Entsetzen wich in dem Maße, wie ihre
Erinnerung wiederkehrte, aber sie wollte nicht an jenem Ort
bleiben. Sie bat ihren Begleiter, sie nach Hause zu bringen. Sie
war abgespannt. Sie war müde und wollte in ihrem eigenen Bett
schlafen, tagelang, wie ein Murmeltier…
Er erklärte indessen, es sei noch zu früh, man müsse auf den
Tagesanbruch warten. Emmanuelle war verstimmt. Sie sollte
besser versuchen, Mario wiederzufinden. Sie zog ihr Gewand an;
ihre Haut war trocken; das Gefühl und die Sicherheit der Seide
schenkten ihr die innere Ruhe und Heiterkeit wieder. Aber sie
wollte sich gern die Haare kämmen, aus denen ihre Finger feuc h­
te Blüten und abgestorbene Blätter zogen. Im Palast, fiel ihr ein ,
gab es Badezimmer mit schönen Dingen aus Silber und Elfe n­
bein, wo man sich von Jünglingen bedienen lassen konnte, die
vor Bewunderung und Begierde große Augen bekamen. Sie
suchte eines, fand es und ließ den Mann an der Tür stehen,
befahl ihm, nicht auf sie zu warten.
Sie badete in heißem Wasser, ließ sich trocknen, pudern, pa r­
fümieren, massieren, liebkosen, frisieren und wäre sicher den
Rest der Nacht dort geblieben, wenn der Fürst nicht gekommen
wäre, um sie zu holen. Michael hatte ihn zweifellos informiert.
»Man klagt darüber, daß Sie entführt wurden«, teilte er ihr mit.
»Wollen Sie es nicht wiedergutmachen?«
»Als ich eben durchs Haus ging, kam es mir eher so vor, als
habe die allgemeine Glut nachgelassen. Ich hatte sogar den Ei n­
druck, es gäbe keine Männ er mehr – ich glaubte, sie seien alle
schlafen gegangen.«
»Sie werden noch in einem kleinen Hetäria erwartet, das alles,
was bis jetzt passiert ist, zu einem Vorspiel macht. Sie haben
doch bisher auch nur getändelt, nicht wahr?«
»Übrigens«, erkundigte sich Emmanuelle, »wer war der schöne
Junge, dem Sie mich im Park auslieferten?«
»Michael? Ich dachte, Sie kannten ihn. Der Marineattaché der
Vereinigten Staaten.«
Emmanuelle verzog keine Miene, obgleich ihr war, als hätte
man sie ins Gesicht geschlagen. Bees Bruder! Sie hatte sich ihm
völlig ahnungslos hingegeben! Wie hatte sie nur so blind sein
können? Der Blick, die gleichen Lippen, das gleiche Lächeln und
die kupfernen Haare, die stolze Haltung ! Sogar die Art zu re­
den… Mehr als ihr Bruder, ihr Double. Und si e hatte es nicht
gemerkt!
Ohne auf ihre Umgebung zu achten, ließ sie sich von dem Fü r­
sten in einen Raum führen, in dem eine Klimaanlage summte. Sie
schauerte zusammen, denn im Vergleich zur Nachtluft war es
hier kalt. Eine rötliche Wolke nahm ihr die Sicht . Ein schwerer
und herber chinesischer Duft, rein und doch vielfältig, schlug ihr
entgegen, Ingwer und Safran vielleicht, jedenfalls eher Kräuter
und Gewürze als Blumen, es sei denn, es handelte sich um den
Geruch eines Holzes – kein Damen - oder Herrenparf um, so n­
dern das Parfum einer Landschaft, das sich aus dem Dämmer zu
ergießen schien. Sie spürte, wie es sie umschloß, ihre Haut trän k­
te…
Zuerst erkannte sie nur längliche Lampen auf sechseckigen Fü­
ßen aus dickem Glas, die am Boden standen. Erst dann sah si e
die flachen und großen Kissen, die überall herumlagen, verschi e­
den dick, aber immer rechteckig oder quadratisch, nie oval oder
rund. Obgleich sich ihre Augen ziemlich schnell an diese spezielle
Dunkelheit – farbig und beinahe greifbar, jeden Augenblick vo n
einer anderen Konsistenz, wie durcheinandergewirbelt von dem
Luftzug, der durch die offene Tür gekommen war – gewöhnten,
konnte Emmanuelle nur eine Körperlänge weit sehen. Sie er­
kannte nur drei Frauen, noch jünger als sie selbst, auf den Kissen.
Sie lagen auf dem Rücken, berührten sich nicht, hatten die Beine
weit gespreizt. Die eine war die Tochter des Fürsten. Ringsum,
am Rand des Lichtkegels, die Umrisse mit den wabernden
Dämpfen zerfließend, befanden sich Gestalten, sicher Männer,
die sie betrachteten.
Emmanuelle wandte sich ihrem Gastgeber zu. Sie hatte das
Bedürfnis, die eigene Stimme zu hören. Sie sprach den ersten
Namen aus, der ihr einfiel, um sich inmitten so vieler Ungewi ß­
heiten nicht so fremd zu fühlen.
»Ariane… ist sie auch hier?«
»Möchten Sie es?« antwortete der Fürst schnell. »Ich werde sie
holen lassen.«
»Nein, nein«, dankte Emmanuelle sofort, als habe sie eine
Fauxpas begangen. Dann, um ungezwungen zu erscheinen:
»Hat sie sich gut amüsiert?«
Sie wurde sich bewußt, daß sie in der Vergangenhe it gespr o­
chen hatte, als sei das Fest bereits zu Ende.
»Ich glaube«, erwiderte der Gastgeber lächelnd, »daß sie heute
abend mehr Erfolg gehabt hat als alle anderen.«
»Warum?« fragte sich Emmanuelle und stellte fest, daß sie sich
gegen diese Vermutung sträu bte. »Mehr als ich?« hörte sie sich
protestieren.
Stolz und Unruhe klangen aus ihrer Stimme. Sie zwang sich, wie
von einem Spiel zu sprechen: »Weil sie schöner ist als ich?«
»Nein«, antwortete Ormeasena.
»Warum dann? Wenn ich schöner bin, habe ich das Rech t,
mehr Liebhaber zu haben. Mehr als jede andere.«
Ihre triumphierende Stimme erfüllte das ganze rote Zimmer.
Ein Mann löste sich aus den Schatten und faßte sie an den
Handgelenken.
»Das müssen wir entscheiden!« sagte er.
Sie erkannte ihn und verstummte. Es war der Seemann.
Er zog sie vor, und der Dunst wich entsprechend zurück, gab
andere Körper frei, meist Männer. Einige waren noch jung,
beinahe Kinder, mit den Gesichtern angelsächsischer Bomberp i­
loten und kurzen hellen Haaren; andere waren reifer, sonnen ver­
brannt, hatten die hohen Wangenknochen der Sibirier und tie f­
liegende, ironische, wissende Augen. Und es gab noch andere,
alle möglichen…
Hände legten sich auf ihre Schultern, und sie setzte sich. Der
Stoff war kalt und glatt. Man berührte sie. Man sprei zte ihr die
Beine, bemächtigte sich sofort ihres Geschlechts, ließ ihr noch
nicht einmal Zeit, sich auszuziehen, umarmte sie nicht, redete
kein Wort. Sie wagte nicht, sich hinzulegen, obgleich sie damit
rechnete, daß sie von mehreren genommen werden sollte , ob­
gleich ihr Mund bereit war. Die Hände, die sich zwischen ihren
Beinen zu schaffen machten, taten ihr weh, aber sie klagte nicht,
während man sich darauf beschränkte, sie zu öffnen, sie grün d­
lich zu erforschen. Sie erwartete Schlimmeres und war en t­
schlossen, sich damit abzufinden. Plötzlich entdeckte sie, daß sie
keine Angst mehr hatte, und ihre Brust schwoll vor Stolz und
Lust.
Auf einen Befehl des Seemanns lösten sich die Hände von ihr
und ließen von ihr ab. Ließen sie allein, hätte sie meinen können,
denn ihre Bewunderer wurden schon eine Armeslänge von ihr
entfernt zu Schatten und verschwanden gleichsam.
»Holt Ariane«, sagte eine gebieterische Stimme, und man hörte,
wie jemand hinausging.
Drückend warme Luft strömte durch den Raum. Emmanuelle
begriff, daß sie in diesem Augenblick noch die Möglichkeit hatte,
das Zimmer zu verlassen. Sie wußte, daß man nichts unterne h­
men würde, um sie zurückzuhalten. Man ließ ihr die Wahl. Das
war der Sinn dieser geöffneten Tür.
Sie blieb. Nicht aus Respekt, Trägheit ode r Fatalismus. Sondern
weil sie Lust dazu hatte . Sie spürte diese Lust in ihrem Hals,
beiderseits des Kehlkopfes, wie eine Hand, die sanft zu würgen
beginnt. Und ihre Zunge wurde heiß. Ihr Puls beschleunigte sich,
aus ihren Schläfen brach der Schweiß aus. Es war eine Form des
Verlangens, die sie noch nie erlebt hatte. Sie sollen sich beeilen,
stöhnte sie heimlich. Sie sehen doch, daß ich bereit bin. Sie sollen
meinen Körper benutzen, wie sie wollen.
»Was sollen wir mit Ihnen machen?« fragte die Stimme des Ze­
remonienmeisters, und Emmanuelle genoß die Ironie der forme l­
len Klausel.
Sie wußte nicht genau, ob der Seemann ihr Lächeln falsch ge­
deutet hatte oder ob es den Gewohnheiten entsprach, als er
fragte:
»Was ziehen Sie vor, Mann oder Frau?«
Bevor sie aber Zeit hatte, etwas zu erwidern, gab er die Antwort
schon selbst:
»Das ist übrigens nebensächlich. Auf einer bestimmten Stufe
des Erotismus spielt das Geschlecht keine Rolle mehr.«
Dann sprach er wieder befehlend.
»Zeigen Sie sich!«
Emmanuelle stützte sich auf den linken Ellbogen und neigte
sich etwas zurück. Sie legte die Bahnen ihres Kleides nach rechts
und links, entblößte damit ihren Venushügel, von dem inzw i­
schen fast alle Perlen abgefallen waren. Sie zog ein Knie an,
spreizte das rechte Bein ab. Mit zwei Fingern öffnete sie, langsam
und anmutig, die Lippen ihrer Vulva.
»Vorwärts!« sagte der Offizier, und sie zweifelte nicht daran,
daß er sich an die Männer wandte, die sie umringten.
Wie viele mochten es wohl sein? Es gelang ihr noch nicht ei n­
mal, sich die Größe des Zimmers vorzustellen.
Und wenn es hundert waren? Na und? Nach einer derartigen
Nacht würden sie gar nicht mehr alle in der Lage sein, die Chance
zu nutzen.
In Wirklichkeit, sie wagte nur nicht, es sich offen einzugest e­
hen, befürchtete sie, es werde nur noch so wenige Potente geben,
daß die neue Erfahrung erniedrigend sein würde. Es war eine
gewisse Erleichterung, als sich ein großer nackter Mann mit
krausen Haaren und dicken Lippen, sicher ein Schwarzer, zw i­
schen ihre Beine kniete, ihre Hand, die si e auf die Scham gelegt
hatte, zur Seite schob, sich mit einer Hand stützte und mit der
anderen einen Penis einführte, der so hart und leidenschaftlich
war, wie sie sich nur wünschen konnte. Sie wäre allerdings auch
mit einem kleineren Exemplar zufrieden ge wesen, vor allem bei
diesem ersten Sturm.
Sie bemühte sich, nicht vor Schmerz zu schreien, während er
sie nahm, doch die Tränen liefen ihr die Wangen hinab, als wäre
sie noch Jungfrau. Das riesenhafte Glied schob sich tiefer und
tiefer: Emmanuelle hatte ga r nicht gewußt, daß ihr Schoß so
grenzenlos war. Als der Mann sein Ziel endlich erreicht hatte –
und er hatte seiner Partnerin keinen Zentimeter seiner Möglic h­
keiten erspart –, war er wenigstens so rücksichtsvoll, zu einem
Zeitpunkt, in dem sie noch zu seh r litt, nicht sogleich in ihr hin
und her zu fahren; er blieb tief in ihr und bewegte seinen Bauch
und die Muskeln seiner Oberschenkel, drehte sich ein wenig und
zuckte mit seiner großen und festen Eichel, um die inneren
Fasern Emmanuelles so lange zu dehnen und zu erweitern, bis sie
innen feucht und warm geworden war , ihn umarmte und die
ersten Lustschreie rief.
Da stieß er mit unvermittelter Raserei los, so kraftvoll und wild,
daß sie bei jedem Stoß aufheulte. Ihre Schreie erregten ihn of­
fenbar nur noch mehr, und kurz darauf fiel er mit rauher, kaum
noch menschenähnlicher Stimme ein, bis er eine Samenmenge
entlud, die ebenso schwer und kraftvoll sein mußte wie sein
Körper und die so heftig durchdrang, daß sie den Geschmack
fast im selben Augenblick auf den Papillen ihrer Zunge zu spüren
meinte. Er setzte den Verkehr noch lange Zeit nach der Ejakul a­
tion fort, preßte sich auf die Brüste des Opfers, vergrub das
Gesicht in ihren Haaren und zuckte unter den lustvollen Spa s­
men, die sich gegenseitig zu zeugen schi enen und Emmanuelle
ganz neue, schmerzhafte, zersprengende und köstliche Empfi n­
dungen verschafften. Sie stöhnte in die stoppelige Wange hinein,
biß sie, küßte sie, mußte zwischendurch immer wieder laut au f­
schluchzen.
Der Mann höhlte sie, bearbeitete sie la nge, mit derselben bruta­
len Leidenschaft und demselben frenetischen Rhythmus: länger,
als sie es je erlebt hatte, und sie spürte mehr Lust, als sie je ge­
spürt hatte. Sie dachte (in einem hellsichtigen Augenblick zw i­
schen zwei Ekstasen), daß Liebe immer wieder mehr sein konnte.
Wenn dieser Unbekannte sie nicht besessen hätte, hätte sie vie l­
leicht nie im Leben erfahren, daß man imstande war, soviel Lust
zu spüren.
Ich muß mich selbst übertreffen, feuerte sie sich an, und zwar noch in
dieser Nacht. Doch als ei n letzter Orgasmus, noch gewaltiger als
die anderen, sie getroffen hatte, wollte sie nicht mehr. Ihr Feuer
legte sich und wurde von einer heiteren Gelassenheit abgelöst;
eine beseligende Klarheit nahm von ihr Besitz. Wenn das, was sie
eben gespürt hatte, Lust gewesen war, war das jetzige Gefühl
zweifellos Glück.
Mit einem tiefen Stöhnen ergoß sich der Mann ein zweites Mal
in ihr. Dann blieb er unbeweglich, wie nach dem Todesstoß,
liegen. Andere zogen ihn fort und folgten ihm nach. Sie merkte
es nicht mehr.
Als sie wieder zu sich kam, fragte sie sich, wie viele Liebhaber
sie so, ohne es zu wissen, gehabt hatte.
»Ich muß sie unbedingt zählen«, ermahnte sie sich. »Sonst ist es
nicht der Mühe wert.«
Und während die anderen sie besaßen, entdeckte sie eine neue
Form des Genusses: kein sinnliches, sondern ein viel fasziniere n­
deres zerebrales Vergnügen. Sie sagte sich, daß sie außer dem
fleischlichen Orgasmus, dem Orgasmus des Körpers auch den
erotischen Orgasmus, den des Geistes, erleben konnte. Sich aus
Verlangen hinzugeben ist nichts: Der Erotismus beginnt dort, wo
das Erhoffte aufhört, vielleicht beginnt er in seiner ganzen Tra g­
weite und Majestät erst dort, wo die Lust aufhört… Die Schö n­
heit ist immer ein Widerspruch.
Es störte sie jetzt, daß gewisse Männer sie zu lange benutzten,
denn sie wollte allen zur Verfügung stehen: Welche Enttä u­
schung, wenn sie die Geduld verlören, sich nicht mehr für sie
interessierten – oder sich schließlich an den anstößigen Anblick
gewöhnten!
Sie war nur dann – vorübergehend – beruhigt, wenn ein Mann
in ihr ejakulierte, weil sie in diesem Moment wußte, daß er gleich
von einem anderen abgelöst werden würde, und sie fühlte in
diesen Augenblicken ein inneres Sehnen, das die Würze der Liebe
hatte: nach demjenigen, der die Lücke ausfüllte, sich zwischen
ihre Beine kniete oder der Länge nach auf sie legte und mit
seinem aufgerichteten Glied in sie eindrang, wenn er dazu fähig
war, oder den Penis mit der Hand einführte, was öfter geschah.
Einige klammerten sich mit den Lippen an ihren Mund, wä h­
rend ihre Lenden nach dem Rhythmus suchten, der ihren Ge­
schlechtern synchrone Lust verschaffte. Andere stützten sich auf
die Arme, blieben entfernt, um sie zu betrachten, wenn sie in
ihrem Körper arbeiteten. Bei allen benutzte sie das Wissen, daß
sie in Je ans Lektionen gelernt hatte, um ihren Genuß zu vergr ö­
ßern. Wenn ihre Bewegungen den Partnern ein wollüstiges Stö h­
nen entlockten, dachte sie dankbar und liebevoll an ihren Mann,
der sie zu einer Meisterschaft geführt hatte, von der noch nichts
vorhanden gewesen war, als sie ihm die erotische Jungfräulichkeit
der Lesbierin geschenkt hatte.
Wie auf stillschweigende Übereinkunft – oder auf einen stu m­
men Befehl des Seemannes – liebkoste man sie nicht. Und diese
schonungslosen Umarmungen, die sie sonst wie Beleid igungen
aufgefaßt hätte, schienen ihrer augenblicklichen inneren Verfa s­
sung zu entsprechen. Sie wollte nur noch Lust verschaffen, sich
als Lustwerkzeug vieler Männer sehen. Sie sollten zufrieden sein
mit ihrer Vagina und mit den Empfindungen , die ihre Glie der
dort spürten; sie sollten sich ganz egoistisch befriedigen, ohne an
sie zu denken. Sie hatte etwas Besseres: die Vollkommenheit der
Kunst. Und sie benutzte ihre Talente als Liebhaberin, ihre Erfi n­
dungsgabe und ihren Willen, um ihnen die höchste Sättigu ng zu
verschaffen, damit sie später in der Stadt erzählen konnten, wie
angenehm sie sei, ebenso gefällig und bequem wie die beste
Prostituierte, aber viel überraschender.
Es kam der Augenblick, in dem sie überall Schmerzen hatte.
Dann jener, in dem sie nichts mehr richtig fühlte und sogar das
Denken aufgab. Schließlich hörte man auf, sie zu nehmen. Und
da wurde sie sich bewußt, daß sie das Zählen völlig vergessen
hatte.

Eine Stimme weckte sie, viel später. Der Raum schien noch
kälter geworden zu sein: Ob ein Teil der Anwesenden hinausg e­
gangen war?
Emmanuelle brauchte einige Zeit, um zu sehen, wer mit ihr
sprach. Immerhin war das Licht jetzt besser, doch ihre Augen
waren noch vom Schlaf umnebelt. Schließlich sah sie das Ge­
schöpf, das sich genau über ihr aufgebaut hatte und nur aus
Beinen zu bestehen schien: aber was für Beine! Vor allem dort,
wo sie sich trafen, was für großartige, sinnliche und pralle Li p­
pen, und so jung, so lasziv unter der Fülle feuerfarbener Locken!
Sie erinnerte sich, diesen Pelz scho n einmal auf dem hohen
Schamhügel gesehen zu haben – so hoch, daß er beinahe anomal
wirkte. Aber damals war er von einem winzigen Badeslip geteilt,
allerdings nicht verdeckt worden. Sie hatte dieses Mädchen nur
wegen dieses schmalen Streifens aus weißer Ba umwolle begehrt,
der darauf abzielte, nicht nur das Vlies, sondern die gesamte
Vulva freizulassen, denn er verschwand zwischen den Schamli p­
pen und ließ sie hervorquellen, lenkte die Blicke stärker auf sie als
bloße Nacktheit. In diesem Augenblick bedauerte Emmanuelle
fast, daß der perverse Bikini nicht da war. Aber es war ebenfalls
schön, dieses aggressive Geschlecht, das sich ihren Blicken so
bot, daß sie sich nur etwas aufzurichten brauchte, um es mit dem
Mund zu erreichen. Nein! Es wäre noch besser, wenn es zu ihr
herabstiege, dieses Genital, wenn es sich auf ihren Mund legte
wie eine aufgeschnittene salzige Meeresfrucht und ihn mit ihrem
Wasser erfrischte.
»Ich kenne Sie«, sagte Emmanuelle endlich, wie um sich zu
beweisen, daß die Erscheinung kein Traum war. »Ich habe Sie im
Schwimmbad gesehen. Aber ich weiß nicht, wie Sie heißen.«
Sie fügte hinzu: »Sie sind die junge Löwin.«
»Ich heiße Merv ée«, sagte das junge Mädchen. »Die Römer
nannten mich lieber Fiamma, weil ich sie verbrenne, oder Renata,
weil ich aus ihrer Asche geboren wurde. Mein Gelieber ruft mich
Mara, wie einen indischen Dämon. Aber ich bin auch Mâyâ. Und
Lilith.«
»Es ist schön, wenn man so viele Namen hat«, stimmte Emm a­
nuelle zu, obgleich sie ein bißchen verdutzt war.
»Ich habe noch mehr, aber sie würden heute nacht nicht zu mir
passen. Ich haben Ihnen nur die Vornamen gesagt, die ich habe,
wenn ich nackt bin.«
Die Augen etwas zusammenkneifend fügte sie hinzu: »Natürlich
habe ich auch Jungennamen, für die Tage, an denen ich ein
Knabe bin.«
Emmanuelle zog die Augenbrauen hoch. Dann beschloß sie,
sich der Situation anzupassen. Schließlich konnte ein so mer k­
würdiges Wesen alles mögliche sein. Sie machte nur nebensächl i­
che Einwände:
»Hoffentlich verlieren Sie die Haare nicht, wenn Sie sich in ei­
nen Mann verwandeln.«
Das wäre ein Unglück, dachte sie. Dieser unglaubliche Dschu n­
gel, noch dichter und länger als meiner, und so golden. Golden
wie das Gold der Chinesen, das wie emailliertes Rot aussieht.
Ob Mädchen oder Junge spielt kaum eine Rolle, argumen tierte
sie. Ich würde sie gern lieben. Mit den Augen suchte sie den
gesäumten Spalt unter den Flammenlocken.
Das Wesen musterte sie ebenfalls. Und sprach: »Schade, daß Sie
nicht eher nach Sia m gekommen sind. Ich hätte Sie teuer ve r­
kauft!«
Es näherte seine Lippen, als wollte es unterstreichen, daß man
die Sache trotzdem nicht dramatisieren sollte, und nannte den
Grund:
»Macht nichts, ich werde schon noch eine Gelegenheit dazu
haben.«
Emmanuelle informierte sich:
»Sie verkaufen Frauen?«
Die junge Löwin, dacht e sie gleichzeitig, denn sie rechnete gar
nicht mit einer Antwort, gehörte zu einer Spezies, die weder
Tugend noch Laster, weder Schuldige noch Unschuldige kennt.
Sicher auch kein Alter, denn konnte man wissen, ob sie zehn war,
wie ihr Gesicht, zwanzig, wi e ihre Brüste, oder unendlich alt, wie
dieses Genital, das einem Engel gehören mußte – oder einem
Teufel.
»Wo ist Ariane?« fragte Emmanuelle.
Mervée hing wie gebannt an ihren Lippen.
»Kommen Sie mit mir ins Badezimmer«, sagte sie beiläufig, als
sei ihr Vor schlag ganz unwichtig, verfolge noch nicht einmal
einen bestimmten Zweck.
Warum? fragte sich Emmanuelle. Sie war sicher, daß Mervée sie
dort nicht lieben würde, wenigstens nicht so, wie es die anderen
Leute taten. Sie hatte eine vage Idee. Bei einer Löwin-Frau mußte
man auf alles gefaßt sein. Sie war drauf und dran, zuzustimmen,
aber sie mußte erst noch aufstehen…
Männer bewegten sich, und bevor Emmanuelle wußte, was
geschah, war Mervée gegangen. Der Rhythmus, der die Liebe in
Maligath mit Mahlzeiten würzte , brachte Platten mit Gerichten
und Getränken. Genau rechtzeitig, wie sie konstatierte, denn sie
hatte Hunger.
Sie erinnerte sich nicht, ihre Tischgefährten (oder besser Ki s­
sengefährten) schon einmal gesehen zu haben, aber sie kamen ihr
schön vor. Waren un ter ihnen auch welche, die sie vorhin ge­
nommen hatten? Sie brauchte sie nur zu fragen, befand aber nach
kurzem Überlegen, es sei reizvoller, im Ungewissen zu bleiben.
Dann wurden Opiumpfeifen gereicht. Der Dunst wurde blau,
nahm noch einen Duft an. Emmanue lle kam nicht in Vers u­
chung: Ihr genügte es, einmal probiert zu haben.
»Die Luft ist so süß, daß ich nicht sterben kann«, hörte sie jemanden
deklamieren.
»Was werden Sie mit Ihrem Mann machen?« erkundigte sich
der junge Mann, der gerade neben ihr saß.
Sie zog sich mit einem vielsagenden Gesichtsausdruck aus der
Affäre: das Thema war ihr zu kompliziert.
»Da ist Ariane«, verkündete eine Stimme.
Aber die Tür hatte sich nicht geöffnet, und Emmanuelle sah
niemanden.
Sie hatte Durst.
»Nehmen Sie«, sagte der junge Mann und ließ sie trinken, wobei
er ihre Schultern stützte. Seufzte dann:
»Ich möchte es gern noch einmal mit Ihnen machen. Aber ich
kann nicht mehr, wirklich nicht!«
Ich auch nicht, denkt Emmanuelle. Macht nichts. Man kann
nicht ständig das gleiche tun. Sie betrachtet ihren Körper: ist es
nicht geradezu barock, sich ganz nackt unter so vielen Menschen
zu befinden? Hat man sie entkleidet? Sie hat es noch nicht einmal
bemerkt. Ihre Beine sind gespreizt. Sie legt sie wieder zusammen.
Ein Geschlecht, überlegt sie, das niemand berührt, ist lächerlich.
Und ihr ist nicht danach, es selbst zu berühren, zu dieser Stunde.
Wie spät mag es überhaupt sein? Und wo ist ihr schönes Kleid?
Diesmal ist es bestimmt verloren. Wie soll sie nach Hause ko m­
men?
»Ich frage mich, was ich Jean sagen soll.«
Der junge Mann nickte mitfühlend. Er hatte einen Einfall:
»Geben Sie ihm Mara«, schlug er vor.
Das ist seine Geliebte, sagte Emmanuelle zu sich.
»Sie sollten zu dritt leben«, fuhr er, schnell entflammt, fort. »Sie
würden sehr gut zusammen passen. Kein Zweifel: Das sollten Sie
tun.«
Warum Mara – oder Renata oder Fia mma, wie sie auch heißen
mag, möchte Emmanuelle fragen. Warum sie und nicht Ariane
oder, noch besser, Marie -Anne? Oder eine andere? Anna Maria
zum Beispiel, das wäre gar nicht so übel. Aber sie will diesem
Jungen nicht weh tun, denn für ihn gibt es, das ist klar, keine
Frau, die der Liebe so würdig ist wie seine Geliebte.
»Ja«, sagte sie also, »das würde mir schon gefallen.«
»Sie dürfen keine Zeit verlieren«, drängte er. »E s ist absurd, daß
Jean und Sie alle diese Gelegenheiten verpassen.«
Welche? fragt sich Emmanuelle, aber ohne echte Neugier. Und
was ist die beste Kombination: zwei Frauen und ein Mann oder
eine Frau und zwei Männer? Die letzte Möglichkeit scheint ihr
viel verlockender. Der andere Mann könnte beispielsweise Chr i­
stopher sein. Oder Mario. Nein, nicht Mario. Christopher auch
nicht.
»Woran denken Sie?« erkundigt sie sich nach fünf Minuten des
Schweigens.
»Zwei Frauen scheint mir logischer, weil Sie lesbisch sind . Wor­
auf es aber ankommt, ist der erste Schritt. Ob man es so oder so
macht, spielt eine untergeordnete Rolle. Ich werde Ihnen mein
Buch schicken.«
»Handelt es von einer Ehe zu dritt?«
»Unter anderem.«
»Dann muß ich es lesen, denn ich weiß noch immer nicht ge­
nau, wie man sich einrichten soll. Es kann nicht leicht sein: ein
bißchen wie ein Tanz zu dritt.«
»Beinahe.«
Emmanuelle machte kein Hehl aus ihrer Überraschung, daß er
ihr mehr oder weniger zustimmte. Er fuhr fort:
»Aber schwieriger. Gott sei Dank! Wenn es von allein ginge,
wäre es ein schlechtes Zeichen, oder? Wir sind nicht für die
leichten Dinge geschaffen.«
Wir machen es nicht, weil wir uns amüsieren wollen, bekräftige
Emmanuelle im Geiste: Wir sind hier, um der Spezies von mo r­
gen eine Chance zu gebe n. Nicht um der Moral zu trotzen oder
sie zu entthronen, sondern um eine andere zu schaffen. Die
Moral von Galahad funktioniert nicht mehr, wenn man die Ge­
stirne hinter sich lassen will. Als man auf der damaligen Erde
Mostäpfel anbauen wollte, genügte die Moral von damals. Wenn
man aber würdig sein will, die Beteigeuze zu erforschen, muß
man eine bessere finden.
Sieh an, stellte sie fest, ich mache mich über Mario lustig.
»Ich würde mich wundern, wenn wir uns wirklich veränderten«,
redete sie laut weiter, »aber wenn wir wollen, daß unsere Kinder
fortgeschrittener sind als wir, müssen wir sie unter solchen Vo r­
zeichen erschaffen.«
Der junge Mann schüttelte feierlich den Kopf.
»Vorsicht, Sie sind sentimental.«
»Ich?« rief sie beleidigt.
»Alle. Wir sind zwar int elligent, aber unsere Gefühle hinken
hinter unseren Erfahrungen her. Wir denken wie Einstein und
lieben wie Paul und Virginia.«
Sie zuckte die Achseln:
»Die Gesetze Einsteins sind nicht auf die Liebe anwendbar und
werden es auch nie sein«, sagte sie. »Die Liebe ist keine Eige n­
schaft der Natur.«
»Eben!« stimmte ihr Begleiter zu. »Eben! Das ist ja die Wurzel
allen Übels. Die Menschen können nur lieben wie das dumme
Vieh. Das ist die Tragödie der Gattung. Unsere Intelligenz gehört
zu einer Ordnung der Materie, die uns im Augenblick noch
turmhoch überlegen ist, aber wir haben Mittel und Wege en t­
deckt, um die Liebe selbst zu erfinden. Ganz klar, daß das Werk
mangelhaft ist.«
»Der Kosmos«, verkündete Emmanuelle, »ist ein Stück Perka l,
glatt und eisig. Der Mensch hat ein paar Knitterfalten hineing e­
macht, um ihn zu verschönern. Das glaubt er wenigstens: In
Wirklichkeit hat er sie gemacht, damit er sich zurechtfinden
kann!«
»Das Eisen der Zeit wird das alles ausbügeln. Kommen Sie in
ein paar Jahrtausenden zurück und sagen Sie mir, ob Sie noch
eine Spur von Ihren Schneiderkünsten finden.«
»Vielleicht wird es die Liebe nicht mehr geben«, sagte Emm a­
nuelle, »aber Spuren von ihr gewiß.«
Der junge Mann trank den Inhalt eines großen Glases in einem
Zug aus und wechselte unver mittelt den Tonfall, vielleicht sogar
das Thema:
»Mit einer Menge Leute schlafen, eine nächtliche Orgie, das ist
nichts, nur eine Laune. Was Sie hier machen? Ferien, Urlaub vom
Alltag. Sie flüchten vor einer Moral, aber sie bauen keine neue
auf.«
»Sie irren. Was ich heute nacht mache, mache ich nur, weil ich
weiß, daß es gut ist.«
»Dem Reinen ist alles rein, nichts ist unrein an sich, hat Paulus gesagt.
Aber er sagte auch: Alles ist erlaubt, aber nicht alles ist erbaulich.
Wenn Sie die We lt ändern wollen, werden Sie es bestimmt nicht
schaffen, indem Sie vor ihr fliehen und Feste feiern. Fangen Sie
an, indem Sie nach Ihrer eigenen Moral leben, und zwar nicht
nur sonntags, sondern alle Tage. Ihr Verhalten wird eine Bede u­
tung haben, wird beweiskräftig sein, wir d etwas nützen, wenn Sie
ständig so leben wie heute nacht in Maligath. Solange Sie tag s­
über eine achtbare Frau sind, ist es mir gleichgültig, ob Sie sich
nachts in einen Sukkubus verwandeln. Sie werden mir erst imp o­
nieren, wenn Sie, sagen wir einmal, Jean mit Mara verheiratet
haben. Oder wenn Sie Ihrem Mann beigebracht haben, Sie seinen
Freunden nach dem Abendessen anzubieten. Nicht heimlich,
sondern offen und so, daß es die ganze Stadt erfährt. Und nicht
zu Weihnachten oder Ostern: jeden Tag.«
Er machte ei ne umfassende Geste, wie um zu sagen, daß er
jetzt abschließend sprechen wollte:
»Schamlosigkeit, Ehebruch, Ausschweifungen, all das intere s­
siert mich nicht, wenn es nur dumme Streiche, Ausnahmen,
heimliche Spiele, läßliche Sünden sind. Wenn Sie wollen, da ß ich
Ihnen glaube, müssen Sie aller Öffentlichkeit stolz und trotzig
zeigen, daß Sie das Recht auf Nacktheit beanspruchen und daß
Sie die Freiheit beanspruchen, Lust zu empfinden und anderen
geistig und körperlich Lust zu verschaffen. Wenn Ihre Exper i­
mente gelingen, bekannt und jederzeit verifizierbar sind, wie es
bei jeder Wissenschaft sein muß, wird Ihre Umgebung lernen,
daß die amourösen Verbindungen und die synchronen fleischl i­
chen Intimitäten, die Vielfalt der Leidenschaften, von denen
keine einzige reduzierbar oder ersetzbar ist, daß alle diese Dinge
kein sinnliches Chaos sind, das auf einen Defekt der Seele zu­
rückgeht, sondern die Berufung des Erwachsenen, und daß wir
nicht länger Kinder bleiben können. Die Kindheit ödet uns an,
wir wollen nicht mehr das Mühlespiel treue Liebe, das Verstec k­
spiel eifersüchtige Liebe, das Murmelspiel enttäuschte Liebe
spielen. Wir haben genug von den Versprechungen des Tages,
den Tränen der Ewigkeit, den tödlichen Affären und den gesto r­
benen Lieben. Wir möchten uns verwi rklichen und wie Me n­
schen leben, für die es keine Ohrfeigen und Fesseln mehr gibt.«
Er schweigt. Emmanuelle erhebt sich und gibt sich Mühe, ihn
nicht zu stören. Sie fragt sich, ob sie Merv ée wohl wiederfinden
wird. Zuletzt stößt sie gegen die Beschläge der Tür. Sie hatte
eigentlich noch nicht die Absicht zu gehen, aber da sie plötzlich
vor dem Ausgang steht, geht sie. Sie durchquert eine verlassene
Galerie. Es ist warm. Sie nähert sich einem anderen Zimmer, in
dem offenbar noch Menschen sind. Und dort erbli ckt sie Mario!
Sie stößt einen freudigen Schrei aus. Er hat sie weder gehört
noch gesehen, ist allem Anschein nach zu sehr damit beschäftigt,
irgendeiner Nymphe den Hof zu machen.
Er dreht Emmanuelle zu Dreiviertel den Rücken zu. Sie nähert
sich, merkt sich sein Lachen, wirft einen Blick über seine Schulter
und sieht vor ihm einen nackten Körper. Es ist Bee.
Emmanuelle stockt der Atem. Ihre keusche Bee! Mario, dieser
Mario, der keine Frauen nimmt, mit aller Kraft seines Ge­
schlechts im Geschlecht der Geliebt en arbeitend, die sie, Emm a­
nuelle, nicht halten konnte. Sie möchte zuschauen, wird aber von
einem Tränenschleier geblendet. Sie beißt die Zähne zusammen,
dreht sich um, läuft fast durch das Zimmer, flieht, sie weiß nicht
wohin, verirrt sich, stolpert, keuc ht, hastet durch Hallen und
Flure, wo sie nichts mehr wiedererkennt.
Plötzlich steht sie jedoch vor Ariane, die mit anderen Gästen
zusammensitzt. Emmanuelle fällt vor ihr auf die Knie, legt den
Kopf auf ihre Beine.
»Bring mich fort!« fleht sie. »Ich will hier nicht bleiben. Gehen
wir!«
»Was hast du, meine Gazelle?« fragt Ariane mit sanftem Spott.
»Hat man dir weh getan?«
»Nein. Nichts. Überhaupt nichts. Ich will nach Hause.«
»Nach Hause? Aber dort ist doch niemand. Was willst du dort?«
»Dann bring mich zu dir.«
»Willst du es wirklich?«
»Ja.«
»Wirst du auch bleiben?«
»Ja, ja!«
»Und mir gehören?«
»Ich verspreche es.«
»Ehrlich?«
»Du siehst doch, ich habe niemanden außer dir!«
Ariane beugt sich vor und umarmt sie.
»Komm.«
Emmanuelle schüttelt ihre wilden Locken.
»Ich werde alles tun, was du willst.«
Ihre Freundin führt sie an der Hand über den mondbeschien e­
nen Marmor und die Rasenflächen.
»Ich bin splitternackt«, klagt Emmanuelle wie ein Kind.
»Das macht nichts.«
Während der Fahrt, im Auto, reden sie kein Wort. Emmanuel­
les Schläfe ruht an Arianes Schulter. Das Morgengrauen verlöscht
eine Straßenlaterne nach der anderen. Die Busse klingeln, und die
Obsthändler preisen ihre Ware an. Wenn die Ampeln an den
Kreuzungen rot werden und den Roadster anhalten, bleiben die
Gassenjungen stehen und sperren die Augen auf, rufen sich beim
Anblick des nackten Mädchens auf dem schwarzen Leder aufg e­
regte Bemerkungen zu.
Der Pförtner öffnet das Gittertor der Botschaft. Auf dem Fluß
vor der alten Fassade wimmeln Barken, schrillen Pfe ifen. Die
beiden Frauen gehen die Treppe hinauf, betreten Arianes Schla f­
zimmer, in dem ein schweres Parf um aus Farnessenzen hängt.
Emmanuelle wirft sich auf das Bett, verschränkt die Arme, zieht
die Beine an. Die Stimme Arianes dringt wie im Traum zu ihr.
Die Gräfin entledigt sich des Kimonos, den sie beim Verlassen
Maligaths übergestreift hat. Sie öffnet eine kleine Tür und stiehlt
sich ins Zimmer nebenan:
»Komm und schau«, sagt sie, einen Finger auf die Lippen le­
gend.
Ihr Mann steht auf, geht mit ihr zum Bett:
»Sieh nur«, flüstert sie hingerissen. »Sie gehört mir. Ich werde
sie dir leihen.«
Sie gibt ihm ein Zeichen, sich zurückzuziehen, legt sich neben
Emmanuelle, nimmt sie in die Arme, schläft ebenfalls ein.
ANNE-MARIE VILLEFRANCHE

