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PROJECTX

… von der Gesamtsituation unbefriedigt

Hört ihr die Saufsignale / Das Gespräch man - Ein Leben gegen das Vergessen / sex, Baby! Pro Sex? Pro Porno?// Queer –
hat einen Zweck! / Frontex – die Agentur Frauenidentifizierte Frauen oder keine Labeling / Leben? Es gibt kein Kontinuum
fürs Grobe / Mythos „Weißsein“ / Gewal- Frauen? Lesbische Selbstverständnisse in mehr! Ein Aspekt der Sexualität bei Arno
tige Fragen über Transphobie / Abtrei- den 1970ern / If I can't fuck it's not my re- Schmidt / Rezensionen
bungsdiskurse Abtreibung in Kontext volution! Hetero - Norm – Ausgrenzung /
gesellschaftlicher Debatten// Marek Edel- Wenn die Hüllen fallen / Let’s talk about
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Inhalt

Kurzmeldungen...............................................2

Hört ihr die Saufsignale


Zum inflationären Gebrauch des Begriffs
Solidarität........................................................7

Das Gespräch hat einen Zweck!


Lang ist es her... Es führt zu was! Lebt wohl!...........................8
Du hältst die brandneue Ausgabe der ProjectX in den
Händen und es stellt sich ein wohliges Wärmegefühl Frontex – die Agentur fürs Grobe................10
ein. „Der Winter kann kommen“, denkst du dir, „und
die bisher nur schemenhaft-vorhandene Vorstellung Mythos „Weißsein”........................................13
vom diesjährigen Weihnachtsgeschenk für lesefreudi-
ge Eltern und Bekannte gewinnt auch langsam Gewaltige Fragen über Transphobie............16
Konturen.
Abtreibungsdiskurse
Die Idee vom vierteljährlichen Erscheinen erweist
Abtreibung in Kontext gesellschaftlicher
sich sogar als fast realistisch und die erste
Debatten....................................................... 19
Sommerpause in der Geschichte der ProjectX - häufig
E d i t o r i a l

die Todesperiode junger, aufstrebender Magazine -


Marek Edelman -
konnten wir ebenfalls locker wegstecken.
Ein Leben gegen das Vergessen....................22
Schwerpunkt der aktuellen Ausgabe ist Sexualität und
dieser kommt genauso facetten- und abwechslungs-
Frauenidentifizierte Frauen oder
reich daher, wie auch das Sammelsurium der anderen,
keine Frauen?
in diesem Heft zu bestaunenden, Schreiberzeugnisse.
Lesbische Selbstverständnisse in den
„Queer-Labeling“ als Hippness-Phänomen, niemals
1970ern..........................................................25
sich glätten-wollende Wogen im
„Abtreibungsdiskurs“ und „Nackheit“ zwischen
If I can't fuck it's not my revolution!
Subversion und sexistischer Grenzverletzung sind nur Hetero - Norm – Ausgrenzung.....................32
einige der im Rahmen des Schwerpunktes behandel-
ten Themen. Wenn die Hüllen fallen.................................34
Über das Verhältnis von Solidarität und alkoholi-
schen Mischgetränken, rechtsextreme Schweinereien Let’s talk about sex, Baby!
aus dem Umfeld des Wiener Korporationsring und Pro Sex? Pro Porno?......................................36
den plötzlichen Interessenzuwachs der radikalen
Linken am Mailänder Dom solltet ihr nach Lektüre Queer – Labeling
der vorliegenden ProjectX ebenfalls bestens infor- We are here, we are not queer,
miert sein. get used to it? Oder: Sind wir nicht
Bleibt nur noch der obligatorische Hinweis an euch, alle ein bisschen queer..................................40
uns doch bitte zu schreiben – wie war es und was
geht besser – und für die kommende Winterzeit: Leben? Es gibt kein Kontinuum mehr!
Viel Spaß beim Lesen! Ein Aspekt der Sexualität
bei Arno Schmidt..........................................43
Eure, von der Gesamtsituation unverändert unbefrie-
digte, ProjectX-Redaktion Rezensionen..................................................46

project-x@riseup.net
projectx.blogsport.de
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En Garde! WKR-Ball anfechten! dann rollentypisch zu verhalten haben, verdeut-


Gegen das rechtsextreme Tanzevent licht die Olympia: „Hast du […] eine Freundin
in der Hofburg mit, die weder schön noch still ist, kurz: bist Du
auf irgendeine Weise abnormal oder unfröhlich,
Alle Jahre wieder… dann bleib lieber zu Hause.“ Ein Blick in das kor-
porierte Liedgut verdeutlicht das sexistische
m 29. Jänner 2010 findet zum mittlerweile
A 57. Mal der alljährliche Ball des Wiener
Rollenbild, wenn davon gesungen wird, dass die
Frauen statt an der Universität doch besser bei

K u r z m e l d u n g e n
Korporationsrings (WKR) in der Hofburg statt. Wäsche, Herd und Nähmaschine zu sein hätten.
Im WKR sind mehr als zwanzig lokale Jahr um Jahr kommen etwa 2.000 Besucher_innen
Studentenverbindungen organisiert, die sich poli- zum Rechtswalzer in die Hofburg. Neben einer
tisch in einem Spektrum zwischen „national-frei- Vielzahl an Korporierten lässt sich natürlich auch
heitlich“, völkisch-deutschnational und offen die Politprominenz von FPÖ und BZÖ in der
rechtsextrem bewegen. Der be- ehemaligen Kaiserresidenz blik-
kannteste Mitgliedsbund ist der- ken. Zum „größten couleurstu-
zeit sicherlich die Burschenschaft dentischen Gesellschaftsereignis
Olympia, deren „alter Herr“ im deutschsprachigen Raum“ hat
Martin Graf skandalträchtig das sich der WKR-Ball nach Aussagen
Amt des dritten Nationalrats- des Ballausschusses entwickelt.
präsidenten bekleidet. Gerade die 2009 waren Delegationen von pro
Olympia zeigt sehr deutlich die Köln, pro NRW und der DVU
Scharnierfunktion deutschnatio- (Deutschland), der Dänischen
naler Korporationen zwischen der Volkspartei und der Schweizer
FPÖ einerseits und dem Neo- Volkspartei anwesend. Weiters
nazismus andererseits. So lassen waren der russische Nationalist
sich Olympen für die FPÖ im und Antisemit Alexander Dugin
Nationalrat, im Wiener Landtag, sowie der spanische Rechts-
sowie im Parteivorstand auf revisionist und Faschist Enrique
Bezirks- und Landesebene finden. Ravello zum Ball eingeladen. Im
Gleichzeitig lud die Olympia aber Jahr davor tummelten sich u.a.
in den letzten Jahren verschiedene Jean-Marie Le Pen (Front
neonazistische Liedermacher, als National / Frankreich) und Frank
auch den Holocaustleugner David Vanhecke (Vlaams Belang /
Irving in ihr Verbindungshaus Belgien) neben „Kameraden“ aus
ein. Daneben äußert sich die Bulgarien in der Hofburg.
Olympia immer wieder rassi- Es verdeutlicht sich die Rolle des
stisch, antisemitisch und NS-ver- WKR-Balls für die nationale wie
harmlosend. Weiters stehen internationale (extreme) Rechte.
Burschenschaften für Männer- Doch ist dieses nationalistische
bündelei und Sexismus. Das zeigt sich schon Schaulaufen bei Weitem nicht der einzige
daran, dass Frauen grundsätzlich der Beitritt zu Skandal in dieser Republik. Antifaschismus kann
sämtlichen WKR-Verbindungen untersagt ist und nicht heißen, Wähler_innen von blau/orange und
sie bestenfalls an ausgewählten Abenden als schwarz davon zu überzeugen, doch lieber für die
Begleitung „mitgebracht“ werden dürfen. Dass nur scheinbar weniger ekelhaften Alternativen rot
sich Frauen in Gegenwart von Burschenschaftern oder grün zu votieren. Es reicht auch sicher nicht
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aus, einmal im Jahr symbolisch ein „Zeichen gegen Europaparlament, auf der Suche nach einer gemeinsa-
rechts“ zu setzen, während sich die restlichen 364 Tage men Rechtsfraktion oder bei Versuchen eine Europa-
affirmativ auf die bestehende Ordnung bezogen wird. Es partei aufzustellen, als auch auf Ebene kommunaler
muss klar sein, dass Rechtsextremismus als Phänomen Zusammenschlüsse, in der vernetzenden Jugendarbeit,
eine militante Steigerungsform bürgerlich-kapitalistischer auf diversen Kongressen und Jahrestagen stehen die
Werte und Ideologien darstellt. Ein Antifaschismus, der Freiheitlichen mit Eifer und guten Ratschlägen parat.
seinen Namen verdient, müsste an den Wurzeln dieser Die als „Bonzokratie“ verachteten EU-Institutionen
bürgerlichen Vergesellschaftung ansetzen, die zwangs- werden so zum finanziellen Düngemittel eines
läufig Herrschaft und Ausschluss produziert. Insofern Rhizoms, das das rechte Spektrum vom
sind Interventionen gegen Events wie den WKR-Ball Rechtskonservativismus bis hin zum Neonazismus zu
zwar bittere Notwendigkeit, letztlich aber wertlos solan- einen sucht. Der Vortrag soll einleitend Akteur_innen,
ge nicht darüber hinaus jede Form von reaktionärer Inhalte und Perspektiven rechter Europapolitiken vor-
Ideologie bekämpft und die kapitalistische Grundlage stellen und relevante Entwicklungen zusammenfassen.
negativer Vergesellschaftung angepackt wird. Das Ziel Ausgehend davon, dass das Subjekt des rechten Lagers
von Antifaschismus liegt perspektivisch also darin und das des Staates und seiner Institutionen dasselbe
unnötig zu werden; und zwar durch die Transformation ist, gilt es zu diskutieren, welche Perspektiven und
gesellschaftlicher Verhältnisse dahingehend, dass anti- Relevanz sich für antifaschistische Aktivist_innen,
emanzipatorischen Denkformen jegliche Grundlage ent- welche allzu oft in der Rekonstruktion regionaler
zogen wurde. Neonazibiografien verharren, ergeben.

