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Über Entschleunigung

von
Yvonne Chaddé

halt
sei still
ich kann mein selbst nicht hören
die Zeit läuft hinunter
und steht

1. Einleitung

Warum lässt sich Zeit so schwer fassen?


Wenn wir sowohl das Gefühl entwickeln können, Zeit vergehe schnell oder langsam
und diesem ein Gefühl des Behagens oder Unbehagens zuordnen können, so lässt sich
vermuten, Zeit ist entgrenzt, weil wir keine klaren Grenzen der Orientierung mehr
ziehen können.
Lässt sich das vielleicht darauf zurückführen, dass Zeit sich zunehmend als konstruiert
entpuppt?
Weil kein einheitliches Zeitmodell unsere Gegenwart bestimmt, also die verschiedenen
Lebenssphären zeitlich unterschiedlich determiniert sind, wird das Diktat der
Zeitmodelle als sinnentfremdet und unbehaglich betrachtet.
Deshalb handelt der erste Teil von Entgrenzung.
Der zweite Teil untersucht den deutsche Slow-Food-Verein, den Verein der
Verzögerung von Zeit e.V. und die Zeitschrift „simplify your life“ als Typen für
Vergesellschaftungs-/ Vergemeinschaftungsprozesse.

FH P, Ein Zeitkabinett, Yvonne Chaddé 1


Der Aufsatz hat essayistischen Charakter, denn bin in der Recherche assoziativ
vorgegangen. Von den oben genannten Thesen schweife ich ab, denn ich muss
insgesamt um den Begriff der Entschleunigung einen weiten Bogen machen, damit ich
ihn mir am Ende als Leitbild vorstellen konnte.
Meine Beispiele im Weberschen Kontext lassen sich vielleicht auch konträr
interpretieren, dazu fehlt mir an dieser Stelle aber das soziologische Wissen.
Natürlich habe ich mich beschleunigten Formen des Informationserwerbs über das
Internet bemächtigt.

2. Globalisierungsprozesse unserer Gegenwart

Unsere Gegenwart unter dem Zeichen der Globalisierung scheint sich nicht nur
auszuweiten, sie beschleunigt und vervielfältigt sich.
Unsere Gesellschaft befindet sich in der zunehmenden Medialisierung unserer Umwelt.
Die Möglichkeit über technische Kommunikationsmittel Zugang zu im weiteren Sinne
kulturellen und wirtschaftlichen Ressourcen und Informationen zu gewinnen, ist
gewachsen. Den Spielraum dieser Möglichkeit für den Einzelnen auszuloten, verlangt
Aufmerksamkeit, Risikobereitschaft und Reflexionsvermögen. Die Organisation des
Lebens siedelt an zwischen Sachzwängen und Möglichkeiten, zwischen Vermittlung und
Erfahrung, in der Differenz der Geschwindigkeiten verschiedener gesellschaftlicher und
psychischer Prozesse.1

1 Diagnostiziert Simmel in einer durch Formel der Nation und des Fortschritts determinierten

gesellschaftlichen Umbruchsituation die Unmöglichkeit für die kulturellen Entwicklung des


Einzelnen den Entwicklungsgrad objektiven Kultur zu erreichen, wobei der Einzelne
gleichzeitig an der Entwicklung des veräußerten kollektivierten Geistes mitwirken. Die objektive
Kultur gestaltet sich somit durch unser Zutun aber außerhalb unserer vollständigen Kontrolle.
(Georg Simmel: Die Arbeitsteilung als Ursache für das Auseinandertreten der subjektiven und
der objektiven Kultur, in: Schriften zur Soziologie, Frankfurt/ Main, 1983
Auf dem Gebiet der Technik thematisiert Günther Anders 1956 unsere >>Ehrfurcht vor den
Geräte<< wegen ihrer Perfektion aus der Unkenntnis ihres Fertigungsprozesses und der
menschlichen Einsicht, sich selbst nicht perfektionieren zu können. (Günther Anders: Die
Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution,
Band 1, 7. Auflage, München, 1994)
Übertragen wir nun den Mangel an Verständnis für die menschlichen Leistungen, oder besser,
den retardierenden Charakter der Erkenntnis auf gesellschaftliche Prozesse unserer Gegenwart,
so bedeutet es: wir wirken innerhalb dieser Prozesse, können sie aber nicht vollständig
wahrnehmen, noch kontrollieren.

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Eine Bedeutung der Fabrikarbeit als beherrschendes Produktionsmodell verläuft sich in
der Vielzahl der zu produzierenden Güter und Leistungen immaterieller Art.
Dienstleistungen, Wissen, Informationen, Netzwerke gehören zum Bereich der globalen
Produktion und Zirkulation einer kapitalistischen Wirtschaftsweise. Dennoch ein
Beispiel aus der Fabrikarbeit für
das parallele Empfinden und Ausrichten des Menschen nach verschiedenen
Zeitmodellen.
Ein gläubiger Muslime, welcher dem Koran nach verpflichtet ist, fünf Mal täglich
zeitlich festgeschriebene Gebetsrituale abzuhalten, oder eine bestimmte Zeit des Jahres
zu fasten und die gesellschaftlich wichtigste Zeit des Tages nach Sonnenuntergang zu
verlegen, jedoch damit in Konflikt geraten kann, wenn er als Arbeiter in ein
Schichtsystem integriert ist, dessen Zweck die Verwaltung der Menge oder Masse ist
und nicht der Individualität des Einzelnen entsprechen kann, welcher sich freiwillig,
wenn auch kulturell, also durch die Gruppe geprägte (zeitliche) Regelwerke auferlegt.
Mit verschiedenen angebotenen und auferlegten zeitlichen Modellen zu leben, ist
allerdings kein Einzelfall. Produktions- und Distributionsoptimierungen verlangen die
Rationalisierung der Lagerhaltung und plädieren für „just on time“/ „on the minute“-
Produktion.2

