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KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|11


AUSLANDSINFORMATIONEN ■■Von der Klimaökonomie
zur Green Economy
Christian Hübner

■■Von Kyoto bis Durban –


Die Klimapolitik der Euro-
päischen Union
Céline-Agathe Caro /
Christiane Rüth

■■Emerging Powers: Die


IBSA-Staaten als Partner
und Anführer im globalen
Kampf gegen den Klima-
wandel
Romy Chevallier

■■Indonesiens Rolle in der


internationalen Klimapolitik:
Finanzielle Anreize zum
Schutz der Waldbestände
Marc Frings

■■Die Klimapolitik der Volks-


republik China – Grundlage
für ein nachhaltiges Wachs-
tum?
Andreas Dittrich

■■Harmonie im Staatsauftrag –
Wie Singapur mit Einwande-
rung und Integration umgeht
Paul Linnarz

■■Vom Fahrersitz auf die Rück-


bank – Regionale Zusammen-
arbeit in Südostasien
Wilhelm Hofmeister

■■Die Slowakei nach der Wahl:


Das erste halbe Jahr der
Mitte-Rechts-Regierung
Grigorij Mesežnikov
KAS
AUSLA N D S I N F O R M A T I O N E N
4|11
ISSN 0177-7521
Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.
27. Jahrgang

Tiergartenstraße 35
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Herausgeber:
Dr. Gerhard Wahlers

Redaktion:
Frank Spengler
Hans-Hartwig Blomeier
Dr. Stefan Friedrich
Dr. Hardy Ostry
Jens Paulus
Dr. Helmut Reifeld

Verantwortlicher Redakteur:
Stefan Burgdörfer

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zeichen (EU Ecolabel: FR/011/003) ausgezeichnet ist.
Inhalt

4 | EDITORIAL

6 | Von der Klim aöko nomie zu r Gree n Econo my


Christian Hübner

21 | Von Kyoto bis Du rban – Die Klimapolitik


der Europäischen Union
Céline-Agathe Caro / Christiane Rüth

39 | Emergi ng po wer s: Die IBSA-Staaten als


Partner und Anführer im globalen Kampf
gege n de n Klim awa ndel
Romy Chevallier

62 | Indo nesiens Rolle i n der inter nationalen


Klimapolitik: Fina nzielle Anrei z e zum
S chu tz der Waldbestände – Ein effektives
Modell?
Marc Frings

82 | Die Klim apolitik der Volk sre pub lik


Ch ina – Grundlage für ein nachh altiges
Wachstum?
Andreas Dittrich

101 | Harm onie im Staatsauf trag – Wie Singapur


mit Einwander ung und In tegratio n umge ht
Paul Linnarz

117 | Vom Fahrer sitz auf die Rückb ank –


Regio nale Zusammenarbeit in Südo stasien
Wilhelm Hofmeister

142 | Die Slowakei n ach der Wahl: Das er ste


halbe Ja hr der Mitte-Rech ts-R egier ung
Grigorij Mesežnikov
4 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

EDITORIAL

Liebe Leserinnen und Leser,

die globale Klimakonferenz Ende des vergangenen Jahres


in Cancún (Mexiko) brachte erneut kein global verbindliches
Abkommen zum Schutz des Klimas. Zwar wurden wich-
tige Grundlagen für ein globales Klimaabkommen gelegt,
beispielsweise mit der Anerkennung des Zwei-Grad-Ziels.
Doch ob das ausreicht, um schon bei der Klimakonferenz
am Ende dieses Jahres in Durban (Südafrika) eine Einigung
zu erzielen, bleibt fraglich. In Anbetracht der gefährlichen
Bedrohungen eines globalen Klimawandels ist schnelles
Handeln jedoch zwingend geboten.

Die zügige Umsetzung eines internationalen Klimaschutz-


abkommens ist dringend erforderlich. Für dessen Ausge-
staltung sollten alle Beteiligten aus den Erfahrungen des
Kyoto-Protokolls lernen. Im Einzelnen heißt das, alle
Industrieländer in die Pflicht zur Reduktion klimaschäd-
licher Treibhausgase zu nehmen. Dazu zählt auch die
USA. Sicherlich muss man den aktuellen wirtschaftlichen
Entwicklungen der Schwellenländer Rechnung tragen
und den individuellen Charakter von Entwicklungsländern
berücksichtigen. Allerdings ist nicht zu akzeptieren, dass
sich Länder wie China und Indien ihrer Verantwortung
entziehen wollen. China hat kürzlich erklärt, dass die
Umweltverschmutzung ein gravierendes Problem für ihre
zukünftige Entwicklung sei. Es bleibt zu hoffen, dass diese
Einschätzung sich auch bei den zukünftigen Verhandlungen
zum Klimaschutz niederschlägt. Abgeschafft werden sollten
bisherige ökonomische Instrumente, die zum Klimaschutz
implementiert wurden, sich aber nachweislich als inef-
fektiv erwiesen haben. Grundsätzlich zu begrüßen bleibt
dabei aber die Nutzung von ökonomischen Instrumenten,
die einen Anreiz zum freiwilligen Engagement gegen den
Klimawandel setzen.
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Die Europäische Union geht in Sachen Klimaschutz voran.


Gerade angesichts des Taktierens und des teilweise offenen
Widerstands gegen ein internationales Klimaabkommen
setzt die EU damit international Maßstäbe.

Global verbindliche und einheitliche ordnungspolitische


Rahmenbedingungen, die den Schutz der Umwelt und des
Klimas in den Vordergrund stellen, sind notwendig. Inner-
halb dieser Rahmenbedingungen muss die wirtschaftliche
Freiheit des Einzelnen gefördert werden. Hieraus ergibt
sich letztlich die Fähigkeit einer Gesellschaft, für zukünf-
tige Generationen die Umwelt und das Klima zu schützen
und gleichzeitig Wohlstand zu schaffen.

Der Umwelt- und Klimaschutz ist dabei nicht nur eine


ordnungspolitische Herausforderung, sondern vor allem
auch eine Verantwortung zur Bewahrung der Schöpfung.

Dr. Gerhard Wahlers


Stellvertretender Generalsekretär

gerhard.wahlers@kas.de
6 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

Von der Klimaökonomie


zur Green Economy

Christian Hübner

Christian Hübner
ist Koordinator für
Umwelt, Klima und Im Jahr 1992 fand in Rio de Janeiro die damals größte
Energie in der Haupt-
Umweltkonferenz der Vereinten Nationen statt, die United
abteilung Europäische
und Internationale Nations Conference on Environment  and  Development
Zusammenarbeit der (UNCED), später auch Erdgipfel genannt. Im Mittelpunkt
Konrad-Adenauer-
der Konferenz stand die Forderung nach einem neuen
Stiftung in Berlin.
Paradigma zur nachhaltigen gesellschaftlichen Entwick-
lung, um der ungebremsten Ausbeutung natürlicher
Ressourcen durch den Menschen Einhalt zu gebieten.
Der Begriff der Nachhaltigkeit war daraufhin weltweit in
aller Munde, und eine Flut neuer Ideen und Ansätze aus
den unterschiedlichsten Wissenschaftsdisziplinen forderte
die globale Gesellschaft heraus. Rückwirkend betrachtet,
führte die Popularität des Nachhaltigkeitsparadigmas aber
auch dazu, dass der Begriff inflationär verwendet wurde
und heute kaum noch mit seiner eigentlichen Bedeutung
in Verbindung gebracht wird. Als wesentliche Ergebnisse
der Konferenz sind u.a. das Rahmenübereinkommen der
Vereinten Nationen über Klimaänderungen (United Nation
Framework Convention on Climate Change – UNFCCC), das
Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Bekämpfung
der Wüstenbildung (United Nation Convention to Combat
Desertification – UNCCD) und das Übereinkommen über die
biologische Vielfalt (Convention on Biological Diversity  –
CBD) geblieben.

Insbesondere die Konvention zum Schutz des Klimas


kristallisierte sich im Nachgang als medienwirksamstes
und jährlich wiederkehrendes Ventil für Streitigkeiten im
globalen Umweltschutz heraus. Die Gründe dafür lagen –
und liegen immer noch  – in der Befürchtung möglicher
Einschränkungen der Wirtschaft durch eine verbindliche
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Reduktion der klimaschädlichen Treibhausgasemissionen.1


Ein Blick auf die tatsächlichen Einsparungen von klima-
schädlichen CO²-Emissionen verrät, dass bis heute weltweit
nur vereinzelt Fortschritte erzielt wurden und es noch nicht
gelungen ist, die absoluten CO²-Emissionen zu reduzieren.
Im Gegenteil  – die globalen CO²-Emissionen steigen
insbesondere durch den wachsenden Energiehunger der
Schwellenländer.

Vor diesem Hintergrund scheint sich die Diskussion über


eine nachhaltige, ressourcenschonende Entwicklung zuneh-
mend auf die Frage einer Dekarbonisierung,
also einer Entkoppelung der wirtschaftlichen Die Begriffe „Green Economy‟ oder
Entwicklung von CO²-Emissionen, zu fokus- „Green Growth‟ könnten den Begriff
der Nachhaltigkeit ablösen.
sieren. In diesem Zusammenhang fallen
auch die Begriffe Green Economy oder Green
Growth, die den Begriff der Nachhaltigkeit ablösen könn-
ten.2 Nicht umsonst wird im Jahr 2012 eine weitere Konfe-
renz, wieder in Rio de Janeiro, auf 20 Jahre Rio-Prozess
zurückblicken und das Thema nachhaltige Entwicklung  –
diesmal unter dem Begriff Green Economy – erneut in den
Mittelpunkt stellen. Bei dieser Debatte wird die Frage ent-
scheidend sein, welche Erfahrungen bisher im Umgang mit
dem Klimawandel gemacht wurden und wie diese sich für
eine Green Economy nutzen lassen.

Klimawandel und Kosten

Der Klimawandel ist ein äußerst komplexes Phänomen, das


die Lebensgrundlagen des Menschen bedroht. Die konkreten
Folgen lassen sich unter anderem in einer Zunahme von
Extremwetterlagen, steigenden Meeresspiegeln und
schmelzenden Gletschern beobachten. Als ausschlagge-
bende Ursachen für den Klimawandel werden die Nutzung

1 | Mit klimaschädlichen Emissionen sind u.a. Kohlenstoffdioxid


(CO2), Methan, Lachgas und Fluor-Kohlenwasserstoffe (FKW)
gemeint. In der Literatur werden sie üblicherweise in CO2-
Äquivalente umgerechnet, so dass im Folgenden nur noch
von CO2-Emissionen gesprochen wird.
2 | Das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) definiert
die Green Economy „as one that results in improved human
well-being and social equity, while significantly reducing envi-
ronmental risks and ecological scarcities‟. UNEP, 2011, Towards
a Green Economy: Pathways to Sustainable Development and
Poverty Eradication – A Synthesis for Policy Makers,
http://unep.org/greeneconomy [07.03.2011].
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fossiler Brennstoffe wie Erdöl oder Erdgas, die industria-


lisierte Landwirtschaft und eine geänderte Landnutzung
angeführt. Laut internationalem Klimawissenschaftlerrat
(Intergovernmental Panel on Climate Change  – IPCC,
2007) gilt es dabei als wahrscheinlich, dass die durch den
Menschen verursachten CO²-Emissionen die in der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts beobachtete globale Tempera-
turerhöhung bewirken. Diese Entwicklungen werden durch
neuere Forschungsergebnisse gestützt. So ist zu erwarten,
dass der Meeresspiegel weiter steigt, das arktische Meereis
rapider schrumpft und die Gletscher stärker schmelzen als
bisher erwartet wurde.3

Problematisch an der gesellschaftlichen Wahrnehmung


des Klimawandels als politisches Aufgabenfeld ist, dass
aufgrund der Komplexität des Phänomens nicht mit Sicher-
heit darauf zu schließen ist, welche tatsäch-
Steigt die Erdtemperatur um über zwei lichen Konsequenzen zu erwarten sind. Mit
Grad, besteht die Gefahr, dass beson- „sehr wahrscheinlich‟ sind im statistischen
ders sensible Elemente des Erdsys-
tems umkippen. Sinn „nur‟ 90 Prozent gemeint. Die Wissen-
schaft versucht, dieser Unsicherheit unter
anderem mit der Identifikation empfindlicher Elemente
des Klimasystems zu begegnen, die bei einer irreversiblen
Schädigung Katastrophen auslösen können. Hier liegt eine
der wesentlichen Begründungen für das häufig angeführte,
durch die Klimakonferenz im vergangenen Jahr im mexi-
kanischen Cancún offiziell anerkannte Zwei-Grad-Ziel in
der Klimadebatte. Steigt die durchschnittliche Erdtem-
peratur um über zwei Grad, so besteht die Gefahr, dass
besonders sensible Elemente des Erdsystems umkippen
und nicht absehbare Folgen eintreten können. Solche
sensiblen Elemente sind etwa das Grönlandeisschild, das
im Falle seines Abschmelzens einen weltweiten Anstieg
des Meeresspiegels um sieben Meter zur Folge hätte.4

3 | Vgl. I. Allison, N. L. Bindoff, R.A. Bindschadler, P.M. Cox,


N. de Noblet, M.H. England, J.E. Francis, N. Gruber, A.M.
Haywood, D.J. Karoly, G. Kaser, C. Le Quéré, T.M. Lenton,
M.E. Mann, B.I. McNeil, A.J. Pitman, S. Rahmstorf, E. Rignot,
H.J. Schellnhuber, S.H. Schneider, S.C. Sherwood, R.C.J.
Somerville, K. Steffen, E.J. Steig, M. Visbeck, A.J. Weaver,
The Copenhagen Diagnosis, 2009: Updating the world on the
Latest Climate Science, Sydney: The University of New South
Wales Climate Change Research Centre (CCRC) 2009.
4 | Ottmar Edenhofer, Hermann Lotze-Campen, Johannes
Wallacher, Michael Reder (Hrsg.), Global, aber gerecht:
Klimawandel bekämpfen, Entwicklung ermöglichen,
1. Auflage, Beck, 2010, 94.
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Die Debatte um die Notwendigkeit der Vermeidung eines


gefährlichen Klimawandels gipfelt daher in der Frage, wie
in Anbetracht möglicher enormer und nicht absehbarer
Schäden des Erdsystems gehandelt werden sollte.

Ökonomen versuchen, durch die Berechnung der Kosten


des Klimawandels mögliche Handlungsoptionen aufzu-
zeigen. Hierbei dient das Bruttoinlandsprodukt (BIP) als
Indikator für die Wohlfahrt einer Gesellschaft. Eine nach-
weislich auf den Klimawandel zurückführbare Verringerung
des BIP würde somit Wohlfahrtsverluste zur Folge haben.
Zur Berechnung solcher BIP-Kosten gibt es unterschiedliche
Ansätze. Zum einen können die Ökonomen auf naturwis-
senschaftliche Modelle zurückgreifen, die die Auswirkungen
des Klimawandels abbilden, und die dort beobachteten
Effekte über Preise addieren. Das kann, vereinfacht ausge-
drückt, geschehen, indem sie auf prognostizierte Werte des
durch den Klimawandel induzierten Meeresspiegelanstiegs
zurückgreifen und entsprechende Preise für
Deichbauten ermitteln, oder indem sie den Eventuelle Ertragsrückgänge können
Einfluss des Klimawandels auf den Nahrungs- mithilfe von Marktpreisen berechnet
und als Kosten des Klimawandels heran-
mittelanbau beobachten. Eventuelle Ertrags- gezogen werden.
rückgänge können mithilfe von Marktpreisen
berechnet und als Kosten des Klimawandels herangezogen
werden. Einen anderen Ansatz liefert die Möglichkeit, den
Einfluss des Klimas auf das Einkommen der Bevölkerung
statistisch zu messen, was den Einsatz naturwissenschaft-
licher Modellierungen obsolet macht. Beide Ansätze haben
ihre methodischen Vor- und Nachteile, die es bei einer
Berechnung abzuwägen gilt.5

Die Unterschiede in der Kostenberechnung entstehen vor


allem durch die hohen Unsicherheiten der naturwissen-
schaftlichen Modellierung und durch die teils riskanten

5 | Nordhaus (2006) berechnet bspw. bei einer Erhöhung der


durchschnittlichen Erdtemperatur um 2,5 Grad Kosten in Höhe
von 0,9 Prozent des globalen BIP. Stern (2006) geht von BIP-
Einbrüchen je nach Annahmen zwischen fünf und 20 Prozent
aus. Vgl. William D. Nordhaus, „Geography and Macroecono-
mics: New Data and new Findings‟, Proceedings of the National
Academy of Science, 103 (10): 3510-3517, 2006; N.H. Stern,
S. Peters, V. Bakhshi, A. Bowen, C. Cameron, S. Catovsky, D.
Crane, S. Cruickshank, S. Dietz, N. Edmonson, S.-L. Garbett,
L. Hamid, G. Hoffman, D. Ingram, B. Jones, N. Patmore, H.
Radcliffe, R. Sathiyarajah, M. Stock, C. Taylor, T. Vernon, H.
Wanjie, and D. Zenghelis, Stern Review: The Economics of
Climate Change, Cambridge: Cambridge University Press, 2006.
10 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

Modellannahmen der Ökonomen. Im Mittelpunkt dieser


Kontroverse stehen dabei Annahmen über die Berechnung
der zukünftigen Schäden des Klimawandels. Hierfür wäre
zunächst zu erforschen, welchen Wert zukünftige Schäden
des Klimawandels für uns heute haben. Philosophen und
Ökonomen geraten an diesem Punkt beson-
Für eine sinnvolle Gegenwartsberech- ders häufig in Kontroversen. So sind die
nung muss eine Annahme darüber Auswirkungen des Klimawandels zwar heute
getroffen werden, wie hoch die Kosten
des Klimawandels in hundert Jahren schon sichtbar, die großen Schäden werden
sein werden. Das Problem besteht in aber erst in den kommenden hundert Jahren
der Auswahl des Diskontfaktors.
anfallen. Für eine sinnvolle Gegenwartsbe-
rechnung muss also eine Annahme darüber
getroffen werden, wie hoch die Kosten des Klimawandels
in hundert Jahren sein werden. Die auf die Gegenwart
heruntergerechneten (diskontierten) Kosten würden in die
Rechnung einfließen. Das Problem besteht in der Auswahl
des Diskontfaktors, also des Faktors zur Berechnung der
zukünftigen Kosten auf die Gegenwartskosten. Je nach
seiner Höhe können die gegenwärtigen Kosten gering oder
hoch ausfallen, was wiederum eine ethische Frage aufwirft:
Welche Kosten wollen und dürfen wir zukünftigen Genera-
tionen durch gegenwärtiges Handeln oder Nicht-Handeln
aufbürden?

Neben den Studien, die die Kosten des Klimawandels


über direkte Ansätze wie etwa Deichbauten berechnen,
stehen auch zunehmend Berechnungen im Fokus der
Öffentlichkeit, die nach dem Wert der Biodiversität, der
Gesundheit oder gesamter Ökosysteme fragen. Hier sind
monetäre Abschätzungen besonders schwierig. Während
Umweltökonomen früh begonnen haben, monetäre Werte
für einzelne Umweltgüter wie Meere oder reine Luft, die
kaum eigentumsrechtlich fassbar sind, zu berechnen,
haben ganzheitliche Betrachtungen im Zusammenhang mit
naturwissenschaftlichen Modellierungen einen längeren
Weg zurücklegen müssen. Der amerikanische Ökonom Bob
Costanza sorgte als erster für Aufregung bei dem Versuch,
den wirtschaftlichen Wert von Ökosystemen weltweit zu
berechnen.6 Costanza kam dabei auf 33 Trillionen US-Dollar
pro Jahr, was fast den doppelten Wert des damaligen welt-
weiten Bruttosozialprodukts von 18 Trillio­nen US-Dollar

6 | Robert Costanza et al., „The value of the world’s ecosystem


services and natural capital‟, in: Nature 387, 15.05.1997
253-260.
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 11

betrug. Um stärker die menschen­bezogene Sichtweise von


Ökosystemen in den Fokus zu stellen, wurde in der Folge
das Konzept der Ökosystem-Dienstleistungen entwickelt.
Damit sind im weitesten Sinn Güter und
Leistungen gemeint, die den Menschen durch Das Konzept der Ökosystem-Dienstleis-
die Natur bereitgestellt werden und nur in tungen bezieht sich auf Güter und Leis-
tungen, die durch die Natur bereitge-
seltenen Fällen auf einem Markt handelbar stellt werden und selten handelbar sind.
sind.

Der Millennium Ecosystem Assessment Report (2005) der


Vereinten Nationen strukturierte Ökosystem-Dienstleis-
tungen in Versorgungsleistungen, Regulierungsleistungen,
kulturelle Leistungen und unterstützende Leistungen.7 Als
bekanntes Beispiel für solche Leistungen, die besonders
durch den Klimawandel bedroht sind, werden häufig Koral-
lenriffe genannt. Fast die Hälfte der Menschen weltweit lebt
in Küstennähe und steht deshalb in mittelbarer oder unmit-
telbarer Beziehung zu den Riffen, die für ganze Küsten-
ökosysteme von elementarer Bedeutung sind. Ökosystem-
Dienstleistungen, die dem Menschen durch ein intaktes
Küstenökosystem bereitgestellt werden, sind Nahrung und
Rohstoffe (Versorgungsleistungen), Klimaregulierung und
Ausgleich von extremen Wetterereignissen (Regulierungs-
leistungen) oder Tourismus (kulturelle Leistungen).

Bei der Anpassung an den Klimawandel werden Ökosystem-


Dienstleistungen auch zunehmend mit dem Begriff der
„ökologischen Infrastruktur‟ verbunden, die es unbedingt
zu schützen gilt. Die ökologische Infrastruktur beinhaltet
alle natürlichen und menschlich geschaffenen Ökosysteme,
wie z.B. die Frischwasserversorgung, klimaregulierende
Systeme (Wälder, Feuchtgebiete, Flüsse), Bodenschutz
(Wälder, Weideflächen), natürlicher Katastrophenschutz
(Korallenriffe, Mangrovenwälder) oder Kulturlandschaften.
Ihre Stabilität garantiert, dass Klimaschwankungen besser
abgefangen werden.

Die Studie The Economics of Ecology and Biodiversity


(TEEB), die Deutschland im Rahmen seiner G-8-Präsident-
schaft 2007 gemeinsam mit der EU-Kommission initiierte,
errechnete den Gesamtwert von Ökosystem-Dienstleis-

7 | Millennium Ecosystem Assessment (MEA), Ecosystems and


Human Well-being: Synthesis (Washington, D.C.: Island
Press 2005).
12 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

tungen, die gegenwärtig weltweit durch Schutzgebiete


bereitgestellt werden, auf 4,4 bis 5,2 Milliarden US-Dollar
pro Jahr.8 Zusätzlich wurden die Investitionen berechnet,
die notwendig wären, um ein weltweites Schutzgebiet
mit 15 Prozent der globalen Landfläche und 30 Prozent
der Meeresfläche mit einem Wert von 5.000 Milliarden
US-Dollar aufrechtzuerhalten. Hierzu wären ca. 45 Milli-
arden US-Dollar erforderlich. Das Verhältnis macht deut-
lich, dass es sich für den Menschen durchaus
Die Abschätzung eines Geldwertes für lohnt, in den Umweltschutz zu investieren.
Ökosysteme und Biodiversität führt Die Abschätzung eines Geldwertes für Öko-
neben methodischen Schwierigkeiten
auch zu einer ethischen Frage: Darf systeme und Biodiversität führt neben den
Artenvielfalt oder Gesundheit einen genannten methodischen Schwierigkeiten,
Preis haben?
siehe Diskontierung, aber auch zu einer
weiteren ethischen Frage: Darf Artenvielfalt oder Gesund-
heit einen Preis haben?

Naturwissenschaftliche und ökonomische Studien über die


Konsequenzen des Klimawandels sind also mit erheblichen
Unsicherheiten verbunden. Darüber hinaus stellen sich
bei der Monetarisierung der Klimawandelschäden ethische
Fragen, die die berechneten Kosten als eventuelle Grund-
lage für politisches Handeln in Zweifel ziehen können.
Diese Studien haben jedoch den Vorteil, dass das Problem
Klimawandel in der Öffentlichkeit stärker wahrgenommen
wird.

Klimaökonomie

Aus Sicht der Ökonomie ist der Klimawandel auch ein


Problem nicht geklärter Eigentumsrechte an der Atmos­
phäre. Denn diese gehört letztlich allen – oder niemandem.
Folglich wird sie mit Emissionen überlastet, ohne dass sich
etwaige Unternehmen für die negativen Folgen rechtfer-
tigen müssten. In der ökonomischen Theorie werden Emis-
sionen deshalb auch als nicht internalisierte, d.h. nicht
eingepreiste Nebeneffekte (Externalitäten) beschrieben,
die durch wirtschaftliche Aktivitäten entstehen können und
deshalb nicht in die Kostenentscheidungen eines Unter-
nehmens einfließen. Müsste jedoch für klimaschädliche

8 | TEEB (2008), „The Economics of Ecosystems and Biodiversity:


An Interim Report‟, Europäische Kommission, Brüssel,
http://teebweb.org/LinkClick.aspx?fileticket=u2fMSQoWJf0%
3d&tabid=1278&language=en-US und http://www.bmu.de/
naturschutz_biologische_vielfalt/teeb/doc/43001 [23.03.2011].
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 13

Emissionen bezahlt werden, dann bestünde für ein Unter-


nehmen ein Anreiz zu deren Reduktion, da diese Kosten
den Gewinn schmälern könnten.

In diesem Zusammenhang wird immer wieder die soge-


nannte Pigou-Steuer genannt.9 Danach könnten zur
Vermeidung des Klimawandels z.B. die Kosten für eine
emittierte Tonne CO² berechnet und den Emittenten, z.B.
Energieunternehmen, als Steuer auferlegt werden. Folglich
hätten die Unternehmen höhere Kosten und damit einen
Anreiz zur Vermeidung klimaschädlicher CO²-Emissionen.
Problematisch daran ist aber, dass ein optimaler Steu-
ersatz den tatsächlichen Schadenskosten einer Tonne
CO²-Emission entsprechen müsste, damit der Steuerme-
chanismus effizient arbeitet. Wie schon gezeigt, ist die
genaue Berechnung solcher Kosten des Klimawandels
nahezu unmöglich. Der bekannte Klimaökonom Richard
Tol bezeichnet den Klimawandel in diesem Zusammen-
hang zu Recht als „mother of all externalities: larger, more
complex, and more uncertain than any other environ-
mental problem‟.10

Als Alternative scheint sich die Idee des Ökonomen Ronald


Coase durchzusetzen. Danach können CO²-Emissionen
ohne Steuern in die Entscheidungsfindung
eines Unternehmens eingebracht werden. Der Staat legt eine bestimmte Höchst-
Das Prinzip ist einfach: Der Staat legt eine grenze an Emissionen fest, die im Ideal-
fall einen gefährlichen Klimawandel
bestimmte Höchstgrenze an Emissionen fest, verhindert. Für diese Emissionen wer-
die im Idealfall einen gefährlichen Klima- den Zertifikate verteilt.
wandel verhindert. Für diese Emissionen
werden Zertifikate verteilt bzw. Unternehmen ersteigern
sie, um das Recht auf Emission zu erhalten. Will ein
Akteur mehr emittieren als seine Zertifikate erlauben,
kann er zusätzlich Zertifikate von anderen Marktak-
teuren nachkaufen. Folglich werden diejenigen, die ihre
Emissionen z.B. durch die Entwicklung CO²-armer Tech-
nologien ­reduzieren, durch den Gewinn aus dem Verkauf
übrig­gebliebener Emissionszertifikate belohnt. Die klima-
schädlichen CO²-Emissionen werden dort vermieden, wo

9 | Die Pigou-Steuer geht auf den englischen Ökonomen Arthur


Cecil Pigou zurück.
10 | R.S.J. Tol, „The Economic Effects of Climate Change‟, Journal
of Economic Perspectives, 23. Jahrgang, Ausgabe 2/2009,
29-51.
14 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

es am günstigsten möglich ist. Darüber hinaus kann der


Staat sich auf seine rahmensetzende Rolle beschränken
und den Unternehmen möglichst viel Handlungsspielraum
lassen. Hier zeigt sich jedoch auch die größte Problematik
eines Emissionshandelssystems. Dieses kann zur Vermei-
dung des Klimawandels nur beitragen, wenn es möglichst
alle Unternehmen umfasst, die klimaschädliche Gase
emittieren. Ist das nicht der Fall, findet eine Verlagerung
von Industrien außerhalb des Emissionshandels statt
(Leakage-Problematik) – dorthin, wo Unter-
Aus ordnungspolitischer Perspektive nehmen keine Zertifikate kaufen müssen und
sollte ein globales Emissionshandels- folglich geringere Kosten haben. In Europa,
system angestrebt werden, das mög-
lichst alle CO2-intensiven Unterneh- das den weltweit größten Emissionshandel
men weltweit einschließt. aufweist, wird dieses Problem immer wieder
als einseitiger Standortnachteil bemängelt.
Aus ordnungspolitischer Perspek­tive sollte deshalb ein
globales Emissionshandelssystem angestrebt werden,
das möglichst alle CO²-intensiven Unternehmen weltweit
einschließt. Die Chancen dafür stehen gut, schaut man auf
die jüngsten Bestrebungen Chinas.

Neben den rahmensetzenden Möglichkeiten des Staates


zur Vermeidung des Klimawandels greifen Staaten natio-
nal zunehmend auf sektorale Instrumente zurück. In der
klassischen Anwendung betrifft das vor allem den Energie­
sektor und in der neueren Klimapolitik vor allem die Öko-
system-Dienstleistungen.

Energie

Bisher werden für die Energiegewinnung maßgeblich end-


liche Energieressourcen wie Erdöl und Kohle genutzt, die
in hohem Maß klimaschädliche CO²-Emissionen freisetzen.
Zur Bekämpfung des Klimawandels durch eine geänderte
Energieversorgung gibt es eine Vielzahl technologischer
Möglichkeiten, darunter etwa diejenige, klimaschädliche
CO²-Emissionen bei der Nutzung von Kohle abzutrennen
(CCS-Carbon Capture Storage). Denkbar ist auch die
verstärkte Nutzung von Uran, das als Grundstoff für die
Produktion von Atomstrom dient. Alternativ könnten
auch verstärkt erneuerbare Energien wie Windkraft,
Wasserkraft, Geothermik, Biomasse oder Sonnenenergie
verwendet werden. Energieeffizienz zum Beispiel durch
Modernisierungen alter Energiekraftwerke oder Gebäude­
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 15

sanierung bietet einen weiteren attraktiven Ansatz zur


Einsparung von CO²-Emissionen.

Zur Vermeidung des Klimawandels sollten aus ökonomi-


scher Perspektive nur Energieträger und Maßnahmen
verwendet werden, die die höchstmögliche Effizienz
aufweisen, d.h. die geringsten Kosten verursachen. Die
ökonomische Effizienz kann beispielsweise anhand der
CO²-Vermeidungskosten berechnet werden, also dem
Wert, der ausdrückt, wie hoch der Preis für die Einsparung
einer Tonne CO²-Emissionen ist.

Darüber hinaus verfolgen Staaten im Energiebereich neben


dem Klimaschutz weitere Ziele, wie etwa eine nachhaltige
Energieversorgung, Arbeitsplätze oder Technologieför-
derung. Von besonderer Bedeutung bei der Bündelung
mehrerer Ziele im Energiebereich sind weltweit die Erneu-
erbaren Energien (EE), die in den USA, Brasilien, Europa,
aber auch in China zunehmend gefördert werden.

Das „deutsche Modell‟ zur Förderung von EE Im deutschen Erneuerbare-Energien-


ist im Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) Gesetz (EEG) sind für eingespeiste
Energie aus Biomasse, Wind oder
verankert. Danach sind vom Gesetzgeber Sonne eine Abnahmepflicht und Min-
für EE aus Biomasse, Wind oder Sonne eine destabnahmepreise festgeschrieben.
Abnahmepflicht und Mindestabnahmepreise
festgeschrieben. Die Preisdifferenz zwischen den teureren
EE und den endlichen konventionellen Energien werden auf
den Verbraucher als Zusatzkosten zu ihrer Stromrechnung
umgelegt, wodurch die Stromkosten für den Verbraucher
in dem Maße steigen, in dem Strom aus regenerativen
Quellen bereitgestellt wird. In den letzten Jahren konnte
der Anteil der EE am Stromverbrauch in Deutschland
erheblich gesteigert werden. Zudem wurden umfangreiche
Investitionen in die Erforschung und Entwicklung von EE
ermöglicht. Inzwischen hat sich das EEG als Exportschlager
herausgestellt. Allein in Europa weisen bereits 19 Länder
vergleichbare Förderstrukturen auf.

Neben dem preisbasierten EEG existiert noch das mengen-


basierte Quotensystem mit Zertifikaten, das zum Beispiel
in England verwendet wird. Es funktioniert im Grunde wie
das bereits zuvor beschriebene Emissionshandelsystem.
Der Gesetzgeber schreibt vor, wie viel Strom aus regenera-
tiven Quellen in das Stromnetz aufgenommen werden soll.
16 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

Im Anschluss werden Zertifikate für Strom ausgestellt,


der aus regenerativen Energiequellen stammt. Stromein-
speiseunternehmen haben dann nachzuweisen, dass sie,
der Quote entsprechend, ausreichend viele Zertifikate
besitzen. Diese können an einem Markt gehandelt werden,
wodurch ein Wettbewerb um die günstigste Produktion
von Strom aus regenerativen Energiequellen entsteht.
Der Vorteil dieses Instrumentes ist, dass es einen Anreiz
für Innovation setzt, ohne eine bestimmte Technologie zu
fördern. Letztlich werden die EE zum Zuge kommen, die
am günstigsten bereitgestellt werden können.

Beide Instrumente sind grundsätzlich geeignet, die


Nutzung von EE mit dem Ziel einer nachhaltigen Energie-
versorgung zu unterstützen. Im Hinblick auf das primäre
Ziel, den Klimaschutz voranzutreiben, sind jedoch Wechsel­
wirkungen mit anderen Instrumenten zu berücksichtigen.
So zeigt sich insbesondere in Europa, dass durch die
gleichzeitige Existenz des europäischen Emissionshandels-
system und des EEG, aber auch des Quotensystems, das
Ziel der CO²-Reduktion ausgehebelt werden
National eingesparte CO2-Emissionen kann. Schließlich werden durch das EEG
werden vor dem Hintergrund der festen oder das Quotensystem national eingesparte
Quote des europäischen Emissions-
handels in anderen Ländern vermehrt CO²-Emissionen vor dem Hintergrund der
emittiert. festen Quote des europäischen Emissions-
handels in anderen Ländern vermehrt emittiert. Nationale
Instrumente zur Förderung von EE können somit internatio-
nale Instrumente aushebeln.

Ökosystem-Dienstleistungen

Der Klimawandel berührt als globales Phänomen nahezu


jedes Ökosystem der Erde. Dies hat Konsequenzen, die
wir erst allmählich zu verstehen beginnen. Als gesichertes
Wissen gilt, dass die schon genannten Ökosystem-Dienst-
leistungen sowohl bei der Vermeidung der Folgen des
Klimawandels als auch bei der Anpassung an dieselben
eine wichtige Rolle spielen.

Aus ökonomischer Perspektive besteht das Problem darin,


dass viele Ökosystem-Dienstleistungen, wie auch der
Klimaschutz, keinen Preis haben, der einen Anreiz für ihren
Schutz bieten könnte. Folglich finden die durch den Klima-
wandel und andere Umweltverschmutzung verursachten
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 17

Schäden am Ökosystem kaum Eingang in wirtschaft-


liche Entscheidungsprozesse. Dessen ungeachtet gibt es
bereits eine Vielzahl ökonomischer Instrumente, die das
Ziel verfolgen, Märkte für Ökosystem-Dienstleistungen zu
schaffen.

Ein besonderes Interesse liegt gegenwärtig in der ökonomi-


schen Inwertsetzung von Waldökosystemen. Wälder spei-
chern CO². Werden sie gefällt und verbrannt,
wird zusätzliches Treibhausgas freigesetzt. Ein besonderes Interesse liegt gegen-
Andererseits könnte durch einen verstärkten wärtig in der ökonomischen Inwert-
setzung von Waldökosystemen. Werden
Waldanbau zusätzlich CO² aus der Atmos­ Wälder verbrannt, wird zusätzliches
phäre entnommen werden, so dass ein ge- Treibhausgas freigesetzt.
fährlicher Klimawandel vermieden werden
könnte. Neuere Berechnungen gehen davon aus, dass der
Erhalt von Wäldern Treibhausgasemissionen vermeiden
könnte, die wiederum Klimawandelschäden in Höhe von
3,7 Billionen US-Dollar entsprächen.11

Die Politik versucht daher, über so genannte REDD-


Mechanismen (Reducing Emissions from Deforestation
and Forest Degradation) einen ökonomischen Anreiz
zum Schutz der Wälder zu setzen, der insbesondere für
Schwellen- und Entwicklungsländer eine attraktive Vari-
ante darstellen soll. Ziel dieser Mechanismen ist es, die
Entwaldungsrate zu senken, indem Geld durch Industrie-
nationen für den Walderhalt und seinen Ausbau bereitge-
stellt wird. Hier ergeben sich jedoch Wechselwirkungen mit
anderen Gesellschaftszielen. So ist es durchaus möglich,
einen fokussierten Waldanbau zu betreiben, um CO² zum
Schutz des Klimas zu speichern. Unternehmer würden
sich in diesem Fall jedoch vorzugsweise für Baumarten
entscheiden, die möglichst viel CO² speichern, und diese
Arten monokulturell anbauen. Solche Monokulturen gehen
wiederum zu Lasten der Biodiversität, die essenziell für die
Widerstandsfähigkeit der Natur gegenüber Klimaschwan-
kungen ist. Neuere Ansätze (REDD+) berücksichtigen zwar
an die Finanzierung gekoppelte Kriterien zum Schutz der
Biodiversität – inwiefern diese aber umsetzbar sind, bleibt
abzuwarten. Daneben liegen die wesentlichsten Probleme
bei der Umsetzung der REDD-Mechanismen in der Kontrolle

11 | TEEB (2010), „The Economics of Ecosystems and Biodiversity:


Mainstreaming the Economics of Nature‟, Europäische Kom-
mission, Brüssel, vgl. http://teebweb.org [23.03.2011].
18 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

und administrativen Umsetzung derartiger Projekte vor


Ort. Letztlich muss bezahlter Waldschutz kontrolliert
werden.

Ein weiterer und wohl am weitesten entwickelter ökonomi-


scher Ansatz zum Schutz von Ökosystem-Dienstleistungen
wird gegenwärtig in der EU umgesetzt. In der Hauptver-
antwortung für den Erhalt von Ökosystemen stehen darin
vor allem Landwirte. Ihnen wird angeboten, gegen Zusatz-
zahlungen ihre Agrarbearbeitung im Sinne eines stärkeren
Umwelt- und Klimaschutzes zu ändern (weniger Dünger,
weniger Bodenbearbeitung etc.). In der Fachliteratur wird
dieser Ansatz auch „Payments for Ecosystem Services‟
genannt. Die Landwirte erhalten letztlich eine weitere
Einkommensquelle, indem sie als Umwelt- und Klima-
schutzanbieter auftreten. Die Bedeutung des Umwelt-
schutzes und damit des Schutzes von Ökosystem-Dienst-
leistungen wird in den kommenden Verhandlungen 2011
über die Ausgestaltung einer gemeinsamen Agrarpolitik in
der EU einen zentralen Platz einnehmen. Dennoch ist auch
hier danach zu differenzieren, ob der Staat ausschließ-
lich Klimaschutz betreiben oder ob er auch Biodiversität,
Kulturlandschaft oder eine nachhaltige Energiewirtschaft
fördern möchte. Die Zahlungen an die Landwirte müssten
entsprechend gestaltet werden. Hier tritt erneut das
Dilemma zwischen Klima- und Biodiversitäts-
Durch den Biomasseanbau wird der schutz hervor. So trägt der verstärkte Anbau
Nahrungsmittelanbau verdrängt, so von Biomasse als regenerativer Energie-
dass sich Klimaschutz, Nahrungsmit-
telsicherheit und Biodiversitätsschutz träger zwar zum Klimaschutz bei, indem er
als Ziele gegenüberstehen. fossile Energieträger verdrängt. Die Folgen
sind jedoch Monokulturen zu Lasten der
Biodiversität. Zudem wird durch den Biomasseanbau auch
der Nahrungsmittelanbau verdrängt, so dass sich Klima-
schutz, Nahrungsmittelsicherheit und Biodiversitätsschutz
als gesellschaftliche Ziele gegenüberstehen. Zwar versucht
die EU, diesem Problem ebenfalls mit der Kopplung von
Zahlungen an die Einhaltung von Nachhaltigkeitskriterien
zu begegnen. Ein Erfolg hängt jedoch von den Kontroll-
möglichkeiten ab.

Eine weitere Möglichkeit, Ökosystem-Dienstleistungen zu


schützen, ergibt sich aus deren rechtlicher Zuordnung.
Von besonderem Interesse sind dabei die Ergebnisse der
10. Vertragsstaatenkonferenz des Übereinkommens über
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 19

die biologische Vielfalt (Convention on Biological Diversity,


CBD) 2010 in Nagoya, Japan. Dort wurde das so genannte
ABS-Protokoll zur Regelung des Zuganges zu
genetischen Ressourcen und der gerechten Durch das Übereinkommen in Nagoya
Gewinnbeteiligung bei der Nutzung natürli- ergeben sich verlässlichere Rahmen-
bedingungen, die Entwicklungsländern
cher Ressourcen beschlossen. Hintergrund Eigentumsrechte an ihren genetischen
ist das Ziel, den ökonomischen Gewinn etwa Ressourcen garantieren.
bei der Entwicklung von Medikamenten oder
Züchtungen gerechter zu verteilen. Für die Wirtschaft
ergeben sich dadurch verlässlichere Rahmenbedingungen,
die Entwicklungsländern Eigentumsrechte an ihren gene-
tischen Ressourcen garantieren (z.B. Pflanzen mit medizi-
nischen Wirkungen) und Industrieländern Rechtssicherheit
für zukünftige Geschäfte bieten.

Schlussfolgerungen

Bereits heute leben wir mit einem menschlich verursachten


Klimawandel. Da wir jedoch über die tatsächlichen Auswir-
kungen nur unsichere Aussagen treffen können, müssten
wir in unseren Handlungsalternativen eingeschränkt sein.
Dennoch existiert gegenwärtig eine kaum überschaubare
Zahl an Initiativen, die mit Hilfe ökonomischer Ansätze
versuchen, klimaschädliche CO²-Emissionen zu verrin-
gern  – darunter das Emissionshandelssystem der EU,
das EEG der deutschen Bundesregierung und die REDD-
Mechanismen in Schwellen- und Entwicklungsländern.
Letztlich zeigt sich, dass gerade durch diese Vielzahl an
Instrumenten das eigentliche Ziel, die Vermeidung eines
gefährlichen Klimawandels, ausgehebelt werden könnte.
Darüber hinaus berücksichtigen einige Instrumente, insbe-
sondere diejenigen, die auf Ökosystem-Dienstleistungen
wirken, nicht die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen
Klimawandel, Biodiversitätsschutz und Nahrungsmittel-
sicherheit. Zusätzlich existiert ein erhebliches Kontroll-
problem in Schwellen- und Entwicklungsländern, das die
Legitimität solcher Instrumente in Frage stellt.

Eine Politik, die das Ziel der Vermeidung eines globalen


Klimawandels verfolgt, sollte zwei Wege gehen. Zum einen
sollte ein globaler Emissionshandel angestrebt werden, der
sämtliche CO²-produzierenden Industrien einschließt. Hier
darf es keine Ausnahmen geben. Nationale Instrumente,
die diesen Mechanismus aushebeln könnten, müssen
20 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

vermieden werden. Zum anderen sollte verstärkt überlegt


werden, wie  – insbesondere in Schwellen- und Entwick-
lungsländern – einheitliche Märkte für Ökosystem-Dienst-
leistungen umgesetzt werden können. Ein Vorbild könnte
der europäische Ansatz sein, bei dem Landeigentümer als
Anbieter von Klimaschutz auftreten. Als rechtliche Grund-
lage könnte ein erweitertes ABS-Protokoll dienen, das
sämtliche Ökosystem-Dienstleistungen verfügungsrecht-
lich abdeckt.

Die Green Economy mit dem Teilziel der Dekarbonisierung


der Wirtschaft erfordert im Grunde keine neuen ökonomi-
schen Instrumente. Vielmehr sollte die einheitliche und
konsequente Durchsetzung eines global verbindlichen
ordnungspolitischen Rahmens im Vordergrund stehen.
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 21

Von Kyoto bis Durban –


Die Klimapolitik der
Europäischen Union

Céline-Agathe Caro / Christiane Rüth

„Klima‟ und „Politik‟ – zwei Begriffe, die noch vor weniger


als fünfzig Jahren nichts miteinander zu tun hatten.
Spätestens aber seit dem „Erdgipfel‟ im Juni 1992 in Rio
de Janeiro, an dem ca. hundert Staats- und Regierungs-
chefs aus der ganzen Welt teilnahmen, stehen Klimafragen
auf der politischen Agenda der Industriestaaten. Um den
neuen globalen Herausforderungen in Bezug auf Ernäh-
rung, Migration und Sicherheit zu begegnen, hat sich in Dr. Céline-Agathe
den letzten 20 Jahren die internationale Zusammenarbeit Caro ist Koordinatorin
für Europapolitik im
zur Bekämpfung des Klimawandels intensiviert. Vor allem Team Politikdialog
Europa beansprucht seit dem Beginn der Verhandlungen und Analyse der
eine Vorreiterrolle. Konrad-Adenauer-
Stiftung in Berlin.

Auf dem „Erdgipfel‟ wurde von über 150 Staaten eine


Klimarahmenkonvention unterschrieben. Diese erkennt
offiziell den globalen Charakter der Klimaveränderungen
sowie die Notwendigkeit einer internationalen Zusammen-
arbeit in diesem Bereich an. Sie unterstreicht zudem die
Bedeutung menschlichen Handelns für die Erwärmung der
Erdoberfläche und setzt sich als Hauptziel, die Treibhaus-
gaskonzentrationen in der Atmosphäre zu stabilisieren, Christiane Rüth
um eine gefährliche Störung des Klimasystems durch den studierte Europastu-
dien und Verwal-
Menschen zu verhindern.1 tungswissenschaf-
ten in Bremen und
Dieser politische Schritt auf internationaler Ebene beruht Leiden, Niederlande.
Von September 2010
u.a. auf den Beobachtungen des Weltklimarats, ein bis März 2011 unter-
zwischenstaatliches Forum von Wissenschaftlern, das den stützte sie das Team
Außen-, Sicherheits-
und Europapolitik in
Berlin.
1 | Vgl. Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über
Klimaänderungen, Artikel 2 (New York, 1992), http://unfccc.int/
essential_background/convention/background/items/2853.php
[02.02.2011].
22 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

Klimawandel seit 1988 beobachtet und bewertet.2 In seinem


letzten Bericht aus dem Jahr 2007 bestätigt der Rat, dass
„der größte Teil des beobachteten Anstiegs der mittleren
globalen Temperatur seit Mitte des 20. Jahrhunderts [...]
sehr wahrscheinlich durch den beobachteten Anstieg der
anthropogenen Treibhausgaskonzentrationen verursacht‟
wurde.3 Er lässt zudem keinen Zweifel an der Erwärmung
des Klimas. Dies beweise unter anderem der Anstieg der
globalen Luft- und Meerestemperaturen, die Eisschmelze
in der Arktis, die zunehmenden Dürre- und
Zwischen 1906 und 2005 sind die Tem- Hitzeperioden, die stärkere Intensität der
peraturen weltweit durchschnittlich um tropischen Wirbelstürme oder der Anstieg
0,74 Grad Celsius gestiegen, und seit
50 Jahren hat sich dieser Trend dras- des globalen Meeresspiegels. Zwischen 1906
tisch beschleunigt. und 2005 seien die Temperaturen weltweit
durchschnittlich um 0,74 Grad Celsius gestiegen, und seit
50 Jahren habe sich dieser Trend drastisch beschleunigt. Es
wird befürchtet, dass weiter steigende Temperaturen nega-
tive bis dramatische Auswirkungen auf die Ökosysteme
und die Wasserressourcen, aber auch auf die menschliche
Gesundheit, die Land- und Forstwirtschaft, die Industrie
und die Gesellschaft haben könnten.

Aus diesem Grund plädieren viele Klimaforscher dafür, den


Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur auf maximal
zwei Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter
zu begrenzen. Damit wird auch ein klares klimapolitisches
Ziel gesetzt. Auf dem EU-Gipfel im Frühjahr 2005 haben die
europäischen Staats- und Regierungschefs die Notwendig-
keit einer Zwei-Grad-Schranke anerkannt, um das oberste
Ziel des Rahmenübereinkommens der Vereinten Nationen
über Klimaänderungen zu erreichen.4

Ziele und Mittel der Umweltpolitik

Das Hauptziel der EU zur Bekämpfung des Klimawandels be-


steht darin, die Lebensweisen und Konsumgewohnheiten
in den Mitgliedstaaten zu ändern, ohne auf Wohlstand zu

2 | Der offizielle Name des Weltklimarats ist „Intergovernmental


Panel on Climate Change‟, IPCC.
3 | Vgl. Intergovernmental Panel on Climate Change IPCC,
„Klimaänderung 2007 – Zusammenfassungen für politische
Entscheidungsträger‟, Vierter Sachstandsbericht des IPCC
(AR4) (Bern/Wien/Berlin, September 2007), 10.
4 | Vgl. Rat der Europäischen Union, Tagung des Europäischen
Rates, Brüssel, 22./23.03.2005, Schlussfolgerungen des
Vorsitzes, 7619/1/05 REV 1, CONCL 1, 15-16.
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 23

verzichten. Nachhaltiges Wachstum und eine hohe Be-


schäftigungsquote sollen durch Innovation ermöglicht
werden. Die EU-Kommission spricht sogar von einer „neuen
industriellen Revolution‟.5 Damit soll nicht nur der Klima-
wandel gestoppt, sondern auch die Luftqua-
lität verbessert, die Energieversorgungssi- Die Kosten der Klimapolitik sollen lang-
cherheit erhöht und die Wettbe­werbsfähigkeit fristig niedriger sein als die Kosten, die
eine unkontrollierte Klimaerwärmung
der EU durch Innovation (green technologies) weltweit verursachen würde.
gestärkt werden. Insofern liegt eine ambitio­
nierte Klimapolitik auch im wirtschafts- und industriepo-
litischen Interesse der EU. Die Kosten dieser Klimapolitik
sollen zudem langfristig niedriger sein als die Kosten, die
eine unkontrollierte Klimaerwärmung weltweit verursachen
würde.

Da Treibhausgasemissionen weitgehend durch die Produk-


tion und den Verbrauch von Energie verursacht werden,
spielt die Energiepolitik der EU eine entscheidende Rolle,
um die Ziele der Klimapolitik zu erreichen. Die Kohlendioxid­
emissionen sollen reduziert werden, hauptsächlich durch
eine Steigerung der Energieeffizienz, eine Eindämmung
der Emissionen von Industrie und Kraftfahrzeugen, eine
Reduzierung des Verbrauchs fossiler Brennstoffe sowie
eine Diversifizierung der Energiequellen u.a. durch die
Weiterentwicklung der erneuerbaren Energien.