In diesem Sinne: 9. Februar


Frauenhass und Deutsche Mütter um 1900
Burschenschafter raus aus der Hofburg! Antisemitismus in der 1. bürgerlichen Frauen-
Deutschnationale Männerbünde auflösen! bewegung und im Männerbund der Maskulinisten
Antisemitismus, Sexismus, Rassismus und
Homophobie immer und überall entgegenarbeiten! Der Begriff Antifeminismus wurde von der deutschen
Für eine Gesellschaft jenseits kapitalistischer Frauenrechtlerin Hedwig Dohm in Anlehnung an den
Herrschafts- und Verwertungszusammenhänge! um 1870 etablierten Begriff Antisemitismus geschaf-
fen, um die Gegner_innenschaft gegen die politischen
Di:Day - Terminankündigungen und sozialen Forderungen der 1. Frauenbewegung zu
benennen. Während antisemitische Vereine wie der
er Di:Day ist eine monatliche Veranstaltungsreihe „Deutsche Bund gegen die Frauenemanzipation“ die
D der Gruppe AuA!, die am 2. Dienstag im Monat
um 20h in der Wipplingerstraße 23 stattfindet. Der
neue soziale Bewegung als „internationalistisch zerset-
zend“ und „verjudet“ angriffen, reproduzierten Teile
Erlös des Barbetriebs während der Veranstaltungen der bürgerlichen Frauenbewegung den gängigen
kommt dabei Antifaschist_innen zugute, die von staat- Antisemitismus in ihrem Kampf um sittliche Moral
licher Repression betroffen waren oder sind. und in ihrem Selbstverständnis als völkische
Patriotinnen am heimischen Herd. In ihrem strategi-
12. Jänner: schen Bemühen um Sichtbarmachung im hierarchi-
Sehnsucht & Widerstand schen Geschlechterverhältnis, fochten sie innerhalb
Rechte Agenden zwischen Nation und Europa einer Verwissenschaftlichung von Geschlechterfrage
und Rassismus, für geschlechtliche und sexuelle
Wie ein blaues – oder braunes ? – Wurzelgeflecht ziehen Normierung, die das „jüdische“ als krankhaft abwei-
sich die vermehrten Aktivitäten der FPÖ zur Einigung chend begriff. Etwa zeitgleich mühten sich die
der europäischen Rechten durch die vergangenen Maskulinisten um Hans Blüher, männliche Homo-
Jahre und über den gesamten Kontinent. Sowohl im sexualität als besonders viril und damit staatstragend
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zu diskursiveren. Die maskulinistischen Ansätze muss. Einige haben dies angenommen, für viele
zur Normalisierung männlicher Homosexualität kommt allerdings ein "Geständnis" nicht in Frage,
beruhten auf der Abwertung und Ausgrenzung von da sie sich weder schuldig bekennen, noch ihr ver-
Frauen und Juden – und entwarfen ein antisemiti- fassungsrechtlich abgesichertes Recht auf Versam-
sches Zerrbild von „effeminierter“ und „germani- mlungsfreiheit beschneiden lassen wollen. Wir wer-
scher“ Männlichkeit. In der Gegenüberstellung der den über Neuigkeiten diesbezüglich weiter berichten.
beiden Emanzipationsbewegungen soll aufgezeigt
werden, wie der Antisemitismus als „kultureller Der Prozess gegen A.P. wurde Ende September
Code“ um 1900, für die so kontroversiellen sozialen ebenfalls außergerichtlich erledigt - der slowenische
Bewegungen, einen Machtgewinn bedeuten konnte. Akivist war wegen Widerstand gegen die Staats-
gewalt angeklagt worden und nahm dann das
9. März Angebot der Diversion an: er muss einen Geld-
"Kultureller Rassismus" betrag in der Höhe von € 1000,-- zahlen.
Neues Paradigma oder alter Hut?
Aus dem Jahr 2005 ist ebenfalls noch der Prozess
Bereits 1955 stellte Adorno einen sprachlichen gegen einen bayrischen Antifaschisten offen. Der
Wandel in den Artikulationen des Rassismus fest: Aktivist war bei der Kundgebung gegen das KV-
"Das vornehme Wort Kultur tritt anstelle des ver- Treffen in Krumpendorf festgenommen und in
pönten Ausdrucks Rasse, bleibt aber ein bloßes einem skandalträchtigen Schnellverfahren wegen
Deckbild für den brutalen Herrschaftsanspruch". Widerstand gegen die Staatsgewalt verurteilt wor-
Über fünfzig Jahre später ist die Diskussion um die den, was jedoch rasch aufgehoben wurde. Jahrelang
Novität des "Rassismus ohne Rassen" immer noch wurde der Proezsstermin immer wieder vertagt, ob
nicht versickert, in der sich grundlegend zwei dia- der neueste Termin Anfang Dezember zustande
metral gegenüberstehende Positionen heraus kristal- kommt, bleibt offen.
lisiert haben: Während die einen von einem "neuen
Rassismus" sprechen, beharren die anderen auf dem Die Höhe der endgültigen Prozesskosten für das
historischen Kontinuum des Phänomens und beto- Jahr 2008 sind noch unklar. Insbesondere A.P., des-
nen die typische Verbindung von "Natur" und sen Verfahren bereits abgeschlossen ist, hat aller-
"Kultur" in der rassistischen Vergesellschaftung. Die dings Verfahrenskosten in der Höhe von ca. €
Veranstaltung versucht in ideologiekritischer 3.000,-- plus € 1000,-- Diversion zu tragen. Leider
Absicht diese kontroversielle Debatte nachzuzeich- kann der AK A.P. nicht gänzlich finanziell aushel-
nen und dabei die propagierte Neuartigkeit des fen, wir ersuchen daher um eure Spenden.
"kulturellen Rassismus" näher zu bestimmen.
VK Rechtshilfe (GaJ)
Ulrichsberg Rechtshilfe-Update Knr: 285-353-950-00
Aktueller Stand November 2009 Erste Bank, BLZ 20111
BIC: GIBAATWW
eider gibt es nach wie vor Altlasten der IBAN: AT422011128535395000
L Repression gegen die antifaschistischen
Aktionstage aus dem Jahr 2008 zu bewältigen. Vielen Dank an alle, die uns bislang schon solida-
risch unterstützt haben!
Die Prozesse wegen "Störung einer Versammlung"
laufen nach wie vor, allerdings wurde der neueste Alle, die rechtliche Beratung oder Vernetzung mit
Prozesstermin wieder vertagt. Den Betroffenen wurde dem AK wünschen, bitten wir sich mit uns in
ein "aussergerichtlicher Tatausgleich" (Diversion) Verbindung zu setzen!
angeboten, der ein Schuldeingeständnis beinhalten kontakt@u-berg.at
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Prozessbeginn für 278a Angeklagte steht fest es in Österreich zu einer dermaßen groß angelegten
Repressionwelle gegen linke AktivistInnen, die in der
ach bisher inoffiziellen Angaben von juristischer Verhaftung von 10 und der Hausdurchsuchung von 23
N Seite, wird der Prozessbeginn der 10 Angeklagten, Wohnungen gipfelte. Dies muss auch als Versuch gewer-
die der Bildung einer kriminellen Organisation beschul- tet werden politsch aktive Personen einzuschüchtern
digt werden, auf den 2. März festgelegt. In den nächsten und linke widerständige Praxen im Lichte der medialen
Tagen wird der Termin auch offiziell erwartet. Sicher ist, Öffentlichkeit zu diskreditieren bzw. zu kriminalisieren.
dass in den ersten Monaten im Jahr 2010 der einzigarti-
ge Mammutprozess, mit mehreren Monaten Laufzeit Auf den Haft- und Durchsuchungsbefehlen finden sich
und einem neu ausgelegten Paragraphen, beginnen die genauen Textstellen des Gesetzes wieder, die angela-
wird. steten Delikte wurden - wage umschrieben, ohne offen-
sichtlich begründetem Tatverdacht, ohne genaue
Zur Erinnerung: Vorwürfe - einfach eingefügt. Außerdem wurde die
massive Verwendung von Telefon- und Computer-
Als am 21. Mai 2008 23 Wohnungen, Büros und Häuser überwachung ersichtlich. Durch die Änderungen im
von TierrechtsaktivistInnen in Wien, Niederösterreich, Sicherheitspolizeigesetz mit 01. 01. 2008 wurde der
der Steiermark, Salzburg und Tirol durch Sonder- Exekutive für Telefonüberwachung und breite Überwa-
einheiten der Polizei gestürmt und durchsucht, sowie chung von x-beliebigen Personen, Tür und Tor geöffnet.
zeitgleich Haftbefehle gegen 10 der Betroffenen voll- Dies beinhaltet Rufdatenerfassung ohne richterliche
streckt wurden, stellte sich schnell heraus, was als Genehmigung, sowie durch die Anschaffung von soge-
Begründung für diese massive Repression gegen nannten IMSI-Catchern auch den einfachen Zugang zur
AktivistInnen herhalten muss. Den Inhaftierten wird die Gesprächserfassung. Es muss davon ausgegangen wer-
Bildung einer kriminellen Organisation nach § 278a den, dass diese Möglichkeiten zur flächendeckenden
StGB vorgeworfen. Überwachung via Telefon auch großzügig genutzt wer-
den, hierfür genügt ein Fax der Polizei an die Provider.
Dieser Paragraph wurde ursprünglich 1993 gemeinsam
mit dem § 165 StGB gegen Geldwäsche eingeführt, um Mr. President: He got you
bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität
s ist unglaublich. Immer wieder schaffen es einzelne,
bereits die Mitgliedschaft in einer kriminellen
Organisation unter Strafe zu stellen, ohne dass von die-
ser kriminellen Organisation bzw. deren Mitgliedern
E wie auch nach der Schuh Attacke auf George W.
Bush, was sich so viele andere wünschen. So auch dies-
bereits konkrete Taten begangen worden sind. Der mal, bei dem Angriff auf Silvio Berlusconi. Berlusconi
Straftatbestand ist ein sogenanntes "Vorbereitungsdelikt". hatte jedoch weniger Glück als sein Ex-Kollege Bush.
Der Tatbestand der kriminellen Organisation erfasst Denn der Angreifer warf mit einer Miniatur des
demnach ein im Vorfeld zukünftiger verbrecherischer Mailänder Doms auf den italienischen Staatschef und
Aktivitäten liegendes Verhalten, das für sich alleine brach Berlusconi nicht nur die Nase sondern schlug ihm
gesehen straflos wäre. auch noch zwei Zähne aus. Berlusconi ist immer noch
angeklagt wegen Meineid, Steuerhinterziehung, Illegaler
Der Versuch der Behörden politisch aktive Menschen Parteienfinanzierung, Bilanzfälschung, Unterschlagung
als kriminelle Organisation zu werten, Ermittlungen und Urkundenfälschung.
gegen sie einzuleiten, breite Überwachungsmaßnahmen
einzusetzen und in Haft zu nehmen aufgrund vollkom- Zu sehen auf
men haltloser und unbegründeter Phantasien des http://www.youtube.com/watch?v=cqDuWdKmvCQ.
Verfassungsschutzes und/oder einer Staatsanwaltschaft,
ist in der Geschichte der österreichischen Justiz sowie
der Linken ein absolutes Novum. Noch nie zuvor kam Coitus ergo sum
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vomits ice cream into Georgie's vagina."