Germaines Fitness-Training

Mit sechsundvierzig Jahren hatte Germaine de Margeville die


Figur eines athletischen jungen Mädchens. Jeden Morgen nach
dem Aufwachen zog sie ihr Nachthemd aus und stand nackt vor
einem hohen Spiegel, der an einer Wand in ihrem Schlafzimmer
hing, um ihren Körper peinlich genau von vorn, von der Seite
und von hinten zu betrachten. War ihr Rücken immer noch straff
und elastisch? War der Bauch, dieser Verräter des mittleren
Alters, immer noch flach und fest? Sie legte die Hände unter ihre
kleinen Brü ste, um zu kontrollieren, ob sie sich schon senkten.
Der Po – keine Ansammlung von Fett, die ihn herausstehen ließ?
Waren die Schenkel so schlank und muskulös wie gestern?
Ihre Figur war nicht immer so makellos gewesen. Vor fünfun d­
zwanzig Jahren, als ihre Familie die Heirat mit Georges de Ma r­
geville arrangiert hatte, hatte Germaine ein plumpes Gesicht,
einen runden Bauch und fleischige Schenkel, die der Mode zu
Beginn des Jahrhunderts entsprachen. Damals trug sie lange
Korsetts unter ihren pompösen Kleidern , um ihre Taille einz u­
zwängen und ihren Busen und den Po zu betonen. Das mochten
die Männer damals – die Stundenglas-Figur.
Nach zehn Jahren als verhätschelte Frau eines reichen Mannes,
endlosen Dinner-Partys und Lunches, allzu reichhaltigem Essen,
zuviel Wein und der Geburt ihres Sohnes war sie an ihrem dre i­
ßigsten Geburtstag – man könnte sagen – pausbäckig geworden.
Wenn sie diese Lebensart weiter fortgesetzt hätte, wäre sie mit
vierzig ziemlich sicher wabbelig gewesen.
Der Krieg änderte alles. Oder genau er, ein Mann, den sie wä h­
rend des Krieges kennenlernte. Sie genoß damals kleine Liaisons,
um eine sonst immer stumpfer werdende Ehe zu beleben. Bei
einem Wohltätigkeitsball wurde Germaine dem Major Paul Jo n­
quy vorgestellt, einem Offizier, der nicht am Kamp f teilnahm
und eine undefinierbare Rolle in der Führung des Kriegsminist e­
riums in Paris spielte. Ganz nebenbei wurden sie Liebhaber, bis
sich herausstellte, daß er einen fruchtbaren Einfluß auf ihr Leben
hatte.
Jonquy war ein Gesundheitsfanatiker. Sommer wie Winter
stand er in der Frühe auf, um im Bois de Bologne zu reiten, egal
ob es regnete oder die Sonne schien, ob Matsch oder Schnee lag.
Er trainierte mit Eisengewichten, er schwamm in der Seine, er
focht, er schoß, er jagte, er ruderte. Er rauchte nie und trank
mäßig.
Gegensätze ziehen an, sagt man. Mit der Zeit entwicke lte Ger­
maine zu diesem ungemütlichen Mann eine so starke Bi ndung,
daß sie ihn nachahmte. Er war von ihrer Bewunderung ge­
schmeichelt und entzückt, eine Diät und ein Training für sie
zusammenzustellen. Wann immer es ihm seine Büroverpflic h­
tungen erlaubten, überwachte er ihre Übungen persönlich. Nach
nur zwölf Monaten hatte Jonquy Germaine auf ein vernünftiges
Gewicht gedrückt, ihre Körperhaltung verbessert und ihre Mu s­
keln unglaublich gestärkt.
Nach dem Krieg, als die Mode zu leichteren und einfacheren
Modellen überging, hatte Germaine schon die perfekte Figur
dafür. Sie konnte alles ohne Büstenhalter oder Korsett tragen
und wunderbar darin aussehen. Lange nachdem Jonquy aus
ihrem Leben versc hwunden war, setzte sie ihre Diäten und
Übungen fort und war infolgedessen die gesündeste Person, die
sie kannte.
Sie eignete sich auch die exzentrischen Ansichten des Majors
zur Sexualität an. Für ihn war sie ein notwendiger Bestandteil der
täglichen Fitness-Routine. Er war mit Frauen zusammen, weil er
glaubte, daß sie von Wichtigkeit für seine Gesundheit waren.
Bevor sie ihn kennenlernte, hatte Germaine die Liebe wie alle
Frauen ihres Bekanntenkreises betrachtet. Mit ihrem Mann war
sie eine eheliche Pflicht mit dem Zweck eingegangen, ihm Kinder
zu schenken; mit anderen Männern war es Erholung um ihrer
selbst willen. Von Jonquy lernte sie, daß die Liebe für einen
gesunden Geist in einem gesunden Körper eine Notwendigkeit
war. Sicher vergnüglich, aber das war nicht der springende Punkt.
Die routinemäßige Inspektion ihres Körpers war beendet, und
Germaine begann mit ihren Übungen. Ihr Mann blieb davon
ungestört, da er in einem eigenen Schlafzimmer schlief und seit
etlichen Jahren kein sexuelles Interesse mehr an ihr gezeigt hatte.
Seine Bedürfnisse wurden von einer attraktiven jungen Frau, die
er heimlich in einer kleinen Wohnung in Neuilly untergebracht
hatte, befriedigt. Nur er glaubte, daß dieses Arrangement geheim
war, aber Germaine wußte davon und fand es vernünftig.
Georges war zehn Jahre älter als sie, hatte Übergewicht und war
träge vom üppigen Lebenswandel – kurz, er war im Bett nicht
überzeugend. Die kleine Freundin in Neuilly mußte nach Ge r­
maines Einschätzung hart arbeiten.
Die morgendlichen Übungen begannen mit den Beinen. Die
Füße eng nebeneinander, auf Zehenspitzen, mit ausgestreckten
Armen, beugte sie die Knie nach außen und ging langsam nach
unten, bis ihr Po die Fersen berührte. Sie hielt diese Position, bis
sie bis fünf gezählt hatte, dann streckte sie langsam die Beine und
richtete sich wieder auf. Und das fünfundzwanzigmal hinterei n­
ander. Die ganze Zeit über betrachtete Germaine ihren nackten
Körper im Spiegel, studierte das Muskelspiel ihrer Schenkel und
ihres Bauches. Dann kam die Rückenübung : sie beugte sich mit
ausgestreckten Beinen vornüber und legte ihre Handflächen flach
zwischen ihre Füße auf den Boden. Fünfundzwanzigmal! Es
folgte das Training mit den Arme n… und so weiter. Germaines
übliche Morgengymnastik würde jeden Durchschnittsmensc hen,
dem Zusammenbruch nahe, wieder ins Bett taumeln lassen. Für
sie war das gar nichts. Als die Übungen beendet waren, ging sie
ins Bad, um den gesunden Schweiß, der auf ihrer Haut glän zte,
abzuwaschen.
Ihre sexuellen Übungen waren nicht weniger wichtig, und die­
ser Teil ihres täglichen Trainings wurde sorgfältig vorausgeplant.
Seit der Zeit mit dem Major hatte sie unglücklicherweise erfahren
müssen, daß sie sich nicht auf einen Mann verlassen konnte, der
sie mit dem für sie notwendigen täglichen Training versorgte.
Einmal pro Tag war ihre Norm, obwohl sie sich bei zweimal
täglich wohler fühlte. Wenn die Umstände günstig waren, waren
sogar dreimal akzeptabel, aber was darüber hinausging, wäre nur
bloßer Exzeß gewesen. Also hatte sie ihre Stammleute, die sie
abwechselnd benutzte, und meistens hatte sie einen Liebhaber im
Schlepptau, den sie anrufen konnte, um die tägliche Frequenz auf
zwei zu erhöhen, obwohl er das natürlich nicht wissen durfte.
Einer, der regelmäßig aushelfen mußte, war ihr Masseur, der
jede Woche Dienstag und Donnerstag morgens zu ihr nach Haus
kam. Er war unglaublich groß und breitschultrig, wie es die
Schweden oft sind, mit einem ausdruckslosen Gesicht unter
einem Dach aus kurzem, strohfarbenem Haar. Seine Zeit war elf
Uhr morgens, wenn George das Haus verlassen hatte.
»Guten Tag, Madame«, sagte er in furchtbarem Französisch,
wenn das Mädchen ihn in Germaines Schlafzimmer schob. »Wie
geht es Ihnen, bitte?«
»Sehr gut, Olof.«
Germaine zog ihren Morgenmantel aus und legte sich bäuc h­
lings nackt auf das Bett.
»Gut, gut«, sagte er, zog an seinen Fingergelenken, um sie au f­
zulockern, bevor er ein bißchen wohlriechendes Öl auf ihrem
Rücken verteilte.
Olofs Hand war so groß wie eine Schaufel, und sein ganzes
Talent war in ihnen konzentriert. Er begann mit Germaines
Nacken und lockerte ihre verspannten Muskeln und Sehnen.
Dann arbeitete er sich an ihrem Rückgrat entlang langsam tiefer
hinunter, und seine Finger schienen jeden Wirbel einzeln sanft zu
massieren, was einen Zustand von unglaublicher Entspann ung
erzeugte. Als er die Spalte zwischen ihren Gesäßbacken erreichte,
war Germaine angenehm schläfrig. Seine starken Finger befüh l­
ten ihre herrlichen Backen, um noch etwaige Muskelspannungen
zu lockern, bevor er die Rückseite ihrer Schenkel hinunterglitt,
um die Sehnen zu glätten, und dann zu ihren Waden, die er
fachmännisch auflockerte. Germaine war während seiner Be­
handlung halb eingeschlafen.
Der Schwede ließ sie ungestört eine Weile liegen, während er
zurücktrat, um seine Finger geschmeidig zu machen un d seine
Arme auszuschütteln.
»Bitte, drehen Sie sich um, Madame. Ich mache nun die andere
Seite, ja?« Germaine drehte sich mit geschlossenen Augen träge
herum, und er begann wieder zu arbeiten. Olofs Behandlung
bestand aus zwei verschiedenen Teilen. Zuerst massierte er den
Rücken, um körperliche und geistige Spannungen zu lindern.
Danach bearbeitete er die Vorderseite des Körpers, als ob er
stärkste erotische Erregung erzielen wollte. Wegen seiner Ge­
schicklichkeit in beiden Teilen der Behandlung war er bei den
Damen in Germaines Alter gesucht, und er wurde gut bezahlt. Er
träufelte ein wenig von dem süß riechenden Öl in die Schlucht
zwischen Germaines Brüsten, und seine gigantischen, aber zärtl i­
chen Hände streichelten es ihr in die Haut an Schultern und
Brüsten ein, womit er eine gewisse Vorfreude aufbaute. Im rec h­
ten Moment massierte er ihre Brüste mit langsam kreisenden
Bewegungen, und seine Handflächen streiften ihre Brustwarzen.
Ihr entspannter Atem wurde schneller und betonter.
Olof kannte seine Kunden und nahm sich Zeit. Erst als Ge r­
maines Brustwarzen so sensib ilisiert waren, daß seine Berühru n­
gen für sie fast qualvoll waren, bewegte sich seine Hand unter
ihren Brustkorb. Seine Finger wühlten sich in das Fleisch ihres
Bauches und rührten aufreizend an ih ren inneren Organen.
Mittlerweile seufzte sie laut. Er strich weiter abwärts, sobald er
sah, daß sie bereit war, und seine Finger massierten ihren Liebe s­
hügel unter ihrem gepflegten Pelz. Germaines Beine spreizten
sich automatisch, um ihm Zugang zu ihren Leisten und zu den
Innenseiten ihrer Schenkel zu gewähren. Die öligen Fingerspi t­
zen strichen auf der weichen Haut fest hinauf, von den Knien bis
zum Damm, ein dutzendmal wiederholt, und das brachte sie
dazu, ihre Knie aufzustellen und ihre Fersen nahe neben ihren Po
zu stellen, sich selbst völlig und schamlos zu öffnen für die Au f­
merksamkeiten des Masseurs. Bald waren seine riesigen Daumen
wunderbar in ihr und strichen weich über jenen Körperteil, den
Frauen mit Wonne gestreichelt haben wollen.
Für viele von Olofs Kundinnen waren das die letzten Mome n­
te, wenn seine gewandten Daumen ihnen den Höhepunkt der
Lust bescherten. Nicht so bei Germaine. Ihre Beine hoben sich
über das Bett, sie schwang sich ihm entgegen und verschränkte
ihre Knöchel hinter seinem Nacke n, um ihn an sich zu drücken.
Ohne Hast oder Erregung knöpfte sich Olof die Hose auf, stec k­
te sein ewig bereites Glied in ihr erwartungsvolles Gefäß und
schlang seine muskulösen Arme um ihre Beine. Germaine war
schon durch seine Massage so weit erregt, daß sie ein paar Stöße
zum Kochen brachten. Sie zitterte, stöhnte und kochte über.
Olof hielt noch eine Weile durch, bis sie fertig war, dann zog er
sich zurück und legte sie wieder vorsichtig auf das Bett. Er packte
seine Massageausrüstung weg und wartete höflich.
»Ich danke Ihnen, Olof. Sie sind der beste Masseur von Paris.«
Sein Honorar lag die ganze Zeit über auf dem Nachttisch in
seinem Blickfeld bereit, für den Fall, daß er irgendwelche Inspira­
tionen benötigte. Er steckte das Geld ein und sagte: »Danke,
Madame, ich komme wieder am Donnerstag, ja?«
Mehr als einmal hatte Germaine überlegt, ob sie ein paar Tage
mit ihm wegfahren sollte. Irgendwo in ein kleines Hotel in der
Provinz, schön weit weg von Paris, wo es kein Risiko gab, von
irgendeinem Bekannten ge sehen zu werden. Was für glückselige
Tage würden sie genießen. Sie könnte sich nac h dem Frühstück
massieren lassen und dann einen Strei fzug durch die Gegend
unternehmen. Noch eine Massage nach einem leichten Lunch,
dann ein kurzes Schläfchen. Später dann ein sorgfältig ausgewähl­
tes Dinner und eine weitere Massage vor dem Zubettgehen. Sie
war völlig sicher, daß drei oder vier Tage dieser Behandlung
wahre Wunder für ihre Gesundheit vollbringen würden.
Sie war überzeugt, daß Olofs Standhaftigkeit der Aufgabe ge­
wachsen wäre. Wenn seine Hand ihren Körper berührte, war das
so wirkungsvoll, daß ein minimaler Aufwand genügte, um sein
Werk zu vollenden. Seitdem sie seine Dienste in Anspruch nahm,
hatte er sich nie erlaubt, mit seinen Kräfte n Raubbau zu treiben.
Kein Zweifel, er hatte sich in Körperbeherrschung geübt und war
daher in der Lage, täglich mehrere Kundinnen mit seiner profe s­
sionellen Hilfe zu beglücken. Wenn ihn Germaine ein paar Tage
für sich allein hätte, würde die Belastung eher auf seinen Armen
und Schultern als auf einem leichter zu erschöpfenden Körperteil
von ihm liegen. Die Idee, mit ihm wegzufahren, war ausgespr o­
chen verlockend, das Problem war nur, diese Idylle in ihr sehr
geschäftiges Gesellschaftsleben einzubauen.
Zweimal die Woche, montags und freitags, nahm Germaine
Stunden bei Gaston Doucet an dessen Fechtschule. Ihr Interesse
an diesem Sport war ein weiteres Vermächtnis des galanten
Major Jonquy. Wieder war hier eine doppelte Absicht im Spiel –
die Stunden waren unübertrefflich, um sie geschme idig und fit zu
halten, und zweitens war der Fechtmeister ein entgegenkomme n­
der Mann.
Ihr gewöhnlicher Weg zu Doucets Akademie war ein bißchen
umständlicher als nötig, aber das hatte sie eingeplant, um den
großartigen Blick über den Pont d’J ena auf ihre Li eblings-
Sehenswürdigkeit von Paris, den Eiffelturm, zu haben. Der
Anblick dieses großen und verwegenen, metallenen Baues ließ sie
unvermeidlich erschauern. Er stand so unverschämt aufrecht, so
überaus proportioniert. Er war so elementar maskulin, wie er da
so steil in den Himmel hinein aufragte.
In dem Umkleideraum, der eigens für sie in Doucets Akademie
eingerichtet worden war, entkleidete sich Germaine bis zur Un­
terwäsche und zog das obligate weiße Hemd und die Jacke an.
Das Hemd war aus einem Material, das dick genug war, um einen
Stoß, der durchgehen und sie verletzen könnte, aufzuhalten. Die
Jacke, unter ihrem rechten Arm bis hinunter an der Seite zu
knöpfen, war aus Segeltuch. Ringe aus gedrehten Seilen waren
zwischen das Segeltuch und das Leinen gesch oben, um ihre
kleinen Brüste vor Treffern zu schützen. Sie zog Stulpenhan d­
schuhe an, die am Handrücken und am Handgelenk verstärkt
waren, und so ging sie mit der Maske unterm Arm und dem
Degen in der Hand auf den Lehrer zu, um ihn zu begrüßen.
Doucet war selbst Soldat gewesen, bis er 1917 zum Invaliden
geworden war. Glücklicherweise erholte er sich völlig von seiner
Verwundung. Er behielt seinen militärischen Stil bei, den
Schnurrbart und die gebieterische Art, mit der er andere ansprach
– Germaine ausgenom men. Er behandelte sie mit überlegtem
Respekt, seit das übertrieben hohe Honorar, das er für seine
Stunden bekam, einen wichtigen Teil seines Einkommens da r­
stellte.
Quer durch den Saal gingen sie aufeinander zu, und Doucet
verbeugte sich.
»Guten Tag, Madame de Margeville.«
»Guten Tag, Captain Doucet.«
Sie zogen ihre aus Draht gefertigten Masken über und grüßten
einander, Degen nach oben und die Hand in gleicher Höhe mit
den Lippen. Sie drehten ihre Körper seitwärts, um sich gegense i­
tig ihre Rechte zu präsen tieren, der rechte Arm war weit ausg e­
streckt – bis ihre Degenspitzen sich beinahe berührten –, um sich
in die richtige Distanz zueinander zu begeben.
»En garde, Madame«, sagte Doucet, und beide gingen in Kamp f­
stellung, den Körper aufrecht und auf gebeugten Knien gut
ausbalanciert; bereit, wie Springfedern zu reagieren, den linke n
Arm als Gegengewicht nach hinten hochgehalten.
Die Klingen kreuzten sich im Täuschungsmanöver, schlüpften
umeinander herum, und jede von ihnen suchte nach einer Öf f­
nung für einen raschen Ausfall. Germaine attackierte, ihre Klinge
wurde blockiert, sie parierte den Gegenstoß, und es ging in die
zweite Runde. Die Klingen klirrten und rangen miteinander, die
Füße stampften und scharrten, wenn sie vor- und zurückhüpften.
Die ganze Zeit prasselte Doucets Kommentar zu Bewegungen
und Stil auf Germaine nieder, lobend, kritisierend, beratend,
anweisend. Seine Klinge tanzte vor ihm, immer genau in der
richtigen Position, um einen Angriff zu parieren, immer attacki e­
rend. Er drängte sie zurück, erlaubte ihr, sich zu sammeln, zog
sich zurück, wenn sie vorkam, parierte dann ihre Angriffe müh e­
los. Germaine wußte, daß sie eine gute Fechterin war, aber Do u­
cet war ein Meister, nur ganz zum Schluß der Stunde war sie
imstande, unter seine Klinge zu schlüp fen und einen Stoß auf
seiner Brust zu landen.
»Touché, Madame«, sagte er sofort.
Da dies am Ende der Stunde jedesmal passierte, wußte sie, daß
es von ihm geplant war, um sie zu ermutigen.
Sie zogen ihre Masken herunter und grüßten sich mit den De­
gen. Germ aines Gesicht war vor lauter Anstrengung gerötet,
Doucets überhaupt nicht.
»Das war aufheiternd«, sagte sie.
»Sie sind ein guter Schüler, Madame.«
Doucet begleitete sie unter dem Vorwand, ihr bei den Knöpfen
an ihrer Tunika helfen zu wollen, zu ihrer priva ten Umkleideka­
bine. Für diesen Teil des Spiels gab es Regeln, die sorgfältig
ausgearbeitet und formell waren wie die des Fechtkampfes, und
beide verstanden und beherrschten sie. Diese Regeln hatten
einen guten Grund.
Im sozialen Status stand Doucet höher als Olof Elkstrom, der
Masseur. Der Schwede rangierte nur wenig höher als ein Bedie n­
steter. Er erledigte seine Dienste und wurde dafür bar bezahlt.
Doucet war ein ehemaliger Offizier, der in einer altehrwürdigen
und vornehmen Fertigkeit Unterricht gab und dafür ein Gehalt
bezog. Germaine sprach den Masseur mit Olof an, wie sie auch
einen Bediensteten mit dem Vornamen anreden würde, während
er ihr gegenüber eine formelle Anrede gebrauchte. Doucet sprach
sie auch förmlich an, und sie tat dies bei ihm ebenfalls , um anzu­
deuten, daß sie ihn mit gewissem Respekt behandelte.
Als die Tür des Umkleideraumes vorsorglich gegen Störungen
abgesperrt worden war, stellte sich Germaine mit ausgestreckten
Armen vor Doucet, während er mit größter Höflichkeit ihre
Fechtjacke au fknöpfte und ihr heraushalf. Unter dem dicken
Segeltuch war ihr Körper in Schweiß gebadet.
»Erlauben Sie«, sagte er, als er ihr Hemd auszog und es zu ihren
Füßen gleiten ließ. Er kniete sich nieder, half ihr aus den Schuhen
und rollte ihre Strümpfe hinunter.
»Das ist besser«, sagte sie und stand nun nur mit einem Crêpe
de Chine-Höschen bekleidet da. »Wie heiß einem in diesen Kle i­
dern wird.«
»Sie würden es sicher erfrischend finden, wenn ich Sie mit ei­
nem Schwamm abwasche«, schlug er vor.
»Eine sehr gute Idee.«
All das stand in ihren unausgesprochenen Regeln. Eine große
Schale mit lauwarmem Wasser stand in Reichweite. Doucet
breitete ein Handtuch auf dem Boden aus, während Germaine
ihre Wäsche abwarf. Sie stand nackt auf dem Handtuch, stolz
zeigte sie ihren athletischen Körper und streckte die Arme hoch,
während Doucet sie mit einem Sc hwämmchen vorsichtig abtupf­
te.
Er arbeitete fachmännisch und gewissenhaft unter ihren Ar­
men, zwischen ihren Brüsten, unter ihrem Kinn, dort, wo ihr
Rücken schmaler wurde, quer üb er ihrem Bauch und zuletzt
zwischen ihren Schenkeln.
Während er mit dieser angenehmen Pflicht beschäftigt war,
machte er ihr Komplimente bezüglich ihrer Figur und ihrer
Kondition. Natürlich sprach Doucet mit der Autorität eines
Mannes, der sich in körperli cher Fitness auskannte und sie sehr
schätzte, seit er sie selbst als einen Teil seines Berufes ausführte.
Germaine schätzte seine Meinung über ihren Körper sehr hoch.
Umständlich wickelte er sie in ein anderes Handtuch, um sie
abzutrocknen.
»Ich hoffe, die Stunde hat Sie nicht ermüdet«, sagte er mit se i­
ner üblichen Höflichkeit. »Sie zittern leicht.«
Es gab gute Gründe dafür, wie man verstehen wird, und die
hatten absolut nichts mit Müdigkeit zu tun.
»Sie haben eigentlich recht«, antwortete Germaine, ihrer Rolle
gemäß. »Meine Beine sind ein bißchen müde. Ich möchte mich
gern ein wenig ausruhen, bevor ich mich wieder ankleide.«
»Darf ich Ihnen einen Stuhl anbieten?«
»Danke – aber er sieht so unbequem aus.«
»Ich fürchte, Sie haben recht. Der hölzerne Sitz ist hart. Ich
muß vor Ihrem nächsten Besuch ein Kissen besorgen.«
»So wie Sie es schon einmal versprochen haben.«
»So, habe ich das? – Mein Gedächtnis ist nicht mehr so gut wie
früher. Ich werde es mir aufschreiben.«
»Nicht nötig. Warum setzen Sie sich nicht zuerst?«
»Natürlich – es ist mir eine Ehre, Ihr Kissen zu sein für Ihre
Ruhepause.«
Doucet – immer noch in seiner weißen Fechtkleidung – setzte
sich mit kerzengeradem Rücken und mit ausgestreckten Beinen
auf den Stuhl. Mit einem Lächeln setzte sich Germaine, das
Gesicht ihm zugewandt, rittlings auf seinen Schoß – um ihre
Füße auszuruhen.
»Sitzen Sie einigermaßen bequem?« erkundigte er sich.
»Ja, danke. Ich zweifle, ob Sie es in diesem Anzug auch bequem
haben. Vielleicht kann ich Ihnen helfen…«
Der Anzug des Meisters endete nicht an der Taille, aber er hatte
eine dreieckige Lasche, die zwischen seinen Beinen hindurc h­
führte und am Rücken verschlossen war – als Vorsichtsmaßnah­
me für den Fall, daß ein ungeschickter Schüler durch seine Ab­
wehr schlüpfte und den Körper teil traf, der für eine solche Ve r­
letzung zu empfindlich war. Germaine griff hinter ihn, um die
Lasche zu öffnen, und er nützte die Gelegenheit, ihre Brüste
galant zu küssen. Seine Hände lagen auf ihren nackten Schenkeln
und strichen über sie, als würde er ein Pferd striegeln.
Germaine löste die Schlaufe, zog sie zwischen seinen Beinen
durch und drehte sie nach oben, um an die Knöpfe an der Hose
zu kommen.
»Oh, was ist das?« fragte sie. »Eine versteckte Waffe?«
»Sie haben mein Geheimnis entdeckt«, sagte er.
»Aber geziemt es sich denn für einen Sportsmann, noch eine
Waffe wie diese so zu verstecken?«
Als sie diese Frage stellte, umfaßte sie diese Waffe zärtlich.
»Vielleicht erinnern Sie sich, daß es einen speziellen Fechtstil
gibt, in dem ich Sie schon mehr als einmal unterrichten wollte.
Der Stil unserer Vorfahren – Schwert und Dolch gemeinsam.«
»Ich persönlich bevorzuge jedes einzeln – zuerst das Schwert,
denn den Dolch.«
»En garde, Madame«, rief Doucet, als ihn ihre Hand kurz ribbelte.
»Gut gesagt, obwohl ein bißchen spät, soweit ich sehe, sind Sie
schon bereit. Ihre Klinge hat ein außergewöhnliches Aussehen –
ist es italienisch oder spanisch, vielleicht aus Toledo?«
»Sie ist rein französischen Ursprungs, Sie können da ganz sicher
sein; und weit besser als die importierten Waffen.«
»Ausgezeichnet«, sagte Germaine.
Sie richtete sich auf, visierte die Klinge an und sank nieder, um
sie in ihr weiches Fleisch einzuführen.
»Wie Sie wissen, bin ich Patriot«, erläuterte Doucet.
»Wenn doch mehr Franzosen so patriotis ch wären wie Sie und
bereit, im Augenblick der Warnung, wenn der Ruf zu den Waffen
erschallt, alles zu geben«, seufzte Germaine, »aber ich fürchte, wir
leben in einer degenerierten Zeit.«
Doucet hielt sie an den Hüften, als sie auf seinem Schoß rasch
vor und zurück glitt.
»Die Zeiten haben sich geändert«, sagte er, und eine Schwei ß­
schicht trat ihm auf die Stirn, als sich seine Gefühle steigerten.
»Der Krieg hat Frankreich um das Beste beraubt«, quetschte
Germaine heraus, »aber etwas Galanterie hat überlebt, und Sie
sind ein wahrer Patriot. Ich schätze Sie hoch dafür.«
Doucets durchdringende braune Augen wurden weicher und
unscharf. Germaines Hand lag auf seiner Schul ter, ihre Finger
gruben sich in das dicke weiße Jackett, als ihr Reiten fordernder
wurde. Da nn – als die Natur ihren vereinbarten Lauf nahm –
schüttelte es ihn unter ihr, und er stieß ein halbes dutzendmal
nach oben. Germaines Kopf flog scharf zurück, ihr Mund stand
offen, und sie stieß eine Serie abgehackter Schreie aus, als sie
ihren gesundheitsfördernden Höhepunkt erreichte.
»Das war äußerst erheiternd«, verkündete sie, und sie benutzte
die gleichen Worte wie nach der Fechtstunde. »Sie sind ein ers t­
klassiger Lehrer.«
Sie kletterte von ihm herunter und bediente sich selbst mit
Schwamm und Waschs chüssel. Nach einiger Zeit kehrte sie zu
ihm zurück, Doucet war aufgestanden und wieder ordentlich
angezogen.
»Wenn Sie mich entschuldigen wollen«, verbeugte er sich vor
ihr. »Ich habe jetzt eine Stunde.«
Germaine zahlte ihn natürlich nicht in bar. Die Rec hnung für
ihre Stunden wurde monatlich per Post überwiesen und war in
ihre normalen Haushaltsausgaben miteinbezogen.
Zusätzlich zu dem Masseur und dem Fechtmeister hatte Ge r­
maine noch eine Reihe anderer Männer verfügbar, die ihre Be­
dürfnisse zu bedienen hatten. Nicht daß sie eine Frau war, die
jeden nahm oder unmoralisch gewesen wäre – sie hätte jede
dieser Vermutungen als empörend und beleidigend angesehen.
Es ging einfach darum, sich in bester Kondition zu halten, und
dafür waren täglich gewisse Aktivitä ten nötig. Als eine Frau mit
Verstand traf sie die geeigneten Arrangements.
Zweimal im Monat besuchte sie ihren Arzt für eine Generalu n­
tersuchung. Dr. Massanet empfing sie mit Stil, denn sie war eine
wichtige und einflußreiche Patientin. Nachdem sie Höflic hkeiten
ausgetauscht hatten und er sich über den Allgemeinzustand ihrer
Gesundheit unterrichtet hatte, bat er sie, sich auszuziehen. Ob es
nun notwendig war oder nicht, wer kann das zwischen Doktor
und Patient schon sagen? – Germaine kleidete sich jedenfal ls
völlig nackt aus. Massanet legte sein Stethoskop an ihre Brust,
um die starken und regelmäßigen Herzschläge abzuhören. Er
überprüfte ihr Gewicht, schaute ihre Augen und Ohren an,
tastete ihre Leber ab und befühlte ihre Brüste eingehend auf
irgendwelche ungünstigen Entwicklungen. Es gab natürlich
keine. Germaine war so stark wie ein Pferd. Nachdem er seine
Untersuchungen beendet hatte, ging der gute Doktor an die
gynäkologische Untersuchung – weil Germaine immer darauf
bestand, und er hatte seine eigenen guten Gründe, sie sowohl
finanziell bei Laune zu halten wie auch persönlich.
Germaine lag aus seiner Couch, die Knie aufgestellt und ge­
spreizt, während Massanet ihre intimen Körpergegenden sehr
gründlich inspizierte. Die regelmäßige Untersuchung dieser
Körperteile hielten sie in ausgezeichnetem Zustand, das war
sicher, und der Doktor machte normalerweise komplimentartige
Bemerkungen, die sie angenehm berührten. Die Vorunters u­
chung verlief noch nach einem Standardmuster, obwohl Mass a­
net die Inspektion weit über die von anderen Pariser Ärzten für
notwendig erachtete Routine hinauszögerte. Nur wenn Germaine
in einem Zustand intensiver Vorfreude war, ging er zum näc h­
sten Teil der Untersuchung über.
Diese letzte und wichtigste Phase wich von den normalen me­
dizinischen Praktiken ab. Gesehen und befühlt war alles in bester
Ordnung, aber von au sschlaggebender Wichtigkeit für Massanets
Methode war die Notwendigkeit, ihre innere Empfindlichkeit zu
testen. Germaine stimmte mit ihm in dieser Angelegenheit völlig
überein.
Der Test erforderte, sie zu besteigen und mit heruntergelass e­
ner Hose jenen Körperteil zu erforschen, der von einer gütigen
Vorsehung dazu bestimmt war, in die weiblichen Lustorgane
einzutauchen. Er forschte sehr gewissenhaft, weil er ein gewi s­
senhafter Ma nn war und weil er die Interessen seiner Patienti n­
nen immer im Kopf behielt. Er brauchte eher länger dafür, als
Germaine es für ihre eigene Befriedigung für notwendig hielt,
aber sie berücksichtigte, daß er ein sorgfältiger und vertrauen s­
würdiger Mann war. Verständlicherweise war es für ihre anda u­
ernde gute Gesundheit von Interesse, daß er so gewissenhaft war,
wie er es nur wollte. Sie verließ Dr. Massanet nach jeder Visite
mit einem warmen Gefühl der Befriedigung.
An gewissen Tagen machte sie noch einen an deren regelmäßi­
gen Besuch, und zwar in einer Boutique in der Rue de la Paix, in
der hochmodische Schuhe verkau ft wurden. Der Manager be­
diente sie ausnahmslos selbst in einem privaten Ankleideraum.
Sein Name war Roger, und er war ein gutgebauter Mann Anfang
Dreißig. Er verstand Germaines Forderungen perfekt, wie es sich
für einen guten Geschäftsmann gehört, wenn er kommerziell
erfolgreich sein will. Germaine kaufte nicht bei jedem Besuch
Schuhe, denn das war auch nicht jede Woche erforderlich. Ein
Dutzend Pa ar pro Jahr waren ihr genug, und sie bezahlte gern
einen speziellen Preis für die spezielle Behandlung, die sie erhielt.
Noch wichtiger für den Manager der Boutique war, daß sie ihren
Freunden erzählte, wo sie die Schuhe kaufte und seine Waren
weiterempfahl; das machte sie zu einer wertvollen und einflußre i­
chen Kundin.
»Ich habe diese klassisch eleganten Abendschuhe«, so pflegte
Roger zu beginnen, wenn sie es sich im privaten Raum bequem
gemacht hatte, »goldenes Ziegenleder mit einem Hauch von
Verzierung. Sie würden Sie wunderbar kleiden, da bin ich sicher.
Lassen Sie sie mich Ihnen anziehen, damit Sie selbst urteilen
können.«
Er ließ sich auf ein Knie nieder, bevor er ihre Straßenschuhe
auszog und seine letzte Kreation ihren Füßen anpaßte. Und
nachdem er ih r drei oder vier Paar Schuhe anprobiert hatte,
nahm er einen Fuß in die Hand und massierte ihn.
»Was für einen edlen und wohlgeformten Fuß Sie haben«, sagte
er. »Es ist ein Vergnügen, solche Füße zu sehen.«
»Wie Sie wissen, turne ich täglich«, sagte Germai ne, »ich stelle
mich auf die Zehen, rolle auf und ab, damit ich den Ballen stä r­
ke.«
»Mit einem vorzügliche n Ergebnis. Und natürlich macht die
Übung auch die Waden so anmutig.«
»Für die Waden ist auch mein Fechtunterricht gut.«
Dann massierte Roger sanft ihre Waden, um ihre feinen Seiden­
strümpfe nicht zu ruinieren.
Germaine zog ihren Rock ein bißchen hinauf, um ihn zu erm u­
tigen, und sofort erging er sich in feurigen Reden über die Sy m­
metrie ihrer Schenkel, wenn seine Hand über das weiche Fleisch
zwischen Strumpfende und Unterwäsche strich.
»Was für ein Privileg, eine so modische Frau wie Sie zu bedi e­
nen. Ich handle leider nur mit Schuhen, aber wenn ich die Ehre
hätte, für Sie Kleider zu entwerfen – was für eine Pracht an
Unterwäsche würde ich für einen so ges chmeidigen Körper
kreieren!«
Germaine wollte nur ein wenig über die Schenkel gestreichelt
werden, bevor sie sie spreizte und seiner Hand erlaubte, unter die
losen Teile ihres Höschens hinauf zuschlüpfen und ihre gehei m­
sten Regionen zu erforschen. Und nur wenig war notwendig,
bevor sie für ihn bereit war. Roger verrichtete seine Aufgabe gut,
stieß energisch in sie, bis ihre kleinen Schreie ankündigten, daß
sie ihren gesundheitsspendenden Höhepunk t erreicht hatte. Daß
die Vertonung ihres Vergnügens auch für die rabenschwarze
junge Assistentin im Geschäft draußen hörbar war, störte sie
nicht im geringsten. Sie vermutete, daß das Mädchen Rogers
Mätresse war, und irgendwie trug das nur zu ihrer Befriedigung
bei.
Eine interessante Person in Germaines Planung war ihr Beicht­
vater. Sie hielt die Tradition und gleichermaßen die Religion
streng hoch, betrachtete sie als die Eckpfeiler der Zivilisation.
Beseitige sie und man könnte nicht mehr erwarten, als daß sich
Ausschweifung wie zur bolschewistischen Revolution in Ru ßland
breitmachte. Früher ging sie zur Beichte in die Kirche, aber
nachdem sie Pater Davids Brauchbarkeit für einen anderen
Zweck neben der Vergebung der Sünden erkannt hatte, richtete
sie es so ein, daß er jede Woche zu ihr nach Hause kommen und
ihre Beichte privat abnehmen konnte.
Der gute Pater war schon lange kein Jüngling mehr, und ob­
wohl der Geist willig war, war das Fleisch schwach. Germaine
fand sich zunehmend damit beschäftigt, die Dinge zu einer be­
friedigenden Lösung zu bringen. Nicht daß sie sich am Ende
etwas daraus machte. Es war, alles in allem, eine Form des Tra i­
nings, und es schien schon anstrengend genug, daran zu arbeiten.
Die Zeit verging, und sie wurde sich bewußt, daß ihr Beichtvater
einer beschämenden Biegsamkeit unterlag, wenn sie sich nach
Härte und Zuneigung sehnte. In Gedanken an ihr e großzügige
Stiftung für gute Zwecke an seine Gemeinde schlug Pater David
schließlich vor, daß in Zukunft sein Assistent die Beichte hören
sollte; sie stimmte dem schnell zu.
Pater Pierre stellte sich se lbst in der nächsten Woche bei ihr
vor. Germaine schätzte seine breiten Schultern und sein gesundes
Aussehen. Sie zogen sich in ihr Boudoir zurück, wo für ihn ein
aufrechter Stuhl und für sie daneben ein Kissen bereitstanden,
auf dem sie knien konnte. Wie es sich für den Besuch des Pri e­
sters gehörte, trug Germaine einen einfachen grauen Rock –
schlicht, aber elegant. Pater Pierre – eine imponierende Figur in
seiner schwarzen Soutane – setzte sich. Germaine kniete sich
neben ihn und begann mit den Worten, di e sie schon als Kind
gelernt hatte.
»Segne mich, Vater, denn ich habe gesündigt.«
Darauf folgte die Aufzählung der Ereignisse der Woche. Kö r­
perliche Beziehung zum Masseur, zweimal; mit dem Fechtme i­
ster, zweimal; mit zwei Freunden, zweimal mit dem einen und
dreimal mit dem andere n… und so weiter. Am Ende der Liste
ihrer fleischlichen Sünden fragte sie Pater Pierre nach Vergehu n­
gen des Stolzes, des Hasses, der Unbarmherzigkeit, des Zorns,
der Faulheit, der Gefräßigkeit – keine davon hatte sie zu beichten
– un d anderen Handlungen, die die Kirche und die Heilige
Schrift als sündhaft brandmarkt. Als er sicher war, daß sie alles
Wichtige ausgegraben hatte, sagte er: »Das ist das erste Mal, daß
ich Ihre Beichte höre, mein Kind. Vater David hat mich über die
Sache unterrichtet, aber ich bin nicht sicher, ob ich die Absolut i­
on jetzt erteilen soll oder später. Wie macht er das immer?«
»Später«, antwortete Germaine, »ansonsten müßten Sie es wi e­
derholen, um eine Sünde mehr einzuschließen.«
»Richtig. Später würde in Zeit und Aufwand ökonomischer
erscheinen.«
Er stand auf und drehte seinen Stuhl, so daß er sie ansah, als sie
kniete.
»Legen Sie Ihre Arme auf den Sitz und Ihren Kopf darauf«,
instruierte er sie.
Sie gehorchte so fort, angenehm berührt, daß er stark genug
war, di e Affäre ohne ihre Hilfe zu leiten. Die Stellung, die er
vorschlug, war entsprechend und befriedigend; es war unden k­
bar, daß sie ihres Beichtvaters Gesicht oder er ihres ansah, wenn
er in eine verbotene Handlung verwickelt war. Mit Vater David,
als die Ini tiative notwendigerweise von ihr ausgehen mußte,
wurde dieses Problem bewältigt, indem sie mit dem Rücken zu
ihm auf seinem Schoß saß und auf ihm auf und ab hüpfte, bis sie
ihren Punkt erreicht hatte. Pater Pierre ging um sie herum und
hob ihr Hemd hoch, um ihre nackten Gesäßbacken freizulegen,
denn es war ihre Angewohnheit, ihre Unterwäsche vor der An­
kunft des Paters auszuziehen, um die Dinge zu erleichtern.
»Ein feiner Ausblick«, rief er fröhlich, während er hinter ihr
kniete. Sie fühlte knetende und drückende Hände auf den Pobak­
ken.
»Einen Augenblick, den Sie in Ihrer Berufung selten sehen«,
sagte sie, und seine lebhafte Art erweckte ihre Sinne.
»Solche Augenblicke sind uns verboten, damit wir nicht i n Ver­
suchung und dann in die Sünde geführt werden«, ant wortete er,
und seine Hand streichelte sie animierend zwischen den Beinen.
»Ah, ich habe niemals wirklich verstanden, warum so angenehm
gesundheitsfördernde Aktivitäten als sündig betrachtet werden
sollten«, murmelte sie und erwärmte sich für den Beichtvater.
»Fragen Sie nicht nach der Weisheit der Kirche, mein Kind«,
entgegnete er, seine Stimme begann mit steigender Erregung ein
wenig zu zittern. »Seien Sie dankbar, daß die Vergebung für alle
Zügellosigkeit des Fleisches so schnell verfügbar ist.«
»Ja«, hauchte sie und hörte das Rascheln seiner Soutane, als er
sie über seine Taille hinaufschob.
Etwas Warmes und Grobes kratzte ihren Schenkel und ließ sie
in Vorfreude seufzen. Die Berührung war flüchtig, aber der
Eindruck, den er in ihrem Geist hinterlassen hatte, war ernsthaft
und gewichtig. Da war sie wieder, diese quälende Berührung,
diesmal an der Schwelle des Paradieses. Germaine atmete lan g­
sam aus, entspannte ihre feinfühligen Muskeln, um ein tiefes und
befriedigendes Eindringen zu ermöglichen und sich selbst auf die
Seligkeit vorzubereiten, die Pater Pierre ihr verleihen würde.
Und dann – o Schreck –, der freudig erwartete Gast entschlüpf­
te dem großen Portal, das für ihn offenstand, und erzwang sich
den Weg durch das hintere Tor.
»Nein«, rief Germaine zornig, »das ist nicht, was ich will! Hören
Sie sofort auf.«
Pater Pierre hatte sie fest an den Hüften genommen und hopste
in rasender Geschwindigkeit hin und her, wobei er vor sich hin
murmelte. Erfolglos versuchte sich Germaine aus seinen Fängen
zu lösen und stieß dabei den Stuhl um. Sie war nahe daran, um
Hilfe zu rufen – aber wen sollte sie holen? Daß sie ihr Mädchen
in dieser höchst peinlichen Situation vorfände, war gänzlich
undenkbar. Doch während der Gedanke durch ihren Kopf ging,
war es bereits zu spät. Die überirdischen Kräfte, die im Priester
arbeiteten, waren zügellos, und wie ein Wolkenbruch ergoß sich
ein Geysir mit der unkontrollierten Kra ft lang unterdrückter
Natur.
Als Germaine frei war, sprang sie auf die Füße, um den Übelt ä­
ter wütend zu bes chimpfen und ihn für immer hinauszuschme i­
ßen. Jedoch ließ sie ihre Wut für kurze Zeit verstummen, so daß
sich der Angreifer seine Soutane ordentlich zurechtziehen, den
umgeworfenen Sessel wieder an seinen Platz stellen und sich
darauf setzen konnte.
»Knie nieder, mein Kind«, sagte er und deutete auf das Polster
am Boden. »Es gibt noch eine weitere Sünde, die du beichten
mußt, bevor ich dir die Absolution erteilen kann.«
Germaine starrte ihn verwirrt an, ergriff aber die Gelegenheit
ihrer Schmach am Schopfe.
»Haben Sie Ihren Verstand verloren?« schrie sie, als sie ihre
Stimme wiedergefunden hatte.
»Knie nieder, mein Kind«, wiederholte er und lächelte sie in
einer Weise an, die entmutigend war.
»Wie können Sie so etwas wagen.«
»Sie sind verärgert. Und das ist eine weitere Sünde, für die du
um Absolution bitten mußt. Weit ernster, als daß du gerade an
einem unnatürlichen Ereignis teilgenommen hast.«
SANDRA PARETTI