2
Zeit versucht sich von Raum zu trennen. Das bedingt eine Arbeitspraxis, in welcher der Arbeiter
nicht nur durch die Zergliederung des Arbeitsganges von seinem Produkt entfremdet wird, auch die
Möglichkeit eine sinnlich fundierte Beziehung zum gemeinschaftlich produzierten Objekt aufzubauen,
gelingt nicht: es verschwindet sofort aus den Augen. Der zeitliche Druck fortwährend weiter zu
produzieren verlangt Aufmerksamkeit. Nicht nur der tatsächliche Raum der Arbeit wird weiter
begrenzt, welcher bisher persönliche Nachsichtigkeit der Zeit gegenüber tolerierte, sondern auch der
innere Raum der Wahrnehmung wird beschränkt. Zum Einen wird dem Bummeln Einhalt geboten,
dass sich in der Logistik der Lagerhaltung unter den Arbeitern einstellen kann, zum anderen
verringert sich die Zeit, indem der Arbeiter während der Arbeitszeit über sein Wirken nachdenken
kann.
Aufmerksamkeit ist allerdings ein trügerisches Konstrukt, in dem Sinne, dass der Arbeiter zwar
ständig ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit im Arbeitsprozess erbringen muss, darüber das
selbständige Denken aber verlernt. „Sie sind so angelegt, daß ihre adäquate Auffassung zwar
Promptheit, Beobachtungsgabe, Versiertheit erheischt, dass sie aber die denkende Aktivität des
Betrachters geradezu verbieten, wenn er nicht die vorbeihuschenden Fakten versäumen will.“, so
Adorno über die Beschaffenheit der Produkte der Filmindustrie. (siehe dazu: Max Horkheimer, Theodor
W. Adorno: Kulturindustrie, in: Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung.
Philosophische Fragmente, 13. Auflage, 2001, Frankfurt am Main, S. 134)
Der Sinn der Tätigkeit liegt im zeitlichen Gebot, pünktlich zu produzieren, nicht in der
Sinnträchtigkeit menschlichen Lebens. Das Diktat der Dringlichkeit entfernt noch mehr vom
glücksversprechenden Sinn der Arbeit. Firmen- und Managementparadigmen manifestieren sich so
im Unterbau und auch in der Wahrnehmung der beschäftigten Arbeiter. Seine Zeitwahrnehmung
verdoppelt sich damit und trennt diese, erfordert zumindest, dass der Arbeiter diese Paradigmen mit
seinem eigenen Zeitgefühl arrangiert.

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2.1. Die Entgrenzung des Raums

Der Übergang von der Postmoderne zur Globalisierung kennzeichnet sich durch
verschiedene Prozesse. Die Zeitsysteme und Zeitmodelle differenzieren sich
voneinander und eine hybride Zeitwahrnehmung wird zur Gewohnheit. Information
und Wissen als Produktionsfaktoren und als Produkte. Die Geschwindigkeit der
Datenübertragung über das Internet kann zu einem wirtschaftlichen Faktor werden,
ebenso wie die Halbwertzeit von Wissen.

Michael Hardt und Antonio Negri analysieren die „Globalisierung des ökonomischen
und kulturellen Austauschs“ als eine globale Ordnung, die sich über die Entgrenzung
des Raums manifestiert. Der begrenzte Raum in diesem Sinne … der Nationalstaat,
welcher in seiner Rechtfertigung durch die Aufklärung als territoriale und kulturelle
Einheit identitätsstiftend war und als Zentrum der Macht in die Peripherie wirkte.
Der Weltmarkt als ein Phänomen der Globalisierung gestaltet zunehmend in Produktion
und Zirkulation der Waren und Dienstleistungen. Fabrikarbeit ist in die Gebiete der so
genannten Dritten Welt gefallen und sozusagen auch aus unserem unmittelbaren
Gesichtskreis. In unserer Gesellschaft werden Begriffe wie Kommmunikation in
Echtzeit und up-to-minute – Produktion und Distribution zunehmend greifbarer. In
„Empire“ wird die globalisierte Welt als geglättet beschrieben, eine Welt, „die neue und
komplexe Ordnungen aus Differenzierung und Homogenisierung, aus
Deterritorialisierung und Reterritorialisierung bestimmen.“ Wird so mit gewachsenen
Denkstrukturen gebrochen, weil global das gleiche Verfahren der Umstrukturierung
angewendet wird, so verändern sich auch die Paradigmen der Lebensführung. Tradierte
normative Systeme haben keinen universellen Geltungsanspruch mehr. Im globalen
Netz von Handlungs-, Denk- und Zeitmodellen bilden sich „diskursiv weitgehend
abgeschlossene, selbstgenügsame und rigorose Gemeinschaften“3 hinlänglich als globale
Dörfer bezeichnet.