assend zum Schwerpunkt dieser Ausgabe jährte Weit gefehlt, falls hier manche die unterste der
P sich kurz vor Redaktionsschluss die traditionell
in der Vorweihnachtszeit durchgeführte Verleihung
untersten Schubladen literarischer Erotik erlangt
sehen. Für romantische und politisierte Seelen
des „Bad Sex in Fiction Award“ am 1. Dezember besonders ärgerlich ist Sean Thomas Transformation
zum mittlerweile 16. Mal. Seit 1993 nominiert das von Shakespeares zeitlosem Sonnet Shall I compare
renommierte britische Magazin „Literary Review“ thee to a summers day, welche unangefochten den
10 Autor_innen, aus welchen die meist männlichen Sieg im Jahre 2000 erlangte: "Brupt, he rises, turns
Sieger_innen mit einer Sex in den 50ern repräsen- her over, flips her white body. Her small white tidy
tierenden Trophäe bedacht werden. Die erklärte body. She is so small and so compact, and yet she
Absicht, mit dieser delikaten Auszeichnung der wei- has all the necessary features... Shall I compare thee
teren Beschreibung eindimensionaler, „realitätsfer- to a Sony Walkman, thou are more compact and
ner“, sexistischer... Intimitäten vorzubeugen, ist more She is his own Toshiba, his dinky little JVC,
ebenso einzigartig wie manche Preisträger_innen, his sweet Aiwa. Aiwa - She says, as he enters her
unter ihnen Tom Wolfe, Norman Mailer, Wendy slimy red-peppers-in-olive-oil cunt - Aiwa, aiwa
Perriam sowie John Updike, letztgenannter wurde aiwa aiwa aiwa aiwa aiwa aiwa aiwa aiwa aiwaaaaaa-
gar für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Ein kurzer aaaaahhhhhhhh". Die sprachliche als auch kreative
Blick in die diesjährige Nominiertenliste zeigt, mit Begrenztheit der Autoren wird hervorragend durch
welcher heiß umkämpften Härte und unter welchem Royles "She made a noise somewhere between a
Köpferauchen hier teils die knappe Entscheidung beached seal and a police siren" oder Huggins "Liz
gefällt werden mußte. Unter anderem gesellen sich squeaked like wet rubber" illustriert. Andere
in diesem Jahr Persönlichkeiten wie Nick Cave, Metaphorik der Sinnlichkeit wählt Perriam, welche
Amos Oz oder John Banville zu Philip Roth, dessen nach drei nacheinander erfolgten Nominierungen
Beschreibung eines sich schamanisch fühlenden endlich 2002 in die Männderdomäne der
Beobachters angesichts einer lesbischen Penetration Honorierten eintritt: "Weirdly, he was clad in pin-
mit grünem Dildo, welcher in dieser archaisch stripes at the same time as being naked. Pin-stripes
wahrgenommenen Szenerie zu einer Totemmaske were erotic, the uniform of fathers, two-dimensional
mutiert, keine Chance gegen den Sieger Jonathan fathers. Even Mr Hughes's penis had a seductive
Littell hat. Auffallend ist bei den mit diesem Preis pin-striped foreskin."
Dekorierten die beispielslose inhaltliche als auch
formale Unbeholfenheit in dem Umgang mit einer Sämtliche Ausgezeichneten mit Ausnahme des
der weiterhin schwierigsten literarischen Heraus- "Mister New Journalism" Tom Wolfe, Sieger im
forderungen. Mein persönlicher „Favorit“ hinsicht- Jahre 2004 für "I am Charlotte Simmons", nahmen
lich der schlechtesten Sexszen(eri)e in diesem Jahr die Auszeichnung mit Humor. Sie kann angesichts
war eigentlich Milwards Beschreibung eines friktio- eines unüberschaubaren Marktes an literarischen
nal kollabierenden, personalisierten Kondoms: "He erotischen Versatzstücken sogar dem Prinzip
starts getting friction burns, hanging onto Bobby's Hoffnung Auftrieb verleihen: Nach der Lektüre die-
stiff penis for dear life, headbutting Georgie's cervix ser Passagen kann fast alles wirklich nur mehr bes-
at 180 beats per minute. 'Help me!' he yells in the ser werden.
darkness, feeling himself melting. [...] and the fric-
tion starts getting unbearable and Mr Condom
thinks he's going to be sick and the searing pain the
searing pain and Bobby groans again and suddenly
squirts a gallon of white molten lava from his Jap's
eye, exploding through Mr Condom's heavy reser-
voir end and Mr Condom screams and screams and
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Hört ihr die Saufsignale


Zum inflationären Gebrauch des Begriffs Solidarität

esen wir linksradikale Veranstaltungsmagazine, mittleren Erwachsenenalter die „Bewegung“ schwä-


L dann sehen wir, dass wir uns in einer Welt unbe- chen will, kann das natürlich selbst entscheiden. Im
grenzter Solidarität befinden. Jede Woche finden Normalfall wird niemand an die Soli-Bar kommen,
Soli-Partys für jeden auch nur um Cocktails zu kaufen, wenn die
Das Spenden ist inzwischen unab-
erdenklichen Zweck statt. Dort Person keinen Cocktail trinken
dingbar mit einer Gegenleistung
können dann Soli-Cocktails will. Dass sich Leute aus übergro-
verbunden. Mensch kommt gar
gekauft werden oder Soli-Shirts, ßer Solidarität betrinken und sich
nicht mehr auf die Idee, dass es
bedruckt mit der Message, für ernsthaften Schaden der Solidarität
auch möglich wäre, einfach ohne
welchen Zweck gerade so solida- wegen ergibt, sei einerseits aus
Gegenleistung zu spenden.
risch gespendet wurde. Gründen der Unwahrscheinlich-
keit und andererseits aus Gründen
Doch wie solidarisch ist mensch wirklich beim der Eigenverantwortung dahin gestellt. Dass sich
Cocktailschlürfen? Solidarität an und für sich ist ein Personen aus moralischer Sicht dazu genötigt fühlen,
Akt, bei dem Mühe auf sich genommen wird, um das Alkohol trinken zu müssen, um den Zweck der Wahl
zu unterstützen, was aus eigener Sicht Unterstützung zu unterstützen, nehmen wir an dieser Stelle nicht an.
D e b a t t e

benötigt oder jemandem in schwierigen Situationen


beizustehen, wenn es für „richtig“ erachtet wird. Leider ist es jedoch extrem unüblich, dass Menschen
Jedoch wird bei einem Drink um 3,50 € schon kräf- einfach so der Cocktailbar Geld geben, um für den
tig die Nase gerümpft, nicht zumutbar sei das. Vor guten Zweck zu spenden. Denn das Spenden ist
allem nicht in selbstverwalteten Räumen und für den inzwischen unabdingbar mit einer Gegenleistung
billigsten Fusel, den der Markt momentan so führt. verbunden. Mensch kommt gar nicht mehr auf die
Das stimmt auch, weil wir in Wirklichkeit nur einen Idee, dass es auch möglich wäre, einfach ohne
Cocktail trinken wollten. Doch wollten wir wirklich Gegenleistung zu spenden. Warum auch, wenn wir
einen Solicocktail haben, dann wäre der Drink zur guten Tat ein Shirt oder Gertänk abstauben kön-
eigentlich viel zu billig, die Gewinnspanne, worum es nen. Da wären wir wieder beim Begriff Solidarität,
bei Solicocktails ja wohl geht, bleibt verschwindend denn solidarisch ist es einfach nicht, eine Ware zu
gering. konsumieren. Noch dazu eine, die an der Solibar bil-
liger ist als überall sonst. Die einzige Person, die sich
In Wirklichkeit wollen die KonsumentInnen an der hier solidarisch verhält, ist die Person hinter der Bar,
Bar die Ware „Cocktail“ kaufen und somit wird Preis welche ohne Lohn die Mühe auf sich nimmt, für
mit Qualität verglichen und bei Erkenntnis fehlender „gute Zwecke“ Geld zu beschaffen.
Übereinstimmung, gemeckert und gefeilscht. Klarer
Weise, denn aus Freiräumen sind wir moderate Noch ein anderer Punkt macht deutlich, dass es
Preise gewohnt, schließlich verdient keineR an der nicht um Solidarität geht. Für welchen Zweck ich
Arbeit. mich besaufe, ist aus dem Drink selbst noch gar
nicht ersichtlich. Will ich mich mit gutem Gewissen
Wichtig ist: Beide Wünsche sind gerechtfertigt. besaufen, kann ich mir nicht aussuchen, ob ich mei-
Solikohle für verschiedenste Verwendungszwecke nen Durst für Prozesskosten von TierrechtlerInnen
und billiges Besäufnis. Wer durch Leberzirrhose im oder für Radelständer lösche. Das heißt, die Spende
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ist nur im seltensten Falle ernst gemeint, nur dann, Kassa soll auch nichts anderes landen als der
wenn der Zweck der Bar zufällig mit meinen Selbstkostenpreis für den gemachten Drink. Mehr
Vorstellungen von unterstützenswerten Projekten zu geben ist absolut unüblich und wird eher beun-
oder Anlässen zusammen fällt. Betrinken würden ruhigt beäugt als dankbar entgegen genommen.
sich die meisten Leute so oder so. Außerdem ist es zumindest in den anarchistischen
Kreisen nicht so üblich wie in Österreich, dass sich
Jaja, es ist abgedroschen, die „in Griechenland ist alle Menschen so hemmungslos ansaufen, aber das
alles besser“-Attitüde. Doch können wir uns von ist wieder ein anderes Thema. Damit haben wir
den so rebellischen GenossInnen im Süden doch getrennt: Alkohol ist Alkohol ist Alkohol und
einiges abschauen. Wie beispielsweise die absolute Solispende bleibt Solispende.
Trennung von Soligeld und Ware jeder Art. Wird
Geld für einen Zweck benötigt, wird Geld gesam- Wenn wir uns anschauen, dass es auch möglich
melt. Im Fall mancher Athener Zusammenhänge wäre, ohne den ganzen Aufwand, den so eine
geht ein Helm durch die Runde und darin landen Cocktailbar nunmal macht, Geld für die selben
fast nur Geldscheine. Kein Kleingeld. Das liegt nicht Zwecke aufzutreiben, wollen wir es dann nicht ein-
daran, dass Menschen in Griechenland mehr ver- fach sein lassen? Wohl nicht. Denn wo stehen wir
dienen würden, ganz im Gegenteil. Es geht um die denn dann um halb fünf in der Früh und können so
Prioritätensetzung. Alkohol steht nämlich gleichzei- wunderbar feilschen, wenn nicht an der
tig zur Selbstbedienung verfügbar herum und in der Solicocktailbar.

Das Gespräch hat einen Zweck!


