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Also sprach Zarathustra vom Wohlergehen

© Christof Wahner 2011

Ein Zeitgenosse fragte Zarathustra wegen dessen Wohlergehen. Zarathustra hielt verwundert inne:
"Willst du dies wirklich wissen oder fragst du lediglich aus Höflichkeit, wie es mir geht? – Was nützen
Umhänge und Schleier, aus gezwungener Bescheidenheit und falscher Höflichkeit gewebt? So schau
zunächst einmal genau, WIE ich so gehe, Schritt um Schritt! Dann kennst du schon den größten Teil
der Antwort auf die Frage – zumal ein Körper nicht so unverhohlen lügen kann wie abertausend Worte.
Das innigliche Feuer aller Wissbegierigen, die auch im allertiefsten Winkel einer noch so unwegsamen
Tropfsteinhöhle der Erkenntnis durchaus Ehrfurcht, aber keine Angst verspüren, trägt den Namen WIE.
Es dürfte wert sein, dass zur Ehre dieses eher schüchternen doch unschätzbaren Zauberwortes WIE
die ganze Welt in allen ihren sonderlichen Einzelheiten als dessen Heiligtum betrachtet wird.
Wenn du gerade Anteil an mir nehmen magst, doch nicht genügend Muße spürst, um wenigstens ein
kleines Stück des Weges mit zu gehen und als Wegbegleiter mir zu dienen, so frag mich lieber noch,
woher ich komme und wohin ich gehe – auch wenn wir miteinander in der Landschaft stehen oder
miteinander auf dem Diwan liegen. Das mag dich vielleicht noch auf den Gedanken bringen, mich zu
fragen «Wie steht es dir?» und «Wie liegt es dir?», doch achte stets auf dieses unscheinbare Wörtchen
WIE, damit ich möglichst keine ketzerische Lust verspüre nachzuforschen, was du von mir hören willst:
Wirst du vor Neid erblassen, falls ich in jeder wesentlichen Hinsicht glücklich und zufrieden scheine?
Wirst du mir ritterlichen Trost und Zuspruch geben wollen, falls ich äußere, dass es mir schlecht geht?
Magst du mir glauben, dass es mir in diesem Augenblick vielleicht nur deshalb schlecht geht, weil ich
deine Allerweltsgewohnheit ahne, die außer Gut und Schlecht kaum andere Befindlichkeiten kennt?
Willst du vielleicht ein klägliches und dümmliches Gebrabbel hören wie «Es muss halt», so dass dein
Selbstwert sich am öden, dumpfen Abgrund einer solch verhängnisvollen Schicksalsgläubigkeit erbaut?
Fragst du mich etwa nur nach meinem Wohlergehen, weil du nicht mehr als eine blasse Ahnung hast,
wie es dir selber geht? Oder fragst du mich, nur weil du wissen willst, wie gut und gern ich lügen mag?
Oder willst du eigentlich nur wissen, wie «man» geht – und ob ich mich im Gleichschritt mit der breiten
Masse wähne? Oder seufzt du glücklich und beruhigt auf, wenn es mir ähnlich wie dem Wetter geht?
So lass mich deinen magersüchtig-hohlen Geist wie ein gewaltiges Gewitter übermannen! –
Sofern du wissen willst, wie ES mir geht, so schau mich gründlich an. «ES war einmal», so heißt es in
den Märchen. «ES wird einmal», so spricht die unerschütterliche Liebe. «ES ist einmal», dies sind die
Worte eines wissbegierigen und sinnlichen Beobachters der Augenblicke. Das ES ist nicht nur jenes
dritte Glied im Bunde zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit; es ist vielmehr ihr Ursprung und ihr Ziel.
So bleib nicht einfach bei der Frage stehen, wie ES geht; doch trau dich zu erforschen, wie ES kommt.
Entwicklung und Gesellschaft lebt von Bindungen entfalten und entfilzen, das heißt vom Kommen und
vom Gehen. Wo Gehen aber Fluch und Fall und Flucht bedeutet, da heißt Kommen auch nichts gutes.
So glaub mir nicht an diesen heiklen Aberwitz von der «Vertreibung» aus dem Paradies – sprich: aus
dem Mutterschoß, die – wenn man sie nur schlicht und einfach als «Entsendung aus der Anderswelt»
bezeichnen täte – jedes Gehen, jedes Kommen als begehrenswerte Gnade freier Geister gelten ließe!
Sofern du dich zu meinem ES hinzu gesellen willst, so frag am besten ohne irgendeine falsche Scham:
«Wie komm ich dir?», «Wie geh ich dir?», «Wie steh ich dir?» und auch «Wie lieg ich dir?»
Und wenn du wirklich wissen willst, wie ES mir geht, dann bitte sei sowohl ein Sehender als auch ein
Gehender! – So nimm die Maske vom Gesicht und steig von deinem Ross herab – und sei du selbst!"
Also sprach Zarathustra.

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