»Ehebruch«

Es gibt keine Frau, die nicht Grund hätte, die Ehe zu brechen;
keine Frau braucht einen Grund, um die Ehe zu brechen.
Es ist kein Grund für die Frau, die Ehe zu brechen, weil der
Mann, den sie liebt, gerade nicht zur Stelle ist. Weil ein Fremder
sie ansieht, wie ihr Mann sie seit Jahren nicht mehr angesehen
hat. Weil ein Fremder ihr Dinge sagt, die ihr Mann ihr seit Jahren
nicht mehr sagte.
Nein. Dafür waren die Frauen nicht jahrhundertelang das Ris i­
ko eingegangen, im Moor versenkt, enthauptet oder verbrannt zu
werden.
Warum dieses Rasen des Mannes gegen den Ehebruch der
Frau? Warum dieses Martyrium der Frau Jahrhunderte hindurch?
Vielleicht wüßten wir ohne dieses Wüten der Geschlechter ge­
geneinander nicht, was Ehebruch ist. Vielleicht wären wir um
eine Sünde ärmer, um die kunstvollste und sinnloseste, die von
der weiblichen Fantasie jemals ersonnen wurde.
Die perfekte Ausführung gelingt nur einer glücklichen, gelie b­
ten Frau, die nicht den geringsten Grund dazu hat. Sie denkt
nicht daran, sich neu zu verlieben. Sie könnte es gar nicht. Ihr
gesamtes Kontingent an Liebe hat sie an ihren Ehemann ve r­
schwendet. Was sie braucht, ist Erholung von dieser Strapaze.
Der Ehebruch als pikante Drohung ist ein weiblicher Ur­
wunsch. Seine Seltenheit ist nur damit zu erklären, daß es für die
Frau fast aussichtslos ist, den richtigen Partner dafür zu finden;
einen Mann, der Kunstverstand genug besitzt, um dem klass i­
schen Arrangement, bei dem der Ehemann Zuschauer ist, zuz u­
stimmen.
Lust am Ver führen? Wenn sie nur nicht wüßte, wie ernst ein
Mann so etwas nehmen kann! Nicht einmal Neugier ist es. Was
ein Mann ist, we iß sie zur Genüge. Die Jungfernschaft eines
Jünglings ist nicht Reiz genug; sie hat nicht vergessen, wie lästig
ihr die eigene war. Sie sucht niemanden, bei dem sie über ihr
Leben jammern kann, denn es gibt nichts zu jammern. Sie jagt
nicht einmal der Sünde nach, denn sie hat nicht den Ehrgeiz, eine
Heilige zu werden.
Sie hat keinen Grund – das ist Grund genug.
Der Gerechtigkeit halber muß gesagt werden, daß der Eh e­
bruch in dieser Vollkommenheit selten ist. Es bedarf dazu einer
vollkommenen Frau. Ohne vorei ngenommen zu sein, muß man
Laura diese Vollkommenheit zugestehen.
Als sie aus dem Jagdhaus trat, war die Sonne hinter den Kronen
der Kastanien verschwunden. Der Sand, der in ihre Sandalen
rieselte, war heiß. Die Kunstledersitze des Jeeps kochten. Der
Rücken eines glühenden Tieres. Der dünne Wollstoff des Rocks
bot keinen Schutz.
Laura mochte es. Das Feuer und das Frösteln. Nicht nur auf
der Haut, im Rücken, zwischen den Schenkeln, sondern auch in
ihr, im Mund, im Hals, in den Eingeweiden.
Sie legte die Händ e auf das glühende Steuerrad. Züngelnde
Flammen, die in sie drangen, die ihr den Atem nahmen.
Sie wendete den Wagen und lenkte ihn auf den schmalen Fel d­
weg, der nach einigen Kilometern in eine Pappelallee mündete,
die bis zum Schloß führte.
Ihr Haar flatte rte im Fahrtwind. Irgendwann hatte es sich ge­
löst. Wahrscheinlich suchte Oskar jetzt die Nadeln und Kämme
am Boden zusammen. Haare von ihr, die er ins Portemonnaie
steckte.
Eine Biene ließ sich auf der Lacktasche nieder, die auf dem
Nebensitz lag. Das dich te Pelzkleid des Insekts, goldbraun.
Dieselbe Farbe, die sie an Oskar entdeckt hatte. Seidiger Flaum,
vom Nabel abwärts.
Ohne das wäre es vielleicht schon das erstemal nicht geschehen.
Das zweitemal wollte Laura nicht mehr; eine Wiederholung
machte etwas Langweiliges nicht spannender. Aber Oskar er­
wachte plötzlich aus seiner Betäubung, fiel über sie her. Der Slip,
den sie schon wieder anhatte, zerriß unter seinen Händen. Jetzt
steckte er zusammengeknüllt in der Handtasche. Sie hatte ihn
nicht mehr anziehen können.
Auch ein Siebzehnjähriger war eben nichts anderes als ein
Mann. Es mußten die Männer gewesen sein, die die Ehe erfu n­
den hatten. Wenn schon dieses Kind verlangte, daß sie sich die
Haare unter den Achseln wachsen lassen sollte. Für ihn. Als
gehörte sie jetzt ihm. Als würde sich das, was geschehen war,
wiederholen!
Nicht einmal für Ceno hatte sie damit aufgehört, sich epilieren
zu lassen. Obwohl er sie immer wieder darum gebeten hatte.
Vielleicht war es das, was Ceno an Ivanka gefiel, das Vlies unter
den Armen.
Etwas wie ein Lächeln lag auf Lauras Gesicht, ein Ausdruck
von Erwartung.
Die Allee endete an dem weißen gemauerten Tor, das in die
Wirtschaftshöfe führte. Laura schaltete den Jeep herunter.

Die hohen Kamine mit den Rundhauben warfen bizarre Scha tten
über den Hof.
Vor den Garagen standen die Wagen der Gäste. Der Cadillac,
daneben der Bentley von Ceno, der einzige Wagen, der noch
staubig war. Die anderen glänzten vor Nässe. In den Rinnen
zwischen den grauschwarzen Pflastersteinen stand das Wasser.
Zwei Männer in Gummistiefeln lederten die Wagen trocken.
Die funkelnden Autos, die Garderobe, die aufgebügelt in den
Schränken hing, die Schalen mit Obst und Kon fekt, die Lektüre
auf dem Nachttisch, die Kopfwehtabletten, die Bettbezüge mit
den eingestickten Initialen des Gastes – alles das hatte erst Ivanka
eingeführt. Eine Polin hatte kommen müssen, um Giulio Frevelli
zu den fürstlichen Allüren seiner Vorfahren zu bekehren.
Laura parkte den Jeep vor der offenen Remise, neben den an­
deren Jagdjeeps. Sie stieg aus, raffte Jacke und Tasche zusammen.
Als sie sich umdrehte, stand Valentino vor ihr. Neben sich hatte
er einen der silbergrauen Weimaraner, von denen es in Vernier
ein Dutzend gab. Der Hund kam wedelnd auf Laura zu, drängte
sich an sie, stieß die Schnau ze in das Dreieck des Schoßes. Laura
ließ ihn gewähren.
»Signor Lumati ist vor einer halben Stunde gekommen«, sagte
Valentino. »Er hat nach Ihnen gefragt.«
Laura sah ihn an. Hatte er dieselbe Witterung wie der Hund?
Oder war es etwas anderes? Wartete er au f einen Befehl, immer
noch unsicher in seiner Wahl zwischen Ceno und ihr? Brauchte
er ein neues Versprechen und eine neue Demütigung? Hatte sie
heute noch nicht genug getan für ihn? War das aufgelöste Haar
nicht deutlich genug? Mußte sie die Handtasche öff nen, gerade
lange genug, daß er den zerfetzten Slip sah? Nein. Ungewißheit
war ein wirksameres Gift. Wenn er Augen im Kopf hatte, konnte
es ihm nicht entgehen. Ihr Rock war eng. Beim Ausschreiten
würde er sehen, daß sie nichts darunter trug, nicht einmal mehr
den Slip von heute nachmittag.
»Ich habe den Wagen gesehen«, sagte Laura. Sie ließ Valentino
stehen. Der Hund lief ihr nach. Valentino pfiff das Tier zurück.
Laura wandte sich um. Sie sah, wie Valentino das Tier an die
Leine nahm. Zitterten seine Hände ? Eifersüchtig auf das Tier.
Begierig, es zu züchtigen oder zu liebkosen? Er bemerkte Lauras
Blick. Er packte den Hund bei der Schnauze.
Laura wandte sich ab. Gleichgültigkeit. Es gab kein besseres
Mittel.

Sie wählte den Seiteneingang, um schneller bei Cen o zu sein. Sie


eilte die Treppen hinauf. Überall standen hohe Vasen, auf Säulen,
in Nischen, auf Treppenpfosten, starrende Herbststräuße, braun,
gold, rot.
Aus den verschalten Heizungsschächten strömte Wärme. Auf
einem Tischchen stand ein Arztkoffer, ein Tablett mit Medik a­
menten. Das Geräusch des Speiseaufzugs. Niemand begegnete
ihr. Die letzte Tür des Ganges; die Turmsuite, die immer für
Ceno und sie bereitstand.
Sie war hier zu Hause, und sie trat ein, wie man zu Hause in ein
Zimmer tritt. Sie blieb an de r offenen Tür stehen. Das Zimmer
lag im Dunkeln. Die Läden waren vorgelegt, die Möbel in der
Mitte des Zimmers zusammengerückt, mit Tüchern verhangen.
Lauras Augen gewöhnten sich schnell an die Dunkelheit. Durch
die Ritzen der Läden sickerte Licht. Die Sei dentapete an den
Wänden schimmerte metallisch.
Jemand kam den Gang entlang. Ilario, der alte Butler des Fü r­
sten. Er verbeugte sich. »Verzeihen Sie, Signora. Wir mußten
Ihnen ein anderes Zimmer geben. Diese Suite wird auf Anor d­
nung der Fürstin renoviert. Am Montag kommen die Handwe r­
ker.« Er schloß die Tür. »Wenn Sie mir bitte folgen.«
Den Gang zurück, eine schmale, geschwungene Treppe. Rechts
der Spiegelsaal, links die Galerie, die zum Haupttrakt hinübe r­
führte.
Silbergraue Taftschals an den Fenstern. Dahinte r die Gärten
und Innenhöfe, die sich in den Fresken der Wände spiegelgleich
wiederholten, verschattet von gemalten Taftschals, aufgeteilt
durch aufgemalte Fenster.
Die Natur hatte den Venezianern nie genügt. Sie war für sie
immer nur Anlaß gewesen, sie ver gessen zu machen. Sie hatten
das Wasser gelehrt, fester Boden zu sein, ihre Paläste, zu schw e­
ben. Sie hatten immer dem Unwirklichen den Vorzug gegeben.
Das Echo hatte sie mehr entzückt als die Stimme, die Lüge mehr
als die Wahrheit. Laura war Venezianerin.
Ilario öffnete eine Tür. Schweigend ging er voran, blieb einen
Augenblick abwartend stehen, öffnete die Tür zum Bad, das
Lauras Zimmer mit dem Cenos verband.
»Die Zimmer schließen an die Gemächer der Fürstin an«, sagte
der Mann. »Es sind die schönsten.«
Laura nickte. Sie hatte Lust, herauszulachen über Ivankas Mut,
über ihre Lüge. Wo war die Tapetentür, die hinüber in Ivankas
Zimmer führte? Der vergoldete Riegel an der Badetür, auch
daran hatte Ivanka gedacht.
Laura öffnete ihre Handtasche. Sie wollte das Päckchen Ta u-
send-Lire-Scheine herausnehmen, das sie in Luisas Zimmer zu
sich gesteckt hatte. Sie tat es nicht. Vielleicht gab es für das Geld
eine bessere Verwendung.
»Vielen Dank, Ilario«, sagte Laura. Er verbeugte sich und ging.
Laura warf Jacke und Tas che auf einen Stuhl und trat an den
Spiegel über dem Kamin. Er hing nach vorne geneigt. Sie sah das
breite Bett darin. Der Spiegel schien nur für dieses Bett dazusein.
Sie zog an der silbernen Kordel, die neben dem Spiegel hing.
Der Lüster erlosch. Zwei kl eine Lampen brannten noch, ven e­
zianische Masken unter violetten Seidenschirmen vor dem
stumpfen Sandton der Wandvertäfelung.
Das alte Glas der Fenster mit seinen Unebenheiten, seinen Bl a­
sen. Der Fußboden, der zur Tür hin unmerklich abfiel. Es war
wie in dem Palazzo, in dem sie geboren und aufgewachsen war.
Es waren nicht einfach Böden, Wände, Türen, Fenster. Me n­
schen hatten sich darin bewegt, seit Jahrhunderten, Glückliche,
Unglückliche. Stimmen hatten die Räume erfüllt, das Geschrei
von Kindern, das Flüst ern von Dienern, das Schweigen des
Todes.
Als Kind, vor den Bildern der Vorfahren, hatte Laura immer
nur eines wissen wollen: wie waren sie gestorben, in welchem
Raum, zu welcher Tageszeit? Sie hatte an den Holzrahmen alter
Möbel gekratzt, auf der Suche na ch dem schwarzen Lack, mit
dem in den Trauerjahren die Räume der Verstorbenen übermalt
worden waren.
Nächtelang hatte sie dem Tod aufgelauert, in den Zimmern von
Sterbenden, hinter Türen versteckt, hinter Vorhängen. Manchmal
hatte das Licht geflackert, man chmal hatte der Sterbende etwas
gemurmelt. Es war keine Antwort gekommen, und doch wußte
sie, daß der Tod da war. Sie sah ihn nicht, sie hörte ihn nicht.
Aber in der Luft, die sie einatmete, war etwas von ihm, etwas, das
sie berauschte. Der Tod war ihre erste Liebe gewesen.
Durch die offene Badetür glaubte sie ein Geräusch aus Cenos
Zimmer zu hören. Sie lief hinüber. Eine Zeitung war vom Sessel
auf den Boden geglitten.
Über den ganzen Raum verstreut lagen Cenos Sachen, Strüm p­
fe, Schuhe, ein Hemd, ein Feuerzeug, Zigarettenschachteln. Ceno
brauchte keine Minute, um ein Zimmer in ein Schlachtfeld zu
verwandeln.
Cenos Spuren auch im Bad mit seinen grüngeäderten Marmor
wänden. Zigarettenrauch, das halbgeleerte Glas Martini mit dem
Olivenkern am Boden, das amerika nische Magazin mit aufg e­
weichten Ecken auf dem Rand der Wanne.
Laura holte ihre Handtasche. Sie nahm den zerrissenen Slip
heraus, warf ihn in die Toilette, spülte ihn hinunter.
Sie zog den Rock aus, die Bluse. Ein Blick in die Spiegelwand
gegenüber der Wanne. Dieser schöne Körper, der nur ihr gehö r­
te, niemandem sonst, den sie nicht einmal mit einem Kind teilen
wollte. Ceno liebte diesen Körper.
Nebenan schlug eine Uhr zweimal, halb sieben. Um sieben Uhr
wurde gegessen.
Laura band ein Frottiertuch um das Haa r und duschte sich. Sie
wusch Körper und Gesicht mit der grünen, durchsichtigen Seife.
Noch feucht, rieb sie die Körpermilch in die Haut, sprühte die
Schaummaske ins Gesicht.
Nackt, nur den Turban auf dem Kopf, ging sie in ihr Zimmer
zurück. Sie öffnete de n Schrank. Das See -Through. Schwarzer
Chiffon, ohne Naht im Oberteil, weite Ärmel, filigranfeine Si l­
berschnüre, die den Stoff zusammenhielten. Die Passe unter der
Brust mit Silberfaden abgesteppt. Das Sonnenplissee des Rocks,
das sich um die Füße kräuselte.
Kein Schmuck. Nur den schmalen brillantbesetzten Ehering.
Sie stellte die Pumps heraus. Schwarzes Chevreau, Silbernähte.
Die Maske auf ihrem Gesicht war trocken. Laura liebte es, sie
hart werden zu lassen, spröde, bis die Schicht riß wie die Farbe
auf alter Leinwand.
Sie trat ans Fenster. Unten im Kolonnadenhof brannten die
Laternen.
Wie still das Haus war. Nirgends ein Laut. Außer ihr schien
kein lebendes Wesen in diesem Haus zu sein.
Leer der große Speisesaal mit der gedeckten Tafel und den
brennenden Kerzen. Leer die Bibliothek, das Rauchzimmer, der
Musiksalon. Leer die Küche.
Laura hob den Hörer des Telefons ab. Sie wünschte, daß ni e­
mand antworten möge. Noch bevor sie den Hörer am Ohr hatte,
meldete sich die Hausdame. Sie saß unten in dem kleinen Büro
und hatte nur auf diesen Summton gewartet. Die Diener standen
bereit, warteten auf das Anschlagen der Klingel, auf das Au f­
leuchten einer Zimmernummer in dem großen Kasten im Bedi e­
nungsraum.
Laura legte den Hörer auf die Gabel, ohne etwas zu sagen.
Alles war wie sonst.
Die Herren saßen unten im Rauchsalon. Der Herzog und Lord
Angus setzten die Partie Schach fort, die sie das letztemal bego n­
nen hatten. Der Hausherr spielte Chopin, die Ränder neben den
Noten, vollgekritzelt mit Börsenkursen. Ivanka kontrollier te die
Tafel.
Es würde ein Abend werden wie Hunderte davor und Hunderte
danach, das kleine Diner am Vorabend der Jagd mit leichten
Speisen und leichten Weinen; man trennte sich bald, ging zu Bett.
Nicht alle waren wie Ceno und sie daran gewöhnt, um sechs U hr
geweckt zu werden.
Es war lächerlich zu hoffen, daß dieser Abend gestört werden
könnte, daß die Waagschalen der Langeweile aus dem Gleichg e­
wicht geraten könnten.
Die Erde war nun einmal kein Ort, der zur Unterhaltung der
Menschen geschaffen war. Die Dinge, die man begehrte, nicht zu
bekommen, war auf die Dauer ebenso langweilig, wie sie zu
bekommen. Es gab zu viele Menschen für den kleinen Vorrat an
Schicksal.
Ceno hatte sich nicht abschrecken lassen. Er hatte seinen Teil
erbeutet.
Ceno. Wer war dieser Mann eigentlich, mit dem sie seit sieben
Jahren lebte? Sie wußte es nicht, wußte es nicht mehr. Vor sieben
Jahren, als sie ihn heiratete, hatte sie es gewußt. Sie hatte ihn
gekannt. Sie hätte ihn aufzeichnen können wie ein EKG -
Apparat. Es hatte keine weißen Stellen gegeben. Es war ein
ununterbrochener, unaufhaltsamer Rhythmus gewesen, ohne
Pause, ohne Nachlassen der Spannung, nicht einmal im Schlaf.
Wann war die erste Pause gewesen, wann war es schwächer
geworden?
Sie wußte noch, daß sie ihn liebte. Oder war es nur noch Eri n­
nerung an etwas, das ihr Stück für Stück abhanden gekommen
war, weggetragen vom Vergessen?
Sie wollte dieses Schicksal nicht, das keines war. Sie wollte ein
Schicksal, das sichtbar war, laut.
Was mußte sie tun, um es zu bekommen? Valentino , Oskar,
Ivanka – keiner half ihr. Alle liebten sie nur.
Sie stand angezogen vor dem Spiegel. Sie hatte sich geschminkt
und frisiert, ohne sich dessen bewußt zu sein. Sie steckte die
Bluse noch etwas straffer in die Rockpasse. Die Brüste zeichn e­
ten sich deutlich ab.
Es war kurz nach sieben. Man wartete auf sie. Und doch hielt
sie etwas. Warum ging dort die Tür nicht auf, warum kam Vale n­
tino nicht herein und legte ihr den Leichnam Cenos vor die
Füße?
Warum trat Ceno nicht dort aus dem Bad, die Waffe in der
Hand, mit der er sie töten würde, für das, was sie getan hatte?
MAUDE HUTCHINS