Es führt zu was! Lebt wohl!
ass die zwangsweise angenommene
D Geschlechter-Dichotomie und die darin ange-
legte Heteronormativität, Herrschaftsverhältnisse
reproduziert und zementiert, ist ein
Erkenntnisstand, der in der autonomen Linken
nach langen Denk- und Diskussionsprozessen ange-
kommen sein dürfte. Eine geschlechtliche
Essentialisierung von Verhalten und Praxen wurde
in der Theorie über Bord geworfen, umso interes-
auch nur im erfolgreichen Sprint auf der Flucht vor
santer, dass sich in der antifaschistischen Praxis tra-
der anwesenden Polizei. Pierre Bourdieu spricht
dierte Rollenbilder als so zählebig erweisen.
vom (vergeschlechtlichten) Körper als „Gedächtnis-
stütze“ der sozialen Welt. Durch eine permanente
The Body and Guard Story
Formierungsarbeit wird der Körper als verge-
schlechtlichte Wirklichkeit konstruiert, während er
Die machistische Credibility des antifaschistischen
gleichzeitig als Speicher von vergeschlechtlichenden
Straßenkampfs muss hart errungen werden. Im
Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien dient,
erwarteten körperlichen Einsatz gilt der/die was,
die wiederum auf den Körper in seiner biologischen
der/die Coolness unter Beweis stellt - und sei es
Realität angewendet werden. Wenn Frauen also dar-
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auf hingewiesen werden, dass sie für die erste Reihe Beschützer auf der Hand. Beschützt werden müssen
nicht geschaffen wären, weil sie ja offensichtlich kleiner zum einen die Opfergruppen von Naziaktivitäten (ungut
und schwächer sind, werden sie erinnert sei hier m.E. an den Aufruf,
aufgrund ihres weiblichen Körpers Über die eigenen Ängste vor dem das Prager jüdische Viertel am
und den Bewertungen, denen die- Versagen, der Unterlegenheit oder 09.11.07 vor Nazis „zu beschützen“.
ser unterworfen ist, aus einer politi- drohender Repression wird in der Mit der Kritik an dieser Darstellung
schen Handlungssphäre verdrängt. Antifa-Gruppe gemeinhin nicht möchte ich die Bedeutung eines Nazi-
geredet Aufmarschs am Jahrestag der Reichs-
Männliche Herrschaft wird durch pogromnacht nicht kleinreden, son-
Praktiken abgesichert, deren Ritualisierung es erlaubt, dern das Selbstbild der anreisenden „militanten Body-
Ängste auszublenden. Über das Konkurrenzverhalten, guards“ in Frage stellen). Zum anderen müssen die als
das bei Demos und Aktionen latent bis virulent spürbar schwach entworfenen Frauen, die in der harten men`s
ist, stellen sich Erfolgserlebnisse ein, die wiederum world zwar dabei sein aber nicht mitspielen dürfen,
Identifikationsmuster anbieten. behütet werden.

Dabei kommt es zu einer interessanten Rückbindung Alle kritisierten Punkte sind aber nicht Ausdruck einer
zwischen der männlichen Norm und dem Handlungs- männlichen Essenz. Dominantes Redeverhalten, die
spielraum, der bei konfrontativen Aktionen als gut und Bevormundung anderer oder die Abwertung/das lächer-
richtig gilt. Der/die autonome Antifaschist_in hat mutig, lich Machen „weicherer“ Aktionsformen wird auch von
überlegt und rational zu agieren, um anerkannt zu wer- Aktivistinnen praktiziert. Der Quell von „Macker_in-
den. Das optimale Verhalten auf Aktionen wird durch nen“-Verhalten findet sich eben nicht in den primären
die szeneinterne Sprache abgesichert und legitimiert. Geschlechtsorganen oder Drüsenhormonen, die männ-
Die big player erzählen eben die besten liche Norm ist vielmehr die soziale, gläserne Decke,
Heldengeschichten! nach der sich Frauen in der autonomen Antifa strecken.
Sprache dient aber auch in der direkten Aktion zur Die entscheidenden Frage bleibt also die: Warum ist die
Konstruktion eines Wir-Gefühls. Die männliche autonome Antifa ein Reservat an sexistischen und
Erlebniswelt bei antifaschistischen Aktionen wird mit androzentristischen Praxen und Verhalten?
Parolen aus dem Fußballkontext verbunden. Bullen sind
nur gut bezahlte Hooligans oder anders: you never walk Kein Schwanz ist so hart wie mein Leben!
alone! Augenfällig, dass umso lauter gesprochen wird,
wo so vieles verschwiegen bleibt. Über die eigenen Äng- In der tradierten Aufteilung zwischen Öffentlichem und
ste vor dem Versagen, der Unterlegenheit oder drohen- Privatem wird Frauen ihr herkömmlicher Part zugewie-
der Repression wird in der Antifa-Gruppe gemeinhin sen. Diskussionen über Sexismus werden in der Gruppe
nicht geredet. Das Bedürfnis meist von Frauen angestoßen.
nach Trost und Zuspruch wird Ebenso scheint es nach wie vor eher
meist in der heterosexuellen ihre Aufgabe zu sein, sich um krea-
Zweierbeziehung befriedigt, tive Aktionsformen wie etwa radical
indem die Freundin als cheerleading zu kümmern oder
Realunion von Geliebter, Rechercheaufgaben zu erledigen.
Therapeutin, Krankenschwester Offensiv nach außen treten dann
und aufmerksamem Publikum fungiert. aber eher die männlichen Subjekte der Gruppe.

Sexismus und Androzentrismus generieren sich in der Antifa ist ein Tummelplatz männlicher Normierung. In
autonomen Antifa auf unterschiedlichen Ebenen. Indem der Betonung von körperlichen Fähigkeiten, in der
das böse Andere – die Nazis bzw. die Einsatzkräfte – so Zelebrierung des Streetfights wird das männliche Ideal
klar fassbar ist, liegt die attraktive Selbstzuschreibung als zur Normalität. Frauen sind dann das abweichende
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Andere, das die männliche Norm innerhalb körper- verachtenden Weltbildes anzugreifen. Wenn Neo-
lich konfrontativer Aktionen bestätigt und absi- Nazis an männliche Antifas die Einladung zu einem
chert. Frauen nehmen das Angebot von einem „klärenden Kampf 20x20“ richten, muss klar sein,
Verhaltenskontext, der die eigene Stärke betont aber dass es keinen „ehrlichen Kampf auf Augenhöhe“
auch als emanzipativ wahr. Als Aneignungsstrate- geben kann. Nazis gilt es anzugreifen und zu tref-
gien im Entwurf von hybriden Selbstinterpreta- fen, die Mär vom ehrvollen Sieg auf dem
tionen können sich Frauen als aktiv und offensiv Schlachtfeld darf dabei aber unter keinen
entwerfen und erfahren. Umständen aufgegriffen werden!

Um die inhärenten Ausschlüsse und die Ohne eine radikale Kritik am Patriarchat, an
Reproduktion geschlechtlicher Stereotype aufzubre- geschlechtlichen Zuschreibungen und Ausschlüssen,
chen, bedarf es einer Auseinandersetzung mit der fügt sich die autonome Antifa leichter in die bürger-
Problemhaftigkeit von Antifa Aktionen. So lange liche Ablehnung von Faschismus und Neo-
antifaschistische „Schlagfertigkeit“ als Grundlage Nazismus ein. Allein die radikale Demontage gesell-
von Aktionen gedacht wird, werden Ausschlüsse schaftlicher Ist-Zustände, vor allem in der Kritik an
perpetuiert, die sich durch den Körper ziehen. Und Alltags-Sexismus und -Rassismus ermöglicht den
das betrifft Menschen nicht nur auf Grund ihres Ausbruch aus dem Verfassungsbogen.
Geschlechts, sondern auch auf Grund ihres Alters
oder ihrer körperlichen Verfasstheit.

Es gilt den Sexismus von (Neo-) Nazis, die grundle-


gende Frauenfeindschaft innerhalb ihres menschen-

Frontex – die Agentur fürs Grobe


m Projekt X Nr. 2 wurde bereits im Artikel “Das entwickelt. Wie Strategien zu Grenzabwehr und die
I Prinzip Frontex” über die Entstehung, Struktur
und die Funktion der Agentur Frontex berichtet.
Organisation und Koordinierung der jeweiligen
polizeilichen und militärischen Einsätze. Die dazu
Wie angekündigt, folgt nun eine Ausführung über erforderlichen technischen und militärischen
die Auswirkungen der Abschottungspolitik der EU Hilfsmittel stellen die EU-Ländern bereit. Für all
und den Widerstand gegen diese. In Bezug auf diese Aufgaben stand Frontex im Jahr 2008 ein
Frontex soll auch noch die österreichische Budget von 78 mio. Euro zur Verfügung.
Beteiligung in diesem Projekt der EU analysiert
werden. Die Kriegserklärung

Zusammenfassend zu dem letzten Artikel kann Europa führt Krieg gegen Menschen, die vor Krieg,
gesagt werden, dass die Agentur Frontex ein Armut und Unterdrückung fliehen. Nach Angaben
Produkt der europäischen Migrationspolitik in des UNHCR (United Nations High Commissioner
Verbindung mit dem “War on Terror” ist. Ziel ist es, for Refugees) versuchten 2008 67.000 Menschen
die Migrationsbewegungen zu analysieren und zu über den Seeweg nach Europa zu gelangen. Wieviele
verhindern. Frontex selbst betrachtet sich als “unpo- es geschafft haben, ist schwer zu beziffern. Italien
litische” Border Management Agentur, die im und Malta erreichten letztes Jahr 37.000 Menschen.
Auftrag des Kunden (die EU) spezielle Produkte Die Liste jener Menschen, die in den letzten Jahren
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an der europäischen Grenze ihre Leben ließen ist lang... konvention jeder Menschen das Recht auf Prüfung der
im Zeitraum von 1988 bis 2008 starben laut Angaben auf Fluchtgründe, jedoch kümmert dies weder die EU noch
dem Blog “fortresseurope” 14.714 Menschen, jedoch ist Frontex. Auf die öffentliche Kritik, dass Frontex 2008
diese Zahl wohl mehr als Richtwert zu verstehen. knapp 6000 Bootsflüchtlingen dieses Recht verweigerte,
reagierte ein Sprecher entlarvend: “Diese hätten sich
Eine Aufgabe von Frontex liegt in der militärischen noch in den Hoheitsgewässern der beiden westafrikani-
Überwachung dieser Grenzen. Sie ist die Agentur fürs schen Staaten befunden.” Die Strategie ist, die Menschen
Grobe. Die Methoden sind bekannt. Die Boote der daran zu hindern, das jeweilige Territorium zu verlas-
Flüchtenden werden abgefangen und ohne Rücksicht sen. Die Grenze beginnt faktisch an der afrikanischen
auf die Verfassung der Menschen und den Zustand des Küste. Um dem zu entgehen, nehmen Flüchtende
Bootes wieder zurückgeschickt. Schilderungen von immer längere und riskantere Fluchtrouten in Kauf.
Frontex-Einsätzen in der Ägäis (zwischen Griechenland
und Türkei) berichten davon, dass Boote seeuntauglich So bezeugen nicht nur die gewalttätigen Methoden die-
gemacht werden oder auf Flüchtende geschossen wird. sen Krieg, sondern auch die Ausweitung des Territor-
Diese Praxis entspringt der Strategie, durch iums. Um den Kriegsaufwand mit Zahlen zu verdeut-
Abschreckung, Härte und einer umfangreichen Über- lichen: Frontex gibt jährlich fast die Hälfte des Budgets,
wachung die Menschen von einer Flucht nach Europa 31,1 Mio. Euro, für die Seeraumüberwachung aus. Die
abzuhalten. Tendenz geht dahin, diesen Krieg auf militärischer
Ebene noch intensiver zu führen, bis die “illegale”
Zwar hat nach der europäischen Menschrechts- Migration unmöglich wird. Die Überwachung der
Grenzen im Osten Europas zählt daher ebenfalls zu
einem wichtigen Aufgabenfeld. Gegen jene Menschen,
die es nach Eurpa geschafft haben, arbeitet Frontex am
Konzept und der Organisation von
(Massen)abschiebungen.