2.2. Die Entgrenzung der Zeit

3
Stefan Beck: Fluchtgeschwindigkeiten aus der Moderne. Vom Nachteil der Dromomanie für die
Analyse der „Informationsgesellschaft“, 2002

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Nichts muss, alles geht. Der Wegfall der Determinanten. Unsere Gesellschaft entgrenzt
sich. Die zeitlichen und räumlichen Dimensionen überlagern sich, die Kommunikation
in Echtzeit ermöglicht eine Eröffnung des persönlichen Gesichtskreises und somit
einen Reflexionsraum zur eigenen Umwelt, die Erfahrung ist aber vermittelt und kann
zur reinen Information verkümmern. Mit der Globalisierung reisen auch die Ideen und
verändern ihren Gehalt im gesellschaftlichen Gestaltungsprozess.
Durch die Vielzahl der Denk- und Handlungsmuster verliert sich ihre Bedeutung für
den einzelnen. Paul Virillio4 sieht in der Beschleunigung der Information und der
Lebensverhältnisse eine Gefahr für die kulturelle Differenz. Beschleunigt sich unsere
Raum- und Zeitwahrnehmung auf die Echtzeit des Augenblicks, so gehe die Distanz als
identitätsstiftendes Moment verloren. „Es gibt keine Identität ohne Alterität.“5 Das
Andere bildet sich in Abgrenzung zu uns.
Verändert sich das Andere, so verändern wir uns auch. Wird das Andere mir
zunehmend immer ähnlicher und wirkt diese Ähnlichkeit global auf mich ein, so
verwischen sich die Kriterien der Abgrenzung.
Das Bild des Anderen ist uns ständig zugängig, aber vermittelt durch vorwiegend
Massenmedien oder Diskurse der Gesellschaft. Das vermittelte Wissens- und
Identifikationsangebot ist seinem Ursprung enthoben oder unter den Zeichen der
Vermarktung vielfältig. Es drückt sich in der Quantität der Information und der
Kurzlebigkeit von Trends und in Phänomenen wie Lifestyle oder Popkultur aus. Die
Formen verändern sich, doch die Formen lassen sich im Kontext der Leitbilder der
Moderne finden:
• Rationalität
• Mobilität
• Effektivität
• Leitungsprinzip
• Technik
• Fortschrittsglaube
• Evolutionäres Prinzip6

4
Paul Virillio: Fluchtgeschwindigkeiten. Essay, Frankfurt/ Main, 1999
5
Holm Sundhaussen: Europa balcania. Der Balkan als historischer Raum Europa, in: Geschichte und
Gesellschaft 26, 1999, S. 628
6
Von der Herleitung und Rangordnung dieser Leitbilder möchte ich an dieser Stelle absehen. Nur
kurz sei darauf verwiesen, wie eng das lineare Zeitsystem mit dem evolutionären Prinzip verknüpft
ist: das lineare Zeitsystem ist ein historisches Konstrukt unter den philosophischen Vorzeichen der
Überwindung der Dualismen zwischen Konkretem und Ganzem. Danach lassen sich die
Erscheinungen immer im Zustand des Nicht-Fertigen betrachten, mit der Option, sie zu verbessern.

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Tradierte kulturelle Praktiken mögen sich dem Gewand der neuen Zeit entziehen,
andere wirtschaftliche und kulturelle Praktiken offenbaren eine Konstruiertheit, die in
ihrer wirtschaftlichen Logik wurzelt. Trends, Lifestyle und Popkultur sind Begriffe, die
wir wissenschaftlich reflektieren können, wir bleiben aber von ihren Mechanismen der
Beeinflussung nicht unberührt.

3. Vergemeinschaftung und Typen der Vergesellschaftung

Max Weber unterscheidet in seiner Klassifizierung von gesellschaftlichen Formen


zwischen Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung. Vergemeinschaftung bezeichnet
eine sozialen Beziehung, welche auf Grundlage „subjektiv gefühlter (affektueller oder
traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten“7 basiert. Vergesellschaftung beruht
auf dem rationellen Charakter der Tauschbeziehungen als Interessensausgleich oder
Interessensverbindung. Vergesellschaftungsprozesse können nach ihrem Zweck drei
Typen zugeordnet werden: „a) der streng zweckrationale, frei paktierte Tausch auf dem
Markt: ein aktueller Kompromiß entgegengesetzt, aber komplementär Interessierter; - b)
der reine, frei praktizierte Zweckverein, eine … auf Verfolgung sachlicher
(ökonomischer und anderer) Interessen der Mitglieder abgestellte Vereinbarung
kontinuierlichen Handelns; - c) der wertrational motivierte Gesinnungsverein: die
rationale Sekte, insoweit als sie von der Pflege emotionaler und affektueller Interessen
absieht und nur der >>Sache<< dienen will (…).“ (Ebenda)
Im praktischen Gefüge sozialer Beziehungen lassen sich in der Regel Charakterzüge der
Vergemeinschaftung als auch der Vergesellschaftung wieder finden.
Vergesellschaftungsprozesse können neben ihrer sachlich-rationalen Zweckmäßigkeit
Gefühle produzieren, die als emotionales Identifikationsmoment gemeinsam genutzt
werden können.