Der Mann von nebenan

Mein Mann fährt jeden Morgen mit dem 8 Uhr 5 in die Stadt und
kommt mit dem 6 Uhr 51 zurück. Mein Töchterchen geht mo r­
gens zur Schule und spielt den ganzen Nachmittag lang mit
andern Kindern, und so bin ich die meiste Zeit über allein.
Wir waren umgezogen, in größere Nähe zur Stadt, wo mein
Mann eine Stellung bei der UNO hat. Der Posten ist nicht gut
bezahlt, deshalb habe ich kein Mädchen und mache die Hausa r­
beit selbst. Ich bin ziemlich geschickt darin, die Wasserleitung zu
reparieren, ein Regal aufzustellen, die Bilder umzuhängen, und
ich ärgere mich nur darüber, daß ich es tun muß, weil der Mann,
den ich geheiratet habe, nicht vollkommen ist. Sogar mir selbs t
gestehe ich das nur ungern ein, denn ich liebe ihn sehr; tatsä ch­
lich ist gerade das der Grund dafür, wie Sie schon vermutet
haben werden, daß ich mich ärgere. Mein Mann ist ein glänze n­
der Kopf, heißt es, und unentbehrlich bei der UNO. Er spricht
acht Spr achen und besitzt zahlreiche akademische Grade ve r­
schiedener Universitäten. Zu Hause aber schweigt er sich aus, in
Schriftsprache wie in Dialekt, und ich weiß von seinen Talenten
nur aus dem Wer ist Wer? und durch seine zahlreichen Verehrer.
Ich bin auf de m Land geboren und aufgewachsen, mein Mann
hingegen lebt und denkt in einer winzigen Stadt, die er in seinem
Kopf mit sich herumträgt. Sein wohlgeformter Schädel um­
schließt hohe Gebäude und Untergrundbahnen und Fahrstühle,
und die Häuser und U-Bahnen und Fahrstühle sind bevölkert
von winzigkleinen zellenartigen Menschen, jeder von ihnen mit
seinem Bürgerrecht, seiner Steuerfreiheit, seiner Aufgabe. Mein
Mann ist Kaiser, Fürst, Kanzler, und sein Einfluß gleicht der
Schrift an der Wand. Er denkt. Dies soll ni cht eigentlich eine
Kritik sein, denn ich bin voller Bewunderung für seinen fruch t­
baren Geist, aber warum nur ist er so unpraktisch? Warum
erbleicht er, wenn ich ihn bloß darum bitte, das Bild auf derse l­
ben Höhe zu halten, so daß ich zurücktreten und beurt eilen
kann, ob es hoch genug hängt? Warum kann er den simplen
Mechanismus der Toilette gleich neben der Küche nicht begre i­
fen? Warum hat er es nicht ein einziges Mal fertiggebracht, die
Zündflamme im Backofen zu finden? Oder den Fliegendraht zu
flicken? Oder auch nur das ewig klemmende Fenster zu öffnen?
Es muß abgehobelt werden, sage ich sanft, aber nicht zu viel,
sonst wird es im Winter klappern. Armer Liebling – er kann es
einfach nicht in Ordnung bringen, und erstaunte Blicke nutzen
da nichts. Vielleich t ist dies alles eine Entschuldigung oder ein
moralisches Mäntelchen, um mein Interesse an dem Mann von
nebenan zu erklären. Anfangs sah ich ihn nur durch Glas, durch
die Fensterscheiben. Sogar im Bett sitzend, während des Frü h­
stücks, das ich unten gericht et und mir selbst zusammen mit der
Morgenzeitung serviert hatte, beobachtete ich ihn, wie er mit
zwei großen, löwengleichen Apportierhunden über den Rasen
ging, sie führte, wohin ich nicht wußte. Doch sie paßten gut
zueinander, und ich ahnte, daß entweder er sie für menschliche
Wesen hielt oder sie ihn für einen Hund nahmen. Sie öffneten
ihre Mäuler und gähnten zu ihm auf, und er lächelte und sagte
etwas. Später am Tage sah ich ihm zu, wie er den Rasen mähte
und dürre Zweige und Äste aufsammelte; ich sah ih n mit einem
Schubkarren; ich hörte ihn hämmern, als er die Doppelfenster
einsetzte. Eines Tages war er auf dem Dach und fegte das welke
Laub aus der Trau frinne. Ich kam nicht auf die Idee, mich zu
fragen, warum er immer daheim war; ich bewunderte ganz ei n­
fach seine Geschicklichkeit. Als wir Sturm hatten und ein großer
Ast von der hohen Ulme abbrach, war er prompt mit seinen
Werkzeugen zur Stelle und verwandelte den Ast in Feuerholz,
das er im Schuppen aufstapelte. Zuweilen kam seine Frau, eine
pummlige Pers on mit hohen Absätzen, aus dem Haus, gestik u­
lierte und rannte wieder hinein, weil das Telefon klingelte, und
fort war sie.
Eines Tages, wir wohnten etwa sechs Wochen da, kam sie mich
besuchen. Es überraschte mich, denn ich hatte keine altmod i­
schen Höflichkeiten von Seiten meiner Nachbarn erwartet.
Man könnte eher sagen, daß sie vorbeikam, als daß sie Besuch
machte. Es sah aus, als hätte sie sich verlaufen. Ich hatte, vie l­
leicht albernerweise, das Gefühl, sie wolle es vermeiden, daß ich
glaubte, sie mache einen offiziellen Besuch mit allen Konseque n­
zen und dem altväterlichen Unfug. Sie war ohne Hut, trug ein
Baumwollkleid und darüber einen Pullover. Ich erinnere mich,
daß ihr Gesicht gerötet war, so als sei sie gelaufen. Ich saß auf
den Treppenstufen und rauchte eine Zigarette.
»Ich bin Lesley Brinkerhoff«, sagte sie.
»Und ich Carola Byron, guten Tag.«
Sie sah weit hinaus auf den Sund von Long Island, doch zuvor
hatte sie mich blitzschnell gemustert: meine Mar drasslacks, das
weiße Hemd, die Espadrilles, mein dunkles Haar, den langen
Hals.
»Gefällt es Ihnen hier?« fragte sie mürrisch.
»Ich bin begeistert«, sagte ich.
»Ihr Mann«, sagte sie, »ich habe gelesen, was er sagte anlä ß­
lich…«
»Oh«, sagte ich.
»Wollen Sie nicht mit hinüberkommen und etwas trinken?«
fragte sie.
»Auf der Stelle?«
»Ja.«
»Liebend gern«, sagte ich, doch wie gewöhnlich fühlte ich mich
überrumpelt, wollte es aufschieben.
»Eigentlich müßte ich…« begann ich.
»Ach bitte, kommen Sie doch mit, Jason macht uns einen Ma r­
tini.«
Ich ging über unsere anein andergrenzenden Rasenflächen und
betrat ihr Haus; die beiden riesigen Hunde schnüffelten zwischen
meinen Beinen, als sei ich ein Mann.
»Laßt das«, sagte Lesley, »Platz! Sind sie nicht schrecklich?«
»Mir macht’s nichts aus«, sagte ich, »brave Hunde.«
»Dies ist mein Mann«, sagte sie. In ihrer Stimme wie in ihrem
Betragen spürte ich etwas Entschuldigendes. Warum?
Der Mann von nebenan sah nicht auf, er rührte etwas in einer
Kristallkaraffe und lächelte in sie hinein, als wäre sie ein Bach mit
einer Forelle.
»Jason! Das ist unsere Nachbarin, Mrs. Byron. Wie ein kleiner
Junge«, sagte sie. »Sag schon guten Tag.«
»Guten Tag«, sagte er, »bitte entschuldigen Sie mich«, und er
ging hinaus.
»Jason!«
Er gab keine Antwort.
Lesley zuckte die Achseln und lachte. Sie schenkt e uns zu tri n­
ken ein, wobei sie das Eis mit den Fingern zurückhielt, die sie
anschließend abschleckte. Das machte sie mir beinahe symp a­
thisch.
Hinter der Bühne entstand ein kleiner Tumult, und ich hörte,
wie die Wasserspülung der Toilette betätigt wurde. Er wird sie
reparieren, dachte ich.
Lesley runzelte die Stirn. Die beide n Hunde, eine iigen Zwillin­
gen gleich, lagen da, die Nase zwischen die Pfoten gesteckt, und
äugten in Richtung des Aufruhrs, aufmerksam und sprungbereit.
Als das Quaken einer Ente hörbar wurde, sprangen sie hoch.
»Platz, Gemelli!« befahl Lesley. »Also wirklich, Jason«, sagte sie
ins Leere. Das Quaken steigerte sich in wahnsinnigem Cresce n­
do. Es war köstlich. Ich lachte, und ich glaube, Lesley auch, und
die Gemelli wedelten unisono mit ihren langen Schwänzen.
Der Mann von nebenan kam vor den Vorhang. In der Hand
hielt er eine Entenjäger-Lockpfeife, führte sie an die Lippen.
»Nein, Jason, bitte Schluß jetzt, was soll Mrs. Byron denken.«
Gehorsam schob Jason die Pfeife in die Hosentasche. »Ich halte
eine Ente in der Toilette«, sagte er und lächelte bezaubernd.
»Was für ein Jux«, sagte ich.
»Nein wirklich«, sagte er mit weitoffenen Augen, »ich meine es
ernst.«
Er stieß mit dem Fuß gegen den Teppich. Ich spürte, daß er
seine Frau und mich als Erwachsene betrachtete.
Ich wollte unbedingt diesen Eindruck, den er von mir haben
mußte, korrigieren, diese Kollektivschuld einfach aufgrund me i­
nes Zusammentreffens mit Lesley.
»Darf ich sie sehen?« fragte ich.
»Nein«, sagte er.
Ich ärgerte mich, fühlte mic h zurückgestoßen. »Ist es nicht
grausam, eine Ente in so engem Gefängnis zu halten?« fragte ich.
»Genau das sage ich immer«, bemerkte Lesley.
Ich erkannte meinen Fehler. »Ist es eine Tauchente, eine Kri k­
kente, eine Kanevasente oder eine Wildente?« fragte ich.
Er schoß einen Blick zu mir hinüber; seine Augen verengten
sich eine Spur, zeigten eine gewisse Schlauheit, doch Lesley
antwortete für ihn.
»Es ist eine Schwimmente«, sagte sie. Sie war mir voraus.
Die Gemelli standen auf, ihre Schwanzspitzen gingen hi n und
her.
Quak – quak – quak! Quak – quak – quak! ertönte es von der
Toilette.
»Platz doch, Gemelli!« sagte Lesley.
Mein Blick ging über Jasons Jeans, und sie waren so eng, daß
ich mühelos die Umrißlinie der Lockpfeife erkannte, er hatte sie
nicht berührt.
»Setzen Sie sich doch ein bißchen und erzählen Sie von sich,
Mrs. Byron, und trinken Sie aus. Ist noch Eis da, Jason? Was tun
Sie so den ganzen Tag?«
Das Quaken hörte nicht auf. Jason beruhigte die Hunde, sie
wälzten sich auf den Rücken und ließen die Zu ngen lang herau s­
hängen.
Es wurde ziemlich geräuschvoll. Ich kicherte. Liebend gern
hätte ich gesehen, wie die Ente in der Toilettenschüssel planschte
und kreiste, ja vielleicht sogar auf dem Kopf stand, wie Enten das
zu tun pflegen.
Plötzlich war alles sti ll, und nach einer Weile gezwungenen
Plauderns stand ich auf, um mich zu verabschieden.
»Sag auf Wiedersehen, Jason«, sagte Lesley.
»Wiedersehen«, sagte Jason. Er saß bei den Gemelli auf dem
Boden, und jeder der beiden knappte an einer seiner Fäuste
herum.
»Jason!«
»Nein, bitte bleiben Sie doch sitzen«, sagte ich, doch er stand
auf und lächelte mich freundlich an. »Ihnen werde ich vielleicht
eines Tages meine Ente zeigen«, sagte er.
»Ich glaube nicht, daß sie sich dafür interessiert«, sagte Lesley.
»Aber ja doch, bestimmt tu ’ ich das«, sagte ich, »ich wüßte
nicht, was mir mehr Spaß machen würde.«
»Ihr seid von derselben Sorte«, sagte sie. »Es ist eine Ente und
nichts weiter.«
»Aber im Klo«, sagte ich und wurde rot. »In der Toilette«, ko r­
rigierte ich mich.
»Es ist der ideale Platz, um eine Ente zu halten«, sagte Jason.
»Hier drinnen will Lesley keine Ente haben.«
»Das fehlte noch«, sagte Lesley und rümpfte die Nase.
»Man zieht ganz einfach wie sonst auch«, sagte Jason.
»Nun laß schon, Jason«, sagte Lesley.
Jason sah sie an, als hielte er nicht eben viel von ihr. »Sie findet
es unanständig«, sagte er.
»Manchmal glaube ich, er macht sich mehr aus dieser Ente als
aus mir«, sagte Lesley schüchtern. »Stimmt’s, Liebling?« fragte sie,
doch Jason war verschwunden; die Hunde trotteten hinter ihm
drein.
»Jetzt muß ich wirklich gehen«, sagte ich.
»Sie sind allesamt große Kinder, nichts weiter, ist es nicht so«,
sagte sie und machte dabei eine weitausladende Geste, die die
gesamte Männerwelt einbezog; aber sie kannte meinen nicht,
wenn der ein Kind ist, so gewiß ein reichlich altkluges.
»Ihr Mann natürlich ist so bedeutend«, fügte sie hinzu, als habe
sie meine Gedanken erraten. »Ihn meine ich nicht.«
Und ich dachte, er würde ganz gewiß in der Toilette keine Ente
halten.
»Auf Wiedersehen«, sagte ich.
»Auf Wiedersehen, meine Liebe, kommen Sie uns wieder bes u­
chen, vielleicht zum Bridge einmal.«
Du lieber Himmel, dachte ich. »Ja, sehr gern«, sagte ich, »vielen
Dank.«
Danach sah ich die bridgespielenden Damen kommen und ge­
hen, in ihren kleinen Baumwollkleidern und ihren strengen Pu l­
lovern und hochhackigen Schuhen, aber mich lud sie nicht ein,
und ich war froh darüber.
Immer wieder verschwand Jason mit den Ge melli in den Wald
und kam erst zurück, wenn die Damen in ihren langen, haif isch­
flossenbewehrten Wagen die Auffahrt hinunter - und davong e­
rollt waren. Ich sah, wie er mit dem Rechen die Spuren glatthar k­
te, die ihre Pneus hinterlassen hatten. Eines Tages trug er bei
seiner Rückkehr aus dem Wald etwas in seinen Armen, und
hinter ihm trippelte mi t hochgerecktem Schwanz eine junge
Katze. Wenige Minuten später aber kam er wieder heraus, die
Katze als Schrittmacher vorneweg.
Sie erlaubte ihm nicht, es zu behalten, was immer es sein moc h­
te – vielleicht Katzenjunge?
Meine Gedanken beschäfti gten sich oft mit dem Mann von
nebenan. In gewisser Hinsicht war ich in ihn verliebt. Ich
wünschte mir sehr, nicht verdächtig zu sein, keine Frau, keine
Erwachsene. Ich sehnte mich danach, mit ihm zu spielen, seine
Vertraute zu sein, Geheimnisse mit ihm zu teilen, vor allem aber
die Ente zu sehen.
Ich sah ihn mit seinem Angelgerät losziehen, um Barsche zu
fangen, die nach dem Unwetter zu den Laichplätzen wanderten.
Er kam mit leeren Händen heim, doch er sang zufrieden vor sich
hin. Wenig später war er drauß en beim Zaun, besserte ihn aus
und strich ihn. Es scheint fast, als hätte ich nichts zu tun, außer
mit dem Fernglas das Kommen und Gehen des Mannes von
nebenan zu beobachten.
Dann ging ich hinaus und grub kleine runde Löcher und setze
Zwiebeln, doch er sah nicht auf. Die Gemelli dagegen setzten
sich etwas entfernt hin und sahen mir zu, ein breites, grinsendes
Lächeln auf ihren Zügen.
Ein oder zweimal machte ich einen lauwarmen Versuch, sie
zum Cocktail einzuladen, aber Lesley hatte beide Male etwas
anderes vor, und in Wahrheit wollte ich sie gar nicht gemeinsam
haben, wollte auch ihn gar nicht wirklich in meinem Hause ha­
ben, warum weiß ich nicht. Ich wollte in sein Haus gehen und die
Ente sehen, falls sie existierte, oder mit ihm durch den Wald
streifen, oder auf den Klippen nach Roccus leneatus fischen.
Von Neugier zerfressen, ging ich eines Tages über unser beider
Rasenflächen und klingelte.
»Oh, guten Tag, kommen Sie herein«, sagte Lesley.
»Ich wollte nur guten Tag sagen, ich kann nicht bleiben«, sagte
ich.
»Jason ist in die Stadt gefahren«, sagte sie, »ich hoffe, er geht
dort nicht unter.«
»Ich tu’ das immer«, sagte ich. »Wenn ich bei Lord und Taylor
rauskomme, weiß ich nie mehr, aus welcher Richtung ich ge­
kommen bin.«
»Ach, ich meine nicht diese Art Unter gehn«, sagte Lesley, »das
passiert ja jedem.« Sie erklärte sich nicht näher, und ich fragte
mich, auf welche Weise denn Jason untergehen sollte.
»Er haßt die Stadt«, sagte sie.
Ich war drauf und dran, zu sagen, ich täte das auch, aber ich bin
überzeugt, si e würde darauf erwidert haben: Ja, aber Jason haßt
die Stadt nicht auf diese Art, und deshalb sagte ich gar nichts.
»Es muß heiß sein«, sagte ich und sah dabei zur Toilette hi n­
über.
»Wie meinen Sie, meine Liebe?« Sie erhaschte meinen Blick.
»In der Stadt«, sagte ich; »einfach gräßlich.«
»Jason spürt die Hitze nicht«, sagte sie. »Möchten Sie etwas
eisgekühlten Tee?«
Ich fragte mich, warum Jason in der Stadt war, selbst wenn er
die Hitze nicht spürte.
»Nein, vielen Dank«, sagte ich. »Wissen Sie, was ich liebe nd
gern möchte, ist die Ente sehen, ich meine, wenn Jason, Ihr
Mann«, verbesserte ich mich schnell…
»Nennen Sie ihn ruhig Jason«, fiel sie ein.
»Jason«, sagte ich.
»Was?«
»Vielleicht möchte er nicht, daß ich die Ente sehe.«
»Ach, die Ente«, sagte sie.
»Ja.«
»Er ist ein drolliger Bursche, mein Jason, nicht wahr?« sagte sie.
»O ja«, sagte ich. »Darf ich?« und ich machte einen Schritt in
Richtung Toilette.
Sie legte mir die Hand auf den Arm, hielt mich zurück. »Nein!«
sagte sie schnell und wurde feuerrot.
»Es tut mir leid«, sagte ich, »ich wollte nur…«
»Mein Knöchel«, sagte sie, »ich hab’ mir den Knöchel
verknaxt«, und sie humpelte auf einen Stuhl zu. Ich half ihr, sich
zu setzen, und sie rieb sich den Knöchel mit beiden Händen. »Es
macht einen ganz schwach, ni cht wahr«, sagte sie, und sie war
jetzt wirklich ganz weiß nach der Feuerröte von vorhin.
»Kann ich Ihnen etwas zu trinken holen?« fragte ich. Es war
mir völlig klar, daß ihr Knöchel völlig in Ordnung war, weshalb
aber die kunstvolle List?
»Ein wenig Kognak, er steht gerade neben Ihnen in der kleinen
Karaffe. Vielen Dank, Liebste, wie ärgerlich so etwas«, sagte sie.
»Wenn Sie sich wieder wohl fühlen«, sagte ich, »Frederica muß
jeden Augenblick aus der Schule kommen.«
»Sie ist so reizend«, sagte Lesley.
»Also dann auf Wiedersehen«, sagte ich.
»Kommen Sie wieder, meine Liebe.«
Ich kam nie wieder, ich kam niemals wieder.
Und lange Zeit hindurch war ich viel zu verstört und entsetzt,
um hier weiterzuschreiben. Inzwischen ist ein Jahr vergangen,
und wir sind von Seaport weggezogen. Ich sitze nicht länger auf
dem Fensterbrett, um den Mann von nebenan zu beobachten;
niemand ist an seine Stelle getreten. Mein jetziger Nachbar ist ein
Pendler, und seine Frau hat nie Besuch bei uns gemacht.
Nachdem also Lesley so getan hatte, als habe sie sich den Kn ö­
chel verstaucht, nur damit ich nicht mehr an die Ente in der
Toilette denken sollte, begann ich mich zu fragen, ob diese Ente
überhaupt existierte. Oder ob sie vielleicht nur ein Spaß war, den
sich Jason ausgedacht hatte, um mich und die bridgespielenden
Damen zum besten zu haben und seine Mutter zu ärgern. Da­
mals begann ich Lesley als seine Mutter anzusehen.
Was für ein ungezogener Bub er ist! dachte ich und mußte über
seine Frechheit lächeln. Was würde er wohl als nächstes anste l­
len? Lesley betrachtete ich als einen guten Kerl, wenngleich ein
wenig beschränkt, und zweifellos schlief sie auch mit Jason, doch
machte sie sich wohl kaum Gedanken über die sonderbare Be­
ziehung zwischen ihnen, und von Inzest hatte sie bestimmt kei ne
Ahnung. Doch ich glaubte zu spüren, daß sie ihn, wenn er ihr
auch zur Zeit ihrer Verlobung vielleicht als Held erschienen sein
mochte, jetzt nicht als erwachsenen Mann ansah, sondern als
einen kleinen Jungen, und meiner Ansicht nach hatte sie ihn zu
diesem kleinen Jungen gemacht. Vielleicht ist es grausam von
mir, sie so zu beurteilen, doch ist es so unwahrscheinlich, daß sie
nach jahrelangem Enttäuschtsein von dem He lden schließlich
dem Kind den Vorzug gab? Ihn, weit stärker, als ihre kleinen
Baumwollkleider und lächerlich hohen Schuhe sie erscheinen
ließen, zu dem machte, für das sie sich entschieden hatte? Arme
Lesley.
Lesley war immer so geduldig mit ihm, hörte ich bei Ralph eine
Dame sagen, nachdem alles vorüber war, und die andere antwo r­
tete: Sie tat es einzig zu seinem Besten.
An jenem Morgen machte ich mir wie gewöhnlich mein Frü h­
stück, und als ich vor die Tür trat, um die Zeitung hereinzuholen,
sah ich die Gemelli in großen Sprüngen und miteinander balgend
über den Rasen jagen. Nie hatte ich sie ohne Jason gesehen,
höchstens in ihrem Gehege, wenn er zum Angeln gegangen war,
und jetzt erschienen sie mir sehr wild und furchterregend. Ein
Angstschauder durchrieselte mich, sie waren so riesig. Sie en t­
deckten mich in meinem weißen Pyjama und blieben sto cksteif
stehen, die Köpfe erhoben, die Schwänze gestreckt. Eilig schloß
ich die Fliegentür, als sie über den Rasen gejagt kamen.
Nein! Nein! Geht weg, Gemelli, und ich schlug die innere Tür
zu, verriegelte sie. Wo war Jason?
Ich frühstückte, doch ich empfa nd Unbehagen und Angst. Es
schien, als fühle ich mich ohne Jason nicht sicher. War er mein
Held? Die Gemelli amüsierten sich königlich. Ich sah sie in den
Wald sausen. Höchste Zeit, Lesley anzurufen und ihr zu sagen,
daß die Hunde frei herumliefen.
Die Klingel schlug lange an, ich hörte es so nah, als wäre sie im
Nebenzimmer. Endlich meldete sich Lesley.
»Es tut mir leid, wenn ich Sie geweckt habe«, begann ich, »die
Gemelli…«
»Jason fühlt sich nicht wohl«, unterbrach sie mich, und ich hö r­
te die Angespannthe it ihrer Stimme, es klang, als sei sie sehr
müde.
»Ich… ich«, begann ich noch einmal, doch sie sagte nur: »Jason
ruft nach mir, leben Sie wohl, meine Liebe«, und hängte ein.
Zu meiner Überraschung trat Jason wenig später aus dem Haus.
Er sah so kräftig und verläßlich aus wie immer und pfiff nach
den Hunden.
»Sie sind in den Wald gelaufen«, sagte ich.
Er sagte nicht danke, pfiff noch einmal, und da kamen die be i­
den aus dem Wald hervor. Sie zupften und zerrten an irgend
etwas, das sie erbeutet hatten. Ich war ganz nahe, hatte keinerlei
Furcht mehr vor den zwei großen jungen Hunden, und ich sah
alles ganz genau.
»Ablegen!« sagte er.
Und sie gehorchten. Und Jason hob die gänzlich schlaffe Ente
auf, hielt sie so zart in den Händen, als wäre sie ein Baby. Ich sah
die Tränen in seinen Augen und seine zitternden Lippen.
»Nicht weinen, Jason«, sagte ich.
Mit brennendem und bittrem Haß sah er mich an.
Ich erschrak. Trat zurück.
Ein Damenschal war eng um den Hals der Ente gewunden. In
meinem Schrecken bemerkte ich doch alle Einzelheiten. Der
Schal war rosafarben, und in lila Schrift stand darauf Gute Reise.
Seine Mutter!
Jason knüpfte den Schal auf. Auf dem breiten, flachen Ente n­
schnabel stand geronnenes Blut, und Klümpchen getrockneten
Blutes verdeckten die kleinen Atem löcher. Die einst feschen
Schwanzfedern waren schlaff, und der herabhängende Hals
schien sehr, sehr lang.
Jason wandte sich ab und ging ins Haus, den seltsamen kleinen
Leichnam mit sich tragend, und die Ge melli folgten ihm mit
gesenkten Köpfen und baumelnd en Schwänzen. Sie sahen aus,
als ob sie sich für die Schuldigen hielten und bereit wären, es auf
sich zu nehmen, wenn es denn sein mußte.
»Kleiner!« schrie Lesley.
Ich hörte den Schuß. Es klang nicht anders als ein Sektpfro p­
fen.
EDNA O’BRIEN

Eine Frau am Meer

Morgen

Vier Tage waren sie jetzt schon hier, und jeden Morgen stand sie
früh auf und machte auf der Promenade einen Spaziergang. Am
Ende der Promenade lag ein Golfplatz, sie schritt über das Gras
auf die leere, baumlose Fläche zu, die nichts enthielt, bis auf eine
alte, graue Ruine. Am vierten Morgen redete ein Mann sie an, der
hier nach Golfbällen suchte, und warnte sie, sie möge ja nicht mit
hohen Absätzen über die Putten gehen, obwohl er doch genau
sehen konnte, daß sie Schuhe mit flachen Absätzen tr ug. Das
andere Gras, erklärte er ihr, das zähe gelbe Zeug, sei aus Neuse e­
land importiert, denn das irische Gras habe in dem mörderischen
Seewind hier keine Chance. Der Mann ruckte und zuckte beim
Sprechen, sie erkannte ihn jetzt, das war die ›Uhr‹, so gena nnt
wegen der Regelmäßigkeit seiner Verrenkungen.
»Nehmen Sie doch ein Bonbon«, sagte er und holte eine Han d­
voll Karamellen aus seiner Manteltasche, aber sie lehnte ab und
ging weiter, etwa eine Meile, dann setzte sie sich auf eine Anhöhe
– jeden Tag diese lbe –, schaute aufs Meer hinaus und dachte
immer mehr oder weniger dasselbe. Würde man ihn heute sehen?
Würde er dort anknüpfen, wo sie aufgehört hatten? Ihr die Ju­
gend zurückgeben, ihr Vor-Leben, das, wonach jeder sich sehnte,
ausgenommen die Kinder. Und wenn sie einander sahen und er
sagte: »Na, wie geht’s?«, was sollte sie dann antworten? Sollte sie
ihm sagen, daß sie die Gattin eines Arztes war, daß sie eine Zu­
gehfrau hatte, die die Türklinken putzte und die Besuche in einen
verschnörkelten Vormerkkalen der eintrug, wo für jeden einze l­
nen Tag des Jahres ein besonderes Gebet stand. Schließlich war
man gut katholisch. An manchen Tagen gab es Kartoffelpüree,
an anderen Bratkartoffeln, an Freitagen Chips; man brauchte
Abwechslung im Leben. Wenn sie sonst nichts zu tun hatte, dann
saß sie oben – ein Schlafzimmer war als Wohnzimmer eingeric h­
tet worden – und las, manikürte sich die Nägel, hörte sich traur i­
ge Musik an. An den Abenden, an denen ihr Mann nicht nach
Hause kam, saß sie am Fenster, hauchte auf die Scheiben, wischte
sie wieder sauber, stellte sich vor, welchen anderen Verlauf ihr
Leben hätte nehmen können, dachte an ihre Kindheit und an
eigene Kinder, die sie nun nie mehr haben würde; sie hatte sich
wegen irgendeines inneren Leidens operieren lassen, und dabei
hatte man ihr zuviel weggeschnitten. Ein Freund ihres Mannes
hatte die Operation gemacht, kostenlos. In bitteren Momenten
redete sie sich ein, daß ihr Mann das so arrangiert hatte, damit sie
kinderlos bleiben und ihr ganzes Leben lang nur ihn verwöh nen
würde. Die Operation hatte sie noch immer nicht verwunden.
Sie hatte ihn geliebt, so wie man eben liebt, als sie vor sieben
Jahren geheiratet hatten; dann begann sie, ihn nicht mehr zu
lieben; und jetzt hatte sie derart genug von ihm, daß sie gar nicht
mehr glauben konnte, ihn jemals geliebt zu haben. Er war
schwach, vergeßlich, glücklich über ein neues Hemd, zu ängs t­
lich, um nach Einbruch der Dunkelheit noch draußen im Garten
Kohlen zu holen, knausrig bei den Ausgaben für den Haushalt,
dafür splendid in den Wirtshäusern, ein Angeber, ein Charmeur.
Deshalb war sie zurückgekommen, um den anderen wiederzus e­
hen, ihren Jugendgeliebten, den Jungen mit dem sandfarbigen
Haar. Ein paar Nächte lang war sie mit ihm zusammen gewesen,
sie hatten getanzt, er hatte si e unter einer Pappel vor ihrer Wo h­
nung in Dublin geküßt. Damals waren sie beide noch Studenten
gewesen. Er hatte nie sein Examen gemacht, sondern wurde ein
Folk-Sänger und war jetzt in Amerika sehr berühmt. Sie hatte es
so eingerichtet, daß sie und ihr Man n hier in diesem Ort, woher
ihr Geliebter stammte, ihren Urlaub verbrachten. Das war ganz
leicht gewesen, und einen Urlaub hatten sie dringend nötig, sie
hatte genug von dem ewigen Telefon, der ewigen Türklingel, dem
Kanarienvogel in seinem Käfig und den monatlichen Fleisc h­
rechnungen.
»Buche einfach irgendwo«, sagte ihr Mann. »Wir haben Geld,
wir können es uns leisten.«
Also buchte sie ein Zimmer in dieser Hafenstadt im Westen
von Irland, in der Hoffnung, daß auch er, jetzt, da es Sommer
war, hier seinen Ur laub verbringen würde. Schon am ersten
Abend hörte sie vom Hotelbesitzer, daß er hier sei, aber sie hatte
ihn noch nicht gesehen. Heute vielleicht? Immerhin, sie sah
wenigstens gut aus. Das lange, dunkle Haar machte sie jung, wie
dreißig sah sie bei weitem noch nicht aus, der Wind ließ ihre
Augen glänzen wie früher, als sie noch ein Mädchen war und
darauf brannte, sich zu verlieben.
Auf dem Rückweg hatte sie die Stadt vor sich und die Häuse r­
zeile, die zu der neuen Kirche mit der Aussicht aufs Meer hinau f­
führte. Die Häuser waren alle weiß, nur eines hob sich von den
anderen ab mit seinem Pfauenblau, aber auch die weißen Mauern
hatten einen Stich ins Blaue, sie hatte gehört, daß die Leute hier
immer etwas blaue Farbe in die weiße Kalktünche gaben, das
Blaue sc himmerte leicht durchs Weiße hindurch, wie das ferne
Klagen des Brachvogels durch die Schreie der Möwen. Die Mö­
wen schrien wie alte Weiber, die Brachvögel klagten wie traurige
Mädchen, menschliche Stimmen gingen im Gelärm der Vögel
und im Röhren des Windes unter. Bald würde es regnen, die
Geschäftsleute holten schon die Sachen herein, die sie im Freien
ausgestellt hatten, die bunten Bälle und die handgestrickten
Pullover. Ein paar Kinder auf Besuch spielten unten am Strand,
ein paar Erwachsene lehnten sich über das Geländer, sahen ihnen
zu, riefen sie zurück. Sie lächelte. Aus diesen steifen Kunden
machte sich der Hotelbesitzer nur wenig – das waren Engländer,
die ein riesiges Frühstück verschlangen, ein riesiges Lunch, ein
riesiges Abendessen und dazu Pale Ale tranken. Kein Profit
dabei.
Sie zog sich Schuhe mit hohen Absätzen an und ging in die
Hotelbar, sie wollte ihren Mann sehen und war sicher, daß sie ihn
dort finden würde.
»Nur herein, Mrs. Mullaly!«
»Ellen.« Ihr Mann hatte schon wieder dieses glücklich abwesen­
de Lächeln, wie immer, wenn er ein Glas mit Alkohol in der
Hand hielt.
»Die wird noch eine echte Wandersfrau.«
»Was für eine gute Farbe sie hat!«
Sie ging über den sauberen Steinfußboden zu ihnen – zu ihrem
Mann, Dr. Mullaly, zu Mr. Carmody, dem Ban kmanager aus der
nächsten County, zu James, dem Hotelbesitzer, der in seinem
schwarzen Anzug aussah wie ein Pfarrer, zur der ›Uhr‹, der ger a­
de versuchte, einen Drink gegen ein paar lehmverkrustete Gol f­
bälle einzuhandeln, und zu einem Mann namens Tim, der einen
Geißbock hielt und sich über den schlechten Gang der Geschäfte
beklagte.
»Nehmen Sie einmal mein Problem«, sagte er, »die edle Geiß ist
am Aussterben, Materialismus und Dialektik sind in Gefahr,
zu…«
»Yeah«, sagte der Amerikaheimkehrer. Eigentlich geh örte er zu
gar keiner Partei, aber er bändelte mit allen an, außerdem ve r­
suchte er, James seine Kunden abspenstig zu machen, dieser
betrachtete ihn daher mit einer gehörigen Portion Mißtrauen . Er
war aus Amerika zurückgekehrt und hatte ein großes Herrenhau s
gekauft, in ein Hotel umgewandelt und mit grünen Teppichen
und grünen Vorhängen ausgestattet. Den Besuchern gefiel aber
anscheinend das kleinere Hotel mit seinen weißgekalkten Wä n­
den und Fußböden aus Schwarzstein (aus dem Steinbruch in der
Nähe) viel besser.
»Was trinkst du?« fragte der Arzt seine Frau.
»Irgendwas, Sherry…« Er selber trank Whisky. Bis Mittag wü r­
de er langsam von seinem Barhocker heruntersacken, später die
Suppe schlürfen, die James ihm brachte.
»Sie sind doch der ›Uhr‹ begegnet«, sagte Mr . Carmody zu ihr.
»Hat er Sie belästigt?«
Die ›Uhr‹ tat sich derart schwer, von einem Mädchen einen
Kuß zu bekom men, daß er nur in der Finsternis eine Chance
hatte, und auch dann nur mit Gewalt. Ich hätte ihn küssen sollen,
dachte sie und seufzte über ihre kleinliche Kühle, die Kühle aller
Frauen, die das, was sie geben, immer nur an dem messen, was
sie dafür bekommen.
»Ich, ich hab’ überhaupt nichts mit der Frau Doktor gemacht,
was ich nicht…« fing die ›Uhr‹ an, aber James, der ihn manchmal
als Aushilfe be schäftigte, schickte ihn in die Küche. Sie sahen
ihm alle nach – da konnte man gar nicht wegsehen –, wie er
zuckend zur Tür ging, sein eigenes Leiden gleichsam parodi e­
rend. Gleich würde Ellen fragen, ob ihr Freund schon aufg e­
taucht sei. Zu spät. Jetzt redete der Doktor.
»Erzähl doch Ellen die Geschichte«, sagte er zu Mr. Carmody.
»Ellen wird sie gefallen.«
»So, bist du sicher?« Diese Bitterkeit war ihnen bereits zur Ge­
wohnheit geworden.
»Auf jeden Fall«, antwortete Mr. Carmody, fuhr sich mit der
Zunge über die Lippen und setzte an. Er war ganz außerstande,
eine Geschichte zu erzählen, ohne sie vorher durch ausführliche
Erklärungen zu ruinieren.
»Das ist ein schönes Beispiel für eine typisch irische Unterha l­
tung, für die eingeborene Hinterfotzigkeit, wenn Sie so wollen…«
»Los, fang schon an«, sagte der Doktor, der es besser verstand.
»Schön«, sagt Mr. Car mody, »da waren also diese beiden Mä d­
chen, die eine hinter der Mauer, die andere fuhr auf ihrem Fah r­
rad draußen vorbei. Wir wollen die eine hinter der Mauer Maria
nennen, ihre Freundin aber Martha.«
»Immer die ewige Scheiß -Bibel«, sagt der Mann mit dem Gei ß­
bock.
Mr. Carmody fuhr fort: » ›Wie spät ist es denn?‹ fragt das Mä d­
chen auf dem Fahrrad.
›Fährst du hinunter ins Dorf?‹ fragt das Mädchen hinter der
Mauer.
›Kann ich dir was mitbringen?‹ fragt Martha zurück.
›Was brauchst du denn selbst aus dem Dorf?‹ sagt Maria darauf.
›Ich weiß überhaupt noch nicht, ob ich wirklich fahre‹, sagt
Martha«, darauf fing Mr. Carmody zu lachen an und gab damit
Ellen das Zeichen, ebenfalls zu lachen. Kein Zweifel, sie hatte
wirklich keinen Humor. Ein Seelchen, das war das passende
Wort für sie, ein rührseliges Seelchen.
James wußte, was sie auf dem Herzen hatte. »Wir werden bald
Gesellschaft bekommen«, sagte er und teilte ihr mit, daß Tom
angerufen und einen Tisch für drei Personen bestellt hatte.
»Wir werden ihn schon zum Singen bringen«, sagte sie und tat
so, als wäre sie nur daran interessiert, als würde die Vorstellung,
daß er singen würde, sie so glücklich machen, daß sie gleic h eine
Runde für alle bestellte. Sie summte sogar ihrem Mann ein kle i­
nes Lied vor.
»Sehr schön«, sagte James. Das hatte sie an ihrem Hochzeitstag
gesungen, damals studierte ihr Mann noch, und sie war Lehrerin.
Dann machte er seine Prüfungen, kam als Arzt voran, und sie
mußte ihre Arbeit aufgeben, denn es gehörte sich nicht für einen
erfolgreichen Mann, daß seine Frau arbeiten ging. Aber das war
ja jetzt nicht mehr wichtig, denn ihr Freund kam zurück, sie
würden beieinander sitzen und ihre Freundschaft erneuern.
»Gott ist mein Zeuge«, sagte Mr. Carmody und wärmte seine
Hände am Strahlen ihres glücklichen Gesichts. »Wer kann die
Frauen verstehen? Da schneiden sie dich mit ihrem Blick, und im
nächsten Augenblick wickeln sie dich mit ihrem Charme ein.«
»Ich habe Sie doch nicht geschnitten«, sagte Ellen mit kokettem
Lächeln, »wann soll ich Sie geschnitten haben?«
»Meine Frau«, erklärte der Doktor, zu den Flaschen in der Bar
gewandt, »ist eine einmalige Persönlichkeit, eine Dichterin – in
einer Gesellschaft wie der unseren daher völlig fehl am Platz.«
»Sie ist nicht ganz bei Trost«, sagte der Mann mit dem Gei ß­
bock, weil er sah, wie sie an den Wicken in der Vase knabberte
und verschiedene Zeilen aus verschiedenen Liedern summte.
»Yeah«, sagte der Amerikaheimkehrer.
»Ich gehe jetzt«, sagte James, »und bereite das Fest für unseren
Freund vor«, und ging lächelnd hinaus.