Immer wieder Österreich

In diesem Bereich sieht auch Innenministerin Fekter


den Hauptschwerpunkt des österreichischen Beitrags.
So führte Frontex unter österreichischer Leitung und
der Beteiligung von 12 weiteren EU-Staaten im
November 2008 eine Massenabschiebung von 71
Personen nach Nigeria und Gambia durch. Diese
“erfolgreiche” Kooperation war ein Vorgeschmack auf
die kommende bzw. mittlerweile bereits vermehrt
durchgeführte Abschiebepraxis.

Ein weiterer “Testlauf ”, der so gut wie unbemerkt vor


den Augen der Öffentlichkeit abgewickelt wurde, erfolg-
te während der Fußball EM 2008. Im Zuge der Auf-
hebung des Schengenraums organisierte Frontex mit
140 EU-ExektivbeamtInnen die Überwachung und
Kontrolle an den österreichischen Grenzen und Flug-
häfen mit dem Ziel, die “illegale” Migration und das
“Schlepperunwesen” in diesem Zeitraum verstärkt zu
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bekämpfen. Dazu wurden sowohl in Bern als auch Flughafen in Hamburg und vor der Akademie der
in Wien ein Frontex Headquater eingerichtet. Bundespolizeischule in Lübeck, in der
Frontexschulungen durchgeführt werden.
Nicht nur die Zusammenarbeit zwischen Frontex Wichtig zu erwähnen sind die verschiedenen “No-
und Österreich verläuft hervorragend, seit Juni 2007 Border Camps”, die zwar seit Jahren stattfinden, nun
ist auch der Brigadier Robert Strondl in einem der aber vermehrt im Ägäis-Raum. An Brennpunkten
höchsten Gremien von Frontex tätig. Im Vorsitz des des Migrationsregimes, dort, wo sowohl Frontex
Verwaltungsrats, eine Art Steuerungsgremium, ist er seine Operationen durchführen, als auch tausende
für wichtige personelle, politische und militärische Flüchtende über Jahre in Lager gepfercht werden.
Entscheidung mitverantwortlich. Die “gute” Durch die vom “No-Border Camp” ausgehenden
Zusammenarbeit reicht bereits bis ins Jahr 2002 Aktionen soll sowohl die kriegerische Politik sicht-
zurück. Damals wurden in Traiskirchen das ACT bar gemacht und gestört werden, wie auch mit
(ad-hoc centre for border guard training) unter der Betroffenen in den Lagern Kontakt aufgenommen
Leitung von Oberst Reinhard Lintner gegründet. und zusammengearbeitet werden.
Mittlerweile sind das Ausbildungsprogramm und Die unterschiedlichen Kampagnen, Fernsehbeiträge,
Lintner ein Teil von Frontex. Österreichs Poli- Filme und die Arbeit vieler Gruppen und
tikerInnen, von Platter bis Fekter, zeigen sich nicht Menschrechtsorganisationen haben dazu geführt,
nur stolz über die Beteiligung von Österrei- dass sich Frontex selbst vermehrt einer öffentlichen
cher(Innen) an Frontex, sondern sind eifrige Kritik ausgesetzt sieht und in diesem Zusammen-
VerfechterInnen und ScharfmacherInnen der euro- hang natürlich auch die Migrationspolitik der EU.
päischen Migrationspolitik. So erklärt Fekter im Jedoch ist es notwendig, diese Politik nicht abgelöst
Oktober 2009 bei einem Unterausschuss der EU: von jener Politik zu betrachen, die Migration zu
"Wichtiger Bestandteil des Stockholmer Programms etwas Profitablem für die europäische Wirtschaft
ist neben der Bekämpfung der Kriminalität die und Gesellschaft macht, viele MigrantInnen zu billi-
Migration und das Asylwesen. Hier geht es primär gen und rechtlosen Arbeitskräften deklassiert.
um einheitliche Standards im Asylbereich und die “Illegalisierung und Abschiebung einerseits, selekti-
Bekämpfung der illegalen Migration, die ver Einschluss und Anwerbung andererseits, es sind
Eindämmung des Menschenhandels sowie den zwei Seiten der selben Medaille: es geht um Mi-
Aufbau eines gemeinsamen EU-Asylsystems, einer grationsmanagement für ein globales Apartheid-
Asyl-Agentur und die Integration von bereits bei Regime, dessen höchst prekäre Ausbeutungs-
uns lebenden Drittstaatsangehörigen"2. In diesem bedingen auf der Produktion immer neuer
Kampf, so Fekter im passenden Kriegsjargon, liegt Hierarchien und abgestufter Rechte sowie rassisti-
der österreichische Schwerpunkt „an den schen Diskriminierungen basieren.”4
Ostflanken der EU“3.
1) http://fortresseurope.
… ist der Widerstand nicht weit blogspot.com/2006/01/festung-europa.html
2) Fekter: Grenzüberschreitende
Am 6. Juni 2008 kam es im Rahmen einer transna- Kriminalitätsbekämpfung ist Schwerpunkt der EU,
tionalen Aktionskette, die sich gegen die europäi- OTS vom 20.10.2009, ÖVP Parlamentsklub
sche Migrationspolitik und im speziellen gegen 3) ebd.
Frontex richtete, zu einer Protestkundgebung vor 4) Frontexplode – Erste Ansätze einer transnationa-
dem Frontex Hauptsitz in Warschau. Die Losung len Kampagne, in: Materialien gegen den Krieg,
war eindeutig: “shut down Frontex!” Repression und für andere Verhältnisse, Nr. 7, S.49
Im Rahmen dieser Aktionskette veranstalteten in
Mali von Ab- und Rückschiebung Betroffene eine
Konferenz, weiters kam es zu Aktionen am
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Mythos „Weißsein“