Der Kyoto-Prozess

Das Kyoto-Protokoll von 1997 ist das bisher wichtigste


Ins­trument der internationalen Klimapolitik. Darin haben
sich die Industrieländer verpflichtet, ihre Treibhausgas­
emissionen von 2008 bis 2012 um durchschnittlich 5,2
Prozent unter das Niveau von 1990 zu senken. Um dieses
Ziel zu erreichen, sollten die damals 15 EU-Mitgliedsländer
ihre Emissionen um insgesamt acht Prozent reduzieren.
Nach dem System des burden sharing wurden die Reduk-
tionsverpflichtungen dann auf alle EU-Mitglieder im
Verhältnis zu ihrer jeweiligen Wirtschaftskraft verteilt. So
muss zum Beispiel Deutschland seine Treibhausgasemissi-
onen bis 2012 um 21 Prozent verringern, während Portugal
seine Emissionen noch um 27 Prozent erhöhen darf. Die

5 | Vgl. Europäische Kommission, „Kommission legt integriertes


Energie- und Klimapaket zur Emissionsminderung im 21.
Jahrhundert vor‟, Pressemitteilung, 10.01.2007.
24 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

neuen EU-Mitgliedstaaten, die seit 2004 beigetreten sind,


haben im Rahmen des Kyoto-Protokolls eigene Zielset-
zungen vereinbart.

Um die Vorgaben des Kyoto-Protokolls zu erfüllen, wurde


im Juni 2000 von der Europäischen Kommission ein Euro-
päisches Programm zum Klimawandel (European Climate
Change Programme, ECCP) initiiert. Dieses Programm zielt
darauf ab, die Bemühungen der EU-Länder
Die wichtigste Maßnahme, die im Rah- auf nationaler Ebene mit europäischen Strate-
men des Europäischen Programms zum gien zu ergänzen. Die wichtigste Maßnahme,
Klimawandel entstanden ist, ist das EU-
Emissionshandelssystem. die in diesem Rahmen entstanden ist, ist das
EU-Emissionshandelssystem, das im Januar
2005 für Kohlendioxidemissionen (CO²) eingeführt worden
ist. Es handelt sich dabei um das weltweit erste multina-
tionale System zum Handel mit Emissionsrechten. Es soll
Emissionsminderungen mit möglichst geringen Kosten
erreichen. Europaweit beteiligen sich zurzeit rund 11.000
Industrie- und Energieunternehmen daran, die zusammen
für ca. 50 Prozent des CO²-Ausstoßes in der EU verant-
wortlich sind. Ab 2012 soll auch der Luftverkehr in den
EU-Emissionsrechtehandel einbezogen werden.

Schon heute steht fest, dass die EU die im Kyoto-Protokoll


festgelegten Ziele erreichen wird. Im Durchschnitt gelang
es den EU-15-Staaten sogar, ihre Emissionen im Vergleich
zu 1990 um 14 Prozent zu senken. Da auch die zehn
neuen EU-Mitglieder ihre Ziele erreicht oder sogar über-
troffen haben, wird die EU-27 problemlos ihr Soll erfüllen.
Einzig Österreich und Italien haben Schwierigkeiten, ihre
Vorgaben noch zu erreichen, was das Gesamtergebnis der
EU jedoch nur wenig beeinflussen wird.6

Die „3x20‟-Energieziele der EU

Im Jahr 2007 gingen die europäischen Staats- und Re-


gierungschefs ein weiteres gemeinsames Engagement
im Bereich der Klimapolitik ein. Während der deutschen
EU-Ratspräsidentschaft gaben sie im Rahmen des Europä­
ischen Rates im März 2007 einem Vorschlag der EU-
Kommission vom Januar 2007 ihre Zustimmung, der für die

6 | Vgl. „EU schafft Kyoto-Ziel: Österreich am weitesten weg‟,


Kleine Zeitung, 12.10.2010, http://kleinezeitung.at/
nachrichten/chronik/2514576 [02.02.2011].
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 25

EU neue Klimaschutzziele vorschreibt. Hinter der Einigung,


die kurz „20-20-20‟ oder „3x20‟ genannt wird, stehen
Zusagen der EU, bis 2020 durch eine gesteigerte Energie­
effizienz ihren Gesamtenergieverbrauch um 20 Prozent zu
senken, insgesamt 20 Prozent weniger CO²-Emissionen zu
verursachen und den Anteil erneuerbarer Energien an der
gesamten Energieerzeugung auf 20 Prozent zu steigern.
Zusätzlich soll der Anteil von Biokraftstoffen auf zehn
Prozent steigen. Jedes EU-Land soll gemäß seiner Fähig-
keiten und seiner Emissionen einen angemessenen Beitrag
leisten, um das gemeinsame Ziel zu erreichen.

Diese ehrgeizigen Zusagen sind weltweit die ersten


verbindlichen Vorgaben, die für die Zeit nach dem Ablauf
des Kyoto-Abkommens im Jahr 2012 beschlossen worden
sind. Damit bekräftigte die EU ihren Willen,
das Ziel einer Eindämmung der Erderwär- Um die Verhandlungen weltweit zu
mung auf zwei Grad aktiv zu verfolgen und intensivieren, billigte der Europäische
Rat das Ziel, die Treibhausgasemissio-
weiterhin eine Vorreiterrolle beim internatio­ nen bis zum Jahr 2020 um 30 Prozent
nalen Klimaschutz spielen zu wollen. Um die zu reduzieren.
Verhandlungen weltweit zu intensivieren,
billigte zudem der Europäische Rat das Ziel der EU, die
Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2020 gegenüber
1990 um 30 Prozent zu reduzieren, „sofern sich andere
Industrieländer zu vergleichbaren Emissionsreduzierungen
und die wirtschaftlich weiter fortgeschrittenen Entwick-
lungsländer zu einem ihren Verantwortlichkeiten und jewei-
ligen Fähigkeiten angemessenen Beitrag verpflichten‟.7

Die Klimagipfel in Bali und Posen

Im Dezember 2007 fand auf Bali die 13. Konferenz der


UN-Klimarahmenkonvention, zugleich 3. Vertragsstaaten­
konferenz des Kyoto-Protokolls, statt. Ziel der Konferenz
war die Festlegung von Verhandlungszielen sowie eines
Zeitplans für ein Nachfolgeabkommen des Kyoto-Proto-
kolls. Die Konferenz endete mit dem Beschluss des Bali
Action Plan und der Bali Road Map. Damit einigten sich
die Vertragsstaaten darauf, in ­parallelen Verhandlungs-
strängen bis zum Klimagipfel in Kopenhagen 2009 über
konkrete Verpflichtungen sowie Beiträge aller Staaten zur

7 | Vgl. Rat der Europäischen Union, Tagung des Europäischen


Rates, Brüssel, 08./09.03.2007, Schlussfolgerungen des
Vorsitzes, 7224/1/07 REV 1, CONCL 1, 12.
26 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

Reduzierung von Emissionen und deren mögliche Finanzie-


rung bis 2012 und darüber hinaus zu verhandeln.

Der Bali Action Plan richtete sich dabei an alle Vertrags-


staaten der Klimakonvention, was auch die USA ein-
schließt.8 Er legte fest, dass die Anforderungen an alle
Industriestaaten vergleichbar sein sollen, wobei noch keine
konkreten Zahlen zur Reduktion von Emissionen festgelegt
wurden, sondern zunächst ein Korridor von Emissions-
minderungen von 25 bis 40 Prozent bis 2020 gegenüber
1990 für die Industriestaaten bestimmt wurde. Erstmals
verpflichteten sich dabei auch die Entwicklungsländer,
messbare Klimaschutzmaßnahmen zu ergreifen.9

Auf der 14. Konferenz der Klimarahmenkonvention, der 4.


Vertragsstaatenkonferenz des Kyoto-Protokolls, im Dezem-
ber 2008 im polnischen Posen wurde weiter über die Nach-
folgeregelungen zum Kyoto-Protokoll und Fortschritte auf
dem Weg zum Klimagipfel in Kopenhagen 2009 verhandelt.
Fortschritte wurden dabei insbesondere bei der Gestaltung
eines Fonds gemacht, durch den Entwicklungsländer finan-
zielle Hilfe für die Anpassung an den Klima-
Mit Blick auf Kopenhagen wurde in wandel erhalten können. Unter anderem
Posen 2008 bereits über eine interna- wurden seine Entscheidungsstrukturen,
tionale Absicherung der vom Klima-
wandel besonders betroffenen Länder Finanzierung und Geldvergabe festgelegt.
verhandelt. Außerdem wurde mit Blick auf Kopenhagen
bereits über eine internationale Absicherung der vom
Klimawandel besonders betroffenen Länder verhandelt.10
Damit gelang es, die formalen Voraussetzungen für das
Abkommen in Kopenhagen zu schaffen. Die EU bekräftigte
in Posen erneut ihr Bekenntnis zum Zwei-Grad-Ziel und
den Willen, bis 2020 ihre Emissionen um 30 Prozent im
Vergleich zu 1990 zu senken. Damit vertrat sie das ehrgei-
zigste Industrieziel aller Teilnehmer.11

8 | Die USA haben aber wiederum das Kyoto-Abkommen nicht


ratifiziert, obwohl sie es zunächst unterschrieben hatten.
2001 ist Washington aus dem Kyoto-Prozess komplett
ausgestiegen.
9 | Vgl. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-
sicherheit, „13. Vertragsstaatenkonferenz der Klimarahmen-
konvention und 3. Vertragsstaatenkonferenz des Kyoto-Proto-
kolls‟, http://www.bmu.de/klimaschutz/internationale_
klimapolitik/13_klimakonferenz/doc/40146 [03.02.2011].
10 | Vgl. Christoph Bals, Klimazug im „Tal des Todes‟ zwischen
Posen und Kopenhagen (Berlin: Germanwatch, 2009), 4 f.
11 | Ebd., 9.
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 27

Das Energie- und Klimapaket der EU

Im Januar 2008 legte die Europäische Kommission ein


Maßnahmenpaket zur Koordinierung einzelner Mechanis-
men der europäischen Klimapolitik und der 20-20-20 Ziele
vor. Unter der französischen Ratspräsidentschaft ab Juli
2008 wurde Energiepolitik dann zu einem Schwerpunkt-
thema. Im Oktober stimmte das Europäische Parlament
dem Energie- und Klimapaket zu, und auf dem EU-Gipfel
im Dezember 2008, parallel zur Klimakonferenz in Posen,
einigte sich der Europäische Rat auf eine endgültige
Fassung.

Das Hauptaugenmerk des Energie- und Klimapaketes


liegt auf der weiteren Ausgestaltung des EU-Emissions-
handelssystems. Im Vorfeld der Einigung wurde unter
den Europäern insbesondere die Frage debattiert, wie
die Verteilung von Emissionszertifikaten an
energieintensive oder besonders exportab- Unternehmen drohten, ihre Produktion
hängige Industriezweige gestaltet werden vollständig in Drittländer zu verlagern,
sollten sie alle Emissionszertifikate
kann. Unternehmen drohten, ihre Produktion ersteigern müssen.
vollständig in Drittländer zu verlagern, soll-
ten sie alle Emissionszertifikate ersteigern müssen. Da die
EU diesen Prozess, der am Ende zu einer Steigerung der
Emissionen führen würde (Prinzip des carbon leakage),
unbedingt vermeiden wollte, einigte man sich auf einen
Mittelweg, in dem bestimmte Branchen vom System der
Versteigerungen ausgenommen wurden.

Für alle anderen Industriezweige wurde festgelegt, dass


spätestens 2027 Emissionszertifikate nur noch versteigert
und nicht mehr kostenlos ausgegeben werden. Ziel ist es,
die Emissionen der Industrie bis 2020 um 20 Prozent im
Vergleich zu 2005 zu senken. Ab 2013 beginnt eine neue
Phase des Emissionshandels, in der die Anzahl der Zerti-
fikate schrittweise gesenkt wird. Steigende Preise sollen
Unternehmern dann einen Anreiz bieten, keine Zertifikate
mehr zu ersteigern, sondern stattdessen in umweltfreund-
lichere und emissionsärmere Technologien zu investieren.

Das Emissionshandelssystem erfasst circa 50 Prozent aller


in der EU emittierten Treibhausgase. Für die restlichen
Bereiche, zu denen beispielsweise die Landwirtschaft oder
kleine Industriebetriebe zählen, gilt bis 2020 das Ziel einer
28 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

Reduktion der Emissionen um insgesamt zehn Prozent.


Dazu wurden unterschiedliche nationale Ziele bestimmt.
Außerdem wurden erstmals verbindliche
Bis 2020 soll der Anteil erneuerbarer Zielwerte für die Verwendung erneuerbarer
Energien in der Stromerzeugung und Energien festgelegt: Bis 2020 soll der Anteil
bei der Wärmegewinnung bei 20 Pro-
zent liegen. erneuerbarer Energien in der Stromerzeu-
gung und bei der Wärmegewinnung bei 20
Prozent liegen, während gleichzeitig insgesamt 20 Prozent
weniger Energie verbraucht werden soll.

Verstöße gegen das Energie- und Klimapaket können vom


Europäischen Gerichtshof sanktioniert werden. Damit
hat es deutlich mehr „Zähne‟ als bisherige internatio-
nale Abkommen. Zudem stellt es ein Grundsatzdokument
dar, auf das sich die EU auch in weiteren internationalen
Klimaverhandlungen stützen kann. Vor allem aber zeigt
die Verabschiedung des Energie- und Klimapaketes, dass
Klimapolitik in der EU zu einem zentralen Thema geworden
ist, das auch in Zeiten knapper Kassen eine hohe Priorität
genießt. Die EU steht nun also vor der Herausforderung,
ihre 20-20-20-Ziele umzusetzen. Dazu wird das Emissi-
onshandelssystem, dessen nächste Phase 2013 beginnt,
entscheidend beitragen.

Kopenhagen

Ein Jahr nach Posen und der Verabschiedung des europäi-


schen Energie- und Klimapaketes fand vom 7. bis zum 18.
Dezember 2009 in Kopenhagen die 15. Vertragsstaaten­
konferenz der Klimarahmenkonvention und 5. Vertrags-
staatenkonferenz des Kyoto-Protokolls statt. Laut Bali
Action Plan hätten die Verhandlungen über das interna-
tionale Klimaschutzregime für die Zeit nach 2012 eigent-
lich in Kopenhagen abgeschlossen werden sollen. Nach
schwierigen Verhandlungen endete die Konferenz jedoch
lediglich mit einer politischen Vereinbarung, dem Copen-
hagen Accord, der einige Kernelemente zur zukünftigen
Klimapolitik enthält.

In dieser Vereinbarung hat die überwiegende Mehrheit


der Staaten bestätigt, dass die globale Mitteltemperatur
um maximal zwei Grad Celsius steigen soll. Die Konferenz
hat aber weder ein global verbindliches Abkommen noch
ein Instrument geliefert, um die Grenze von zwei Grad
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 29

noch einzuhalten. Die Kopenhagen-Vereinbarung ist kein


rechtlich verbindliches Abkommen, sondern lediglich eine
politische Erklärung, die von den Vertragsstaaten formal
„zur Kenntnis genommen‟ wird.12

Insbesondere China, Indien und die USA wollten sich in den


Verhandlungen nicht auf verbindliche Zusagen festlegen.
Repräsentanten der Europäischen Union, die hohe Erwar-
tungen mit dem Klimagipfel verbunden hatten, werteten
die Ergebnisse als besonders enttäuschend. Herman Van
Rompuy, der Präsident des Europäischen Rates, sagte
Ende Februar 2010, Europa habe im Flur gewartet,
während die USA und China verhandelt
hätten. „Wir waren ausgeschlossen vom ent- Die Kopenhagen-Vereinbarung bleibt
scheidenden Deal zwischen den USA und den hinter den Zielen der EU zurück. Zuvor
hatte es auch innerhalb der Union Dis-
vier großen Entwicklungsländern.‟13 Gemeint kussionen um die gemeinsame Posi-
waren Brasilien, Indien, China und Südafrika. tion gegeben.

Damit bleibt die Kopenhagen-Vereinbarung deutlich hinter


den Zielen Deutschlands und der EU zurück. Zuvor hatte
es aber auch innerhalb der Union Diskussionen um die
gemeinsame Position gegeben: Uneinig waren sich die
EU-Mitgliedsländer zunächst über die Finanzhilfen, die die
Industrienationen bereit sind, an ärmere Länder zu zahlen.
Deutschland, Frankreich und Italien lehnten es ab, bereits
vor dem Gipfel ein „Finanzierungsangebot‟ der EU bekannt
zu geben, während Großbritannien, Österreich und die
skandinavischen Länder dafür plädierten. Insgesamt sollen
die Industriestaaten ab 2020 eine Summe von 100 Milli-
arden Euro pro Jahr bereitstellen. Eine Entscheidung, wie
viel davon die EU tragen würde und wie die finanziellen
Lasten dann EU-intern verteilt werden könnten, wurde
aber zunächst verschoben.14

12 | Vgl. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-


sicherheit, „UN-Klimakonferenz in Kopenhagen – 7. bis 18.
Dezember 2009‟, http://www.bmu.de/15_klimakonferenz/
doc/44133 [03.02.2011].
13 | Vgl. Address by Hermann Van Rompuy, President of the Euro-
pean Council to the Collège d’Europe, Bruges, 25.02.2010,
http://consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/
en/ec/113067.pdf [03.02.2011].
14 | Vgl. „Der Klimagipfel in Kopenhagen. Die Streitpunkte der EU‟,
Frankfurter Rundschau, 30.10.2009, http://fr-online.de/
wissenschaft/klimawandel/die-streitpunkte-der-eu/-/
1473244/2695124/-/ [03.02.2011].
30 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

Auch wenn der Klimagipfel ohne ein verbindliches Abkom-


men endete, ist zu betonen, dass die getroffene Verein-
barung wichtige Kernelemente der Klimapolitik enthält.
Sie wird daher zum Beispiel von der Bundesregierung als
erster Schritt zu einem neuen Abkommen für die Zeit nach
2012 bewertet und soll so schnell wie möglich umgesetzt
werden. Zudem haben viele Industrie- und Entwicklungs-
länder freiwillige Ziele und Maßnahmen zur Emissions-
minderung in den Anhang der Kopenhagen-Vereinbarung
eintragen lassen. Die EU bekräftigte noch einmal das Ziel,
bis 2020 20 Prozent weniger Emissionen als 1990 zu verur-
sachen und diesen Wert sogar auf 30 Prozent zu erhöhen,
wenn sich auch andere Industrieländer zu vergleichbaren
Zielen verpflichten.

In Kopenhagen wurde darüber hinaus festgelegt, dass


die Verhandlungen zur zukünftigen Klimapolitik unter der
Klimarahmenkonvention und dem Kyoto-Protokoll bis zur
nächsten Klimakonferenz in Cancún fortgeführt werden
sollten. Die Klimakonferenz von Kopenhagen
Die EU kann zeigen, dass die Transfor- war also nicht umsonst. Sie hat neue Ansätze
mation zu einer emissionsarmen, grü- geschaffen, an die nun angeknüpft werden
nen Wirtschaft technisch möglich und
ökonomisch erfolgreich ist. muss. Als Vorreiter in der Klimapolitik und
glaubwürdiger Akteur kann die EU dabei ein
Vorbild bleiben und damit den internationalen Klimaschutz
vorantreiben. Sie kann zudem zeigen, dass die Transfor-
mation zu einer emissionsarmen, grünen Wirtschaft tech-
nisch möglich und ökonomisch erfolgreich ist.15

Petersberger Klimadialog

Bereits auf der Klimakonferenz in Kopenhagen hatte


Bundeskanzlerin Angela Merkel angekündigt, im Sommer
2010 eine Umweltministerkonferenz in Deutschland auszu-
richten. Angesichts der Tatsache, dass Mexiko Gastgeber
der nächsten Klimakonferenz von 29. November bis 10.
Dezember 2010 sein würde, fand die Umweltministerkon-
ferenz von Anfang Mai unter dem gemeinsamen Vorsitz
von Bundesumweltminister Norbert Röttgen und seinem
mexikanischen Kollegen Rafael Elvira Quesasa auf dem
Petersberg in Bonn statt. Ziel der Konferenz war es, vor der

15 | Vgl. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale


Umweltveränderungen, Klimapolitik nach Kopenhagen. Auf
drei Ebenen zum Erfolg (April 2010), 7.
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 31

nächsten Verhandlungssitzung des UN-Klimasekretariats,


die vom 31. Mai bis zum 11. Juni 2010 ebenfalls in Bonn
stattfand, eine politische Standortbestimmung vorzuneh-
men.16

Diskutiert wurden dazu neben Schritten auf dem Weg


zum nächsten Klimagipfel in Cancún unter anderem die
Ziele für ein Post-Kyoto-Abkommen, die Finanzierung des
internationalen Klimaschutzes, die Weiterentwicklung des
Emissionshandels und die Verminderung der
Waldvernichtung in Entwicklungsländern. Bundesumweltminister Röttgen sicherte
Insgesamt kamen Umweltminister aus 43 mindestens 350 Millionen Euro für die
Vermeidung von Entwaldung in Ent-
Staaten zusammen, von denen einige Klima- wicklungsländern zu.
schutzinitiativen vorstellten, die zeigten, wie
die Zusammenarbeit zwischen Industrie- und Entwick-
lungsländern beim Klimaschutz aussehen kann. Bundes-
umweltminister Röttgen sicherte eine Sofortfinanzierung in
Höhe von mindestens 350 Millionen Euro durch die Bundes-
regierung für die Vermeidung von Entwaldung in Entwick-
lungsländern zu. Weitere zehn Millionen Euro kündigte
er für den Anpassungsfonds an, der vom Klimawandel
besonders betroffene Entwicklungsländer unterstützt. Im
Hinblick auf die Klimakonferenz von Cancún bekräftigten
alle Teilnehmer noch einmal das Zwei-Grad-Ziel.17

Europa 2020

Auch 2010 setzte die EU ihre Bemühungen in der euro-


päischen Energie- und Klimapolitik fort. Da die Lissabon-
Strategie 2010 auslief, beschloss der Europäische Rat die
Nachfolgestrategie „Europa 2020‟: eine neue europäische
Strategie für Beschäftigung und Wachstum. Ihr Ziel ist die
Förderung einer ressourcenschonenden, umweltfreundli-
cheren und wettbewerbsfähigeren Wirtschaft. Die EU hat
bisher eine Führungsrolle im Bereich umweltfreundlicher
Technologien inne, die sie halten und ausbauen möchte.

16 | Vgl. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-


sicherheit, „Kurzinformation: Petersberger Klimadialog‟,
23.04.2010, http://www.bmu.de/petersberger_konferenz/
doc/45912 [04.02.2011].
17 | Vgl. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-
sicherheit, „Röttgen: Neuer Schwung für die internationalen
Klimaverhandlungen‟, 04.05.2010, http://www.bmu.de/
pressemitteilungen/aktuelle_pressemitteilungen/pm/45967
[04.02.2011].
32 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

Dadurch können Ressourcen in Europa noch effektiver


genutzt und die Wettbewerbsfähigkeit der EU gestärkt
werden.18

Teil der Strategie ist die Übernahme des 20-20-20-


Klima- und Energiepaketes der EU, das 2009 in Kraft trat.
Dahinter steckt die Idee, dass ein ressourceneffizienteres
Wirtschaften auch finanzielle Anreize bietet. So rechnet die
Europäische Kommission mit Einsparungen von 60 Milli-
arden Euro bis 2020 für den Import von Öl und Gas. Allein
durch die Umsetzung des Ziels, den Energiebedarf bis
2020 zu 20 Prozent aus erneuerbaren Quellen zu decken,
könnten 600.000 neue Arbeitsplätze entstehen. Wird dazu
noch das Ziel erreicht, die Energieeffizienz in der EU um 20
Prozent zu steigern, würde das weit mehr als eine Million
neuer Arbeitsplätze bedeuten.19

Die Ziele von Europa 2020 sollen durch sieben Leitinitiati-


ven der Europäischen Kommission vorangetrieben werden.
Besonders die Leitinitiative „Ressourcenschonendes Euro-
pa‟ enthält wichtige Ansätze: Dazu gehören Pläne der
Kommission, ein europäisches Superstromnetz und intelli­
gente Netze zu schaffen. Darüber hinaus soll es einen
Aktionsplan zum Thema Energieeffizienz und eine gezielte
Förderung für Elektromobilität geben. Um diese Pläne zu
unterstützen, legt jeder Mitgliedstaat seine
Deutschland hat sich das Ziel gesetzt, nationalen Ziele und geplanten Maßnahmen
die Treibhausgasemissionen bis 2020 dar. Deutschland hat sich das Ziel gesetzt,
um 40 Prozent zu senken. Ein Energie-
effizienzziel wurde bisher noch nicht seine Treibhausgasemissionen bis 2020 um
festgelegt. 40 Prozent im Vergleich zu 1990 zu senken.
Ein Energieeffizienzziel hat Deutschland dagegen bisher
noch nicht festgelegt. Wahrscheinlich werden aber noch
im Frühjahr 2011 alle nationalen Programme vorgelegt
werden. Dann muss auch Deutschland seine genauen Ziele
bekannt geben.20

18 | Vgl. Europäische Kommission, „Mitteilung der Kommission:


Europa 2020 – Eine Strategie für intelligentes, nachhaltiges
und integratives Wachstum‟, 03.03.2010, 17, http://ec.europa.
eu/eu2020/pdf/COMPLET%20%20DE%20SG-2010-80021-
06-00-DE-TRA-00.pdf [04.02.2011].
19 | Ebd., 18.
20 | Vgl. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-
sicherheit, Strategie Europa 2020 (09/2010), http://www.bmu.
de/europa_und_umwelt/europa_2020/doc/6424 [04.02.2011].
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 33

Im November 2010 hat die Europäische Kommission die


Mitgliedsstaaten aufgefordert, Vorschläge für das weltweit
größte Investitionsprogramm für Demonstrationsprojekte
zur Senkung der CO²-Emissionen und für erneuerbare
Energien einzureichen. Die Initiative mit dem Namen
NER-300 wird durch den Verkauf von 300 Millionen Emis-
sionsrechten finanziert, was einem Gegenwert von 4,5
Milliarden Euro entspricht. Mindestens acht Projekte zur
Kohlenstoffspeicherung sowie 34 Projekte zu innovativen
Technologien im Bereich erneuerbarer Energien sollen
dadurch gefördert werden.

Cancún

Vom 29. November bis zum 10. Dezember 2010 fand in


Cancún, Mexiko, die 16. Vertragsstaatenkonferenz zur
Klimarahmenkonvention und 6. Vertragsstaatenkonferenz
des Kyoto-Protokolls statt. Nachdem Kopenhagen ohne
ein konkretes Ergebnis zu Ende gegangen war, reisten die
meisten Politiker mit geringen Erwartungen
an. So sagte Connie Hedegaard, seit Anfang Auch José Manuel Barroso ging nicht
2010 EU-Kommissarin für Klimapolitik, dass davon aus, dass es in Cancún ein recht-
lich verbindliches Abkommen geben
sie erst für 2011 mit dem Abschluss eines würde.
Nachfolgeabkommens für Kyoto rechne.
Auch der Präsident der Europäischen Kommission, José
Manuel Barroso, ging nicht davon aus, dass es in Cancún
ein rechtlich verbindliches Abkommen geben würde.21

Im Vorfeld der Konferenz erarbeitete der Rat der Euro-


päischen Union seine Ziele für Cancún. So forderte die
EU konkrete Maßnahmen unter anderem zur Emissions-
minderung, der Anpassung an den Klimawandel und dem
Waldschutz. Diese Vorarbeit stärkte die Verhandlungsposi-
tion der EU, da sie ihr ermöglichte, in den Verhandlungen
konkrete und realistische Positionen zu vertreten. Zudem
kündigte der Rat bereits im Vorfeld des Klimagipfels die
Bereitschaft der EU an, das Kyoto-Protokoll zu verlängern.
Nach teilweise schwierigen Verhandlungen einigte sich
die Weltgemeinschaft auf ein Abschlussdokument, das  –
anders als das Kyoto-Protokoll  – auch für die USA sowie
China und andere Schwellen- und Entwicklungsländer gilt.
Das Zwei-Grad-Ziel wurde in Cancún offiziell von mehr als

21 | Vgl. Christian Hübner, Vor dem Klimagipfel in Cancún (Berlin:


Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., 2010), 8.
34 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

190 Teilnehmerstaaten anerkannt. Damit soll es grund-


sätzlich einen Nachfolger des Kyoto-Protokolls geben.
Nichtstaatliche Organisationen bewerteten das Bekenntnis
zum Zwei-Grad-Ziel als Schritt in die richtige Richtung auf
dem Weg zu einem neuen Klimaschutzabkommen. In den
Jahren 2013 bis 2015 soll sogar überprüft werden, wie die
Ziele angepasst werden müssten, um die Erderwärmung
auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen.

Bolivien hatte in Cancún gefordert, dass sich die Staaten-


gemeinschaft auf eine Begrenzung der Erderwärmung um
maximal 1,1 Grad Celsius einigt. An Boliviens Widerstand
gegen das gemeinsame Abschlussdokument wäre der
Gipfel schließlich beinahe gescheitert. Bolivien hat ange-
kündigt, beim internationalen Gerichtshof in Den Haag
Klage gegen das Abkommen von Cancún einzureichen.

Das Kyoto-Protokoll soll zunächst fortgeführt werden.


Weiterhin wollen die Industrieländer ihre Emissionen bis
2020 um 20 bis 40 Prozent senken. Konkre-
Konkretere Zahlen zur Emissionsmin- tere Zahlen zur Emissionsminderung sollen
derung sollen auf der Klimakonferenz jedoch erst auf der Klimakonferenz 2011 in
2011 bestimmt werden. Auch die USA,
China und die Entwicklungsländer sol- Durban, Südafrika, bestimmt werden. Auch
len Reduktionsziele festlegen. die USA, China und die Entwicklungsländer
sollen in einem Vertrag Reduktionsziele fest-
legen. Außerdem wurde die Einrichtung eines Klimafonds
beschlossen, der zunächst mit 30 Milliarden, ab 2020 mit
100 Milliarden Dollar jährlich ausgestattet werden soll. Der
Fonds soll von der Weltbank verwaltet werden und ermög-
lichen, Klimaschutz und Armutsbekämpfung zu verbinden.

Weil die Vernichtung von Wald für mehr als 15 Prozent


der jährlich emittierten Treibhausgase verantwortlich ist,
wurde in Cancún ein Waldschutzabkommen verabschiedet,
das den Namen Reducing Emissions from Deforestation
and Forest Degradation (REDD+) trägt. Für den Erhalt
ihrer Wälder sollen Entwicklungsländer dabei finanzielle
Unterstützung durch die Industrienationen bekommen.
Insbesondere sollen dabei auch die Interessen indigener
Völker sowie der Schutz der Artenvielfalt berücksichtigt
werden. Wie das System finanziert wird, ob durch öffent-
liche Gelder oder im Rahmen des Emissionshandels, soll
2011 in Durban festgelegt werden.
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 35

Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundesumweltminister


Norbert Röttgen bewerteten das Abschlussdokument der
Klimakonferenz von Cancún als Erfolg und auch als Zeichen,
dass der UN-Prozess funktioniere. Röttgen plädierte aber
dafür, in der EU eine verbindliche Zielvor-
gabe von 30 Prozent Emissionsminderung Angela Merkel bezeichnete die Ergeb-
bis 2020 festzulegen. Merkel bezeichnete die nisse von Cancún als Schritt nach
vorne. Auch Greenpeace nannte die
Ergebnisse als Schritt nach vorne auf dem Ergebnisse ein Zeichen der Hoffnung.
Weg zu einem Kyoto-Nachfolgeabkommen.
Auch Greenpeace nannte die Ergebnisse ein Zeichen der
Hoffnung. Allerdings kritisierten Umweltverbände wie der
NABU, dass die USA, Japan, Kanada, Australien und China
konkretere Zusagen verhindert hätten.22

Die Herausforderung ist nun, Vorbereitungen für die Klima-


konferenz 2011 in Südafrika zu treffen. Das bedeutet, dass
die Staaten sich festlegen müssen, wie viele Emissionen
sie einsparen wollen und wie viel sie dafür bereit sind zu
zahlen. Die EU hat dazu bereits am 4. Februar 2011 einen
Energiegipfel veranstaltet.

EU-Energiegipfel

Auf der Tagung des Europäischen Rates, im Vorfeld auch


EU-Energiegipfel genannt, wurde in erster Linie über die
Entwicklung eines nachhaltigen und beschäftigungswirk-
samen Wachstums zur Erfüllung der Strategie Europa 2020
beraten. Als größtes Ziel setzten sich die 27 EU-Mitglieds-
länder die Vollendung des Energiebinnenmarktes bis 2014,
was u.a. einen Verbund der Gas- und Stromnetze sowie
gemeinsame technische Standards für Elektrofahrzeuge,
intelligente Netze und Zähler voraussetzt. Investitionen
in Energieeffizienz sollen zudem die Wettbewerbsfähigkeit
der EU steigern, ihre Energieversorgungssicherheit erhö-
hen und zu Nachhaltigkeit bei geringem Kostenaufwand
beitragen. In diesem Kontext wurde noch einmal hervor-
gehoben, dass eine Steigerung der Energieeffizienz um 20
Prozent bis 2020 unbedingt erreicht werden muss. Dazu
wird der Rat den neuen Aktionsplan der Europäischen
Kommission für Energieeffizienz prüfen und wenn nötig um

22 | Vgl. „Klimakonferenz: In den Jubel mischt sich Jammer‟,


Focus Online, 11.12.2010, http://www.focus.de/wissen/
wissenschaft/klima/weltklimakonferenz-2010/klimakonferenz-
in-den-jubel-mischt-sich-jammer_aid_580806 [05.02.2011].
36 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

weitere Maßnahmen erweitern.23 Ein besonderes Augen-


merk wird in diesem Zusammenhang auf Investitionen in
erneuerbare Energiequellen sowie sichere und nachhaltige
CO²-arme Technologien gelegt.

Der Europäische Rat befürwortet die In seinen Schlussfolgerungen befürwortet


Erarbeitung einer „Strategie 2050 für der Europäische Rat die Erarbeitung einer
eine CO2-arme Wirtschaft‟, um den
Empfehlungen des Weltklimarats zu „Strategie 2050 für eine CO²-arme Wirt-
folgen. schaft‟, um den Empfehlungen des Weltkli-
marats zu folgen. Nach dessen Berechnungen bedarf es
bis 2050 einer Reduktion der Treibhausgasemissionen um
80 bis 90 Prozent gegenüber 1990 seitens der Industrie-
länder – was nach wie vor eine „Revolution der Energiesys-
teme‟ erforderlich mache.24

Aussichten

Das Ziel einer Reduktion der Emissionen um 80 bis 90


Prozent bis 2050 stellt weltweit eine enorme Aufgabe für
die Zukunft dar, denn das Kyoto-Protokoll sorgt auf dem
Weg dorthin nur für die ersten fünf Prozent. Traditionell
nimmt die EU im Bereich der Klimapolitik für sich selbst
eine Vorreiterrolle in Anspruch. Um diesem Anspruch auch
weiterhin gerecht zu werden und effektiv zur Bekämpfung
der Erderwärmung beizutragen, muss sie aber noch einige
Herausforderungen überwinden.

So muss sich die EU zukünftig nach wie vor ehrgeizige Ziele


setzen, die Unternehmen in Europa einen echten Anreiz
für Innovation und die Investition in grüne Technologien
bieten. Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat dazu geführt,
dass in den vom Emissionshandelssystem erfassten Indus-
triezweigen deutlich weniger Treibhausgase ausgestoßen
wurden. Dadurch wiederum ist der Preis für Emissionszer-
tifikate so weit gesunken, dass es derzeit für Unternehmen
wenig attraktiv ist, in nachhaltige Jobs und Technologien zu

23 | Im November 2010 stellte Energiekommissar Günther Oettinger


einen Zehn-Jahres-Plan für die Energiepolitik der EU vor. Dabei
warnte er, ohne Atomkraft werde die EU ihre Energiesparziele
nicht erreichen können. Siehe dazu: „EU: Energiegipfel über
das neue Zeitalter – Teil 2‟, Greenmag, 12.01.2011,
http://greenmag.de/magazin/meldung/datum/2011/01/12/
alles-fuer-sonne-wind-wasser-und-atom-1.html [05.02.2011].
24 | Vgl. Rat der Europäischen Union, Tagung des Europäischen
Rates, Brüssel, 04.02.2011, Schlussfolgerungen, EUCO 2/11,
CO EUR 2 CONCL 1, 1-6.
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 37

investieren. Die EU sollte daher ihre Emissionsminderungs-


ziele diesen Entwicklungen anpassen und es sich zum Ziel
machen, ihre Ausstöße bis 2020 um 30 Prozent zu senken.
Dies wäre kaum teurer als das bisherige 20-Prozent-Ziel25,
würde aber die Glaubhaftigkeit der EU in internationalen
Klimaverhandlungen enorm stärken und auch die europä-
ische Wirtschaft für die Zukunft gut aufstellen. Die EU ist
bisher weltweit Marktführer im Bereich nachhaltiger Tech-
nologien. Wenn es ihr gelingt, der internationalen Gemein-
schaft zu zeigen, dass ein gesellschaftlicher Wandel hin zu
einer nachhaltigen Wirtschaft ohne Verzicht auf Wohlstand
möglich ist, wird sie von ihrer Position auch wirtschaftlich
enorm profitieren.

Doch selbst wenn die EU alle ihre Ziele erreicht, ist sie
auf die Unterstützung der internationalen Staatenge-
meinschaft angewiesen. Nur wenn auch die größten Emit-
tenten  – allen voran die USA, China und Indien  – bereit
sind, ihre Emissionen zu reduzieren, kann der Klimawandel
wirksam bekämpft werden. Die nächste Chance auf ein
internationales Abkommen bietet sich auf der UN-Klima-
konferenz im Dezember 2011 in Durban. Bis dahin müssen
alle Staaten zu Zugeständnissen bereit sein, um ein Nach-
folgeabkommen für das Kyoto-Protokoll zu erreichen.

Die Klimagipfel der vergangenen Jahre haben Nach Cancún reisten die meisten Ver-
gezeigt, dass im internationalen Klimaschutz treter mit geringen Erwartungen, aber
mit konkreten Vorschlägen für kleine
vor allem die kleinen Schritte zählen. Zum Fortschritte. So gelang die Einigung.
Klimagipfel nach Kopenhagen waren alle
Vertreter mit großen Erwartungen gereist. Im Nachhinein
war die Enttäuschung in der EU groß, dass die USA, China,
Indien und einige weitere Länder nicht bereit waren, die
anspruchsvollen Klimaziele der Europäer zu teilen. Nach
Cancún hingegen reisten die meisten Vertreter mit geringen

25 | Schätzungen zufolge würde eine Aufstockung auf 30 Prozent


lediglich elf Milliarden Euro mehr kosten als ursprünglich für
die Reduzierung um 20 Prozent erforderlich gewesen wäre.
Das entspricht weniger als 0,1 Prozent der Wirtschaftsleistung
der EU. Der Preis für verspätetes Handeln ist dagegen sehr
hoch: Laut Internationaler Energieagentur (IEA) verursachen
Verzögerungen bei den Investitionen in kohlenstoffarme Ener-
giequellen weltweit Kosten in Höhe von 300 bis 400 Milliarden
Euro pro Jahr. Siehe dazu: Jean-Louis Borloo, Chris Huhne und
Norbert Röttgen, „30 Prozent weniger Emissionen bis 2020‟,
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.07.2010, http://faz.net/-
01d9g0 [08.02.2011].
38 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

Erwartungen, dafür aber mit konkreten Vorschlägen für


kleine Fortschritte. So gelang die Einigung auf ein gemein-
sames Abkommen, das von allen Staaten getragen wird.

Die EU muss als Vorreiter in der Klimapolitik also einerseits


weiterhin ehrgeizige Ziele verfolgen, sich aber gleichzeitig
der Tatsache bewusst sein, dass das Thema in anderen
Ländern nicht den gleichen Stellenwert genießt. Um
Länder wie die USA mit ins Boot zu holen, muss die EU
zu Kompromissen bereit sein. Wenn sie auf der interna-
tionalen Ebene als Vorbild, nicht aber als Lehrer auftritt,
könnten in Durban weitere wichtige Fortschritte für den
Klimaschutz erreicht werden. Ob dies allerdings ausreicht,
um den globalen Temperaturanstieg langfristig auf zwei
Grad Celsius zu begrenzen, bleibt offen.

Der Artikel wurde am 11. Februar 2011 abgeschlossen.


4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 39

Emerging powers
Die IBSA-Staaten als Partner und Anführer
im globalen Kampf gegen den Klimawandel 1

Romy Chevallier

Die globalen Herausforderungen des Klimawandels können


einzelne Länder und Regionen nicht alleine meistern.
Angesichts der Größe und des Ausmaßes der erforderlichen
Maßnahmen liegt die einzige Lösung in einem gemein-
samen Handeln der Industriestaaten und der Entwick-
lungsländer. Die sogenannten IBSA-Staaten, Indien,
Brasilien und Südafrika, entwickeln sich weltweit mehr und
mehr zu bedeutenden globalen Akteuren und strategischen Romy Chevallier ist
Partnern in der Umweltpolitik. Aufgrund der wesentlichen Forscherin und Projekt-
koordinatorin am
Veränderungen in der geopolitischen Landschaft und der South African Institute
zunehmenden politischen und wirtschaftlichen Bedeu- of International Affairs
tung dieser Staaten ist es wichtig, ihren Beitrag zu einer (SAIIA) in Johannes-
burg.
angemesseneren globalen Regelung der Klimaproblematik
zu berücksichtigen. Da diese Länder aber mit gewaltigen
internen Problemen konfrontiert sind, gilt es, neue Formen
der Zusammenarbeit zwischen traditionellen Akteuren und
neuen Partnern zu Themen von internationaler Bedeutung
aufzuzeigen.

Alle IBSA-Mitgliedstaaten stehen ähnlichen Herausforde-


rungen gegenüber: Sie müssen sich gleichzeitig mit der
Energiesicherheit, dem Klimawandel und der sozioökono-
mischen Entwicklung auseinandersetzen. Diese gemeinsa-
men, politisch relevanten Themen bilden die Hauptpfeiler,
um die herum die betroffenen Regierungen potentielle
Verbündete und geeignete Foren des Dialogs mit Schlüssel-

1 | Eine Version dieser Arbeit wurde ursprünglich verfasst für


„New directions in the ‚South‛? Assessing the Importance and
Consequences of the India-Brazil-South Africa Dialogue Forum
(IBSA) to International Relations‟, IUPERJ, 23.-24. Juni 2008,
Rio de Janeiro, Brasilien. In diesem Kapitel verweist die
Autorin ebenfalls auf ihre Arbeit in der SAIIA-Publikation
Climate Change and Trade, die demnächst veröffentlicht wird.
40 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

partnern der südlichen Hemisphäre suchen. Vor dem


Hintergrund der aktuellen Verhandlungen zur zweiten
Phase des Kyoto-Protokolls und der nächsten Gesprächs-
runde zur Bali-Roadmap im Dezember 2011 in Durban
steht die IBSA-Kooperation weit oben auf der Reduktions-
agenda. Die nächste Phase sieht für große Treibhausga-
semittenten Strafen für die Nichteinhaltung der Redukti-
onsmaßnahmen vor. Große Entwicklungsländer werden in
diesem Zusammenhang mit bedeutenden Reduktions- und
Entwicklungsherausforderungen konfrontiert werden. Des-
halb ist es an der Zeit, den Dialog und die Partnerschaft
zwischen Förder- und Verbraucherländern fossiler Brenn-
stoffe zu erweitern und zu stärken.

Da die Entwicklungsländer für die negativen Auswirkungen


der Klimaänderung am anfälligsten sind2, ist es von entschei-
dender Bedeutung, dass sich gerade diese Länder proaktiv
an dieser Diskussion beteiligen. Ihre Anfälligkeit ergibt
sich aus den sozioökonomischen Herausfor-
Armut, Abhängigkeit von den durch die derungen, mit denen alle Entwicklungsländer
klimatischen Veränderungen betroffe- konfrontiert sind: Die vorherrschende Armut,
nen Branchen, schlechte Regierungs-
führung – all dies untergräbt die Fähig- die Abhängigkeit von den durch die klimati-
keit, sich dem Klimawandel anzupassen. schen Veränderungen betroffenen Branchen,
der beschränkte Zugang zu den Kapital- und
Weltmärkten, vielfach schlechte Regierungsführung, die
Verschlechterung des Ökosystems, komplexe Katastro-
phen und Konflikte und die rasche Urbanisierung und
Überbevölkerung – all dies untergräbt die Fähigkeit dieser
Gesellschaften, sich der Klimaänderung anzupassen, und
steigert ihr Verarmungsrisiko.3

Diese gemeinsamen Wirtschafts-, Entwicklungs- und


Sicherheitsauswirkungen haben eine spürbare Verände-
rung bei den Entscheidungsträgern im Süden bewirkt,
sowohl in der Diskussion zum Klimawandel als auch in der
zunehmenden Kooperation auf einer Vielzahl von Ebenen.

2 | 2007 Vierter Sachstandsbericht (AR4), der UN-Weltklimarat


(IPCC) und das UN-Entwicklungsprogramm, Fighting Climate
Change: Human Solidarity in a Divided World, Human Deve-
lopment Report, 2007/08 (New York: Palgrave Macmillan,
2007) 18–19.
3 | Boko, Niang, Nyong, Vogel, Githeko et al., Climate Change
2007: Impacts, Adaptation and Vulnerability, Beitrag der
Arbeitsgruppe II zum Vierten Sachstandsbericht des IPCC,
Cambridge University Press, Cambridge.
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 41

IBSA und die Reduktion der Treibhausgase: eine


gemeinsame Position der südlichen Staaten?

Die Reduktion von Treibhausgas (THG) stellt für alle Schwel-


lenländer der südlichen Hemisphäre, deren Energiemix
überwiegend aus günstiger, auf Kohle basierender Energie
zusammengesetzt ist, eine gemeinsame Herausforderung
dar. Schwellenländer spielen „bei der Reduzierung von
THG-Emissionen eine wesentliche Rolle, da künftige Emis-
sionen voraussichtlich vom Wachstum in den Entwicklungs-
ländern dominiert sein werden‟.4 In der gegenwärtigen
Verhandlungsrunde zum Klimawandel ist ein steigender
Druck auf die Nicht-Annex-I-Staaten5 zu beobachten,
damit diese ihre eigenen Reduktionsstrategien in die Wege
leiten und sich aktiv und verantwortungsvoll an der Klima-
wandelregelung nach 2012 beteiligen.

Wichtig ist dabei, dass die Entwicklungsländer eine


gemeinsame Position zum Klimawandel einnehmen, um
sicherzustellen, dass die im Dezember stattfinden­den
Verhandlungen zum Rahmenübereinkommen der Verein-
ten Nationen über Klimaänderungen (UNFCC) eine Lösung
dieses Problems anstreben, und dies in Form einer neuen
und gerechten multilateralen Vereinbarung,
welche die Situation der Entwicklungsländer Eine gemeinsame Position der Staaten
berücksichtigt. Das Gewicht sollte daher auf der südlichen Hemisphäre würde den
Entwicklungsländern eine stärkere
folgende Punkte verlagert werden: strengere Verhandlungsposition ermöglichen.
Emissionsreduzierungen in der nördlichen
Hemis­phäre, internationale Unterstützung der Entwick-
lung durch zusätzliche Finanzierung, ein angemessener
Technologietransfer und Kapazitätsaufbau, Best-Practice-
Anreizmechanismen und Finanzierungsmaßnahmen für
jene Staaten, die sich an die negativen Auswirkungen
der Klimaänderung anpassen müssen. Eine in diesen
Punkten gemeinsame Position der Staaten der südlichen
Hemisphäre würde den Entwicklungsländern eine stärkere

4 | Professor Winkler vom Energy Research Centre in Südafrika


zitiert nach Tyrer, „Rough Road: South Africa’s path on the
steep and rocky road to Copenhagen‟, Engineering News,
20.-26.02.2009.
5 | „Nicht-Annex-Staaten‟ ist eine Klassifizierung des UNFCCC,
die sich auf Entwicklungsländer bezieht, die aufgrund der
plötzlichen Entwicklung und sozio-ökonomischer Zwänge keine
rechtlichen Verpflichtungen haben, ihre THG-Emissionen in
dieser Kyoto-Periode (2008-2012) zu reduzieren.
42 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

Verhandlungsposition ermöglichen. Abgestimmte Stand-


punkte in Form einer Allianz (IBSA, BASIC, aber auch
andere), als auch weitere einseitige und freiwillige Ver-
pflichtungen seitens der Entwicklungsländer würden ein
ehrgeizigeres globales Abkommen6 unterstützen und auf
die Vereinigten Staaten, Kanada, Japan und Australien
sowie weitere große THG-Emittenten zusätzlichen Druck
ausüben.

Eine Zusammenarbeit zwischen den Entwicklungsländern


im Bereich Klimawandel kann jenseits einer Verpflichtung
auf multilateraler Ebene auch auf vielen anderen Ebenen
zustande kommen. So ist es zum Beispiel von wesentlicher
Bedeutung, dass die IBSA-Staaten die Genauigkeit und
Verfügbarkeit ihrer wissenschaftlichen Prognosen und der
dazugehörigen Daten verbessern. Sie sollten außerdem
durch Hervorhebung der potentiellen wirtschaftlichen
Vorteile einer Green Economy auch bei der Suche nach
Methoden zur Reduzierung der Kohlenstoff­emissionen
mitwirken.

Kooperation zur Verbesserung


von Klimaprognosen

Die Entwicklungsländer sind im Bezug auf die Auswir-


kungen des Klimawandels nur unzureichend mit effektiven
Frühwarnsystemen und Reaktionsmecha-
Zur Vorhersage von Klimaschwankun- nismen ausgestattet. Um die Vorhersage
gen und der Analyse möglicher Auswir- der Klimaschwankungen und die Analyse
kungen bedarf es einer Kooperation
zur Erschließung umfangreicherer Kli- ihrer möglichen Auswirkung in den anfälligen
madaten. Sektoren zu ermöglichen, bedarf es einer
Kooperation zur Erschließung umfangreicherer Klimadaten
und zur Entwicklung von Analysefähigkeiten. Die Daten-
sammlung und -analyse kann mit Hilfe internationaler
Partner auf nationaler Ebene erfolgen  – zum Beispiel
durch den Bau von Wetterstationen und die Ausbildung
von Fachpersonal, oder auf internationaler Ebene durch
die Kooperation hinsichtlich wissenschaftlicher Daten und
Informationen zum Klimawandel.

6 | „G8 Climate Scorecards 2009‟, Im Auftrag von Allianz und


WWF, 07/2009. Beteiligte Autoren: Hohne, Eisbrenner,
Hagemann und Moltmann.
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 43

Dem Projekt über natürliche Ressourcen und die Umwelt


des CSIR (Südafrika) zufolge hat Australien als einziger
Staat der südlichen Hemisphäre ein gekoppeltes globales
Klimamodell entwickelt, das die globale Klimaänderung
vorhersagen kann. Alle anderen Staaten des geographi-
schen Südens sind bezüglich der Vorhersagen der globalen
Klimaänderung auf die Staaten der nördlichen Hemisphäre
angewiesen. Es besteht also Bedarf an einer aktiveren
Mitwirkung von Ozeanographen, Klimaforschern, Erdöko-
logen und Entwickler eines gekoppelten Klimamodells, um
die Simulationen der Zirkulationsdynamik der südlichen
Hemisphäre zu optimieren.