Das Leben kann sowohl linear als auch zyklisch im Kontext der Naturbewegung betrachtet werden.
Lineare Zeitmodelle bedingen Uhren, diese garantieren die Verwaltung der Zeit, lineare Zeitsysteme
bedingen den Gedanken des Evolutionären, der Bewegung und Entwicklung, das Wachsen von
Systemen. Nicht so sehr deren Vergehen, und so ist der menschliche Tod im linearen System nur
Kompromiss. Er wird soweit transformiert in eine Entwicklung der Gattung oder der menschlich
geschaffenen Dinge und Leistungen, die den Einzelnen überdauern.
Andererseits sei auf die Bedeutung der Zeiteinteilung durch die Erfindung der Uhr hingewiesen. Der
Tag ließ sich nun in vorbesetzte Sinneinheiten aufteilen, die Organisation einer Großstadt wurde
durch das Uhrensystem möglich, das Leben wurde kalkulierbar. (siehe dazu Georg Simmel: Die
Gross-Städte und das Geistesleben, in: Georg Simmel: Das Individuum und die Freiheit, Frankfurt/
Main, 1993)
7
Max Weber: Soziologische Grundbegriffe, 6. Aufl., Tübingen: Mohr, 1884, S. 70

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Im Zusammenhang mit Entschleunigung möchte ich die Slow-Food-Bewegung,
insbesondere den deutsche Slow-Food-Verein, den Verein der Verzögerung von Zeit
e.V. und die Zeitschrift „simplify your life“ als Typen für den
Vergesellschaftungsprozess untersuchen. Mich interessiert, inwiefern in der
Selbstdarstellung der drei Argumente der Vergemeinschaftung zum Tragen kommen.

3.1. Slow Food Deutschland e.V.

Slow Food Deutschland e.V., 1992 gegründet, sieht sich selbst als Teil einer Bewegung,
die 1986 in Italien ihren Ursprung nahm und sich in den 90-er Jahren zu weltweiten
Bewegung ausweitete. Historisch lässt sich die Slow-Food Bewegung in den Kontext
Friedensbewegung und Ökobewegung der 80-er Jahre des letzten Jahrhunderts
einordnen, in die Zeiten des ankündigenden Falls der politischen Blocksysteme, da die
Betrachtung der Welt in Dichotomien unsinniger wurde.
Bestimmend für die Struktur ist die Zusammensetzung der Mitgliedschaft:
Einzelpersonen, Händler, Produzenten, Restaurants, Hotels, Verlage und Verbände.
Einerseits Verbraucher andererseits Produzenten und Händler. Nach dieser
Zusammensetzung kommt der zweckrationale Charakter der Tauschbeziehungen
zutage. Sei es, dass Informationen getauscht werden, Herstellungs- und
Zubereitungsverfahren auf dem kulinarischen Sektor. Die Mitglieder erfüllen eine
Funktion, welche mit der wirtschaftlichen Rolle einhergeht. Für die Netzwerkbildung
sind ihre praktische Erfahrung und ihre wirtschaftlichen Interessen von Vorteil. Das
zweite Charakteristikum ist die Organisation in Tafelrunden (Convivien), wobei das
Netz der Convivien zwar möglichst engmaschig aber auch kleinmaschig gespannt
werden soll. Das wird in der Internetpräsentation als >Kreise ziehen< umschrieben.
Der Wirkungsraum des Slow-Food-Vereins ist also territorial begrenzbar und kulturell
legitimiert. Als Ausdruck einer regionalen Kultur dienen kulinarische Erscheinungen,
„die es zu erkunden, sie neu zu beleben und zu stärken“ gilt.
Erklärungen lassen sich in der Selbstdarstellung des Vereins finden:
1. Ein Hauptanliegen der Organisatoren ist es: „dem menschlichen Rhythmus
gegenüber dem Maschinentakt und der Computergeschwindigkeit Geltung zu
verschaffen.“

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2. „Jeder hat das Recht auf Genuss“
3. „Slow Food verbindet das Regionale mit dem Internationalen.“8