arum werden sowohl bei rassistischen als auch „Herabsinken auf die Kulturstufe des Eingeborenen“
W bei antirassistischen Diskussionen fast aus-
schließlich die „schwarzen Anderen“ thematisiert? Was
konnte vor allem durch zu viel Kontakt mit den lokalen
Gesellschaften - dabei spielte vor allem der sexuelle
hat es mit dem „Weißsein“, dieser Kontakt zu schwarzen Frauen eine
(1)
„unmarkierten, unsichtbaren“ , aber zentrale Rolle - erreicht werden. Diese
meist hegemonialen Position auf „verkafferten“ Männer hatten dann in
sich? Mit Fragen wie dieser beschäf- Folge ihren „weißen“ Status mit all den
tigen sich die so genannten Critical damit verbundenen Privilegien wie
Whiteness-Studies bzw. die Kritische z.B. das Wahlrecht verloren.
Weißseinsforschung. Dieser For- Aufgrund dieser „Gefahr der
schungsperspektive geht es um eine Verkafferung“ wurden auch so
Wende des analytischen Blicks, weg genannte „Mischehen“ verboten, was
vom „rassifizierten Anderen“ hin Deutschland vor einer „Welle“ an
zum genauso „rassifizierten Einbürgerungen schwarzer Frauen und
Weißen“- dem in Ländern wie Österreich mehrheit- deren Kinder schützen sollte. Schwarze Frauen solcher
„Mischehen“ und deren Kinder hatten nämlich am
lichen „Wir“. Es stellt sich also die Frage, was denn unter
„schwarz“ bzw. „nicht-weiß“ und „weiß“ eigentlich ver- Anfang der deutschen Kolonialzeit Anspruch auf die
standen wird. Was soll mit diesen Begriffen bezeichnet deutsche Staatsbürgerschaft. Wenn wir nun an die öster-
werden? reichische Gesetzgebung in Bezug auf
Aufenthaltbewilligungen für Nicht-EU-Bürger_Innen in
Schwarz und weiß… Nur Farben? Zusammenhang mit Heirat denken (Beantragung aus
dem Ausland usw.), scheint sich in dieser Hinsicht nicht
Es ist nicht zu leugnen, dass die Konstruktionen von sehr viel geändert zu haben. Gewisse Ängste und rassi-
„schwarz“ und „weiß“ stark mit der kolonialen stische Gesetze bestehen bis heute.
Bilderwelt zusammenhängen - denken wir nur an die So sind die Zuschreibungen „schwarz“ und „weiß“ vor
Bilder mit den „weißen zivilisierten Kolonialherren“ und allem auch Formen des Machterhaltes und der
den „schwarzen, wilden Sklav_Innen“. Doch trotz dieser Grenzziehung und in weiterer Folge verschiebbare
„schwarz-weißen“ Bilderwelt war die Wahrnehmung Konstruktionen. Die relative Farbenunabhängigkeit von
von „weiß“ und „schwarz“ auch schon zur Kolonialzeit „weiß“ und „schwarz“ wird z.B. auch an so genannten
von den damalig spezifischen Geschlechter-, Klassen- „rassischen“ Zwischenstati bestimmter Menschen deut-
und „Rassen“-Verhältnissen abhängig. So wurde z.B. in lich. Jüd_Innen und Ir_Innen waren z.B. historisch
Deutsch-Südwestafrika (heutiges Namibia) der Begriff nicht immer „weiß“ kategorisiert. Gleiches galt auch für
der „Verkafferung“ geprägt, der von der kappholländi- die aus Süd- und Osteuropa in die USA migrierten
schen diskriminierenden Bezeichnung „Kaffer“ für dun- Arbeiter_Innen Ende des 19. Jahrhunderts/Anfang des
kelhäutige Menschen abgeleitet war. Dieser Begriff 20. Jahrhunderts, die zwischen „weiß“ und „schwarz“
bezeichnete einen bestimmten Zustand männlicher angesiedelt wurden. Aufgrund deren Zwischenstatus
Kolonisatoren, und zwar jenen des „Herabsinkens eines wurde diesen Abeiter_Innen dann auch spezifische
Europäers auf die Kulturstufe des Eingeborenen“, wie Tätigkeiten zugeschrieben (die Arbeit am Hochofen war
dies im deutschen Koloniallexikon geschrieben steht. z.B. für slawische Einwander_Innen bestimmt), die sich
Dieser Zustand der „Verkafferung“ bzw. dieses wiederum von Tätigkeiten für Menschen schwarzer
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Hautfarbe unterschieden. Es herrschte demnach sollten. Doch müssen wir nicht so lange in der
eine klare „rassische“ Arbeitsaufteilung, die aber Geschichte zurückgehen: „Weißsein“ kann also als
nicht klar anhand der „schwarz-weißen“ Linie im eine Art imaginäre Gemeinschaft beschrieben wer-
Sinne von Hautfarben verlief, sondern bestimmte den, die immer wieder verschiedene Arten von
Menschen auch eher dem „schwarzen“ Spektrum Grenzen setzt. So kann auch die EU-Migrations-
zuwies. Es wird nun deutlich, dass „nicht-weiß“ politik in den Kontext von „Weißsein“ als
nicht immer gleich „schwarz“ bedeuten muss. Wie „Normalisierungsprozess“ betrachtet werden. Unter
also kann „Weißsein“ beschrieben werden? einem solchen Blick stellen Auffanglager,
Massenabschiebungen usw. nichts anderes als einen
Ausdruck neuer Grenzziehungen dar, die die EU
„Weißsein“ - ein „Normalisierungsprozess“ benötigt, um ihren hegemonialen „weißen“ Raum
zu sichern. „Hereingelassen“ werden nur diejenigen,
In Texten zur Kritischen Weißseinsforschung wird die gut in die „weiße“ Gemeinschaft integrierbar
„weiß“ in „weiß“ dominierten Gesellschaften als bzw. assimilierbar sind wie z.B. gut ausgebildete
eine Art Normalität dargestellt, anhand derer das Fachkräfte oder billige Arbeitskräfte. „Nicht-weiße“
Anormale, das „Nicht-Weiße“ gemessen wird. Gruppen haben es zweifellos schwerer.
Wenn „Weißsein“ die Normalität ist, dann wird auch
dessen „Unsichtbarkeit“ und „Unmarkiertheit“ Hautfarbengebundenheit von „schwarz“ und
deutlich, da alles, was als „weiß“ definiert wird ja als „weiß“ überwunden?
das „Normale“ gilt, das nicht weiter bestimmt und
definiert werden muss. Die Kritische Weißseinsforschung hat sich zum Ziel
Das bedeutet nun aber nicht, dass in Gesellschaften gesetzt, „Weißsein“ und in Folge dessen auch
feststeht, was als „weiß“ und was als „nicht-weiß“ „Schwarzsein“/„Nicht-Weißsein“ zu dekonstruieren
oder „schwarz“ gilt. Der entscheidende Punkt ist und neu zu rekonstruieren. Die brennende Frage ist
demnach, „schwarz“ und „weiß“ als nun, ob es möglich ist, die rassistischen
Hilfskonstruktionen für gesellschaftliche Konnotationen (Bedeutungsinhalte) von „schwarz“
Machtverhältnisse anzusehen, bei denen „weiß“ im und „weiß“ als an Hautfarbe gebundene
Sinne eines „Normalisierungsprozesses“ abhängig Konstruktionen zu brechen oder ob diese rassisti-
vom jeweiligen Kontext - d.h. von den jeweiligen schen Konstruktionen durch den ständigen
politischen, historischen, geographischen, ökonomi- Gebrauch der Begriffe „weiß“ und „schwarz“ nicht
schen, soziokulturellen usw. Strukturen - immer auch immer mitschwingen.
wieder neu konstruiert wird. In diesem Sinne wer- Zwar machen viele Autor_Innen darauf aufmerk-
den immer bestimmte „nicht-weiße Andere“ in die sam, dass „nicht-weiß“ nicht gleich „schwarz“
imaginäre „weiße“ Gemeinschaft aufgenommen, um bedeuten muss, doch ruft der Begriff „weiß“ schnell
den Machterhalt von „Weißsein“ zu stabilisieren. sein „Gegenteil“ „schwarz“ hervor. Die Kritische
Derzeitige Diskurse zu Integration oder besser Weißseinsforschung ist demnach selbst auch nicht
Assimilation können genauso in den Kontext von vor einer Reproduktion der „Schwarz-Weiß-
„Weißsein“ als „Normalisierungsprozess“ gesetzt Malerei“ gewappnet, sondern reproduziert diese
werden, wird Menschen mit Migrationshintergrund beständig mit. Das bedeutet nun, dass auch eine
dabei ja ziemlich genau vorgeschrieben, wie sie sich Benennung von „schwarzer“/„nicht-weißer“ und
in die österreichische „weiße“ Gesellschaft zu inte- „weißer“ Perspektive, Positionen, Identitäten usw.
grieren/assimilieren haben. Dieser Zugang lässt sich vor allem innerhalb antirassistischer Diskussionen
gut an den kolonialen Missionierungen verdeut- im Gegensatz zu der Strategie der so genannten
lichen, bei denen „nicht-weiße“ Menschen durch „Farbenblindheit“ (wem kommt der Spruch „für
Missionierung von ihrem „barbarischen und aber- mich gibt es keine Unterschiede zwischen „weiß“
gläubischen Verhalten“ „befreit und geheilt“ werden und „schwarz“ nicht bekannt vor) genauso die
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bestehenden Machtverhältnisse verfestigen kann. Nur Politiken der Reinigung im deutschen Kolonialismus.
„Weißsein“ und „Schwarzsein“ zu benennen, reicht noch In: Werkstatt Geschichte: „Die Farbe ‚weiß’“, 14. Jg.
nicht, die Begriffe „weiß“ und „schwarz“ mit all sei- (2005), H, 39, 39-53.
nen/ihren rassistischen Konnotationen (Bedeutungs-
inhalten) zu dekonstruieren und mit neuen Bedeut- Barrett, James/Roediger, David (2005): Inbetween
ungen zu versehen. Einen ersten Schritt stellt es jedoch Peoples. Rasse, Nationalität und die ‚New Immigrant’-
allemal dar… Arbeiterklasse in den USA. In: Werkstatt Geschichte:
„Die Farbe ‚weiß’“, 14. Jg. (2005), H. 39, 7-34.
(1) Mit den Begriffen „Unsichtbarkeit“ und
„Unmarkiertheit“ soll auf den Zustand hingewiesen Eggers et al. (Hg.) (2005): Mythen, Masken und
werden, dass „weiß“ im Gegensatz zu „schwarz“ meist Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland.
nicht bewusst wahrgenommen und hervorgehoben Münster: Unrast.
wird.
Hacker, Hanna (2005): Nicht Weiß Weiß Nicht: Über-
Literaturhinweise: schneidungen zwischen Critical Whiteness Studies und
feministischer Theorie. In: L’Homme. Europäische
Axster, Felix (2002): Kolonialer Reinheitsdiskurs und Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft:
die Transformation von Männlichkeit- der verkafferte „Whiteness“, 16. Jh. (2005), H.2, 13-27.
Kolonisator. 2. Tagung AIM Gender (Arbeitskreis für
interdisziplinäre Männer- und Geschlechterforschung), Lorey, Isabel (2007): Weißsein und Immunisierung. Zur
1-11. Online unter: Unterscheidung zwischen Norm und Normalisierung.
http://www.ruendal.de/aim/pdfs02/axster.pdf Online unter: http://translate.eipcp.net/strands/03/lorey-
Axster, Felix (2005): Die Angst vor dem Verkaffern- strands01.de/print
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Gewaltige Fragen über Transphobie