Nachmittag

Das erste, was Ellen auffiel, war das Abstinenzler -Abzeichen am


Revers ihres Freundes. Damals, als sie beisammen waren, hatte er
getrunken, un d ihr Mann hatte keinen Alkohol ang erührt. Er
verbeugte sich, lächelte über zwei Tische zu ihr herüber, und sie
deutete ganz dumm auf ihr eigenes Jackenrevers, als Anspielung
auf das Abzeichen an seinem. Er saß bei seinen Eltern, die so
schüchtern und verl egen waren, daß sie ihre Mäntel nicht ausz o­
gen und sich nur im Flüsterton unterhielten. Sein Haar war
dunkler geworden, aber das Gesicht war dasselbe geblieben – wie
aus gelbem Kalkstein gehauen. Sie saß zwischen ihrem Mann und
Mr. Carmody und nahm deren Scherze und Aufmerksamkeiten
entgegen. Vor ihnen stand eine Flasche Weißwein, sie trank aus
einem Glas mit langem grünem Stiel.
»Ich sehe dich gern mit dem Glas in der Hand«, sagte der Do k­
tor.
»Du würdest mich gern als Säuferin sehen«, gab sie zurück, ta t­
sächlich schon ein bißchen betrunken, so daß die Worte nicht
mehr ganz klar herauskamen.
»Nehmen Sie das mit dem Stiel«, sagte Mr. Carmody und er­
zählte zum zweiten Mal die Geschichte von dem Stadtprediger,
der heimlich trank und ein Abkommen hatte, daß er st ets ein
Stielglas bekam, wenn es nach der Kirche irgendwo etwas zu
trinken gab.
»Ich habe Ihre Geschichtensammlung wirklich gern«, sagte sie
zu Mr. Carmody, dabei sah sie Tom in die Augen, zum fünften
Mal.
»Madame«, sagte er und hob seine Serviette, um sic h dahinter
vor ihren Blicken zu verstecken. Der Narr. Toms Eltern wurden
immer verlegener. Sie fing an, an ihrem Essen herumzukauen,
und sah nervös drein.
»Ich habe mir vor einer Stunde einen kleinen Drink genehmigt«,
gähnte der Doktor, »und das ist mir so fort in den Kopf gesti e­
gen.«
»Ich sage dir etwas, was mir wirklich gefällt«, sagte sie, nur um
irgend etwas zu sagen, damit er ja nicht hier an Ort und Stelle
einschlief, »ein Bild.«
»Ein Bild!« wiederholte der Doktor in einem Ton, als hätte sie
sich gerade hier in der Öffentlichkeit entkleidet.
»Es gibt eine Art von Glas, das in deiner Hand zerbricht, wenn
du es nur fest genug hältst«, aber als sie das sagte, kam gerade
Tom herüber und schüttelte ihnen allen die Hände, sie mußte das
also noch einmal sagen.
Ihr Geliebter lächelte und sagte, sie müßten die Tische zusa m­
menstellen.
Als das geschehen war, saß sie neben seinem Vater, einem au s­
gemergelten, grauhaarigen Mann mit den meerblauen Augen, die
sein Sohn von ihm geerbt hatte.
»Sie sind sicher sehr stolz auf ihn«, sagte sie.
»Natürlich. Wir sind sehr stolz auf ihn«, antwortete er, aber es
klang unnatürlich, wie auswendig gelernt. Wie hätte er denn auch
Nein sagen können.
Als Toms Mutter hörte, daß jetzt ein Arzt unter der Gesel l­
schaft war, beugte sie sich h erüber und sagte, daß ihr der Rücken
zu schaffen mache.
»Sie sollten in ein Krankenhaus gehen«, sagte der Doktor, was
er immer sagte, wenn er Leute loswerden wollte.
»In den Krankenhäusern ist das Essen so schlecht«, behauptete
sie, obwohl sie hier auch ni chts anderes als Tee und Gebäck zum
Lunch gegessen hatte.
»Wie lange haben Sie das denn schon?« fragte Ellen, weil sie
befürchtete, daß ihr Mann vielleicht zu unhöflich gewesen war.
»Schon seit Toms Geburt«, erklärte diese stille, dicke Frau err ö­
tend der ganzen Gesellschaft. Mr. Carmody kam ihr zu Hilfe,
indem er – angesichts des berühmten Sängers in ihrer Mitte –
jetzt einen allgemeinen Gesang vorschlug, und James, der Hote l­
besitzer, unterstützte diesen Vorschlag mit einem Tablett voller
Irish Coffees.
»Bitte zuzugreifen«, sagte er. Draußen hatte es zu regnen be­
gonnen, so daß niemand etwas versäumte – Sonnenschein etwa,
oder Heu einbringen –, wenn er hier drinnen saß. James ließ die
Jalousien herunter, daß es ganz dunkel wurde, drehte die Lampen
an und setz te sich ans Ende der beiden zusammengestellten
Tische. Die ›Uhr‹ schlüpfte durch die Küchentür herein, durch
die andere Tür kamen noch ein paar weitere Einheimische, um
den berühmten Sänger zu sehen, der jetzt eine Gabel auf der
anderen balancierte. Er hat te überraschend schlanke Hände, mit
blonden Haaren auf den Fingern, bis hinunter zu den Fingerg e­
lenken.
»Weißt du noch«, sagte er zu seinem Vater, »du konntest einen
Schürhaken auf dem Boden balancieren, so feine Hände hast du
gehabt.«
Sein Vater wußte nic ht, was er darauf sagen sollte, er hatte ei­
nen roten Kopf vom Kaffee und von der Gemütlichkeit, er hätte
jetzt gern ein Lied gesungen.
»Weißt du noch«, sagte Ellen zu ihrem Freund, er schaute sie
an, aber da interessierten sich schon alle für ihre Erinnerungen.
»Was?« sagte Tom ganz ernst.
»Nichts«, antwortete sie und machte eine kleine Bewegung, sie
zog die Schultern hoch und hielt die Hände empor, die Finger
nach außen gespreizt, als müßte sie einen Feind abwehren, diese
Geste hatte als kleiner Tick begon nen, aber jetzt konnte sie sich
schon nicht mehr davon zurückhalten. Die ›Uhr‹ dachte alle r­
dings, daß diese Geste freundlich gemeint sei und ihm gelte, kam
daher zu ihr herüber und legte ihr die Hand auf die Schulter. Sie
war die einzige junge Frau im Zimm er, alle Männer wandten sich
an sie, wenn sie sprachen. Gut ging es ihr!
»Amerikas Heimkehr«, sagte James und gab der Kellnerin einen
Wink, noch mehr Irish Coffees zu bringen. Draußen hörten sie
die Dachrinnen überfließen, den Regen gegen die Steinmauer
schlagen und dachten an Regennächte ihres Lebens.
»Wohnen Sie hier im Hotel?« fragte Tom, meinte aber: ›Wie
kann ich dich sehen ohne all diese Aufpasser hier?‹
»Ja, wir bleiben zwei Wochen lang hier«, sagte sie. Ihr Mann sah
zu ihr herüber.
»Die Meeresluft«, sagte ihr Mann mit einem Stachel in der
Stimme, »macht keusche Frauen schwanger.« Als ob sie und er
nie als Mann und Frau zusammengelebt hätten. In den letzten
Jahren hatten sie das ohnehin kaum, sie lebte eigentlich mehr für
sich, zog sich im Badezimmer aus, kroch dann ins Bett, gestärkt
und beschützt von ihrem knöchellangen wollenen Nachthemd.
»Mein Mann nimmt mich gern auf den Arm«, sagte sie, um ihre
Verlegenheit zu verbergen. Noch mehr Leute drängten sich jetzt
um den Eingang, und sie war froh, daß si e die Aufmerksamkeit
auf sie lenken konnte.
»Schau, Tom, dort ist der ›Tank‹ «, sagte Mr. Carmody und de u­
tete auf einen Dragoner von einem Weib mit Lockenwicklern. Sie
hatte vier Kinder geboren, ohne je verheiratet zu sein, daher ihr
Spitzname. Aber James sagte: »Schschsch!«, als hätte er solche
Gespräche nicht gern in seinem Hotel.
»Allerdings«, sagte er, »bekomme ich damit immer einen La­
cher«, und er zog aus seiner Jackentasche eine Postkarte mit dem
bräunlichen Bild einer Kirche, darunter stand: ›Luftbil d vom
Fegefeuer des Heiligen Patrick‹. Er reichte die Karte Mr. Carm o­
dy und bat ihn, sie Tom vorzulesen, und Mr. Carmody las mit
seiner eifrigen, schwammigen Stimme:
»Sehr geehrter Herr,
ich, Bridie Donoghue, aus Mill Road, Carrick on Suir, County
Tipperary, war bei der Wallfahrt mit Mr. Dunne und habe dabei
leider ein Korsett verloren, in Ihrer Toilette oder an einem and e­
ren Ort. Ich bezahle auf jeden Fall das Porto, wenn Sie es mir
schicken. Ich, Bridie Donoghue aus Mill Road, Carrick on Suir,
County Tipperary.«

Jetzt sah Ellen ihn zum ersten Mal lachen, sein ganzes Gesicht
war wie aufgebrochen, seine blauen Augen sahen wieder so
fröhlich aus wie damals.
»Das arme Mädchen«, sagte er und lachte für sie.
»Sehen Sie«, sagte Mr. Carmody, »nach dem vielen Bereu en,
Beten und Fasten wurde ihr das neue Korsett einfach zuviel. Da
schleuderte sie es hinweg.«
»Ich habe schon immer einmal eine Wallfahrt machen wollen«,
sagte Toms Mutter, »wegen meinem Rücken.« Das hatte sie zu
Tom gesagt, aber der zerriß sich noch immer vor Lachen.
»Ich werde wallfahren gehen, wenn mich die Freuden des Le i­
bes einmal verlassen«, sagte Mr. Carmody und nahm sich den
zweiten Irish Coffee vor, der für Tom bestimmt war. Den ersten
hatte sich der Doktor genommen, das war schließlich nur recht
und billig. Tom trank Tee. Bald würde er wohl gereizt werden,
wie alle Leute, die sich von der falschen Fröhlichkeit, die der
Alkohol bei einer Gesellschaft erzeugt, ausgeschlossen fühlen.
»Sie sollten Tom Ihren Geißbock zeigen«, sagte sie zu dem
Mann, der sich dieses Vieh hielt. Eine echte Eingebung! »Vie l­
leicht kauft er ihn Ihnen ab und nimmt ihn mit nach Amerika.«
»Ein edler Gedanke«, sagte der Bocksbesitzer, und jetzt kon n­
ten sie und Tom ohne Schwierigkeiten und ohne lange Erkläru n­
gen aufstehen, um den Bock zu besichtigen, der in einer kleinen
Hütte ein paar Häuser weiter lebte.
»So«, sagte er, sobald sie entkommen waren. Sie legte den Kopf
zurück und trank mit offenem Mund den Regen – sie wollte, daß
ihr Atem für ihn nach Regen roch.
»So«, sagte sie im gleichen Ton, aber zuerst mußten sie das Vieh
betrachten. Tim wartete schon auf sie, um sie hinzuführen. Sie
sahen also einen weißen, grämlichen Geißbock, der an die Hi n­
tertür gekettet war und sich in dem kleinen Garten kaum rühren
konnte. Ein paar Rhabarberstauden lagen unberührt da.
»Was frißt er denn?« fragte Tom.
»Alles«, fing sein Herr an. »Nehmen Sie zum Beispiel ein Pal m­
blatt oder was wir hier eben so nennen, eigentlich ist es ja eine
Zypresse…«
Würden sie jemals von ihm loskommen? Mußten sie sich wi rk­
lich noch mehr langweiliges Zeug über diesen Geißbock anhören
und dabei kostbare Sekunden verlieren?
»Schalen ißt er natürlich auch«, fuhr sein Besitzer fort. »Hunger
ist der beste Koch.«
»Er gefällt mir«, sagte Tom. »Er ist arrogant, das gefällt mir.«
»Werden Sie ihn kaufen?« fragte der stolze Besitzer, der vor
knapp zwei Minuten geschworen hatte, sich niemals im Leben
von seinem Geißbock zu trennen.
»Was sollte ich denn mit ihm tun?« fragte Tom. Sie sah, wie
gern er dem Mann entkommen wäre, aber zuerst wollte er ihm
noch auf irgendeine Art ein Pfund zukommen lassen.
»Bringen Sie ihn zum Fernsehen«, sagte dieser.
»Der spielt mich womöglich an die Wand!«
»Na ja, das kann schon sein – muß aber nicht!«
»Kaufen Sie ihm einen Baum«, sagte Tom und gab ihm das
Geld.
»Das kann ich doch nicht nehmen«, sagte Tim, schloß schnell
die Hand über dem Geld und grinste – für die nächsten drei
Abende war ihm der Porter sicher. Jetzt waren sie ihn los.
Sie gingen aus der Stadt hinaus, in Richtung auf den Golfplatz.
»Ich träume von dir«, sagte Tom, als sie endlich die Straße und
damit die Reihe der schweigenden, neugierigen, mißbilligenden
Häuser hinter sich gelassen hatten.
»Und ich«, sagte Ellen, »denke an deine Purpuraugen.«
»Meine Augen sind blau!«
»Du hast Meeraugen«, sagte sie, »die ändern sich dauernd.«
»Und wie geht’s dir?«
»Wunderbar, großartig.« Sie stiegen jetzt den ersten Grashügel
hinan, Hand in Hand, daher bemerkten sie weder Regen noch
Feuchtigkeit.
»Du bist wie ein kleines Kind«, sagte er. Sie waren beide gleich
alt, aber er war groß geworden, war hinausgezogen in die We lt,
hatte kämpfen gelernt, ums Vorsingen, um Ruhm, Geld, Ane r­
kennung; er hatte sich seinen Platz an der Sonne erkämpft.
»Rede«, sagte er zu ihr.
»Warum sollen wir es mit Worten zerreden?« fragte sie.
»Weil ich sehe, daß du reden willst, du bist unruhig.«
»Bin ich alt geworden?« fragte sie ihn. »Nein«, sagte er, ihr Ge­
sicht war noch genauso traurig und lieblich wie früher, ihr Hals
noch immer der Hals eines jungen Schwans. Jetzt war es aus mit
ihr. Er konnte stundenlang ernst, ja düster sein, ihre kindischen
Gefühle nicht beachten, aber dann war er auf einmal so zärtlich,
daß ihr davon ganz schwindlig wurde.
Der Regen hatte nachgelassen, sie setzten sich im Schutz eines
kleinen Hügels, um einander an zusehen. Er nahm eine kleine
Cellophanschachtel aus der Tasche und brach zwei Eckchen ab,
die weiße Pillen enthielten.
»Tut dir was weh?« fragte sie.
»Nein, das nehme ich, damit mir eben nichts weh tut.« Und
darauf steckte er sie in den Mund und kaute sie, ganz offen und
schamlos.
»Erinnerst du dich noch an die Nacht, als sie uns in Dublin fast
aus dem Pub geschmissen hätten, weil du das Wort ›Jungfer n­
schaft‹ gebraucht hast?«
Er wußte noch alles, das Pub, den mit Sägemehl bedeckten
Boden, den Whisky mit dem schwarzen Etikett und die Ohrringe
aus Kristall, die einen so langen Schatten auf ihren Hals warfen.
Und er küßte sie jetzt genauso, wie er sie damals geküßt hatte. Ihr
Leib flog ihm entgegen. Sie lag auf dem nassen Importgras, er
umfing sie mit Armen und Beinen und sagte, wenn sie eine
Lungenentzündung bekäme, dann würde eben ihr Mann sie
übernehmen müssen.
»Gib mir deinen Mund«, sagte sie. Er küßte sie von ihrem ho­
hen Haaransatz herunter über ihr ganzes trauriges Gesicht.
»Wenn es jetzt schön wäre, wären die Golfspieler hier«, sagte
sie, außer Atem.
»Zum Teufel mit ihnen«, sagte er.
Aus irgendeiner Gedankenverbindung heraus dachten sie jetzt
beide an die zerbrechlichen Gläser, und er preßte sie so fest an
sich, daß ihre Knochen knirschten.
»Wir können miteinander schlafen, wenn du willst«, sagte sie.
»Ich will«, sagte er.
»Dann kannst du.« Tief war sie gesunken, sie bettelte fast da r­
um.
»Vielleicht wirst du dann schwanger«, sagte er, »das wäre mir
nicht recht.«
»Ich werde ganz sicher nicht schwanger«, antw ortete sie. Aber
ihr Geheimnis konnte sie ihm nicht sagen, denn das war schmu t­
zig, das hatte nichts zu tun mit dem sanften Regen, mit dem
weichen Fordern seiner malvenfarbenen Zunge, die mit ihrer
Zunge verschmolz.
»Wirklich nicht, jetzt nicht, glaub mir.«
»Bist du ganz sicher?«
»Ja, ich bin ganz sicher, ich bin ganz sicher, daß ich dich liebe“
und daß ich immer nur auf dich gewartet habe«, sagte sie, das war
zwar nicht die Wahrheit, aber gelogen war es auch nicht. Hatte
sie das nicht auch damals zum Doktor gesagt?
»Ellen«, sagte er, ihren Namen dort aufnehmend, wo er ihn vor
Jahren zuletzt geflüstert hatte, »da ist nur eins – «
»Was?«
»Ich werde in zwei Monaten heiraten.«
»Oh.« Das änderte die Lage völlig. »Warum hast du das nicht
gleich gesagt?«
»Ich wollte dich nicht verletzen.«
»Aber das tust du doch!«
»Ich weiß. Macht das wirklich so viel Unterschied? Können wir
nicht trotzdem?«
»Du willst dich noch einmal vergnügen«, sagte sie, angewidert
von ihrer eigenen Stimme , die innerhalb weniger Sekunden
schneidend geworden war. Gott allein wußte, wie ihr Gesicht
jetzt aussah. Irgend jemand hatte einmal gesagt, daß das Licht in
ihrem Gesicht ausging, wenn sie schlechte Nachrichten hörte, als
hätte man eine Lampe von innen gelöscht. Sie rührte sich unter
ihm, er setzte sich auf und nahm einen Taschenkamm heraus, um
sein Haar zu kämmen, obwohl es gar nicht zerzaust war.
»Ist sie aus Irland?« fragte sie endlich, denn er hätte wahrschein­
lich nun den ganzen restlichen Abend geschwiegen.
»Nein, sie ist Amerikanerin.«
»Wie reizend«, sagte sie mit falscher Herzlichkeit in der Stimme.
»Die sind ja groß in Hygiene, in Gemeinschaft und Snacks, den
guten alten amerikanischen Snacks.«
»Du kennst sie doch überhaupt nicht.«
»Da hast du vollkommen recht«, erwiderte sie, schaute au fs
Meer hinaus und überlegte, wie sie jetzt damenhaft aufstehen
könnte, ohne daß ihre Knie knarrten, ohne daß man ihr ihr Alter
ansah. Aber da überfiel sie wieder der alte alltägliche Schmerz ,
und es tat ihr leid, was sie über Snacks und Gemeinschaft gesag t
hatte.
Sie kehrten um, gingen zurück in Richtung Stadt, vorbei am
Pfauenhaus und an den vielen weißen Häusern, die dunkler
geworden waren unter dem finsteren Himmel.
»Wo hätten wir denn miteinander geschlafen?« fragte sie.
»In der Ruine«, gab er zur Antw ort. Sie gingen in die entgege n­
gesetzte Richtung.
»Die alte graue Ruine meinst du?«
»Genau.«
»Wo Fuchs und Has’ sich gute Nacht sagen?«
»Du bist ja wieder lustig«, sagte er.
»Natürlich«, erwiderte sie, »ic h bin lustig, weil ich tugendha ft
bin.« Anscheinend war es wichtig, einen glücklichen Eindruck zu
machen. Sie redete über ihr Leben, ihre glänzenden Türklinken,
über ihre Lektüre, die Patienten ihres Mannes, die Platten, die sie
sich anhörte. Er erzählte von Amerika, von Greenwich Village,
wo er lebte, von Kürbissen, die er gegessen hatte, von seinen
Konzerten und wie sehr er in den Fernsehstudios jedesmal
schwitzte.
»Schwitzen ist gesund«, sagte sie, und dann lachten sie beide
über ihre hochtrabende Bemerkung. Wenn sie jemals ein gutes
Volkslied hören sollte, dann möge sie es ihm doch bitte schicken,
sagte er und schrieb ihr seine Adresse auf eine Zigarettenschac h­
tel, sich gegen die Wand des ersten Hauses der Stadt lehnend.
Die Adresse, die er ihr gab, war die der Plattengesellschaft, mit
der er seine Aufna hmen machte; seine Privatadresse vertraute er
ihr nicht an. Sie sagte, sie würde gern einmal nach New York
kommen, und er meinte, es würde ihr sicher gut gefallen. Als sie
schon ziemlich nahe beim Hotel waren, wandte sie sich wieder zu
ihm.
»Wir sollten doch noch einmal zurückgehen zu unserer Ruine.«
»Du wirst mich hassen«, sagte er.
»Nie, das könnte ich nie.«
»Die können uns jetzt schon durchs Fenster sehen«, sagte er.
»Meine armen Eltern werden ohnehin schon glauben, daß ich mit
dir zusammen abgehauen bin.«
»Wie lange bist du denn noch zu Haus?«
»Zwei Tage.«
»Vielleicht sehe ich dich noch einmal.«
»Möglich.«
»Wann?«
»Überlassen wir es dem Zufall«, sagte er, »ich plane solche Di n­
ge nicht gern im voraus.«
»Ausgenommen heiraten«, sagte sie, aber er drückte sc hon auf
die Türklinke des Hotels und hatte sie vielleicht nicht mehr
gehört. Auf der Schwelle drehte er sich noch einmal um und
wölbte seine Lippen zur Andeutung eines Kusses. »Es war wahr,
wie ich gesagt habe, daß ich von dir träume, das war alles wahr«,
sagte er.
Dann gingen sie hinein, mit unschuldigem Gesichtsausdruck,
und die Leute drinnen sahen über sie hinweg, als wären sie nur
ein paar Minuten lang fort gewesen. Die Zeit war im Speisesaal
langsam zerbröckelt, Rauch lag über den Tischen, der Dampf
von heißem Kaffee und warmem Atem hatte die Fenster und die
Spiegel beschlagen und die Gesellschaft benebelt, die sich jetzt
über irgend etwas zankte, was keiner ganz genau ausdrücken
konnte.
»Das ist falsch, das ist vollkommen falsch«, hörte sie Toms Va­
ter sagen.
Tom mußte sich plagen, seine Eltern loszueisen, und während
er auf sie einredete, hielt er die ganze Zeit Ellens Hand, denn er
hatte angefangen, sich von ihr zu verabschieden, und konnte
nicht damit aufhören, bis er wirklich fortging.