In Brasilien und Südafrika ist in letzter Zeit ein Fortschritt in


der Entwicklung gekoppelter Klimamodelle zu beo­bachten,
welche die Abgabe von Prognosen zur globalen Klimaän-
derung ermöglichen. Zusammen mit einer ausreichenden
Datensammlung würden diese Ausgangsdaten wesentlich
zum Verständnis des Klimawandels beitragen und genauere
und zutreffendere Vorhersagen des Klimawandels für ihre
jeweiligen Regionen ermöglichen.

Mitigationskooperation

Die größten Kohlenstoffdioxidemittenten in absoluten


Zahlen befinden sich nicht nur in den reichen Ländern,
sondern auch in den Schwellenländern. Diese sind derzeit
für mehr als 50 Prozent der globalen Kohlenstoffdioxid-
emissionen verantwortlich (Zahlen von 2007).7 In China
haben das schnelle Wirtschaftswachstum, ein großer
Produktionssektor und der rasche Bevölkerungszuwachs
dazu geführt, dass Peking die USA als weltweit größten
Umweltsünder überholt hat.8 Brasilien und Indien sind im
Emissionsranking ebenfalls aufgestiegen, da ihre Volks-
wirtschaften weiter gewachsen sind.

7 | Es wird prognostiziert, dass im Jahr 2030 die CO2-Emissionen


aus China und Indien gemeinsam 34 Prozent des weltweiten
Ausstoßes ausmachen werden, wobei China allein für 28 Pro-
zent der weltweiten Emissionen verantwortlich sein wird. 
Energie-Informationsverwaltungszentrale des US-Energie-
ministeriums, International Energy Outlook 2008, Washington,
D.C., Juni 2008, http://eia.doe.gov/oiaf/ieo/pdf/0484(2008).
pdf [08.03.2011].
8 | Euromonitor: Energie-Informationsverwaltungszentrale des
US-Energieministeriums, 12/2010, http://euromonitor.com/
Mapping_global_pollution_The_worlds_biggest_polluters
[08.03.2011].
44 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

Diese Zahlen berücksichtigen allerdings weder den histori­


schen Beitrag der THG-Emissionen der entwickelten Länder
noch den derzeitigen Stand der Entwicklung, des Wirt-
schaftswachstums, der Bevölkerung oder der Industriali-
sierung der Entwicklungsländer.9 Es ist daher verständlich,
dass die IBSA-Mitgliedstaaten zusammen
Indien und China unterstützen bei mit China bei den UNFCC-Verhandlungen auf
den internationalen Verhandlungen eine gerechte Klimaverantwortung beharren.
eine „Pro-Kopf-Gleichberechtigung mit
Berücksichtigung der historischen Ver- Indien und China unterstützen folglich bei
antwortung‟. den internationalen Verhandlungen eine
„Pro-Kopf-Gleichberechtigung mit Berücksichtigung der
historischen Verantwortung‟. Südafrika, das derzeit nach
dem pro-Kopf-Verhältnis gerechnet einer der größten
Emittenten unter den Entwicklungsländern ist, besteht
eher auf entsprechende nationale Reduktionsmaßnahmen
(NAMAs) – unter Berücksichtigung des Standes der Wirt-
schaft und des Fortschritts in den Entwicklungsländern.

Strenge Reduktionsverpflichtungen stehen oft in Span-


nung zu den Entwicklungsprioritäten, da der Hauptteil der
Emissionen in den Entwicklungsländern vom Energie- und
Transportsektor stammt und diese beiden Sektoren für die
Aufrechterhaltung der nationalen Wirtschaftsentwicklung
von wesentlicher Bedeutung sind. Außerdem verursacht
die Elektrizität, die aus fossilen Brennstoffen gewonnen
wird (wie Kohle, die in vielen afrikanischen und asiatischen
Ländern im Überfluss zu finden ist), zwar hohe THG-Emis-
sionen, liefert aber Strom zu verhältnismäßig geringen
Kosten.10 In Südafrika sind zum Beispiel die einträglichsten
Sektoren extrem kohleabhängig. 90 Prozent der Elektrizität
wird hier aus Kohle erzeugt. Ein Entwicklung hin zu einer
effizienteren Nutzung von Kohle wäre extrem kostenauf-
wändig und würde auch zu zahlreichen Herausforderungen
in der kurzfristigen Stromversorgung führen.

9 | Die heutigen Industrieländer haben zwischen 1850 und 2002


drei Mal mehr CO2 aus fossilem Brennstoff emittiert als die
heutigen Entwicklungsländer (Baumert, Herzog et al., 2005).
Sie konnten ihre Entwicklungs- und Industrialisierungsziele
ohne Emissionsauflagen erreichen. Entwicklungsländer brau-
chen auch einen gewissen Raum, damit sie die Grundbedürf-
nisse ihrer Bevölkerungen erfüllen können.
10 | Derzeit gibt es weltweit ca. 850 Milliarden Tonnen Kohlevor-
räte, von denen etwa 50 Milliarden in Afrika vorkommen.
Kohle ist einer der geographisch am weitesten verbreiteten
fossilen Brennstoffe.
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 45

Der Konflikt zwischen dem Bedarf nach einer Reaktion


auf die Klimaänderung und der Förderung von Entwick-
lungszielen stellt für die demokratische Regierungsführung
in allen Entwicklungsländern eine Zwangslage dar, da die
Politik in jedem Land bereit sein muss, mit Blick auf die
langfristige Gewinnerzielung enorme Anlaufkosten für
die Reduktions- und Anpassungsprogramme zu zahlen.
Dies erfordert von den politischen Führern, über die
Wahlperioden hinauszuschauen und ihre Wähler vorzu-
bereiten  – dies gilt insbesondere für jene Länder, die am
anfälligsten sind. Deshalb ist es unbedingt erforderlich,
dass die Wirtschaftsprogramme der Entwicklungsländer
durch Maßnahmen zur Reduktion und Anpassung an die
Klimaschwankungen ergänzt werden, die keineswegs als
entwicklungs­hindernd betrachtet werden dürfen.11

Aus diesen und anderen Gründen ist es für Entwicklungsländer müssen die Chan-
die Entwicklungsländer von Bedeutung, cen des Wirtschaftswachstums nutzen,
die sich durch einen kohlearmen Ent-
Kooperationen einzugehen, die auch die wicklungsverlauf ergeben.
Wirtschaft voranbringen können. Sie müssen
die Chancen wirtschaftlichen Wachstums nutzen, die sich
durch einen kohlearmen Entwicklungsverlauf ergeben.
Dazu gehört zum Beispiel ein gemeinsames Investieren in
die Erforschung und Entwicklung von Projekten für saubere
Energie.

Mitwirkung der Entwicklungsländer


an einem Anpassungsprogramm

Unabhängig vom Ergebnis der Verhandlungen des Kyoto-


Protokolls werden sich alle Länder an die Änderungen
anpassen müssen, die ihnen die globale Klimaerwärmung
aufzwingt. Die Reduktionsmaßnahmen allein werden nicht
ausreichen. Sie müssen durch Anpassungsmaßnahmen
ergänzt werden. Die Anpassung bezieht sich auf die ver-
schiedenen Mittel zur Lösung der Anfälligkeit der Entwick-
lungsländer aufgrund der Klimaänderung und der damit
verbundenen Auswirkungen für die Gegenwart und auch
für die Zukunft.12 Die Anfälligkeit eines Landes hängt dabei
nicht nur von den Klimaschwankungen ab, sondern auch

11 | Vgl. Institute for Development Studies, „Climate change


adaptation‟, IDS In-Focus, 2, 11/2007.
12 | Romy Chevallier, „Integrating adaptation into development
strategies: The Southern African perspective in Climate and
Development‟, Earthscan, Bd. 2, Nr. 2, 2010, 191-193.
46 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

von der Fähigkeit seiner Regierung, die Nutzungseffizienz


natürlicher Ressourcen und der Stromversorgung zu
erhöhen. Um den ärmeren Nationen bei der Umstellung
auf nachhaltigere Entwicklungsmethoden zu helfen, sind
oft finanzielle, technische und institutionelle Unterstüt-
zung sowie Kapazitätsaufbau erforderlich. Selbst wenn
bei einzelnen Ländern die Kostenschätzung rudimentär
und von Unsicherheiten abhängig ist, ist im
Laut Stern Review könnte die Nichter- Falle eines Temperaturanstiegs von zwei bis
greifung von Maßnahmen gegen den drei Grad Celsius ein jährlicher Verlust des
Klimawandel weltweit Kosten von bis
zu fünf Trillionen US-Dollar verursa- globalen Bruttoinlandsprodukts in Höhe von
chen. null bis drei Prozent zu erwarten.13 Laut Stern
Review könnte die Untätigkeit – das heißt, die Nichtergrei-
fung von Maßnahmen gegen die Klimaänderung – weltweit
Kosten von bis zu fünf Trillionen US-Dollar verursachen.
Stern sagt ferner voraus, dass die erlittenen Verluste,
wenn Länder mit hohen Emissionen ihren „Business-as-
usual‟-Ansatz fortführen, jährlich fünf bis 20 Prozent des
weltweiten BIP ausmachen könnten.14

Entwicklungsländer (insbesondere kleine Inselstaaten und


am wenigsten entwickelte Länder) sind für diese Auswir-
kungen am anfälligsten, wobei die meisten von ihnen jetzt
schon heftigen, klimabedingten Belastungen ausgesetzt
sind, wie zum Beispiel der Zunahme der Wasserknapp-
heit, extremen Wetterbedingungen von zunehmender
Häufigkeit und Intensität, Unvorhersehbarkeit von
Niederschlägen und der Abnahme der Ernteerträge. Alle
Entwicklungsländer werden ihre nationalen und regionalen
Regierungskapazitäten aufbauen müssen, um diesen
Klimagefahren Rechnung zu tragen, unter anderem, indem
sie ein besseres Wassermanagement, die Förderung der
landwirtschaftlichen Entwicklung und die Entwicklung
effektiverer Katastrophenmanagement- und Frühwarnsys-
temen gewährleisten. Der Wissensaustausch über „Best
Practice‟-Anpassungsstrategien kann für die Städtepla-
nung und die Errichtung einer klimawiderstandsfähigen
Infrastruktur entscheidend sein.

13 | John Llewellyn, The Business of Climate Change: Challenges


and Opportunities, Lehman Brothers, 02/2007,
http://lehman.com/press/pdf_2007/TheBusinessOfClimate
Change.pdf [08.03.2011].
14 | Nicholas Stern, Stern Review on the Economics of Climate
Change (London, Cambridge, 2006).
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 47

Eine effektive Anpassung ist allerdings kostspielig und


nicht nur mit bedeutenden Investitionen auf dem Gebiet
der Forschung, Bewusstseinsbildung und Kapazitätsaufbau
verbunden, sondern auch mit praktischen Maßnahmen wie
etwa der „Klimafestigkeit‟ der Infrastruktur. Eine Anpas-
sung erfordert daher erhebliche finanzielle Unterstützung.
Laut einer Schätzung des Berichts über humane Entwick-
lung des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP) bedürften
arme Länder bis 2015 etwa 86 Milliarden US-Dollar jährlich
an zusätzlicher Finanzierung, um sich an die Folgen der
Klimaänderung anpassen zu können.15 Der Bericht erläu-
tert, dass für denselben Zeitraum „zur Prüfung der Klima-
widerstandsfähigkeit dieser Entwicklungsinvestitionen min-
destens 44 Milliarden US-Dollar notwendig wären‟.16
Dies käme zur finanziellen und personellen Belastung der
schon strapazierten Ressourcen der Entwicklungsländer
hinzu. Die internationale Antwort auf die Anpassung an
den Klimawandel hat hier versagt. Zwar wurden etliche
zweckbestimmte und multilaterale Finanzierungsmecha­
nismen geschaffen, doch bislang wurden nur geringe
Beträge ausgezahlt.

Bis heute betont IBSA die Dringlichkeit dieser Angelegen-


heit und die noch unangemessene Antwort des Nordens.
Es ist von großer Bedeutung, dass die IBSA-Staaten sich
weiterhin in dieser Hinsicht engagieren und gemeinsam
weitgehende Verpflichtungen der Industrienationen for-
dern.

Tabelle 1
Freiwillige Verpflichtungen in der Kopenhagener
Erklärung

Indien 20 bis 25 Prozent Reduktion der Kohlenstoffinten-


sität (Kohlenstoffdioxidemissionen pro BIP-Einheit)
bis 2020 im Vergleich zu den Niveaus von 2005

Südafrika (Finanzierungsabhängige) Reduktion der Emissio-


nen um 34 bzw. 42 Prozent unter dem „Business-as-
usual‟-Ansatz bis 2020 bzw. 2025

Brasilien Reduktion der Emissionen um 39 Prozent bis 2020


unter dem „Business-as-usual‟-Ansatz

Quelle: UNFCCC Webseite, Nationally appropriate mitigation actions


of developing country Parties, 2010. http://unfccc.int/home/items/
5265.php [08.03.2011]

15 | UNDP, Fn. 2, 194.


16 | Ebd., „Zusammenfassung‟, 25; Angaben von 2005.
48 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

Die zukünftige Rolle der Entwicklungsländer

Trotz der gemeinsamen Herausforderung des Klima-


wandels vertreten die Länder in den Verhandlungen
primär ihre nationalen Standpunkte. Es wäre naiv, von
ihnen zu erwarten, dass ihr Antrieb nicht von den nati-
onalen Akteuren und Inte­ressen und örtlichen Realitäten
ausginge. Um bei den Koalitionen einen Fortschritt in
Bezug auf die Klimaänderung zu erzielen und die globale
Agenda in dieser Hinsicht zu beschleunigen, könnte es
von Nutzen sein, sich auf weniger kontroverse Fragen zu
konzentrieren und vorab in den Bereichen der Ressourcen
mit den niedrigsten Opportunitätskosten voranzukommen.
Gemeinsame Positionen können auf einer Vielzahl von
Ebenen erzielt werden. So können zum Beispiel zahlreiche
afrikanische Länder, die noch auf fossile Brennstoffe als
primäre Energiequelle angewiesen sind, durch die Teil-
nahme an Kooperationsbündnissen mit industrialisierten
Ländern enorme Erfahrung sammeln, insbesondere beim
Versuch, ihre Energiepolitik durch Erneuerbare Energien
und kohleeffiziente Technologien zu reformieren. Große
Entwicklungsländer haben in Bezug auf eine kohleredu-
zierte Zukunft ebenso Initiative gezeigt und Fortschritte
bewiesen und sich rasch zu wichtigen Erzeugern von Tech-
nologien für Erneuerbare Energien entwickelt. Außerdem
sind die Entwicklungsländer nach der Unterzeichnung frei-
williger Verpflichtungen zur Emissionsreduzierung (Tabelle
1) im Begriff, nationale Pläne zur Umsetzung der Redukti-
onsmaßnahmen zu entwickeln, inklusive weiterer Zielvor-
gaben in Bezug auf Erneuerbare Energien (Tabelle 2).

Tabelle 2
Umgesetzte Zielvorgaben für erneuerbare Energien

Land Zielvorgabe Fortschritt

Indien Zehn Prozent der Energie- Indien ist auf dem Weg, das Ziel bezüglich der er-
erzeugung bis 2012 neuerbaren Energie zu erreichen oder zu übertreffen,
da das Land schon 2009 acht Prozent erreicht hatte.

Brasilien 46 Prozent bis 2020 Brasilien hält diesen Anteil aufrecht


aufrechterhalten

China Zehn Prozent bis 2010 und China erreichte 2006 einen Anteil von acht Prozent
15 Prozent bis 2020 seiner primären Energieerzeugung aus erneuerbaren
Quellen. Nun setzt es auf Wind- und Sonnenenergie,
um diese Ziele zu erreichen.

Quelle: Renewables 2007: Global Status Report and REN21:


RE Policy Network for 21st Century (2007)
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 49

Indien

Obwohl die Inder 17 Prozent der Weltbevölkerung ausma-


chen, betragen ihre weltweiten THG-Emissionen lediglich
4,6 Prozent. Die indische Pro-Kopf-Emissionsrate von 1,5
Tonnen Kohlenstoffdioxid liegt weit unter dem Weltdurch-
schnitt. In Zahlen ausgedrückt ist Indien allerdings der
viertgrößte Emittent, wobei seine Emissionen aufgrund
des schnellen Wirtschaftswachstums, der Bevölkerungs-
expansion und der Urbanisierung rasant zunehmen.17 Mit
der Kohle als Hauptstütze der indischen Energiewirtschaft
kommen Kohlekraftwerke für zwei Drittel der gesamten
Elektrizitätserzeugungskapazität von 135.000 MW auf. In
den Jahren 2003 bis 2004 wurden 62 Prozent der indischen
Energie aus Kohle und nur 36 Prozent aus Öl gewonnen.18

Indien verzeichnet in Bezug auf klimafreundliche Maß-


nahmen, insbesondere im Bereich der Erneuerbaren Ener-
gien und der sauberen Kohletechnologie, Fortschritte.
Heute besitzt Indien die viertgrößte instal-
lierte Windkraftkapazität weltweit, mit der Der Anteil von Energie aus erneuer-
zur Zeit 7.000 Megawatt erzeugt werden.19 baren Quellen betrug in Indien 2009
mehr als acht Prozent. Die Regierung
In 2009 kamen Erneuerbare Energien für war auch in Bezug auf Marktmechanis-
mehr als acht Prozent der gesamten Energie- men und Anreizprogramme erfolgreich.
produktion Indiens auf.20 Die indische Regie-
rung war auch in Bezug auf Marktmechanismen und
Anreizprogramme zur Förderung unabhängiger Stromer-
zeuger im nationalen Anbieternetz erfolgreich. Laut elftem
Fünfjahresplan (2006 bis 2012) wurden entsprechende
Regelungspolitiken erlassen und umgesetzt, um diese
Bewegung zu erleichtern und die Reduzierung der Ener-
gieintensität Indiens zwischen 2007/2008 und 2016/2017
um 20 Prozent pro BIP-Einheit zu fördern. Mitte des Jahres
2008 setzte Indien auch einen anspruchsvollen Natio-
nalen Aktionsplan zur Klimaänderung (NAPCC) hinsichtlich

17 | WWF Report 2010, Emerging Economies: How the developing


world is starting a new era of climate change leadership,
11/2010, http://assets.panda.org/downloads/ emerging_
economies_report_nov_2010.pdf [25.03.2011].
18 | Climate Brief 2, India’s Climate Change Policy and Trade
Concerns: Issues, Barriers and Solutions, Centre for Trade
and Development.
19 | „India: Addressing Energy Security and Climate Change‟,
Ministry of Environment and Forests and Ministry of Power
Bureau of Energy Efficiency, Government of India, 10/2007.
20 | WWF Report 2010, Fn. 16.
50 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

Reduktion, Anpassung und strategischer Eingliederung von


Wissen um.21

Die indische Regierung ist ähnlich wie Südafrika fest davon


überzeugt, dass ihre nationale Klima- und Energiepolitik
keinen negativen Einfluss auf das BIP-Wachstum haben
wird. Indien steht immer noch vor großen Entwicklungs-
herausforderungen: Ungefähr 55 Prozent der Bevölkerung
(600 Millionen Menschen) haben keinen Zugang zur
gewerblichen Energieversorgung.22 Zudem wird erwartet,
dass die Menge der indischen Emissionen aus der Stromer-
zeugung bis 2030 um das Sechsfache steigen wird, da der
Dienstleistungssektor in Indien ein erhebliches Wachstum
verzeichnet.23

Brasilien

Der Energiesektor in Brasilien trägt aufgrund extensiver


Nutzung von Wasserkraft nur wenig zu den THG-Emissi-
onen des Landes bei und verzeichnet auch
Drei Viertel der Emissionen Brasiliens eine geringe Emissionsintensität im Bereich
sind das Ergebnis der Abholzung und der Elektrizitätserzeugung. Drei Viertel der
der nicht nachhaltigen Bodennutzung.
Emissionen aus der Rinderzucht sind Emissionen Brasiliens sind das Ergebnis
ebenfalls bedeutend. der Abholzung und der nicht nachhaltigen
Bodennutzung, da sich die landwirtschaftlichen Nutzflächen
hauptsächlich in der Region des Amazonas befinden. Der
Boden wird in dieser Hinsicht vorwiegend für große Soja-
bohnenplantagen und Rinderzucht genutzt. Die Emissionen
Brasiliens aus der Rinderzucht sind ebenfalls bedeutend.

Nach Brasiliens Argumentation liegt die Verantwortung


eher in dem historischen Beitrag der Länder zum globalen
Temperaturanstieg, da CO2 im Durchschnitt mehr als ein
Jahrhundert in der Atmosphäre verbleibt. Folglich hat sich
Brasilien bei den internationalen Verhandlungen geweigert,

21 | Prasad and Kochhner, „Climate change and India – Some


major issues and policy implications‟, Department of Econo-
mic Affairs and Ministry of Finance, Government of India,
Working Paper 2/2009-DEA, 03/2009.
22 | E. Somanathan, „What do we expect from an international
climate agreement? A perspective from a low-income country‟,
12/2008. Discussion Paper 08-27, 11, The Harvard Project on
International Climate Agreements, Harvard Kennedy School,
Indian Statistical Institute.
23 | „Melting Asia-China, India and climate change‟, The Economist
(US), 05.06.2008.
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 51

vor Mitte des Jahrhunderts Emissionszielvorgaben für sich


zu akzeptieren. Dennoch entwickelte die Regierung im
Dezember 2008 einen Nationalen Plan zur Klimaänderung
(PNMC), sowie eine eindrucksvolle Erfolgsbilanz im Sektor
der Erneuerbaren Energien. Laut Brasiliens Minister für
Minen und Energie werden 46 Prozent der Primärenergie in
Brasilien aus regenerativen Quellen erzeugt. Im Jahre 2002
verabschiedete der brasilianische Kongress ein Gesetz zur
Schaffung eines obligatorischen Marktes für Erneuerbare
Energien. Das so genannte PROINFA-Programm unter-
stützt unabhängige Stromerzeuger darin, das nationale
Elektrizitätsnetz mit Strom aus Erneuerbarer Energie zu
versorgen (inklusive der Biomasse, kleiner Wasserkraft-
werke und Windkraft).

In Verbindung mit den von Präsident Lula eingeführten


Fördergeldern zur Erweiterung der Attraktivität privater
Investitionen in die Wasserkrafterzeugung hat PROINFA
bewirkt, dass die brasilianische Stromerzeugung zu 85
Prozent auf Wasserkraft basiert.24 Darüber hinaus wurde
das nationale Ethanol-Programm Brasiliens zur weltweit
größten gewerblichen Anwendung von Biomasse für die
Energieerzeugung und -nutzung. Dieses Programm zeigt
im Verfahren zur Herstellung von Kraftstoffen für Kraft-
fahrzeuge die Möglichkeit der ausgeweiteten Ethanolge-
winnung aus Zuckerrohr.25

Brasilien, die Heimat eines der größten Öko- Brasilien führte einen nationalen Plan
systeme und Wälder des Planeten, hat ein zur Vorbeugung und Bekämpfung der
Entwaldung ein, der die Abholzung
multisektorales Programm entwickelt, um im Amazonas bis 2017 um 70 Prozent
mit Hilfe eines Satelliten-Überwachungssys- reduzieren soll.
tems die Abholzung in der Amazonas­region
zu bekämpfen. Zwischen 2005 und 2007 konnte die Abhol-
zungsrate um 52 Prozent reduziert werden.26 Außerdem

24 | International Energy Outlook 2010, U.S. Energy Information


Administration, http://eia.doe.gov/oiaf/ieo/electricity.html
[25.03.2011].
25 | La Rovere und Pereira, „Brazil & climate change: a country
profile‟, Policy Briefs, Science and Development Network,
14.02.2007. http://www.scidev.net/en/policy-briefs/brazil-
climate-change-a-country-profile.html [18.03.2011].
26 | Dies ist Bestandteil eines Vortrags zum Thema „Die Klima-
änderung, eine globale Herausforderung‟ des Generaldirektors
des Amtes für Umwelt und Sonderthemen des Außenministe-
riums, Minister Machado. Botschaft von Brasilien in London,
„Klimaschutzpolitik‟, 08/2007.
52 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

führte Brasilien einen nationalen Plan zur Vorbeugung und


Bekämpfung der Entwaldung ein, der die Abholzung im
Amazonas bis 2017 um 70 Prozent reduzieren soll.27

Südafrika

Südafrika ist Nummer 13 auf der Liste der weltweit größten


Kohlenstoffdioxidemittenten  – mit einer Pro-Kopf-Emissi-
onsrate, die nur leicht unter jener der industrialisierten
Länder und weit über dem Durchschnitt der Entwicklungs-
länder liegt. Die Emissionen aus der Energieversorgung
und -nutzung machen den Hauptanteil der südafrikani-
schen Emissionen aus (91 Prozent), wovon 40 Prozent aus
der Stromerzeugung von kohlebetriebenen Kraftwerken
stammen.28 Kohle ist somit das Rückgrat der Wirtschaft
Südafrikas, des viertgrößten Kohleproduzenten der Welt.

2006 begann Südafrika mit der Erstellung eines Reakti-


onsplans für ein langfristiges Emissionsreduktionssze-
nario (LMTS), wodurch eine konstante Klimapolitik und
ein angemessener Klimaschutzrahmen auf der Grundlage
der verfügbaren effektiven und möglichen Reduktions-
optionen angestrebt werden. Aus dieser Studie ergaben
sich verschiedene Szenarien und strategische Optionen
für Südafrika. Es wurden auch Reduktions-
Im Juli 2008 nahm das südafrikani- potentiale und die Wirtschaftlichkeit unter-
sche Kabinett einen nationalen Klima- schiedlicher Interventionen durchdacht. Im
schutzrahmen an, der die Vision der
Regierung, eine strategische Ausrich- Juli 2008 nahm das südafrikanische Kabinett
tung und den Rahmen einer langfristi- unter Berücksichtigung der Ergebnisse der
gen Klimaschutzpolitik auslegte.
LMTS-Arbeit einen nationalen Klimaschutz-
rahmen an. Die Regierung verpflichtet sich
darin zu einem Verlauf von „Scheitelpunkt, Hochebene
und Senkung‟ der zukünftigen THG-Emissionen. Den
Scheitel­punkt sieht man für den Zeitraum 2020 bis 2025
vor. Danach soll ein Jahrzehnt „Hochebene‟ folgen. Gegen
Mitte des Jahrhunderts sollen dann die absoluten Zahlen

27 | Es ist anzumerken, dass die Abholzung für die IBSA-Staaten


keine Priorität darstellt. Während die Wälder 57,2 Prozent der
Gesamtfläche Brasiliens ausmachen, machen sie nur 21,2
Prozent der Gesamtfläche Chinas aus, 22,8 Prozent der
Gesamtfläche Indiens, 33,7 Prozent der Gesamtfläche Mexikos
und 7,6 Prozent der Gesamtfläche Südafrikas (FAO 2006,
Global Forest Resources Assessment 2005, Rom).
28 | Eskom, Annual Report 2008, http://financialresults.co.za/
eskom_ar2008/ar_2008/downloads/eskom_ar2008.pdf
[25.03.2011].
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 53

abnehmen.29 Dies würde zum Beispiel eine Umstellung


des Kraftstoffmixes erfordern, da derzeit drei Viertel der
süd­­afrikanischen Treibstofferzeugung auf Kohle basieren.30
Die Energiezusammensetzung wird zurzeit im Rahmen der
integrierten Ressourcenplanung (IRP II) debattiert. Trotz
dieser anspruchsvollen Strategien stellen die landesweiten
Armutsreduzierungsstrategien in Südafrika die Hauptauf-
gabe dar. Südafrika wird somit, zumindest in absehbarer
Zukunft, weiterhin auf die kohlebasierte Ernergieerzeu-
gung angewiesen sein.

Süd-Süd-Kooperation in Technologieforschung

Auf dem Treffen der Energieminister im Mai 2009 veröf-


fentlichten die G-8- und G-13-Energieminister im Rahmen
ihrer neuen internationalen Partnerschaft hinsichtlich einer
energieeffizienten Kooperation (IPEEC) eine gemeinsame
Erklärung. Diese besteht in einem Aufruf zur „Entwick-
lung und Einsatz emissionsarmer Energietechnologien,
einschließlich regenerativer Energiequellen, intelligenter
Stromnetze und Energiespeicherung, Modernisierung der
Energieerzeugungsanlagen und Kraft-Wärme-Kopplung,
nachhaltiger Mobilität und emissionsarmer Transport-
fahrzeuge, der Vorführung von Kohlenstoffbindung und
-speicherung (CCS) und der Nuklearenergie‟.31 Es wurde
ebenso zu einer „Koordination der Anstrengungen im
Bereich der Forschung, Entwicklung, Vorführung und des
Einsatzes dieser emissionsarmen Technologien durch einen
effektiven Austausch von Wissen über Schlüsseltechnolo-
gien‟ und insbesondere zur Förderung einer verstärkten
Nutzung Erneuerbarer Energien aufgerufen. Dies schließe
zum Beispiel „eine Verbesserung der Politik und der regu-
latorischen Rahmenbedingungen zur Investitionsförderung
in Erneuerbare Energien und die gleichzeitige Werbung für
ihren Einsatz und ihre Verbreitung in allen Ländern‟ ein.

29 | Romy Chevallier, „South Africa’s Dilemma: Reconciling Energy-


Climate Challenges with Global Climate Responsibilities‟,
Kapitel 6 in: Climate Change and Trade: The Challenges for
Southern Africa, SAIIA, 2010.
30 | Dies gipfelte im 2. Nationalen Gipfeltreffen zur Klimaänderung
vom März 2009, mit der Hoffnung der Übertragung der LTMS
in ein Weißbuch im November 2009.
31 | Gemeinsame Erklärung der G-8-Energieminister, des EU-
Kommissars für Energie, der Energieminister von Brasilien,
China, Ägypten, Indien, Korea, Mexiko, Saudi Arabien und
Südafrika. Erste Sitzung, Italien, 05/2009.
54 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

Nach Yvo de Boer, ehemaliger UNFCCC-Exekutivsekretär,


sollte die richtige Umsetzung der Technologietransferpo-
litik einen Schwerpunkt der internationalen Klimaschutz-
politik darstellen. In dieser Hinsicht verweist
„Sowohl China als auch Indien ent- er insbesondere für die kohleabhängigen
wickelten sich zu Hauptproduzenten Länder auf CCS.32 Er erwähnt ebenfalls die
Erneuerbarer Energien. Sie sind nun
nicht mehr das ausschließliche techno- verstärkte Nutzung Erneuerbarer Energien
logische Monopol des Nordens.‟        und betont die Notwendigkeit der Entwick-
(Ivo de Boer)
lung von Mechanismen, die gemeinsame
Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten zwischen reichen
und armen Ländern ermöglichen: „Sowohl China als auch
Indien entwickelten sich zu Hauptproduzenten Erneuer-
barer Energien. Sie sind nun nicht mehr das ausschließliche
technologische Monopol des Nordens. Es geht eher darum,
dass die Entwicklungsländer preisgünstige Möglichkeiten
finden, um sich den Zugang zu dieser Technologie zu
verschaffen.‟33

Man muss sich allerdings dessen bewusst sein, dass in den


Entwicklungsländern mit der Einführung, Übertragung und
Verbreitung von Technologie erhebliche wirtschaftliche,
soziale und politische Hürden überwunden werden müssen,
wie zum Beispiel der Mangel an technischen Kapazitäten in
der Nutzung der eingeführten Technologien, der Mangel an
entsprechenden Gesetzen und Regelungen, mangelhafte
Verwaltungsstrukturen und unzureichend entwickelte
Marktbedingungen.34 Auch müssen die Technologieinhaber
durch angemessene Urheberrechte geschützt werden.

Chancen des globalen Übergangs zu


einer kohlenstoffarmen Wirtschaft

Um die Beteiligung verschiedener Interessengruppen vor


allem in den Entwicklungsländern zu fördern, ist es unbe-
dingt erforderlich, die wirtschaftlichen Möglichkeiten, die
durch die Reduktions- und Anpassungsprojekte geboten

32 | „Carbon Capture and Storage Bulletin: A summary of the


High-level conference on fighting climate change with carbon
capture and storage‟, veröffentlicht vom International Insti-
tute for Sustainable Development, Bd. 163, Nr. 1, 01.06.2009.
33 | Interview mit Yvo de Boer, geführt während der UNFCCC-
Konferenz in Posen, 01.12.2008.
34 | „Energy efficiency, technology and climate change: The Japa-
nese experience‟, Kapitel 8 in „Climate Change negotiations:
Can Asia change the game?‟, Loh, Stevenson und Tay (Hrsg.),
Civic Exchange 2008.
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 55

werden, hervorzuheben. Dazu zählen unter anderem die


Betonung der Wirtschaftlichkeit von Umweltgütern und der
Dienstleistungsindustrie (einschließlich der Erneuerbaren
Energien und der energieeffizienten Technologie) und die
Projekte für den Mechanismus der sauberen Entwicklung.
Führungskräfte und Geschäftsleute der südlichen Hemis­
phäre sind sich oft nicht im Klaren darüber, dass diese
Industrie weltweit einen Wert von etwa 600 Milliarden
US-Dollar erreicht und rasch wächst. Auch übertrifft für
gewöhnlich das starke Arbeitsbeschaffungspotential dieser
Industrie jenes der traditionellen und kohlenstoffreichen
Energieindustrien. Die saubere Technologie wird voraus-
sichtlich zum fünftgrößten Sektor der Arbeitsbeschaffung
und der Investitionen werden.35 Die deutschen Windparks
schufen z.B. etwa 40.000 Arbeitsplätze. Schätzungsweise
wird Südafrika bis 2020 ungefähr 34.000 direkte Arbeits-
plätze schaffen, wenn die Erzeugungskapazität aus Erneu-
erbaren Energien 15 Prozent erreicht. Die Erzeugung von
5.700 MW solarer Photovoltaik-Elektrizität würde 680 Voll-
zeitjobs und 8.800 Arbeitsplätze im Baugewerbe schaffen.

Laut einer Schätzung der internationalen Obwohl die Anzahl sauberer und ener-
Energieagentur sind etwa 45 Billionen Dollar gieeffizienterer Kohlekraftwerke in den
Entwicklungsländern zugenommen hat,
erforderlich, um bis 2050 neue, saubere muss für die Förderung der raschen
Technologien zu entwickeln und einzusetzen. technologischen Verbreitung noch viel
getan werden.
Obwohl die Anzahl sauberer und energie-
effizienterer Kohlekraftwerke und auch die
Umrüstung von Brennstoffquellen älterer Technologie vor
allem in den Entwicklungsländern zugenommen hat, muss
für die Förderung der raschen technologischen Verbreitung
noch viel getan werden. Dadurch wären die bestehenden
Quellen regenerativer Energien wirtschaftlich sinnvoll und
würden für die Entwicklungsländer eine leichter durchführ-
bare Option darstellen.

Daher hat ein echter kooperativer Technologietransfer


zwischen Entwicklungsländern wesentliche Bedeutung. Die
Investitionen müssen sich auf die Gebiete der unterfinan-
zierten ICT-Forschung, landwirtschaftlichen Produktion,
des Umweltmanagements und der öffentlichen Gesund-
heitseinrichtungen konzentrieren. Eines der Hauptziele zur

35 | L. Tyrer, „Rough Road: South Africa’s path on the steep and


rocky road to Copenhagen‟, Engineering News, 20.-26.02.
2009, 84.
56 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

Stärkung der wissenschaftlichen und technologischen Poli-


tik in den Entwicklungsländern besteht in der Erzeugung
neuer Güter und Dienstleistungen, welche die Reduzierung
von Kohlenstoffdioxidemissionen begünstigen. Die Förde-
rung der kohlenstoffarmen Technologieindustrie ist eine
Möglichkeit, um Forschung und Entwicklung kommerziell
nutzbar zu machen.36

Im Jahre 2006 gründeten die IBSA-Staaten einen gemein-


samen Fond für Wissenschaft und Technologie. Jeder
Mitgliedstaat zahlte eine Million US-Dollar für gemein-
schaftliche Aktionen ein.37 Diese Aktionen beschränken sich
bisher auf wenige Forschungsgebiete: Medizinische und
pharmazeutische Forschung (insbesondere HIV, Malaria
und Tuberkulose), Nanotechnologie, Biotechnologie und
Ozeanographie. Einige dieser Forschungsgebiete zeigen
eine wesentliche Überschneidung mit den Prioritäten des
Klimawandels und können somit einen Co-Benefit-Ansatz
zur Umweltverträglichkeit bieten. Die Finanzierung könnte
sich allerdings auch speziell der Forschung von kohlenstoff-
armen Technologien und Erneuerbaren Energien widmen.

CDM-Projekte sind so gestaltet, dass Ein weiteres Beispiel der Chancennutzung


Investoren mit Emissionsgutschriften kann am Mechanismus der sauberen Entwick-
belohnt werden, wenn sie die Treib-
hausgasemissionen in den Entwick- lung (CDM) beobachtet werden, der von der
lungsländern reduzieren. UNFCCC für die Finanzierung von Initiativen
für Erneuerbare Energien in Entwicklungsländern aufge-
stellt wurde. Die CDM-Projekte sind so gestaltet, dass
die Investoren mit Emissionsgutschriften belohnt werden,
wenn sie die Treib­hausgasemissionen in den Entwicklungs-
ländern reduzieren. Dieses Gutschriftenschema regt eine
nachhaltige Entwicklung sowie Emissionsreduzierungen
an und bietet industrialisierten Ländern, wie im Kyoto-
Protokoll vereinbart, gleichzeitig etwas Flexibilität bei der
Erreichung ihrer Emissionszielvorgaben. Es bietet Entwick-
lungsländern, die CDMs ausrichten, außerdem die Möglich-
keit, private und öffentliche Investitionen zu suchen, Kapa-
zitäten und Fähigkeit aufzubauen und in Bereichen wie
denen des Technologietransfers Erfahrung zu sammeln.
Die hohen Emissionsraten aller IBSA-Mitgliedstaaten und

36 | Juma, Gitta, DiSenso und Bruce, „Forging New technology


alliances: the role of South South cooperation‟, 2005, 59.
37 | Vgl. The India-Brazil-South Africa Dialogue Forum, IBSA
Trilateral Official website, http://www.ibsa-trilateral.org
[25.03.2011].
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 57

der anderen Entwicklungsländer machen diese zu attrak-


tiven Kandidaten für jene CDM-Projekte, die den Energie­
sektor von der Emissionsintensität entlasten und den Tech-
nologietransfer fördern könnten.38

Laut der UNFCCC wurden 2010 weltweit 2.453 CDM-


Projektaktivitäten registriert, davon 41 Prozent in China,
22 Prozent in Indien, sieben Prozent in Brasilien und fünf
Prozent in Mexiko.39 Daher kann man China, Indien, Brasi-
lien und Mexiko, mit einem kombinierten Anteil von 75
Prozent der gesamten Projekt-Pipeline, als die führenden
Gastländer für CDM-Projekte bezeichnen. Als einziges afri-
kanisches Land findet sich Südafrika auf der
Top-20-Liste der im Bereich CDM-Projekte Da Indien und China schon große
führenden Entwicklungsländer. Insgesamt Fortschritte erzielt haben, könnten
sie Südafrika und den afrikanischen
werden in Afrika nur zwei Prozent aller CDM- Kontinent mit ihrer Erfahrung bei
Projekte umgesetzt. Ein Grund dafür besteht technischen Gutachten und Kapazi-
tätsaufbau unterstützen.
in der Komplexität der CDM-Projektzyklen
und darin, dass umfangreiche Kenntnisse
über die Gestaltung, Formulierung, Validierung und Regis-
trierung von Projekten erforderlich sind, ebenso über ihre
Finanzierung, Überwachung, Überprüfung und Zertifizie-
rung. Da Indien und China in dieser Hinsicht schon große
Fortschritte verzeichnet haben, könnten sie Südafrika und
den afrikanischen Kontinent mit ihrer Erfahrung bei tech-
nischen Gutachten und Kapazitätsaufbau unterstützen.40

CDM-Kritiker sind der Meinung, es liege nicht im Inte­


resse der Umwelt, großen Entwicklungsländern mit einem
gewissen Niveau an wirtschaftlicher Entwicklung CDM-
Projekte zu gewähren. Denn Emissionsreduzierungen
aufgrund der CDM-Projekte tragen, wenn auch nur in
geringem Maße, zum Beispiel dazu bei, dass China seine
Zielvorgagaben hinsichtlich Energieeinsparung erreicht. Sie
reduzieren aber keinesfalls dessen Emissionen aus Kohle

38 | Laut Angaben der brasilianischen Botschaft in London „war


es Brasilien, das die Initiative ergriff, den CDM als Bestandteil
des Kyoto-Protokolls einzuführen‟.
39 | Clean Development Mechanism, United Nations Framework
Convention on Climate Change (UNFCCC)’s Executive Board
Annual Report, 2010, „Registered project activities by host
party and region‟.
40 | Sechstes Rahmenprogramm der Europäischen Union. Das
Potential der Übertragung und Umsetzung nachhaltiger Ener-
gietechnologien durch den Mechanismus für umweltverträg-
liche Entwicklung (CDM) des Kyoto-Protokolls: CDM-Stand,
11/2008.
58 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

oder seine Kohleabhängigkeit. Da allein zwischen China


und Indien schon 90 Prozent der gesamten globalen CDM-
Projekte hinsichtlich Windenergie aufgeteilt sind, wird auch
eine bessere geographische Verteilung dieser Projekte
angestrebt.41 Deutlich wurde auch, dass in manchen
Ländern einige wenige Technologien eindeutig dominieren
(z.B. Wasser- und Windkraft und „eigene Erzeugung effizi-
enter Energie‟ in China; Energie aus Biomasse und Wind-
energie in Indien; Deponiegasauffassung in Brasilien),
während dieselben Technologien in den anderen Ländern
zurückbleiben. Für gewöhnlich wird angenommen, dass die
Verteilung der Projekte unter den Gastgeberländern zum
größten Teil vom Potential für (hohe) THG-Emissionsredu-
zierungen bei geringen Kosten oder von der reibungslosen
Funktion der institutionellen CDM-Verfahren eines Landes
bestimmt wird.

Eine erfolgreiche Regelung des globalen Klimawandels


nach 2012 hängt von der Einbeziehung aller großen Emit-
tenten und all derer ab, welche die Auswirkungen der
Klimaänderung zu spüren bekommen. Auf
Der politische Einfluss und die Zusam- der Ebene der Reduktionspolitik sind der
menarbeit der Entwicklungsländer sind politische Einfluss und die Zusammenarbeit
notwendig, um die Vereinigten Staaten
davon zu überzeugen, strengere Reduk- der Entwicklungsländer notwendig, um die
tionsverpflichtungen einzugehen. Vereinigten Staaten davon zu überzeugen,
strengere Reduktionsverpflichtungen einzu-
gehen. Die Bedeutung der Nord-Süd-Partnerschaften ist
von besonderer Bedeutung, da die ersten Erfahrungen der
entwickelten Länder mit der Förderung der Energieeffi-
zienz jenen Ländern, die ihre Energiepolitik zu reformieren
versuchen, als wertvolle Hintergrundinformationen dienen
können.42 Viele Technologien, die auf den Ressourcen-
ausstattungen der Entwicklungsländer wie der Biomasse
basieren, sind noch nicht vorhanden oder zu kostspielig.
Daher ist eine Zusammenarbeit im Bereich Forschung und
Entwicklung (R&D) zwischen Entwicklungs- und den entwi-
ckelten Ländern unbedingt notwendig.

41 | Sechstes Rahmenprogramm der Europäischen Union, „CDM


State of Play‟, ENTTRANS, 11/2008.
42 | Juma, Gitta, DiSenso und Bruce, „Forging New technology
alliances: the role of South South cooperation‟, 2005, 59.
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 59

Schlussfolgerungen

Die IBSA-Mitgliedstaaten sehen sich ähnlichen Herausfor-


derungen bezüglich ihrer Anfälligkeit für die Auswirkungen
des Klimawandels gegenüber. Einerseits geht es um die
Herausforderung der Emissionsreduzierungen bei gleich-
zeitiger wirtschaftlicher Entwicklung (insbesondere wenn
man berücksichtigt, dass die Motoren des steigenden
Energiebedarfs gerade das Wirtschaftswachstum, der
Bevölkerungszuwachs und die technologi-
schen Veränderungen sind), andererseits Es stellt sich die Frage, wie die IBSA-
um die Umstellung von Industriepolitik und Staaten ihren Wettbewerbsvorteil auf-
grund kostengünstiger, aber ver-
Investitionsstrategien, um den Schwerpunkt schmutzender Elektrizität in einen
auf kohlenstoffarme und kohlenstofffreie Vorteil klimafreundlicher Technologien
umwandeln können.
Sektoren ihrer Wirtschaft zu setzen. Die Frage
ist, wie die IBSA-Staaten ihren Wettbewerbs-
vorteil aufgrund kostengünstiger, aber verschmutzender
Elektrizität aus den energieintensiven Sektoren in einen
neuen Vorteil klimafreundlicher Technologien und Systeme
umwandeln können. Um dies erfolgreich durchzusetzen,
müssen die „Entwicklungspläne‟ der IBSA-Staaten vom
„Business as usual‟-Ansatz in eine konventionelle Bahn der
fossilen Energie geführt werden. Dies soll jedoch erfolgen,
ohne den Wachstumsverlauf der Länder, die sich immer
noch mit erheblichen Entwicklungsherausforderungen
auseinander setzen, zu gefährden. Ein praktisches Beispiel
hierfür ist die Art und Weise, wie die Mitgliedstaaten vor
dem Hintergrund einer extremen Armut und begrenzter
Landnutzung die Abholzung zu vermeiden wissen oder wie
einzelne Länder trotz des Überflusses an Billigkohle ihren
Energiemix um energieeffizientere Technologien erweitern.

Der IBSA-Dialog über den Klimawandel könnte sich auf


jene Sektoren konzentrieren, in denen die Entwicklungs-
länder beträchtliche Vorteile aus Emissionsreduzierungen
ziehen würden, wie z.B. die Energieeinsparung in den
Sektoren Bau, Transport und Industrie oder der technische
Fortschritt in den Sektoren Landwirtschaft und Wieder-
aufforstung. Ebenso vorteilhaft wäre die Zusammenarbeit
in praktischen Projekten, um zwischen den IBSA-Staaten
auf allen Ebenen auch mit der Zustimmung der örtlichen
Gemeinschaften eine Eigendynamik zu erzeugen. Dazu
gehört in den afrikanischen und asiatischen Ländern zum
Beispiel auch der Ersatz der traditionellen Öfen durch
60 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

rußarme Modelle, die keine Gefahr für Gesundheit und


Umwelt darstellen. Studien in Indien haben gezeigt, dass
die Umstellung auf neue Öfen etwa 20 Dollar kostet und
die Rußerzeugung dann um 90 Prozent sinkt.43

Da die IBSA-Mitgliedstaaten alle in gewissen Bereichen


ihrer Klimawandel- und Energiepolitik Fortschritte ver-
zeichnet haben, sollten sie die Diskussion und die tech-
nische Expertise diesbezüglich führen. Brasilien ist zum
Beispiel Vorreiter auf dem Gebiet der Energiegewinnung
aus ethanolbasierten Treibstoffmixen. Hier steckt großes
Wachstumspotential, verbunden mit der Möglichkeit der
Übertragung auf andere Länder mit einem ähnlichen
Emissionsprofil.44 Außerdem verfügt Brasilien über große
Hydroenergiequellen. Dieses Modell könnte daher auch von
Südafrika und Indien übernommen werden. Darüber hinaus
verzeichnet Brasilien große Fortschritte in der Reduzierung
der Abholzung und somit der Bewahrung der heimischen
Regenwälder. Auch Indiens Katastrophenhilfsaktionen sind
ein Beispiel, dem andere folgen können. Indien verzeich-
nete insbesondere in den Bereichen Wind- und Sonnen-
ergie weitere Fortschritte. Südafrika wiederum übernahm
die regionale Führung bei der Schaffung wirtschaftlicher
Szenarien für einen kohlenstoffarmen Wirtschaftsablauf.
Das Land war ferner in der Forschung und Entwicklung von
CCS-Technologien sowie im Sammeln von klimabezogenen
Daten für die südliche Hemisphäre aktiv.

Der Schlüssel für erfolgreiche CDM- Weitere Bereiche für eine potentielle Zusam-
Projekte liegt im Aufbau von Kapazi- menarbeit unter den Entwicklungsländern
täten in den Gastgeberländern und in
der Verbesserung der Investitionsan- wären die Gestaltung und Umsetzung von
reize für entwickelte Länder. CDM-Projekten. Der Schlüssel liegt im Aufbau
von Kapazitäten in den Gastgeberländern
sowie in der Verbesserung der Regelungen und Anreize
für entwickelte Länder zur Investition in Schlüsselsektoren

43 | „Climate salvation from low-soot stoves?‟, International


Herald Tribune, 17.04.2009.
44 | Die Biobrennstoff-Industrie Brasiliens lässt nicht unbedingt
auf Indien oder Südafrika übertragen. In Brasilien ist eine
Biobrennstoff-Industrie ohne Steuersubventionen möglich. In
den meisten anderen Ländern dagegen ist dies nicht möglich.
Nach Runnalls vom International Institute for Sustainable
Development sind „Biobrennstoffe nicht die Lösung‟ (05/2009).
Biobrennstoffe erfordern Zuschüsse von 50 bis 70 Cent pro
Liter, um einen Liter fossilen Brennstoff zu ersetzen, was fast
den Kosten für einen Liter Normalbenzin entspricht.
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 61

und -regionen. China und Indien verzeichnen seit 2005 ein


exponentielles Wachstum der CDM-Projekte. Ihre Erfah-
rung zeigt, dass der Kapazitätsaufbau der Schlüssel zum
Einstieg in die CDM-Projekte ist.

Zwar ist den Entwicklungsländern der Zugang zur modernen


Technologie gewährt, doch muss hier noch in Fähigkeiten,
Know-How und Kapital investiert werden, damit sie die
sauberen Technologien nutzen, reproduzieren und sich
daran anpassen können. Daher muss der Dialog neben
Wissenschaftlern und Regierungsbeamten auch Ingenieure,
technische Fachleute und Vertreter der Handelsfirmen aus
dem privaten Sektor einbeziehen. Eine engere Zusammen-
arbeit ist auf allen Ebenen nötig. Wissenschaftler müssen
enger mit Versorgungsunternehmen, Stahlherstellern und
auch anderen Branchen zusammenarbeiten.

Ein weiteres Gebiet für eine mögliche Zusammenarbeit


unter den IBSA-Staaten ergibt sich in der Klimawandel­
anpassung. Die IBSA-Staaten versuchen noch, die vollen
Auswirkungen des Klimawandels auf ihre Gesellschaften zu
verstehen, und müssen sich daher zu nationalen und regio­
nalen Schwachstellenanalysen sowie zur Förderung einer
evidenzbasierten Analyse und Forschung verpflichten. Dies
könnte auch in Form einer Sammelstudie erfolgen, mit der
die Anfälligkeit der armen Nationen aufgezeigt wird. Der
Informationsaustausch über die Vorbereitung auf Katas­
trophen und Extrem­ereignisse und der Austausch meteo­
rologischer und klimatischer Daten sind unzureichend.
Die IBSA-Staaten müssen in Zukunft durch den Erwerb
zielgerichteter Finanzierungen und durch den Daten- und
Informationsaustausch verstärkt zusammenarbeiten.