„Theres more than two ways of thinking Menschen vorsätzlich Schaden zuzufügen. Es geht
Theres more than one way of knowing immer also auch um Herrschaft, Macht im weiteren
Theres more than two ways of being Sinne und den ganzen restlichen Scheiß eben.
Theres more than one way of going somewhere“ Insofern es sich hierbei um Geschlechterhierarchien
(Bikini Kill, Resist Psychic Death lyrics) handelt, muss vor allem der Begriff der „sexualisier-
ten Gewalt“ als spezifische Form der Durchsetzung
ei der Thematisierung von Gewalt und von Herrschaft näher erklärt werden. Ich spreche
B Geschlecht findet neben Gewalt gegen Frauen
und homophober Gewalt die Kategorie
von „sexualisierter Gewalt“, da es sich hierbei um
keinen aggressiven Ausdruck von Sexualität, son-
Trans* mittlerweile mehr oder weniger dern um einen sexuellen Ausdruck von
(strittig) Miterwähnung. Trotz Aggression handelt. Der Begriff kann
Queer Studies und Co. gibt es über jedoch nicht als eindeutige Kategorie
die spezifischen Ursachen, verstanden werden. Etwas kann als
Wirkungen und Formen von Gewalt intendiert sein, aber nicht als
Gewalt gegen transgender solche solche erfahren werden.
Personen jedoch nach wie vor Ebenso kann etwas als Gewalt erfahren
wenig bis kaum zu erfahren. Erst werden ohne unmittelbar als solche
vor kurzem wurde diesbezüglich die intendiert zu sein. Ich möchte deshalb noch
erste europaweite Studie veröffentlicht, die zu näher auf den Gewaltbegriff von Michael Klein
zeigen versucht, inwiefern transphobe Gewalt (in als Grenzbegriff bzw. „zentraler Diskursbegriff “
unterschiedlichsten Formen) eine zentrale eingehen (4). Gewalt muss demnach als Grenzbegriff
Erfahrung im Leben vieler Trans* Menschen dar- aufgefasst werden, der auch eine Grenze der
stellt (1). Aus einer queer-feministischen Sicht ergibt „Normalität“ beschreibt und am Prozess der Her-
sich der Ansatz einerseits stellung und der Aushandlung von Normalität
Geschlechterdiversifikation und Heteronormativität beteiligt ist. Gewalt geht oft einher mit „Konsens-
aufzuzeigen, sowie dies andererseits in Verbindung fiktionen“, was eigentlich als Gewalt verstanden
zu sehen mit dem asymmetrischem Verhältnis die- werden kann und soll. Wo Gewalt anfängt, oder
ses Geschlechterdualismus (2). Die Frage, inwiefern „eben noch nicht“, ist Teil eines
Misogyne, Homophobie und Transphobie gemein- Aushandlungsprozesses wo Macht bzw. die
sam zu denken sind oder nicht, hat insofern auch Notwendigkeit deren Begrenzung beginnt, sowie
konkrete Auswirkungen für Ein- und Ausschluss- was als asymmetrische Beziehungsrelationen ver-
mechanismen in unseren politischen Kontexten. standen wird.
Gewaltförmige Normalisierungsstrategien werden
Gewaltige Fragen... jedoch erst mit einem Begriff der strukturellen
Gewalt benennbar. Strukturelle Gewalt beschreibt
Was ist Gewalt? Wo fängt sie an, wo hört sie auf? Ist einen Konflikt zwischen der gewünschten
sie prinzipiell verwerflich(3)? Verwirklichung eines Individuums und Versuchen
Als Gewalt kann einerseits direkte Gewalt verstan- diese zu beeinflussen oder zu beschränken.
den werden, wobei als Besonderheit die Anwendung Strukturelle Gewalt in diesem Verständnis geht also
von konkreten Mitteln angesehen wird, um anderen nicht zwingend von einem personalen Subjekt mit
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einem werkzeughaften Mittel der Gewalt, sondern von richtet, dass zwar als „minderwertig“ aber prinzipiell als
einem dauernden Zustand indirekter Gewalt, z.B. in lebenswert betrachtet wird, während Gewalt, und vor
Form von gesellschaftlicher oder institutioneller allem Morde, an Transgender Personen sich gegen etwas
Ordnungsermächtigung, aus. Gewalt ist also weder richtet, dass nicht sein darf. Würden wir von einer
pathologische Randerscheinung einer Gesellschaft, noch Ontologie von transphober Gewalt sprechen wollen,
ein Phänomen, das außerhalb der Sozialität angesiedelt würde diese vielleicht eher, um mit einem Ausdruck
ist. Gewalt ist konstitutiv. Giorgio Agambens zu sprechen, auf „inhumane“
Dimensionen des Humanen verweisen. Der Täter selbst
Ab wann ist - Er oder Sie - Transphobie? wird hierbei zum Zeugnis für die Inhumanität des
Menschen, d.h. einer inhumanen Ordnung, die nur
Will mensch versuchen zu verstehen, warum Gewalt funktioniert, insofern sie bestimmten Menschen ihre
von Unbekannten gegen Transgender Personen ausge- Menschlichkeit abspricht.
übt wird, muss wohl näher auf den Begriff der Thesen, die davon ausgehen dass „dieses Andere“ vor
Transphobie eingegangen werden. Transphobie allem über die Sprache im Sinne der „langue“ (die durch
beschreibt, in Anlehnung an das Wort uns hindurch spricht) reproduziert wird,
Homophobie, eine ablehnende greifen jedoch vielleicht zu kurz. Und
Haltung gegenüber Transgender zwar insofern, da hierbei Codierungen des
Personen. Charakteristika wären beispiels- Bildlichen (Körperdarstellungen) und
weise ein Gefühle der Beklemmung, wenn Materiellen (die Körper selbst) unterschätzt wer-
einer Person nicht zugeschrieben werden den. Zwar können derartige
kann, ob sie männlich oder weiblich ist. Oder Bedeutungsproduktionen ebenfalls nur auf sprach-
allgemein zu bekunden, „kein Problem mit licher Ebene thematisiert bzw. reflektiert werden,
Transgender“ zu haben, jedoch etwa die Idee sich ihre Reproduktion erfolgt jedoch auch im „selben
mit einer Transgender Person zu Verabreden abzu- Medium“. Dies zeigt sich etwa anhand aktiver
lehnen. Transphobie zeigt sich nicht nur im Verhalten Körpernormierungen, wie der systematischen
einzelner Individuen selbst, sondern beschreibt etwa Zwangsoperationen an intersexuellen Menschen. Die
auch die Reduktion der Kategorie Trans* auf eine psy- Konstruktion zum Anderen verläuft des Weiteren nicht
chiatrische Kategorie oder medizinische „Fehlbildung“. nur anhand der Kategorie Gender, sondern variiert lokal
Demnach ist die gesellschaftliche Struktur an sich als verschränkt mit anderen Machtverhältnissen wie wie
transphob zu bewerten und nicht nur das Verhalten ein- „Race“ (5) oder Class (6).
zelner Individuen. Leslie Feinberg meint in ihrem_seinem 1998 erschienen
Buch „Trans Liberation“, die Trans- Bewegung habe für
Let's talk about Sex(ism), maybe... jede_n eine Bedeutung, nicht nur für Transgender
Personen als „Betroffene“. Trans- Identitäten dürften
Es dürfte vorausgesetzt werden: Hegemoniale jedoch nicht wie Batman- Kostüme verstanden werden,
Männlichkeit setzt ein System der Abgrenzung (gegenü- die angezogen würden, um gegen die patriarchale
ber Frauen sowie „unmännlichen“ Männern) voraus. Ordnung zu kämpfen (7).
Insofern finden sich, in Bezug auf die Absicherung
männlicher Dominanz, bei transphober Gewalt (und „Du schwule Sau!“ - zur Verbindung von
deren Legitimierungsstrategien) Anknüpfungspunkte zu Homo- & Transphobie
misogyner Gewalt. So entspricht etwa die Darstellung
des (männlichen) Täters als Einzeltäter, der als sozial Die meisten feministischen Theorien gehen davon aus,
deviant (und somit als Randphänomen) verortet wird dass Heteronormativität und männliche Herrschaft ein-
und/oder sich „provoziert“ fühlte, demselben Muster. ander ergänzen bzw. bedingen. Homophobe Täter sehen
Festzustellen wäre hier jedoch der Unterschied, dass sich in Konsequenz selbst als Opfer, wodurch zur
Gewalt gegen Frauen sich als Herrschaft gegen etwas Legitimierung dieser Gewalt, ein Recht auf Selbstschutz
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abgeleitet wird. In Polen gründete sich beispiels- verweigern. Der Begriff Transgender umfasst sehr
weise in den 90ern die Partei „Selbstverteidigung“ unterschiedliche Lebensrealitäten, die transphobe
(Samoobrona), deren Führung zu Hass und Gewalt Täter nur teilweise sprachlich benennen können,
gegen Homosexuelle aufgerufen hatten. So leitet weshalb oft homophobe Artikulationen im Rahmen
sich auch die Bezeichnung „Phobie“ im Wort von transphoben Übergriffen gebraucht werden.
Homophobie von der Irrationalität dieser Angst ab, Hinzukommt, dass die konkreten Formen von
da die Individuen real keiner Bedrohung ausgesetzt Gewaltanwendungen ebenfalls codiert sind, wie sich
sind. Dieser Analyse kann jedoch auch entgegen anhand von Betroffenenerzählungen immer wieder
gehalten werden, dass sie eine sehr individualisierte veranschaulichen lässt. Beispielsweise berichtete ein
Darstellung des Phänomens fördert, da sich Transmann, er wurde zuerst für schwul gehalten,
Individuen mit diesen Gewaltakten nicht unmittel- und sollte verprügelt werden. Erst als die Täter
bar selbst „schützen“ wollen. Dahinter kommt eine bemerkten, dass er kein „richtiger“ Mann war,
Angst des Verfall von bestehenden Strukturen, und wurde er vergewaltigt.
Ein genauerer Blick welche Funktionen welche
Kategorien gesellschaftlich erfüllen lohnt. So wurde
etwa der Iran in manchen europäischen Medien als
Art „Trans- Paradies“ beschrieben. Der Iran hat
nach Thailand die zwei höchste Rate an
Geschlechtsumwandlungen, teilweise werden diese
sogar von der Regierung finanziell unterstützt.
Berücksichtigt wurde bei diesen liberalen
Darstellungen nicht, dass sich auch Lesben und
Schwule lieber einer Geschlechtsumwandlung
unterziehen, als die mit homophoben
Sanktionierungen verbundenen (Todes)Ängste län-
ger zu ertragen.

Es zeigt sich, dass Misogynie, Homophobie und


Transphobie immer wieder diffus zu verschwimmen
scheinen, jedoch auch nicht gleichzusetzen sind. Ihr
der damit einhergehenden Privilegien, zum Tragen. Zusammenspiel ist nicht konstant und kann auch
Diese muss im Rahmen eines Übergriffs jedoch lokal variieren. In diesem Sinne:
nicht selbst unmittelbar bewusst oder Intention
sein. Dieser Mechanismus des „Rechts auf Smash transphobia! Smash homophobia!
Selbstschutz“ ist bei Homophobie und Xenophobie Smash sexism! Überall und mit allen Mitteln!
besser dokumentiert und analysiert. Die Begriffe
Trans- & Homophobie bleiben zwar für Überlegun- 1 Vgl. Transphobic Hate Crime in the European
gen zur strukturellen Ebene sperrig, helfen aber ihre Union 2009,
Verschränkungen zu begreifen. Ein Beispiel hierfür http://www.pfc.org.uk/files/Transphobic_Hate_Cri
wäre die Wahrnehmung von männlichen Cross- mes_in_EU.pdf.
dressern, die ebenso heterosexuell sein können, als
„tuntige“ Schwule - oder umgekehrt, die 2 Anhand der Debatte ob auch der Begriff „Täter“
Wahrnehmung von Schwulen als "verweiblichte" bei (sexualisierter) Gewalt generell gender neutral
Männer. Eine Rolle dürfte hierbei spielen, besonders formuliert werden solle oder nicht, zeigt sich, dass
in Zusammenhang mit stereotypen es nicht immer widerspruchsfrei ist
Wahrnehmungen, Differenzierungen bewusst zu Geschlechterdualismen nicht weiter reproduzieren,
P R O J E C T X NO 3 2 0 0 9 19
sowie reale Machtverhältnisse nicht auszublenden, zu von dem Juden als „verweiblichtem“ Mann oder der
wollen. „maskulinisierten“ Jüdin (Meike 2005). „Jude und Weib
sind ein Leib“ sagt ein Sprichwort des 19. Jahrhunderts.
3 Die Stonewall riots beispielsweise waren einer der So war es gängig, Juden als Homosexuelle oder der
wesentlichsten Momente für die LGBTQ Bewegung in Verweiblichung anzuklagen und sie in Frauenkleidern
den USA und darüber hinaus. Es wurde zurückgeschla- darzustellen. Der Versuch den Juden/die Jüdin als
gen! Es zeigt sich, dass einfache „Gewalt = böse“ widernatürlich zu markieren, zeigte sich auch in körper-
Diskurse auch und besonders für emanzipatorische lichen Darstellungen, die „die Natur der Dinge“ auf den
Bestrebungen zu kurz greifen. Gewalt ist immer auch Kopf stellten.
eine Option für Unterdrückte sich zu wehren.
6 Bei Transgender die beispielsweise als
4 Klein, Michael (Hg.), 2002: Gewalt – interdisziplinär. Sexarbeiter_innen tätig sind, wird oft aufgrund des sozi-
Lit (Erfurter sozialwissenschaftliche Reihe). alen Milieus Transphobie nach einem Entweder- Oder
Mechanismus als Grund der Gewalt ausgeschlossen.
5 Antisemitische Bilder beispielsweise waren oft geprägt

Abtreibungsdiskurse
Abtreibung in Kontext gesellschaftlicher Debatten

Abtreibung ohne Subjekt

btreibungsverbote und pronatalistische Politiken


A haben beinahe überall auf der Welt eine lange
Tradition. Während in den meisten europäischen
Ländern seit einigen Jahren oder Jahrzehnten die
Möglichkeit auf einen legalen Abort rechtlich festge-
schrieben wurde – oder zumindest im Sinne der
Fristenlösung in den ersten Wochen als „straffrei“
gehandhabt wird – verfügen in der so genannten
„Dritten Welt“ nur wenige Staaten über vergleichbare
Paragraphen in ihren Gesetzbüchern. In Luc Boltanskis
2007 erschienenem Buch über die Soziologie der
Abtreibung heißt es: „Die Abtreibung gehört heute noch
zu den umstrittenen Fragen unserer Gesellschaft. Weder
findet sie eine breite gesellschaftliche Akzeptanz, noch
wird offen über sie gesprochen. Eine merkwürdige
Grauzone umgibt sie. Das mag durchaus überraschen,
da Abtreibung in westlichen Ländern unter bestimmten Trotzdem ist es zumindest in den so genannten west-
Voraussetzungen legal ist. Das Recht auf Abtreibung lichen Ländern, auch innerhalb der feministischen
gehört zudem zu den Errungenschaften der Frauen- Debatten, um das Thema eher ruhig geworden und der
bewegung und des Kampfes für die Selbstbestimmung Kampf für das Recht auf Abtreibung macht kaum noch
der Frau.“ (Boltanski, Luc (2004/2007): Soziologie der einen zwingenden zentralen Referenzpunkt aus.
Abtreibung, Klappentext) Vielmehr lässt sich ein Generationswechsel verzeichnen,
20 NO 3 2 0 0 9 P R O J E C T X