Nacht

Ellen bl ieb mit ihrer Gesellschaft noch unten – andere Leute


kamen dazu –, und gegen neun Uhr aßen sie dann.
Weil es so ein verlorener Tag gewesen war, hatte ihr Mann
noch mehr als sonst üblich getrunken, noch vor elf Uhr mußte er
von zwei Männern ins Bett gebrach t werden. Sie blieb noch ein
bißchen unten, um ihre Ente zu verdauen, wie sie sagte. Sie war
außer sich vor Angst. Er hatte auf die Uhr gesehen, wie lange sie
mit Tom fortgewesen war – genau eine Stunde und siebenun d­
zwanzig Minuten. Nächstes Mal solle sie wenigstens ihr Gesicht
wieder in Ordnung bringen, bevor sie hereinkomme, hatte er
gesagt. Sie fand sich zur Erklärung gezwungen , daß Tom seine
Berühmtheit eben zu Kopf gestiegen sei und daß er sie unbedingt
habe küssen wollen, einfach um sich selber seine eigene Unw i­
derstehlichkeit zu beweisen.
»Du hast doch seine Pickel gesehen«, sagte sie, um ihren Mann
milder zu stimmen.
»Gott sei Dank habe ich sein Gesicht nicht aus dieser Nähe
betrachten müssen«, sagte er, aber zu mehr kam es nicht, die
Ankunft weiterer Gäste rettete sie davor, über jede Sekunde mit
Tom einzeln Rechenschaft ablegen zu müssen, zu bekennen, wo
ihre Hände gewesen waren, als sie neben dem Sänger spazierte,
und wo ihre Begierden? Da kamen Mr. Carmody und James von
der Herrentoilette zurück, mit einer neue n Erklärung dafür,
warum die Inschriften an den Wänden der Damentoiletten so
viel würdiger seien als die in den Herrentoiletten. Der gute alte
kauzige Mr. Carmody hatte sie gerettet.
Um diese Stunde war jetzt niemand mehr im Speisesaal bis auf
zwei Pfarrer, die sie mit einer Mischung aus Mitleid, Neugier und
Mißbilligung betrachteten. Ihre weißen Priesterkragen ve r­
schwanden fast unter den schwarzen Rollkragenpullovern. Sie
tranken Brandy und unterhielten sich miteinander über Golf. Sie
war jetzt ganz nüchtern, ging im Geist noch einmal die Freuden
und die Enttäuschungen des heutigen Tages durch, ihr Körper
fühlte sich plötzlich müde und schlaff wie nach einer Niederläge.
Er war nicht zurückgekommen, obwohl sie doch damit gerechnet
hatte. Sie zog ihre Uhr auf, zählte die Rosen in den geblümten
Vorhängen, machte ein paar Atemübungen und zog sich schlie ß­
lich widerwillig zurück, als die Kellnerin kam, um den Tisch fürs
Frühstück zu decken.
Oben in ihrem Schlafzimmer hatte sie gerade ihr Collier ab ge­
nommen, als sie den Schrei hörte. Einen einzigen markerschü t­
ternden Schrei. Sie fuhr auf, aber ihr Mann schlief natürlich wie
ein Stein und konnte daher nicht fragen, was denn los wäre. Sie
legte das Collier auf den Tisch und lief hinunter, um es irgend
wem zu sagen. James und Mr. Carmody standen noch in der
Halle und klopften ans Barometer.
»Da ist irgendwas passiert«, sagte sie. »Ich habe eine Frau
schreien hören.«
»Im Hotel?« fragte James, der eine panische Angst vor Skand a­
len hatte, seit einmal ein Priester die Treppe hinuntergefallen war,
sich den Kopf an der großen Standuhr eingeschlagen hatte und
darauf gestorben war. Noch dazu ohne Absolution.
»Nein, draußen«, erklärte sie. »Es war ein Hilferuf.«
»Aus welcher Richtung?« Mr. Carmody war ganz rot im Ge­
sicht, wahrscheinlich würde er genauso aussehen, wenn seine
Bank eines schönen Mittags plötzlich überfallen würde und der
Anführer der Bande Beweise in seiner Hand hätte, daß Mr. Ca r­
mody ein Verhältnis mit zwei verschiedenen Kinofräuleins
gleichzeitig hätte. Er sah James an. Etwas Tapferes hatte jetzt zu
geschehen, etwas Ritterliches. Sie mußten hinausgehen und
Frauen retten.
»Was für eine Art Schrei?« fragte Mr. Carmody.
»Nach Hilfe«, sagte Ellen. »Diese Art Schrei war das.«
Ohne ein weiteres Wort zu ver lieren, machten sie sich auf den
Weg. Ellen ging in der Mitte zwischen den beiden, in der fast
leeren Straße hallten ihre Schritte laut und entschlo ssen. Sie
gingen die Promenade hinunter in Richtung auf den Golfplatz,
denn von dort sei der Schrei hergekommen, sagte Ellen.
»Das kann jede sein«, sagte Mr. Carmody.
»Tausende von Frauen leben allein hier, das könnte jede einze l­
ne von ihnen gewesen sein«, sagte James. Sie wurden plötzlich
langsamer, denn sie wußten ja eigentlich gar nicht, wo sie hin
wollten.
»Wir werden Häuser durchsuchen«, sagte Carmody.
»Ohne Haussuchungsbefehl nicht zu machen«, sagte James mit
veränderter Stimme, um sie dem Ernst der Lage anzupassen.
Nach einer kurzen Verhandlung wurde beschlossen, Wachtme i­
ster Donaghy aufzuwecken, der hier in der Nähe wohnte, wä h­
rend die Polizeibaracken etwa eine halbe Meile entfernt waren.
Wachtmeister Donaghy war nicht begeistert.
»Ich bin erst sechs Wochen verheiratet, haben Sie denn gar
keine Natur in sich?« fragte er die beiden Männer. Dann erst
bemerkte er Ellen, die weiter hinten im Eingang stand, wurde auf
einmal sehr dienstlich und behauptete, daß sie für eine derartige
Sache unbedingt einen zweiten Polizisten brauchten. Noch ei n­
mal mußte Ellen den Schrei beschreiben, die Richtung angeben,
aus der er gekommen war, und die genaue Zeit. Sie sagte, sie
habe auf ihre Uhr gesehen, als sie die Treppe hinaufgegangen sei,
und den Schrei habe sie etwa drei Minuten später gehört. James
überlegte, daß das Opfer wohl schon tot sein mußte.
Zehn weitere Minuten ver gingen, bis sie den zweiten Polizisten
aufgeweckt hatten und endlich bereit waren, sich mit Tasche n­
lampen und Knüppeln bewehrt auf den Weg zu machen. Vor der
ersten Häusergruppe hielten sie an und überlegten, wo sie zuerst
klopfen sollten.
»Vielleicht war es der ›Tank‹ «, sagte James. »Da soll es Verwick­
lungen geben, ich habe gehört, daß der andere jetzt aus England
zurückgekommen ist.«
Sie klopften an ihre grüne Tür, die keinen Klopfer hatte – vier
aufrechte Männer mit bloßen Knöcheln und furchtlosen Herze n.
Ellen stand hinter ihnen, wickelte ihren Wollschal um die Schu l­
tern gegen die Kälte. Sie zitterte – vor Angst, den Schrei noch
einmal hören zu müssen. Es war eine Frau, sagte sie sich, ganz
sicher. Plötzlich tauchte von irgendwoher die ›Uhr‹ auf, fragte,
was denn los sei, und bestand darauf, zur Truppe zu stoßen.
»Haben Sie irgendwelchen Lärm gehört?« fragte ihn James,
während sie vor dem Eingang zu dem schmalen, baufälligen,
sündigen Haus des ›Tanks‹ warteten.
»Ja, ich g-g-glaube schon«, log die ›Uhr‹. In diesem Augenblick
ging drinnen das Licht an, und gleich darau f machte ein Mann
die Tür etwa einen Fußbreit auf und steckte den Kopf heraus –
ein ganz fremder Mann übrigens, den keiner von der Gesellschaft
je gesehen hatte.
»Was wollen Sie?« fragte er mit einem schottischen Akzent.
»Wir sind die Polizeistreife«, sagte der eine der beiden Polizisten
mit einem Fuß bereits in der Tür, »wir wollen einen Schrei fi n­
den.«
»Finden Sie lieber meine Hosen«, sagte der Fremde, schlug ihm
die Tür vor der Nase zu und drehte von innen den Schlüssel um.
»Das Leben ist voller Überraschungen«, erklärte Mr . Carmody,
zum Vollmond gewandt. »Heute mittag war noch ein anderer
Kerl da drinnen.«
»Ein volles Programm, Matinee und Abendvorstellung«, sagte
der Polizist.
Dann überlegten sie alle miteinander, wer der Fremde wohl sein
konnte. Hatte er vielleicht irgend etwas mit dem Eisenbahnraub
zu tun? In England war gerade ein skandalöser Diebstahl auf der
Eisenbahn passiert, ein paar von den Räubern waren angeblich
nach Irland entkomm en. Wachtmeister Donaghy dachte zuerst
daran, lächelte, sah sich schon zum Inspektor befördert, ganzen
Baracken voll ungebildeter Polizisten Befehle geben, lässig ihr
strammes Salutieren entgegennehmen und früh nach Hause
gehen, um mit seiner jungen Frau zu schlafen.
»Heute abend hat sie Porter gekauft«, sagte die ›Uhr‹, diesmal
ganz ohne Stottern. »Wenn sie Geld gehabt hätte, hätte sie was
Schärferes gekauft.«
Damit war die Sache erledigt. Wachtmeister Donaghy folgte
leicht verärgert den anderen zum Haus von Miß Cooney, der
Stadtpredigerin. Seit Jahren schon hatten die größeren Schulju n­
gen geschworen, sie noch einmal windelweich zu prügeln, weil sie
immer in ihre Mädchengeschichten hineinspuckte, indem sie mit
Stöcken gegen die Mauern klopfte und mit ihrer Taschenlampe in
finstere Ecken leuchtete, wo die Buben und die Mädchen, von
Trenchcoats bedeckt, miteinander schmusten.
Sie fanden die Eingangstür weit offen und schlichen hinein,
zitternd vor Angst, welcher Anblick sie drinnen wohl erwartete.
Der ältere der beiden Polizisten stieg als erster die Treppe hinauf,
seinen Knüppel schwingend, die anderen folgten vorsichtig. Sie
lag im Bett, ganz lebendig, aber so besoffen, daß sie sich nicht
gerührt hätte, selbst wenn man die durchhängende Matratze
unter ihr in Brand gesteckt hätte. Eine kleine rote Herz -Jesu-
Lampe beleuchtete ihr reizloses Gesicht und die leeren Porterfl a­
schen, die um das Bett herumlagen, in der Hand hatte sie einen
Rosenkranz, sie atmete schwer. Im Traum stand sie wieder in den
finsteren Seitengassen, trieb die Mädchen mit einem Stock davon
und preßte sich eng an die Männer.
»Die heilige Jungfrau privat«, sagte der jüngere Polizist. Sein
Kollege gab ihm einen Stoß. Mr. Carmody hielt die Flaschen
gegen das rote Licht, um zu sehen, ob noch was dri nnen war. Sie
hatten eine Stärkung dringend nötig.
»Nichts«, sagte er, »ausgeleert bis auf den letzten Tropfen.« Also
stiegen sie wieder hinunter und begaben sich auf die Straße.
Draußen war es so hell, daß Ellen ihre Gesichter klar sehen
konnte – das näch tliche Abenteuer schien ihnen zu gefallen.
Über ihnen der volle Mond fällte wie ein ferner, kühler Gott den
Richtspruch über ihre zufriedenen Gesichter. Sie gingen jetzt
mitten auf der Straße, zu dieser nächtlichen Stunde gab es ohn e­
hin keinen Verkehr mehr.
»Was ist die richtige Seite der Straße für einen Fußgänger?«
fragte Mr. Carmody.
»Genaugenommen gibt es keine richtige Seite«, antwortete der
ältere Polizist. Mr. Carmody fand dies eine höchst begrüßenswe r­
te Nachricht, er liebte die Anarchie, alle großen Dichter seien
Anarchisten gewesen, sagte er. Dann fing er an, eine Geschichte
zu erzählen, von einem Bildhauer, der einen Fisch in eine Statue
gesteckt hatte, die er für eine Kirche machen mußte, und war
noch immer mitten im Erzählen, als sie zum dritten Haus kamen,
das von einem Garten umgeben war. Die Polizisten hatten eine
Heidenangst, von einem Warnung -vor-dem-Hunde-Hund gebi s­
sen zu werden, der eine stadtbekannte Abneigung gegen Unifo r­
men hatte.
»Geht ihr zuerst«, sagten sie zu den beiden anderen Männe rn.
Die Dame, die hier lebte, war eine englische Witwe, die ihren
Wein und alle ihre Lebensmit tel direkt von einem Großhändler
in Dublin bezog. Sie dachte nicht daran, die Gruppe ins Haus zu
lassen. Sie habe genügend Geschichten gelesen, sagte sie, in
denen Verbrecher sich als Polizisten ausgaben. Sie redete mit
ihnen durch den Briefkastenschlitz, das riesige fahle Vieh stand
neben ihr und knurrte vernehmlich.
»Aber Sie kennen mich doch«, sagte der ältere Polizist, der
schon einmal – mit Todesverachtung – das Haus betreten hatte,
um die Sache mit der Hundelizenz in Ordnung zu bringen.
»Das kennt man schon von euch Verbrechern, eure Verkle i­
dung ist immer so überzeugend«, gab sie zurück.
»Soll sie doch zur Hölle fahren, die mißtrauisch e alte Fuchtel«,
sagte James, in dessen Hotel sie noch nie auch nur einen Schilling
ausgegeben hatte. Sie schritten von dannen in die nächste Gasse,
horchten an Türen, drückten die Gesichter in Fenster, gingen auf
die andere Seite der Straße, wenn sie wo ein Licht sahen, weckten
die Leute auf, die gerade am Einschlafen waren, oder am Klo,
oder im Fauteuil, Mut sammelnd für den langen Leidensweg in
die kalten Betten. Mitternacht war schon vorbei.
»Dann muß es jemand auf dem Golfplatz draußen gewesen
sein«, sagte einer der Polizisten und sah Ellen in dem hellen
Mondlicht ins Gesicht.
»Ja, so sieht es aus«, antwortete sie, seinem Blick ausweichend.
Sie fühlte sich irgendwie schuldbewußt, daß sie ihnen bis jetzt
noch kein Verbrechen geboten hatte. Ein Mädchen, das jetzt mit
dem Schrei: »Vergewaltigung! Vergewaltigung!« durch die Straßen
gehastet wäre, wäre ihren Ohren Musik gewesen. Die Polizisten
sahen sie an, der Vollmond sprach sie mit silbernem Schein
schuldig. Sie schauerte zusammen.
»Ihnen ist kalt«, sagte James und legte seine Jacke um sie.
Sie gingen über den Golfplatz, richteten ihre Taschenlampen
auf die kleinen Grashügel neben den Putten. Die kleinen Kreise,
wo das Gras gestutzt war, sahen im Mondlicht wie grün bezog e­
ne Kartentische aus. Irgend jemand sah einen Hasen oder bildet e
es sich jedenfalls ein, und die ›Uhr‹ hörte Stöhnen, so, als ob
jemand eine Frau erwürgte; sie zündeten Streichhölzer an, setzten
Zigaretten in Brand, riefen: »Jemand da?«, hörten als Antwort
aber nichts weiter als das gleichmäßige Rauschen des Meeres un d
die Melodie eines Flusses, der aus der Einsamkeit seines Bettes
heraus in die See strömte. Sie schritten die achtzehn Löcher ab
und überquerten die Straße auf die Ruine zu, die in einem sum p­
figen Feld stand. Sie empfand Erleichterung, daß sie endlich hie r
waren.
Die Ruine war größer, als sie gedacht hatte. Wo früher der Altar
gestanden hatte, bildeten jetzt zwei noch ganz ordentliche Ma u­
ern einen rechten Winkel. Brennesseln stachen sie durch ihre
Strümpfe hindurch, sie schwankte auf dem unebenen Boden,
mußte sich am nächstbesten Gegenstand schnell festhalten. War
es zu spät? Durch die steinernen Fensterhöhlen über der Alta r-
stelle sah sie auf den Himmel hinaus, auf die hell scheinenden
Sterne, auf den vorübergleitenden Mond. Derselbe Mond schien
auch über ihm, wo immer er jetzt war.
»Kann ich die Taschenl ampe haben?« fragte sie Mr. Car mody,
der den Strahl auf die steinerne Decke gerichtet hielt und die
anderen aufforderte, sie zu bewundern. Wie Knochen sah das
aus, wie graue, verschlungene Gebeine längst Ve rstorbener. Sie
nahm die Taschenlampe und ging damit hinaus. Vielleicht war er
schnell weggelaufen, als er die Gruppe kommen hörte. Sie pfiff.
Die Männer wunderten sich, was sie da draußen wohl tat, dac h­
ten dann aber, sie müsse sich erleichtern, und pfeife , um sie von
dem Geräusch abzulenken. Sie flüsterte seinen Namen – Tom,
Tom –, aber seine Stimme hörte sie nicht. Dabei war sie so sicher
gewesen, daß er hier auf sie warten würde; deshalb war sie sofort
davongestürzt, als sie den Schrei hörte, um sozusage n zwei Fli e­
gen mit einer Klappe zu schlagen.
»Schrecklich, daß wir nichts gefunden haben«, sagte sie, als sie
wieder hineinging. Sie wagte nicht, den anderen ins Gesicht zu
sehen, sondern starrte durch die hohe Fensterhöhle auf den
Himmel und die hell besc hienenen Felder. Sich hier an dieser
Altarstelle zu lieben, seinen Mantel über die Brennesseln gebre i­
tet, unter dem Knochendach, das wäre eine Art von Sakrament
gewesen. Als könnten sie ihre Gedanken lesen, fingen die and e­
ren jetzt zu nörgeln an.
»Sind Sie ganz sicher, daß Sie nicht eine n über den Durst ge­
trunken haben«, sagte der ältere Polizist zu ihr.
»Wenn Sie glauben, daß heute der erste April ist, dann sind Sie
im Irrtum«, sagte Mr. Carmody und fügte dann noch gröber
hinzu: »Oder sollten wir Ihnen hie r die Kastanien aus dem Feuer
holen?«
Mit anderen Worten: haben Sie uns alle nur deshalb um uns e­
ren Schlaf gebracht, weil Sie die vage Hoffnung hatten, hier noch
einmal Ihrem pickeligen, abstinenzlerischen kleinen Aufschneider
zu begegnen?
»Na, diese Nacht haben wir ganz schön verplempert«, sagte der
jüngere Polizist. Die nächste Woche hatte er Nachtdienst, und es
bestand keine Aussicht, tagsüber mit seiner Frau schlafen zu
können, denn bei Tageslicht hielt sie die Sache für schmutzig.
In dieser Stimmung machten sie sich auf den Heimweg.
Kein einziger Lichtschein drang mehr aus dem Dorf, es war die
tote Zeit der Nacht, in der sogar das Meer zu ruhen scheint. Die
›Uhr‹ verabschiedete sich als erster, dann verschwanden die
beiden Polizisten, zu dritt näherten sie sich dem Hotel.
»Da habe ich wenigstens eine neue Geschichte für meine
Sammlung«, sagte Mr. Carmody und ging hinein, ohne auch nur
gute Nacht zu sagen.
Sie blieb mit James draußen stehen, zu verlegen, um ein Wort
herauszubringen, zu betroffen, um zu schweigen.
»Sie dachten, Sie würden ihn noch einmal sehen«, sagte James.
»Ja und nein«, sagte sie, »ich weiß auch nicht, was ich dachte.«
»Mir können Sie nichts vormachen«, gab er zurück. »Der Teufel
soll mich holen, ich bin auch ein Mann, ich habe mich scho n am
ersten Abend, als Sie hier waren, in Sie verliebt, aber Sie waren
noch nicht durch die Tür, da haben Sie sich schon nach ihm
erkundigt.«
Schuldbewußt stand sie da und sah den Mond hinter einer
Wolkendecke verschwinden. Hatte sie wirklich eine Frau schreien
gehört, oder war es vielleicht ein Vogel, war es nur der Schrei
ihrer eigenen Verzweiflung gewesen?
»Sagen Sie was«, sagte er.
»Ich habe Ihnen die Nacht ruiniert«, antwortete sie.
»Ich habe den ganzen Winter zum Schlafen«, sagte er, »fünf
Monate lang , das reicht.« Für ihn war sie das reinste, das frie d­
lichste Bild einer Frau, das er je gesehen hatte. Den ganzen näc h­
sten Winter würde er an sie denken und sie lieben. Statuen, hatte
ihm einmal jemand gesagt, sogen die Sonne des Mittags ein und
strahlten sie um Mitternacht wieder aus. Würde sie ihn wärmen?
Sie war aufgeregt; sie wollte etwas sagen.
»Was ist denn, mein Kind?« fragte er. Wenn die Freunde ihn
jetzt erleben würden, wie weich und schmelzend seine Stimme
war, sie würden sagen, er sei ein echter Wüstling.
»Das war so egoistisch von mir«, sagte sie und dachte: Die Li e­
be, wie wir sie verstehen, ist klein, schäbig, fixiert.
»Machen Sie sich keine Vorwürfe mehr.« Er berührte ihre
Schulter und spürte, wie dünn sie war.
»Wenn ich euch doch nur alle lieb en könnte«, sagte sie und
fühlte, wie seine Hand zitterte.
»Den Doktor auch?« fragte James.
»Den Doktor auch«, sagte sie niedergeschlagen. Der hatte sich
betrunken, weil sein Stolz verletzt war. Es gab immer einen
wirklichen Grund für alles – warum Löffel fleckig wurden, die
Marmelade schimmelig, warum Menschen in Gott oder Suff oder
Kartenspiel versanken.
»Darf ich Sie küssen?« fragte James, zog aber seine Bitte sofort
wieder zurück, denn so etwas konnte man doch eine anständige
Frau nicht fragen.
»Küssen Sie mich«, antwortete sie und überließ sich seiner allzu
festen, ungeübten Umarmung. Eine Statue in seinen Armen. Am
Nachmittag, als Tom sie geküßt hatte, da hatte ihr Körper bein a­
he das Bewußtsein seiner selbst verloren, jetzt blieb er bei vollem
Bewußtsein, aber ihre Seele erschauerte. Zum ersten Mal in
ihrem Leben hatte sie etwas getan, das nicht ausschließlich ihr
selbst gegolten hatte. Einen Augenblick lang glaubte sie, sich
selbst zu verlieren. Sie dachte an japanische Geishas, die lernten,
den Männer n Vergnügen zu machen, sie dachte an den langen
Winter, den James Jahr für Jahr hier verbringen mußte, so lang
wie ihr eigener Winter.
Dann dachte sie, daß er sich wohl öfter die Zähne putzen sollte.
»Du Süße«, sagte er, nahm seine Arme von ihr und wartete dar­
auf, beschimpft zu werden. Wie weggeblasen schienen die Jahre
von seinem verwelkten Pastorengesicht. Sie legte in der Dunke l­
heit die Fingerspitzen an ihre Wangen und spürte Tränen der
Freude. Also das ist es, was ich wirklich für mich will – keine
Pelzstola, wie ich meinem Mann gesagt habe, keine Kinder, wie
ich dem Spezialisten vorgejammert habe, keine geöffneten Beine,
zwischen die Liebe einfließt, wie ich Tom beschworen habe –
sondern dies hier, diese Großzügigkeit des Gebens, selbstlos, wie
Blumen ihren Duft, wie rote Vogelbeeren ihre atemberaubende
Farbe geben.
»Sollen wir noch Spazierengehen?« fragte sie, »oder in der Bar
sitzen oder dort auf den Steinen liegen? Tun wir, was Sie wollen
– was Sie wollen, das will ich auch.«
»Sie sind müde«, sagte er zu ihr, »Sie müssen jetzt zu Bett ge­
hen, und ich genauso.«
Also das war es, was er wirklich wollte – Ruhe, Bilanz machen
am Ende des Tages und einen Kuß vor dem Schlafengehen.
»Werden Sie jetzt schlafen?« fragte er und nahm behutsam seine
Tweedjacke von ihren Schultern.
»Natürlich werde ich schlafen«, sagte sie, wollte aber noch im­
mer nicht hineingehen. Irgend etwas war geschehen, aber sie
wußte nicht genau, was. War sie vielleicht älter geworden, hatte
sie sich vielleicht ein bißchen verändert? Hatte sich ihr Lebensziel
vielleicht unmerklich verschoben? Sie fühlte einen ganz neuen
Frieden, als hätte sie eine neue Quelle der Kraft in sich selber
gefunden, und sie flehte zu Gott, es möge nicht nur vorüberg e­
hend sein, es möge am nächsten Morgen noch dasein.
ERICA JONG

Geschliddert

boys wie ich sind gar nicht fein


haben ein girl das beißt und spuckt
dem machen sie’s dreizehnmal die nacht
weder weit noch geld sie juckt
sie hängen den hut ihrem girl an die titten
brennen das kreuz in seinen hintern ein
sie scheißen halt auf gute sitten
boys wie ich sind gar nicht fein
kommen nur bei ‘nem girl das beißt und spuckt
das nicht schreiben kann und auch nicht lesen
das sich nicht ziert und nie geniert
und wie der teufel onaniert boys wie ich sind gar nicht fein
keiner ist ein kavalier
die kunst steht schlecht in ihrer gunst
sie machen dich kalt zwischen zwei schluck bier
sie nehmen nie ein blatt vor’n mund
lassen munter die hose runter
tanzen sie stürzen die berge ein