„Statt der internationalen Angleichung in allen Lebensbereichen will Slow Food eine
Kultur stärken, die die Individualität des Menschen betont.“ Eine identitätsstiftende
Rolle spielt hier die kulinarische Kultur oder zumindest kann die Suche nach der
kulinarischen Kultur auch eine Suche nach der Individualität sein.
Jedenfalls setzt Slow Food einen Mangel an Individualität voraus. Die Diagnose der
>>internationalen Angleichung<< wird nicht näher erklärt, lässt sich aber sie sich auf
wissenschaftliche Diskurse des 20. Jahrhunderts berufen. Man denke an Adornos These
in der >Kulturindustrie<, dass das gleiche (Re-) Produktionsverfahren und die
Standardisierung der Produkte die Kulturgüter angleiche oder an oben genannte Thesen
von Hardt und Negri sowie Virillio: gewisse Globalisierungsprozesse wirken der
Vielfältigkeit der Kulturen entgegen.
Die kulinarische Kultur kann da als Suche nach dem Ursprünglichen verstanden
werden. In der Dokumentation, der Renaissance und der gemeinsam durchlebten
Emanzipation – ich meine das im Sinne von gemeinsam erlesen, erkochten und
verzehren dessen, was in der Region und Saison gegessen wird, wurde und noch zu
essen sein könnte - gegenüber massenhaft produzierter Ware und Kultur.
Individualität entsteht vielleicht so durch sinnträchtiges Handeln. Das Slow-Food
Erlebnis ist für den Teilhaber eine ganzheitliche Erfahrung nach der Formel >Was man
im Frühjahr säht, lässt sich im Herbst ernten<. Dieses agrarische Prinzip funktioniert
zeitlich verkürzt und teils sublimiert, denn man lernt den Spargel vielleicht durch denn
Bauern bei Slow-Food kennen, ist aber nicht der Bauer. Am Beispiel des gemeinsamen
Essens liegt die Sinnträchtigkeit des Handelns und die soziale Wertigkeit auf der Hand,
die Rollen in der Organisation des Essens sind verteilt und zielgerichtet, der Lohn für
die Arbeit lässt sich sinnlich erleben und damit kann ein Gefühl dafür entstehen, was
>essen< sein könnte. Damit ist der Ruf nach Individualität nicht geklärt.
Wenn der Wunsch nach Individualität nicht einem eurozentrischen Herz entspringt.
Genuss kann in diesem Kontext als Möglichkeit der Bildung und Selbstbestimmung
durch Erfahrung betrachtet werden. Die kulinarischen Erfahrungen lassen sich steigern,
unterscheiden und bewerten. Bevor ich handgefertigte Pralinées gegessen hatte, wusste
ich nicht, wie Schokolade schmecken kann und verstand auch nicht, warum in einigen

8
Alle Informationen von der Internetseite des Vereins Slow Food Deutschland e.V.: www.slow-
food.de, Stand: 22. 5. 2002

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Liebesfilmen Schokolade eine Rolle spielte. Grenzen lassen sich über den Gaumen
erfühlen und es ist Niemandem peinlich oder erklärungsbedürftig, warum ihm Rosinen
nicht schmecken. Die Abgrenzung zum Anderen scheint sich aggressionsfreier
vollziehen zu können, innerhalb einer temporären, affirmierten Gemeinschaft.
Sinnhaftigkeit der Handlung, sinnliche Erfahrung und der Frieden in der Zeit und
Tätigkeit mögen so ein Gespür für den Eigenmodus im >Gleichklang der Maschinen<
entwickeln. Das könnte man als Individualität verstehen.

In der Betonung des Regionalen vor dem Nationalen aber der globalen Orientierung, ist
die Bewegung anderen Globalisierungsprozessen ähnlich:
Sie dezentralisiert ihren Wirkungsraum, sie bildet eine diskursiv abgeschlossene Gruppe
(globales Dorf), weil sie sich in ihrer ideologischen Begründung gegen ein Zeitsystem
stellt (Maschinentakt, Computergeschwindigkeit) und somit als Vergleich und
Gegenmodell davon abhängig ist.

Der Vergesellschaftungscharakter lässt sich nach Weber für mich in dem Typus
>zweckrationaler Gesinnungsverein< suchen. Die Zweckrationalität lässt sich anhand
der strukturellen Gliederung und der wirtschaftlichen Rolle seiner Mitglieder feststellen.
In den regionalen Territorien lassen sich durch die Netzwerke der Bewegung
Synergieeffekte herbeiführen: Tauschbeziehungen persönlichen sich, Verbraucher können
Multiplikatoren werden, Tourismus und Gastronomie werden mit Qualitätsmerkmalen
wie >öko< und >naturbelassen< versehen und können auf den Zug der
Nachhaltigkeitsdebatten aufspringen, die Zivilgesellschaft formt sich mit der Aussicht
auf regionale Selbstverwaltung.
Dennoch führe ich das Interesse, Mitglied bei Slow-Food zu werden auf Gesinnung
zurück.

3.2. Verein zur Verzögerung der Zeit e.V.

Der Verein zur Verzögerung der Zeit e.V. ist an das Institut für interdisziplinäre
Forschung und Fortbildung (IFF) der Universität Klagenfurt angegliedert und umfasst
derzeit ca. 1000 Mitglieder. Der Gründer Professor Dr. Peter Heintel wollte auf
kollektiver Grundlage eine Reflexion neuer Zeitformen und Phänomene wie der
Beschleunigung und Entschleunigung anregen. Der Netzwerkcharakter der

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Unternehmung wird in der Selbstdarstellung hervorgehoben. Verzögerung von Zeit
solle dahingehend verstanden werden, dass er leicht provokant und ironisch darauf
andeuten soll, dass zum Beispiel unser persönliches >Krisenmanagement< viel Zeit in
Anspruch nehme und im übertragenen Sinne, Grübeln nichts bringt. Auch hier wird
Bezug zum Thema Homogenisierung genommen: “In einer Zeit, in der wir immer mehr
dahin gedrängt werden, zu beschleunigen und mehrere Dinge gleichzeitig zu tun, gehört
schon eine große Portion Mut dazu, dem Beschleunigungs- und Gleichzeitigkeitswahn
entgegenzusteuern und Zeit zu verzögern.“
Vereinszweck ist es, dort, „… wo es sinnvoll erscheint, Zeit zu verzögern.“. Konkreter
Zweck sei die Durchführung weltweiter Kampagnen wie das Angleichen der
Arbeitszeiten, Forschung und Öffentlichkeitsarbeit zur Zeitbe- und
Zeitentschleunigung. Auch soll die Entwicklungen der Großtechnologien verzögert
werden. Mittel, den Vereinszweck zu erreichen sind neben den Vereinseinnahmen über
Spenden und anderen Zuwendungen, Publikationen, Vorträge, Schriften und ein
Kommunikationsangebot zu Fachfragen.
Den Statuten nach sind die Mitglieder verpflichtet „… zum Innehalten, zur
Aufforderung zum Nachdenken dort, wo blinder Aktionismus und partikulares
Interesse Scheinlösungen produzieren.“9