Die UNFCCC-Verhandlungen stellen für die IBSA die beste


Gelegenheit zur gemeinsamen Beratung zum Klimawandel
dar. IBSA muss von seiner politischen Macht und der
gemeinsamen Stellung (einschließlich des zweigleisigen
Ansatzes) Gebrauch machen, um bei den Verhandlungen
für die Entwicklungsländer im Allgemeinen, aber vor allem
für die LCDs in ihren jeweiligen Regionen gewisse Schlüs-
selpunkte voranzutreiben. Die Rolle Südafrikas als Vorsit-
zende der Vertragsstaatenkonferenz bietet außerdem
Afrika und den Entwicklungsländern in ihrer Gesamtheit
die unterschiedlichsten Möglichkeiten.
62 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

Indonesiens Rolle in
der internationalen
Klimapolitik
Finanzielle Anreize zum Schutz der
Waldbestände – Ein effektives Modell?

Marc Frings ist


Trainee der Konrad-
Adenauer-Stiftung im Marc Frings
Auslandsbüro Jakarta.

1986 verabschiedete die Generalversammlung der Ver-


einten Nationen die Resolution zum „Recht auf Entwick-
lung‟.1 Sie liest sich als Reaktion der Entwicklungsländer
auf den verbindlichen Menschenrechtskatalog, der zuvor
von der industrialisierten Welt kanonisiert wurde. Die
„Menschenrechte der dritten Generation‟, die mit dieser
Resolution gestärkt werden sollten, betonen deren kollek-
tive Dimension. Frieden, Sicherheit und Umwelt rückten
damit erstmals in den Fokus internationaler Entwick-
lungsdebatten. Das Ringen der Weltgemeinschaft um ein
Nachfolgeabkommen des Kyoto-Protokolls, das 1997 in
Kraft trat und 2012 auslaufen wird, demonstriert gegen-
wärtig, wie komplex die Verwirklichung des im Recht auf
Entwicklung skizzierten Solidaritätsprinzips ist: Steht, so
muss gefragt werden, ein Recht auf Wohlstandssteigerung
im Sinne des Art. 2 III der Resolution im Widerspruch zum
internationalen Engagement im Klimaschutz?

Das Beispiel Indonesien zeigt, vor welchen politischen,


gesellschaftlichen und rechtlichen Herausforderungen Ent-
wicklungs- und Schwellenländer stehen, die einerseits ihr
Recht auf Entwicklung ernst nehmen müssen, um abseh-
baren demographischen Prognosen zu begegnen, anderer-
seits aber ihren Beitrag zum Klimaschutz leisten wollen.
So entwickelt sich Indonesien schon seit einigen Jahren
zu einem der wichtigsten Befürworter der REDD-Initiative.

1 | „Entwicklung‟ wird im Resolutionstext als „umfassender wirt-


schaftlicher, sozialer, kultureller und politischer Prozess‟ defi-
niert (UN-GA Res A/41/128).
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 63

Der übersehene Umweltsünder

Wenn die Frage nach den größten globalen Umweltsündern


aufkommt, gilt der vorwurfsvoll ausgestreckte Zeigefinger
in der Regel den Vereinigten Staaten und der Volksre-
publik China, die mit jährlich etwa 5,95 bzw. 5,06 Milli-
arden Tonnen ausgestoßenen Treibhausgases die globale
Erwärmung vorantreiben. Auf Platz drei folgt
jedoch schon, mit einem gewissen Abstand, Mit China und Indonesien stehen zwei
Indonesien. Der südostasiatische Inselarchi- Schwellenländer weit oben auf der
Liste jener Staaten, die eine Haupt-
pel mit seinen mehr als 17.000 Inseln und verantwortung für den Klimawandel
240 Millionen Einwohnern emittiert im Jahr tragen.
2,05 Milliarden Tonnen Treibhausgas. Mit
China und Indonesien stehen damit gleich zwei Schwel-
lenländer weit oben auf der Liste jener Staaten, die die
Hauptverantwortung für den Klimawandel tragen. Welche
Hebel müssen nun bedient werden, damit auch jene
Länder, die sich noch im Modernisierungsprozess befinden,
der Erderwärmung entgegenwirken können? Aufschluss-
reich ist hierfür ein Vergleich der Zusammensetzung der
Treibhausgasemissionen Deutschlands und Indonesiens:
Energiebedingte Emissionen machen in Deutschland 81
Prozent der Treibhausgase aus, gefolgt von Emissionen aus
Industrieprozessen (zehn Prozent) und aus der Landwirt-
schaft (fünf Prozent).2 In Indonesien hingegen sind 80 bis
85 Prozent der Treibhausgasemissionen Folgen von Entwal-
dung und Zerstörung von Torfland.3 Obwohl die Emissionen
aus Industrie, Verkehr oder Energie vergleichsweise gering
erscheinen,4 gelangen dem Land in den vergangenen

2 | Umweltbundesamt (Hrsg.), Presseinformation Nr. 13/2010,


„Treibhausgasemissionen in 2009 um 8,4 Prozent gesunken‟,
3, http://umweltbundesamt.de/uba-info-presse/2010/pdf/
pd10-013_treibhausgasemissionen_grafiken.pdf [14.02.2011].
Die angegebenen Werte beruhen auf Schätzungen für das
Jahr 2009, korrespondieren aber weitestgehend mit den
Werten für 2008.
3 | Harvard Kennedy School, Ash Center for Democratic Gover-
nance and Innovation, „From Reformasi to Institutional
Transformation: A strategic Assessment of Indonesia’s Pros-
pects for Growth, Equity and Democratic Governance‟,
04/2010, 52, http://ash.harvard.edu/extension/ash/docs/
indonesia.pdf [14.02.2011]; Jeff Neilson, „Who owns the
carbon? Indonesia’s carbon stores spark international
attention‟, Inside Indonesia, 07-08/2010,
http://insideindonesia.org/stories/who-owns-the-carbon-
05091343 [14.02.2011].
4 | 2005 erzeugte der komplette Energie-, Bau- und Infrastruktur-
sektor 312 Millionen Tonnen CO2. Das entsprach einem Anteil
von 15 Prozent.
64 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

Jahren atemberaubende Wirtschaftswachstumszahlen, mit


einem Zuwachs von zuletzt 6,5 Prozent (2010).5 Neben
China und Indien gehört Indonesien innerhalb der Gruppe
der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer (G-20)
zu den drei Ländern mit den schnellsten Wachstumsraten
überhaupt.

Weil es Indonesien bislang nicht gelingt, eine Infrastruktur


zu schaffen, mittels derer die reichen Bodenschätze
(insbesondere Erze, Erdöl und Erdgas) im Land verarbeitet
werden können, hinkt der Industrialisie-
Weitreichende Folgen für das Welt- rungsprozess hinterher und kann zumindest
klima im Allgemeinen und die Biodi- aus klimapolitischer Sicht vernachlässigt
versität im Besonderen hat die Zerstö-
rung des indonesischen Regenwaldes. werden. Viel weiter reichende Folgen für das
Weltklima im Allgemeinen und die Biodiver-
sität im Besonderen hat die Zerstörung des indonesischen
Regenwaldes, der 1966 noch 77 Prozent der Fläche Indo-
nesiens ausmachte. In der Zwischenzeit sind 80 Prozent
des Tropenwalds verschwunden.6 Trotzdem verfügt Indo-
nesien nach Brasilien und der Demokratischen Republik
Kongo noch immer über den drittgrößten Regenwaldbe-
stand weltweit. Auf ihrem Höhepunkt war die Abholzung
unmittelbar nach 1998, als die Ära Suharto zu Ende ging
und der demokratische Transformationsprozess eingeleitet
wurde. Im Zuge der politischen Dezentralisierung stieg die
Macht der Provinzfürsten, die gemeinsam mit den Land­
eigentümern in dem Geschäft mit legalen Holzschlagkon-
zessionen und illegaler Abholzung eine lukrative Geldquelle
ausmachten.7 Zwischen 2000 und 2005 wurden auf diese
Weise 3,5 Millionen Hektar Wald zerstört, insbesondere
in Sumatra und Kalimantan. In keinem anderen Land der
Welt wird mehr Wald am Tag zerstört als in Indonesien.8

5 | Prognosen gehen mittelfristig von einer jährlichen Wachstums-


rate von über sechs Prozent aus. Vgl. Helmut Hauschild,
„Asiens nächste Erfolgsstory‟, Handelsblatt, 22.11.2010,
http://handelsblatt.com/politik/konjunktur/laenderanalysen/
indonesien-schreibt-asiens-naechste-erfolgsstory/3645102.html
[14.02.2011].
6 | Cédric Gouverneur, „Biosprit aus Palmen. Indonesien opfert
seine Wälder‟, Le monde diplomatique, 11.12.2009,
http://monde-diplomatique.de/pm/2009/12/11/a0044.text.
name,asks [14.02.2011].
7 | Gaby Herzog, Sungai Luar, „Nach dem ‚Holzrausch‛ in Kali-
mantan‟, Neue Zürcher Zeitung, 21.12.2010, http://nzz.ch/
nachrichten/politik/international/nach_dem_holzrausch_in_
kalimantan_1.8789101 [14.02.2011].
8 | Harvard Kennedy School, Fn. 3, 53.
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 65

Bestehende und traditionelle Gesellschaftsstrukturen, öko-


nomische Interessen und Umweltschutz ringen nun mit
den Folgen: Das Tropenholz Sumatras und Kalimantans ist
weitestgehend gefällt, so dass neue, abgelegene Provinzen
wie insbesondere das nur dünn bevölkerte Papua in den
Fokus der Holzwirtschaft geraten. Einzelne Bevölkerungs-
gruppen betrachten Umweltaktivisten und die Jakartaer
Zentralregierung gleichermaßen als Feinde, weil diese
um den Preis des internationalen Klimaschutzes lokale
Nutzungsflächen und Einnahmequellen versiegen lassen.
Diese innenpolitische Konfliktkonstellation muss um eine
internationale Dimension erweitert werden,
da die eingangs dargestellten Emissions- In Indonesien finden sich fünf Pro-
werte aus Holzschlag und Torflandzerstörung zent des weltweit existierenden Torf-
Moor-Bodens, der in besonders effek-
Auswirkungen auf den weltweiten Klima- tiver Weise CO2 speichert.
wandel haben. In Indonesien finden sich
fünf Prozent des weltweit existierenden Torf-Moor-Bodens,
der in besonders effektiver Weise Kohlenstoffdioxid (CO2)
speichert. 40 Prozent der indonesischen Emissionen sind
auf Austrocknung und Zerstörung dieses Bodens zurück-
zuführen. 2006 wurde hierdurch in Indonesien mehr CO2
produziert als Deutschland, das Vereinigte Königreich und
Kanada im selben Zeitraum gemeinsam emittierten.9

Zwischen Wachstumspotential
und Rechtslücken

Der Versuch, durch Waldrodungen und -brände Landge-


winne zu verbuchen, resultiert vor allem aus der stark
zunehmenden Nachfrage nach Palmöl. Dieses findet
überwiegend in der Nahrungsmittelindustrie Verwendung,
wird aber auch zu einer zunehmend wichtigen Quelle für
den Energiesektor: Aufgrund seiner besonders effizienten
Zusammensetzung ist Palmöl, trotz konkurrierender Pro-
dukte wie beispielsweise Raps, der wichtigste Biokraftstoff
(Biodiesel). Indonesien und das Nachbarland Malaysia
haben sich in den vergangenen Jahren zu den größten
Anbauländern von Ölpalmen entwickelt: Etwa 85 Prozent
der weltweiten Produktion, die gegenwärtig bei etwa 40
Millionen Tonnen im Jahr liegt, werden von den beiden
südostasiatischen Ländern geliefert. Die indonesi­sche
Regierung wittert gegenwärtig ihre Chance, ihren Spitzen-
platz weiter auszubauen. Nachdem sie die Anbaufläche für

9 | Ebd.
66 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

Ölpalmen seit 1998 bereits von drei auf neun Millionen


Hektar verdoppelt hat, sollen bis 2025 auf einer Gesamt-
fläche von 26 Millionen Hektar Palmölplantagen entste-
hen.10

Das populäre Etikett „Biodiesel‟ darf Das aus westlicher Perspektive populäre
nicht darüber hinwegtäuschen, dass Etikett „Biodiesel‟, verstanden als Alterna-
sich der Ausbau von Palmölplantagen
bislang noch negativ auf das Weltklima tive zu CO2-intensiven Energieträgern, darf
auswirkt. nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich der
gegenwärtige Ausbau von Palmölplantagen bislang noch
negativ auf das Weltklima auswirkt. Das ausgestoßene
CO2, das erforderlich ist, um eine Infrastruktur für die
Palmölindustrie zu schaffen, liegt derzeit über den Emissi-
onseinsparungen durch Biokraftstoffnutzung. Die indone-
sische Umweltorganisation Walhi weist darauf hin, dass es
die Zentralregierung nicht vermag, Einnahmen aus dem
Forstsektor zu erzielen, die mit den Wachstumszahlen der
sich dort niederlassenden Branchen korrespondieren. An
Genehmigungen, um in Primärwäldern Bergbau zu betrei-
ben, verdiente die Regierung beispielsweise einen bis 2,50
Euro pro 100 Quadratmeter. 70 Prozent des Holzschlags
erfolgt gegenwärtig allerdings illegal.11

Die indonesische Regierung steht in der Verantwortung,


Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit auch im Politik­
feld Umwelt und Klima zu gewährleisten.12 Dabei geht
es nicht ausschließlich um den Kampf gegen die um sich
greifende Korruption,13 sondern insbesondere im Umwelt-

10 | In Kalimantan wird die Hälfte und in Papua ein Viertel der


Plantagen liegen. Vgl. Gouverneur, Fn. 6; Marianne Klute,
„Schall und Rauch. Umweltprobleme und Umweltpolitik‟, in:
Genia Findeisen, Kristina Großmann, Nicole Weydmann (Hrsg.),
Herausforderungen für Indonesiens Demokratie. Bilanz und
Perspektiven, (Berlin: regiospectra, 2010), 225.
11 | Klute, Fn. 10, 225. Indonesische Medien berichteten jüngst,
dass den bislang 6,3 Millionen Euro Einnahmen aus Bergbau-
konzessionen 540 Millionen Euro Verluste gegenüberstehen,
die in Korruptionskanäle verschwanden. Sie beziehen sich
dabei auf Aussagen der Umweltorganisation Walhi. Vgl.
Fidelis E. Satriastanti, „Choosing Money Over Nature Will
Cost Us Dearly: Activists‟, The Jakarta Globe, 13.01.2011,
A7.
12 | Winfried Weck, „Korruption und Kollusion. Indonesiens
schwere Bürden auf dem Weg zum demokratischen Rechts-
staat‟, KAS-Länderbericht, 14.10.2010, http://kas.de/wf/
doc/kas_20833-1522-1-30.pdf [14.02.2011].
13 | Freedom House, „Freedom in the world – Indonesia 2010‟,
http://freedomhouse.org/template.cfm?page=363&year=
2010&country=7841 [14.02.2011].
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 67

und Klimabereich darum, die Wirksamkeit bestehender


Rechtsverbindlichkeiten durchzusetzen. Dies wird teilweise
durch den 1998 eingeleiteten administrativ-politischen und
rechtlichen Dezentralisierungsprozess erschwert. Gemäß
dem Forstwirtschaftsgesetz in seiner aktuellen Fassung
(41/1999) bedarf es einer Genehmigung des indonesi-
schen Forstministeriums, wenn ein Unternehmen Wälder
für wirtschaftliche Zwecke nutzen will. Zusätzlich können
lokale Verwaltungen Lizenzen für kleinere Unternehmen
ausstellen, sofern zusätzlich eine Genehmigung in Jakarta
eingeholt wird. Diese wenig bekannte Regelung wird
sicherlich dazu beigetragen haben, dass im Augenblick
weniger als acht Prozent der im Plantagengeschäft und
Bergbau tätigen Unternehmen in der Provinz Zentralkali-
mantan über wirksame Genehmigungen verfügen. Zuletzt
wurden deswegen Forderungen nach einer Verschärfung
der Gesetzgebung laut.14

Eine Zentralisierung der politischen Macht muss dabei aber


Hand in Hand mit dem Durchsetzungswillen der Exekutiven
gehen: Die Auswirkungen des Gesetzes für Umweltmanage-
ment und Umweltschutz (32/2009), das dem Umweltminis-
terium mehr Kompetenzen im Kampf gegen
Umweltsünder gibt, wurden in einer jüngsten Nur 20 Prozent der registrierten
Studie als schwach bewertet. Nur 20 Prozent Umweltverbrechen wurden 2010 auch
strafrechtlich verfolgt. Hierbei handelt
der registrierten Umweltverbrechen wurden es sich nicht um Bagatellstraftaten.
2010 auch strafrechtlich verfolgt. Hierbei
handelt es sich nicht um Bagatellstraftaten, sondern um
Umweltverschmutzungen, die Überschwemmungen und
Erdrutsche auslösen und so eine Lebensgefahr für die
anwohnende Bevölkerung darstellen.15

Indonesiens Beitrag zum Klimaschutz

Als Mitglied der G-20 und als mit Abstand größte Wirt-
schaftsmacht in der ASEAN definiert Indonesien seine
Rolle in den internationalen Beziehungen als Sprecher
jener Länder, die sich im Prozess der Entwicklung befinden.
Die zuletzt geäußerte Kritik, dem außenpolitischen Selbst-

14 | 76 von 967 Unternehmen verfügen über entsprechende


Genehmigungen; in der Palmölbranche bewegen sich 67 von
325 Unternehmen auf legalem Boden. Vgl. Adianto P.
Simamora, „967 forestry firms under govt scrutiny‟, The
Jakarta Post, 02.02.2011, 4.
15 | Satriastanti, Fn. 11, A7.
68 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

anspruch würden keine konkreten Aktionen seitens der


Regierung folgen, bestätigt sich bei einer Betrachtung des
indonesischen Engagements im internationalen Umweltre-
gime nicht. Präsident Susilo Bambang Yudhoyono hat den
Klimaschutz zu einem der Kernthemen seiner Regierungs-
arbeit gemacht. Unter ihm präsentierte sich Indonesien als
Gastgeberland wichtiger internationaler Konferenzen, wie
der 13. Weltklimakonferenz 2007 auf Bali und der ersten
Weltozeankonferenz 2009 auf Sulawesi. Im April 2011 ist
die Hauptstadt Jakarta Gastgeberin des fünften Business
for Environment-Gipfeltreffens, der weltweit wichtigsten
Konferenz zu wirtschaftsorientiertem Umweltschutz.16

Als Vorreiter für andere Entwicklungs- und Schwellen-


länder hat die Regierung eine freiwillige Selbstverpflich-
tung verkündet, laut derer Indonesien in den nächsten
zehn Jahren aus eigener Kraft 26 Prozent CO2 einsparen
will.17 Um aber mit Hilfe internationaler Unterstützung
sogar 41 Prozent weniger zu emittieren, wie es der Regie-
rungsplan weiter vorsieht, müssen bestehende Förder-
möglichkeiten stärker genutzt werden. Mit dem 1997
entwickelten Mechanismus für umweltverträgliche Ent-
wicklung (Clean Development Mechanism, CDM) wurde
ein Instrument etabliert, das es den laut Kyoto-Protokoll
zu Emissionsreduktionen verpflichteten Industriestaaten
erlaubt, in Form von Investitionen in Entwicklungs- und
Schwellenländern den eigenen Beitrag zum Klimaschutz
zu verbessern („CO2-Zertifikatshandel‟). Von den 2.803
CDM-Projekten, die Entwicklungsländer zentral beim
Sekretariat für das Rahmenübereinkommen
Im Vergleich zu Indonesien ziehen der Vereinten Nationen über Klimaände-
Malaysia, Mexiko oder Brasilien einen rungen (United Nations Framework Conven-
finanziell größeren Nutzen aus dem
klimapolitischen Ablasshandel zwischen tion on Climate Change, UNFCCC) registriert
Industrie- und Entwicklungsländern. haben, stammen lediglich zwei Prozent aus
Indonesien (56 Projekte), während Malaysia
(88 Projekte), Mexiko (125 Projekte) oder Brasilien (184
Projekte) einen finanziell größeren Nutzen aus diesem
klimapolitischen Ablasshandel zwischen Industrie- und

16 | Das Gipfeltreffen wird von der Indonesischen Regierung, der


Regionalkammer des Parlaments (DPD) und dem WWF
organisiert. Vgl. Fidelis E. Satriastanti, „Chaos Awaits if
Nothing Happens‟, The Jakarta Globe, 10.01.2011, A1.
17 | Die Marge von 26 Prozent nannte Präsident Yudhoyono erst-
mals auf dem G20-Gipfel in Pittsburgh. Er bekräftigte dieses
Ziel noch einmal auf der Kopenhagener Weltklimakonferenz.
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 69

Entwicklungsländern ziehen.18 So prognostiziert auch die


indonesische Regierung, dass eine Verfünffachung der
bislang registrierten Projekte möglich sein sollte.19

REDD: Waldschutz ökonomisch betrachtet

Dass die Initiative zur Reduzierung der Emissionen aus


Entwaldung und Waldschädigung (Reducing Emissions
from Deforestation and Degradation, REDD) die Bühne
des internationalen Klimaschutzes erreicht hat, kann auch
auf das indonesische Engagement zurückgeführt werden.
Während bei CDM der Schutz von Wäldern nicht berück-
sichtigt wird, setzt REDD genau hier an – ein vielverspre-
chender Ansatz insbesondere für tropenwaldreiche Länder
wie Indonesien.

In seinem Bericht über die wirtschaftlichen Aspekte des


Klimawandels beleuchtet Nicholas Stern die Potentiale, die
ein aktiverer Schutz natürlicher Wälder für die Erderwär-
mung hat. 18 Prozent der Treibhausgase sind auf Entwal-
dung zurückzuführen  – ein Wert, der laut Stern schnell
und ohne die Notwendigkeit teurer, technologischer Erneu-
erungen gesenkt werden kann.20 In Indone-
sien, so der nationale Rat für Klimawandel- In Bali 2007 präsentierte eine Koalition
fragen, soll auf diese Weise beispielsweise zum Schutz des Tropenwaldes REDD
als einen möglichen Rahmen, um Ent-
ein CO2-Rückgang von 22 Prozent möglich wicklungs- und Schwellenländer beim
sein. Auf der Weltklimakonferenz in Bali Schutz ihrer Waldbestände zu unter-
stützen.
2007 präsentierte eine Koalition zum Schutz
des Tropenwaldes REDD als einen möglichen
Rahmen, um Entwicklungs- und Schwellenländer beim
Schutz ihrer Waldbestände zu unterstützen. Kernidee ist
es, Wälder als CO2-Speicherquellen nach ökonomischen
Gesichtspunkten zu betrachten. In Form finanzieller Aus-
gleichszahlungen sollen diese Länder Anreize bekommen,
ihre Wälder zu erhalten und damit einen Beitrag zur

18 | Vgl. UNFCCC-CDM, „Registered project activities by host


party‟, http://cdm.unfccc.int/Statistics/Registration/NumOf
RegisteredProjByHostPartiesPieChart.html [14.02.2011].
19 | Ministry of Finance (Hrsg.), Ministry of Finance Green Paper:
Economic and Fiscal Policy Strategies for Climate Change
Mitigation in Indonesia (Jakarta, 2009), 4, http://www.fiskal.
depkeu.go.id/webbkf/siaranpers/siaranpdf%5CGreen%20
Paper%20Final.pdf [14.02.2011].
20 | Nicholas Stern, Stern Review on the Economics of Climate
Change (London, 2006), v.a. Kapitel 25 (Reversing Emissions
from Land Use Change), 537-538.
70 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

Senkung sowie zur Bindung des CO2-Ausstoßes zu leisten.


Damit sollen Mehrausgaben für Schutzmaßnahmen
kompensiert sowie Einnahmeverluste aufgefangen werden,
die die Länder zu verkraften haben, wenn sie Waldgebiete
nicht in profitable Investitionsflächen verwandeln.21 Bila-
terale Abkommen zwischen REDD-Geber- und Nehmer-
ländern sollen auch internationale Menschenrechtsins-
trumente berücksichtigen. Während der Kopenhagener
Weltklimakonferenz 2009 wurden diese Überlegungen
fortgesetzt: Um Kritikern entgegenzukommen, denen die
Nachhaltigkeit der REDD-Initiative zu kurz kam, wurden
Ergänzungen vorgenommen und unter der
REDD bietet einen ersten Anhalts- Bezeichnung „REDD+‟ zusammengefasst.
punkt, um über Handlungsanleitung Das „plus‟ steht hier für die Erweiterung um
für den Schutz der weltweiten Wald-
bestände nachzudenken. Bislang gibt Faktoren wie Naturschutz, nachhaltige Wald-
es jedoch keine verbindlichen Verein- wirtschaft und Wiederaufforstung.22
barungen.

Der von REDD skizzierte Rahmen bietet einen ersten


Anhaltspunkt, um über eine klimapolitisch und ökono-
misch sinnvolle Handlungsanleitung für den Schutz der
weltweiten Waldbestände nachzudenken. Bislang gibt es
keine verbindlichen Vereinbarungen, die als „REDD-Regel-
werk‟ bezeichnet werden können. Zwar haben die teilneh-
menden Delegationen der letzten Weltklimakonferenz im
mexikanischen Cancún die REDD-Initiative gelobt,23 so
dass ihre Einbindung in ein völkerrechtlich verbindliches
Kyoto-Nachfolgeprotokoll wahrscheinlicher wird. Doch
solange dies nicht der Fall ist, liegt der Erfolg von REDD in
den Händen jener Staaten, die bilaterale Vereinbarungen
aushandeln und damit Präzedenzfälle für den nachhaltigen
Schutz des Waldes schaffen.

Grünes Licht für REDD in Indonesien

Gemessen an dem weltweiten Finanzvolumen von etwa 3,3


Milliarden Euro,24 resultierend aus bi- und multilateralen

21 | WWF Deutschland, „Politische Maßnahmen: REDD. Industrie-


länder finanzieren Stopp der tropischen Entwaldung, um
Emissionen zu verringern‟, http://wwf.de/themen/kampagnen/
waelder-indonesiens/rettungsplan/redd [14.02.2011].
22 | Marianne Klute, „Die Geheimsprache der Klimapolitiker‟,
Suara, 3 (2010), 20-22.
23 | J. Jackson Ewing und Irene A. Kuntioro, „Cancún, Shifting
goals of climate talks‟, The Jakarta Post, 27.12.2010, 7.
24 | Keya Acharya, „Top leaders see the green in REDD+‟, The
Jakarta Post, 3.
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 71

REDD-Abkommen, nimmt Indonesien einen Spitzenplatz


unter den Nehmerländern ein. Die derzeit 40 existierenden
REDD-Projekte werden vor allem von drei Finanzkanälen
gespeist.25 Auf multilateraler Ebene durch die Teilnahme
an der REDD-Pilotphase der Vereinten Nationen26 und auf
bilateraler Ebene durch Abkommen der indonesischen
Regierung mit Australien und Norwegen.

Die Ankündigungen der australischen Regierung aus dem


vergangenen Jahr, weitere 55 Millionen Euro der indonesi-
schen Regierung für Emissionsreduzierungs-
maßnahmen zur Verfügung zu stellen,27 ste- Eine Milliarde US-Dollar will Norwegen
hen allerdings immer noch im Schatten des der indonesischen Regierung zur Ver-
fügung stellen, wenn diese Treibhaus-
norwegischen Engagements: Eine Milliarde gase nachweisbar durch den Erhalt von
US-Dollar (etwa 740 Millionen Euro) wollen Waldbeständen senken kann.
die Skandinavier in den nächsten sieben bis
acht Jahren der indonesischen Regierung zur Verfügung
stellen, wenn diese Treibhausgase nachweisbar durch den
Erhalt von Waldbeständen senken kann. Ein qualitativer
Unterschied zwischen dem Vorgehen Australiens und
Norwegens besteht in der ökologischen Selbstverantwor-
tung beider Länder. Die australische Regierung interpretiert
REDD als Klimahandelsinstrument à la CDM  – die indo-
nesische CO2-Reduktion wird nämlich auf das ­australische
Emissionskonto gebucht. Dagegen wollen sich die Skan-
dinavier in keiner Weise von der eigenen Verantwortung
freikaufen, oder in den Worten einer norwegischen Diplo-
matin: „Wir helfen Indonesien, ohne die eigenen Hausauf-
gaben zu vergessen.‟28

25 | David Gogarty und Olivia Rondonuwu, „Indonesia chooses


climate pact pilot province‟, Reuters, 30.12.2010,
http://reuters.com/article/2010/12/30/us-indonesia-climate-
idUSTRE6BT0NP20101230 [14.02.2011].
26 | Zu den REDD-Pilotländern zählen Bolivien, die Demokratische
Republik Kongo, Indonesien, Panama, Papua-Neuguinea,
Paraguay, Sambia, Tansania und Vietnam. Zur indonesischen
REDD-Pilotprovinz wurde im Oktober 2010 Zentralsulawesi
gekürt. Vgl. „UN-REDD lauds C.Sulawesi’s active support for
forests‟, The Jakarta Post, 22.01.2011, http://thejakarta
post.com/news/2011/01/22/unredd-lauds-c-sulawesi’s-active-
support-forests.html [14.02.2011].
27 | Neilson, Fn. 3; Fidelis E. Satriastanti, „Indonesia Sees Small
Victories At Cancún Talks‟, The Jakarta Globe, 11./12.12.2010,
6.
28 | Interview des Autors mit Diplomaten der Norwegischen
Botschaft, Jakarta, 21.01.2011.
72 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

REDD-plus-Fahrplan von Indonesien und


Norwegen in kritischer Phase

Im Mai 2010 haben sich die Regierungen Norwegens und


Indonesiens auf einen dreistufigen Plan verständigt, um
den indonesischen Wald zu schützen. Diese Absichtserklä-
rung (Letter of Intent) befindet sich nun in der Umset-
zung.29 In der ersten Phase soll ein institutioneller und
inhaltlicher Rahmen für die künftige Arbeit der indonesi-
schen Regierung geschaffen werden: Neben einer zu entwi-
ckelnden REDD plus-Strategie bedarf es einer Regierungs-
agentur, die dem Präsidenten direkt unterstellt ist und die
weiteren REDD-Maßnahmen koordiniert. Weitere Aufgaben
bestehen in der Gründung einer unabhängigen Institution
zur Fortschrittsüberprüfung (Monitoring, Reporting, Veri-
fication, MRV) und in der Benennung einer Pilotprovinz.
Die zweite Phase umfasst die Schaffung verbindlicher und
die Stärkung bestehender Rechtsgrundlagen
Am sensibelsten erscheint die Ver- sowie Befähigungsmaßnahmen (Capacity-
pflichtung Indonesiens, während eines building). Zudem muss ein Finanzierungs-
Zeitraums von zwei Jahren keine neuen
Konzessionen für Torf- und natürliche instrument entwickelt werden, durch das
Waldgebiete zu vergeben. die Zahlungen der norwegischen Regierung
fließen. Am sensibelsten erscheint gegen-
wärtig aber die Verpflichtung Indonesiens, während eines
Zeitraums von zwei Jahren keine neuen Konzessionen für
Torf- und natürliche Waldgebiete zu vergeben. Während
Norwegen Indonesien in den ersten beiden Phasen für die
Einleitung und Umsetzung politischer Reformen finanziell
belohnt, fließen weitaus höhere Summen ab 2014, wenn
die dritte Phase eingeleitet werden soll und die Zahlungen
auf Grundlage von Emissionsrückgängen berechnet
werden.30 22 Millionen Euro hat die norwegische Regierung
bereits vor dem Erreichen erster Ziele an die Indonesier
ausgezahlt.

29 | Der Letter of Intent wurde am 26.05.2010 in Oslo von beiden


Regierungen unterzeichnet. Er trägt den Titel „Cooperation
on reducing greenhouse gas emissions from deforestation
and forest degradation‟.
30 | Emissionsrundgänge werden im Sinne des „contributions-for-
verified emissions reductions mechanism‟ berechnet. Zur
Darstellung der drei Phasen: Vgl. „Letter of Intent between
the Government of the Kingdom of Norway and the Govern-
ment of the Republic of Indonesia on ‚Cooperation on reducing
greenhouse gas emissions from deforestation and forest
degradation‛‟, http://norway.or.id/PageFiles/404362/Letter_
of_Intent_Norway_Indonesia_26_May_2010.pdf [14.02.2011].
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 73

Eine Arbeitsgruppe ist derzeit damit beauftragt, die dem


Präsidenten unterstellte REDD-Agentur zu institutionali-
sieren.31 Um ihre Selbstverbindlichkeit zu unterstreichen,
hat die Regierung Personen zur Teilnahme
an der Arbeitsgruppe eingeladen, die in der Ende Dezember stand Zentralkaliman-
Öffentlichkeit hohes Ansehen genießen und tan als Pilotprovinz des Abkommens
fest. Der Entscheidung war ein trans-
als Experten bekannt sind.32 Ende Dezember parenter Auswahlprozess vorausge-
stand schließlich Zentralkalimantan als Pilot- gangen.
provinz des Abkommens fest. Der Entschei-
dung war ein transparenter Auswahlprozess vorausge-
gangen. Unter den 33 indonesischen Provinzen verursacht
Zentralkalimantan die zweitmeisten Treibhausgase. Eine
Millionen Hektar Palmölplantagen und ein schnell wach-
sender Kohlebergbau unterstreichen die Bedeutung der
Provinz für den nationalen Klimaschutz.33 Indonesische
Umweltorganisationen zeigten sich mit dem Auswahlpro-
zess und seinem Ergebnis zufrieden, weil davon auszu-
gehen ist, dass man angesichts des Konfliktpotentials in
Zentralkalimantan  – Palmöl- und Bergbauunternehmen
einerseits, Umwelt- und Klimaschutz andererseits  – hilf-
reiche Lektionen für die künftige Ausweitung des REDD
plus-Modells sammeln wird.34 Die notwendige politische
Stabilität vor Ort, ein wichtiges Auswahlkriterium für die
indonesische Seite35, war ebenfalls in Zentralkalimantan
am besten gegeben. Die finale Konkurrenz, die Provinz
Papua, hatte das Nachsehen. Aufgrund politischer und
gesellschaftlicher Spannungen sowie schwacher administ-
rativer Strukturen in dieser östlichsten Provinz Indonesiens
hatte die Zentralregierung in Jakarta Vorbehalte geäußert.

Bewährungsproben: REDD plus


in der Umsetzung

Kritische Töne begleiten das Ringen um das eingeforderte


Zweijahresmoratorium zum Schutz der Primärwälder sowie
der Sumpf- und Torfgebiete. Auf dem Schreibtisch von
Präsident Yudhoyono liegen im Augenblick zwei Entwürfe

31 | Fitrian Ardiansyah und Aditya Bayunanda, „A critical year for


REDD in Indonesia‟, The Jakarta Post, 10.01.2011, 7.
32 | Fn. 28.
33 | Gogarty und Rondonuwu, Fn. 25.
34 | Interview des Autors mit Nyoman Iswarayoga, Direktor für
Klima und Energie, WWF Indonesia, Jakarta, 10.01.2011.
35 | Fn. 28.
74 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

von konkurrierenden Akteuren:36 Die REDD-Arbeitsgruppe


unter ihrem Leiter Kuntoro Mangkusubroto setzt sich für
einen umfassenden Schutz ein, der alle Primärwälder
sowie sämtliche Moor- und Torfgebiete einschließt. Das
Forstministerium nimmt in der Debatte die Position der
Wirtschaft ein und argumentiert, dass ein zu umfassender
Schutz von Wäldern die ökonomische Entwicklung des
Landes beeinträchtigen würde. Folglich umfasst der Minis-
terialentwurf für das Moratorium lediglich den Schutz des
Primärwaldes und von Moorgebieten. Umweltaktivisten
bemängelten bereits zuvor, dass dies nicht weit genug
ginge: Nur den Primärwald durch ein Moratorium zu
schützen, so die Kritik, würde lediglich drei
Die reiche Biodiversität befindet sich Prozent des indonesischen Waldbestandes
in den Tieflandwäldern, die der Vor- vor dessen Ökonomisierung bewahren.37 Die
schlag nicht schützen würde. Schon im
November 2010 zog das Forstminis- reiche Biodiversität befindet sich allerdings in
terium die Wut von Umweltschützern den Tieflandwäldern, die der Vorschlag des
und Wissenschaftlern auf sich.
Ministeriums nicht schützen würde. Schon im
November 2010 zog das Forstministerium die
Wut von Umweltschützern und Wissenschaftlern auf sich,
als bekannt wurde, dass es rechtzeitig vor dem möglichen
Inkrafttreten des Moratoriums 41 Millionen Hektar Wald zu
Sondergebieten (special forest areas) deklarierte, um sie
dem Markt weiterhin für Konzessionen zur Verfügung zu
stellen.38

Dass ein entsprechendes Moratorium nicht, wie ursprüng-


lich geplant, zum 1. Januar 2011 in Kraft treten konnte,
verzögert die Umsetzung des „ambitionierten Zeitplans‟
schon in der Anfangsphase.39 Der Druck auf Yudhoyono,
der das Moratorium in Form eines Präsidialerlasses zu

36 | Adianto P. Simamora, „SBY still pondering planned forest


moratorium‟, The Jakarta Post, http://thejakartapost.com/
news/2011/02/07/sby-still-pondering-planned-forest-
moratorium.html [14.02.2011].
37 | Kritik von But Nordin, Direktor der Nichregierungsorganisation
Save Our Borneo, in: Fidelis E. Satriastanti, „Moratorium Won’t
Save Indonesia’s Forests: Activists‟, The Jakarta Globe,
07.01.2011, A6.
38 | Ein offener Brief von Wissenschaftlern an die Regierungen
Norwegens und Indonesiens (18.11.2010) kann nachgelesen
werden auf http://redd-monitor.org/2010/12/01/scientists-
letter-to-norway-and-indonesia-natural-forests-even-when-
not-in-their-primary-state-may-have-high-conservation-value
[14.02.2011].
39 | Fn. 28.
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 75

genehmigen hat, erhöhte sich zuletzt zusehends.40 Gleich-


zeitig richten sich die Blicke aber schon auf die nächsten,
nicht weniger heiklen Herausforderungen, wie beispiels-
weise die Ausgestaltung der Fortschrittsüberprüfung zum
CO2-Rückgang.

Konflikte – Risiken – Verantwortungen:


Die offenen Fragen

Bislang scheint Indonesien davon überzeugt zu sein, von


REDD ökonomisch und ökologisch zu profitieren. Dass in
Cancún 2010 kein verbindliches Rahmenab-
kommen für ein Kyoto-Nachfolgeprotokoll Schon vor ihrem Abflug nach Cancún
zustande gekommen ist, löste in Indonesien unterstrich die indonesische Delega-
tion, dass man gegebenenfalls in Zu-
jedenfalls keine große Irritation aus. Schon kunft auf bilaterale Abkommen setzen
vor ihrem Abflug nach Mexiko unterstrich die würde.
indonesische Delegation, dass man gegebe-
nenfalls in Zukunft auf bilaterale Abkommen setzen würde.41
Diese Position korrespondiert zwar mit der Forderung von
Umweltorganisationen, REDD müsse auch unabhängig
von internationalen Rahmenverträgen funktionieren – und
nötigenfalls auch in der Post-Kyoto-Phase bei fehlendem
Nachfolgeabkommen.42 Aber wäre damit auch ein Beitrag
zum internationalen Klima- und Umweltschutz geleistet?
Eine Stärkung des nationalstaatlichen Verhandlungspri-
mats würde jedenfalls die koordinierende und verein-
heitlichende Funktion von Weltkonferenzen langfristig
schwächen und schlimmstenfalls sogar obsolet machen.
Ob das norwegisch-indonesische REDD-Abkommen aber
Modellcharakter für bilateral ausgehandelte Klima- und
Waldschutzprogramme hat, bleibt angesichts einer Reihe
aufzuzeigender Konfliktmuster offen.

40 | Fidelis E. Satriastanti, „NGOs Appeal To Govt to Enact Logging


Moratorium‟, The Jakarta Globe, 08.02.2011,
http://thejakartaglobe.com/nvironment/ngos-appeal-to-govt-
to-enact-logging-moratorium/421320 [14.02.2011]. Bei
Fertigstellung des Manuskripts lag eine Entscheidung des
Präsidenten noch nicht vor. Über den aktuellen Stand infor-
miert beispielsweise http://redd-monitor.org.
41 | JG/Agenturen, „Indonesia Took Home a Little Money, But
Cancun Had Little to Shout About‟, The Jakarta Globe,
13.12.2010, A1.
42 | Fn. 34.
76 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

1. Ökonomisch-ökologisches Konfliktmuster

Aus ökologischer Perspektive stellt sich die Frage, wie


umfassend der Schutz des Waldes von den Vertragspar-
teien interpretiert wird. Beispielsweise besteht die Gefahr,
dass im Rahmen von Aufforstungsprogrammen keine
Sekundärwälder, sondern tendenziell mehr Monokulturen
in Form von Holzplantagen zu wirtschaftlichen Zwecken
entstehen.43 Dass ökonomische Entwicklungsforderungen
nicht gänzlich unberücksichtigt bleiben können, erkennen
Umweltorganisationen in Indonesien an: So schlägt WWF
Indonesien vor, dass der Privatsektor ebenfalls von den
norwegischen REDD-Zahlungen profitieren muss, sollte
absehbar sein, dass er sich nicht mehr unter normalen
Bedingungen entwickeln kann.44

Allerdings steht insbesondere die Palmölindustrie in der


Pflicht, in Forschung, Effizienz und Innovation zu inves-
tieren. Zwar ist das Land Marktführer im Palmölgeschäft,
doch gelingt es den Unternehmen in Indonesien nicht, in
gleicher Weise produktiv zu sein wie die Konkurrenz aus
Malaysia, wo pro Hektar Ölpalmen ein größerer Profit erwirt-
schaftet wird.45 Die Regierung war bislang nicht im Stande,
ein investitionsfreundliches Klima zu schaffen, denn verar-
beitende Industrien für die reichhaltigen Roherze, die in
Indonesien gefördert werden, sind weiterhin
Die Nutzung von Biodiesel, dessen Her- Mangelware. Auch der Westen steht in der
stellung auf Palmöl basiert, kann gegen- Verantwortung, eine ökologisch und ökono-
wärtig noch nicht den CO2-Wert kom-
pensieren, der durch Entwaldung für misch gerechte Position in der Palmöldebatte
Ölpalmplantagen freigesetzt wird. zu beziehen: Die Nutzung von Biodiesel,
dessen Herstellung auf Palmöl basiert, kann
gegenwärtig noch nicht den CO2-Wert kompensieren, der
durch Entwaldung für Ölpalmplantagen freigesetzt wird.

2. Politisch-gesellschaftliche Konfliktmuster

Die Berücksichtigung gesellschaftlicher (Partikular-) Inte-


ressen stellt eine weitere Herausforderung dar, die die

43 | Frank Priess, „Wer nichts erwartet, ist mit wenig zufrieden.


Klimagipfel in Cancún scheitert nicht, aber reicht der Erfolg?‟
KAS-Auslandsinformationen, 2/2011, 91.
44 | Fn. 34.
45 | Bislang werden in Indonesien nur auf einem Drittel der für
diesen Zweck zur Verfügung gestellten Flächen auch tatsäch-
lich Ölpalmen angebaut. Vgl. Fn. 28.
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 77

REDD-Verantwortlichen in Indonesien schon jetzt mitbe-


denken müssen. Das indonesische Peace Building Institute
kommt in seiner jüngsten Studie zu dem Er-
gebnis, dass in den vergangenen zwei Jahren In den vergangenen zwei Jahren ha-
Konflikte mit religiösem oder Stammeshin- ben Konflikte mit religiösem oder Stam-
meshintergrund nicht zugenommen,
tergrund nicht zugenommen haben, während während solche um natürliche Res-
solche um natürliche Ressourcen signifikant sourcen an Bedeutung gewonnen ha-
ben.
an Bedeutung gewonnen haben.46 Regelmäßig
kommt es zu Konflikten zwischen Palmölunter-
nehmern und der lokalen Bevölkerung, die sich weigert, im
Dienste der nationalen Entwicklung ihr Land abzutreten.
Zudem nehmen Zentrum-Peripherie-Konflikte in jenen
Provinzen zu, wo es der Regierung nicht gelingt, nationale
Politikstrategien mit den Bedürfnissen der Menschen vor
Ort in Einklang zu bringen.

Wichtig für die REDD-Beteiligten ist daher ein umfassender


Ansatz, der von Kommunikation mit allen Betroffenen
lebt und Verantwortlichkeiten auf möglichst viele Schul-
tern verteilt. Verbindlichkeiten dürfen nicht gegenüber
Vertragsparteien wie den Norwegern oder Australiern
erwachsen, sondern müssen auf dem Verantwortungs-
bewusstsein gegenüber der Gesellschaft gründen.47 In
einem Land wie Indonesien, wo 48 Millionen Einwohner
in Wäldern leben (und folglich von Entscheidungen des
Plantagen- und Minensektors betroffen sein können), ist
das Konfliktpotential entsprechend groß. Zudem sind indi-
gene Minderheiten in Entwicklungs- und Schwellenländern
oftmals nur unzureichend in Landnutzungsprozesse inte-
griert und werden so zu Opfern von Entscheidungen, die
anderenorts gefällt werden.48

Das Prinzip der „freien, rechtzeitigen und informierten


Zustimmung‟ (Free, Prior and Informed Consent, FPIC)
kann als wichtiger Beitrag zu einer Verständigung zwischen

46 | Das Peace Building Institute untersuchte für die Studie die


Berichterstattung in lokalen Medien. 2009 berichteten die
Medien von 54 Konflikten mit einem Bezug zu natürlichen
Ressourcen. 2010 waren es 74. Tifa Asrianti, „Swelling mining,
plantation lead to conflicts, damages‟, The Jakarta Post,
13.01.2011, 4.
47 | „Indonesien muss deutlich machen, dass die Regierung nicht
das macht, was Norwegen vorschreibt, sondern selbstständi-
ges Handeln vermitteln‟, so Nyoman Iswarayoga, Direktor für
Klima und Energie, WWF Indonesia; Fn. 34.
48 | Priess, Fn. 43, 91.
78 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

den beteiligten politischen, wirtschaftlichen und gesell-


schaftlichen Gruppen angesehen werden: Es besagt, dass
eine Gemeinschaft über Projekte mitentscheiden kann,
wenn daraus Konsequenzen für Landbesitz und -nutzung
resultieren.49 Auch die Vereinten Nationen argumentieren,
dass das „Recht auf Entwicklung‟ alle Rechte umfasst,
auch die der Indigenen.50 In der weiterentwickelten REDD
plus-Idee wird daher auch das FPIC-Prinzip aufgegriffen.
Norwegen hat großes Interesse an einer Einbeziehung aller
relevanten Akteure zum Ausdruck gebracht und zeigt sich
entsprechend zufrieden mit der bisherigen Umsetzung des
„Mehrparteienprozesses‟ (Multi-Stakeholders-Process).51

3. Anforderungen an die Politik

Die Debatte um den Präsidialerlass für das zweijährige


Moratorium zeigt: Ohne verbindliche Regeln und deren
Durchsetzung ist Umweltschutz wirkungslos. Wie sonst
sollen jene, die illegal Wälder fällen, zur
Parallel zu den erforderlichen Rechts- Rechenschaft gezogen werden oder indigene
mitteln bedarf es eines Paradigmen- Bevölkerungsgruppen ihre Besitzansprüche
wechsels in den Köpfen der Verant-
wortlichen. geltend machen? Parallel zu den erforder­
lichen Rechtsmitteln bedarf es eines Paradig-
menwechsels in den Köpfen der Verantwortlichen. Die
indonesische Wirtschaft, die bislang dem Credo folgte,
Bäume aus Gewinnstreben zu fällen, muss den Schutz und
die Verwaltung der Baumbestände zur neuen lukrativen
Leitidee machen.52

Indonesien wird nur dann finanziell von dem Abkommen


mit Norwegen profitieren, wenn die politischen Instituti­
onen und Agenturen auf nationaler und lokaler Ebene trans-
parent und verantwortlich agieren sowie rechtsstaatlichen

49 | Vgl. United Nations Declaration on the Rights of Indigenous


Peoples, Artikel 10, http://un.org/esa/socdev/unpfii/en/drip
[14.02.2011].
50 | UN-REDD-Programme (Hrsg.), Perspectives on REDD+,
(Genf, 2010), 4 ff.
51 | Dieser Prozess bringt die indonesische Regierung und Vertreter
aus Zivilgesellschaft und lokalen Gemeinden zusammen, z.B.
in Form von Workshops, um eine regelmäßige Plattform zum
Gedankenaustausch zu bieten. Fn. 28.
52 | So die Forderung von Kuntoro Magkusubroto, Leiter der
indonesischen REDD plus-Arbeitsgruppe. Vgl. Keya Acharya,
„Top leaders see the green in REDD+‟, The Jakarta Post, 3.
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 79

Prinzipien Folge leisten.53 Nicht grundlos stehen ­politische


Reformen sowie die Verabschiedung neuer und die Stär-
kung bestehender Rechtsverpflichtungen am Beginn des
norwegisch-indonesischen Fahrplans.

Der 1998 initiierte Transformationsprozess (Reformasi),


um die ehemalige Diktatur in eine Demokratie zu über-
führen, steht damit in der Verantwortung, in allen Politik-
feldern und auf allen Entscheidungsebenen
gleichermaßen demokratische und rechts- Wichtige Entscheidungen liegen dezen-
staatliche Reformen einzuleiten und bereits tral in der Verantwortung von lokalen
Entscheidungsträgern. Um Waldgebiete
verabschiedete Gesetze auf ihre Wirksamkeit vor der Planierraupe zu bewahren,
hin zu überprüfen. So tangiert auch der poli- bedarf es eines Pakts zwischen lokalen
und nationalen Institutionen.
tische und administrative Dezentralisierungs-
prozess der vergangenen Jahre den Effekti­
vitätsgrad von Umweltschutz: Wichtige Entscheidungen
bei der Landnutzung und dem Waldmanagement liegen
dezentral in der Verantwortung von lokalen Entscheidungs-
trägern.54 Um aber Waldgebiete vor der Planierraupe zu
bewahren, bedarf es eines Pakts zwischen lokalen und
nationalen Institutionen, der auch eine finanzielle Beteili-
gung der Provinzen an den nationalen (REDD-)Konditions-
zahlungen aus dem Ausland vorsehen muss.

In Entwicklungs- und Schwellenländern stellt sich außer-


dem die Frage nach den geografischen Grenzen politi-
scher Herrschaft: Gebiete, in denen die Regierung eines
Landes angesichts konkurrierender Akteure nur schwache
Macht hat, stellen eine zusätzliche Herausforderung für
die Durchsetzung von Entscheidungen dar.55 Das indone-
sische Umweltministerium wird 2011 Präventionskampag-
nen durchführen, um über die Folgen von Waldbränden
aufzuklären. Zudem ist geplant, dass mittels neuer Regu-
lierungen das bestehende Gesetz zum Schutz und Manage-
ment der Umwelt (von 2009) und das Abwassergesetz
(von 2008) gestärkt werden.56 Damit wird zumindest aus
umweltpolitischer Perspektive das Problem der begrenzten
Staatsmacht angegangen.