e.’e. cummings

Der Weg der Maßlosigkeit führt in den Palast der Weisheit

William Blake
Er kam in ihr Leben geschliddert, pflegte sie nach dieser Nacht
zu sagen, und so war es auch. Wenn Mel ihr Geld nicht bei Lotus
Ltd. investiert hätte und plötzlich tot umgefallen wäre, wenn
Alva Libbey nicht den Weg aller Nannys gegangen wäre, wenn es
nicht wieder geschneit hätte, wenn sie nicht erschöpft, ausg elaugt
und blutend heimgekommen, gleichzeitig aber merkwürdig erhe i­
tert gewesen wäre angesichts der Vorstellung, völlig mitte llos ein
neues Leben beginnen zu müssen – hätte sie dann je ein so
explosives Element wie Berkeley Sproul in ihr Leben gelassen?
Wahrscheinlich nicht.
Er kam in einem bunten Lieferwagen, der seinem Temper a­
ment entsprechend rot, violett, gelb und leuchtend orange gestr i­
chen war – jeder Kotflügel in einer anderen Farbe. Auf den
Seitenflächen prangten wilde Spraybilder, die an einen schlechten
LSD-Trip erinnerten. Der Fahrer dieses Unikums wirkte wie ein
fröhlicher Schelm oder Hofnarr mit seinen fu nkelnden blauen
Augen, dem unge bändigten aschblondem Haar und diesem
Lächeln, vor dem sie dahinschmolz. Er hatte verschiedenfarbige
Socken an: einen roten und einen grauen. Er war überhaupt
nachlässig angezogen, und seine Kleider rochen schwach nach
Mottenpulver. Er trug einen weiten, weißen Seemannspullov er,
der sich unter den Achseln auftrennte (sprengte ihn soviel gebal l­
te Lebenskraft?), einen langen Wollschal (rot), aber keinen Ma n­
tel. Er sah wirklich aus wie ein Vagabund. Als er Isadora eine
weiße Orchidee in einer schlanken Silbervase überreichte, fra gte
sie: »Orchideen – zu dieser Jahreszeit! Wo haben Sie die her?«
»Meine Mutter züchtet sie in ihrem Gewäch shaus in Darien«,
sagte er. »Darien: ›ja‹ auf russisch und ›nichts‹ auf französisch. ›Ja,
nichts!‹ Das charakterisiert das Nest ganz prima! Es ist die Hei­
mat der unnützen angelsächsisch -protestantischen Geldaristokra­
ten, der weidwunden Gewinner.«
Isadora lachte. Es kam ihr vor, als habe sie ihn in einem Buch
erfunden und als werde sie nun Zeuge einer erstaunlichen Ve r­
wandlung, die ihn zum Leben erwec kte. Er hätte Marietta Rob u­
stis Freier sein können, aber nicht ihrer. Nein, er paßte nicht
einmal zu Marietta Robusti; er war wie eine Figur aus einem
anderen Zeitalter. Vielleicht entstammte er dem Artusroman, den
Nebeln der Frühgeschichte; der edle Ritte r Lancelot – oder
Gawan. »Was hatten Sie denn hier in der Nähe zu tun?« Bean sah
sie verständnislos an. »Ich war nicht hier in der Nähe«, sagte er.
»Ich war bei meinen Eltern in Darien. Ich hatte Angst, sie nie
wiederzusehen, wenn ich nicht schnell handelt e. Als Sie mir das
Stück Papier mit Ihrem Namen gaben, bin ich erst mal total
ausgeflippt. Da hielt ich Sie zunächst bloß für eine unverschämt
hübsche Frau, und auf einmal stellt sich heraus, daß Sie auch
noch meine Lieblingsautorin sind.«
»Mit Ihrer Schmeichelei werden Sie’s noch weit bringen.«
»Ich meine es ernst. Sie sehen noch besser aus als auf den Fo­
tos. Ich wär’ nie darauf gekommen, daß Sie die Isadora sind.«
»Gibt es denn noch viele andere Isadoras?«
»Nun, da wäre zum Beispiel Isadora Donkey…«
»O Gott! Sie werden vom Kalauer-Teufel geplagt… Sie sind der
Mann meiner Träume. Noch so ein Wortspiel, und ich bin auf
ewig die Ihre… Wollen Sie etwas trinken?«
»Und essen… wenn Sie bei Ihrer Einladung bleiben. Sie müssen
wissen, daß ich Ihre Sekretärin in den letzten vierundzwanzig
Stunden gut ein dutzendmal angerufen habe. Sie hat mir anda u­
ernd erzählt, Sie seien nicht da oder unter der Dusche oder in der
Sauna. Entweder sind Sie die sauberste Frau in ganz Connecticut,
oder Sie geben leichtfertig Ihre Telefon nummer her und überl e­
gen sich’ s dann gründlich. Ich habe zwar nicht jedesmal eine
Nachricht hinterlassen, weil ich nicht aufdringlich erscheinen
wollte, aber ich mußte Sie wiedersehen.« Er lächelte sein betöre n­
des Lächeln.
»Ich hole uns etwas zu trinken.« Isadora lief in die Küche und
stellte Gläser und den gekühlten Wein auf ein Tablett. Sie war
erschöpft, sie hatte Bauchschmerzen – aber sie war auch aufg e­
kratzt.
»Würden Sie bitte im Kamin Feuer machen?« rief sie zu Bean
ins Wohnzimmer hinüber.
»Klar. Was ein waschechter Connecticut -Boy ist, der kann das.
Aufgewachsen bin ich in New York und hier draußen. Das war
vor dem Krach.«
»Vor was für einem Krach?«
»Das erzähle ich Ihnen, wenn Sie versprechen, wieder herübe r­
zukommen.«
»Bin gleich da!«
»Das hoffe ich.«
Als sie mit Wein und Käse ins Wohnzimmer kam, kniete er vor
dem Kamin und schichtete geschickt die Holzscheite auf.
»Feuer schüren können Sie«, sagte Isadora.
»Auf diesen Kalauer sage ich nichts«, konterte er.
»Sie heitern mich auf, und ich habe einen gr auenvollen Tag
hinter mir. Wie auch immer – erzählen Sie mir von diesem
Krach.«
»Also, eigentlich hat es zweimal gekracht. Zuerst der große
Krach, bei dem meine Familie den Großteil ihres Vermögens an
die Finanzbehörde abtreten mußte…«
»Was für ein erstaun liches Zusammentreffen!« unterbrach ihn
Isadora.
»Und dann krachte der Wagen in den Grabe n… Welche Ge­
schichte wollen Sie zuerst hören?«
»Ich weiß nicht recht. Trinken Sie erst mal einen Schluck. Das
ist ein ausgezeichneter ›Trefethen Chardonnay‹ , den ich mir
vielleicht schon bald nicht mehr leisten kann.« Sie reichte ihm ein
langstieliges Kristallglas und erkundigte sich: »Wie alt sind Sie,
Bean?«
»Fünfundzwanzig. Disqualifiziert mich das?«
»Als was?«
»Als Ihr Freund«, antwortete er.
Sie sah ihm in die Auge n und wußte, daß er es ernst meinte.
Seine Augen konnten fröhlich sein, aber manchmal lag ein sehr
verletzlicher Ausdruck in ihnen. Ob sich hinter all seiner Forsc h­
heit Furcht verbarg?
»Ich möchte Ihr Freund sein«, wiederholte er. »Ihre Bücher
geben mir da s Gefühl, als sei ich es scho n… kriegen Sie das oft
zu hören?«
»Nicht so, wie Sie es gesagt haben. In der Regel erzählen mir
alle, ich sei seit sieben Jahren ihr sexueller Wunschtraum, und
dann gehen wir zusammen ins Bett – und pfff…« Sie deutete mit
dem re chten Zeigefinger einen Penis an, der bis zur Unkenn t­
lichkeit zusammenschrumpfte.
Bean lachte. »Übrigens fand ich Ihren angeblich so skanda l­
trächtigen ersten Roman nicht annähernd so gut wie den zweiten
und dritten oder gar wie ›Tintorettos Tochter‹. Diese s erste Buch
steckt voller Selbsthaß. Hören Sie denn nie auf, sich selbst zu
quälen? Sie sollten das lassen. Sie haben mehr auf dem Kasten als
die meisten Männer. Sie sind ein echter Held – im klassischen
Sinn.«
»Was ist ein Held?« zitierte Isadora. »Im we sentlichen einer, der
seine Ängste bezwungen hat.«
»Genau.«
»Das ist Henry Millers Definition und nicht meine«, sagte Is a­
dora. »Und nach seiner Auslegung bin ich kein Held, weil ich
mich nämlich andauernd fürchte.«
»Ah, Sie mögen Furcht empfinden, aber Sie lassen sich nicht von
ihr beherrschen. Ich wette, selbst Odysseus hat sich gefürchtet.
Ja, das ist sogar belegt. Nicht die Gegenwart oder Abwesenheit
von Furcht machen den He lden aus, sondern die Tat, die er trotz
seiner Furcht vollbringt. Und Sie hören nie auf zu handeln. Sie
marschieren geradewegs ins Auge des Orkans. Darum sind Sie
meine Heldin.«
»Danke«, sagte Isadora. »Es tut gut, das gerade im schlimmsten
Jahr meines Lebens zu hören. Ich wäre im letzten Jahr beinahe
gestorben. Ich habe mich nie für suizidverdächtig gehalten, aber
nachdem mein Mann mich verlassen hatte, wäre ich in der Lage
gewesen, mich vor ein Auto zu werfen. Ich hab’s sogar getan. Ich
habe mich vor sein Auto geworfen.«
Bean sah sie aufmerksam an, als wisse er genau, wovon sie
sprach.
»Ich bin ein Unfall auf der Suche nach einem Ort, an dem er
sich ereignen kann«, sagte er. »Ich habe mehr Narben am Körper,
als Sie je an einem Menschen finden werden.«
»Ich nehm’s mit Ihnen auf, Narbe für Narbe.«
»Ist gebongt. Ziehn wir uns aus.«
»Bin ich seit sieben Jahren Ihr sexueller Wunschtraum?« scher z­
te Isadora.
»Nein, erst seit sieben Minuten.«
»Sie sehen ein Wrack von einer Frau vor sich. Ich habe meinen
Beruf fast an den Nagel gehängt – aber nicht freiwillig. Ich, die
ich in meinem ganzen Leben nie einen Block hatte, kann plöt z­
lich überhaupt nicht mehr schreiben.«
»Das ist nur eine Phase der Umorientierung«, versicherte Bean.
»Oder die schöpferische Pause vor dem neuen großen Wurf. Ich
glaube nicht einen Moment, daß Sie wirklich blockiert sind.
Kunst ist nichts Mechanische s – sie ist organisch. Sie können sie
nicht produzieren, wie eine Fabrik Schrauben oder Muttern
herstellt.«
»Danke, daß Sie mich daran erinnern. Ich hab mich noch nie so
verbraucht, so am Ende gefühlt.«
»Irgend etwas müssen Sie aber trotzdem richtig anpacken, sonst
könnten Sie nicht so lebendig sein und so schön.«
Aus ihren Augen sprach Dankbarkeit, vielleicht sogar Vertra u­
en.
»Also, erzählen Sie mir von diesen zwei Krachen.«
»Mach’ ich, wenn ich etwas zu essen kriege.«
»Das ist die Sprache eines wahren Vagabunden«, sagte Isadora.
»Als nächstes werden Sie noch ein Bett für die Nacht verlangen.«
»Der Fußboden tut’s auch.« Bean lachte.
Beim Abendessen (das Danae gekocht hatte und das folglich
vorzüglich schmeckte) ließ Bean sich über die haarsträubende
Geschichte seiner Familie aus. O Mann, da bilden sic h die Juden
ein, sie hätten das Monopol auf meschuggas, aber wenn es um
wirklich meschuggene geht, können sie den alteingesessenen Goji m
nicht das Wasser reichen. Beans Familienges chichte war voll von
Duellen (zufälligen und inszenierten), vergeudeten Erbschaften,
Kämpfen um Grundbesitz und Antiquitäten (wie in einer Ge­
schichte von Cheever), Alkoholismus, Inzest, Habgier, Unte r­
schlagungen, Prozessen, Haftstrafen, Heldentaten und Burlesken.
Seine Vorfahren hatten im Unabhängigkeitskrieg gekämpft, im
Krieg von 1812 und im Sezessionskrieg. Der unmittelbare Fam i­
lienbesitz war von ursprünglich fünf Häusern (in New York,
Paris, Palm Beach, Martha’s Vineyard und Da rien) auf eines
geschrumpft: einen verfallenen Bauernhof in Connecticut, vollge­
stopft mit morschen Möbeln, vermodernden Bildern und Bü­
chern, die allerdings die Finanzbehörde über kurz oder lang als
Pfand für die fällige Steuernachzahlung einziehen würde. Was
Beans Hoffnung auf einen persönlichen Anteil betraf, so hatte er
diesen ohnehin zerstört, als er seinen Wunsch durchsetzte und
Schauspieler wurde.
»Kein genealogisches Handbuch erwähnt Schauspiele n ist ein
Lieblingssatz meiner Mutter.«
»Stimmt nicht – eine Ausnahme muß es doch ge ben. Wie steht
es mit Dina Merrill?«
»Na ja, vielleicht. Aber eine Schauspiele rin, das zählt nicht. Es
ist eben ein Beruf für Huren und Vagabunden. Ich kenne keine
einzige Frau, die das Leben eines Schauspielers auf die Dauer
ertragen könnte; nicht mal ein e, die selbst vom Bau ist. Wir
arbeiten die halbe Nacht und verschlafen den Tag, tollen mit
schönen Mädchen herum, die meist halb nackt sind, wir haben
keinen festen Wohnsitz, tragen keine Anzüge, rasieren uns nur
selten, haben zweifelhafte sexuelle Gewohn heiten – oder sind
total enthemmt –, besitzen in der Regel keinen Pfennig Geld,
geben aber rasend gern das anderer Leute aus. Außerdem essen
wir wie die Schweine.«
Um die letzte Behauptung zu illustrieren, schlenkerte er ein
Hühnerbein zwischen den Zähnen und klemmte sich eine Zitr o­
nenschale als Schnurrbart unter die Nase. (Da nae hatte ihr sa­
genhaftes Zitronenfrikassee mit Sesamsamen gemacht.)
Isadora lachte. »Jetzt erzählen Sie mir endlich von den Kr ä­
chen«, bat sie ihn.
»Also, beim ersten handelt es sich um die altbekannte Ge­
schichte vom Niedergang einer reichen Familie, die der Möcht e­
gernverführer dem staunenden Mägdlein erzählt.«
»Mägdlein? Ich bin ein ziemlich altes Mädchen…«
»O nein, nicht nach drei Ehen.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich? Ich weiß nur, wa s die ganze We lt weiß. Ihr Leben ist ein
offenes Buch.«
»Haben Sie eine Ahnung, wie alt ich bin?«
»Ich vermute, Sie müssen älter sein als ich, sonst hätten Sie
nicht all diese Bücher geschrieben – aber ich begreife nicht, wie
Sie das geschafft haben, ohne zu altern.«
»Ha! Noch so eine Schmeichelei. Als Sie auf die Welt kamen, da
wurde ich gerade geschlechtsreif.«
»Und jetzt werde ich Ihnen zeigen, daß sich das gelohnt hat.«
»Sie wären wirklich imstande, mich in Schwierigkeiten zu bri n­
gen.« Isadora lachte wi eder. »Erzählen Sie mir von dem zweiten
Krach.«
»Wie? Ach so – von dem. Tja, dann überspringe ich die Ge­
schichte von den zerronnenen Reichtümern und den in Trü m­
mern liegenden Herrschaftssitzen…«
»…die Sie dem potentiellen Verführungsopfer erzählen.«
Bean nickte. »… und fahre fort mit der Schilderung meines
Versuchs, Hand an mich zu legen, wie man im E lisabethanischen
Zeitalter zu sagen pflegte. Stellen Sie sich vor, seit ich geschlechts­
reif wurde, habe ich indirekt ständig versucht, mich umzubri n­
gen. Vielleicht liegt es daran, daß ich zuviel überschü ssige Ener­
gie habe, die ich nirgends ausleben kann. Oder ich habe zum
fraglichen Zeitpunkt kapiert, daß mein Vater mich seit meiner
Geburt loswerden wollte, habe seinen Wunsch internal isiert und
zu meinem eigene n gemacht – das behauptet jedenfalls mein
Seelenklempner. Wie auch immer, ich baue dauernd Unfä lle, bei
denen ich ums Haar hops gehe. Den letzten hatte ich vor zwei
Jahren: Mein Kopf flog durch die Windschutzscheibe des Wa­
gens, meine Brust flog gegen das Steuer, meine Milz flog durch
den ganzen Körper, und ich schwebte zwei Wochen lang zw i­
schen Leben und Tod. In dieser Zeit hatte ich übersinnliche
Erlebnisse, meine Eltern dagegen drehten durch, und eine junge
Krankenschwester versuchte, mir einen zu blasen, während ich
mich gerade mit Gott und den Engeln unterhielt.«
»Und was haben Sie aus diesem Gespräch mit Gott und den
Engeln erfahren?«
Bean wurde auf einmal ganz ernst, beinahe feierlich. »Daß Gott
und die Engel sich nicht drum kümmern, wer dir den Schwan z
lutscht, aber daß ein Leben ohne Liebe nicht viel wert ist, gelebt
zu werden – selbst wenn man reich und berühmt ist und Hü h­
nerfrikassee zu essen hat. Als ich Sie im Fitneßklub traf und Sie
so schön, so frisch aussahen, in Ihren Augen aber dieser gequält e
Blick lag, so als fühlten sie sich verletzt, betrogen, verfolgt, da
wußte ich, daß ich Sie wiedersehen mußte.«
»Ritter Galahad, der tapfere Befreier! Gehören Sie etwa zu den
Männern, die sich nur in bedrängte Damen verlieben?«
»Nein. Normalerweise verlie be ich mich überhaupt nicht. Da
vögle ich mir das Hirn aus dem Kopf und gehe heim, ohne
irgend etwas zu fühlen. Aber bei Ihnen spüre ich, daß jede Be­
gegnung zwischen uns mein Herz erfüllen wird, selbst wenn ich
nie mit Ihnen schlafen sollte.«
Isadora konnte nur mit Mühe die Tränen zurückhalten. Sie war
sich nicht sicher, ob er es ehrlich meinte oder ihr nur schme i­
cheln wollte. Es war ihr Fluch, daß sie eine Schwäche für wor t­
gewandte Männer hatte, gleichgültig, wie blumig sie daherred e­
ten. Ob ihre große Verw undbarkeit einen Fluch oder eher einen
Segen darstellte, darüber war sie sich nicht im klaren. Sie wappne­
te sich. Sie würde nicht mit Bean schlafen, egal, wie charmant er
sie rumzukriegen versuchte, und wenn sie noch so sehr auf
seinen Charme abfuhr. Seine Offenheit und seine Empfindsa m­
keit waren ihrer verletzlichen Psyche entweder wahlverwandt –
oder er war tatsächlich ein guter Schauspieler und ein klein wenig
auch ein Hochstapler (was darstellende Künstler eben sein mü s­
sen – und Schriftsteller vielleicht genauso, wer weiß?).
»In letzter Zeit hab’ ich auch ziemlich oft bis zum Gehtnich t­
mehr gefickt und bin leer und ohne etwas zu empfinden heimg e­
fahren«, sagte Isadora. »Das wird schnell langweilig. Ich ha b’ es
früher nie oft genug praktiziert, um das rauszu finden – wenn
man das bei meinem Ruf auch nicht glauben würde. Aber ich
habe fest vor, mit diesem Leben Schluß zu machen und nicht
mehr wahllos herumzuschlafen.«
Bean schnippte mit den Fingern. »Was für ein Pech, daß ich
Ihnen ausgerechnet jetzt begegnet bin, wo Sie es sich anders
überlegt haben.«
Wieder mußte Isadora lachen. Sie versuchte herauszukriegen,
wieviel an seinem Gerede Ernst und wieviel Schwindel war. Bean
war ohne Zweifel einer der charmantesten Menschen, denen sie
je begegnet war. Er hätte mi t seinem Charme die Vögel von den
Bäumen locken oder den Kindern ihre Lutscher und Geizhälsen
das Geld abschmeicheln können. Aber sie war entschlossen,
nicht zuzulassen, daß er sich mit seinem Charme in ihr Bett
schlich.
Das Feuer im Wohnzimmerkamin verglo mm, aber im Eßzi m­
mer brannte ein kräftiges Feuer, und sie legten immer wieder
Scheite nach. Draußen schneite es noch immer, und der Himmel
schimmerte rosig wie ein Kinder popo. Für gewöhnlich geriet
Isadora in Panik, wenn es in Connecticut schneite, aber dieser
Schneefall erschien ihr warm und freundlich, weil Bean bei ihr
war. Hoch oben in dem großen Holzhaus am Ende der tück i­
schen, gewundenen Einfahrt der Serpentine Hill Road setzten
Bean und Isadora ihre Unterhaltung fort.
»Was meinen Sie – warum sind Sie so selbstzerstörerisch?« frag­
te Isadora. »Ich meine, wenn Sie ganz ehrlich sind. Liegt es nur
am Verhältnis zu Ihrem Vater? Verstehen Sie mich nicht falsch,
ich glaube an so etwas. Ich denke, daß ein Mann, der nie seinen
Vater erschlägt, auch nie erwachs en wird. Mein Exehemann,
Josh, ist der Beweis dafür. Aber warum wollen Sie sich selbst
umbringen?«
»Meinen Sie, daß ich eigentlich ihn töten will, die Aggressionen
dann aber verinnerliche und gegen mich selbst richte?«
»Zu oberflächlich. Hören Sie, ich habe auch die ersten fünfund­
zwanzig Jahre meines Lebens damit zugebracht, Narben zu
sammeln. Narben, gebrochene Knochen, zerbrochene Ehen. Ich
wäre beinahe zum Krüppel geworden, als ich in Texas vom Pferd
stürzte. Der Gaul war zu wild für mich. Ich zog mir ei n Dutzend
Verletzungen am Schienbein zu, als ich in den österreichischen
Alpen hinter einem rätselha ften Orientalen, der mein zweiter
Mann war, eine vereiste Piste runterfuhr, von der ich wußte, daß
ich mich nie hätte drauf wagen dürfen. Ich glaube, ich ha be mich
ständig selbst bestraft, weil ich mich so schuldig fühlte. Ich
machte mir Vorwürfe, weil ich begabter war als meine Schw e­
stern und weil ich mein Talent nutzte, während meine Mutter das
ihre nicht genutzt hatte; ich fühlte mich schuldig, weil ich so gut
dran war.«
»Sie geben es also zu! Sie sind gut dran?«
»Ich denke schon.«
»So wie einer, der mit einem silbernen Löffel im Mund geboren
wird, wie es bei der alteingesessenen Elite heißt.« (Bean machte
einen spitzen Mund und imitierte den gezierten Akze nt der
protestantisch-angelsächsischen Geldaristokratie, den Isadora in
Gedanken die ›Locust-Valley-Kieferklemme‹ nannte.)
Diese Sprache war so atypisch für ihn, daß sie lachen mußte.
»Oder mit einer Extradosis Adrenalin, wie meine Mutter von
mir behauptet, als ich noch klein war«, sagte Isadora.
»Eben dieses meinte ich.« Bean äffte noch immer die gekünste l­
te Sprechweise der Vornehmen nach. »He, gefällt Ihnen das?
Gefällt’s Ihnen, wenn ich beim Sprechen den Mund nicht aufm a­
che?«
»Ich finde es himmlisch. Es paßt so überhaupt nicht zu Ihnen.
Sie reißen den Mund eigentlich weiter auf als alle Männer, denen
ich je begegnet bin. Aber abgesehen davon müssen Sie jetzt nach
Hause fahren.«
Bean wirkte äußerst niedergeschlagen. Seine struppigen Auge n­
brauen rutschten nach unten. Der Funke in seinen blauen Augen
erlosch mit einem Schlag. Sogar die für seine Herkunft typische
leichte Stupsnase (die ein romantischer Autor als retroussé be­
zeichnet hätte) schien sich der Oberlippe zu nähern, als wolle sie
auf einmal semitisch aussehen.
»Aber wir müssen doch noch über so vieles reden«, sagte er.
»Wir müssen über Nietzsche diskutieren, über Schopenhauer und
über Sex.«
»Den Sex haben wir schon abgehakt. Nietzsche und Schope n­
hauer können warten.«
»Aber brauchen Sie denn den Sex nicht, um Ihre Kreativität
anzufachen?«
»Heute abend nicht. Mein Manager ist gerade ganz unerwartet
gestorben, und ich stehe mit grauenhaften Steuerproblemen da.
Zudem habe ich meine Tage, und ich bin total erschossen. Ich
werde jetzt aufstehen, falls ich das noch schaffe nach all dem
Wein, und werde Sie bitten zu gehen.«
»Wie kann ich Sie davon abbringen?«
»Überhaupt nicht.« Sie schwankte ein bißchen, als sie aufstand.
»Ich schwöre Ihnen, überhaupt nicht.«
Bean sah auf einmal aus wie ein sehr großer Holden Caulfield.
Er wirkte wie fünfzehn und nicht wie fünfundzwanzig. Seine
Oberlippe zitterte, als wolle er gleich anfangen zu weinen. Seine
unwahrscheinlich blauen Augen füllten sich mit Tränen. Plötzlich
konnte sich Isadora vorstellen, daß er sich umbringen wollte. Er
hatte ihr erzählt, daß er eine Pistole besaß und auch mit ihr
umgehen konnte. Er hatte ihr außerdem anvertraut, daß er sein
Auto als Todeswaffe benutzte – und die Straßenverhältnisse
waren heute nacht tückisch genug. Sollte sie ihm anbieten, im
Gästezimmer zu übernachten?
Nein. Unmöglich. Unmöglich, mit einer solchen Ladung von
geballtem Sex unter einem Dach zu schlafen und nicht mit dem
Typ zu vögeln. Wenn er diese selbstzerstörerischen Anwandlu n­
gen hat, dann ist das sein Problem, dachte sie. Sie war es leid,
sich um alle We lt zu kümmern. Josh, Roland, Bean – sie alle
würden sich allein durchschlagen müssen. Aber waren alte Mä n­
ner denn besser? Wie es schien, hatte sie sich gewissenhafter um
Mel Botkin gekümmert als umgekehrt.
»Sie sollten jetzt na ch Hause gehen.« Isadora hielt sich an der
Stuhllehne fest. Sie hatte wieder Krämpfe im Unterleib und
konnte sich nur mühsam aufrechthalten. Ob der Tampon schon
durchgeweicht war? In ein paar Minuten würde ihr das Blut in
dünnen Rinnsalen über die Schenkel laufen.
»Ich habe den Abend sehr genossen«, sagte Isadora. »Aber ich
bin wirklich der Ansicht, Sie sollten nach Hause gehen.«
Sie wußte selbst nicht recht, weshalb sie so entschieden dagegen
war, mit ihm zu schlafen. Schließlich war sie schon mit vielen
Männern ins Bett gegangen, die ihr weit weniger gefielen als er.
Vielleicht spürte sie, welche Macht er über sie gewinnen könnte;
vielleicht wußte sie sogar, welch ungeheure Rolle er dann in
ihrem Leben spielen würde. Wenn eine Frau sich besonders stark
zu einem Mann hingezogen fühlt, rennt sie manchmal gerade vor
dieser Anziehungskraft davon. Kommt aber ein hohler Typ
daher, dann kann sie mit ihm ins Bett steigen und hernach ganz
cool ihrer Wege gehen.
»Ich werde Ihnen wenigstens noch ein signiertes Buch mi tge­
ben«, sagte Isadora mit einem Blick in Beans verschleierte Augen.
Es war das alte Lied: Bücher statt Bett. Oder Bücher als Vorspiel
zum Bett? Sie war sich nicht ganz sicher. Mit fünfzehn hatte sie
Männern Gedichte geschrieben, statt mit ihnen ins Bett zu gehen.
Mit fünfundzwanzig hatte sie immer noch das gleiche gemacht.
Mit achtundzwanzig hatte sie einen ganzen Roman geschrieben
wegen eines Mannes, den sie nicht haben konnte. (Er war nä m­
lich boshafterweise gerade bei ihr impotent.) Als sie einunddre i­
ßig war, erschien dann dieser Roman, und plötzlich lag ihr die
Welt zu Füßen, jener Mann allerdings nicht. Mit neununddreißig
hatte sie die Bücher durchs Bett ersetzt und war von jedem
Abenteuer mit trockenen Augen und einsamem Herzen heimg e­
kehrt. Was war die endgültige Lösung dieses Buch -Bett-
Dilemmas? Gab es die überhaupt? Liebte sie nur den unerreic h­
baren Mann, den Mann unterm Bett, das unmögliche Objekt
ihrer Begierde – letztlich den Vater?
»Kommen Sie mit!« sagte sie und führte Bean hinauf in ihr
Baumhausstudio. Sie bewegte sich vorsichtig und preßte beim
Gehen die Schenkel zusammen, um das Blut zurückzuhalten.
Sie stiegen die Wendeltreppe zu ihrem Studio hinauf. Dort
oben in ihrem Heiligtum mit dem perlgrauen Teppichboden und
den bis zur Decke reichenden Regalen zeigte er sich erstaunt
über die vielen Ausgaben, die es von ihren Büchern gab. Er sah
sie als Frau, nicht als Buchmaschine, aber sie war augenscheinlich
das eine wie das andere. Es hatte in den Wäldern etlicher Kont i­
nente eines Kahlschlags bedurft , damit ihre Worte sich in vielen
Sprachen fortpflanzen konnten.
»Französisch, Spanisch, Deutsch, Italienisch – und was noch?«
fragte er beeindruckt.
»Japanisch, Hebräisch, Holländisch, Schwedisch, Finnisch,
Norwegisch und sogar Serbokroatisch und Mazedoni sch – aber
Suaheli nicht.« Man merkte ihrer Stimme an, daß sie betrunken
war. Warum war sie so stolz auf ihre fremdsprachlichen Ausg a­
ben? Sie hatte keinen blassen Schimmer, ob die Übersetzungen
auch nur entfernt das wiedergaben, was sie geschrieben hatte.
Gut, mit Französisch, Italienisch und Deutsch kannte sie sich ein
bißchen aus, aber sämtliche anderen Sprachen waren ihr völlig
unbekannt. Dabei klaffte eine so beträchtliche Lücke zwischen
Absicht und Wirkung, daß ihre Bücher selbst in ihrer Mutte r­
sprache nicht genau das aussagten, was sie beim Schreiben im
Sinn gehabt hatte. Es war, als habe sie ein Einhorn zeichnen
wollen, aber nur eine Ziege mit angepapptem Horn zustande
gebracht. Das Ergebnis war stets so weit entfernt von dem, was
sie beabsichtigt hatte, daß es ihr kaum Freude machte. Das Beste
war das Schreiben selbst: der Wortstrom, der sich übers Papier
ergoß, das Vergnügen, das sie empfand, wenn sie ihre gelben
Notizblöcke mit verschiedenfarbigen Stiften vollschrieb. Sollten
andere Autoren ruhig au f den Bildschirm ihres Computers sta r­
ren, sie mußte Seiten fühlen, die Tinte schmecken; sie brauchte
den physischen Akt des Schreibens.
Aber das fertige Produkt? Das hatte sie weder zu genießen noch
zu beurteilen. Es war für sie ein Artefakt: nur der Schaf fenspro­
zeß zählte. Gewiß empfinden alle Künstler so; bestimmt spüren
sie alle die schmerzliche Kluft zwischen Absicht und Wirkung.
Selbst wenn die Leser hingerissen waren, fühlte man sich ve r­
sucht, abzuwehren: Nein, nein, das Leben ist viel interessanter,
komplexer und reichhaltiger, als Literatur es je sein kann.
»Hier.« Sie nahm eine Leinenausgabe von ›Tintorettos Tochter‹
vom Regal und schrieb eine Widmung für Bean hinein : FÜR
BERKELEY SPROUL III. MÖGE ER DEN IV. UND V.
UND HOFFENTLICH DEN VI. ERLEBEN. UND MÖGE
ER SICH EINES TAGES IN VENEDIG VERLIEBEN WIE
MARIETTA ROBUSTI – ABER OHNE DAFÜR SEIN
LEBEN ZU LASSEN. IN AUFRICHTIGER ZUNEIGU NG,
ISADORA WING.
Sie gab ihm das Buch. Als er die Widmung las, verschleierten
sich seine Augen noch mehr. Dann zog er sie plötzlich an sich
und hielt sie fest umschlungen. Sie spürte seinen steifen Schwanz
durch die Jeans, während seine großen, unvorstellbar sanften
Hände ihr Gesäß umspannten. Dann wanderten die Hände ihren
Rücken hinauf, und er streichelte sie, als wolle er ihren Körper in
den seinen hineindrücken. Aber was sie wirklich verblüffte, war
die Art, wie er ihren Hals und ihr Haar berührte. Seine Finger
fanden genau den Punkt im Nacken, der ihr immer am meisten
weh tat, wenn sie diese gräßlichen Kopfschmerzen hatte . Unend­
lich behutsam massierte er die Stelle. Woher wußten seine Finger
so genau, wo sie ansetzen mußten? Es war unheimlich. Eine
Hand blieb auf ihrem Nacken, die andere strich ihr über den
Kopf und streichelte sie mit solcher Zärtlichkeit und Liebe, daß
sie sich in ihre Kindheit zurückversetzt fühlte, als ihr Großvater
ihr vor dem Einschlafen übers Haar gefahren war.
Panischer Schrecken ergriff sie. Kein Mann (außer ihrem Gro ß­
vater) hatte je diese empfindlichen Punkte gefunden; kein Mann
hatte es verstande n, ihren Nacken und Kopf so zu streicheln.
Wenn er das konnte, was mochte er sonst noch von ihrem Kö r­
per wissen? Sie fürchtete sich davor, es herauszufinden.
»Du mußt jetzt gehen.« Sie machte sich von ihm los. »Es ist
wirklich Zeit.«
Er nickte traurig. Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn die
Wendeltreppe hinunter. War sie verrückt, daß sie ihn gehen ließ,
oder war gerade das vernünftig? Schluß mit der Liebe! hatte sie
sich versprochen. Schluß mit den verführerischen jungen Mä n­
nern, deren Herzen ›wie Wa chs sind, bis sie ihr Ziel erreichen,
doch dann zu Marmor erstarren‹ (wie Byron es formulierte).
»Recht so! Wirf mich wieder in die Gosse. Da gehören Vag a­
bunden ja auch hin«, klagte Bean theatralisch.
Unten in der Halle reichte Isadora ihm seinen langen ro ten
Schal und seinen Seemannspullover. Sie bot ihm sogar eine alte
Skimütze von Josh an, aber er lehnte ab. »Nein, danke. Wenn ich
dich nicht haben kann, dann will ich gern erfrieren. Ich sterbe
freiwillig in der Gosse.«
»In der Gosse sind wir alle. Aber e inige von uns schauen hinauf
zu den Sternen.« Isadora öffnete die schwere Eingangstüre, und
Schneeflocken wirbelten herein.
»Das ist aus ›Lady Windermeres Fächer‹«, sagte Bean, »aber jetzt
werde ich dir ein Zitat aus ›Bunbury‹ vortragen, das zutreffender
ist.« Er trat auf den verschneiten Gehweg, drapierte sich den
roten Schal malerisch um die Schultern und deklamierte: »›Ho f­
fentlich haben Sie kein Doppelleben geführt und vorgegeben,
schlecht zu sein, während Sie in Wirklichkeit die ganze Zeit über
gut waren. Das wäre geheuchelt.‹«
»Touché«, rief Isadora. »Und nun ab mit dir!«
Obwohl sie nur in Jeans und Pullover war, begleitete sie ihn zu
seinem Lieferwagen. Sie genoß die rosafarbene Schneenacht und
fand, es sei eigentlich gar nicht sehr kalt.
»Gib acht, da ß du nicht ausrutschst.« Er nahm sie behutsam
beim Arm. Als er die Tür des Wagens (dessen grelle Farben unter
einer dünnen Schneedecke verschwunden waren) öffnete, sah er
sie traurig an.
»Fahr nach Haus!« Sie umarmte ihn flüchtig. Er beugte sich
über sie, nahm sie in die Arme und küßte sie auf den Mund.
Seine Zunge kannte ihr innerstes Wesen. Es hätte sie kaum mehr
erregen können, wenn er statt ihres Mundes ihre Möse geküßt
hätte. Seine Zunge wußte alles über ihren Mund, so, wie seine
Finger den empfindsame n Punkt in ihrem Nacken gekannt ha t­
ten. Sie spürte, daß er sie mit einem bloßen Kuß zum Orgasmus
bringen konnte.
»Fahr nach Haus!« wiederholte sie und löste sich aus seiner
Umarmung. Ihr war nicht klar, weshalb sie ihn so unbedingt
loswerden wollte. Wir al le wünschen uns nichts sehnlicher, als
erkannt zu werden, und Bean hatte sie erkannt, das stand fest.
Mußte er deshalb gehen? Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und
fuhr ihm ausgelassen mit der Zunge ins Ohr. »Fahr nach Haus!«
sagte sie noch einmal.
Wortlos stieg er ein, ließ den Motor an und setzte zurück. Sie
winkte und ging wieder ins Haus. Ihr war, als habe sie knapp ihr
Leben, ihre Freiheit und ihre Seele gerettet.
Göttin sei Dank! dachte sie erleichtert, als sie den Wagen mit
dröhnendem Motor die Einfahrt hinunterfahren hörte.
Sie zog sich aus, wechselte den Tampon (gerade noch rechtze i­
tig, um ein Blutbad zu verhindern) und schlüpfte in ein altes
Flanellnachthemd, eins von ihren Großmuttergewändern. Sie
wusch sich das Gesicht so ausgiebig mit schwar zer Seife, daß sie
das Vermögen von Dr. Lazio dadurch gewiß vergrößert e. Wo
mochte Dr. Lazio wohl stec ken? Vielleicht war er im Himmel
und machte Geschäfte mit Mel Botkin?
Beans Eintritt in ihr Leben hatte ihr unwahrscheinlichen Au f­
trieb gegeben. Und wenn ich pleite gehe, was so ll’s, dachte sie.
Ich werde noch einmal von vorn anfangen, genau wie beim
ersten Mal. Sie war übermütig, unternehmungslustig, furchtlos
und überschwenglich. Sie spürte, daß sie wieder zu leben begann,
vielleicht noch intensiver als früher, weil sie erneut bei Null
anfangen mußte. Sie würde Konkurs anmelden, ihren Besitz
verkaufen und ein einfaches Leben führen. Der klassische Wagen
würde verschwinden – vielleicht würde sie sich von beiden Autos
trennen und von den Brillantohrringen, die Josh ihr gekauft
hatte. Sie konnte auch mit einem kleineren Haus und einem
kleineren Wagen zufrieden sein, ja sogar ohne Haus und ohne
Auto. Allein das Schreiben zählte, nicht Geld oder Berühmtheit –
das Schreiben und Amanda. Und die Liebe? Nein. Die Ze it der
Liebe war noch nicht gekommen.
Gut, daß sie Bean heimgeschickt hatte. Er stellte eine Bedr o­
hung ihres Vorsatzes dar, frei zu bleiben, eine echte Bedrohung.
Isadora beendete die Lazio-Kur, machte Licht im Schlafzimmer
und beschloß, sich mit einem Buch ins Bett zu verziehen. Sie
würde sich einen Klassiker aussuchen, statt die lästigen Fahne n­
sätze zu lesen, die sich auf ihrem Nachttisch türmten und auf ein
Kollegenurteil warteten. »Lest nicht die Zeiten, lest die Ewigke i­
ten«, sagt Thoreau, und wenn man unmittelbar vor dem Bankrott
steht, braucht man die Klassiker mehr denn je. Sie würde also
Thoreau lesen. Sie würde noch einmal ›Walden oder Leben in
den Wäldern‹ studieren als Auftakt zum Verkauf von Haus und
Autos und zum Neuanfang in der Wildnis. Sie kon nte das Leben
ganz gewiß auch ohne schwarze Seife meistern!
Die amerikanische Literatur stand in dem Zimmer unterm
Dach, in dem sie ›Tintorettos Tochter‹ geschrieben hatte und das
jetzt Mand ys Spielzimmer war. Die Erwachsenenbücher waren
noch nicht ausgerä umt. Isadora zog ihre lustigen roten Eddie ­
Bauer-Pantoffeln an (die hinten runtergetreten waren und in
denen sie aussah, als habe sie Clownsfüße) und tappte zur Tre p­
pe, um unterm Dach nach Thoreau zu suchen. Als sie an der
Haustür vorbeikam, hörte sie ein hartnäckiges Klopfen.
»Isadora!« Es war Beans Stimme. »Isadora!«
»Scheiße!« murmelte sie. Ich muß ja zum Kotzen aussehen. Sie
riß die Tür auf.
Bean stand draußen und klapperte mit den Zähnen.
Sein Haar war voller Schneeflocken. Seine Nase war gerötet
und tropfte.
»Was ist passiert?« fragte Isadora.
»Ich bin auf der Einfahrt ins Rutschen gekommen, und der
Wagen ist in einer Schneewehe steckengeblieben. Ich krieg ’ die
verdammte Karre nicht wieder auf die Straße.«
»Eine glaubhafte Geschichte«, sagte sie ironisch.
»Sie ist wahr«, versicherte Bean. »Der Wagen ist geschliddert
und wäre ums Haar gegen einen Baum gekracht.«
Isadora musterte ihn spöttisch. »Du bist absichtlich ins Schli d­
dern gekommen.« Sie war riesig erleichtert, daß er nicht tot und
daß er zurückgekommen war.
»Ich schwöre, ich hab’s nicht vorsätzlich getan. Der Wagen kam
in der vereisten Kurve ins Schleudern und rutschte nach hinten
weg.«
»Aber sicher.« Isadora lachte. »Wer so scharf drauf ist, aufs
Kreuz gelegt zu werden, der muß schon eine Wucht im Bett
sein.« Damit nahm sie ihn bei der Hand und führte ihn in ihr
Schlafzimmer. Sie rissen sich die Kleider vom Leib – Pullover,
Schal, Großmutternachthemd, Jeans – und fielen sich in die
Arme, als sei ihr ganzes Leben nur eine Vorbereitung auf diesen
Augenblick gewesen.
Was heißt da Spontanfick! Was heißt Erfüllung eines unmögl i­
chen Traums! Bean war im Bett in seinem Element wie ein Fisch
im Wasser, wie ein Eisbär am Nordpol oder wie ein Verhunger n­
der, wenn er ein Stück Fleisch bekommt. Er machte sich über
Isadoras Körper her, daß man hätte denken können, er habe sein
Leben lang vergeblich nach einer Frau gelechzt – doch das war
offensichtlich nicht der Fall. Er war so hungrig, so geil (und doch
so seltsam rein in seinem Hunger und seiner Brunft, daß sie
versucht war, ihn zu beschwichtigen: ›Ruhig, nur ruhig! Es nimmt
dir ja niemand was weg!‹ Aber sie hielt sich zurück, aus Angst,
seiner unglaublichen Sexualität nicht gerecht zu werden). Auch
Riechen und Schmecken gehört zu seinem Repertoire, und er
genoß Ge rüche, Säfte, Schweiß und Blut. Ganz hingerissen
tauchte er seine Finger in ihre Muschi, teilte sie, entdeckte den
weißen Faden, der keusch zwischen ihren Schamlippen baumelte,
und mit den Zähnen zog er triumphierend den Tampon heraus.
»Aha! Ein Ariadnefad en!« Er kaute ein bißchen auf dem Ta m­
pon herum, prüfte seinen Geschmack, dann spuckte er ihn auf
den Boden und rammte sie mit der Zunge. Er spielte einen
lustvollen Walzer auf ihrer Klitoris und stieß den Finger gekonnt
so weit in ihre Möse, daß er den süß esten Punkt an der Vorde r­
wand traf. Er rieb ihn mit wunderbarem Geschick, während seine
Zunge weiter auf ihrem Kitzler trillerte. Die andere Hand hielt er
auf ihren Bauch gepreßt, und Isadora erlebte den berauschen d­
sten Orgasmus ihres Lebens.
Sie wollte di e Beine schließen und ein wenig ausruhen, doch er
spreizte sie mit Gewalt (ohne sich um ihren Protest zu kümmern)
und stieß seinen Schwanz in ihre Möse. Er wiegte sie in seinen
Armen und berührte Stellen im Innern ihres Körpers, von denen
sie hätte schwöre n können, daß noch keiner sie berührt hatte.
Unvermittelt glitt er heraus, rammte sie aber gleich darauf wieder.
Schonungslos stieß er wieder und wieder in sie hinein. Er stützte
sich auf die Arme und räumte mit seinem harten Schwanz in
ihrer Fotze auf, al s wolle er jede Spur ihrer früheren Liebhaber
auslöschen. »Für Josh«, keuchte er, »für Bennett, für Brian, für
alle.« Er stieß so heftig zu, daß sie fast schon wieder gekommen
wäre, doch da wich er zurück. »Noch nicht, Baby, noch nicht«,
sagte er, warf sie auf den Bauch, schlug ihr mit der flachen Hand
auf den Hintern und drang von hinten in sie ein. Er zog sie hoch,
so daß sie im Bett kniete, und dann fickte er sie, bis ihre Sich e­
rungen durchbrannten, während seine Finger ihre Klitoris rieben.
Sie kam und kam und kam, schrie und übergoß seinen Schwanz,
die Laken, den Qui lt und die Kissen mit schwärzlich -rotem
Monatsblut.
Er triumphierte. Die Laken starrten vor Blut. Sein Gesicht, sein
Schwanz und sein Bauch waren blutverschmiert. Er hatte einen
Schnurrbart aus Blut, einen Bart aus Blut, und blutige Kriegsb e­
malung zierte seine Wangen; auc h ihr Leib war voller Blut. Sie
wollte seinen Schwanz lutschen, ihr eigenes Blut ablecken, aber
er stieß sie zurück, warf sich ihre Beine über eine Schulter und
fickte sie aufs neue mit wilder Entschlossenheit und Energie. Sie
war noch nie jemandem begegnet (sie selbst vielleicht ausg e­
nommen), der sich so rückhaltlos hinzugeben vermochte. Ge­
wöhnlich versucht der andere beim Sex, einen Teil von sich
zurückzuhalten, sucht einen gewissen Abstand, Ironie, Bewuß t­
heit – alles, nur keine vollkommene Vereinigung mit dem Par t­
ner. Aber Bean bedurfte keiner solchen Distanz. Er lieferte sich
der Sexualität völlig unerschrocken aus, er vertraute auf seine
Männlichkeit mit einer Sicherheit, von der Isadora glaubte, sie sei
mit den Wikingern ausgestorben. Auf seinem Gesicht spiegelte
sich äußerste Spannung: Er wäre gegen einen Baum gerast und
hätte sich umgebracht, wenn er sie nicht hätte ficken können,
und nun fickte er sie, als sei dies eine Sache auf Leben und Tod.
Er spreizte ihre Beine, klemmte ihre Füße in seinem Nacken
fest und fickte sie wie besessen. Sie konnte weder die Position
bestimmen noch kontrollieren. Sie konnte diesen Partne r nicht
führen, aber merkwürdigerweise erregte sie da s mehr als alles
andere je zuvor, und sie kam wiederholt in Stellungen, von denen
sie bisher geglaubt hatte, sie seien für sie nicht vorteilhaft.
Er jubelte und lachte jedesmal, wenn sie kam. Er fühlte ihren
zuckenden Orgasmus mit seinem Schwanz – so perfe kt harm o­
nierten ihre Körper miteinander.
»Du paßt genau zu mir, wir sind das Paar«, sagte er, und seine
Augen funkelten vor Lust. »Gönn dir noch einen auf meine
Kosten!«
Er kniete über ihr und hielt ihr seinen Penis entgegen wie eine
todbringende, von ihre m Blut rot gefärbte Waffe. Vor ihren
Augen reckte sich sein Schwanz in einer aufreizenden, leicht
geknickten Kurve.
»Ich will dich ficken, bis du alles andere vergißt.« Wieder stieß
er in sie hinein. »Ich will alle Liebhaber und alle Gatten ausl ö­
schen. Ich will dein Mann sein«, keuchte er und stieß zu. »Dein
Mann, dein Mann.«
Isadora stöhnte unter seinen wilden Stößen. Sie stöhnte vor
Lust und Staunen. Beans Augen funkelten wild.
»Du bist wahnsinnig«, flüsterte sie. »Du bist irr!«
»Ich hab’ noch nicht einma l angefangen, dich zu fic ken«, sagte
er. Er glitt aus ihr heraus, drehte sie wieder auf den Bauch und
schlug ihr klatschend auf den Hintern. »Was für einen schönen
Arsch du hast – aber er ist längst noch nicht rot genug. Ich werd’
dafür sorgen, daß er rot wird.«
Er schlug sie, bis das Klatschen seiner Schläge den ganzen
Raum erfüllte, bis ihr Hintern brannte und schmerzte und die
glühende Flamme auf ihre Möse überzuspringen schien. Dann
warf er sie wieder auf den Rücken und peitschte ihre Muschi mit
seinem steifen Schwanz. Und wieder trieb er ihn in sie, zog ihn
zurück und rammte sie gleich noch einmal. Wieder peitschte er
ihren Kitzler und hörte nicht auf, bis sie um seinen Schwanz
bettelte, ihn anflehte, doch in sie zu stoßen.
»Noch nicht, Baby, noch nicht.«
Er beugte sich hinunter, drückte den Kopf zwischen ihre Beine
und leckte sie aufs neue. Seine Zunge kreiste auf ihrem Kitzler,
seine Finger spielten in Möse und Hintern.
»Ich werde dir den Finger so tief reinstecken, daß ich dein Ge­
heimnis fühlen kann«, sagte er und leckte sie aus.
Sie war außer sich vor Verlangen, Erschöpfun g und Verlangen.
Sie wollte dagegen ankämpfen und ihm mit keinem weiteren
Orgasmus mehr Freude machen. Sie hatte es aufgegeben mitz u­
zählen, wie oft sie schon gekommen war – aber sie war sicher,
daß der nächste Höhepunkt sie auf immer an ihn binden und ihr
Ego und ihre Freiheit auslöschen würde. Sie war entschlossen,
nicht noch einmal zu kommen. Sie bemühte sich, an Josh zu
denken oder an Kevin; sie versuchte sogar, die Kopfschmerzen
heraufzubeschwören – doch es war umsonst. Schon bebte sie auf
der Klippe zum nächsten Orgasmus, einem Orgasmus, der die
Kundalini zu wecken schien, ihre Beine sich konvulsivisch bew e­
gen und ihre Hände sich in Beans Nacken festkrallen ließ, bis er
vor Schme rz schrie. Und dann machte er sich wieder über sie
und vögelte sie noch leidenschaftlicher als zuvor. Er wandte den
Kopf zur Seite, und sein Gesicht verzog sich wie im Schmerz. Er
stützte sich auf die Arme und schlüpfte, glitt, nein flog in sie
hinein und wieder heraus, als schösse er geradewegs ins All.
»Flieg, Liebster, flieg!« jubelte sie.
»Baby, Baby, Baby, Baby!« Er stieß in sie hinein und schrie vor
Lust. Sein Becken und seine Schenkel zuckten wie im Fiebe r-
krampf, als er endlich kam. In seiner Leiste pochte wild eine
Ader. Dann brach er auf ihr zusammen.
»Mein Liebling.« Er streichelte ihren Kopf und ihren Nacken
und murmelte immerzu: »Mein Liebling, Liebling, Liebling,
Liebling.«
Überwältigt von der Gewalt ihrer Vereinigung, überwältigt auch
von dem geheimnisvollen dritten Geschöpf, das ihre beiden
Körper gebildet hatten, hielten sie einander in den Armen.
»Daß du ein harter Brocken bist, wußte ich gleich«, sagte Isad o­
ra. »Aber ich hatte keine Ahnung, wie hart.« Sie kam sich vor wie
Venus, die Adonis in den Armen hält, wie Ischtar mit Anu, ihrem
Gemahl, wie Kleopatra mit Marcus Antonius. Ihr war eine un­
vergleichliche erotische Erfahrung zuteil geworden, das wußte
sie: die Vereinigung einer voll erblühten Frau mit einem jungen
Mann, dessen Lebenssäfte noch ungehemmt fließen. Die Männer
opfern ihrer gesellschaftlichen Macht und Position so viel Ene r­
gie, daß ihre Lebenskraft, ihre sexuelle Kraft eher versiegt als die
der Frauen. Frauen werden mit jedem Jahr, mit jedem Kind und
jedem Schicksalsschlag stärker , Männer dagegen wirken mit
zunehmendem Alter erschöpft und ausgelaugt. Eine Neunun d­
dreißigjährige und ein Mann von fünfundzwanzig sind einander
sexuell ebenbürtig. Die französischen Romanciers entdeckten
diese große Wahrheit, doch die Amerikaner wollen si e nicht
anerkennen. Colette kannte sie, als sie mit einundfünfzig zu
Maurice ins Bett stieg. Sie wußte, warum sie ihn, den Fün fund­
dreißigjährigen, mit einundsechzig heiratete; sie nannte ihn da­
mals ihren besten Freund. Kluge Frauen kennen und hüten das
Geheimnis, daß ihr Lebensfaden länger ist als der des Mannes.
Das Klingeln des Telefons schreckte Isadora aus ihren Geda n­
ken. »Das ist mein Manager – im Himmel«, witzelte sie. »Hallo?«
Es war Kevin.
»Oh…« Sie war verlegen, als könne er sehen, wie sie dalag mi t
ihrem blutverschmierten Bauch. »Wie geht’s dir?«
Bean kicherte.
»Schhh.« Sie legte die Hand über die Muschel.
Bean hob den blutigen Tampon vom Boden auf und begann
erneut, daran herumzuschnüffeln. »Mm mmmm«, stöhnte er
genießerisch.
»Scht!« Isadora schirm te mit der Hand die Sprechmuschel ab.
»Du, Kevin, hör mal, ich schlaf schon hal b… Kann ich dich
morgen früh zurückrufen?«
»Ist was nicht in Ordnung?« fragte Kevin. »Fehlt dir wirklich
nichts?«
»Ich fühle mich großartig.«
»Du wirkst so matt, richtig kraftlos.«
»Das ist nur, weil ich schon fast eingeschlafen war, bestimmt!«
Sie verstellte ihre Stimme und bemühte sich, schläfrig zu klingen
statt halb totgefickt.
»Schwindelst du auch nicht?«
»Ganz ehrlich«, gurrt e sie ins Telefon und sah Bean dabei an,
der auf dem Tampon herumkaute. War er von Sinnen – oder
bloß berauscht? Durchaus möglich, daß er verrückt ist, dachte
sie. Wer außer einem Wahnsinnigen könnte sich den dunklen
Göttern so rückhaltlos ausliefern? Aber dann wäre ja sie auch
verrückt. Kevin dagegen wa r es nicht: Kevin, der Meister des
netten kleinen flüchertjes zum Nachtisch. Kevin würde nie ihre
Seele fordern, aber er würde auch nicht die Bacchantin in ihr
erwecken oder ihre Verrücktheit, den schier animalischen Wah n­
sinn.
»Ich rufe dich morgen früh an«, sagte sie zu Kevin mit einem
Blick auf Bean. »Schlaf gut! Küßchen!« Sie legte auf.
»Wer war das?« fragte Bean.
»Meine Nummer eins.«
»Deine was?«
»Meine Nummer eins. Willst du mir etwa deswegen eine Szene
machen?«
»Ich möchte deine Nummer eins sein.«
»Du bist zu jung für mich«, erwiderte Isadora, doch ihr Herz
sagte ihr, daß das nicht stimmte.
»Ich habe das Gefühl, bei dir werde ich schnell altern. Ach, da
fällt mir ein – ich hab’ ja was für dich.«
Er führte ihre Hand an seinen steifen Schwanz. »Komm!« Er
half ihr aus dem Wasserbett, türmte die Kissen vor ihr auf, damit
sie sich darauf stützten konnte, umspannte ihre Brüste mit den
Händen und nahm sie von hinten. Er stieß noch härter in sie
hinein als zuvor. Ihre Möse pochte, schmerzte, prickelte. Sie
flehte ihn an, sie noch fester zu rammen, sie zu schlagen, zu
zermalmen – mehr, ja, mehr. Wenn Bean in sie eindrang, war es,
als nehme ein dybuk von ihr Besitz. Bei jedem Stoß feuerte sie ihn
an mit einer Stimme, die gar nicht ihr zu gehören schien – als sei
sie wirklich zur Bacchantin geworden, als habe die Grenze zw i­
schen Schmerz und Lust sich aufgelöst. Er war ihr Gebieter, ihr
Priapus, der nicht nur in ihren Körper, sondern auch in ihre Seele
stieß.
Ah, sie gab vor, der Großen Mutter zu huldigen, aber in Wi rk­
lichkeit war sie dem Phallus hörig, sie war schwanzabhängig,
schwanzbeherrscht, schwanzverunsichert. Sie hatte schon immer
gewußt, daß Männer diese latente Macht über sie besaßen, doch
noch nie hatte sie so hundertprozentig den ihr sexuell ebenbürt i­
gen Partner gefunden: einen Mann, der des Fickens nicht müde
wurde, der wild darauf war, sich bis zur Erschöpfung wund zu
vögeln, einen Mann, der gleich ihr nicht vor Schweiß, Gerüchen
und Blut zurückschreckte, einen erdgebundenen Mann, der
wußte, daß der Mensc h nur durchs Irdische zum Göttlichen
emporsteigen kann.
»Ich will dein Mann sein«, stöhnte er und fickte sie wie ein Ra­
sender von hinten. Sein Mittelfinger stieß in ihren Hintern, sein
harter, gekrümmter Schwanz füllte ihre M öse, sein leidenschaftli­
ches Ve rlangen, seine Glut, seine Sicherheit, seine Lust füllten
ihre Seele.
Sie war noch nie in dieser Stellung gekommen, aber diesmal war
es, als würden die Orgasmen von neununddreißig Jahren auf
einmal explodieren, und sie stöhnte und winselte wie ein Tier.
Das erregte ihn so sehr, daß er vor Leidenschaft fast den
Verstand verlor. Er spritzte mit einem wilden Aufschrei. Sein
Becken zitterte, bebte, sein Schwanz stieß heftig in ihre Möse
und füllte sie mit seiner Ladung, bis sie beide keuchend vor
Erschöpfung vornüber aufs Bett fielen.
»Komm her zu mir«, flüsterte er, legte sich aufs Bett und reichte
ihr die Hand. Er schlang den Arm um sie, sie kuschelte sich in
die Mulde, die sein Körper bildete, und er streichelte ihren Kopf.
Selbst im Liegen fügten sich ihre Körper wunderbar zusammen.
Obwohl sie nur eins-zweiundsechzig, er dagegen fast einsneunzig
war, lagen sie aneinandergeschmiegt, als gehörten sie zusammen,
ja, als hätten sie schon immer zusammengehört. Erstaunlich, wie
selten es das gibt: zwei Körper, die i deal zusammenpassen. Es ist
wohl das einzig Gute an der Pro miskuität, daß sie uns diese
Lektion erteilt, und zwar gründlich.
»Du und ich, wir passen zusammen. Du gehörst zu mir«, sagte
er. »Jetzt, wo ich dich gefunden habe, lass ’ ich dich nie mehr
fort.«
»Mein Liebling.« Isadora kämpfte gegen den Wunsch an, seinen
Worten Glauben zu schenken. Nach dieser Nacht werde ich ihn
nie wiedersehen, dachte sie. Er ist ein Wunder, ein Traum, ein
Zauberer aus einer Geschichte von LB. Singer, er ist der Leibhaf­
tige in der Gestalt eines Engels. An eine solche Leidenschaft darf
man sich nicht klammern, sie kann nicht dauern, nicht bewahrt
werden. Ein Mann wie er könnte sich mit seinen romantischen
Einfällen glatt die Liebe einer Frau erschleichen und sie dann mit
gebrochenem Herzen zurücklassen. Sie war zu einem solchen
Abenteuer nicht bereit, nicht so kurz, nachdem Josh ihr Herz
gebrochen hatte. Vielleicht würde sie nie mehr bereit sein, sich so
bedingungslos auf einen Mann einzulassen.
»Woran denkst du?« fragte er.
»An nichts.«
»Du bist eine Frau, die in ihrem ganzen Leben keine Sekunde
lang an nichts gedacht hat«, sagte Bean. »Davon bin ich übe r­
zeugt.«
»Ich habe bloß gedacht, daß du ein harter Brocken bist, ein sehr
harter.«
»Nur ein ungestümer junger Mann. Genau dein Fa ll: der Fe ld­
Wald-und-Wiesen-Wüstling.«
»Der Spender irdischer Freuden. Aus bekehrten Wüstlingen
werden übrigens die besten Ehemänner – jedenfalls glaubte man
das im achtzehnten Jahrhundert, siehe ›Tom Jones‹.«
»Sapperlot! Frauenzimmerchen, macht sie mir etwa gar einen
Antrag?«
»Höchst unwahrscheinlich. Mein Bedarf an Ehe ist gedeckt.«
»Ich würde dich auf der Stelle heiraten«, sagte er, »und dabei
glaube ich nicht einmal an die Ehe.« Unendlich sanft streichelte
er ihren Kopf. So brutal er sich vorhin veraus gabt hatte, so zär t­
lich war er jetzt. Was war echt, die Zärtlichkeit oder die Brutal i­
tät? Oder war am Ende beides echt? Ungezügelter Sex bringt die
Extreme in uns ans Licht: Lamm und Wolf, Engel und Bestie. Sie
spürte das unverkennbare Zeichen einer kosmis chen Verbi n­
dung, eine winzige Sonne, die in ihrem Becken glühte, einen
leuchtenden, wärmenden Strahl fünf Zentimeter unter dem
Nabel, genau an der Stelle, auf welche die Zen -Meister sich bei
Kontemplationsübungen konzentrieren, das Chakra zwischen
Nabel und Schambein.
»Was soll ich bloß mit dir machen, Bean? Ob ich dich adopti e­
ren muß?«
»Schh, mein Liebling, komm, wir lassen uns treiben!«
Und sie schliefen einer in des anderen Armen ein, schliefen eng
umschlungen, ohne daß es der geringsten Verrenkung bedu rft
hätte; eingehüllt in ihren Schweiß, in Sperma und Blut schliefen
sie glückselig und friedlich.
Isadora schlief so gut wie noch nie, seit Josh ausgezogen war.
Sie schlief ohne ›Valium‹, ohne Alkohol, ohne dope. Sie träumte
sich zurück in die Wohnung in Manhattan, in der sie aufgewac h­
sen war. Sie kletterte wieder die Treppe zu Papas Atelier hinauf
und spähte über die Brüstung in das überh ohe Wohnzimmer
hinab. Sie versuchte, sich festzuhalten (merkwürdigerweise war
das Geländer nicht mehr da), um nicht in die Tiefe zu stürzen,
wo ihre Eltern eine Gesellschaft für ihre Freunde gaben. Dort
unten prosteten sich die Gäste mit echtem Champagner in lan g­
stieligen, kelchförmigen Gläsern zu. Die Champagnerbläschen
stiegen auf, begleitet von den Klängen der Barmusik, die jemand
auf dem Klavier klimperte. Die Leute waren ausgelassen und
lustig, sie kicherten über Dinge, die Kinder nicht verstanden.
Aber jetzt sprachen sie wie aus heiterem Himmel über sie, ohne
zu ahnen, daß sie zuhörte. »Sie wird sich durchbeißen müsse n«,
sagten sie. »Sie wird es schwerhaben.«
Auf einmal jagten ihr diese unklaren Worte der Erwachsenen
Angst ein. Sie wollte rufen: ›Ich bin hier, ich höre zu‹, aber es war
verboten zu lauschen, und außerdem hätte sie schon längst im
Bett sein müssen, also durfte sie sich nicht verraten. Sie verlor
den Halt und fiel hinunter. Aber sie schwebte vom Luftzug
getragen durch den Raum, wie ein geflügeltes Samenkorn, das
träge abwärts segelt. Sie wußte, daß sie über kurz oder lang auf
dem Fußboden des elterlichen W ohnzimmers aufschlagen mußte
und daß ihr schreckliches Geheimnis, ihre furchtbare Schuld ans
Licht kommen würden. Kurz vor dem Aufprall schreckte sie
hoch. Sie erwachte in panischer Angst, spürte, wie ihr das Blut
über die Schenkel strömte und erblickte ne ben sich auf dem
Kissen ein fremdes Gesicht. Durch die Ritzen der Jalousien vor
ihren Schlafzimmerfenstern drangen die rötlichen Strahlen der
aufgehenden Sonne. Die Digitaluhr zeigte fünf Uhr neunun d­
fünfzig. Ihre Tochter wachte oft um sechs auf.
Sie sprang aus dem Wasserbett und rannte ins Bad, wo sie sich
in fieberhafter Eile säuberte (wie Lowell Strath more, der wie ein
Keystone-Cop zappelte, ehe er zu seiner Ehefrau zurückhastete).
Sie führte einen frischen Tampon ein, wusch Beine und Bauch
mit dem Schwa mm, spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht,
besprühte sich von Kopf bis Fuß mit ›Opium‹, bürstete ihr Haar,
legte ein wenig Make -up auf, lief zurück ins Schlafzimmer und
schüttelte den Fremden, der da in ihrem Bett gelandet war.
»Liebling«, murmelte der, »Liebling.«
»Du mußt weg. Mein Kind kann jeden Moment aufwachen.«
Der Schweiß brach ihr aus – ob der Alptraum daran schuld war
oder die bacchantischen Ausschweifungen der vergangenen
Nacht? Sie wußte es nicht. Sie wußte nur, daß sie ihn loswerden
mußte, und zwar schnell.
»Bitte, Bean, bitte!« Isadora schüttelte ihn heftig. Er blinzelte
verschlafen und streckte die Arme nach ihr aus.
»Entschuldige meinen Drachenatem«, sagte er.
»Macht nichts.« Sie küßte ihn zärtlich, machte sich dann von
ihm los und sagte: »Du mußt jetzt wirklich gehen.« Sie brachte
ihm seine Kleider. Mit trägen Bewegungen, wie ein Mann unter
Wasser, zog er sich an. »Werden jetzt die Penner vertrieben?«
fragte er halb verletzt und halb amüsiert.
»Meine Tochter wird jeden Moment aufwachen. Ich fand’s groß­
artig letzte Nacht – du bist wunderbar –, aber was soll ich ma­
chen, wenn Amanda plötzlich hier hereinspaziert?«
Sie öffnete die Tür zum Hundeauslauf, wo Malteserhündche n­
kot unter dem frischgefallenen Schnee hervorschimmerte.
»O Gott, der Wagen!« rief sie.
»Keine Sorge, den schieb ’ ich raus. Für körperliche Arbeit bin
ich ganz gut zu gebrauchen. Geliebte, ich bete dich an. Vergiß
das nicht, ja?«
Er lief hinaus und warf sich den roten Scha l über die Schulter.
»Raus in den Kot, wo ich hingehöre!« Übermütig sprang er über
die gefrorene Hundescheiße.
Sie sah ihm nach. Er lief zur Einfahrt, fand den Lieferwagen
(der kaleidoskopisch in einer Schneewehe leuchtete) und ve r­
suchte, ihn auf die Fahrbahn zurückzuschieben. Es schien un­
möglich, aber entweder ha tte er soviel Kraft, oder die Macht der
Göttin, die ihn erst festgehalten und dann losgelassen hatte, war
mit ihm, jedenfalls gelang es ihm binnen weniger Minuten, den
Wagen ein Stück zur Fahrbahn zu schieben.
Er stapfte durch den Schnee zu Isadoras Sandki ste, nahm die
Schaufel, die dort lehnte wie ein phallisches Symbol, und verteilte
Sand und Salz um die Räder seines Wagens. Dann stieg er in das
grellbemalte Fahrzeug und brachte den Motor auf Touren. Der
Wagen schaukelte vor und zurück, als Bean versuchte , wieder auf
die Fahrbahn zu gelangen. Selbst sein Fahr stil war sexy! Ve r­
dammt noch mal, dachte Isadora, dieser Mann könnte mich
wahnsinnig machen. Sie konnte es kaum erwarten, daß die Räder
im Sand Halt fanden, daß sie griffen und ihn für immer aus
ihrem Leben entführten.
Als es klappte, hätte sie beinahe Beifall geklatscht. Raus, raus,
raus! Für immer raus aus meinem Leben, dachte sie, ob du nun
ein Wunder, ein Dämon oder dybuk bist! Aber noch während sie
dem Wagen nachsah, wie er die Einfahrt hinunterfuhr, begann sie
zu singen. Sie trällerte Liebeslieder vor sich hin, als sie unter die
Dusche ging. »Niiiieeee war ich so verliebt…«, sang sie, und dann
lachte sie sich selbst aus. Sie wusch Blut und Sperma aus ihrem
Schamhaar und sah, wie sich das Wasser ro strot färbte, ehe es in
schwindelerregendem Tanz den Abfluß hinunterwirbelte.
RAHEL HUTMACHER