Der Gliederung Webers zufolge, stellt der Verein zur Verzögerung der Zeit e.V. ein
soziales Beziehungsgebilde der Art >>praktizierte Zweckverein<< mit einer
>>Vereinbarung kontinuierlichen Handelns<< unter der Mitgliedschaft dar. Sicherlich
sind zudem emotionale Anteile des Gesinnungscharakters vorhanden, weil die zu
verfolgende Sache, die Entschleunigung, immateriellen Charakters ist. Die Kontinuität
des Handelns beruht auf der vereinbarten Entsagung an den Aktionismus.
Sanktionsmechanismen sind nicht augenscheinlich, denn die Verabredung beruht auf
dem Konsensus über die Grenzen des Aktionismus: seine Sinnhaftigkeit und seine
psychologische Bedeutung der Ablenkung.
Der Gruppenkonsens hebt sich zum Mut, gegen die Masse zu schwimmen, sich also
bewusst den Strömungen der Masse entgegenzustellen. Ich deute das als rhetorisches
Geschick, den Verein über die Zustimmung der Mitglieder zu legitimieren und natürlich
als Reklame. Als Gegenleistung für den Mitgliedsbeitrag erhielten die Mitglieder ein „ …
Gefühl der Sicherheit, einer Gruppe von Menschen angeschlossen zu sein, die schon

9
Alle Zitate aus: http://zeitverein.uni-klu.ac.at.html, Stand: 12. 5. 2002

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allein durch ihre Existenz, aber auch durch Worte und Taten, für einen menschlicheren
und gesünderen Umgang mit Zeit eintritt.“
An diesem Zitat wird an das Bedürfnis der Vergemeinschaftung appelliert, setzen wir
dieses Bedürfnis voraus, weil uns die Gruppe in Zeiten der mangelnden äußeren
Determinanten, einen Lebenssinn im Gruppenerhalt verspricht und, unter
Einschränkung der persönlichen Freiheit, den Mitgliedern das Gefühl der Sicherheit und
Bestätigung vermitteln. Siehe dazu Simmel: Die Gross-Städte und das Geistesleben.
Die Menschen dieser Gruppe scheinen verheißungsvoll, als besäßen sie zum einen
prophetische, zum anderen schöpferische Kräfte. Dem religiösen Vergleich erliege ich
sofort, mir erscheint ein Kreis Auserwählter, welchen uns Tölpeln, uns Gefangenen im
Netz der Beschleunigung die Augen öffnen, dass wir sehen, wie verwoben wir sind und
wie enger wir uns mit jeder Bewegung weiter verweben.

Der Humanismus, als die vernunftgeschwängerte Vorstellung des paradiesischen


Zustand der Menschen untereinander leuchtet der Gruppe voraus. Werte einer
europäischen Kulturentwicklung –Gesundheit, Menschlichkeit- ermahnen an die
Lebenspraxis. Ist der Umgang mit der Zeit verbesserungswürdig, so scheint die
Lebensqualität mangelhaft. Zeit symbolisiert hier die Verheißung auf Glück, welche in
die Welt getragen wird. Durch Übung, Aktionismus zu verhindern, stelle sich innere
Ordnung ein, welche gleich ein Zeichen des Muts bedeutet, dem Diktat der Zeit- und
Tatenbeschleunigung zu trotzen und dem Geübten somit ein Selbstgefühl verleiht,
welches missionarische Fähigkeiten mit sich bringt. Diese Methode könnte als >grass-
root< - Mentalität erfolgreich sein. Ein weiteres Urteil kann ich mir nicht erlauben, da
ich die tatsächlichen Aktivitäten oder Nicht-Aktivitäten des Vereins nicht untersuchen
konnte.

3.3. Simplify-your-life

Zuletzt möchte ich noch mal die >Sieben Stufen zur Vereinfachung< vorstellen, welche
über das Internetversion der Zeitschrift10 >>simplify your life<< zu erhalten ist. Somit
ist die Anleitung zur Vereinfachung in das Produkt Zeitschrift eingebettet. Für die
Periodika selbst wirbt ein Faltblatt und Gratis-Abonnement und mit der