53 | Harvard Kennedy School, Fn. 3.


54 | Ministry of Finance, Fn. 19, 12.
55 | Priess, Fn. 43, 91.
56 | Fidelis E. Satriastanti, „Indonesia Eyes Spot on Green Climate
Fund Committee‟, The Jakarta Globe, 06.01.2011, A7.
80 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

Fazit

Armutsbekämpfung und wirtschaftliche Entwicklung


werden von norwegischer und indonesischer Seite als
übergeordnete Ziele der REDD plus-Absichtserklärung
definiert. Sie steht damit in der Tradition der Resolution der
Vereinten Nationen zum „Recht auf Entwicklung‟. Wollen
die Industriestaaten Entwicklungs- und Schwellenländer
als Partner im Kampf gegen den Klimawandel gewinnen,
müssen Anreize geschaffen werden, die die Klimaprog-
nosen der Wissenschaft und die Wohlstandsforderungen
der südlichen Hemisphäre gerecht zu verbinden wissen. Der
in Cancún beschlossene grüne Klimafonds (Green Climate
Fund, GCF), der Entwicklungs- und Schwellenländern dabei
helfen soll, die Folgen des Klimawandels zu verkraften,
kann ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung sein.57
Die abschließende Institutionalisierung des GCF soll im
südafrikanischen Durban erfolgen, wo im Dezember 2011
die nächste Weltklimakonferenz stattfinden wird.

Dass sich mit Eigeninitiative und Engagement mehr als


nur Anpassungs- und Kompensationszahlungen verdienen
lassen, wird die indonesische Regierung in den kommenden
Jahren unter Beweis stellen können. Gelingt
Die Weltgemeinschaft steht in der Ver- dies, werden möglicherweise andere Ent-
antwortung, Staaten in ihrem Beitrag wicklungs- und Schwellenländer ebenfalls
zum Klimaschutz zu stärken. Im Falle
Indonesiens heißt das auch, ökolo- mehr Engagement für Umwelt- und Klima-
gisch attraktive Wachstumsmärkte zu schutz aufbringen. Dieser Prozess bedarf
fördern.
aufmerksamer internationaler und innenpo-
litischer Beobachtung. Die Weltgemeinschaft steht in der
Verantwortung, Staaten in ihrem Beitrag zum Klimaschutz
zu stärken. Im Falle Indonesiens heißt das auch, ökologisch
attraktive Wachstumsmärkte zu fördern. Angesichts demo-
graphischer Entwicklungen steht Indonesien gegenwärtig
vor der Herausforderung, eine jährlich wachsende Ener-
gienachfrage von sieben bis neun Prozent zu sättigen.58
Kohlekraftwerke stellen aus indonesischer Sicht immer
noch die günstigste Energiequelle dar, obwohl der Inselar-
chipel über 40 Prozent der weltweit verfügbaren Geother-
malenergie verfügt, eine ökologisch wertvolle Form der

57 | Von 2010 bis 2012 sollen 30 Milliarden US-Dollar in den GCF


fließen, bis 2020 sind weitere 100 Milliarden US-Dollar geplant.
Vgl. Ewing und Kuntioro, Fn. 23, 7.
58 | Ministry of Finance, Fn. 19, 5.
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 81

Stromerzeugung. Hier liegt Indonesien noch hinter seinen


Potentialen zurück. Bis 2025 sollen allerdings nicht
mehr acht, sondern 20 Prozent Strom durch Geothermie
erzeugt werden.59 Wissens- und Forschungstransfer kann
beispielsweise dazu beitragen, die Nutzung von Geother-
mieenergie kostengünstiger zu gestalten, so dass neue
CO2-intensive Kohlekraftwerke keine Alternative mehr
darstellen. Eine weitere unzureichend genutzte Einnahme­
quelle stellen aus indonesischer Sicht CDM-
Projekte dar. Unklar ist allerdings, wie die Umweltverbände fordern öffentlich we-
Regierung fünfmal mehr CDM-Projekte reali- niger internationale Profilierung und
mehr innenpolitische Reformen und
sieren will.60 Innenpolitisch sieht sie sich kritisieren damit vor allem Indonesi-
verstärkt der Kritik heimischer Umweltver- ens Streben nach einem Sitz im GCF-
Kontrollrat.
bände ausgesetzt. Diese fordern öffentlich
weniger internationale Profilierung und mehr
innenpolitische Reformen und kritisieren damit vor allem
Indonesiens Streben nach einem Sitz im GCF-Kontrollrat.61
Ein Aktionsplan, der beschreibt, wie die Regierung in den
nächsten Jahren die Treibhausgasemissionen um 26 bis 41
Prozent senken will, hat aus ihrer Sicht jedenfalls Priorität.

Der Vorstoß von Präsident Yudhoyono, auf freiwilliger Basis


Emissionen einzusparen, wirkt angesichts der nachzuho-
lenden und fortzusetzenden Rechtsreformen überaus ambi-
tioniert. Einen Erfolg wird er aber nur verbuchen können,
wenn der Absichtserklärung mit Norwegen ein Gesell-
schaftsvertrag mit den zentralen Akteuren aus Politik, Wirt-
schaft, Umweltverbänden und indigenen Bevölkerungs-
gruppen folgt. Erst wenn die Regierung damit reüssiert,
wird sie ihrem Selbstverständnis als starkes Schwellenland
(nicht nur in G-20 und in ASEAN) mit Führungsambitionen
und Vorzeigecharakter gerecht werden.

59 | Nieke Indrietta, „Suspended Ambition‟, TEMPO, 25.01.2011,


49.
60 | Ministry of Finance, Fn. 19, 4.
61 | Fn. 34.
82 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

Die Klimapolitik der


Volksrepublik China –
Grundlage für ein nach-
haltiges Wachstum?

Andreas Dittrich ist


wissenschaftlicher
Mitarbeiter der Andreas Dittrich
Konrad-Adenauer-
Stiftung in Shanghai.

In den Medien wird China häufig als „Bremser‟ in den inter-


nationalen Klimaverhandlungen dargestellt. Westliche Poli-
tiker versuchen immer wieder, Peking für den mangelnden
Fortschritt beim Klimaschutz verantwortlich zu machen.
China ist zwar der weltweit größte Verursacher von Treib-
hausgasen und bislang nicht bereit, verbindliche absolute
Reduktionsziele zu akzeptieren. Was in den internationalen
Debatten allerdings nicht hinreichend anerkannt wird,
ist die Tatsache, dass China eine durchaus ambitionierte
Klimapolitik auf nationaler Ebene verfolgt. China investiert
Milliarden in die Förderung alternativer Energiequellen
sowie in die Steigerung der Energieeffizienz und kann dabei
bereits beachtliche Erfolge verzeichnen. Anstatt die Volks-
republik zum Sündenbock zu machen, sollte der Westen
sie vielmehr durch Beratung und Technologietransfer beim
Umbau ihrer Wirtschaft in Richtung Nachhaltigkeit und
Ressourcenschutz unterstützen.

Fakten und Prognosen

China gehört zu den Ländern, die weltweit am stärksten vom


Klimawandel betroffen sind. Laut Schätzungen könnte der
durchschnittliche Temperaturanstieg bis 2020 im Vergleich
zum Zeitraum 1961 bis 1990 1,1 bis zwei Grad betragen.
Zu den gravierenden Folgen gehören Dürren und der Rück-
gang der Niederschläge in Nordchina sowie Überschwem-
mungen aufgrund verstärkter Niederschläge in Südchina,
die wiederum einen starken Rückgang der Nahrungsmit-
telproduktion zur Folge haben könnten. Bis 2030 wird ein
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 83

Rückgang von fünf bis zehn Prozent prognostiziert, und die


Produktion von Reis, Mais und Weizen wird in der zweiten
Hälfte des Jahrhunderts um schätzungsweise 37 Prozent
sinken, sofern keine Gegenmaßnahmen ergriffen werden.1
Von extremen Wetterbedingungen sind bereits jetzt jähr-
lich 200 bis 400 Millionen Chinesen betroffen, und pro Jahr
fallen ca. zehn Millionen Bauern aufgrund von extremen
Wetterereignissen unter die Armutsgrenze.2

Die Gletscher auf dem Qinghai-Plateau schmelzen weiter


ab und die Permafrostböden in Tibet werden dünner. Bei
den Gletschern in China ist bereits ein Rückgang um 21
Prozent zu verzeichnen, und die Permafrostböden sind in
den vergangenen 50 Jahren um vier bis fünf Meter dünner
geworden. Kurzfristig hat dies Überschwemmungen und
langfristig eine Verknappung der Wasserressourcen zur
Folge. Aufgrund des Anstiegs des Meeresspiegels sind
Küstenregionen in China, einschließlich des Yangtse-Deltas
und Shanghais, von Überschwemmungen bedroht. Zudem
sind das Aussterben einiger Tier- und Pflanzenarten und
ein erheblicher Rückgang der Biodiversität zu befürchten.3

China trägt aufgrund seines hohen Wirtschaftswachstums,


das bislang noch in hohem Umfang auf energieintensiver
Produktion basiert, in zunehmendem
Maße zum globalen Klimawandel bei. Es wird geschätzt, dass der weltweite
Es wird geschätzt, dass China bereits Anstieg von CO2-Emissionen zwischen
1990 und 2007 zu 48,5 Prozent China
seit 2007 der größte Emittent von CO² zugerechnet werden kann.
ist und der weltweite Anstieg von CO²-
Emissionen zwischen 1990 und 2007 zu 48,5 Prozent der
Volksrepublik zugerechnet werden kann.4 Da der Anteil
von Kohle am Primärenergieverbrauch bei über 70 Prozent
liegt, ist es für China besonders schwierig, den Ausstoß
von Treibhausgasen zu reduzieren. Der chinesische Anteil

1 | Vgl. Lin Erda et al., Synopsis of China National Climate Change


Assessment Report (II) – Climate Change Impacts and Adap-
tion, 2007, 4, http://law.berkeley.edu/centers/envirolaw/
capandtrade/Lin%20Erda%202-5-07.pdf [04.01.2010].
2 | Vgl. Thomas Heberer und Anja D. Senz, Regionalexpertise –
Destabilisierungs- und Konfliktpotential prognostizierter
Umweltveränderungen in China bis 2020/2050, 2007, 3-4.
3 | Vgl. National Development and Reform Commission (NDRC),
China’s National Climate Change Programme, 2007, 17.
4 | Vgl. Andreas Oberheitmann und Eva Sternfeld, „Climate
Change in China – The Development of China’s Climate Policy
and its Integration into a new Post-Kyoto Climate Regime‟,
Journal of Current Chinese Affairs, 3/2009, 137.
84 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

an den globalen CO²-Emissionen lag 2008 bei 19 Prozent


und wird 2030 voraussichtlich bei 27 Prozent liegen. Um
den weltweiten Temperaturanstieg bis 2100 auf unter
zwei Grad im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter zu
begrenzen – ein Wert, der laut dem International Panel on
Climate Change (IPCC) notwendig ist, um die Folgen des
Klimawandels auf einem erträglichen Niveau zu halten – ist
deshalb eine aktive Beteiligung Pekings unabdingbar.5

Beim Ausstoß pro Kopf liegt China immer noch weit hinter
den USA und Europa, weshalb sich Peking bei den inter-
nationalen Klimaverhandlungen gegen ein
China argumentiert, die Industrielän- verpflichtendes absolutes Reduktionsziel aus-
der trügen eine historische Verantwor- spricht. China argumentiert, die Industrie-
tung für den Treibhauseffekt, und beruft
sich auf das Prinzip der „gemeinsamen, länder trügen eine historische Verantwortung
aber unterschiedlichen Verantwortung‟. für den Treibhauseffekt und sollten dieser
durch ehrgeizige Reduktionsziele Rechnung­
tragen. Dabei beruft sich Peking auf das Prinzip der
„gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortung‟,
das in der United Nations Framework Convention on
Climate Change (UNFCCC) festgeschrieben wurde. China
hat das Kyoto-Protokoll 1998 unterzeichnet und 2002
ratifiziert, gehört jedoch zu den Annex II-Staaten, für die
sich aus dem Beitritt keine Verpflichtungen zur Reduktion
ihrer Emissionen ergeben. China konnte allerdings vom
Kyoto-Protokoll profitieren, da es Annex I-Staaten die
Möglichkeit eröffnete, durch Projekte zur CO²-Reduktion
in Annex II-Ländern im Rahmen des Clean Development
Mechanisms (CDM), die eigene CO²-Bilanz zu verbessern.
Bis 2008 wurden über 1.500 CDM-Maßnahmen in China
genehmigt. Die Volksrepublik ist mit einem Anteil von
34 Prozent mit Abstand der wichtigste Zielort für solche
Projekte.6 Bei den Verhandlungen über ein Nachfolgeab-
kommen für Kyoto, das 2012 ausläuft, verfolgt Peking
das Ziel, dieses zu verlängern, ohne dass sich etwas an
der Unterscheidung ändert zwischen Annex I-Staaten,
für die bindende absolute Reduktionsziele gelten, und
den Schwellen- und Entwicklungsländern, die sich höchs-
tens freiwillig verpflichten können. In Positionspapieren,
die China im Februar und Mai 2009 an das Sekretariat
der UNFCCC versendet hat, wird eine Verringerung des

5 | Vgl. Cheng Qian, Ein Portrait der Klimapolitik Chinas,


Germanwatch Positionspapier, 2009, 4.
6 | Vgl. Oberheitmann, Sternfeld, Fn. 4, 139-140.
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 85

CO²-Austoßes von Industrieländern um 40 Prozent bis


2020 im Vergleich zu 1990 gefordert. Zudem sollen die
Industriestaaten 0,5 bis ein Prozent ihres BIP bereitstellen,
um Entwicklungsländern bei der Anpassung an den Klima-
wandel zu helfen.7

China hat sich auch bereits ein eigenes Ziel zur Reduktion
des CO²-Ausstoßes gesetzt. Im November 2009 kündigte
die Regierung an, die CO²-Intensität bis 2020 im Vergleich
zum Basisjahr 1990 um 40 bis 45 Prozent zu reduzieren.
Dieses Ziel wurde auch in den Kopenhagen-
Akkord vom Januar 2010 aufgenommen. Auf Im Oktober 2010 hat die chinesische
der Klimakonferenz in Cancún im Dezember Regierung in Tianjin zum ersten Mal im
eigenen Land eine UN-Klimakonferenz
2010 hat China sogar angedeutet, internatio- ausgerichtet.
nale Kontrollen seiner CO²-Emissionen zuzu-
lassen.8 Dies sind erste Anzeichen, dass China bereit ist,
eine aktivere Rolle in den internationalen Bemühungen
zum Klimaschutz zu spielen. Weitere Beispiele sind die
wachsende Delegationsgröße bei den internationalen
Klimaverhandlungen sowie die Tatsache, dass China im
Oktober 2010 in Tianjin zum ersten Mal im eigenen Land
eine UN-Klimakonferenz ausgerichtet hat.

Insgesamt ist China zwar noch zurückhaltend, bei den


internationalen Klimaverhandlungen eine aktivere Rolle
zu spielen. Auf nationaler Ebene wurde aber schon längst
erkannt, dass eine Verringerung des Wachstums der
Energie- und damit auch der CO²-Intensität notwendig
ist, um wichtige Entwicklungsziele der Volksrepublik in den
Bereichen Umweltschutz und Energiesicherheit zu errei-
chen. Langfristige Folgen des Klimawandels spielen eine
wesentlich geringere Rolle für politische Entscheidungen
als unmittelbar feststellbare Umweltprobleme wie die Luft-
und Wasserverschmutzung. Zudem besteht aufgrund der
zunehmenden Importabhängigkeit bei Primärenergieträ-
gern die Einsicht, dass die Steigerung der Energieeffizienz
und die Nutzung neuer Energien einen entscheidenden

7 | Vgl. Gudrun Wacker, „Caught in the Middle: China’s Crucial


but Ambivalent Role in the International Climate Negotiations‟,
in: Susanna Dröge, International Climate Policy – Priorities of
Key Negotiating Partners, SWP, 2010, 60.
8 | Vgl. Shi Jiangtao, „China’s Bid to Break Climate Deadlock‟,
South China Morning Post, 08.12.2010, http://topics.scmp.com/
news/china-news-watch/article/China-bid-to-break-climate-
deadlock1 [15.02.2011].
86 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

Beitrag zu Chinas Energiesicherheit leisten können. Des


Weiteren ist Peking bewusst, dass eine Förderung alterna-
tiver Energiequellen und Umwelttechnologien chinesische
Unternehmen dazu befähigen kann, auf diesen Zukunfts-
märkten Fuß zu fassen und ein wichtiger Pfeiler der
zukünftigen wirtschaftlichen Entwicklung Chinas und des
notwendigen Strukturwandels zu werden. Die Verringe-
rung der Treibhausgase wird also mehr als Nebenprodukt
von Umweltschutz, Energieeffizienzverbesserungen und
der Erreichung nationaler Entwicklungsziele angesehen.

Die wichtigsten Institutionen der chinesischen


Klima-, Energie- und Umweltpolitik

Klimapolitik als Querschnittaufgabe, an der eine Vielzahl


von staatlichen und privaten sowie nationalen und interna-
tionalen Akteuren beteiligt ist, erfordert ein hohes Maß an
Koordination. Eine kohärente Klimapolitik zu formulieren,
erscheint in China besonders schwierig, da sich Zuständig-
keiten noch im Wandel befinden. Besonders die Energiepo-
litik ist fragmentiert und zeichnet sich durch institutionelle
Schwäche aus.

Die wichtigsten Akteure in der chinesischen Klimapolitik


befinden sich im Außenministerium und der Nationalen
Kommission für Reform und Entwicklung (NDRC). Unter
dem Vorsitz der NDRC existiert bereits seit 1988 das Natio-
nal Coordination Committee on Climate Change (NCCCC),
die wichtigste Institution der chinesischen
Die Nationale Kommission für Reform Klimapolitik. Sie besteht aus Vertretern von
und Entwicklung (NDRC) trägt die 17 Ministerien und Institutionen und ist mit
Hauptverantwortung für die Vertre-
tung Chinas bei internationalen Klima- der Formulierung einer einheitlichen chinesi-
konferenzen. schen Klimapolitik sowie der Anleitung von
Provinz- und Lokalregierungen bei der Bekämpfung des
Klimawandels betraut. Die NDRC ist die einflussreichste
Einrichtung innerhalb des NCCCC und trägt die Hauptver-
antwortung für die Vertretung Chinas bei internationalen
Klimakonferenzen. Zur besseren Koordination der Klima-
politik wurde 2005 die Nationale Führungsgruppe zum
Klimawandel unter der Leitung von Premierminister Wen
Jiabao gegründet, an der sich alle Minister beteiligen, die
für Energie- und Umweltpolitik wichtig sind.9

9 | Vgl. Dirk Rommeney, Climate and Energy Policy in the People’s


Republic of China (Heinrich Böll Stiftung China, 2008), 15.
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 87

Auch in der Energiepolitik spielt die NDRC eine heraus-


ragende Rolle. Das Umweltbüro der NDRC ist für die
Bereiche Energiekonsum und Energieeffizienz zuständig.
2005 wurde die Nationale Führungsgruppe für Energie
geschaffen, die ebenfalls vom Premierminister geleitet
wird. Sie ist zuständig für die Koordinierung zwischen den
für den Energiebereich wichtigen Ministerien und Regie-
rungseinrichtungen. Gemäß den Umstrukturierungsplänen
des elften Nationalen Volkskongresses (NVK)
vom März 2008 sollen zudem eine Nationale Für die Erforschung von Technologien
Energiekommission, die Strategien im Ener- sowie politischer Konzepte im Bereich
Erneuerbare Energiequellen ist das
giebereich entwickeln soll, und das State Center for Renewable Energy Develop-
Energy Bureau unter der NDRC geschaffen ment zuständig.
werden. Das State Energy Bureau soll dann
für die Verwaltung und Überwachung des Energiesektors
verantwortlich sein. Für die Erforschung von Technologien
sowie politischer Konzepte im Bereich Erneuerbare Ener-
giequellen ist das Center for Renewable Energy Develop-
ment zuständig. Dieses untersteht dem Energy Research
Institute, das der NDRC ebenfalls angeschlossen ist. Das
Umwelt­ministerium ist ein Fürsprecher einer aktiven
Klimapolitik, sowohl auf nationaler als auch auf internatio-
naler Ebene, verfügt aber kaum über Kompetenzen in der
Klimapolitik. Es ist lediglich für die Planung von Umwelt-
projekten sowie die Ausarbeitung von Umweltauflagen und
deren Überwachung zuständig.10

Ziele und MaSSnahmen chinesischer


Klimapolitik

Seit Ende der neunziger Jahre hat die chinesische Regie-


rung ihre Bemühungen in den Bereichen Umwelt- und
Klimaschutz stark ausgeweitet. Dies äußert sich in einer
Vielzahl von Gesetzen und Bestimmungen, die seitdem
erlassen wurden, sowie der Veröffentlichung von Plänen,
Leitlinien und Berichten. Zu nennen sind hier vor allem
das Energiespargesetz von 1998, der China Medium
and Long Term Energy Conservation Plan von 2004, das
Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG), das 2005 verab-
schiedet wurde, und das China’s National Climate Change
Programme (CNCCP) vom Juni 2007, in dem die Auswir-
kungen des Klimawandels in China sowie bereits ergriffene
und zukünftige konkrete Maßnahmen zur Bekämpfung des

10 | Vgl. ebd., 11-15.


88 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

Klimawandels aufgelistet werden. Den jeweiligen Vorhaben


ordnet das Programm genaue CO²-Reduktionszahlen zu.
Außerdem ist hier der Mittel- und Langfristige Entwick-
lungsplan für Erneuerbare Energie vom September 2007
wichtig. In diesem legt die NDRC Leitlinien, Ziele und poli-
tische Maßnahmen für den Ausbau Erneuerbarer Energien
in China bis 2020 fest. Im elften Fünfjahresplan (2005 bis
2010) wurde eine Reduktion des Energieverbrauchs im
Verhältnis zum BIP um 20 Prozent gefordert, was sich als
äußerst ehrgeizige und schwer zu erreichende Zielmarke
herausstellte. Die Reduzierung der Energieintensität wurde
im abgelaufenen Fünfjahresplan zudem zum ersten Mal als
Hauptziel priorisiert.11

Erneuerbare Energien

Besonderes Augenmerk gilt der Förderung regenerativer


Energiequellen. Ihr Anteil am Primärenergieverbrauch der
Volksrepublik lag 2005 bei ca. 7,5 Prozent. Laut dem
Mittel- und Langfristigen Entwicklungsplan
Wasserenergie ist die mit Abstand für Erneuerbare Energie in China soll ihr
wichtigste alternative Energiequelle. Anteil bis 2010 auf zehn Prozent und bis 2020
Ihr Anteil lag 2007 bereits bei 16 Pro-
zent. Andere regenerative Energieträ- auf 15 Prozent am Primärenergieverbrauch
ger spielen bislang eine untergeord- steigen. Der Anteil an der Stromproduktion
nete Rolle.
soll dann 20 Prozent betragen.12

Wasserenergie ist die mit Abstand wichtigste alternative


Energiequelle zur Stromerzeugung in China. Der Anteil von
Wasserkraftprojekten, einschließlich der aufgrund ihrer
Auswirkungen auf die Umwelt und der Umsiedlung von
Millionen von Menschen kritisch zu betrachtenden Groß-
projekte wie des Drei-Schluchten-Staudamms, lag 2007
bereits bei 16 Prozent. Der Anteil der als nachhaltiger
betrachteten Kleinen Wasserkraft13 liegt aber immerhin bei
fünf Prozent, womit sie die zweitwichtigste erneuerbare
Quelle zur Stromerzeugung darstellt. Im Vergleich dazu
spielen andere regenerative Energieträger bislang eine
untergeordnete, Photovoltaik sogar nur eine marginale
Rolle.14

11 | Vgl. ebd., 10.


12 | Vgl. ebd., 18.
13 | Kleine Wasserkraft ist nicht weltweit einheitlich definiert.
In der EU werden darunter nur Wasserkraftwerke mit einer
Leistung von bis zu zehn MW, in China hingegen von bis zu
30 MW gefasst.
14 | Vgl. Rommeney, Fn. 9, 43.
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 89

Die wichtigste gesetzliche Grundlage in diesem Bereich


stellt das chinesische Erneuerbare-Energien-Gesetz dar,
das am 1. Januar 2006 in Kraft getreten ist. Es orientiert
sich stark am deutschen EEG. Das Gesetz verpflichtet alle
Netzbetreiber, den verfügbaren Strom aus Erneuerbaren
Energien vollständig aufzukaufen und Stromproduzenten
aus Erneuerbaren Energien einen Anschluss an das Strom-
netz zur Verfügung zu stellen. Zudem gibt es garantierte
Einspeisungsvergütungen für Strom aus Erneuerbaren
Energien, die von den zuständigen Preissetzungsbehörden
des Staatsrates individuell, je nach Art der regenerativen
Energieträger, nach Regionen und sogar nach einzelnen
Projekten, festgelegt werden. Die erhöhten Kosten müssen
von den Endverbrauchern landesweit gemeinsam getragen
werden. Die Preise werden dann gemäß dem technischen
Fortschritt regelmäßig angepasst. Eine landesweit einheit-
liche, garantierte Einspeisevergütung gibt es bislang
allerdings nur bei Strom aus Biomasse. Sie liegt bei 0,25
Renminbi (RMB) (0,03 Euro) pro Kilowattstunde und gilt
für die ersten 15 Jahre der Laufzeit eines Biomasse-Kraft-
werks. Bei anderen Erneuerbaren Energieträgern wird der
Einspeisetarif je nach Projekt festgelegt.15

Für den Fall einer Weigerung von Netzbetreibern, erneu-


erbare Stromquellen an das Netz anzuschließen, sieht
das EEG Schadensersatz für entgangene Einnahmen des
Stromproduzenten vor. Wird der Anschluss nicht innerhalb
einer bestimmten Frist ermöglicht, sieht das Gesetz erneut
eine Geldstrafe vor. Zudem sind in dem
Gesetz Vorzugskredite und Steuererleichte- China war bereits 2009 mit einem
rungen für Projekte im Bereich Erneuerbare Investitionsvolumen von 25,3 Milliar-
den Euro der größte Investor in Erneu-
Energien festgelegt. Die allgemeine Mehr- erbare Energien.
wertsteuer von 17 Prozent wird zum Beispiel
bei Strom aus Projekten der Kleinen Wasserkraft auf sechs
Prozent und bei Biogasanlagen auf 13 Prozent reduziert.
Um Investitionen in regenerative Energien, Steuererleich-
terung und garantierte Einspeisevergütungen zu finan-
zieren, verlangt das Gesetz die Einrichtung eines Fonds
für Erneuerbare Energien.16 Aufgrund dieser Maßnahmen
war China bereits 2009 mit einem Investitionsvolumen von

15 | Vgl. ebd., 41-42.


16 | Vgl. ebd., 41.
90 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

34,6 Milliarden US-Dollar (25,3 Milliarden Euro) der größte


Investor in Erneuerbare Energien.17

Windenergie

China verfügt über erhebliche Windressourcen, die zur


Stromerzeugung nutzbar gemacht werden können. Die
Verteilung dieser Ressourcen stellt das Land allerdings
vor erhebliche Herausforderungen bei der Netzübertra-
gung. Besonders gut ausgebaut sind die Stromnetze an
der Ostküste, wo auch die Nachfrage nach Energie am
größten ist. Jedoch befinden sich lediglich im Nordwesten
sowie Offshore, also in den Gewässern vor der Küste,
ausreichend windreiche Freiflächen, die sich zur Errich-
tung von Windparks eignen. Dennoch besteht ein riesiges
Potential zur Nutzung von Windenergie. Die NDRC hatte
es stark unterschätzt, und im EER von 2005 für das Jahr
2010 eine installierte Leistung von lediglich fünf Gigawatt
(GW) anvisiert. Dieser Wert wurde bereits 2007 erreicht.
Das Ziel von 30 GW für 2020 wird wahrscheinlich spätes-
tens 2012 erreicht sein, weshalb die NDRC
In den vorangegangenen vier Jahren erwägt, auf 100 GW aufzustocken.18 In den
hatte sich die installierte Leistung im vorangegangenen vier Jahren hatte sich die
Windsektor jeweils verdoppelt. 2009
hat China bei der kumulierten Leistung installierte Leistung im Windsektor jeweils
Deutschland überholt. verdoppelt, 2009 lag sie bereits bei 25,8 GW.
Bei der kumulierten Leistung hat China im
gleichen Jahr Deutschland überholt und lag hinter den USA
auf dem zweiten Platz. Bei der neu installierten Leistung
lag das Land 2009 schon auf Platz eins. Bislang konzent-
rierte sich die Errichtung von Windparks auf das Festland.
Der Aufbau von Offshore-Windkraftanlagen hat erst vor
kurzem begonnen. 2010 wurde das erste Offshore-Projekt
mit einer Leistung von 100 MW vor der Küste Shanghais
fertig gestellt. Die chinesischen Küstenprovinzen planen
allerdings, den Aufbau weiterer Anlagen massiv voranzu-
treiben, und rechnen bis 2020 mit einer installierten Leis-
tung von insgesamt 33 GW.

17 | Vgl. Xinhua, „Cancun Delegates praise China’s Green Energy


Push‟, China Daily Online, http://chinadaily.com.cn/china/
2010cancunclimate/2010-12/02/content_11645342.htm
[04.12.2010].
18 | Vgl. The China Greentech Report 2009, 2009, 6, http://china-
greentech.com/sites/default/files/CGTR2009-REIndividual.pdf
[11.01.2011].
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 91

Zur Förderung der Windenergie schreibt die NDRC regel-


mäßig große Projekte mit einer Kapazität von mindes-
tens 100 MW aus, die an die Anbieter mit der geringsten
Einspeisegebühr und dem höchsten lokalen Fertigungs-
anteil vergeben werden. Der lokale Fertigungsanteil für
staatliche Großprojekte wurde bis 2010 auf mindestens 70
Prozent festgelegt, um chinesischen Produzenten bei der
Entwicklung zu helfen.19 Da mittlerweile drei der weltweit
sieben größten Hersteller aus China kommen und diese
jetzt verstärkt auf Export setzen, hat die Regierung diese
Praxis nun allerdings aufgegeben, um zu verhindern, dass
andere Staaten ihrerseits den Marktzugang für chinesische
Hersteller beschränken. Die starke Unterstützung der nati-
onalen Hersteller ermöglichte den drei größten Windener-
giekonzernen Sinovel, Xinjiang Goldwind und Dongfang
Electric, ihren Anteil am chinesischen Markt zwischen 2006
und 2009 von 40 Prozent auf 60 Prozent zu erhöhen. Der
Anteil internationaler Anbieter ging hingegen im gleichen
Zeitraum von 53 Prozent auf elf Prozent zurück.20 In der
Anfangsphase dieser Windenergieprojekte garantiert die
Regierung eine feste Einspeisevergütung. Nach einer Lauf-
zeit von 30.000 Stunden wird dann der normale Strompreis
angewandt. Die lokalen Netzbetreiber sind verpflichtet,
den produzierten Strom vollständig aufzukaufen und die
notwendigen Anschlüsse an das Stromnetz zur Verfügung
zu stellen.21

Selbst ein Ziel von 100 GW bis 2020 könnte sich als zu
gering erweisen. Nach unterschiedlichen Schätzungen
wird die gesamte installierte Leistung 2020 bei bis zu 250
GW und 2030 bei bis zu 680 GW liegen,
vorausgesetzt, dass bis dahin Lösungen für 2020 könnten zehn Prozent und 2030
Probleme der Netzintegration, Vorhersage sogar 16,7 Prozent des gesamten
Strombedarfs der Volksrepublik durch
und Speicherung von Windenergie gefunden Windenergie gedeckt werden.
werden können. Das würde bedeuten, dass
2020 zehn Prozent und 2030 sogar 16,7 Prozent des
gesamten Strombedarfs der Volksrepublik durch Wind-
energie gedeckt werden könnten.22

19 | Vgl. Li Junfeng et al., China Wind Power Outlook 2010, 2010,


3-6.
20 | Vgl. „Wind in China sails for Clean Energy Race‟, South China
Morning Post, 01.10.2010.
21 | Vgl. The China Green Tech Report 2009, Fn. 18, 11.
22 | Vgl. Junfeng et al., Fn. 19, 83.
92 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

Beim Ausbau des Windenergiesektors bestehen allerdings


noch einige Schwierigkeiten. Ein teilweise mangelhaft
ausgebautes Stromnetz gestaltet den Anschluss von Wind-
krafträdern äußerst schwierig. Die Einspeisegebühren sind
zudem häufig noch zu niedrig, um Windparkbetreibern
ausreichende Gewinne zu garantieren. Außerdem konzen-
triert sich die Regierung bei ihrer Zielsetzung allein auf
die installierte Leistung, obwohl Ziele für die tatsächliche
Stromproduktion sinnvoller wären.23 Hinzu kommt, dass
Staatskonzerne bei den Ausschreibungen unvernünftig
niedrige Preise bieten und dadurch private und internatio-
nale Anbieter, die ihre Projekte unter Umständen nachhal-
tiger gestalten würden, vom Markt drängen.24

Solarenergie

Da zwei Drittel der Gesamtfläche Chinas über mehr als


2.200 Sonnenstunden im Jahr verfügen, besitzt das Land
ein großes Potential für die Nutzung von Solarenergie. Die
Nutzung der Solarenergie, sowohl in der Form solarther-
mischer Anlagen als auch durch Photovoltaik-Anlagen,
ist bislang noch unterentwickelt und wird hauptsäch-
lich dezentral genutzt. Von den bis 2005 installierten
PV-Anlagen mit einer Gesamtkapazität von 70 MW waren
nur drei MW an das Stromnetz angeschlossen. Photovol-
taik leistet in China allerdings schon jetzt
Über 60 Prozent der weltweiten Son- einen großen Beitrag, um entlegene Regio-
nenkollektoren auf Dächern, die zur nen an das Stromnetz anzuschließen. Ein
Warmwasserproduktion dienen, befin-
den sich in China. Beispiel dafür ist das Township Electrification
Programme 2002-2004, bei dem PV-Anlagen
mit einer Kapazität von 19 MW errichtet wurden, um 700
Dörfern in westlichen Regionen und ihren etwa eine Million
Einwohnern die Nutzung elektrischen Stroms zu ermögli-
chen.25 Zudem wird Solarenergie intensiv zur Erzeugung
von Warmwasser genutzt. Über 60 Prozent der weltweiten
Sonnenkollektoren auf Dächern, die zur Warmwasserpro-
duktion dienen, befinden sich in China. Die Gesamtfläche

23 | In China sind viele Windparks zwar bereits errichtet, aber


noch nicht an das Stromnetz angeschlossen. Häufig kaufen
Netzbetreiber lediglich Anteile an den Windfarmen, um die
Forderungen der Regierung scheinbar zu erfüllen, kommen
dann aber ihrer Verpflichtung nicht nach, diese tatsächlich in
ihr Netz zu integrieren. Vgl. The China Greentech Report
2009, Fn. 18, 7.
24 | Vgl. The China Greentech Report 2009, Fn. 18, 7.
25 | Vgl. Rommeney, Fn. 9, 46-47.
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 93

dieser Sonnenkollektoren soll von heute ca. 80 Millionen


auf 300 Millionen Quadratmeter im Jahr 2020 ausgebaut
werden.26

Als Produzent von Photovoltaik-Anlagen ist China mit


einem Anteil von ca. 40 Prozent schon jetzt Weltmarkt-
führer. Der Großteil der Anlagen wird aber bislang noch für
den Export produziert. Von den 2009 produ-
zierten Solarzellen mit einer Leistung von 3,6 Um einen Anreiz für eine intensivere
GW wurden über 90 Prozent exportiert. Um Nutzung im Inland zu schaffen, wurde
eine Subventionierung für die Instal-
einen Anreiz für eine intensivere Nutzung lation von Photovoltaik-Anlagen be-
von Photovoltaik auch im Inland zu schaffen, schlossen.
wurde im Juni 2009 im Rahmen des Golden
Sun-Projekts eine Subventionierung für die Installation von
PV-Anlagen beschlossen. Bei netzintegrierten Freiflächen-
anlagen werden 50 Prozent, bei netzunabhängigen Anlagen
70 Prozent der Kosten übernommen. Unter dem Solar
Roofs Project werden zudem gebäudeintegrierte Systeme
mit 15 RMB (1,66 Euro) und Solardächer mit einer Kapa-
zität von mindestens 50 KW mit 20 RMB (2,22 Euro) pro
Watt gefördert.27 Darüber hinaus werden projektabhängig
garantierte Einspeisevergütungen subventioniert. Für ein
PV-Kraftwerk von zehn MW in Dunhuang liegt dieser Tarif
zum Beispiel bei 1,09 Yuan (0,12 Euro), mehr als dreimal
so hoch wie bei Kohlekraftwerken. Dennoch wird dieser
Tarif als noch zu gering angesehen, um ausreichend hohe
Gewinne zu garantieren.28

Lokalregierungen werden von Peking dazu aufgefordert,


eigene Projekte zur Förderung von Solaranlagen durch-
zuführen. Diese werden allerdings bislang häufig nur sehr
schleppend implementiert. Shanghai hat z.B. den 100.000
Solar PV Roof Plan ins Leben gerufen, unter dem zwischen
2006 und 2010 zunächst 10.000 und von 2011 bis 2015
90.000 weitere Photovoltaikanlagen mit einer Leistung
von je drei KW auf Shanghais Dächern installiert werden

26 | Vgl. Xing Xiaowen, „Xin nengyuan yuanchanye de caizheng


butie zi lu‟ (Die Entwicklung der Subventionen für die Her-
steller im Bereich neue Energien), Nanfengchuang (Südwind-
fenster) 02/2011, 79.
27 | Vgl. Claudia Wittwer, „Erste Sonnenstrahlen durchbrechen
Wolkendecke‟, China Kontakt 01/2011, 22.
28 | Vgl. Zhang Qi, „China hikes 2011 solar power target‟, China
Daily Online, 03.07.2009, http://chinadaily.com.cn/bizchina/
2009-07/03/content_8350947.htm [17.01.2011].
94 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

sollen.29 Da die Stadtregierung bis 2009 keine finanziellen


Anreize für die Installation kleiner, privater PV-Anlagen
geschaffen hatte, gab es in Shanghai im Juli 2009 erst ein
einziges privates Solardach. Auch für den Zeitraum 2009
bis 2012 hat Shanghai lediglich die finanzielle Förderung
großer Solardächer vorgesehen.30

Bis 2019 plant China die Errichtung des weltgrößten


Solarparks im Qaidam-Becken in der Provinz Qinghai im
Nordwesten Chinas, in dem eine Leistung von einem Giga-
watt produziert werden soll. Bis 2020 soll insgesamt eine
Leistung von 20 GW erreicht werden und bis 2050 plant die
Regierung, den Anteil der Solarenergie am gesamten Ener-
gieverbrauch auf fünf Prozent zu steigern. Um diese Ziele
zu erreichen, sind noch immense Anstrengungen nötig.
Gleichzeitig bedeuten sie große Wachstumschancen für
nationale und internationale Produzenten von Solartechnik.
Für internationale Anbieter stellt sich allerdings die Frage,
ob sie nicht ähnlich wie im Windsektor von der öffentlichen
Auftragsvergabe weitestgehend ausgeschlossen werden.31

Reduktion des CO2-AusstoSSes im Verkehr

China hat 2009 die USA als weltgrößten Markt für Auto-
mobile überholt.32 Der Anteil des Transportsektors am
gesamten Energieverbrauch ist im internationalen Vergleich
mit neun Prozent noch relativ gering, wird aber in den
kommenden Jahren aufgrund des starken Anstiegs bei der
privaten PKW-Nutzung rapide zunehmen. Der CO²-Ausstoß
durch den Straßenverkehr wird sich bis 2055 mehr als
verdreifachen. China bemüht sich, ihn zu begrenzen, und
hat als einziges Schwellenland bereits Standards für den
Benzinverbrauch eingeführt. Beim Spritverbrauch wurde

29 | Vgl. NDRC, „Shanghai shiwan ge taiyangneng wuding jihua‟


(Shanghais 100.000-Solardächer-Plan), 28.12.2005,
http://www.sdpc.gov.cn/nyjt/dcyyj/t20051228_55008.htm
[25.01.2011].
30 | Vgl. Deng Li, „Taiyangneng de wuding minyong zhi lu‟ (Die
Entwicklung bei der privaten Nutzung von Solardächern),
21 Shiji Jingji Baodao (Business China), 16.07.2009,
http://news.163.com/09/0716/08/5EB38VFG000125LI.html
[25.01.2011].
31 | Vgl. Henrique Schneider, „Vorbereitung auf grünes Zeitalter‟,
China Kontakt 01/2011, 18.
32 | 2009 wurden in China insgesamt 13,6 Millionen Fahrzeuge
verkauft. Vgl. „Beijing hints further subsidies for alternative-
fuel vehicles‟, South China Morning Post, 10.09.2010.
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 95

eine sukzessive Verschärfung der Standards für Neuwagen


beschlossen. 2008 wurde ein Grenzwert in der Höhe
der EU-3-Norm eingeführt, und bis Ende 2010 soll ein
der EU-4-Norm entsprechender Standard implementiert
werden. Diese Norm ist um ca. 40 Prozent strenger als
der in den USA angewandte Standard. Außerdem wird eine
Zusatzsteuer für besonders große Autos erhoben.33

China ist zudem bemüht, die Nutzung alter- Peking plant, bis zu 33,3 Milliarden
nativer Antriebe in Fahrzeugen zu fördern. Euro zu investieren, um Weltmarkt-
führer bei der Produktion von Elektro-
Peking plant, bis zu 300 Milliarden RMB (33,3 und Hybridautos zu werden.
Milliarden Euro) zu investieren, um Welt-
marktführer bei der Produktion von Elektro- und Hybrid­
autos zu werden. Laut Schätzungen der NDRC werden auf
Chinas Straßen 2015 bereits drei Millionen Hybridfahrzeuge
und 1,5 Millionen reine Elektrofahrzeuge fahren.34

2010 wurden fünf Städte für Pilotprojekte im Bereich der


Förderung des Kaufs von Elektrofahrzeugen durch Privat-
haushalte ausgewählt. Beim Erwerb eines Elektroautos
zahlt Peking eine Subvention in Höhe von 60.000 RMB
(6.600 Euro), und diese könnte in Zukunft sogar noch
höher ausfallen. Das erste dieser Pilotprojekte wird seit
Mai 2010 in Shenzhen durchgeführt. Mit 50 elektrischen
Taxis soll dort gezeigt werden, wie die Mobilität der Zukunft
aussehen könnte. Zusätzlich zu der Förderung durch die
Zentralregierung wird die Anschaffung eines Elektrotaxis
von der Stadtregierung subventioniert, und die jährlichen
Lizenzgebühren werden den Taxifahrern erlassen. Die
Anschaffung eines Elektrotaxis ist zwar trotzdem noch um
80.000 RMB (8800 Euro) teurer als die eines gewöhnlichen
Taxis mit Verbrennungsmotor; diese Kosten sollen aller-
dings innerhalb von fünf Jahren durch die Einsparung von
Benzin ausgeglichen werden. Um die Nutzung von Elek-
trofahrzeugen massiv auszuweiten, plant Shenzhen, bis
2012 25 große Elektrotankstellen einzurichten und 10.000
öffentliche Parkplätze mit Ladestationen auszurüsten. Die
Gesamtzahl von Elektro- und Hybridfahrzeugen in der
Stadt soll dann bereits bei 35.000 liegen.35

33 | Vgl. Rommeney, Fn. 9, 29-30.


34 | Vgl. „300b yuan earmarked to develop green cars‟, South
China Morning Post, 13.01.2010.
35 | Vgl. „Electric-car dreams short-circuited by hype‟, in: South
China Morning Post, 10.01.2011; „So who is winning the
electric car race?‟, South China Morning Post, 12.11.2010.
96 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

Steigerung der Energieeffizienz

Zudem versucht Peking auf verschiedenen Gebieten, die


Energieeffizienz durch striktere Vorgaben zu erhöhen und
Anreize zum Energiesparen zu schaffen. Wichtige Grund-
lagen für die Bemühungen auf diesem Gebiet stellen das
1998 in Kraft getretene Energiespargesetz sowie der 2004
vorgestellte Medium and Long Term Energy Conservation
Plan dar. Das Energiespargesetz setzt sich zum Ziel, die
Struktur der Industrie besser zu regulieren, den Struktur-
wandel zu fördern, die Energieintensität der Wirtschaft zu
senken und den technischen Fortschritt zur Energieeinspa-
rung zu fördern. Es verlangt unter anderem die Ausmuste-
rung veralteter Anlagen und Produkte und die Festlegung
von branchenspezifischen Standards für die Energieein-
sparung.36

Im Rahmen des Top 1.000 Energy-Consuming Enterprises


Programme wurden für die 1.000 größten Energieverbrau-
cher des Landes konkrete Ziele für die Reduzierung ihres
Energieverbrauches festgelegt. Diese Unternehmen sind
für 33 Prozent des gesamten Energieverbrauchs in China
sowie für 47 Prozent des industriellen Energieverbrauchs
verantwortlich. Vorgesehen ist eine Verringerung des Ver-
brauchs von 673 Millionen Tonnen Steinkohleäquivalent
(SKE) um 100 Millionen Tonnen SKE zwischen 2005 und
2010. Um das Ziel zu verwirklichen, wurden Informations-
und Trainingsworkshops durchgeführt und die teilneh-
menden Unternehmen verpflichtet, regelmäßig Berichte
über ihren Energieverbrauch vorzulegen. Darüber hinaus
wurden für einzelne Branchen, wie die Zementindustrie,
die Stahlindustrie und die Baubranche, Ziele für die Stei-
gerung der Energieeffizienz festgelegt.37

Laut Expertenschätzungen wird zur Einen wichtigen Bereich für die Einsparung
Heizung von Gebäuden in Nordchina von Energie stellt die Förderung energieeffizi-
dreimal soviel Energie verbraucht wie
in europäischen Ländern mit vergleich- enten Bauens dar. Laut der Einschätzung von
baren klimatischen Bedingungen. Experten wird zur Heizung von Gebäuden in
Nordchina dreimal soviel Energie verbraucht
wie in europäischen Ländern mit vergleichbaren klima-
tischen Bedingungen. Im elften Fünfjahresplan wurden

36 | Vgl. „Energiespargesetz‟, in: Robert Heuser, Jan De Graaf,


Umweltschutzrecht der VR China – Gesetze und Analysen, 519.
37 | Vgl. Rommeney, Fn. 9, 23-24.
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 97

Energieeinsparpotentiale in Gebäuden im Umfang von ca.


120 Millionen Tonnen SKE identifiziert. Um sie zu nutzen,
hat das Bauministerium Energieeffizienzstandards für
Gebäude eingeführt und arbeitet zurzeit zudem an einer
Preisreform bei den Heizkosten. Die Zentralregierung soll
mit gutem Beispiel vorangehen und im Zeitraum von 2002
bis 2010 den Energieverbrauch in Regierungsgebäuden um
durchschnittlich zehn Prozent reduzieren.

Neben der Implementierung neuer Energieeinsparungs-


standards werden kleine, ineffiziente Fabriken geschlossen.
Das gilt unter anderem auch für Kohlekraftwerke. Sie sind
von massiven Schließungen betroffen. Bis 2010 sollten
alle Kraftwerke mit einer Kapazität von bis zu 50 MW, alle
Kraftwerke mit einer Kapazität von bis zu 100
MW mit einer Laufzeit von über 20 Jahren Allein zwischen 2006 und 2009 mussten
sowie alle weiteren, die zu weit von natio- 7.500 Kohlekraftwerke schließen. Die
Schließungen treffen häufig auf star-
nalen oder regionalen Standards abweichen, ken Widerstand durch Betreiber und
geschlossen werden.38 Allein zwischen 2006 Lokalregierungen.
und 2009 mussten auf dieser Grundlage ca.
7.500 Kohlekraftwerke schließen.39 Diese von der Zent-
ralregierung angeordneten Schließungen sind allerdings
häufig mit starken Widerständen sowohl der Betreiber als
auch der Lokalregierungen verbunden, da sie diese als
Beschneidung ihrer Einnahmequellen und Beschäftigungs-
möglichkeiten betrachten.

Herausforderungen und Perspektiven für


Chinas Klimapolitik

China steht vor der schwierigen Aufgabe, Wirtschafts-


wachstum und Treibhausgasausstoß zu entkoppeln. Trotz
der beschriebenen Bemühungen ist mittelfristig mit einer
weiteren deutlichen Zunahme des CO²-Ausstoßes in China
zu rechnen. Eine absolute Reduktion des CO²-Ausstoßes
hält der Direktor des Büros für Klimawandel in der NDRC, Su
Wei, erst 2050 für realistisch. Beim Pro-Kopf-Ausstoß von
CO² wird China voraussichtlich 2030 das Niveau europäi-
scher Länder erreicht haben40, so dass die Forderung, das
Land müsse seine Emissionen ebenfalls reduzieren, immer

38 | Vgl. ebd., 28 und 34.


39 | Vgl. Deborah Seligsohn et al., Fact Sheet: Energy and Climate
Policy Action in China, 2009, 2.
40 | Vgl. Wacker, Fn. 7, 60.
98 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

lauter werden wird. Um China jedoch dazu zu bewegen,


verbindliche absolute CO²-Reduktionsziele über die Verrin-
gerung der Energieintensität hinaus zu akzeptieren, werden
westliche Staaten ihre Bemühungen verstärken und die
USA Reduktionsziele im gleichen Umfang wie europäische
Staaten festlegen müssen. Zudem sollte der Westen China
bei den Anstrengungen zum Aufbau einer emissionsarmen
Wirtschaft durch Beratung und Technologietransfer unter-
stützen. Hier könnten in Zukunft vor allem auch Techno-
logien zur Abscheidung und Speicherung von CO² (CCS)41
von Bedeutung sein. China wird mittelfristig bei der Strom-
produktion weiterhin in hohem Maße von Kohlekraftwerken
abhängig sein, ist im Bereich CCS bislang allerdings kaum
aktiv. Durch diese Unterstützung würde auch der Tatsache
Rechnung getragen, dass etwa ein Fünftel der chinesi-
schen Treibhausgase durch die Produktion für den Export
anfallen.

Auch die Volksrepublik selbst ist gefordert, um den Anreiz


für Investitionen und Technologietransfer zu steigern.
Sie muss hier vor allem den Schutz geistigen Eigentums
garantieren und die massive Bevorzugung inländischer
Hersteller abbauen.

Um die Entwicklung Erneuerbarer Energien noch schneller


voranzutreiben, sollten landesweit einheitliche Einspeise­
vergütungen festgesetzt werden, die es den Betreibern
ermöglichen, profitabel zu wirtschaften. Dies würde bei
den Investoren für Planungssicherheit sor-
Netzbetreiber müssen durch finanzielle gen und den Anreiz erhöhen, Kraftwerke für
Anreize oder Strafen dazu gebracht alternative Energieträger zu errichten. Für
werden, Wind-, Solar- und andere
Kraftwerke aus neuen Energien an das die Anpassung der gesetzlichen Rahmen-
Stromnetz anzuschließen. bedingungen ist hier eine Kooperation mit
Deutschland denkbar, da sich die chine-
sischen Gesetzgeber bereits bei der Ausarbeitung des
EEG am deutschen Vorbild orientiert hatten. Außerdem
müssen die bestehenden gesetzlichen Regelungen, z.B.
zur Netzintegration, besser durchgesetzt werden. Netzbe-
treiber müssen durch finanzielle Anreize oder Strafen dazu
gebracht werden, Wind-, Solar- und andere Kraftwerke aus
neuen Energien an das Stromnetz anzuschließen.