Herzanfall

Ich fuhr heim, obwohl ’s noch mitten in den Ferien war; wohin
hätt’ ich sonst gehen sollen. Ich war eine prüde alte Jun gfer, die
zu ihrer prüden alten Mutter zurückwollte: Fritz hatte recht.
Obwohl’s zum Fürchten heiß war, fror ich in meiner alten Haut.
Deine Haut sieht aus wie ein runzliger alter Fisch. Ja, ja.
Ich fuhr den ganzen Tag, ohne einmal anzuhalten. Die Aut o­
stopper saßen am Straßenrand und rühr ten sich nicht, schöne
junge Tote in der Hitze. Heute nahm ich keinen mit. Nie wieder
würde ich einen mitnehmen. Sie waren schön und jung, und ich
war alt: nichts hatte ich mit ihnen zu schaffen, nichts. Mit dir ist
nichts mehr anzufangen, Fritz hatte recht.
Gegen Abend nahm ich doch jemanden mit, ein junges Mä d­
chen. Ich stellte mir vor, wie sie nachts am Straßenrand stand
und von einem Mann aufgelesen wurde, der ihr weiß was antat;
da hielt ich an.
Sie grüßte nicht und bedankte sich nicht. Sie stieg schwei gend
ein und setzte sich ihren schmutzigen Rucksack auf den Schoß
wie ein schweres Kind.
»Das kannst du hinten hinlegen«, sagte ich.
»Nein«, sagte sie.
»Wohin willst du«, fragte ich. Sie war jung, sie hätte eine meiner
Schülerinnen sein können.
»Ist mir egal«, sagte sie.
»Du mußt doch irgendwohin wollen«, sagte ich. Aber sie sah
schweigend aus dem Fenster, als wäre jetzt alles geklärt. Also
fuhr ich weiter. Mir konnt’s ja egal sein.
Als sie ihre Zigaretten hervorholte, sagte ich: »Rauch bitte nicht
in meine m Auto«; sie nickte und tat die Zigaretten wieder weg.
Einmal sagte sie: »Hast du kein Radio hier.« Es störte mich, daß
sie mich duzte. Ich sagte »Nein.« Sonst redeten wir kein Wort.
Ich fuhr und fuhr; solange ich fuhr, war der ganze Schmerz,
waren die Ang st und die Kränkung weg. Ich fuhr und fühlte
nichts. Ich war tot; alle waren längst tot, nur wußten sie ’s nicht
oder wollten’s nicht wissen, Fritz und meine Mutter, die schönen
Autostopper am Straßenrand und das Mädchen neben mir. Ihre
strähnigen langen Ha are flatterten, als wüchsen ihr Tuchstreifen
aus dem Kopf und nicht Haare. Dann wurde es dunkel, und ich
merkte plötzlich, mein Nacken schmerzte, ich war hungrig und
durstig; und dieses Mädchen roch nicht gut, auch das merkte ich
erst jetzt. Alles tat mir weh.
»Ich werde beim nächsten Hotel anhalten und übernachten«,
sagte ich zu dem Mädchen und war froh, daß ich sie bald loswu r­
de mit ihren fettigen Haaren und ihrem Schweißgeruch.
»Okay«, sagte sie.
»Und du«, sagte ich, »wo bleibst du.«
»Weiß ich nicht«, sagte sie und sah weiterhin geradeaus, als sähe
sie in dieser Dunkelheit ein schönes Land und müßte es jetzt
andächtig und genau betrachten.
»Ist das denn nicht gefährlich«, sagte ich. Höhnisch , sage die
Stimme von Fritz in mir: »Prüde, prüde.«
Das Mädchen zuckte die Schultern, das sah sehr verächtlich
aus, und sagte nichts. Sie holte wieder ihre Zigaretten hervor.
»Rauch nicht in meinem Auto«, sagte ich scharf, und die Stimme
in meinem Innern höhnte: Jungfer, Jungfer, Lehrerin.
»Ach ja«, sagte das Mädchen gl eichmütig, als wäre sie Verbote
und Enttäuschungen gewohnt, und ich zerbrach mir den Kopf,
was ich mit ihr machen sollte.
Ich wollte sie loswerden. Aber sie war so jung, ich konnte sie
doch nicht mitten in der Nacht hier irgendwo stehenlassen. Aber
auch we nn ich gewollt hätte, hätte ich sie gar nicht einladen
können; ich hatte kaum Geld bei mir. Ich hatte nur mein Zeug in
den Koffer geworfen und war weggefahren, so schnell ich kon n­
te. Eine klügere und erfahrene Frau als ich hätte zuerst von Fritz
das geliehene Geld zurückverlangt; da fing ich an zu weinen.
Als ich vor Tränen nichts mehr sehen konnte, fuhr ich an den
Straßenrand und hielt an. Ich legte den Kopf aufs Steuerrad,
schluchzte und weinte.
Das Mädchen blieb neben mir sitzen wie eine schweigende,
stinkende Pflanze, während ich weinte und weinte über das, was
Fritz mir angetan hatte, was das ganze Leben mir angetan hatte.
Das nächste, woran ich mich erinnere, ist der alte Portier, der
so schnell redete. Ich stand hilflos da und fand kein mir vertra u­
tes Wort in dem rasenden Fluß von Wörtern, die aus ihm hervor
stürzten. Das Mädchen nickte schließlich und antwortete ihm
etwas. Er gab mir einen warmen Schlüssel in die Hand und wies
uns, immerfort redend, die Treppe hinauf. Noch immer liefen
mir die Tränen übers Gesicht, wer weiß, was er dachte. Wah r­
scheinlich war’s ihm egal.
Wir gingen mehrere Treppen hoch, und das Mädchen stank. Im
Auto hatte ich alle Fenster offen gehabt. Hier, in diesem stickigen
grauen Gang, roch sie so heftig nach fettigen Haaren und ver­
schwitztem Frauenkörper, daß ich versuchte, den Atem anzuha l­
ten. Prüde, prüde, frigide, sagte die Stimme von Fritz wie ein
Lautsprecher in meinem Innern. Ich ging hinter diesem Mädchen
her und weinte mir die Seele aus dem Leib, und mir war übel und
schwindlig.
Das Zimmer war schrecklich, aber das merkte ich erst am näch­
sten Tag. Mir war schlecht; mein Herz brannte und stach. Etwas
Reißendes, Tobendes zerquetschte mir das Herz. Ich stand ganz
still in diesem dröhnenden grauen Trichter, klammerte mich an
das Eisenrohr und dachte, jetzt sterbe ich, jetzt muß ich sterben.
Das Mädchen stellte meinen Koffer aufs Bett, stieß das Fenster
auf und drehte am Wasserhahn, aus dem ein gelbroter Wasse r­
strahl kam; ich hatte den ersten Herzanfall meines Lebens und
sagte zu dem Mädchen: »Wasch dich mal gründlich.«
Ich sah das Mädchen gleichmütig nicken und fühlte, wie mein
Herz stampfte und zerrissen wurde. Ich hörte das Mädchen
sagen: »Ich hab’ aber nichts zum Waschen da.«
Auf grauen Knien ging ich zu meinem Koffer und gab ihr alles,
mein Shampoo, meine Seife, mein Handtuch, und krümmte mich
dabei vor Schmerzen. Nie hatte ich bisher mit jemandem mein
Handtuch geteilt, und daß man sich, um seine Liebe zu beweisen,
die Zähne mit der Zahnbürste des Geliebten putzt, fand ich
schon immer widerlich und töricht. Aber jetzt riß etwas Hartes,
Graues mein Herz auf; ich wußte nichts mehr von dem, was ich
einmal gewußt und gelernt hatte, und lieh diesem vollkommen
fremden Mädchen meinen Waschlappen und meine Zahnbürste.
Sie zog sich aus und wusch sich. Ich saß auf dem Bettrand, ha t­
te einen Herzanfall und Todesangst und sah ihr beim Waschen
zu. Sie wusch sich die Haare; Schaum flog bis zu mir aufs Bett,
und ich wußte nicht, ob das auf meinem Gesicht meine erkalte n­
den Tränen waren oder die Schaumflocken, die um mich flogen
wie weiße Federchen.
Dann konnte ich wieder atmen und lebte noch: saß auf dem
Bettrand und sah einem nackten Mädchen zu, wie es sich wusch.
Ich sah zum ersten Mal in meinem Leben eine nackte Frau,
nachdem ich erst vor ein paar Tagen zum ersten Mal in meinem
Leben einen nackten Mann gesehen hatte. Vor dem nackten Fritz
hatte ich mich geschämt und gefürchtet und war vor Ratlosigkeit
gelähmt gewesen. Jetzt fühlte ich mich wie ein kleines Kind, das
sitzt und zusieht, während di e Tränen auf seinem Gesicht troc k­
nen: nur dasitzt und zusieht, friedlich und vollkommen furchtlos.
Wir schliefen im selben Bett, es gab in diesem Zimmerchen nur
dieses weiße Eisenbett. Das Mädchen legte sich neben mich und
schlief sofort ein, und ich schlief auch ein.
Nachts wachte ich auf, weil ich mit der Stirn auf der Armban d­
uhr lag. Ich legte die Uhr auf den Boden neben das Bett, und das
Mädchen drehte sich um und legte sich in meinen Arm.
Ich war eine prüde alte Jungfer. Ich war beinahe fünfzig, und
Fritz hatte es nicht glauben können, daß er der erste Mann in
meinem Leben war. Erst neckte er mich deswegen, später ve r­
höhnte er mich : vertrocknet, alt, gar keine richtige Frau. Ich war
ungeschickt und voller Angst, etwas falsch zu machen, etwas
nicht zu wi ssen, was ich als Frau hätte wissen sollen; und Fritz
war wütend.
Jetzt lag ich in dem engen Bett, hielt diese junge Frau im Arm
und fühlte im Dunkeln, wie sie ihre Hand auf meine Wange legte.
Sie streichelte mich, und ich ließ mich streicheln, ohne mich zu
wundern oder zu ängstigen. Es war keine Angst übriggeblieben.
Die Hand der jungen Frau war rauh und warm. Ich roch mein
Shampoo in ihren Haaren, die mich im Gesicht und dann auf den
Brüsten und dann auf dem Bauch kitzelten. Ich war gestrandet;
ich war mi t dem Leben davongekommen. Ich ließ mir das
Nachthemd ausziehen und hörte meiner Stimme zu, die ganz von
selber, ohne daß ich etwas davon wußte oder etwas dazu tat, zu
stöhnen und zu rufen begann und schließlich in das dunkle
Zimmer hineinschrie und nicht mehr aufhören wollte zu schre i­
en.
Ich schlief in ihren Armen ein wie ein Kind, und sie hielt mich,
als wäre ich ein Kind. Sie sagte freundliche Wörter zu mir, die ich
nicht verstand, aber das machte nichts. Sie strich mir über die
Haare, und ich schlief gä nzlich getröstet ein. Am andern Morgen
wachte ich auf, und sie war weg, und mein Geld war auch weg,
und die goldene Armbanduhr auch, die meiner Mutter gehörte
und die sie mir unter tausend Mahnungen für die Reise geliehen
hatte.
Es machte mir überhaupt nic hts aus. Ich hätte mich aufregen
sollen, aber ich regte mich nicht auf. Es war, als hätte ich dies
alles schon lange gewußt und immer erwartet, und jetzt war’s
geschehen, und alles war gut und vollkommen gerecht.
Ich mußte Geld auftreiben. Ich stammelte in dieser fremden
Sprache herum. Ich behielt das häßliche Zimmerchen und lag
fast die ganze Zeit, bis das Geld ankam, im Bett: als wäre ich von
einer schrecklichen Krankheit genesen, als wäre ich endlich am
richtigen Ort angekommen; und als ich nach Hause ka m, sagte
meine Mutter sofort: »Wo hast du meine Uhr.«
Ich log. Ich log sie an und log die Kollegen an, als sie nach
meinen Ferien fragten, und sie glaubten mir alles, nur meine
Mutter glaubte mir kein Wort. Sie jammerte ihrer Uhr nach und
machte mir wochen lang Vorwürfe deswegen, aber zum ersten
Mal in meinem Leben waren mir ihre Tränen, ihre Vorwürfe und
ihr gekränktes Schweigen vollkommen egal.
Quellenverzeichnis

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aus der Zwischenzeit. Übers, von Sybil Gräfin Schönfeld. Cop yright
© 1982 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek.
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Übers, von Karin Petersen. Copyright © 1986 by Rowohlt Verlag
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ELULA PERRIN: Anna und Françoise, aus: Es begann im Jahr der


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JAYNE ANNE PHILLIPS: Unzucht, aus: Das himmlische Tier. Übers,
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ANNE-MARIE VILLEFRANCHE: Germaines Fitness-Training, aus:
Plaisir d’Amour. Übers, von Andrea Fehringer und Viola Hei l­
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SANDRA PARETTI: Ehebruch, aus: Treibjagd. (Kapitel 7.) München
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MAUDE HUTCHINSON: Der Mann von nebenan, aus: Der Lift und
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ERICA JONG: Geschliddert, aus: Fallschirme & Küsse. Übers, von Eva
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RAHEL HUTMACHER: Herzanfall, aus: Sandgeflüster. Erotische Reisege­
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BARBARA SHEEN: Zwillinge, aus: Biester. Übers, von Sonia Mikich.
Copyright © Verlag Gudula Lorez, Berlin 1984.
EDNA O’BRIEN: Eine Frau am Meer, aus: Mrs. Reinhardt träumt von
No. 10. Übers, von Hannelore Neves. München 1979. Mit
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Straus & Giroux, New York.

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