10
Informationen entstammen der Homepage: http://www.simplify-your-life.de, Stand: 24. 3. 2002

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>Meisterschaft< des Lebens, deren Weg man beschreite, wenn man sich durch das
Gratis-Abonnement lese.
Als mikroskopisches Beispiel für Vergesellschaftungsprozesse weise ich die Erscheinung
dem Typ a) der Analyse Webers zu: die Marktsituation ist vorhanden, aber auf subtilere
Weise, da die >Lebenshilfe< als kostenlose Information ins Internet gestellt wurde und
Züge einer Dienstleistung trägt.
Sich ergänzende Interessen kann man auch voraussetzen, da die Zeitschrift sicher um
die Weitung der Leserschaft bemüht ist und die potentielle Leserschaft die Menge derer
darstellt, die glauben, ihr Leben über Vereinfachung meistern zu können.
Spekulationen über die Verbindung von >Leben meistern< und >Leben vereinfachen<
kann ich an dieser Stelle nicht anstellen, da ich in den Quellen keine Erklärungen dafür
fand.
Die Anteile der >Vergemeinschaftung< innerhalb dieses Prozesses sind irrationalen
Charakters, die Gemeinde der bestehenden und potentiellen Lesergemeinde muss sich
dem Glauben ergeben, aus einem Almanach der Vereinfachungsmechanismen
Nützliches für die Lebenspraxis schöpfen zu können. Das ist ein emotionaler Wert, der
Gemeinschaftsgefühle erzeugen lässt, wenn auch über die Vermittlung der Zeitschrift.
Vielleicht bestehen auch keine Zeichen der Vergemeinschaftung, weil der Leser anonym
bleibt und neben den Vereinfachungsmethoden auf dem Zeitschriftenmarkt eine
Vielzahl Lebensstil beratende Angebote kursieren, aus denen sich die Lebensberatung
zusammenbauen lässt.

Nun zum Sieben-Stufen-System:

7 Schritte, das Leben zu vereinfachen

1. Entwirren Sie Ihren Arbeitsplatz.


Entstapeln Sie Ihr Büro.
Entrümpeln Sie Ihre Umgebung.

2. Entfernen Sie Ihre Geldblockaden.


Entzaubern Sie das Thema Geld.
Entschulden Sie sich.
Entkommen Sie Ihrem Sicherheitsdenken.
Entwerfen Sie Ihre eigene Sicht von Reichtum.

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3. Entdoppeln Sie Ihr Handeln.
Entperfektionieren Sie Ihr Leben.
Entlasten Sie sich durch konsequente Neins.
Entschleunigen Sie Ihr Leben.
Entfliehen Sie ab und zu.

4. Entlocken Sie Ihrem Körper Glücksstoffe.


Entzünden Sie Ihre Begeisterung.
Entkrampfen Sie das Thema Fitness.
Entschlacken Sie Ihren Körper.

5. Entspannen Sie sich optimal.


Entinseln Sie sich durch Netzwerke.
Entwirren Sie Ihre Familienbande.
Entkrampfen Sie Ihre Beerdigung.
Entkräften Sie Ihre Neidgefühle.
Entärgern Sie sich.
Entfalten Sie Ihre Beziehungen.

6. Entdramatisieren Sie Ihre Gespräche.


Entkrampfen Sie das Verhältnis von Berufs- und Sozialleben.
Entfesseln Sie Ihre sexuelle Energie.
Entscheiden Sie heute gemeinsam über Ihr Alter im Leben.

7. Entdecken Sie ihr Lebensziel.


Entwickeln Sie Ihre Stärken.
Entlasten Sie Ihr Gewissen.
Enträtseln Sie sich selbst.

Die Ebenen bauen wie folgt aufeinander auf:


1. Ordnen der Arbeitsatmosphäre
2. psychologische Einstellung zum Geld
3. Entscheidungsbereitschaft und eigene Abdingbarkeit

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4. Gesundheit und körperliches Wohlbefinden
5. soziale und familien-psychologische Restrukturierung
6. Privatleben
7. Persönlichkeit und Selbstbestimmtheit

Die Sätze sind in der Form des Imperativs gehalten, wenn auch nicht ersichtlich durch
ein Ausrufezeichen. Sie haben Aufforderungscharakter, was eine gewisse Motivation in
sich trägt. Der Vereinfachungsplan in seiner Richtung zielt auf >Persönlichkeit< und
den Grad der Selbstbestimmung. Eigentlich ist es daher eine Reflexionsmethode, in wie
weit die Lebensgestaltung mit den ideellen Lebenszielen persönlich übereinstimmen.
Um den potentiellen Schrecken einer Diskrepanz und somit die Gefahr einer
Enttäuschung abzumildern, muss sich der im Vereinfachen Befindliche nicht von
Anfang an den Sinnfragen des Lebens stellen, sondern über den Weg der Ordnung der
Lebensbereiche zu diesen Fragen hervordringen. Die mögen bestenfalls bei Erreichen
der Stufe 7 beantwortet sein, weil sich das geordnete Leben klar auf dem beschrittenen
Weg spiegelt. Der Plan gibt keine Dauer vor, doch scheint er langfristig wirksamer, weil
sich durch das Wirken der Kriterien der Ordnung ein Prozess der
Entscheidungsfindung einfinden kann. Dem Prozess der Selbstbeschauung und
Selbstbestimmung seiner Lebensräume kann eine Positionierung folgen, die der
kulinarischen Grenzziehung am Beispiel der Rosinen ähnelt.
Gefahren, für den Plan zu scheitern, ergeben sich, wenn das praktische Vereinfachen als
Aufwand betrachtet wird und sich keine Disziplin einstellt. Umgekehrt ist möglich, dass
viel Disziplin und Aufwand die Vereinfachung praktisch aber nicht mental durchgeführt
wird und sich ein Gefühl der Enttäuschung einstellt. Auch für den Fall, dass der Plan
nach der ersten Motivation den Lebensumständen nicht Stand hält, ist nicht gesorgt,
ebenso wenig, wie für das potentielle Hervorbrechen pathologischer psychischer
Probleme, die an bestimmte Lebensbereiche gekoppelt sind, aber verdrängt wurden.
Auffällig ist der Ratgebercharakter. Als Basis dient das Ergebnis aus den Analysen der
gesellschaftlichen Situation und gesellschaftlichen Tendenzen und Trends und der
psychologischen Diagnose des Unbehagens in den Lebensumständen. Die
Informationen werden zum Produkt verwertet. Da sie für eine bestimmte Art der
Lebensführung werben, vermitteln sie nicht den Eindruck, daran werde Arbeit
aufgewendet. Das Glücksversprechen liegt darin, die Reflexion oder die Folgen der
Reflexion vermeiden zu können. Das Gefühl des Unbehagens wird instrumentalisiert,