41 | CCS bezeichnet die Abscheidung von Kohlendioxid aus Ver-


brennungsabgasen sowie dessen Injektion und Lagerung in
tiefen unterirdischen Gesteinsschichten auf unbegrenzte Zeit.
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 99

Es müssen zusätzliche Anreize geschaffen werden, Energie


einzusparen, z.B. durch eine weitere Erhöhung der Strom-,
Gas- und Treibstoffpreise oder staatliche Zuschüsse beim
Umstieg auf klimafreundliche Technologien. Besonders
problematisch bei der Umsetzung der nationalen Klima-
politik erscheint dabei weiterhin die Durchsetzung auf
Provinz- und lokaler Ebene. Hier werden Umweltstandards
und Energieeffizienz zumeist kurzfristigen Überlegungen
zu Wirtschaftswachstum und Beschäftigung unterge-
ordnet. Um dem entgegenzuwirken, hat die Zentralregie-
rung bereits erklärt, die Aufstiegschancen von Regierungs-
funktionären auch von deren Erfolgen in den Bereichen
Umweltschutz und Energieeffizienz abhängig zu machen.42
Eine wichtige Rolle kommt auch der Zivilgesellschaft zu.
Die wachsenden Umweltprobleme des Landes haben eine
große Zahl von Menschen mobilisiert, sich für Umweltschutz
einzusetzen. Die Zahl von Umwelt-NGOs nimmt ständig
zu. Sie tragen dazu bei, das Bewusstsein für Umweltschutz
und Energieeinsparung zu steigern und mehr Menschen
dafür zu gewinnen, sich für den Klimaschutz
stark zu machen. Auch in den chinesischen Das Umweltministerium kooperiert zu-
Medien spielen die Themen Umwelt- und nehmend mit den Medien sowie NGOs.
Für die Zukunft wäre eine stärkere Ein-
Klimaschutz eine immer prominentere Rolle, bindung zivilgesellschaftlicher Akteure
womit sie zu einer Verankerung des Themas wünschenswert.
in der chinesischen Gesellschaft beitragen.
Auch das Umweltministerium kooperiert zunehmend mit
den Medien sowie NGOs, um ihre Ziele zu erreichen. Für
die Zukunft wäre eine stärkere Einbindung zivilgesell-
schaftlicher Akteure in den nationalen klimapolitischen
Diskurs wünschenswert.43

Trotz dieser Herausforderungen befindet sich China im


Bereich des Klimaschutzes auf dem richtigen Weg. Das Land
hat die Zeichen der Zeit erkannt und sich ambitionierte
Ziele gesetzt, die teilweise sogar noch strenger sind als
in einigen Industrienationen. Im zwölften Fünfjahresplan
wird voraussichtlich sogar die Einführung lokaler Vorläufer
eines nationalen Emissionshandelssystems festgelegt – ein
weiterer wichtiger Schritt zu verstärktem Klimaschutz.44

42 | Vgl. Rommeney, Fn. 9, 52-54.


43 | Vgl. ebd., 16.
44 | Vgl. Xinhua, „Autorisierte Veröffentlichung: Vorschläge der
Zentralregierung über die Festlegung des zwölften Fünfjahres-
plan für die Entwicklung der Volkswirtschaft und der Gesell-
schaft‟ (chin.), http://news.xinhuanet.com/politics/2010-10/
27/c_12708501_6.htm [20.01.2010].
100 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

Auch wenn für die Klimakonferenz im südafrikanischen


Durban Ende des Jahres kein radikaler Wandel bei Chinas
Position zu erwarten ist, werden die Bemühungen auf
nationaler Ebene fortgesetzt. Die Volksrepublik wird sich
zunächst einmal daran messen lassen müssen, ob die
selbstgesetzten Ziele erreicht werden.
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 101

Harmonie im Staatsauftrag
Wie Singapur mit Einwanderung und Integration
umgeht

Paul Linnarz

Anfang Februar ging nach dem chinesischen Kalender


das „Jahr des Tigers‟ zu Ende. Abergläubische Asiaten
sind damit eine wichtige Nachwuchssorge los. Das Tier-
kreiszeichen soll nämlich einen eher anstrengenden und
dominanten Charakter prägen. Das sind in Asien nicht
unbedingt geschätzte Persönlichkeitsmerkmale, insbeson-
dere für Mädchen. Die Geburtenrate fiel in Singapur auf ein
historisches Tief. 2011, im „Jahr des Kaninchens‟, dürften Paul Linnarz leitet
wieder mehr Babys das Licht der Welt erblicken. Mit einer das Medienprogramm
Asien der Konrad-
regelrechten Trendwende rechnet aber niemand. Denn Adenauer-Stiftung in
unabhängig vom Horoskop ist die Geburtenrate bereits seit Singapur.
Jahren rückläufig.

Jede Frau brachte im Stadtstaat 2010 durchschnittlich


nur 1,16 Kinder zur Welt. Unter der chinesischstämmigen
Bevölkerung lag die Geburtenrate mit 1,02 Kindern noch
deutlich unter dem Durchschnitt. Inzwischen unterbietet
Singapur damit sogar Japan (1,3) und Südkorea (1,2).
Um die Zahl und das Alter der Bürger konstant zu halten,
müsste jede Frau in Singapur wenigstens 2,1 Kinder
gebären. Dieser Wert wurde zum letzten Mal im Jahre 1976
erreicht. Danach sank die Geburtenrate nahezu kontinu-
ierlich. In den achtziger Jahren gründete die Regierung
daraufhin die Social Development Unit (SDU) und die Social
Development Services (SDS). Sie sollten Singles dazu
motivieren, den Bund der Ehe einzugehen – und natürlich,
Kinder zu bekommen. Vor ein paar Jahren haben sich die
beiden Einrichtungen zum Social Development Network
(SDN) zusammengeschlossen. Es untersteht dem Ministe-
rium für Sport und Jugend. Singapur dürfte damit weltweit
eines der wenigen Länder sein, in denen Dating Parties für
102 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

Singles und eine Partnerbörse im Internet (lovebyte) von


staatlicher Stelle betrieben werden.

Die Initiative für die Heiratspolitik der Regierung ging


1983 vom damaligen Premierminister Lee Kuan Yew aus.
Heute wirbt der inzwischen 87-jährige Staatsgründer mit
Nachdruck dafür, auch in Zukunft junge Migranten will-
kommen zu heißen. Sie seien das notwendige Mittel gegen
eine alternde Gesellschaft. „Anderenfalls wird das Wirt-
schaftswachstum zurückgehen, wie in Japan. Wir werden
ein weniger dynamisches, weniger erfolgreiches Singapur
haben. So sieht nicht die Zukunft für unsere Kinder und
Enkel aus.‟1 In seiner Rede vor über 1.000 Mitgliedern der
Chinese Clan Associations betonte Lee im Januar, die erste
Generation neuer Einwanderer werde für die Integration
Zeit benötigen, schon deren Kinder würden aber „comple-
tely Singaporean‟ sein.

Teure top destination für Einwanderer

Der Appell des greisen Staatsgründers berührt ein


sensibles Thema: Trotz seiner rückläufigen Geburtenrate
hat Singapur die Zahl seiner Einwohner in den letzten
dreißig Jahren mehr als verdoppelt. Nicht die Partner-
börsen und das organisierte Flirten, sondern der Zuzug
aus dem Ausland hatte daran den entscheidenden Anteil.
Würde jeder auswanderungswillige Erwach-
Singapur ist nach einer Analyse des sene, der sich nach einem Leben in Singapur
Gallup-Instituts weltweit die „top desti- sehnt, dort auch eine Bleibe finden, hätte
nation‟ für Migranten. Platz zwei belegt
mit deutlichem Abstand Neuseeland. das einen Anstieg der Bevölkerung um 219
Prozent zur Folge. Damit ist der kleine Insel-
staat an der Straße von Malakka nach einer im August
2010 vorgestellten Analyse des US-amerikanischen Gallup-
Instituts weltweit die top destination für Migranten.2 Platz
zwei belegt mit deutlichem Abstand Neuseeland (+184
Prozent). Deutschland liegt im Net Migration Index des
Gallup-Instituts mit einem „potentiellen‟ Zuwachs von 14
Prozent weltweit auf Platz 25.

1 | The Straits Times, 19.01.2011.


2 | Vgl. Neli Esipova, Julie Ray, „Migration Could Triple popu-
lations in Some Wealthy Nations‟, gallup.com, 20.08.2010,
http://gallup.com/poll/142364/Migration-Triple-Populations-
Wealthy-Nations.aspx [16.02.2011].
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 103

Viele Singapurer sehen die Einwanderung inzwischen aber


mit Besorgnis. Nach einer kürzlichen Telefonumfrage von
REACH, einer Mischung aus staatlichem Meinungsfor-
schungsinstitut und Diskussionsforum im Internet, waren
nur 56 Prozent der Befragten davon überzeugt, dass die
derzeit gültigen Schranken für die Einwanderung auf
dem lokalen Arbeitsmarkt einen Schutz gegen ausländi-
sche Mitbewerber bieten. Immerhin 18 Prozent waren
ausdrücklich dagegen, dass Singapur ausländische Talente
rekrutiert. Zwar denkt so nur eine Minderheit, in seiner
Pressemitteilung zu den Umfrageergebnissen musste
REACH jedoch einräumen, eine beträchtliche Zahl der
Befragten fürchte den Wettbewerb mit Ausländern und sei
trotz wiederholter Versicherung der Regierung nicht über-
zeugt, dass eine solche Politik „den Kuchen für alle größer
macht‟.3

Neben den Befürchtungen vor einer Verschärfung des


Wettbewerbs auf dem Arbeitsmarkt fällt das Stichwort
„Einwanderung‟ auch im Zusammenhang mit den Entwick-
lungen auf dem Wohnungsmarkt. Dort stiegen die Preise
im zweiten Halbjahr 2010 um 3,8 Prozent. Für die 20
Prozent der Privathaushalte mit niedrigem Einkommen
registrierte das Statistikamt des Stadtstaates in diesem
Zeitraum sogar eine Steigerung um 5,3 Prozent. Eine
Entwicklung mit weitreichenden Folgen, warnt Davin Chor,
Wirtschaftswissenschaftler an der Singapore Management
University, „da hohe Wohnungspreise sich sicher auf die
Entscheidung von Paaren auswirken können, zu heiraten
und Kinder zu bekommen‟.4 Aber nicht die Nachfrage
auf dem Wohnungsmarkt oder der Zuzug von Auslän-
dern treibt die Preise, sondern die Inflation. Sie lag im
Dezember 2010 so hoch wie zuletzt vor zwei Jahren. Das
trifft Immigranten wie Einheimische gleichermaßen. Nach
einer Erhebung von ECA International liegt Singapur unter
den teuersten Städten in Asien inzwischen an achter
Stelle, nahezu gleichauf mit Hongkong und Shanghai.5

3 | REACH, „Reactions to PM’s National Day Rally 2010‟, Presse-


mittelung, 13.09.2010, http://www.reach.gov.sg/portals/0/
MediaRelease/Reactions_to_NDR_2010.pdf [11.03.2011].
4 | The Straits Times, 08.02.2011.
5 | Vgl. ECA International, „Singapore climbs to 8th most
expensive Asian city‟, Pressemitteilung, 02.12.2010,
http://www.eca-international.com/news/press_releases/7278
[16.02.2011].
104 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

Von außen betrachtet tut das der Attraktivität des Landes


für Migranten aber keinen Abbruch.

Auf zwei Wegen versucht die singapurische Regierung, den


Zustrom einerseits zu bewältigen und andererseits für die
eigene Entwicklung zu nutzen: Einwanderung wird nicht
nur in demographischer Hinsicht, sondern auch in Abhän-
gigkeit von der wirtschaftlichen Konjunktur gesteuert.
Darüber hinaus überlässt Singapur bei der Integration
nichts dem Zufall. Die Religionsfreiheit, der Wohnungs-
markt, die Bildungspolitik und der Medienbereich sind die
Eckpfeiler des praktisch in alle Lebensbereiche verästelten
Systems.

Die „richtige Mischung‟

Seit 2010 leben erstmals etwas mehr als fünf Millionen


Menschen in Singapur. Das sind eine Million mehr als
bei der letzten Volkszählung im Jahr 2000. 3,2 Millionen
Menschen besitzen die singapurische Staatsbürgerschaft.
Das sind acht Prozent mehr als zu Beginn des Jahrtau-
sends. 541.000 Einwohner mit ausländischem Pass sind
so genannte permanent residents (PR). Ihr
1,3 Millionen Ausländer arbeiten für Anteil stieg in den vergangenen zehn Jahren
kürzere Zeit befristet in Singapur. Der deutlich um 88 Prozent. Daneben leben und
Anteil dieser „non-residents‟ stieg um
73 Prozent. arbeiten etwas über 1,3 Millionen Ausländer
für kürzere Zeit befristet in Singapur. Der
Anteil dieser so genannten non-residents stieg um 73
Prozent. Mehr als jeder dritte Einwohner von Singapur (36
Prozent) ist Ausländer.

Nach den im Januar 2011 veröffentlichten Angaben des


Statistikamtes setzt sich die Zahl der Bürger (residents
mit und ohne Staatsbürgerschaft) zu 74,1 Prozent aus
Chinesen, zu 13,4 Prozent aus Malaysiern, zu 9,2 Prozent
aus Indern und zu 3,3 Prozent aus Menschen mit sonstiger
Herkunft zusammen.6 Die Bevölkerungsgruppe der perma-
nent residents besteht zu 61,4 Prozent aus Chinesen, zu
drei Prozent aus Malaysiern, zu 20,4 Prozent aus Indern
und zu 15,2 Prozent aus Migranten anderer Weltregionen.

6 | Vgl. Department of Statistics, „Demographic Characteristics,


Education, Language and Religion‟, Census of Population 2010 –
Statistical Release 1 (Singapur 2010), http://www.singstat.gov.
sg/pubn/popn/C2010sr1/cop2010sr1.pdf [16.02.2011].
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 105

„Chinese‟, „Malaysier‟ oder „Inder‟ meint in der Statistik


und im Sprachgebrauch nicht nur das Herkunftsland der
betreffenden Person, sondern bezieht sich auf die Zuge-
hörigkeit zur jeweiligen ethnic group. Die Einteilung folgt
also nicht nur der Staatsbürgerschaft, sondern auch
kulturellen, sprachlichen und religiösen Kriterien. Jeder
Bürger (resident) Singapurs, egal ob Einwanderer oder
Einheimischer, gehört im Melderegister einer der verschie-
denen ethnischen Gruppen an. So gelten 2,2 Millionen
Bürger als „Chinesen‟, obwohl sie in Singapur geboren
wurden. Von den knapp 590.000 Chinesen ausländischer
Herkunft stammen fast 340.000 aus Malaysia und nur etwa
175.000 aus China, Hongkong und Macao. 2.278 Chinesen
in Singapur sind in Europa geboren. Von gut einer halben
Million „Malaysiern‟ (oder besser: „Malays‟) haben fast
470.000 in Singapur das Licht der Welt erblickt. Zu dieser
Gruppe zählen auch knapp 11.000 Bürger indonesischer
Abstammung. Mit „Inder‟ sind auch Menschen aus Paki-
stan, Bangladesch und Sri Lanka gemeint.

Singapur ist also bereits seit Jahrzehnten eine multieth-


nische und multikulturelle Gesellschaft. Seine Rede zum
Nationalfeiertag im August hält Premierminister Lee Hsien
Loong deshalb in drei verschiedenen Sprachen: Malaiisch,
Mandarin und Englisch. Entscheidend ist für die Einwande-
rungspolitik seiner Regierung, dass sich das
„Mischungsverhältnis‟ in der Bevölkerung Den Ängsten vor einer „Überfremdung‟
nicht zugunsten oder zulasten einer ethni- begegnete Premierminister Lee mit
der Beteuerung: „Die gegenwärtige
schen Gruppe verschiebt. Das gilt nicht nur Mischung ist stabil und trägt zu unse-
für die prozentualen Anteile an der Gesamt- rer ethnischen und religiösen Harmo-
nie bei.‟
bevölkerung, sondern beispielsweise auch
für die Zugehörigkeit zu den verschiedenen
Religionen. Den vor allem unter den minority communities
verbreiteten Ängsten vor einer „Überfremdung‟ begegnete
Lee in seiner Ansprache zum letztjährigen Nationalfeiertag
deshalb mit der Beteuerung: „Die gegenwärtige Mischung
ist stabil und trägt zu unserer ethnischen und religiösen
Harmonie bei.‟7

7 | Text und Video auf http://www.channelnewsasia.com/nd2010


[11.03.2011].
106 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

„Muskulärer Säkularismus‟

Im vergangenen Jahrzehnt haben sich die Anteile der


verschiedenen ethnischen Gruppen an der Gesamtbevöl-
kerung mit der gesteuerten Vergabe von Aufenthalts- und
Arbeitsgenehmigungen in der Tat nur geringfügig verän-
dert. Deutlicher fallen nach den Ergebnissen der letzten
Volkszählung die Abweichungen bei der Religionszugehö-
rigkeit aus: Im vergangenen Jahrzehnt sank der Anteil der
Buddhisten von 42,5 auf jetzt 33,3 Prozent. Der Taoismus
findet mit 10,9 Prozent eine höhere Verbreitung als im
Jahr 2000 mit damals 8,5 Prozent. Der Anteil der Christen
ist deutlich von 14,6 auf 18,3 Prozent gestiegen. Er über-
trifft in Singapur damit den Islam mit heute 14,7 Prozent
(2000: 14,9 Prozent). Der Anteil der Hinduisten ist von
vier Prozent vor zehn Jahren auf jetzt 5,1 Prozent ebenfalls
gestiegen.8

Die Religionsfreiheit ist in der Verfassung des Stadtstaates


garantiert. So hat jede der in Singapur am stärksten verbrei-
teten Religionen auch das Recht auf eine bestimmte Zahl
an gesetzlichen Feiertagen. Weihnachten wird also ebenso
begangen wie das Vesak-Fest der Buddhisten, das chine-
sische Neujahrsfest oder Hari Raya für die
Die Behörden reagieren sehr empfind- Muslime. Die Festtage gelten für die Gesamt-
lich auf öffentliche Kritik an Anders- bevölkerung. An den betreffenden Tagen
gläubigen. Missionarische Aktivitäten,
mit denen die „religiöse Harmonie‟ bleiben die Schulen, Büros und Behörden
gestört werden könnte, sind verboten. geschlossen. Gleichzeitig wacht der Staat
jedoch mit Argusaugen darüber, dass sich
keine fundamentalistischen Strömungen verbreiten. Auch
reagieren die Behörden sehr empfindlich auf öffentliche
Kritik an Andersgläubigen. Missionarische Aktivitäten und
Publikationen, mit denen die „religiöse Harmonie‟ gestört
werden könnte, sind gesetzlich verboten.9

Weibliche Muslime dürfen an den öffentlichen Schulen


des Landes kein Kopftuch (in Singapur: tudung) tragen.
Jeder Verstoß gegen die Vorschriften für die obligatori-
schen Schuluniformen kann Konsequenzen haben bis hin
zum Ausschluss vom Unterricht. Männlichen Sikhs ist das

8 | Vgl. The Straits Times, 13.01.2011.


9 | Vgl. u.a. „Maintenance of Religious Harmony Act‟,
http://statutes.agc.gov.sg/non_version/cgi-bin/cgi_retrieve.
pl?actno=REVED-167A [16.02.2011].
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 107

Tragen eines Turbans auch in der Schule hingegen erlaubt.


Ende der achtziger Jahre wurde der Religionsunterricht
(Religious Knowledge Curriculum) an den Schulen durch
ein Civic and Moral Education Programme ersetzt. Singa-
purs stellvertretender Premierminister Wong Kan Seng
begründete das Prinzip des muscular secularism 2009
mit den Worten: „Wir sind kein christliches Singapur, kein
muslimisches Singapur, auch kein buddhistisches oder
hinduistisches. Wir sind ein säkulares Singapur, in dem
Christen, Muslime, Buddhisten, Hindus und andere in
Frieden miteinander leben.‟10

Turmbau ohne Babel

In kaum einem anderen Land der Erde spielt „Verstän-


digung‟ eine größere Rolle als in Singapur, wo mehr als
jeder dritte Einwohner ausländischer Herkunft ist. Englisch
wurde in den Schulen deshalb bereits in den sechziger
Jahren als erste Unterrichtssprache eingeführt. Einerseits
sollte damit sichergestellt werden, dass sich die unter-
schiedlichen Bevölkerungsgruppen in Singapur „neutral‟
miteinander verständigen können. Darüber hinaus domi-
niert die lingua franca im Alltag bis heute auch deshalb,
weil sie die internationale Wettbewerbsfähigkeit des von
seinem Außenhandel und von internationalen Finanz-
dienstleistungen abhängigen Stadtstaates fördert.

Mit dem erklärten Ziel, Neuankömmlinge zu Gemäß der „mother tongue policy‟
integrieren, so dass sie mit der Zeit Singa- fördert die Regierung nicht nur das
Erlernen von Englisch, sondern auch
purer werden, „in their outlook and iden- die Muttersprachen der verschiedenen
tity‟,11 fördert die Regierung aber nicht ethnischen Gruppen.
nur das gemeinsame Englisch, sondern
auch die Muttersprachen der verschiedenen ethnischen
Gruppen. Die so genannte mother tongue policy schreibt
eine wenigstens zweisprachige Schulausbildung vor.
Ursprünglich war auch sie der wirtschaftlichen Entwicklung
des noch jungen Staates geschuldet. Die Förderung und
Pflege der Sprachkenntnisse in Mandarin erleichterten
beispielsweise den Handel mit der Volksrepublik China.
Daran hat sich grundsätzlich nichts geändert. Ähnlich wie

10 | Kumar Ramakrishna, „‚Muscular‛ versus ‚Libera‛. Secularism


and the Religious Fundamentalist Challenge in Singapore‟,
RSIS Working Paper, No. 202 (Singapore, 2010), 9 f.
11 | Vgl. Fn. 7.
108 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

die kontrollierte Co-Existenz der verschiedenen Religionen


soll der muttersprachliche Unterricht den verschiedenen
ethnischen Gruppen aber auch helfen, ihre kulturellen
Wurzeln und Traditionen zu bewahren.

Im Kindergarten wird in den drei Etwa die Hälfte der Drei- bis Sechsjährigen
hauptsächlichen Muttersprachen Chi- lernt bereits im Kindergarten Englisch.
nesisch (Mandarin), Tamilisch (Tamil)
und Malaiisch (Bahasa) unterrichtet. Daneben wird in den drei hauptsächlichen
Ab der Grundschule ist Englisch Unter- Muttersprachen Chinesisch (Mandarin), Tami-
richtssprache.
lisch (Tamil) und Malaiisch (Bahasa) unter-
richtet. Ab der Grundschule ist Englisch in den meisten
Fächern die Unterrichtssprache. Vom ersten bis vierten
Schuljahr werden neben Tamilisch auch nicht tamilische
indische Sprachen wie Hindi, Bengali, Gujarati, Punjabi
oder Urdu angeboten. Die orientation stage im fünften
und sechsten Schuljahr gliedert den muttersprachlichen
Unterricht in ein Basis-, ein Standard- und ein gehobenes
Niveau. Die Grundschule endet nach dem sechsten Schul-
jahr mit einer Abschlussprüfung. Das Ergebnis entscheidet
darüber, ob das Kind in den darauf folgenden Schuljahren
eine Special-, Express-, Normal (Academic)- oder Normal
(Technical)-Laufbahn einschlägt.

Special und Express sind für vier Jahre bis zum Abschluss
der zehnten Klasse angelegt. Beide Kategorien schließen
mit dem so genannten O-Level ab. Der Unterschied
besteht auch hier insbesondere in der Sprachausbildung.
Zwar wird neben Englisch jeweils Chinesisch, Tamilisch und
Malaiisch unterrichtet, Special führt den muttersprach­
lichen Unterricht aber auf einem höheren Niveau. Wer im
Express-Zweig bis zum O-Level nicht die vom Staat defi-
nierten Mindestanforderungen an die muttersprachliche
Kompetenz erfüllt, muss ein Jahr verlängern.

Statt der drei wichtigsten Muttersprachen, oder auch


zusätzlich, besteht in vielen Schulen neben dem obligato-
rischen Englisch die Wahl zwischen Französisch, Deutsch,
Arabisch und Japanisch. Einige der internationalen Schulen
bieten auch Spanisch oder Koreanisch an. Als „Ersatzmut-
tersprachen‟ werden sie (auch von Chinesen, Malaysiern
und Indern bzw. den damit umschriebenen ethnischen
Gruppen) vor allem dann bevorzugt, wenn die Kinder und
Jugendlichen mehrere Jahre in den betreffenden Ländern
gelebt haben und erst mit Beginn oder während ihrer
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 109

Schullaufbahn nach Singapur (zurück-) gekommen sind.


Die nicht chinesisch- und nicht malaysischstämmigen
Schüler dürfen als Wahlfächer bzw. dritte Sprache entweder
Chinesisch oder Malaysisch belegen. Die Sprachen werden
außerhalb der regulären Schulzeit unterrichtet.

Die beiden Normal-Zweige sind stärker entweder auf


technische oder auf betriebswirtschaftliche (Buchhaltung,
Verwaltung) Lehrinhalte ausgerichtet. Sie schließen nach
fünf Jahren mit einem O-Level-Examen ab. Auf noch
höherem Niveau endet die Schullaufbahn nach insgesamt
zwölf Jahren entweder mit dem International Baccalau-
reate (IB Diploma bzw. IB Certificate) oder mit dem so
genannten A-Level.

„Sprache‟ als Mittel zur Integration folgt in Singapur


also nicht dem Prinzip des „entweder, oder‟, sondern des
„sowohl, als auch‟ von Englisch (plus dritte Fremdsprache)
und Muttersprache. Neu ist, dass ab dem nächsten Jahr
die Lehr- und Lernmethoden für den muttersprachlichen
Unterricht verbessert werden sollen. Denn nach einer
im Januar vorgestellten Analyse des Language Review
Committee sprechen immer mehr Grundschüler zuhause
mit ihren Eltern, Geschwistern und Verwandten nur noch
oder hauptsächlich Englisch. Unter den chinesischstäm-
migen Erstklässlern stieg der Anteil von 28 Prozent vor
zwanzig Jahren auf heute 59 Prozent. Unter den indisch-
stämmigen Schulanfängern dominiert Englisch inzwischen
bei 58 Prozent (1991: 49 Prozent). Von
den Klassenkameraden aus der Gruppe der Malaiische Schüler kommunizieren
Malaysier kommunizieren heute 37 Prozent heute zu 37 Prozent hauptsächlich in
englischer Sprache mit den Eltern. Vor
hauptsächlich in englischer Sprache mit den zwei Jahrzehnten betrug der Anteil
Eltern. Vor zwei Jahrzehnten betrug der noch 13 Prozent.
Anteil noch 13 Prozent. „If you want to keep
the language, […] you have to teach them [die Schüler,
der Verf.] to use it‟, mahnte Bildungsminister Ng Eng Hen
bei der Vorstellung des Berichts an die Adresse der Lehrer.
Mit Blick auf die Elternhäuser und die Gesellschaft fuhr
er fort: „Homes will have to support that kind of environ-
ment, and the community will have to support that kind
of environment.‟12 Gelebte Sprachvielfalt ist also gewollt.

12 | The Straits Times, 19.01.2011.


110 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

Zwei Maßnahmen sollen den Rückgang jetzt stoppen: Bis


2015 will das Bildungsministerium die derzeit 6.666 Lehrer
für den muttersprachlichen Unterricht um 500 zusätzliche
Lehrkräfte aufstocken. Wichtiger ist aber vielleicht noch,
dass sich die Unterrichtsmethoden ändern sollen. Mit
Verweis auf Beispiele aus den USA, China, Indien, Malaysia
und Australien wird in Prüfungen künftig die Fähigkeit
zur „aktiven und interaktiven‟ Kommunikation getestet.
Grundschüler müssen sich in ihren Materialien für den
muttersprachlichen Unterricht nicht länger mit archaic
scenarios, veralteten Themen und Inhalten, beschäftigen.

Proporz gegen Enklaven

Auch auf dem Wohnungsmarkt überlässt die Regierung


des Einwanderungslandes nichts dem Zufall. Heute wohnt
ein Großteil der Bevölkerung Singapurs in Wohnblöcken,
die in der Regel jeweils mehrere hundert Appartements
beherbergen. Seit den späten sechziger Jahren sind die
Häuser Teil des öffentlichen Wohnungsbaus. Zuständig
ist das beim Ministerium für Nationale Entwicklung ange-
siedelte Housing and Development Board (HDB). Die
Wohnungen in unterschiedlicher Größe und Ausstattung
werden ganz überwiegend nicht gemietet, sondern gekauft
und beim Auszug wieder verkauft. Mit dem Ziel, die „racial
integration and harmony‟ zu fördern, „racial
Die Ethnic Integration Policy schreibt enclaves‟ zu verhindern und einen „balanced
den zum Kauf und Verkauf von HDB- ethnic mix among the various ethnic commu-
Wohnungen berechtigten Bürgern vor,
in welchem Gebäude sie wohnen dür- nities‟ sicherzustellen, hat sich Singapur der
fen. so genannten Ethnic Integration Policy (EIP)
verpflichtet.13 Sie schreibt den zum Kauf und Verkauf von
HDB-Wohnungen berechtigten Bürgern vor, in welchem
Gebäude sie wohnen dürfen.

Singapurische Staatsbürger und die Gruppe der malay-


sischstämmigen permanent residents sind von den Bestim-
mungen teilweise ausgenommen. Als Grund werden die
kulturellen und geschichtlichen Gemeinsamkeiten zwischen
Singapur und der malaysischen Ethnie angegeben. Perma-
nent residents, die anderen ethnischen Gruppen ange-

13 | Housing and Development Board, „Ethnic Integration Policy &


SPR Quota‟, http://www.hdb.gov.sg/fi10/fi10321p.nsf/w/Buy
ResaleFlatEthnicIntegrationPolicy_EIP?OpenDocument
[16.02.2011].
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 111

hören, dürfen hingegen insgesamt nur acht Prozent aller


Wohnungen eines Blocks und nur fünf Prozent aller Woh-
nungen in der unmittelbaren Nachbarschaft
belegen. Ist die Quote erfüllt, wird den Inte- Insgesamt dürfen nur acht Prozent aller
ressenten der Kauf einer Wohnung in dem Wohnungen eines Blocks und nur fünf
Prozent aller Wohnungen in der unmit-
betreffenden Gebäude verwehrt. Sie müssen telbaren Nachbarschaft von Angehöri-
dann auf andere Wohnanlagen ausweichen. gen einer Ethnie belegt werden.
Auch der Verkäufer unterliegt natürlich den
Quoten. Über die Frage, an wen er seine Bleibe abtreten
möchte, entscheidet mithin nicht nur das Kaufangebot des
Interessenten, sondern auch dessen ethnische Herkunft.

Trotz ihrer historischen und kulturellen Gemeinsamkeiten


wird auch im Falle der singapurischen Staatsbürger und
der malaysischstämmigen permanent residents darauf
geachtet, dass eine einzelne Ethnie nicht alle Wohnungen
eines Gebäudeblocks belegt. So gelten für die chine-
sischstämmigen Bürger mit oder ohne Pass als Ober-
grenze 84 Prozent aller Wohnungen in der unmittelbaren
Nachbarschaft. Die Quote für Malays beträgt 22 Prozent,
für „Indians & Others‟ zwölf Prozent.14 Die restlichen
Wohnungen müssen von Bürgern mit anderer ethnischer
Herkunft bewohnt sein. Die EIP-Quoten für jeden Gebäude­
block entsprechen in etwa dem Anteil der verschiedenen
Ethnien an der Gesamtbevölkerung.

Sowohl die permanent residents als auch die singapu-


rischen Staatsbürger erhalten beim Kauf einer HDB-
Wohnung finanzielle Unterstützung (etwa analog zu
einer „Wohnungsbauprämie‟ in Deutschland). Sie beträgt
maximal 30.000 Singapur Dollars. Mit diesem Instrument
soll jetzt ebenfalls die Integration gefördert werden. Denn
angehende Wohnungseigentümer mit Staatsbürgerschaft
bekommen seit dem letzten Jahr 10.000 Singapur Dollar
mehr als ein permanent resident. Da HDB-Wohnungen bis
zum 35. Lebensjahr grundsätzlich nur an verheiratete Paare
vergeben werden, bezieht sich die neue citizens come first-
Regelung auf beide Partner. Auch in einer gemischten Ehe
mit einem Staatsbürger und einem permanent resident
kürzt der Staat also seine Zuwendung auf maximal 20.000

14 | Housing and Development Board, „Policy changes to support


an inclusive and cohesive home‟, Pressemitteilung, 05.03.2011,
http://www.news.gov.sg/public/sgpc/en/media_releases/
agencies/hdb/press_release/P-20100305-4/AttachmentPar/
0/file/Press_Release-SC_SPR-EIP-SPR_Q.pdf [28.03.2011].
112 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

Singapur Dollars. Wer sich nach dem Kauf seiner Wohnung


noch rasch für den singapurischen Pass entscheidet oder
wenigstens ein Kind mit singapurischer Staatsbürgerschaft
hat, erhält die restlichen 10.000 Singapur Dollar nachträg-
lich.

Arbeit nach Quoten

Die derzeitigen Eckwerte für die Einwanderungspolitik der


singapurischen Regierung wurden im Manpower 21 Plan
von 1999 festgelegt. Mit ihm sollte das Land seine Posi-
tion als „Talent-Hauptstadt‟ der von Wissen (knowledge)
und Innovation befeuerten „New Economy‟ international
festigen. Als besonders aussichtsreiche Wachstumsmärkte
wurden die Bereiche Biomedizin, Chemie, Elektronik und
Umwelttechnik, daneben im Dienstleistungssektor die
Finanzwirtschaft und die Gesundheitsfürsorge identifiziert.
Gut ausgebildete ausländische Fachkräfte, Wissenschaftler
und Ingenieure werden in diesen Feldern
Seit den späten sechziger Jahren wur- gerne ins Land gelassen. Davon abgesehen,
den die Auflagen für den Zuzug von ist Singapur aber bis heute in hohem Maße
ausländischen Arbeitern wiederholt
gelockert. Viele gering qualifizierte auch auf gering oder kaum qualifizierte
Ausländerinnen arbeiten als Hausan- Kräfte aus dem Ausland angewiesen. Seit
gestellte.
den späten sechziger Jahren hat der Stadt-
staat die Auflagen für den Zuzug von ausländischen Arbei-
tern vor allem in der Bauwirtschaft, im Transportgewerbe,
beim Schiffsbau sowie in der Kranken- und Altenpflege
wiederholt gelockert. Viele gering qualifizierte Auslände-
rinnen arbeiten als Hausangestellte (domestic workers).

Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen werden in Abhän-


gigkeit vom monatlichen Einkommen, von der Qualifikation
und vom Einsatzgebiet bzw. Tätigkeitsfeld (Branche) des
Antragstellers „gestaffelt‟ erteilt. Die Frage, wie viele vor
allem der gering qualifizierten ausländischen Arbeitnehmer
mit einem so genannten R-Pass für welchen Wirtschafts-
sektor in Singapur arbeiten dürfen, richtet sich nach fest-
gelegten Quoten. Dafür ist das Herkunftsland ein wichtiges
Kriterium.15 Allen Unternehmen wird je nach Branche

15 | Für die Bauwirtschaft zum Beispiel dürfen derzeit Arbeiter aus


Malaysia, China, Indien, Sri Lanka, Thailand, Bangladesch,
Myanmar, Philippinen, Pakistan, Hongkong, Macao, Südkorea
und Taiwan rekrutiert werden. Für das produzierende Gewerbe
sind hingegen nur Arbeiter aus Malaysia, China, Hongkong,
Macao, Südkorea und Taiwan zugelassen.
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 113

darüber hinaus vorgeschrieben, wie viele ausländische


Arbeiter sie insgesamt und wie viele sie aus bestimmten
Ländern im Verhältnis zur Gesamtzahl aller Mitarbeiter
anstellen dürfen. Für ausländische R-Pass-Inhaber müssen
die Arbeitgeber darüber hinaus eine Abgabe an den Staat
leisten. Das monatliche Einkommen eines R-Pass-Inhabers
darf 1.800 Singapur Dollar (derzeit umgerechnet etwa
1.000 Euro) nicht überschreiten.

Für eine P1-Arbeitserlaubnis kommt in Frage, wer monat-


lich wenigstens 7.000 Singapur Dollar (derzeit umge-
rechnet ca. 4.000 Euro) verdient. P1-Inhaber dürfen ihre
nächsten Familienangehörigen (Ehepartner und Kinder
unter 21 Jahre) mit ins Land bringen. Für die Ehepartner
und Kinder gilt jedoch ein Sonderstatus (Dependant’s
Pass), der gesondert beantragt werden muss. Ausländer
mit einer P1-Erlaubnis sind darüber hinaus berechtigt,
sich um einen Personalised Employment Pass (PEP) zu
bewerben. Mit ihm erhöht sich die Aufent-
haltsdauer auf maximal fünf Jahre. Wer in Mit einem P1-Pass oder einer PEP-
diesem Zeitraum seine Anstellung verliert, Erlaubnis können Ausländer in Singa-
pur auch den Status als „permanent
darf bis zu sechs Monaten ohne Einkommen resident‟ und die Staatsbürgerschaft
in Singapur bleiben und nach einer neuen beantragen.
Arbeit suchen. Mit einem P1-Pass oder einer
PEP-Erlaubnis können Ausländer in Singapur auch den
Status als permanent resident und die Staatsbürgerschaft
beantragen.

Eine P2-Arbeitserlaubnis setzt ein monatliches Gehalt von


wenigstens 3.500 Singapur Dollar (derzeit umgerechnet
etwa 2.000 Euro) voraus. Ein P2-Inhaber kann ebenfalls
permanent resident werden, sollte mit dem Antrag aber
wenigstens zwei Jahre warten. Die übrigen Bestimmungen
entsprechen dem P1-Status.

Die Q1-Arbeitserlaubnis greift ab einem monatlichen


Einkommen von mindestens 2.500 Singapur Dollar (ca.
1.450 Euro). Erst ab diesem Gehaltsniveau dürfen auslän-
dische Arbeitnehmer ihre nächsten Familienangehörigen
mit ins Land bringen. Unterhalb dieser Ebene wird ab
einem Gehalt von 1.800 Singapur Dollar der sogenannte
S-Pass erteilt. Für diese Gruppe muss der Arbeitgeber
eine monatliche Abgabe entrichten. Auch gelten Beschäf-
tigungsquoten. Der Antrag auf den Status als permanent
114 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

resident und auf die Staatsbürgerschaft steht Ausländern


mit einem S-Pass ebenfalls offen. Im Regelfall hat er aber
erst nach einer Aufenthaltsdauer von vier bis fünf Jahren
Aussichten auf Erfolg.

Arbeitsgenehmigungen im P-, Q- oder S-Status werden


üblicherweise für ein bis zwei Jahre erteilt. Danach besteht
die Möglichkeit zur (wiederholten) Verlänge-
Der Status als „permanent resident‟ rung, wenn der Antragsteller ein geregeltes
wird zunächst für fünf Jahre gewährt. Einkommen nachweisen kann. Der Status als
Im Anschluss kann die Aufenthaltsge-
nehmigung um weitere fünf Jahre und permanent resident wird zunächst hingegen
mehr verlängert werden. für fünf Jahre gewährt. Im Anschluss kann
die Aufenthaltsgenehmigung um weitere
fünf Jahre und mehr verlängert werden. Der Verlust des
Arbeitsplatzes und des geregelten Einkommens zwingt
einen permanent resident im Unterschied zu den non-
residents nicht dazu, das Land zu verlassen. PRs können
sich bereits nach zwei Jahren um die Staatsbürgerschaft
bemühen. Sie entrichten ebenso wie singapurische Staats-
bürger monatliche Beiträge in den Central Provident Fund
(CPF). Über diese Sparanlage sind sie für das Alter abge-
sichert. Auch darf das Geld aus dem CPF vom jeweiligen
Kontoinhaber unter bestimmten Auflagen dafür verwendet
werden, eine HDB-Wohnung zu kaufen. Auch sie gilt in
Singapur als Altersversorgung.

Der Employment Pass in seinen unterschiedlichen Abstu-


fungen steuert die Einwanderung nicht nur nach demogra-
phischen, sondern auch nach konjunkturellen Gesichts-
punkten. Geht es der Wirtschaft in einem Bereich schlecht,
werden dafür weniger Ausländer zugelassen. Umgekehrt
wird die Zahl der Arbeitsgenehmigungen für Migranten in
„Boomphasen‟ sektoral erhöht. So betrug der Anteil der
non-residents am Bevölkerungswachstum 2008 noch 4,2
Prozent, während nur 0,6 Prozent bzw. 0,7 Prozent des
Zuwachses auf permanent residents und neue Staats-
bürger entfielen. Nachdem sich ab 2009 auch in Singapur
die globale Wirtschafts- und Finanzkrise bemerkbar
machte, sank der Anteil der non-residents am Bevölke-
rungswachstum auf ein Prozent im vergangenen Jahr. Mit
0,2 Prozent wurden auch weniger permanent residents neu
zugelassen.
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 115

Im Ergebnis reduzierte sich damit vor allem der Anteil der


Geringverdiener. Die Zahl der vollbeschäftigten Arbeiter
mit einem monatlichen Einkommen von 1.200 Singapur
Dollar (derzeit umgerechnet etwa 690 Euro) und weniger
lag im Juni 2010 bei 262.000, etwa fünf Prozent unter dem
Niveau des Vorjahres. 77,1 Prozent aller Bürger zwischen
25 und 64 Jahren standen im letzten Jahr in Lohn und Brot.
Die Beschäftigungsquote ist in Singapur damit so hoch wie
zuletzt 1991.16

Über Erfolge wie diese berichten die Medien des südost-


asiatischen Stadtstaates ausführlich. Presse und Rund-
funk produzieren deshalb in den verschiedenen Sprachen
der größten ethnischen Gruppen (Englisch, Chinesisch,
Malaiisch und Tamilisch). Der „Maintenance of Religious
Harmony Act‟ betrifft auch die Medien. Veröffentlichungen,
die „feelings of enmity, hatred, ill-will or hostility between
different religious groups‟ erzeugen könnten, sind für
Presse und Rundfunk verboten.17

Die aktuelle Diskussion

Trotz der beeindruckenden wirtschaftlichen „Ich täusche mich keinen Moment da-
Entwicklung des Landes und der immensen rüber, dass unsere ethnischen, kultu-
rellen, sprachlichen und religiösen
Anstrengungen bei der Integration bleibt Unterschiede verschwunden sein könn-
das Thema also sensibel. „Ich täusche mich ten.‟ (Singapurs Staatsgründer Lee)
keinen Moment darüber, dass unsere ethni-
schen, kulturellen, sprachlichen und religiösen Unterschiede
verschwunden sein könnten‟, warnte etwa Singapurs
Staatsgründer im Januar bei der Präsentation des Buches
Lee Kuan Yew: Hard Truths to Keep Singapore Going.18
Die jetzige und die künftige Generation sei verantwortlich
dafür, „to understand the vulnerability, the fragility of our
society and keep it in cohesion, keep it united and keep it
as it is today, tolerant of each other, accommodating each
other‟.19 Sowohl Muslime als auch Nicht-Muslime wollten
einige Äußerungen in dem Buch aber nicht ­unkommentiert

16 | Vgl. The Straits Times, 01.12.2010.


17 | Vgl. „Maintenance of Religious Harmony Act‟, http://statutes.
agc.gov.sg/non_version/cgi-bin/cgi_retrieve.pl?actno=
REVED-167A [16.02.2011].
18 | AFP, „Preserve racial, religious unity: Lee Kuan Yew‟, asiaone
news, 21.01.2011, http://news.asiaone.com/News/AsiaOne%
2BNews/Singapore/Story/A1Story20110121-259611.html
[16.02.2011].
19 | Ebd.
116 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

lassen. Lee, der heute den Titel „Minister Mentor‟ trägt


und auf den sich die Presse oft nur mit dem Kürzel „MM‟
bezieht, wird in einem Onlinebeitrag von Today mit der
Textpassage zitiert: „I think we were progressing very
nicely until the surge of Islam came, and if you asked me
for my observations, the other communities have easier
integration  – friends, intermarriages and so on, Indians
with Chinese, Chinese with Indians – than Muslims. That’s
the result of the surge from the Arab states.‟ Weiter heißt
es: „I would say, today, we can integrate all religions and
races except Islam. I think the Muslims socially do not
cause any trouble, but they are distinct and separate.‟20

Lee Hsien Loong, der Sohn des Staatsgründers und derzei-


tige Premierminister, versicherte nach der Veröffentlichung
Ende Januar: „But my own perspectives on how things
are in Singapore based on my interaction with the Malay
community, the mosque and religious leaders and the
grassroots leaders, is not quite the same as MM’s.‟ Die im
Buch des Vaters geäußerten Ansichten, so der Premiermi-
nister, seien persönlicher Natur.21

Im kommenden Parlamentswahlkampf werden neben der


Inflation und den Wohnungspreisen auch die Integra-
tion und Einbürgerung von Ausländern zu den wichtigen
Themen zählen. Niemand rechnet trotz der aktuellen
Diskussion aber ernsthaft damit, dass die seit der Unab-
hängigkeit 1965 dominierende People’s Action Party (PAP)
ihre absolute Mehrheit im Parlament einbüßen wird. Mit
der vergleichsweise raschen und problemlosen Bewäl-
tigung der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise hat die
singapurische Regierung bewiesen, dass sie den Erfolgs-
kurs des Stadtstaates auch unter großen Schwierigkeiten
fortzusetzen in der Lage ist. Unter Umständen wird das
citizens come first-Prinzip mit zusätzlichen Privilegien für
Staatsbürger unterfüttert. Im Kern wird Singapur aber an
seiner Bildungs-, Einbürgerungs- und Integrationspolitik
festhalten. Denn nicht zuletzt darauf gründet das Erfolgs-
modell des südostasiatischen Stadtstaates.

20 | S. Ramesh, „It’s a matter of perspective‟, todayonline.com,


31.01.2011, http://todayonline.com/Singapore/EDC110131-
0000092 [16.02.2011].
21 | S. Ramesh, „Muslims have done much to strengthen inte-
gration, says PM Lee‟, channelnewsasia.com, 30.01.2011,
http://channelnewsasia.com/stories/singaporelocalnews/
view/1107843/1/.html [16.02.2011].
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 117

Vom Fahrersitz auf die


Rückbank
Regionale Zusammenarbeit in Südostasien

Wilhelm Hofmeister

Die Ankündigung, sich möglicherweise um die gemeinsame


Ausrichtung der Fußballweltmeisterschaft im Jahr 2030 zu
bewerben, war das medienwirksamste Ergebnis des Tref-
fens der Außenminister der zehn ASEAN-Staaten bei ihrer
Tagung auf der indonesischen Insel Lombok am 20. Januar
2011. Offensichtlich waren die Minister verstärkt um
öffentliche Wahrnehmung für ASEAN bemüht, nachdem
die regionale Vereinigung zuletzt kaum Fortschritte beim Dr. Wilhelm Hofmeister
Integrationsprozess vorweisen konnte. Die Ankündigung leitet das Regional-
programm Politischer
einer eventuellen WM-Bewerbung hat von den derzeitigen Dialog Asien der
Schwierigkeiten innerhalb der Gemeinschaft und in ihrem Konrad-Adenauer-
Verhältnis zu den Nachbarn ein wenig abgelenkt. Der Stiftung mit Sitz in
Singapur.
ebenfalls in Lombok verabschiedete Aufruf der Außenmi-
nister zugunsten einer Aufhebung der Sanktionen gegen
Myanmar aufgrund der dort abgehaltenen Wahlen und der
nun bevorstehenden Einberufung eines Parlaments nach
20 Jahren Militärdiktatur ist in asiatischen Medien mit
Zustimmung zur Kenntnis genommen worden. Doch weil
sich die ASEAN-Mitglieder vor den Wahlen im November
eher verhalten für deren freie und faire Durchführung
oder wenigstens die Zulassung regionaler Wahlbeob-
achter eingesetzt hatten, stärkt der nachträgliche Aufruf
zur Aufhebung der Sanktionen die Glaubwürdigkeit der
ASEAN-Gruppe im Hinblick auf Myanmar kaum.

Die Bemühungen der ASEAN-Minister um öffentliche Wahr-


nehmung erklärt sich damit, dass die Länder Südostasiens
und ihre Gemeinschaftsorganisation ASEAN in jüngster
Zeit immer stärker vor der Herausforderung stehen, ihre
Dynamik in einem Kontinent zu zeigen, der ohnehin stark
in Bewegung ist. Die neue Weltmachtrolle Chinas und das
118 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

zunehmende wirtschaftliche und politische Gewicht Indiens


haben nicht nur das Augenmerk auf diese beiden Länder
gelenkt, sondern auch die wirtschaftlichen und politischen
Koordinaten in Asien und speziell in Südostasien verändert.
Das beeinträchtigt nicht nur das Selbstbewusstsein der
südostasiatischen Elite, sondern birgt konkrete Herausfor-
derungen für die regionale Zusammenarbeit innerhalb der
ASEAN-Gruppe sowie zwischen den Mitgliedsländern und
ihren nun mächtigeren Nachbarn.

China kommt in diesem Zusammenhang eine besondere


Bedeutung zu, was im Zuge der internationalen Finanz- und
Wirtschaftskrise deutlich geworden ist. Denn China wird
für die USA, die Europäische Union und Japan, traditionell
die wichtigsten Handelspartner Südostasiens, als Markt,
Zulieferer und Investor immer wichtiger. Nach der Finanz-
krise von 1997 hatte ASEAN neue Initiativen ergriffen, um
die regionale Integration zu vertiefen und auch die Zusam-
menarbeit mit „Dialogpartnern‟ außerhalb des ASEAN-
Raums auszubauen. Dies betraf zunächst China, Japan und
Südkorea und weitete sich dann auf andere Länder aus. Die
ASEAN-Gruppe fühlte sich, wie es von Regierungs- und Think
Tank-Vertretern gerne ausgedrückt wird, auf dem „Fahrer-
sitz‟ der regionalen Integration. Angesichts der neuen
Kräftekonstellationen aber besteht der Eindruck, dass sie
mittlerweile auf dem Rücksitz Platz nehmen musste, weil
ihr andere Akteure den Fahrersitz streitig gemacht haben.

Die wichtigsten Initiativen einer erweiterten regionalen


Kooperation, die von den Ländern Südostasiens ausgingen,
sind:

▪▪Das ASEAN Regional Forum (ARF), das 1993 in Singapur


begründet wurde und am 25. Juli 1994 in Bangkok
erstmalig zusammentrat, ist das wichtigste Dialog- und
Konsultationsforum Asiens über politische und insbeson-
dere sicherheitspolitische Themen von gemeinsamem
Interesse, das zur Vertrauensbildung und präventiven
Diplomatie in Asien beiträgt. Ihm gehören auch die USA,
Kanada, Russland und die EU an.1

1 | Mitglieder des ARF: Australien, Bangladesch, Brunei, China,


EU, Indien, Indonesien, Japan, Kambodscha, Kanada, Laos,
Malaysia, Myanmar, Mongolei, Neuseeland, Nordkorea, Pakis-
tan, Papua Neuguinea, Philippinen, Russland, Singapur, Sri
Lanka, Südkorea, Thailand, Ost Timor, USA, Vietnam.
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▪▪Die Initiative ASEAN plus Drei, die seit 1997 gemeinsame


Tagungen der zehn ASEAN-Staaten mit der Volksrepublik
China, Japan und Südkorea organisiert. Im Rahmen dieser
ASEAN plus Drei-Treffen wurde im Mai des
Jahres 2000 als Reaktion auf die vorherge- ASEAN plus Drei ist auch ein Forum für
hende Finanzkrise die so genannte Chiang- Freihandelsvereinbarungen. Die erste
Freihandelszone trat mit der Volks-
Mai-Initiative vereinbart, die Erweiterung republik China am 1. Januar 2010 in
der Währungsswap-Regelungen innerhalb Kraft.
der ASEAN-Staaten auf alle Mitglieder von
ASEAN plus Drei. Ziel dieses regionalen finanzpolitischen
Reservemechanismus ist die Vermeidung bzw. Begren-
zung möglicher Finanzkrisen. ASEAN plus Drei ist auch
ein Forum für Freihandelsvereinbarungen. Die erste
Freihandelszone trat mit der Volksrepublik China am 1.
Januar 2010 in Kraft. Die Abkommen zwischen der ASEAN
und Japan sowie Südkorea werden noch verhandelt und
sollen bis 2012 abgeschlossen sein. Allerdings haben sich
die Erwartungen, die ASEAN plus Drei würden sich zur
regionalen Schlüsselorganisation entwickeln, nicht erfüllt.

▪▪Der Ostasien-Gipfel (East Asia Summit, EAS), ein


weiteres von ASEAN ausgehendes Dialogforum für brei-
tere strategische, politische und wirtschaftliche Fragen
von gemeinsamem Interesse. Der erste EAS-Gipfel fand
im Dezember 2005 in Kuala Lumpur, Malaysia, statt.
Neben den Regierungschefs der ASEAN plus Drei nahmen
auch diejenigen Indiens, Australiens und Neuseelands
teil. Auf dem fünften Treffen in Hanoi im Oktober 2010
wurden zudem die USA und Russland formal in diesen
Gipfelprozess aufgenommen.

▪▪Der seit 2002 jährlich in Singapur stattfindende Shangri


La-Dialog ist ein wichtiges sicherheitspolitisches Forum,
an dem Verteidigungsminister und weitere Regierungs-
vertreter aus mittlerweile knapp 30 Ländern Asiens, aber
auch aus den USA und aus der Bundesrepublik Deutsch-
land teilnehmen.

▪▪Der Gipfelprozess zwischen Europa und Asien, das Asia


Europe Meeting (ASEM), wurde 1995 ebenfalls von einem
südostasiatischen Land (Singapur) angeregt und hat
nach der anfänglichen Einbeziehung der ASEAN plus Drei
mittlerweile einen erweiterten Mitgliedskreis aus Asien
und dem Pazifik.
120 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

Diese und einige weitere Initiativen verdeutlichen die Rolle


der Länder Südostasiens und ihrer regionalen Vereinigung
ASEAN als Motor regionaler Kooperation in der Vergangen-
heit. ASEAN saß tatsächlich auf dem „Fahrersitz‟. Mit dem
Aufstieg Chinas und Indiens aber wird die Richtung der
regionalen Entwicklung von anderen Akteuren bestimmt.

Welche Rolle spielt Südostasien heute im Kontext Asiens?


Diese Frage wird von Politikern und Beobachtern in der
Region mit neuer Dringlichkeit gestellt. Eine Analyse muss
vier Bereiche im Blick haben:

▪▪die regionale Sicherheitskonstellation, insbesondere das


Auftreten Chinas im Südchinesischen Meer;
▪▪die nationale politische Entwicklung, d.h. die Stabilität
und die Entwicklungsperspektiven der politischen
Systeme;
▪▪die wirtschaftliche Erholung nach der Krise;
▪▪den Stand der regionalen Integration, die durch neue
Tendenzen sub-regionaler Kooperation der Mekong-
Länder vor ernsthafte Herausforderungen gestellt ist.

Herausforderungen für die regionale


Sicherheit im Südchinesischen Meer

Das Auftreten Chinas im Südchinesischen Meer während


des Jahres 2010 offenbarte wie kaum zuvor seit dem Ende
des Vietnamkrieges die sicherheitspolitische Verwundbar-
keit der Länder Südostasiens. Zwar hatten die Volksre-
publik und ASEAN 2002 eine Erklärung über die Rolle im
Südchinesischen Meer unterzeichnet. Doch seither gelang
es nicht, diese Erklärung um einige und
Die Rüstungsanstrengungen Beijings effektive Verhaltenskodizes zu ergänzen.
haben dazu geführt, dass China mitt- Dies erweist sich heute als eine Schwäche
lerweile alle südostasiatischen Länder
mit konventionellen Waffen zu errei- der ASEAN. Denn 2010 endete die Zeit, in der
chen vermag. man meinte, Ansprüche Chinas einfach nicht
beachten zu müssen. Plötzlich wurde Chinas wachsende
wirtschaftliche und politische Macht erkannt, die sich im
Ausbau des Militärapparates und in einer neuen militäri-
schen Stärke des Landes niederschlägt. Die Rüstungs-
anstrengungen der Volksrepublik haben dazu geführt,
dass China mittlerweile alle südostasiatischen Länder mit
konventionellen Waffen zu erreichen vermag. Die immer
deutlicher zutage tretenden Machtinteressen Chinas haben
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 121

wesentliche Elemente der bisherigen regionalen Sicher-


heitsarchitektur in Frage gestellt. Damit aber stehen nicht
nur einzelne Länder Südostasiens, sondern die gesamte
ASEAN-Gemeinschaft vor unerwarteten Herausforde-
rungen.

Erstens erweist sich die Annahme der ASEAN nicht mehr


als korrekt, wonach alle regionalen Akteure ein gemein-
sames Interesse an einer stabilen und fried-
lichen Region hätten, die frei von gegensei- Die Annahme der ASEAN erweist sich
tiger Bedrohung ist. Diese Annahme liegt nicht mehr als korrekt, wonach alle
regionalen Akteure ein gemeinsames
u.a. dem Treaty of Amity and Cooperation Interesse an einer stabilen und fried-
in Southeast Asia (TAC) zugrunde. Die neu lichen Region hätten.
auftretenden Fragen hinsichtlich der Souve-
ränitätsrechte im Südchinesischen Meer und das dahinter
stehende Interesse an einem Zugang zu Ressourcen werfen
ernsthafte Zweifel daran auf, ob ein gemeinsames Inte-
resses noch gegeben ist. Verschiedene Ereignisse haben
neue Besorgnis hervorgerufen, die Durchsetzung der
Ansprüche Chinas führe zu einer chinesischen Dominanz
und der entsprechenden Unterordnung Südostasiens unter
die wirtschaftlichen und politischen Interessen Chinas.

Die Antwort der ASEAN auf diese Herausforderung war


und ist doppelgleisig: einerseits versucht man bereits seit
einiger Zeit, China in eine ganze Reihe multilateraler Initia-
tiven einzubinden. Neben den bereits erwähnten Foren und
Initiativen – ARF, ASEAN plus Drei, jetzt der erweiterte East
Asian Summit – ist hier auch das Freihandelsabkommen zu
nennen (China-ASEAN Free Trade Agreement, CAFTA), das
im Januar 2010 in Kraft trat. Es schuf die Freihandelszone
mit der größten Bevölkerung und dem drittgrößten kumu-
lierten Sozialprodukt weltweit. Auch wenn das Abkommen
Vorteile für beide Seiten bringen soll, so vermuten
Kommentatoren doch, dass China stärker profitieren wird.
Neben diesen multilateralen Vereinbarungen gibt es zahl-
reiche bilaterale Abkommen zwischen einzelnen südost-
asiatischen Staaten und China, die von der technischen
Zusammenarbeit in einzelnen Gebieten bis hin zur Verein-
barung strategischer Partnerschaften reicht. Neben den
dadurch entstandenen Verbindungen zwischen einzelnen
Institutionen ist auch das Heer chinesischer Minister,
Regierungsvertreter und Beamter zu nennen, die an zahl-
reichen Treffen in der Region teilnehmen und dadurch die
122 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

Verbindungen und den Meinungsaustausch vertiefen. Doch


trotz all dieser Aktivitäten gibt es keine Hinweise darauf,
dass die wirtschaftlichen und sozialen Verbindungen China
dazu bewegen könnten, die Sichtweise der ASEAN zu über-
nehmen, wenn es seine eigenen „Sicherheitsinteressen‟
wahrnimmt. Der chinesische Premierminister Wen Jiabao
ließ daran keinen Zweifel. Während der Generalversamm-
lung der Vereinten Nationen im September
Beijings internationales Verhalten ist 2010 betonte er: „Wenn es um Souveränität,
eindeutig stärker von seiner Wahrneh- nationale Einheit und territoriale Integrität
mung nationaler Interessen als durch
seine Einbindung in regionale Interde- geht, wird China nicht nachgeben oder
pendenzen geprägt. Kompromisse schließen.‟ Beijings internatio­
nales Verhalten ist eindeutig stärker von seiner Wahrneh-
mung nationaler Interessen als von seiner Einbindung
in regionale Interdependenzen geprägt. Das zeigte der
Konflikt mit Japan im September 2010, als die chinesische
Führung anti-japanische Demonstrationen erlaubte, wenn
nicht ermunterte, und auch zu wirtschaftlichen Sanktions-
mechanismen griff, um seinen Anspruch auf die Senkaku/
Diaoyu-Inseln zu unterstreichen. In Südostasien hat diese
Konfrontation zwischen China und Japan große Besorgnis
hervorgerufen, weil die gleichen Themen, die das chine-
sisch-japanische Verhältnis belasten, Kern der Probleme
im Südchinesischen Meer sind.

Die Besorgnis über den immer offener demonstrierten


Machtanspruch Chinas hat zu einer neuen Aufmerksamkeit
gegenüber den USA geführt. Doch deren Bereitschaft zu
einem größeren Engagement gegenüber einem erstar-
kenden China scheint eingeschränkt. Das US-Engagement
in Afghanistan und Pakistan und der Krieg gegen den
Terror absorbieren nach Einschätzung vieler südostasia­
tischer Beobachter und Kommentatoren die Kräfte der
Amerikaner. Deren Anstrengungen, das eigene Profil in
der Region zu stärken, wird gelegentlich als hedging oder
balance-of-power politics gegenüber China bezeichnet.
Mit Genugtuung war Präsident Obamas Zusammenkunft
mit den ASEAN-Führern am Rande des APEC-Gipfels 2009
in Singapur vermerkt worden. Auch 2010 hat sich der
US-Präsident wieder mit den ASEAN-Führern getroffen,
allerdings nicht in Washington, was das Treffen politisch
hätte aufwerten können, sondern „nur‟ am Rande der
UN-Generalversammlung in New York. Der Beitritt der
USA zum erwähnten Treaty of Amity and Cooperation in
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 123

Southeast Asia (TAC) im Jahr 2010 wurde in Südostasien


nachdrücklich begrüßt. Allerdings sind die praktischen
Konsequenzen und Vorteile für die Region noch nicht
sichtbar – abgesehen davon, dass der US-Kongress diesen
Vertragsbeitritt noch nicht ratifiziert hat. In der Substanz
hat sich im beiderseitigen Verhältnis bisher nichts geändert
gegenüber dem 2005 vereinbarten ASEAN-US Enhanced
Partnership-Abkommen. Für die USA allerdings hat der
Beitritt zum TAC die Tür für einen Beitritt zum East Asia
Summit geöffnet.

Welche Bedeutung dieser zusätzliche „Gipfel- Ob ASEAN plus Acht politische Ver-
prozess‟ besitzt, bleibt zunächst noch offen. einbarungen produziert, die auch ein-
gehalten werden, wird von manchen
Ob ASEAN plus Acht nun eher als sein Beobachtern in Südostasien bezweifelt.
Vorgänger (ASEAN plus Drei) zu politischen
Vereinbarungen führt, die auch eingehalten werden, wird
von Beobachtern in Südostasien bezweifelt. Sollten sich
China und die USA nicht über konkrete Fragen verstän-
digen können, könnte der EAS bald ein ähnliches Schicksal
erleben wie andere Foren, die den Charakter eines unver-
bindlichen „talk shop‟ angenommen haben. Für ASEAN
ergibt sich das Problem, nicht in die Gespräche zwischen
den beiden Großmächten eingebunden zu sein. Zudem
könnte China sein Interesse an regionalen Foren verlieren,
bei denen es nicht die Rolle der einzigen Großmacht spielt.

US-Außenministerin Hillary Clinton hat während des ASEAN


Regional Forum in Hanoi im Juli 2010 die Notwendigkeit
eines konzertierten, multilateralen Ansatzes betont, um
Chinas immer offener und teils aggressiver vorgetragenen
Ansprüchen auf Gebiete innerhalb des Südchinesischen
Meeres entgegenzutreten. Davon sind fast alle ASEAN-
Staaten betroffen. Clinton hat somit den Status quo
bekräftigt, der von den ASEAN-Staaten behauptet und von
den US-amerikanischen Seestreitkräften verteidigt wird.
Dennoch sind den Möglichkeiten der USA zu einem
entschiedeneren Auftreten gegenüber China und einer
engeren Kooperation mit den ASEAN-Staaten enge
Grenzen gesetzt. Zum einen ist es der US-Administration
nicht möglich, sich innerhalb der ASEAN-Staaten so zu
engagieren wie die chinesische Seite. Weder verfügt
Washington über ähnliche Kapazitäten, um eine anhal-
tend hohe Zahl an Regierungsvertretern und Beamten in
Südostasien einzusetzen und eine ähnliche Omnipräsenz
124 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

wie die Chinesen zu demonstrieren, noch gibt es dazu


hinreichende politische Unterstützung. Die innen- und
weltpolitischen Interessen der USA sind breiter. Seinen
lange erwarteten Besuch in Indonesien musste Präsident
Obama dreimal wegen innenpolitischer Verpflichtungen
verschieben, ehe er Jakarta im November 2010 schließ-
lich besuchte  – zu einem Kurzaufenthalt von weniger als
24 Stunden, auf dem Weg von Indien nach Japan. Auch
künftig wird er eher unregelmäßig an den Gipfeltreffen des
East Asia Summit teilnehmen. Somit ist es unwahrschein-
lich, dass die zuletzt beschworene Vertiefung der Part-
nerschaft zwischen den ASEAN-Staaten und den USA die
Intensität und Komplexität erreichen kann, die mittlerweile
das Verhältnis der ASEAN-Staaten zu China auszeichnet.
Bemerkenswert ist, dass offensichtlich auch der politisch-
ideologische Vorteil der USA an Bedeutung verliert. Das
Eintreten der USA für Demokratie und Menschenrechte hat
in Südostasien an Bedeutung verloren. China verhält sich
solchen Themen gegenüber „neutral‟.

Zum anderen reagieren verschiedene südostasiatische


Staaten zurückhaltend auf ein stärkeres Engagement der
USA zugunsten einer Beilegung der Konflikte über die
chinesischen Ansprüche im Südchinesischen
Indonesien und auch Vietnam haben in Meer. Das hat mit Entwicklungen innerhalb
den letzten Jahren eindeutig an Bedeu- der ASEAN, aber auch mit dem veränderten
tung gewonnen. Thailand und Malaysia
haben im regionalen Kontext an Ein- Verhältnis einiger ASEAN-Mitglieder zu China
fluss verloren. zu tun. Innerhalb der ASEAN-Gruppe haben
Indonesien und auch Vietnam in den letzten Jahren an
Bedeutung gewonnen. Thailand und Malaysia dagegen, die
traditionell stärker mit den USA verbunden waren, haben
aufgrund eigener politischer Probleme sowie unklarer
Entwicklungsstrategien im regionalen Kontext an Einfluss
verloren. Hinzu kommt, dass die Mekong-Staaten, die so
genannte Greater Mekong Subregion, mittlerweile durch
Handel, Investitionen und vor allem durch Infrastruktur-
projekte wie Straßen- und Bahnverbindungen oder Elek-
trizitätswerke enger mit China verbunden sind. All dies
bedeutet eine Beeinträchtigung der Rolle der USA.

Präsident Obama hatte nach seinem Amtsantritt deutlich


gemacht, dass er die Beziehungen zu Asien ausbauen will.
Außenministerin Clinton hat mehrfach verkündet: „Wir
sind zurück in Asien!‟ Im Oktober 2010, im Vorfeld ihrer
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 125

sechsten Asien-Reise in 21 Amtsmonaten, hatte sie die


Asienpolitik der Obama-Regierung als „forward diplomacy‟
bezeichnet, um Amerikas Führungsrolle in der Region zu
erhalten und zu stärken. In Südostasien ist von dieser
„Vorwärtsdiplomatie‟ indes wenig zu spüren. Zwar werden
die amerikanischen Sicherheitsgarantien für
den asiatisch-pazifischen Raum hier – je nach Es stellt sich für die Südostasiaten die
Ausrichtung der örtlichen Regierung  – mit Frage, ob sie bereit sind, amerikani-
sche Sicherheitsgarantien auf Kosten
mehr oder weniger positiven Kommentaren ihres Verhältnisses zu China zu akzep-
zur Kenntnis genommen. Doch einerseits tieren.
weiß man, dass diese Sicherheitsgarantien
vor allem Ostasien gelten, und andererseits stellt sich für
die Südostasiaten die Frage, ob bzw. bis zu welchem Grad
sie bereit sind, amerikanische Sicherheitsgarantien auf
Kosten ihres Verhältnisses zu China zu akzeptieren.

Die wichtigsten Sicherheitspartner der USA in Südost-


asien sind Thailand und die Philippinen. Sie spielen in
der Rhetorik der Amerikaner auch eine Rolle, wenn es
um Sicherheitsgarantien für Südostasien geht. Doch die
Amerikaner wissen, dass gerade in Thailand und den Phil-
ippinen die Militärs wegen ihrer innenpolitischen Rolle,
wegen Korruption und Menschenrechtsverletzungen keine
verlässlichen Partner sind. Singapurs Öffnung für die
amerikanische Marine ist heute möglicherweise wichtiger
als die Bindungen zu den traditionellen Partnern. Zudem
schenken die USA Indonesien und Vietnam auch bei den
Sicherheitsbeziehungen größere Beachtung. Beide Länder
gelten Washington als mögliche künftige Führungsstaaten
Südostasiens, während Thailand und die Philippinen erheb-
liche politische Probleme und Unsicherheiten verkörpern.

Neben der anhaltenden militärischen Präsenz der USA wird


ein weiterer Faktor im Hinblick auf die regionale Sicher-
heitskonstellation immer wichtiger: der kontinuierliche
Ausbau der militärischen Macht Chinas. Beijings militäri-
scher Apparat wächst und das Land ist zunehmend in der
Lage, seine Ansprüche auf Souveränität im Südchinesi-
schen Meer durch Überwachung, Verbote und Demons-
tration von Stärke durchzusetzen. Im Jahr 2010 hat
China mehrfach demonstriert, dass es zum Einsatz seiner
Machtmittel bereit ist. Vietnam ist davon als Grenzstaat zu
China besonders betroffen – doch auch die übrigen ASEAN-
Länder. Das gilt selbst für Indonesien, das nicht mit chine-
126 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

sischen Gebietsansprüchen konfrontiert ist, aber am 23.


Juni 2010 in seiner Exklusiven Wirtschaftszone ein chinesi-
sches Fischerboot entdeckte, das von einem chinesischen
Marineschiff begleitet wurde. Die Indonesier vermieden die
Konfrontation. Die Klagen der Südostasiaten darüber, dass
China auf ihre Kosten seine Souveränitäts-
China spricht sich für eine diplomati- rechte in der genannten Region ausdehne,
sche Lösung der Konflikte im Südchine- werden von Beijing zurückgewiesen. Daher
sischen Meer aus. Doch scheint es nur
eine Lösung akzeptieren zu wollen, die scheint die Hoffnung einiger Südostasiaten
es selbst diktiert. illusorisch, mit China einen Verhaltenskodex
zu vereinbaren, der Beijings Ambitionen im Südchinesi-
schen Meer beschränken würde. China spricht sich zwar
stets für eine friedliche und diplomatische Lösung der
Konflikte aus. Doch scheint es nur eine Lösung zu akzep-
tieren, die es selbst diktiert.

Die chinesische Grundhaltung ist letztlich, das Südchinesi-


sche Meer als ein chinesisches Meer zu betrachten und über
vermeintliche Souveränitätsrechte nicht zu verhandeln.
Schon gar nicht will China multilaterale Verhandlungen
akzeptieren, da es die das genannte Meer betreffende
Fragen nicht als regionale Fragen betrachtet, sondern als
eine bilateral zwischen China und einzelnen südostasiati-
schen Staaten zu lösende Angelegenheit. Dabei ist China
bewusst, dass es keine gemeinsame Position – geschweige
denn eine Strategie  – der Südostasiaten im Hinblick auf
regionale Sicherheitsfragen gibt. Das zeigt sich u.a. durch
die Wahrnehmung der maritimen und der „kontinentalen‟
Staaten Südostasiens. Die maritimen Staaten konzen­
trieren sich stark auf die Situation im Südchinesischen Meer
und die Sicherheit der Straße von Malacca und Singapur.
Die „kontinentalen‟ Staaten dagegen sind mehr an einer
Verbindung mit China über die erwähnte Mekongdelta-
Kooperation interessiert. Ungelöste bilaterale politische
Probleme sowie Gebiets- und Grenzdispute zwischen den
Südostasiaten verhindern u.a. eine Kohärenz bei der Posi-
tionierung gegenüber externen Herausforderungen.

Der chinesische Aktionsrahmen bleibt keineswegs auf das


genannte Meer begrenzt. Im August 2010 liefen chinesi-
sche Marineschiffe den Tiefseehafen Thilawa von Myanmar
an. Der Verdacht kam auf, es sei das strategische Ziel
Chinas, durch die Zusammenarbeit mit Myanmar einen
Zugang zum Golf von Bengalen und den indischen Ozean
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 127

zu erhalten. Diese vermuteten chinesischen Ambitionen


im Indischen Ozean haben wohl den neuen strategischen
Dialog zwischen den USA und Indien motiviert und auch
dazu beigetragen, dass die USA die Einbeziehung Indiens
in die ostasiatischen Sicherheitsstrukturen unterstützten.

Die USA werden nicht müde, ihre sicherheitspolitischen


Interessen in der Südchinesischen See zu betonen. Dies
hat auch US-Verteidigungsminister Robert Gates während
seines Besuchs in Ostasien Anfang Januar 2011 unter-
strichen. Gemeinsame Operationen und Manöver werden
Teil des US-Engagements auch mit Südostasien bleiben.
Zudem versucht Washington, eine multilaterale Lösung
für die Gebietsdiskussionen im Südchine-
sischen Meer zu erreichen, was auch von Beijing hat den Südostasiaten deutlich
einigen südostasiatischen Staaten unter- gemacht, dass sie sich entscheiden
müssten, entweder für oder gegen
stützt wird. Beijing hat dieses Unterfangen China zu sein.
brüsk zurückgewiesen und die Südostasiaten
aufgefordert, sich für oder gegen China zu entscheiden.
Infolgedessen wurde im Rahmen des 2. ASEAN-US-Gipfels
im September 2010 eine Stellungnahme veröffentlicht,
in der nur allgemein von einer friedlichen Beilegung der
Meinungsverschiedenheiten gesprochen wurde. Nachdem
China im Vorfeld des Gipfels davor gewarnt hatte, wurde
das Südchinesische Meer nicht ausdrücklich in der Erklä-
rung genannt.

Die Gebietsansprüche und Kontroversen um das Südchi-


nesische Meer sind ein weiteres Element des Sicher-
heitsdilemmas zwischen den USA und China, bei dem die
Maßnahmen eines Staates zur Verbesserung seiner Sicher-
heitssituation zu Gegenmaßnahmen des anderen Staates
führen. Es entsteht eine Spirale wachsender Spannungen –
für die ASEAN-Staaten ein kompliziertes Dilemma. Es geht
darum, wie sie die wachsende chinesische Macht durch ein
stärkeres Engagement der USA ausbalancieren können,
ohne ihre Beziehungen mit China zu belasten oder eine
noch aggressivere Haltung Chinas gegenüber Südostasien
zu provozieren.
128 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

Interne Entwicklungen der


Länder Südostasiens

In einer schematischen Darstellung stellen sich die Typen


der Regimes in den einzelnen Länder wie folgt dar:

Tabelle 1
Politische Regime in Südostasien

Freedom House Bertelsmann Transformation


(2008) Index (2009)

Politische Freiheits- Demokratie-


Land Rechte rechte Politische Regime wert Regime Typ

Brunei 6 5 nicht frei k.A. k.A.

moderater /
Kamboscha 6 5 nicht frei 4,1
Wahl-Autoritarismus
Indonesien 2 3 frei (Wahldemokratie) 7,0 defekte Demokratie
(geschlossener)
Laos 7 6 nicht frei 2,8
Autoritarisum
moderater /
Malaysia 4 4 teilweise frei 5,3
Wahl-Autoritarismus
(geschlossener)
Myanmar 7 7 nicht frei 1,7
Autoritarismus
Philippinen 4 3 teilweise frei 5,9 defekte Demokratie
moderater /
Singapur 5 4 teilweise frei 5,4
Wahl-Autoritarismus
Thailand 5 4 teilweise frei 5,3 defekte Demokratie
teilweise frei
Osttimor 3 4 k.A. defekte Demokratie
(Wahldemokratie)
(geschlossener)
Vietnam 5 5 nicht frei 3,3
Autoritarismus

Quelle: Croissant und Bünte 2010.2

Die Fähigkeit der südostasiatischen Länder, auf die Verän-


derungen in ihrem externen Umfeld zu reagieren, wird
maßgeblich durch ihre jeweils nationale Entwicklung
bestimmt.3 Die Heterogenität der politischen Systeme ist

2 | Aurel Croissant und Marco Bünte, „Democracy in Southeast


Asia – An Assessment of Practices, Problems and Prospects‟,
in: Panorama. Insights into Asian and European Affairs 2/2010.
Die Skalenwerte von 1 bis 7 reichen vom höchsten bis zum
niedrigsten Grad der Freiheit. Die Werte beziehen sich auf 2008.
Vgl. auch http://freedomhouse.org und http://bertelsmann-
transformation-index.de [15.02.2011].
3 | Vgl. dazu auch die vom KAS-Regionalprojekt Politischer Dialog
Asien herausgegebene Zeitschrift Panorama. Insights into
Asian and European Affairs 2/2010 zum Leitthema „A Future
for Democracy?‟.
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 129

ein wesentliches Merkmal der Ländergruppe der Region.


Sie trägt dazu bei, dass Fortschritte im regionalen Integ-
rationsprozess nicht rascher erzielt werden und dass die
Vertretung gemeinsamer Interessen und Positionen gegen-
über Dritten  – etwa im Hinblick auf die angesprochenen
Entwicklungen im Südchinesischen Meer – schwer fallen.

Der Blick auf die Tabelle zeigt, dass sich frühere Erwar-
tungen auf eine Konsolidierung und Ausweitung demokra-
tischer Entwicklungen in Südostasien nicht erfüllt haben.
Außer den Fortschritten bei der Konsolidierung von Demo-
kratie in Indonesien ist die demokratische Entwicklung
in Thailand und den Philippinen, den beiden Ländern, in
denen vor Jahren am ehesten eine Stabilisierung demo-
kratischer Verhältnisse erwartet worden war, keineswegs
ungefährdet. In den übrigen Ländern der Region sind die
Aussichten aufgrund politischer und struktureller Bedin-
gungen eingeschränkt.

Nach dem Sturz des langjährigen Diktators Suharto 1998


hatten die wenigsten Beobachter eine baldige Konsolidie-
rung demokratischer Verhältnisse in Indonesien erwartet,
das mit 240 Millionen zu den bevölkerungsreichsten der
Erde zählt und durch eine große kulturelle und sprachliche
Vielfalt sowie schwierige territoriale Verhältnisse gekenn-
zeichnet ist  – das Land besteht aus 17.000 Inseln. Nach
Indien und den USA könnte man Indonesien als die „dritt-
größte‟ Demokratie der Erde bezeichnen. Die maßgeblichen
politischen und gesellschaftlichen Gruppen
des Landes akzeptieren, dass der politische Gewaltenteilung und die Mechanismen
Prozess gemäß den Regeln und Normen des horizontaler Rechenschaftslegung funk-
tionieren in Indonesien mit Einschrän-
demokratischen Systems verläuft. Gewalten­ kungen. Das Parlament genießt Eigen-
teilung und die Mechanismen horizontaler ständigkeit gegenüber der Regierung.
Rechenschaftslegung funktionieren mit Ein-
schränkungen. Das Parlament genießt Eigenständigkeit
gegenüber der Regierung, die Zivilgesellschaft und der
Medienpluralismus sind gestärkt. Die politische Rolle des
Militärs ist schrittweise eingeschränkt worden. Indonesien
ist ein Beispiel dafür, dass sich Demokratie in einem isla-
misch geprägten Land entwickeln und konsolidieren kann.
Zwar gibt es auch hier radikale islamische Kräfte, die
demokratische Freiheiten einschränken wollen, doch ihre
politische Reichweite ist, wie die Wahlen 2009 belegen,
stark eingeschränkt.
130 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

Trotz dieser insgesamt positiven Einschätzung gibt es einige


Faktoren, die die innenpolitische Entwicklung belasten und
mittelbar auch den internationalen Handlungsspielraum
Indonesiens einschränken. Dies betrifft u.a. das problema-
tische Zusammenspiel von Geld und Macht, das in den Präsi-
dentschaftsambitionen des Vorsitzenden der Golkar-Partei,
Aburizal Bakrie, zum Ausdruck kommt. Diese Kombination
hat in Indonesien, wie auch in anderen Ländern, häufig
die endemische Korruption gefördert und die Grundlagen
des demokratischen Systems geschwächt. Hinzu kommen
die mangelhafte Kompetenz der Regierungen  – sowohl
auf gesamtsstaatlicher Ebene als auch in den dezentrali-
sierten Einheiten  – bei der Bekämpfung der anhaltenden
sozialen Probleme. Dies könnte mittelfristig
Fortschritte der Demokratieentwick- radikalen Kräften Auftrieb verleihen und zu
lung in Indonesien haben das Selbstbe- einer Gefahr für die Demokratie werden. Die
wusstsein politischer und gesellschaft-
licher Eliten gestärkt, die verstärkt bisherigen Fortschritte der Demokratieent-
Ambitionen auf einen regionalen Füh- wicklung haben jedoch das Selbstbewusst-
rungsanspruch formulieren.
sein politischer und gesellschaftlicher Eliten
gestärkt, die heute wieder ihren regionalen
Führungsanspruch und ihre Forderung nach Teilhabe an
globalen Entscheidungsprozessen formulieren. Die Einbe-
ziehung Indonesien, in die G-20 kommt diesen Ambitionen
entgegen.

In den Philippinen, Thailand und Osttimor war in den


vergangenen Jahren dagegen eher eine Erosion demo-
kratischer Verhältnisse zu beobachten. In den Philippinen
waren mit den Wahlen im Mai 2010 Hoffnungen auf einen
demokratischen Neuanfang verknüpft. Schließlich war das
Regime von Präsidentin Gloria Arroyo (2001 bis 2010)
gekennzeichnet von zahlreichen Skandalen, Vorwürfen
der Korruption und der Wahlfälschung, aber auch der
Beschneidung verfassungsmäßiger Freiheiten sowie,
dies vor allem, durch die enttäuschten Hoffnungen vieler
­Filipinos auf eine Besserung ihrer Lebensbedingungen.
Wahlsieger im Mai 2010 war Benigno „Ninoy‟ Aquino Jr.,
der Sohn der früheren Präsidentin Corazon Aquino, die
Ende 2009 starb. Aquino hatte 42 Prozent der Stimmen
erhalten und wurde nach philippinischem Wahlrecht mit
relativer Mehrheit zum Präsidenten gewählt. Auch wenn
Aquino vor seiner Wahl einige Jahre dem Senat angehörte,
gilt er als politisch unerfahren. Bis zum Jahresende war
noch nicht erkennbar, ob es ihm und seiner Regierung
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 131

gelingen würde, die Hoffnungen der meisten Filipinos auf


grundlegende Reformen einschließlich einer wirksamen
Bekämpfung von Korruption, Klientelismus und Ineffizienz
in der Landespolitik zu erfüllen. Weit verbreitete Armut
und unzulängliche Leistungsangebote in den
Bereichen Erziehung und Gesundheit oder Weit verbreitete Armut und unzuläng-
auch bei der Infrastruktur kennzeichnen liche Leistungsangebote in den Berei-
chen Erziehung und Gesundheit kenn-
diese Ineffizienz des Staates. Da der neue zeichnen die Ineffizienz des philippini-
Präsident für mehr Schlagzeilen aufgrund schen Staates.
seiner privaten Lebensführung als aufgrund
zukunftsweisender politischer Projekte sorgt, sind die
Chancen auf für eine baldige Überwindung der notorischen
Defizite staatlicher Dienstleistungen und der Korruption in
der Politik nicht sehr hoch.

Thailand, das andere Land, von dem eine Konsolidierung


demokratischer Verhältnisse erwartet worden war, ist in
den letzten Jahren verstärkt durch eine konstitutionelle
und anhaltende politische Krise gekennzeichnet. Seit
den Wahlen von 2007 nimmt im Land die politische Pola-
risierung und Instabilität zu, die im Frühjahr 2010 ihren
vorläufigen Höhepunkt erreichte. Zehntausende Anhänger
des 2006 von den Militärs abgesetzten Premierministers
Thaksin hielten die Hauptstadt Bangkok und andere Städte
des Landes besetzt. Im Mai 2010 hob das Militär die
Blockade auf, und bei den Auseinandersetzungen kamen
mehrere Hundert Menschen ums Leben.

Die Gründe für die Schwäche der südostasiatischen Demo-


kratie sind zahlreich. Zu nennen sind etwa die mangelnde
Akzeptanz der demokratischen Verfassungsgrundsätze
durch wichtige Gruppen eines Landes, die Schwäche der
Parteien und Parteiensysteme sowie das Verhalten „infor-
meller‟ Machtgruppen – Wirtschaftseliten, das Militär oder
politische Bewegungen, die zwar keine Mehrheiten bei
Wahlen gewinnen, aber ihr Veto einlegen können. Hinzu
kommen, wie in den Philippinen und Thailand, eine tiefe
Spaltung der Gesellschaft, die sich auch im Agieren der
gesellschaftlichen Organisationen widerspiegelt.

In Thailand etwa betrifft das nicht nur die Auseinanderset-


zungen zwischen den „Rothemden‟, den Anhängern des
früheren Premiers Thaksin, und den „Gelbhemden‟, der
nationalistischen People’s Alliance for Democracy, die die
132 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

Thaksin-Anhänger bekämpft. Im Süden des Landes gibt es


permanent Konflikte zwischen lokalen Organisationen, die
durch ethnische oder religiöse Unterschiede motiviert sind.
Ähnliche Konflikte gären seit Jahrzehnten in Mindanao, auf
den Philippinen. Solche Konflikte führen immer wieder zu
Kontroversen zwischen Staat und gesellschaftlichen Orga-
nisationen, die sich in Straßenkämpfen zwischen Polizei
und Demonstranten äußern und letztlich die Schwäche der
politischen Institutionen zeigen. Die Folge sind politische
Instabilität oder gar mögliche Interventionen des Militärs.
Insgesamt bedeutet all dies einen erheblichen Rückschlag
für die Demokratieentwicklung in beiden Ländern. Ähnliche
Prozesse sind auch in Ost-Timor zu beobachten.

Malaysia, Kambodscha und Singapur sind angesichts


dessen zwar politisch relativ stabile Staaten  – doch zum
Preis eines ungeschminkten Autoritarismus. Zwar finden
in diesen Ländern regelmäßig Wahlen statt, doch ein
Machtwechsel ist hier nicht in Sicht, weil
In Kambodscha haben Oppositions- Wahlprozesse teils offen manipuliert werden
kräfte einen gewissen Aktionsspiel- und die Opposition durch Einschränkung der
raum und können die Regierung kri-
tisieren. Interventionen des Regimes Meinungs- und Versammlungsfreiheit unter-
behindern jedoch den demokratischen drückt wird. In Kambod­scha haben Opposi-
Wettbewerb.
tionskräfte  – Parteien oder gesellschaftliche
Organisationen  – zwar einen gewissen Spielraum und
können Kritik an der Regierung äußern. Doch autoritäre
Interventionen des Regimes gegenüber der Justiz, den
Medien und der Zivilgesellschaft behindern den demokra-
tischen Wettbewerb. Die Macht von Ministerpräsident Hun
Sen und seiner Volkspartei steht nicht zur Disposition.

In Malaysia haben seit den Wahlen von 2009, bei denen die
seit Jahrzehnten regierende Koalition ihre Zweidrittelmehr-
heit einbüßte, die politischen und gesellschaftlichen Span-
nungen zugenommen. Nicht zuletzt aufgrund wirtschaftli-
cher Probleme infolge der internationalen Krise zeigt sich,
dass das seit den sechziger Jahren herrschende System
einer Bevorzugung der malaiisch-muslimischen Mehrheit
bei einer Kooptation von Teilen der chinesischen und indi-
schen Minderheit an seine Grenzen geraten ist. Die Koopta-
tion der Chinesen und Inder über die Einbeziehung ethnisch
geprägter Parteien als Juniorpartner in die herrschende
Koalition der Nationalen Front (Barisa Nasional) funktio-
niert nicht mehr reibungslos. Die ethnischen ­Minderheiten
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 133

wählen mittlerweile zunehmend die Oppositionsparteien.


Der innergesellschaftliche Wettbewerb hat vor allem auf
Seiten konservativer Gruppen die Intoleranz gegenüber
den ethnischen und religiösen Minderheiten gefördert
und im Verlauf des Jahres 2010 zu offenen Auseinander-
setzungen zwischen den verschiedenen Gruppen geführt.
Auf der Ebene des Parteiensystems schlagen sich diese
Spannungen in Form permanenter Konflikte innerhalb der
Regierungskoalition UMNO wieder. Premierminister Najib
Razak hat die Gefahren der zunehmenden innergesell-
schaftlichen Konflikte erkannt und darauf mit der Ankün-
digung einer „Neuen Wirtschaftspolitik‟ und der Korrektur
der affirmativen Politiken zugunsten der
muslimischen Malaien reagiert. Die Umset- Da Malaysia weiterhin eines der wirt-
zung dieser Ankündigung kommt jedoch schaftlich stärksten Länder Südost-
asiens ist, werden die Zeichen der
nicht voran, und so hängt Najibs politisches Instabilität von seinen Nachbarn mit
Schicksal auch von den Konflikten innerhalb Sorge beobachtet.
der Opposition ab, die das Regime  – u.a.
durch eine erneute Strafverfolgung gegen den wichtigsten
Oppositionsführers Anwar Ibrahim – weiter zu schwächen
versucht. Da Malaysia eines der wirtschaftlich stärksten
Länder Südostasiens ist, werden Zeichen der Instabilität
von den Nachbarn mit Sorge beobachtet.

Vietnam gilt als Land, dessen Bedeutung innerhalb der


Region weiter zunehmen wird, wenngleich hierbei sein Weg
weiter offen ist. Der Ausgang des Nationalen Kongresses
der Kommunistischen Patrei, der im Januar 2011 statt-
fand, ist dabei entscheidend. Als Folge der internationalen
Finanz- und Wirtschaftskrise traten während des Jahres
2010 strukturelle Defizite des vietnamesischen Entwick-
lungsmodells zutage. Das betrifft vor allem die Macht der
großen Staatsbetriebe, die mit erheblicher Ineffizienz zu
arbeiten scheinen, aber von Regierungsstellen vor Wett-
bewerb und einem eventuellen Zusammenbruch geschützt
werden. Die Korruption ist ein weiterer Faktor, unter dem
vor allem unabhängige Kleinunternehmer immer wieder
leiden. Zudem können sich die politische Repression, die
Unterdrückung persönlicher und politischer Freiheitsrechte
und die Einschränkung gesellschaftlicher Organisationen
mittelfristig negativ auf die wirtschaftliche Entwicklung
niederschlagen.
134 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

In Myanmar hat das Militärregime 2010 Wahlen veran-


staltet, doch demokratische Verhältnisse sind noch nicht in
Sicht. In den beiden Kammern des nationalen Parlaments
und den 14 Regionalparlamenten werden ab dem 31.
Januar 2011 auch Vertreter der Opposition sitzen. Doch
der politische Prozess wird weiterhin von den Militärs domi-
niert, und es ist nicht absehbar, wie groß der politische
Freiraum in Zukunft sein wird. Die Friedensnobelpreisträ-
gerin Aung San Suu Ky wurde im November 2011, eine
Woche nach den Wahlen, nach langjähriger
Demokratie ist in Südostasien für viele Haft und Hausarrest freigelassen. Sie hat
Menschen als Regierungsform ein Ideal. seither verschiedene öffentliche Stellung-
Viele sind heute gut über politische
Vorgänge informiert und wollen an der nahmen abgegeben. Allerdings ist ungewiss,
Gestaltung ihrer Lebensverhältnisse welche Möglichkeiten sich ihr für ein politi-
teilnehmen.
sches und öffentliches Engagement eröffnen.

Demokratie ist in Südostasien für viele Menschen als Regie-


rungsform ein Ideal. Viele sind aufgrund der modernen
Kommunikationstechnologie gut über politische und gesell-
schaftliche Vorgänge informiert und wollen an der Gestal-
tung ihrer Lebensverhältnisse teilnehmen. Im Zeitalter des
Internets können die Regime keine Kontrolle im alten Stil
mehr ausüben. Dennoch trifft die Entwicklung von Demo-
kratie in der Region noch auf vielfältige Hindernisse.

Wirtschaftliche Erholung nach der Krise

Südostasien hat sich 2010 allmählich von den Folgen


der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise erholt.
Mit einem Wirtschaftswachstum von 14,7 Prozent stand
Singapur dabei eindeutig an der Spitze (und wurde welt-
weit nur noch von Qatar mit 19 Prozent übertrumpft).
Die Erholung war im Wesentlichen angeregt durch eine
Zunahme der Exporte und der einheimischen Nachfrage
aufgrund einer allgemeinen Verbesserung der wirtschaft-
lichen Situation sowie den Rückgang der Arbeitslosigkeit.

Der einheimische Konsum und fallende Preise für Rohstoffe


waren in Indonesien die Grundlage der wirtschaftlichen
Erholung. Die Handelsbilanz wird zwar auch 2011 voraus-
sichtlich positiv abschließen, doch die schleppende Nach-
frage auf Seiten der traditionellen Partner und die Stärke
der indonesischen Währung setzen den Erwartungen
Grenzen. Hier wie auch in anderen Ländern der Region
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 135

nimmt der Inflationsdruck infolge der steigenden Rohstoff-


preise auf dem Weltmarkt zu.

In Malaysia blieb das Wirtschaftswachstum hinter den


Erwartungen der Regierung zurück. Man spürt die stärker
werdende Konkurrenz preisgünstigerer Länder wie
Vietnam, ohne selbst den Sprung in die Kategorie der
Länder mit hohem Einkommen zu schaffen. Malaysias
Ziel ist es, von einem Land mit mittlerem Einkommen  –
7.500 US-Dollar beträgt zurzeit das Sozialprodukt pro
Kopf – an die Gruppe der Länder mit hohem
Einkommen anzuschließen, um so die eigene Die Produkte, mit denen Malaysia in
Position zu verteidigen. Denn die Produkte, der verarbeitenden Industrie Gewinne
erzielte, werden mittlerweile von den
mit denen das Land in der verarbeitenden südostasiatischen Nachbarn billiger
Industrie Gewinne erzielte, werden mittler­ hergestellt.
weile auch von den südostasiatischen Nach-
barn wie Vietnam und Indonesien billiger hergestellt.
Um den Anschluss an ein höheres Entwicklungsstadium
zu schaffen, müsste Malaysia deutliche Fortschritte im
Bereich Technologie und Humankapital erzielen. Das Erzie-
hungssystem und die gesellschaftliche Konfliktsituation
erweisen sich jedoch zunehmend als Elemente, die den
Fortschritt behindern. Die „Neue Wirtschaftspolitik‟ von
Premierminister Najib versucht auf diese Problemlage zu
antworten, doch mit der Umsetzung kommt die Regierung
nur langsam voran.

Singapur dagegen geht gestärkt aus der Krise hervor.


14,7 Prozent Wachstum im Jahr 2010 sind ein deutlicher
Beweis für die Kapazität und Dynamik des Inselstaates,
auf wirtschaftliche Herausforderungen mit Kreativität und
Kompetenz zu reagieren. In den Philippinen wird weiterhin
der einheimische Konsum ein wesentlicher Motor der
Wirtschaft bleiben. Die angekündigten Investitionen der
Regierung in soziale Dienstleistungen und Infrastruktur
erhöhen das zur Verfügung stehende Einkommen und
regen dadurch den Konsum an. Daneben bleibt der Export
von Waren und Dienstleistungen ein Faktor zur Stützung
des Wirtschaftswachstums.

Trotz der politischen Instabilität verzeichnete Thailand


2010 ein Wirtschaftswachstum von ca. sieben Prozent,
nach einem Rückgang von 2,2 Prozent im Jahr davor. Das
ist vor allem auf eine Erholung des Exportsektors zurück-
136 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

zuführen, der mehr als 60 Prozent der thailändischen Wirt-


schaft ausmacht.

Kambodscha konnte sich zwar aufgrund der Zunahme


seiner Exporte und des Tourismus sowie eines nachhal-
tigen Wachstums der Agrarproduktion erholen. Doch
seine externe Verwundbarkeit aufgrund der Abhängigkeit
von wenigen Exportprodukten und Exportmärkten sowie
die Notwendigkeit einer breiteren Diversifizierung war
während der globalen Krise deutlich geworden.

In Laos bleibt der Rohstoffsektor das Rückgrat der Volks-


wirtschaft. Im Jahr 2010 wurden dort eine Reihe von
Bergbauprojekten und Wasserkraftwerken vorangetrieben,
was zum Wirtschaftswachstum des Landes auch in den
kommenden Jahren beitragen wird. Allerdings gibt es
auch hier Herausforderungen für die wirtschaftspolitische
Steuerung. Zu nennen wären der hohe Kapitalzufluss,
die Auslandsschulden, die Einhaltung der Währungs- und
Steuerdisziplin und die Verbesserung des Umfeldes für die
Privatwirtschaft.

Über Myanmar gibt es weiterhin keine verlässlichen Wirt-


schaftsdaten. Allerdings kam es wohl 2010 zu einem
Anstieg des Sozialprodukts, der sich auf
China ist der wichtigste Investor in ausländische Investitionen in neue Gasfelder
Myanmar. Die Agrarproduktion, vor und den Bau einer Gaspipline stützte. China
allem der Reisanbau, verlief günstig.
Für die Zukunft wird ein Anstieg des ist der wichtigste Investor im Land. Auch die
privaten Konsums erwartet. Agrarproduktion, vor allem der Reisanbau,
verlief günstig. Für die Zukunft wird ein
Anstieg des privaten Konsums erwartet, allerdings auch
eine Zunahme der Inflation aufgrund steigender Kosten
für Waren und Kraftstoffe. Ob das seit Jahren bestehende
Embargo der USA, der Europäischen Union und Australiens
aufgehoben wird, das zweifellos zu Einschränkungen der
Wirtschaftsentwicklung führt, bleibt abzuwarten.

Für Vietnam schließlich war die Integration in die Welt-


wirtschaft ein maßgeblicher Faktor bei der wirtschaftlichen
Erholung. Auch für die nähere Zukunft wird erwartet, dass
seine politische Stabilität und ein verbessertes Ausbil-
dungswesen die Grundlage für ein weiteres Wirtschafts-
wachstum sein werden. Zudem wird erwartet, dass die
Regierung ihre Anstrengungen verstärkt, um das Umfeld
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 137

für die einheimischen Unternehmen sowie für in- und


ausländisches Investitionskapital zu verbessern.

Wirtschaftlich haben die ASEAN-Länder die internationale


Krise weitgehend überwunden. Mit einem Wirtschafts-
wachstum von 7,4 Prozent im Jahr 2010
gehört Südostasien mit seinen knapp 600 Die ASEAN-Staaten haben die interna-
Millionen Menschen zu den wichtigsten Ent- tionale Wirtschaftskrise weitgehend
überwunden. Allerdings sind die Unter-
wicklungsregionen Asiens. Allerdings sind schiede zwischen den einzelnen Län-
die skizzierten Unterschiede zwischen den dern erheblich.
einzelnen Ländern erheblich. Für 2011 wird
ein Wachstum von 5,4 Prozent für die Ländergruppe
erwartet. Diese bleibt damit hinter den beiden großen
Wachstumsmotoren China und Indien zurück, was nicht
zuletzt Folgen für das Gewicht der Ländergruppe im regio-
nalen Kontext haben wird.

Stand der regionalen Integration

Die Vertiefung der regionalen Integration war ein Mantra


der Führer Südostasiens während der Krise. Tatsäch-
lich gab es 2010 einige Fortschritte bei der regionalen
Zusammenarbeit. Allerdings mehren sich die Zweifel in
der Region, ob es gelingen wird, bis 2020 eine „ASEAN-
Gemeinschaft‟ zu schaffen und bis 2015 die dafür vorge-
sehenen Vor-Etappen zu bewältigen. In der so genannten
Bali II-Erklärung hatten die ASEAN-Mitglieder im Jahr
2003 vereinbart, bis 2020 eine „ASEAN-Gemeinschaft‟
zu bilden, die auf drei Pfeilern steht  – einer wirtschaft-
lichen, einer politischen und sicherheitsbezogenen sowie
einer sozialen und kulturellen Gemeinschaft. Entspre-
chend eines 2009 vereinbarten „Fahrplans‟ sollen die
ASEAN-Mitgliedsländer bis 2015 jeweils die politischen
und institutionellen Voraussetzungen für die Bildung dieser
Gemeinschaften schaffen.4 Die Erreichung dieses Etappen-
ziels gilt mittlerweile bei Beobachtern als unwahrschein-
lich. Abgesehen von der ohnehin schwierigen Aufgabe
einer Harmonisierung wichtiger Politikfelder in diesen
sehr unterschiedlichen Staaten sind im Verlauf des Jahres
2010 einige Entwicklungen eingetreten, die eher auf eine
Spaltung der ASEAN hinweisen und die weitere Integration

4 | ASEAN, Roadmap for an ASEAN Community 2009-2015, 2009,


http://www.aseansec.org/publications/RoadmapASEAN
Community.pdf [15.02.2011].
138 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

vor zusätzliche Herausforderungen stellen. Das betrifft ins-


besondere die engere Zusammenarbeit zwischen den
Mekong-Staaten im Norden der ASEAN und China.