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denn es stellt sich als Mangel dar. Wenn die Aussicht auf besseres Leben besteht,
attestiert es dem bestehenden Leben eine schlechte Qualität.

Schlussfolgerungen

Auf die gesellschaftlichen Auswirkungen der Globalisierungsprozesse, welche von der


Auflösung von territorialen und zeitlichen Grenzen und einer homogenisierten
Neustrukturierung der Lebensbereiche begleitet sind, wird mittels der Idee der
Entschleunigung geantwortet. Entschleunigung spielt dabei die Rolle eines
Gegenkonzeptes der Kontemplation im begrenzen Bereich. Der Bereich mag inhaltlich
durch die Region, durch die Handlung oder durch die Ordnung begrenzt sein, so ist er
auch durch die formalen Strukturen begrenzt. Die Entschleunigung als Methode, den
Bereich gegen die Übermacht der gesellschaftlichen Prozesse zu etablieren, ist der
Konsensus der Gruppenmitglieder. >Beschaut< wird dabei das eigene Selbst, welches
in der bewussten Wahrnehmung der Zeit, das eigene Handeln und Sein erfahren kann.

Die Intention der Entschleunigungs-Gruppen ist es, eine Gegenbewegung zur sich
verändernden Zeit zu schaffen. Die Funktion liegt in der Vergemeinschaftung des
Individuums. Individuen heutiger Zeit sind bestimmt, wie seither von Eigenzeit und
genießen ein hohes Maß an persönlicher Freiheit. Gesellschaftliche Normierungen
haben sich diversifiziert und somit in der Summe abgeschwächt, die Kontroll- und
Herrschaftsmechanismen scheinen subtiler zu wirken: die Sachzwänge der Realität
mischen sich auf eigentümliche Weise mit dem Wissensangebot einer Gesellschaft in
Diskursen und dem Leitbildangebot der Massenmedien – Zwang zur
Selbstvermarktung, zur Innovativität, Mobilität und allseitigen Leistungsbereitschaft.
Das kann den Druck erzeugen, sich ständig neu erfinden zu müssen und erzeugt
Einsicht in die Notwendigkeit von Energiehaushaltung und Lebensplanung. Das Leben
wird also subtil durch Leitbilder determiniert und die Anforderungen der Selbstplanung
erzeugen Stress und Reibung mit den tradierten Herrschaftsformen wie Staat und
Institutionen.
Das Individuum fühlt sich geteilt, verfällt in Aktionismus und verleidet sich das
Glücksstreben.

FH P, Ein Zeitkabinett, Yvonne Chaddé 15


Auf der Suche nach einer bestimmenden Lebensidee kann Entschleunigung selbst als
Leitbild fungieren. Der Grund liegt in der Annahme des Mangels. Die Gruppe
legitimiert sich über den Mangel, den es gemeinsam zu überwinden versucht in der
Steigerung eines Zustands aus der Annahme eines ungenügenden und unbefriedigten
Zustands. Das Individuum findet Halt in der Gruppe, die Sinn, Zugehörigkeit und
Zustimmung bietet, kann sich begrenzen.

Wirtschaftliche und sachliche Interessen werden nicht als Begründung für die
Zusammenschlüsse ausgewiesen. Wie es scheint, werden partikulare und wirtschaftliche
Interessen über die Gesinnung transformiert. Gesinnung heißt, selbstbestimmt in der
Gruppe gegen vorherrschende Prozesse anzutreten. Es wird also eine Gegenrichtung
suggeriert, der ich nicht zustimmen würde. Gruppen bilden sich über
Vergemeinschaftungsprozesse, aber weisen Merkmale der Vergesellschaftung auf. Die
oben angeführten Beispiele Slow-Food, Verein zur Verzögerung der Zeit und simplify-
your-life stützen sich inhaltlich auf die Gesinnung eine Gegenentwicklungen zur >Zeit<
zuzusteuern, sie tragen aber in ihrer strukturellen Orientierung (Netzwerke, NGOs) und
in der Form der Kommunikation (international, populärwissenschaftlich, mittels
Internet) zur Infrastrukturierung der globalen Welt bei.

FH P, Ein Zeitkabinett, Yvonne Chaddé 16

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