Als wichtiger Fortschritt bei der wirtschaftlichen Zusam-


menarbeit gilt die zu Beginn des Jahres 2010 in Kraft
getretene Vereinbarung der sechs „Kernländer‟ der ASEAN
(Brunei Daressalam, Indonesien, Malaysia, Philippinen,
Singapur und Thailand), die Zölle im gemeinsamen Handel
für 99 Prozent der Produkte auf Null zu senken. Auch die
so genannten CLMV-Länder (Kambodscha, Laos, Myanmar
und Vietnam) haben sich verpflichtet, bei 98,6 Prozent der
Waren einen Zolltarif von null bis fünf Prozent anzuwenden.
Zudem trat im Mai ein weiteres Abkommen in Kraft, das
den Warenaustausch innerhalb der ASEAN erleichtern soll,
das so genannte ASEAN Trade in Goods Agreement. Neben
diesen Fortschritten für den Warenverkehr bestehen jedoch
weiterhin Probleme bei den Dienstleistungen, auch wenn für
diesen Bereich im Verlauf des Jahres 2010 ebenfalls Fort-
schritte erzielt werden konnten. Ein weiteres Abkommen,
das ASEAN Comprehensive Investment Agreement, soll die
intraregionalen Investitionen erleichtern.

Auf dem ASEAN-Gipfel im April 2010 in Hanoi ist ein Zeit-


plan vereinbart worden, um die einzelnen Maßnahmen
umzusetzen, die in dem so genannten Blueprint für die
Bildung der Wirtschaftsgemeinschaft vorgesehen sind.
Über die Fortschritte soll regelmäßig berichtet werden.
Außerdem vereinbarten die ASEAN-Führer
Während des Gipfeltreffens hatten die im Oktober einen so genannten Master Plan
ASEAN-Führer 2010 der Erweiterung on Asean Connectivity, um den Anschluss der
der ASEAN plus Sechs um die USA und
Russland zugestimmt. ASEAN-Gruppe an die Länder Ostasiens zu
beschleunigen. Während ihres Gipfels hatten
die ASEAN-Führer der Erweiterung der ASEAN plus Sechs
um die USA und Russland zugestimmt. Ein erstes Treffen
der Verteidigungsminister dieses erweiterten Kreises fand
bereits im Oktober statt, ebenfalls in Hanoi.

Insgesamt ist das Verhältnis der ASEAN zu Ostasien im


Jahre 2010 enger geworden. Zu Beginn des Jahres traten
das Freihandelsabkommen mit China, entsprechende
Abkommen mit Australien und Neuseeland sowie ein
Abkommen mit Indien über den Warenverkehr in Kraft.
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 139

Für die finanzielle Zusammenarbeit wurde auf der Grund-


lage der Erweiterung der Chiang Mai-Initiative eine Verein-
barung beschlossen, die den Ländern der ASEAN plus Drei
bei kurzfristigen Liquiditätsproblemen Finanzmittel in Höhe
von 120 Milliarden US-Dollar zur Verfügung stellt. Dies
bietet den Ländern einen erweiterten Schutzmechanismus
gegenüber den Risiken der globalen Wirtschaft. Zusätzlich
gab es Vereinbarungen im Investitionsbereich, um die
Ausgabe von Anleihen zu erleichtern.

Trotz dieser Fortschritte sehen Beobachter Die Angleichung der Wirtschaftspo-


noch erhebliche Schwierigkeiten, die Wirt- litiken kommt nicht voran. Vorerst
sind lediglich weitere Maßnahmen
schaftsgemeinschaft bis 2015 zu verwirkli- zur Erleichterung des intraregionalen
chen. Die auf regionaler Ebene beschlossene Handels zu erwarten.
Angleichung der Wirtschaftspolitiken kommt
nicht voran, und es ist nicht abzusehen, ob und wann
eine Harmonisierung erreicht werden kann. Vorerst sind
lediglich weitere Maßnahmen zur Erleichterung des intra-
regionalen Handels zu erwarten. Die wirtschaftspolitischen
Probleme tragen weiterhin dazu bei, dass auch das Enga-
gement des Privatsektors zugunsten der regionalen Integ-
ration bisher zurückhaltend ist – gibt es doch kaum Druck
auf Politiker und Regierungen, den Integrationsprozess zu
beschleunigen und zu vertiefen.

Der Bildung der Wirtschaftsgemeinschaft wird allgemein


eine höhere Priorität zugeschrieben als den beiden anderen
Gemeinschaftsprojekten. Angesichts der erheblichen poli-
tischen Unterschiede zwischen den Ländern ist weder kurz-
noch mittelfristig mit einer Verwirklichung der politischen
Gemeinschaft zu rechnen. Die gemeinsame Verpflichtung
in Artikel 1 der 2007 verabschiedeten ASEAN-Charta,
„die Demokratie zu stärken, gute Regierungsführung und
Rechtsstaatlichkeit umzusetzen und die Menschenrechte
und grundlegende Freiheiten zu fördern und zu schützen‟,
wird höchst unterschiedlich interpretiert.

Erschwert wird die wirtschaftliche Integration des gesam-


ten ASEAN-Raums in jüngster Zeit durch gewisse Entwick-
lungen im Norden der Gemeinschaft. Das meint insbe-
sondere die engere Zusammenarbeit zwischen der so
genannten Größeren Mekong Sub-Region (Greater Mekong
Sub-Region, GMS), bestehend aus den Ländern Kambod­
scha, Laos, Myanmar, Vietnam sowie Thailand und den
140 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

beiden chinesischen Provinzen Yunnan und Guangxi. Im


Rahmen eines so genannten GMS-Entwicklungsprogramms
sind in den vergangenen Jahren ca. elf Milliarden US-Dollar
in Projekte zum Ausbau der Infrastruktur investiert
worden. China ist der größte Einzelinvestor, entspre-
chend haben sich die chinesischen Bindungen mit diesen
ASEAN-Ländern sehr rasch verdichtet. Zusammen mit
den chinesischen Investitionen kommen Unternehmer
und Arbeiter. In Laos beispielsweise wird die Zahl illegaler
chinesischer Migranten bereits auf 400.000 geschätzt  –
bei einer Gesamtbevölkerung von ca. sieben Millionen. In
den Grenzregionen wird mittlerweile vielerorts chinesisch
gesprochen, und der chinesische Renminbi ist allgemein
akzeptiertes Zahlungsmittel.

Für ASEAN bedeutet diese neue sub-regionale Integration


eine ernsthafte Herausforderung, vor allem für die Insel-
staaten im Süden und Osten der Gemeinschaft. Im Januar
demonstrierten die ASEAN-Außenminister mit einer Reise
von Chiang Rai, Thailand, über Houey Xay, Laos, nach
Jinghong, China, und weiter nach Kunming, die Hauptstadt
der chinesischen Provinz Yunnan, ihre Verbundenheit.
In Kunming sprachen sie mit Vertretern Chinas über die
Vertiefung der beiderseitigen Zusammenarbeit. Beo­bachter
sehen allerdings in dem wachsenden Engagement Chinas
eine Herausforderung für die intraregio-
Die Nachbarn Chinas entwickeln größe- nale Integration der Länder Südostasiens.
res Interesse an einer Vertiefung der Schließlich entwickeln diejenigen Länder, die
Zusammenarbeit mit der Volksrepublik.
Dadurch könnten sie ihr Interesse an unmittelbar an China angrenzen, allmählich
einer Beschleunigung der regionalen größere Interessen an einer Vertiefung der
Integration verlieren.
Zusammenarbeit mit dem nördlichen Nach-
barn – und geraten in eine größere Abhängigkeit. Dadurch
könnten sie ihr Interesse an einer Beschleunigung der
regionalen Integration verlieren.

ASEAN am Lenkrad regionaler Zusammenarbeit?

Südostasien ist mit knapp 600 Millionen Menschen eine


wichtige Teilregion Asiens und hat im Vergleich zu anderen
Regionen eine hohe interne Integrationsdichte erreicht  –
auch wenn ASEAN noch deutlich hinter den selbst
gesteckten Zielen regionaler Integration zurückbleibt. Die
Region hat die Folgen der internationalen Finanz- und Wirt-
schaftskrise weitgehend überwunden. Doch die Entwick-
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 141

lung Asiens wird heute in weitaus stärkerem Maße von den


großen Ländern und mächtigeren Volkswirtschaften China
und Indien beherrscht. Die Länder der ASEAN-Gruppe
haben nicht nur eigenen politischen Gestaltungsspielraum
verloren. Sie sind in jüngster Zeit auch stärker den Folgen
einer selbstbewussten Expansion der Großmächte  – vor
allem Chinas  – ausgesetzt. Die Vertiefung der regionalen
Integration wird zwar von vielen Akteuren als notwen-
dige Konsequenz dieser neuen Entwicklungen angesehen,
um die Rolle und das Gewicht der ASEAN-Länder zu
behaupten. Doch die nationalen Sonderinteressen, Rivali­
täten, Konkurrenz und Konflikte untereinander sowie die
Heterogenität der politischen und wirtschaftlichen Systeme
stehen dem entgegen.
142 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

Die Slowakei nach der Wahl


Das erste halbe Jahr der Mitte-Rechts-Regierung

Grigorij Mesežnikov

Grigorij Mesežnikov
ist einer der wichtigs- Das Jahr 2010 war in der Slowakei voller bedeutender
ten Analysten der Ereignisse. Die Bürger entschieden über die neue Regie-
slowakischen Politik.
rung für die kommenden vier Jahre, über die Qualität
Er ist Mitbegründer
des Institute for ihrer Beziehung mit Ungarn, dem Nachbarn im Süden,
Public Affairs (IVO) die Beziehung der slowakischen Bevölkerung zu den
in Bratislava und
Minderheiten (vor allem ethnischen Ungarn) und darüber,
seit 1998 dessen
Präsident. wie sich die Slowakische Republik als Mitgliedsstaat der
EU bezüglich der Entscheidung über die Beteiligung am
Euro-Rettungsschirm verhalten sollte. Es war sowohl für
die Bürger als auch für die Politiker das Jahr der schweren
Entscheidungen.

Ergebnisse und Kontext der slowakischen


Parlamentswahlen im Jahr 2010

Im Jahr 2010 gab es eine große politische Machtverschie-


bung im Land. Nach den Parlamentswahlen im Juni wurde
die neue Regierungskoalition gebildet, die eine absolute
Mehrheit der Mandate im Parlament besitzt (79 von 150).
Die Koalition besteht aus vier Parteien. Zwei davon hatten
als Oppositionsparteien in der Zeit von 2006 bis 2010 Sitze
im Parlament (die Slowakische Demokratische und Christ-
liche Union, SDKÚ-DS, und die Christlich-Demokratische
Bewegung, KDH), eine Partei (Most-Híd, dt. Brücke) wurde
durch die Fragmentierung einer weiteren parlamentari-
schen Oppositionspartei (Partei der ungarischen Koalition,
SMK) gebildet und eine Partei gründete sich 2009 als völlig
neue politische Formation (Sloboda a Solidarita, SaS, dt.
Freiheit und Solidarität).
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 143

Tabelle 1
Ergebnisse der Parlamentswahlen in der Slowakei
am 12.06.2010

Gesamtzahl der Anteil an der


abgegebenen Volksabstim- Sitze im
Partei Stimmen mung (in %) Parlament

Europäische Demokratische Partei (EDS) 10.332 0,40 —


Union – Partei für die Slowakei (Únia) 17.741 0,70 —
Partei der Roma-Koalition (SRK) 6.947 0,27 —
Palis Kapurková 14.576 0,57 —
Freiheit und Solidarität (SaS) 307.287 12,14 22
Partei der demokratischen Linken (SDĽ) 61.137 2,41 —
Partei der ungarischen Koalition (SMK) 109.638 4,33 —
Volkspartei – Bewegung für eine
109.480 4,32 —
demokratische Slowakei (ĽS-HZDS)
Kommunistische Partei der Slowakei (KSS) 21.104 0,83 —
Slowakische Nationalpartei (SNS) 128.490 5,07 9
Neue Demokratie (ND) 7.962 0,31 —
Arbeiterassoziation der Slowakei (ZRS) 6.196 0,24 —
Christlich-demokratische Bewegung (KDH) 215.755 8,52 15
Volkspartei Unsere Slowakei (ĽSNS) 33.724 1,33 —
Slowakische Demokratische und Christliche
390.042 15,42 28
Union – Demokratische Partei (SDKÚ-DS)
AZEN – Allianz für ein Europa der Nationen 3.325 0,13 —
Richtung – Sozialdemokratie (Smer-SD) 880.111 34,79 62
Most–Híd [Brücke] 205.538 8,12 14

Quelle: Statistisches Amt der Slowakischen Republik, 2010

Ein grundlegendes Übereinkommen in Bezug auf die Bil-


dung der neuen Regierungskoalition erzielten die Vertreter
der vier Mitte-Rechts-Parteien SDKÚ-DS, SaS, KDH und
Most-Híd quasi sofort nach der Verkündung der Wahler-
gebnisse. Einstimmig schlossen sie nicht nur Verhand-
lungen mit der Smer-Sozialdemokratischen Partei (Smer-
SD) über eine mögliche Zusammenarbeit in einer Koalition
aus, sondern sogar ein Treffen mit deren Delegierten. Die
Gründe für diese Weigerung beruhten nicht nur auf unter-
schiedlichen Programmen und Ideologien von Smer-SD
und den Mitte-Rechts-Parteien. Sie gingen viel tiefer und
hatten ihren Ursprung in vorherigen Wahl­perioden:
144 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

Die inakzeptable autoritäre Einstellung von Smer-SD zur


Machtausübung; die Versuche dieser Partei, oppositionelle
Mitte-Rechts-Parteien und deren Vertreter in den Jahren
2006 bis 2010 zu delegitimieren und zu kriminalisieren; die
konfliktreiche Persönlichkeit von Robert Fico, der ständig
darauf aus war, politische Konfrontationen hervorzurufen
und schließlich die belastenden, verdächtigen Umstände
der Gründung und Aktivitäten von Smer-SD.

Im Grunde wurde diese Partei als machtpolitisches Projekt


gewisser Unternehmer und durch unklare, dubiose Finan-
zierung gegründet. Während ihrer Regierungszeit baute sie
ein System auf, das auf Vetternwirtschaft unter Parteien
basierte und so zu Korruption führte. Daher hätte ein mög-
liches Koalitionsbündnis mit Smer-SD die Mitte-Rechts-
Parteien in Verruf bringen können.

Für viele Bürger der Slowakischen Republik symbolisierten


die vier Jahre der von Fico geführten nationalistisch-popu-
listischen Regierung bestehend aus Smer-SD, SNS und
ĽS-HZDS eine Ära der Arroganz der Macht, der Verletzung
der Grundregeln der Rechtsstaatlichkeit, der Vergröße-
rung der Staatsschulden, einer minderheitenfeindlichen
Konfrontationspolitik und eines primitiven, aggressiven
Nationalismus. Die Wahl hat bestätigt, dass diese Politik
von einem Großteil der Gesellschaft abgelehnt wurde, und
nicht einmal der große Anteil an Stimmen für die zum
Rücktritt gezwungene Smer-SD in der Volksabstimmung
hat daran etwas geändert. Vier Jahre Regierungszeit haben
klar aufgezeigt, dass Smer-SD nie eine
Smer-SD ist ein politisches Projekt, konventionelle sozialdemokratische Partei
das auf Ficos persönlichen Machtam- war, als die sie sich ausgegeben hatte. Sie ist
bitionen und wirtschaftlichen Interes-
sen einer kleinen Gruppe von Unter- ein politisches Projekt, das auf persönlichen
nehmern basierte. Machtambitionen des ehemaligen Stellver-
treters der postkommunistischen Partei der demokrati-
schen Linken (SDĽ), Robert Fico, und wirtschaftlichen Inte-
ressen einer kleinen Gruppe von Unternehmern basierte,
die während Vladimír Mečiars Amtszeit dank der ungezü-
gelten Privatisierung und großzügigen Staatsbestellungen
reich geworden waren. Sie war in der Tat schon immer eine
typisch populistische Gruppierung, deren ideologischer
Kern in der Kombination etatistischer Rhetorik in Form der
Verkündung eines „starken sozialen (Wohlfahrts-) Staats‟
mit einem altmodischen, ethnischen Nationalismus lag, der
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 145

die Verteidigung „nationaler staatlicher‟ Interessen und den


Widerstand gegenüber der „Politik Großungarns‟ in den
Vordergrund stellte.

Programm und Handeln der neuen Regierung

Anfang Juli 2010, einige Tage nach der Unterzeichnung


eines neuen Koalitionsvertrages zwischen den vier Mitte-
Rechts-Parteien, berief Präsident Ivan Gašparovič die
stellvertretende Vorsitzende und Spitzenkandidatin der
SDKÚ-DS, Iveta Radičová, zur Ministerpräsi-
dentin der Regierung. Zum ersten Mal in der Zum ersten Mal seit 1989 gibt es in der
Geschichte des Landes besetzte eine Frau slowakischen Regierung kein einziges
ehemaliges Mitglied der Kommunisti-
das höchste Regierungsamt. Und zum ersten schen Partei mehr.
Mal seit dem Zusammenbruch des kommu-
nistischen Regimes im Jahre 1989 gibt es in der slowa-
kischen Regierung kein einziges ehemaliges Mitglied der
Kommunistischen Partei mehr (in Ficos Regierung waren
es noch zehn von 16 Personen). Diese beiden Tatsachen
zeigen die Veränderungen, die die Parlamentswahlen 2010
in die Slowakei gebracht haben.

Das Programm der neuen Regierung, das im August 2010


vom Parlament genehmigt wurde, enthält eine Reihe
von Maßnahmen, die auf die Erweiterung des Raums für
Mechanismen der freien Marktwirtschaft, die Stärkung des
demokratischen Charakters des Staates, die Erhaltung der
Stabilität und Funktion der Institutionen der staatlichen
Macht, die Stärkung der echten Unabhängigkeit der Justiz
und die Erhöhung der Transparenz im öffentlichen Leben
abzielen. Die neue Regierung hat eindeutig das politi-
sche Erbe der zweiten Regierung unter Mikuláš Dzurinda
in der Amtszeit von 2002 bis 2006 übernommen, als das
konservativ-liberale Kabinett eine Reihe tiefer struktu-
reller, besonders sozialökonomischer Reformen eingeführt
hatte. Diese ermöglichten die Integration des Landes
in die EU und die NATO und machten die Slowakei zum
zentraleuropäischen „Tigerstaat‟. Nach vier Jahren natio-
nalistischer, linksgerichteter Regierung unter der Leitung
Ficos, die das Modell des „starken Sozialstaats‟ förderte
und versuchte, einige von Dzurindas Reformen zu ändern,
war die außergewöhnliche­ Stellung der Slowakei als ein
erfolgreiches, sich wandelndes Land Geschichte.
146 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

Nach dem ersten halben Jahr der neuen Regierung gibt


es ein paar erwähnenswerte Änderungen in einigen Berei-
chen. Die neue Politik zielt nun auf die Konsolidierung der
öffentlichen Finanzen, die Steigerung der Transparenz,
den Kampf gegen Korruption und Vettern-
Die Stimmung in der Gesellschaft hat wirtschaft sowie die Wiederherstellung des
sich schnell verändert. Die Spannung in Vertrauens der Bürger auf die Justiz und
den slowakisch-ungarischen Beziehun-
gen hat sowohl interethnisch als auch den Staat. Die Stimmung in der Gesellschaft
zwischenstaatlich abgenommen. hat sich schnell verändert. Die Spannung in
den slowakisch-ungarischen Beziehungen
hat sowohl interethnisch als auch zwischenstaatlich abge-
nommen. Der radikale nationalistische Diskurs, der mit
aktiver Unterstützung der Smer-SD mehrere Jahre lang
von der nationalistischen SNS genährt wurde, ist fast
völlig verschwunden. Auch die aggressiven Angriffe auf
die unabhängigen Medien und NGOs, die Ficos Regierung
regelmäßig ausführte, gehören der Vergangenheit an.

Regierungsprioritäten: Transparenz und


Festigung der Wirtschaft

In der Anfangszeit ihrer Amtsführung hat sich die neue


Regierung einen Überblick über die Lage verschafft,
die Ficos Kabinett ihr vermacht hat. Es war wichtig, der
Allgemeinheit die tatsächlichen Ergebnisse vom „Aufbau
des Sozialstaats‟ in der Version der Smer-SD zu erläu-
tern. Diese Politik verfügte dank der unwiderstehlichen
„sozialen‟ Rhetorik beständig über eine große Unterstüt-
zung der Öffentlichkeit. Minister aus Radičovás Kabinett
haben Informationen über die Vetternwirtschaft oder den
eindeutig korrupten Hintergrund vieler früherer Regie-
rungsprojekte, über verdächtige, nicht transparente
öffentliche Auftragsvergaben und über zahlreiche Fälle von
unwirtschaftlichem Umgang mit den Staatsfinanzen veröf-
fentlicht. Sie bezogen sich auch auf mehrere Ministerien –
Verteidigung, Arbeit, Sozialwesen und Familie, Transport,
Wirtschaft, Kultur, Bildung, Außenpolitik, Justiz und
Finanzen. In einigen Fällen wurde Anklage bei der Staats-
anwaltschaft erhoben. Hier wird bereits ermittelt. Die
beispiellose Veröffentlichung von Informationen über den
Missbrauch seitens ehemaliger Regierungsvertreter mit
großer, und in manchen Fällen sogar makroökonomischer
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 147

Auswirkung war aus zwei Gesichtspunkten bedeutsam: Sie


zeigt zum Einen den Einsatz der neuen Regierung gegen
Korruption und Vetternwirtschaft, zum Anderen die Tiefe
und das Ausmaß der Korruption, die in der vorhergegan-
genen Wahlperiode erreicht wurden.

Die neue Regierung hat quasi zum Amtsantritt damit


begonnen, das Programm der Erhöhung der Transparenz
und der Stärkung der Kontrolle beim Umgang mit öffent-
lichen Mitteln zu verwirklichen. Hier nahmen ihre Bemü-
hungen eine konkrete, greifbare Form an. Ein Register von
Verträgen wurde für die Allgemeinheit im Internet bereit-
gestellt, nachdem das Parlament das deutlich erneuerte
Zivilrecht genehmigt hatte. Die Auflistung dokumentiert
die Käufe von Waren und Dienstleistungen durch Staats-
organe.

Da die slowakische Wirtschaft sowohl die negativen


Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise als auch die Auswir-
kungen der problematischen sozialöko­no­mi­
schen Politik der vorhe­rigen Regierung zu Radičová konzentrierte sich zuerst auf
spüren bekommt, hat Radičovás Kabinett die Stabilisierung der Staatsfinanzen.
Ihr Wahlversprechen, die Steuern nicht
seine Bemühungen zuallererst auf die Stabi- anzuheben, konnte sie nach Enthül-
lisierung der Staatsfinanzen konzentriert. lung des tatsächlichen Defizits nicht
einlösen.
Das Kabinett hat es geschafft, eine Reihe
wirtschaftlicher Sparmaßnahmen zu verab-
schieden, die darauf abzielen, das Haushaltsdefizit zu
verringern. Nachdem dieses Defizit in der Amtszeit von
Ficos Kabinett von drei Prozent im Jahr 2006 auf fast acht
Prozent 2010 gestiegen war, strebte Radičovás Kabinett
eine Reduzierung auf weniger als fünf Prozent im Jahr
2011 an. Obwohl die derzeitigen Koalitionsparteien vor den
Wahlen versprochen hatten, die Steuern nicht anzuheben,
haben sie nach der Enthüllung des tatsächlichen Zustands
des Staatshaushalts und nach einer langen Diskussion eine
Ausnahme gemacht und die Mehrwertsteuer vorüberge-
hend um ein Prozent angehoben, von 19 auf 20 Prozent.
Der erhöhte Mehrwertsteuersatz soll immer dann gelten,
wenn das Haushaltsdefizit drei Prozent überschreitet.
Sobald das Defizit niedriger ausfällt, würde die ursprüng-
liche Mehrwertsteuer wiederhergestellt.
148 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

Korrekturen an Auswüchsen von Ficos Politik

Zuletzt hat es einige Fortschritte bei der Stabilisierung der


Demokratie, den Institutionen des Verfassungssystems
und den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit gegeben. In
einer Ära der „Tyrannei der Mehrheit‟ hatte die Koalition aus
Smer-SD, SNS und ĽS-HZDS die Oppositionsparteien im
Parlament offen marginalisiert und deren Abgeordnete zu
bloßen politischen Statisten gemacht, die Kon­trollfunktion
des Parlaments geschwächt und die Qualität der Gesetz-
gebung negativ beeinflusst. Die neue Mehrheit dagegen
verfolgt ihren Willen im Parlament ohne die Verletzung
des verfahrensrechtlichen Konsenses und hat die Grund-
funktionen des Parlaments bisher nicht
Sowohl die neue Koalition als auch gefährdet. Vorschläge und Anmerkungen von
deren einzelne Parteien sind offen Abgeordneten der Opposition wurden nicht
dafür, über legitime Forderungen der
Opposition zu verhandeln. von vornherein abgelehnt, nur weil sie aus
der Opposition kamen. Trotz entgegenge-
setzter Positionen wird die Opposition im Parlament nicht
länger von der Regierungskoalition marginalisiert. Sowohl
die neue Koalition als auch deren einzelne Parteien sind
offen dafür, über legitime Forderungen der Opposition zu
verhandeln und sie zu akzeptieren.

Die neue Regierung hat erstaunliche Anstrengungen


entwickelt, um die von Ficos Regierung hinterlassenen
Auswüchse in der Gesetzgebung und der Politik zu korri-
gieren. Im Bereich der Gesetzgebung geht es hauptsächlich
um Gesetze, die mit dem Status von Minderheitengruppen
einhergehen, wenn die Korrektur auch bisher nur teilweise
vollzogen wurde. Zum Beispiel hat das Parlament die Ände-
rung des Sprachengesetzes genehmigt, wodurch einige
Bestimmungen der während Ficos Amtszeit genehmigten
Änderung des gleichen Gesetzes abgeschwächt wurden.
Letztere wies in Bezug auf die Rechte der Mitglieder von
Minderheitengruppen deutliche Einschränkungen bei der
Verwendung ihrer Muttersprache auf. Die umstrittenste
Bestimmung, Geldstrafen für die Verletzung des Gesetzes,
wurde in der neuen Fassung jedoch beibehalten, auch
wenn der Verpflichtungscharakter aufgehoben und die
Grenzen für Geldstrafen herabgesenkt wurden. Dieser Fall
zeigt anschaulich, wie kompliziert die Wiederherstellung
eines Ursprungszustands ist, der vor unangemessenen
Änderungen in der Gesetzgebung existierte. Obwohl einige
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 149

problematische Bestimmungen der während Ficos Amts-


zeit genehmigten Änderung endgültig entfernt wurden,
ist der Gesamtstatus, bezogen auf das Recht von Minder-
heiten, ihre Muttersprache zu nutzen, heute immer noch
schlechter als vor der Novellierung unter Fico.

Auch die Änderung des Staatsbürgerschaftsgesetzes wurde


dem Parlament vorgelegt. Falls sie genehmigt wird, gäbe
es keine Möglichkeit mehr für den Entzug der slowakischen
Staatsbürgerschaft derjenigen Bürger, welche die Staats-
bürgerschaft eines anderen Landes angenommen haben.
Durch diese Gesetzgebung reagierte Ficos Regierung im
Sommer 2010 auf die Änderung des Staatsbürgerschafts-
gesetzes im ungarischen Parlament. Der Vorschlag für
die ungarische Änderung kam von der regierenden Partei
Fidesz. Die Abänderung von Radičovás Kabinett hätte die
Gültigkeit des ungarischen Gesetzes auf slowakischem
Gebiet annullieren sollen. Ebenso hätte sie die von Ficos
Regierung eingeführten Geldstrafen aufheben sollen, die
verhängt werden, wenn Bürger die Behörden
nicht über das Erlangen einer ausländischen Neben positiven Auswirkungen auf die
Staatsbürgerschaft informieren. Neben dem interethnischen Beziehungen in der Slo-
wakei könnte die Novelle des Staatsbür-
positiven Effekt der interethnischen Bezie- gerschaftsgesetzes zur Verbesserung
hungen in der Slowakei und dem Status der der Beziehung zu Ungarn beitragen.
Mitglieder der ungarischen Minderheit könnte
die zuvor genannte Novellierung, sollte sie genehmigt
werden, zu der anhaltenden Verbesserung der bilateralen
Beziehung zwischen der Slowakei und Ungarn beitragen.

Regierungskoalition contra Opposition:


Machtprobe

Die Situation in der neuen Regierungskoalition war in der


zweiten Jahreshälfte 2010 relativ stabil. Es gab keine ernst-
haften Konflikte. Die Beziehungen zwischen den Regie-
rungsparteien waren ausgeglichen, keine Partei strebte
nach der Vorherrschaft. Obwohl Oppositionsführer Fico
ständig wiederholte, die Regierungskoalition sei zlepenec,
ein anorganisches, zusammengeklebtes Bündel, und nur
von der Sehnsucht nach Macht zusammengehalten würde,
bewies die programmatische Übereinstimmung der vier
Parteien bei den wesentlichen Fragen praktischer Politik
in Wirklichkeit ihre enge Verbindung. Dies ermöglichte
es, innerhalb von vier Monaten von August bis Dezember
150 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

2010 und praktisch ohne Verzögerungen im Parlament 53


Gesetze und Gesetzesänderungen zu beschließen.

Aufgrund der Unerfahrenheit einiger politischer Neulinge,


vor allem aus der Partei SaS, sickerten Informationen
über komplizierte Verhandlungen beim Erzielen einer
Übereinkunft in der Koalition manchmal schon vor diesem
Übereinkommen zu den Medien durch. Dies führte zu dem
Eindruck, in der Koalition herrsche Chaos. Jedoch erzielten
die Parteien schnell Einigungen für Gesetzesvorschläge, die
reibungslos im Parlament genehmigt wurden. Die einzige
Ausnahme war die Änderung der Verbrauchsteuer auf Bier,
als sich vier Abgeordnete der KDH, zum Erstaunen ihrer
eigenen Partei, bei der Abstimmung enthielten. Die Ände-
rung konnte nicht verabschiedet werden. Die Koalitionszu-
sammenarbeit wurde durch diese kleine Unentschlossen-
heit jedoch nicht geschwächt.

Von besonderer Bedeutung war die Situation innerhalb


der SDKÚ-DS, speziell die Beziehungen zwischen Iveta
Radičová, Ministerpräsidentin und stellvertretende Partei-
vorsitzende, und Mikuláš Dzurinda, Vorsitzender der Partei
und Außenminister. Nachdem beide Politiker
Radičová betonte, dass sie keinerlei Mitglieder des neuen Kabinetts geworden
Ambitionen habe, zu diesem Zeitpunkt waren, kamen Spekulationen darüber auf,
Vorsitzende der Partei zu werden.
Dzurinda wiederholte seinerseits, er die unterschiedliche gegenseitige Unter-
unterstütze die Ministerpräsidentin ordnung  – einmal innerhalb der Partei und
vorbehaltlos.
einmal innerhalb der Regierung  – führe zu
Spannungen und Konflikten. Nichts davon ist bisher fest-
stellbar. Radičová betonte wiederholt, dass sie keinerlei
Ambitionen habe, zu diesem Zeitpunkt Vorsitzende der
Partei zu werden, und dass sie Dzurinda voll und ganz
unterstütze.Dzurinda wiederholte seinerseits, dass er in
seiner Position als Vorsitzender Radičová als Ministerprä-
sidentin vorbehaltlos unterstütze, und dass er damit auch
die ganze Partei hinter sich wisse. Fico indessen kritisiert,
Radičová sei im Vergleich zu ihm während seiner Amtszeit
von 2006 bis 2010 eine schwache Ministerpräsidentin, da
sie nicht wie er den Vorsitz der Partei innehat. Die Wirk-
lichkeit sieht anders aus. In bestimmten Situationen hat
Radičová ihren Koalitionspartnern aus der SaS, KDH und
Most-Híd sowie den Regierungsmitgliedern gezeigt, dass
sie die volle Verantwortung für das Ministerpräsiden-
tenamt mit all den damit einhergehenden Kompetenzen
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 151

­übernimmt. Sie hat diese Kompetenzen so eingesetzt, dass


keiner Zweifel daran hatte, wer der Anführer der Koalition
und Regierung ist. Sie hat mehrere Male Minister ihrer
Regierung streng überprüft, wenn es um Entscheidungen
über konkrete Maßnahmen ging, und ihre Position sehr klar
aufgezeigt.

Neben dem programmbasierten Abkommen unter den


derzeitigen Koalitionsparteien gab es noch eine weitere
starke Verbindung innerhalb der Regierungskoalition:
das Bestehen der Smer-SD, dem politischen Rivalen mit
starken, machtbasierten Ambitionen. Alle Mitte-Rechts-
Parteien verweigern weiterhin übereinstimmend jegliche
Koalitionszusammenarbeit mit Smer-SD. Sie wissen auch
sehr genau, dass sich jegliche Schwächung ihrer Einheit
gut für Fico auswirken würde, der an die Wirksamkeit
seiner eigenen populistischen Versprechen glaubt, und
ebenso daran, dass er für seine Wähler unwiderstehlich
ist. Und für den Fall, dass Turbulenzen innerhalb der Regie-
rungskoalition auftauchen, würde er sich auf
seinen wichtigsten Verbündeten verlassen  – Da sich Ficos Erwartungen, die Regie-
Präsident Gašparovič, der 2009 mit der rungskoalition würde in dieser Zusam-
mensetzung nicht lange halten, nicht
Unterstützung von Smer-SD gewählt wurde erfüllten, hat er seine Bereitschaft zu
und dieser Partei bis jetzt loyal geblieben ist. einer „großen Koalition‟ ausgedrückt.

Da Ficos anfängliche Erwartungen, die Regierungs­koalition


würde in ihrer derzeitigen Zusammensetzung nicht lange
halten, nicht erfüllt wurden, hat er seine Rhetorik geän-
dert und damit begonnen, offen seine Bereitschaft für
eine „große Koalition‟ mit den Mitte-Rechts-Parteien, ein-
schließlich SDKÚ-DS, auszudrücken. Dass die SDKÚ-DS
auf ihrem Parteitag im Dezember 2010 eine Regelung zur
Verweigerung der Koalitionszusammen­arbeit mit Smer-SD
verabschiedet hat, hielt ihn nicht von seiner Ankündigung
ab. Der Vorsitzende der SDKÚ-DS nannte Ficos Partei
daraufhin einen „Haufen korrupter Kommunisten‟.

Niemand aus der derzeitigen Regierungskoalition ist offen-


sichtlich bereit, Smer-SD eine Koalitionszusammenarbeit
anzubieten, daher sind Ficos Reden über eine „große
Mitte-Links-Koalition‟ nur ein Bluff. Die einzige Absicht
dieser Reden ist es, die Illusion zu schaffen, dass Smer-SD
eine normale, programmbasierte Partei ist, die ein breites
Koalitionspotential hat. Es hat sich gezeigt, dass die natio­
152 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

nalistischen und populistischen Exzesse von Smer-SD als


Regierungspartei ihr Potential, eine Koalitionsallianz mit
moderaten Parteien einzugehen, in einem solchen Ausmaß
geschwächt haben, dass ihre einzigen möglichen Koaliti-
onsverbündeten Parteien wie Mečiars autoritäre ĽS-HZDS
oder Slotas radikalnationalistische SNS wären, mit denen
Fico in der Wahlperiode 2006 bis 2010 regierte. Mečiars
Partei erreichte jedoch die Fünf-Prozent-Schwelle nicht,
und die SNS kämpft um ihr politisches Überleben vor
dem Hintergrund scharfer innerparteilicher Konflikte und
eines erheblichen Rückgangs der Wählerpräferenzen fast
unter die Fünf-Prozent-Schwelle. Ficos Smer-SD läuft also
Gefahr, auch nach den Wahlen im Jahr 2014 alleine die
Opposition zu bilden.

Wahl des Generalstaatsanwalts:


Koalition am Rande des Abgrunds

Die effiziente Politik der neuen Regierung, vor allem die


reibungslose Verabschiedung von Gesetzen im Parlament,
bedeutet offensichtlich nicht zwangsläufig,
Der Test für die Einheit der Koalition dass die Mitte-Rechts-Koalition vor echten
war die Wahl des Generalstaatsanwalts Problemen im Innern gefeit ist. Der Test für
im Dezember 2010. Das neue Kabinett
brach fast zusammen. die Einheit der Koalition war die problema-
tische Wahl des Generalstaatsanwalts im
Parlament im Dezember 2010. Aus politischer Sicht war sie
ein besonders bedeutsamer Fall, denn das neue Kabinett
brach, unerwartet und zur großen Überraschung der neuen
Regierungskoalition selbst, aufgrund des Wahlergebnisses
fast zusammen.

Die Wahlperiode des amtierenden Generalstaatsanwalts


Dobroslav Trnka endete im Februar 2011. Der Verfassung
zufolge wird der Generalstaatsanwalt vom Parlament
gewählt und dann vom Präsidenten vereidigt. Aufgrund
der Streitigkeiten zwischen der Regierungskoalition und
der Opposition, aber auch aufgrund der unterschiedlichen
Ansichten über einen Kandidaten unter den Regierungs-
parteien selbst (sie hatten zuerst zwei Kandidaten vorge-
schlagen), wurde in der ersten Runde kein Generalstaats-
anwalt im Parlament gewählt. In die zweite Runde schickte
die Regierungskoalition einen gemeinsamen Kandidaten,
und scheiterte erneut. Die Opposition indessen verfolgte
die Wiederwahl des amtierenden Generalstaatsanwalts
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 153

Trnka. Sie wäre fast gelungen, es fehlte eine einzige


Stimme. Mindestens sechs Abgeordnete der Regierungs-
koalition hatten also für den Kandidaten der Opposition
gestimmt, obwohl keiner der Abgeordneten, weder vor
noch nach der Abstimmung, öffentlich seine Unterstützung
für Trnka gezeigt hatte.

Das unerwartete Ergebnis der Abstimmung war sogar noch


erstaunlicher, da Ministerpräsidentin Radičová vor der Wahl
öffentlich bekannt gab, dass sie im Fall einer Wiederwahl
Trnkas zurückgetreten würde  – was gemäß der Verfas-
sung automatisch den Rücktritt der gesamten Regierung
bedeutet. Radičová warnte, eine weitere Amtszeit Trnkas
stünde im Widerspruch zu der Verpflichtung, wesentliche
Änderungen in der Justiz durchzusetzen. Der amtierende
Generalstaatsanwalt, der bei der Ermittlung in bestimmten
politisch heiklen Fällen Passivität an den Tag gelgt habe
(und manchmal sogar aktiv zur Beeinträchtigung der
Ermittlung beigetragen habe), könne kein Symbol für
den Wandel sein, argumentierte sie. Die Tatsache, dass
während der zweiten Runde der Abstimmung nur noch
eine einzige Stimme für die Wiederwahl Trnkas fehlte, hat
gezeigt, dass die Regierung Radičovás und die neue Regie-
rungskoalition ohne offensichtliche politische Gründe, ohne
eine Krise innerhalb der Koalition und nur aufgrund einiger
versteckter, interner politischer Manipulationen beinahe ihr
Dasein beendet hätte.

Kaum jemand bezweifelte vor der Wahl, dass Wäre es zum Rücktritt Radičovás ge-
Radičová ihr Rücktrittsversprechen halten kommen, hätten die Chancen auf die
Bildung einer Koalition aus vier Mitte-
würde, falls Trnka wiedergewählt würde. Wäre Rechts-Parteien bestenfalls mager aus-
es tatsächlich dazu gekommen, hätten die gesehen.
Chancen auf die Bildung einer Koalition aus
vier Mitte-Rechts-Parteien bestenfalls mager ausgesehen.
Fico hätte sich sicher mit Präsident Gašparovič zusammen-
getan mit dem Ziel der schrittweisen Rückkehr an die
Macht, unter gewissen Umständen sogar durch vorgezo-
gene Wahlen.

Fico wusch seine Hände jedoch ein wenig zu früh in


Unschuld, während er ungeduldig eine solche Entwicklung
abwartete. Es wird berichtet, er sei nach der Verkündung
der Ergebnisse erbleicht. Vermutlich rechnete er aufgrund
von geheimen internen Informationen mit Radičovás Rück-
154 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

tritt. Das geschah aber nicht. Das Versagen der ­Koalition


hat paradoxerweise deren Einheit nicht untergraben. Ganz
im Gegenteil, es hat noch eine viel stärkere Verbindung
geschaffen. Es hat die Koalition zu der Entscheidung
geführt, den Wahlmodus zu ändern und eine öffentliche
Abstimmung anstelle einer geheimen einzuführen. Diese
Entscheidung hat verschiedene Reaktionen hervorgerufen
hat  – die Opposition kritisierte sie heftig. Vertreter der
Regierungskoalition indessen erklärten, dass das Prinzip
der Offenheit gegenüber den Bürgern bei der Ausübung
der Mandate in einer parlamentarischen Demokratie keine
Ausnahmen erlaube, vor allem nicht bei der Wahl öffent-
licher Amtsträger. Regierungsvertreter erklärten, die von
den Bürgern gewählten Vertreter hätten ihre Mandate so
transparent wie möglich auszuführen. Informationen über
ihr Abstimmungsverhalten bei der Geneh-
Koalitionspolitiker verwiesen darauf, migung von Gesetzen und der Wahl von
dass eine öffentliche Abstimmung bei Beamten hätten offen zugänglich zu sein,
der Wahl von Amtsträgern ebenso
wenig die Entscheidung der Abgeord- so dass die Bürger in der Lage seien, die
neten einschränke wie die öffentliche Tätigkeit ihrer Abgeordneten angemessen
Abstimmung über Gesetze.
zu beurteilen. Während die Opposition die
Regierungskoalition beschuldigte, die Ände-
rung des Wahlmodus widerspreche dem Prinzip der Demo-
kratie, verwiesen Koalitionspolitiker darauf, dass die öffent-
liche Abstimmung bei der Wahl von Amtsträgern ebenso
wenig die Entscheidung der Abgeordneten einschränke wie
die öffentliche Abstimmung über Gesetze.

Die Einführung der öffentlichen Wahl könnte einen posi-


tiven Anti-Korruptionseffekt haben, schließlich wurden die
Spekulationen, dass die Entscheidung der sechs Koali-
tionsabgeordneten zur Unterstützung des Oppositions-
kandidaten mit Korruption in Verbindung stehen könnte,
von Abgeordneten selbst geäußert. Ein weiterer positiver
Aspekt der Wahl des Generalstaatsanwalts könnte die
Absicht der Regierungskoalition sein, dessen Kompe-
tenzen abzuändern und das Strafverfolgungssystem, das
auf einem – für die liberale Demokratie – anorganischen,
monokratischen Prinzip aufgebaut ist, dem modernen
Konstitutionalismus anzupassen, auch wenn die gesamte
Restrukturierung des Strafverfolgungssystems möglicher-
weise mehr Zeit braucht. Positiv auswirken könnte sich
auch die angekündigte Absicht, die Zahl der Wahlperioden
für den Generalstaatsanwalt auf eine zu reduzieren, um
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 155

das Amt weniger anfällig für Politisierung zu machen. Diese


Absicht müsste in einem Gesetz verankert werden.

Die Wahl des Generalstaatsanwalts hat den Fokus nicht


nur auf die Regierungskoalition gerichtet, in der sich
einige illoyale Abgeordnete befinden, sondern auch auf die
parlamentarische Opposition und deren Standpunkt, dass
der Verfassungsrahmen der liberalen Demokratie zu eng
gefasst sei. Das Warnsignal, dass die mächtigste Opposi-
tionspartei Smer-SD unter bestimmten Umständen bereit
wäre, den Verfassungsrahmen zu verlassen, bestand in der
Ankündigung Ficos, dass Smer-SD im Falle einer Änderung
des Modus bei der Wahl des Generalstaatsanwalts gemäß
Artikel 32 der Verfassung verfahren könnte: „Die Bürger
haben das Recht, Widerstand gegen jeden
zu leisten, der die demokratische Ordnung Ankündigungen Ficos werfen die Frage
der in dieser Verfassung verankerten grund- auf, inwieweit die Smer-SD ihrem
Charakter nach mit den Werten und
legenden Menschenrechte und Freiheiten zu Prinzipien der liberalen Demokratie
beseitigen versucht, wenn die Tätigkeit der übereinstimmt.
Verfassungsorgane und die wirksame Anwen-
dung der gesetzlichen Mittel eingeschränkt werden.‟ Die
Ankündigung der Absicht, diesen Artikel der Verfassung zu
„aktivieren‟, auch wenn die Menschenrechte und Freiheiten
nicht in Gefahr sind, sondern lediglich, weil die Partei mit
einer legitimen und legalen Änderung legislativer Stan-
dards nicht einverstanden ist, wirft Fragen darüber auf,
inwieweit die Oppositionspartei Smer-SD ihrem Charakter
und ihrer Zusammenstellung nach mit den Werten und
Prinzipien der liberalen Demokratie übereinstimmt.

Kredit für Griechenland: Ficos Fallen

Einer der außergewöhnlichsten Schritte der neuen slowaki-


schen Regierung war die Weigerung, Griechenland gemäß
den Bestimmungen des Euro-Notfallplans der Europäischen
Union einen Kredit zu gewähren. Dieser gesamte Fall war
das Ergebnis der Auswirkung mehrerer Faktoren vor allem
innenpolitischer Natur.

Die vorherige Regierung unter Fico hatte die Genehmigung


des Kredits für Griechenland versprochen. Sie hatte sogar
mit Brüssel über die Konditionen verhandelt, aber vor den
Wahlen im Juni hatte sie gezögert, dem Parlament den
Kreditvertrag zur Ratifizierung vorzulegen. Sie verhielt sich
156 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

reichlich arrogant gegenüber der Opposition, die verlangt


hatte, die Bedingungen zu veröffentlichen und darauf
bestand, eine separate Parlamentssitzung abzuhalten. Als
die Umfragen zeigten, dass die Allgemeinheit die Hilfe für
Griechenland nicht unterstützte, versuchte Fico als authen-
tischer Populist das ganze Problem unter den Teppich zu
kehren, um seine Wähler nicht unnötig zu irritieren. Nach
den Wahlen, versprach er, werde sich die neue Regierung
darum kümmern.

Die neue Regierung bildeten jedoch die vier Mitte-Rechts-


Parteien, und diese lehnten den Kredit für Griechenland ab.
Während des Wahlkampfs hatten sie sich in einen großen
Streit mit der Smer-SD verwickelt, die sie beschuldigten,
nicht mit der Opposition über solch ein bedeutendes
Thema verhandelt und die tatsächlichen Bedingungen
für die Unterstützung Griechenlands vor der Allgemein-
heit verheimlicht zu haben. Sie kritisierten ebenfalls, die
Regierung habe während der Verhandlungen mit Brüssel
die Möglichkeit nicht genutzt, die Ausgestaltung des Euro-
Notfallplans zu beeinflussen.

Wirtschaftsexperten der Oppositions- Die Opposition hatte vor den Wahlen ver-
parteien zeigten auf, dass die Slowakei sprochen, die Bedingungen für die Unterstüt-
für ein weiter entwickeltes Land wie
Griechenland die Spenderrolle nicht er- zung Griechenlands, sollte sie an die Macht
füllen könne. gelangen, noch einmal zu prüfen und die Hilfe
womöglich zu verweigern. Wirtschaftsexperten der Oppo-
sitionsparteien zeigten auf, dass die Slowakei als weniger
entwickeltes, postkommunistisches Land mit schwächeren
makroökonomischen Indikatoren die Spender­rolle für ein
weiter entwickeltes Land wie Griechenland nicht erfüllen
könne. Nach der Machtübernahme durch die Mitte-Rechts-
Parteien verkündete die neue Regierung, die slowakische
Wirtschaft befinde sich nach vier Jahren der populisti-
schen Herrschaft Ficos in einem schlechteren Zustand
als die Opposition selbst vor den Wahlen erwartet hatte.
Das Wachstum des BIP war im Vergleich zu den vorange-
gangenen Jahren stark gesunken und hatte rote Zahlen
erreicht. Das Haushaltsdefizit war auf fast acht Prozent
gestiegen. Darüber hinaus argumentierten die Vertreter
der neuen Regierung, dass die EU bei der Entscheidung
über den Notfallplan für Griechenland nicht alle Aspekte
berücksichtigt habe. So habe ­Griechenland in den vergan-
genen Jahren wissentlich seine Staatsfinanzen gefährdet.
4|2011 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 157

Radičovás Regierung verabschiedete daher einen Be-


schluss, Griechenland keinen Kredit zu gewähren. Die
Regierung trat dennoch der European Financial Stability
Facility bei.

Das Kabinett hatte dem Parlament den griechischen Kredit-


antrag im August 2010 vorgelegt, den Fico im allerletzten
Moment in die Schublade gelegt hatte. Wie erwartet lehnten
die Abgeordneten der Regierungskoalition den Vertrag ab
(mit Ausnahme eines Abgeordneten der KDH). Die Abstim-
mung der Abgeordneten der Smer-SD war symptomatisch.
Kein einziger Abgeordneter der Smer-SD,
die zuvor noch die Regierung beschuldigt Die Entscheidung der neuen Regierung,
hatte, das unter Fico mit der EU verhandelte Griechenland die Hilfe zu verweigern,
stieß bei der Mehrheit der Bevölkerung
Abkommen gebrochen zu haben, stimmte für auf Unterstützung. Einige Experten ho-
diesen Vertrag: die gesamte Fraktion nahm ben jedoch die problematischen Seiten
hervor.
einfach nicht an der Abstimmung teil.

Die Entscheidung der neuen Regierung, Griechenland die


Hilfe zu verweigern, stieß bei der Mehrheit der Bevölke-
rung auf Unterstützung. Einige Experten und einflussreiche
Intellektuelle hoben jedoch die problematischen Seiten
hervor. Sie argumentierten, der mögliche positive wirt-
schaftliche Effekt dieser Entscheidung sei viel schwächer
als die möglichen negativen Auswirkung des verschlech-
terten Images des Landes, das sich aus innenpolitischen
Gründen vom europäischen Grundprinzip der Solidarität
entfernt habe.

Was nun?

Was sind die Perspektiven für die zukünftige Entwicklung?


Es gibt Anzeichen dafür, dass die neue Regierungskoalition
im Jahr 2011 in der Lage sein könnte, das Maß an interner
Festigung, das sie kurz nach ihrer Machtübernahme und
der Verabschiedung anfänglicher praktischer Maßnahmen
erreichte, zu erhalten. Die öffentliche Unterstützung für
diese Regierung wird jedoch direkt von ihrem Erfolg bei der
Bewältigung der dringendsten sozialen Probleme und ihrer
Fähigkeit abhängen, den Bürgern bestimmte unbeliebte,
aber unumgängliche Maßnahmen zu erklären.
158 KAS AUSLANDSINFORMATIONEN 4|2011

Smer-SD ist ein eindrucksvoller politischer Rivale, der


ohne Zweifel alle Anzeichen von Unzufriedenheit dazu
nutzen wird, die Position der reformorientierten Regierung
zu untergraben und günstige Voraussetzungen für seine
eigene Rückkehr an die Macht zu schaffen. Aber diese Taktik
könnte erfolglos sein, sofern die neue Regierungskoalition
entnervende interne Konflikte vermeidet, der Versuchung
der Vetternwirtschaft widersteht und sachliche Lösungen
anstrebt, die auf die Verbesserung der sozialökonomischen
Situation der Bürger abzielen.

Der Artikel wurde am 7. Februar 2011 abgeschlossen.


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