Schwangerschaftsabbruch durchaus zu theoreti-


schen Komplikationen führen können und in post-
modernen Diskursen gerne ausgespart bleiben,
andererseits läuft auch die Kritik an Butler Gefahr
erneut in essentialistische Konzepte zu verfallen. So
schreibt auch Sarah Diehl in ihrem Buch
„Deproduktion – Schwangerschaftsabbruch im
internationalen Kontext“:

„Die Thematisierung von Schwangerschaft scheint


in unangenehmer Weise einem gerade überwunde-
nen Essentialismus Tür und Tor zu öffnen, da er
von reaktionären Stimmen als der ultimative Beweis
einer biologistischen Vorstellung von Weiblichkeit
dessen thematische und analytische Hintergründe
angeführt wird. Dabei bietet sich das Thema
den Bezug auf Schwangerschaft, nicht zuletzt weil
Abtreibung als ein Mittel zur Dekonstruktion von
ihnen das dazugehörige Subjekt verloren gegangen
Weiblichkeit an, da daran eine Vielfalt gesellschaft-
ist, verkomplizieren und dadurch auch gern negie-
lich relevanter Aspekte verhandelt werden kann, die
ren. Machte in den 1970ern das Recht auf repro-
in provozierender Weise Normvorstellungen über
duktive Selbstbestimmung noch einen bedeutenden
die Reproduktionsarbeit von Frauen in Frage stel-
Bestandteil feministischer Politik aus, scheint es in
len. Patriarchale Strukturen können auf der Ebene
Zeiten des so genannten Postfeminismus, in wel-
der Körperpolitik durch Genderbending ebenso
chem sowohl das biologische Geschlecht (sex) wie
angegriffen werden, wie durch die Forderung von
das soziale Geschlecht (gender) als gesellschaftliche
Frauen nach ihrer sexuellen Lusterfüllung und ihre
Konstrukte angesehen werden, schwierig sich dem
Kontrolle über ihre eigenen Körper.“ (Diehl: 2007,
weiblichen Körper, samt seiner reproduktiven
19)
Fähigkeiten, zu nähern. Für Butler, die wohl wich-
tigste Vertreterin des Postfeminismus, ist nicht nur
Postuterine Subjekte
„Geschlecht“ ein performatives Modell, welches sich
durch Wiederholung und Ausschluss konstituiert,
Dennoch ist es auch in der so genannten westlichen
sondern auch Materie. Butler zufolge ist diese
Welt um das Thema der Abtreibung niemals ruhig
immer etwas zu Materie Gewordenes und der
geworden. Außerdem zeigt sich, dass selbst die
Anschein von Festigkeit, Oberfläche und Dauer ein
rechtlichen Verbesserungen keinesfalls mit einer
Effekt von Macht. Die Materialität des biologischen
moralischen Legitimation des Frauenrechts einher-
Geschlechts (sex) selbst erscheint für sie ebenfalls
gehen und Frauen, selbst wenn sie legal abtreiben,
als eine kulturelle Norm, die die Materialisierung
gesellschaftlich um das moralische Recht noch
von Körpern regiert. Barbara Duden (1993a) kriti-
immer kämpfen müssen. So hat der Kampf für und
siert in ihrem Text „Frauen ohne Unterleib“ Butler
gegen den legalen Schwangerschaftsabbruch auch
in Bezug auf die Entkörperung der Frauen und die
zwei bedeutende „soziale“ Bewegungen gestärkt:
Enthistorisierung von Körpergeschichte, so dass sie
Die Frauenbewegung einerseits und die christlichen
ein postuterines Konstrukt schaffen würde, das aus
Rechten bzw. AbtreibungsgegnerInnen andererseits.
dem „phantomatischen Produkt neuer
In der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit
Subjektivität“ zu „der entkörperten Frau“ (Duden:
Abtreibung stoßen emanzipierte
1993a, 26) führt. In Butlers Schriften würde „die
Frauenrechtlerinnen folglich nicht nur auf staatliche
von Verkörperung von Theorie entkörperte Frau
Vorschriften, sondern vor allem auch auf morali-
(eda., 27), entstehen.
sche Bewertung, die ein Zeugnis für den andauern-
So zeigt sich, dass einerseits „Probleme“ wie
P R O J E C T X NO 3 2 0 0 9 21
den Einfluss der Kirchen liefern. Aber auch die gesell- ringern, wenn nicht aufheben, z.B. wenn die Mutter als
schaftspolitischen, ethnisch-religiösen und naturwissen- „feindliche Umwelt“ des Embryos deklariert wird.“ (von
schaftlichen Faktoren hatten maßgeblich Einfluss auf die Werlhof, Claudia: 1993, 53f.)
Rechtsentwicklung. So heißt es auch in dem von Frigga
Haug herausgegebenen Wörterbuch des historisch- Die normierenden und definierenden Diskurse über
kritischen Feminismus, welches mit keinem anderen Abtreibung erscheinen demnach nicht nur höchst
Wort als Abtreibung beginnt: bedenklich und kritisierenswert, sie legen auch fest, ob
von „Regulierung“ der Menstruation die Rede ist oder
„In allen bürgerlichen Staaten, zuletzt in der Schweiz, von der Tötung von Kindern und verunmöglichen
haben Frauen im Laufe des 20. Jahrhunderts gleiche gleichsam oftmals auch eine fruchtbare Auseinander-
Bürgerrechte wie Männer erhalten. Wenn in diesen Staaten setzung mit dem Thema. So kann eine zufriedenstellen-
der Abbruch einer Schwangerschaft unter Strafe gestellt de Debatte über Abtreibung nur geführt werden, wenn
wird, ergibt sich die paradoxe Situation, dass Frauen in 1) Frauen, sowie die mit Schwangerschaft verbundenen
Bezug auf ihre Fortpflanzungsorgane der Bürgerstatus Prozesse, nicht psychologisiert werden, 2) die mit
aberkannt ist. Das Eigentum am eigenen Körper, das aller- Schwangerschaft und Abtreibung verbundenen Gefühle
erst den männlichen Bürger auszeichnet ..., gilt in dieser nicht naturalisiert werden (weder Mutterschaftsgefühle
Hinsicht nicht für Frauen.“ (Haug: 2003, 1) noch schlechtes Gewissen sind natürlich, sondern
gesellschaftlich bedingt) und 3) reproduktive Rechte
So steht die staatlich festgeschriebene Pflicht zum und Frauenrechte nicht mit der Diskussion von „mora-
Austragen eines Kindes zweifellos im Widerspruch zur lischen“ oder „ethischen“ Themen verwechselt werden.
Selbstbestimmung über den Körper. Das Subjekt Frau „Denn so lange das moralische Recht auf Abtreibung
wird dem Objekt Körper gegenübergestellt, über wel- noch nicht gewonnen ist, wird es Abtreibungs-
chen Kirche und Staat seit geraumer Zeit verhandeln. gegnerInnen – welche Motivation sie auch immer haben
Das eigentliche Objekt der heutigen Abtreibungs- – immer wieder gelingen, das gesetzliche Recht auf
debatten ist der so genannte „Fötus“, der dann in den Abtreibung zu untergraben.“ (Diehl: 2007, 19)
Diskussionen mit einem vermeintlichen „Wert“ und
„Leben“ bestückt wird. Wie sich dieser Lebensanspruch
manifestieren konnte und dieser Fötus „beseelt“ wurde,
wird jedoch kaum noch hinterfragt. Vielmehr erhält der
Fötus den Status eines Rechtssubjekts (Duden:1993b,
31f), wird zum öffentlichen Fötus, der von Staat und
Kirche geschützt werden muss. Es zeigt sich, wie
Barbara Duden betont, „dass der intrauterine Fötus, von
dem heute alle sprechen, nicht ein Geschöpf Gottes oder
der „Natur“, sondern der modernen Gesellschaft ist.“
(ebd., 13) Gerade in den Diskursen rund um
Abtreibung hat der Terminus „Leben“ in den letzten
Jahrzehnten eine Umdeutung erfahren, die mit der
Umwertung der Frau als Versorgungssystem für den
Fötus einhergeht (Haug: 2003, 5) und diesen an Stelle
von Menschen setzt und mit Menschenwürde ausstattet.

„Es braucht Frauen nicht mehr zu wundern, wenn


plötzlich schon der Embryo bestimmte Rechte als
„menschlicher Körper“ genießt, die nicht etwa die
Rechte der werdenden Mütter vergrößern, sondern ver-
22 NO 3 2 0 0 9 P R O J E C T X

Marek Edelman - Ein Leben gegen das


Vergessen
„jüdischen Wohnbezirkes in Warschau“ sickern,
hinein in eine isolierte Welt voll Elend, Seuchen,
Terror und Hungersnot: „Das Warschauer Ghetto
glaubte diesen Berichten nicht. All diese Menschen,
die sich so an das Leben klammerten, waren unfä-
hig zu glauben, dass man ihnen dieses Leben auf
solch eine Weise nehmen könnte. Nur die organi-
sierte Jugend, die aufmerksam den sich steigernden
deutschen Terror beobachtete, hielt diese Ereignisse
tatsächlich für möglich und wahr und entschloss
erade gegen Ende seines Lebens wurde er sich, eine breit angelegte Propagandaaktion durchzu-
G unter einem Berg inoffizieller Auszeichnungen
begraben, die ihn wahlweise als „großen polnischen
führen, um die Bevölkerung darüber aufzuklären.“

Patrioten“, „hohe moralische Autorität“ oder Der Bund, linke wie rechte Zionist_innen und
schlicht und einfach als Helden in einem Licht Kommunist_innen drucken Ghetto-Zeitungen in
erscheinen lassen, in dem er sich selber nie gerne illegalen Werkstätten und unter schwersten
gesehen hat. Vermutlich im Jahre 1919 in Polen Bedingungen. Der deutsche Terror wird intensiver.
geboren, schloss sich Marek Edelman angesichts des Ghettobewohner_innen, die sich in der Hoffnung
aggressiv auftretenden Antisemitismus schon als auf ein bisschen Brot auf die „arische Seite“
Jugendlicher der polnischen Abteilung des geschlichen haben, werden massenhaft exekutiert
Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes an. Dem und die Zwangsrekrutierung von „Ghetto-Juden“
„Bund“, als sozialistische Partei der jüdischen zur Arbeit in deutschen Fabriken stützt auf perfide
Arbeiterinnen und Arbeiter, schwebte die Weise den Unglauben der Ghettobevölkerung zu
Verbrüderung mit der Russischen Revolution und Deportation und Vernichtung. Massenhaft Briefe
die Ausbreitung des Sozialismus vor. Während sich werden – toleriert und unterstützt von den Nazis -
einerseits ganz konkret mit dem Schutz vor antise- aus den Fabriken nach Hause geschickt und verlei-
mitischen Pogromen beschäftigt ten Angehörige und Bekannte zur
wurde, lag die Perspektive der „Die Menschen reden sich gegen- Annahme, dass die Vernichtungs-
„Bundisten“ jedoch nicht in der seitig ein, erklären sich selbst und nachrichten aus Chelmno und
Errichtung eines nationalen den anderen, dass nicht einmal die Lublin nicht der Realität entsprä-
Schutzraumes für Jüdinnen und Deutschen grundlos tausende von chen. Edelman, zu dieser Zeit
Juden im Sinne des Zionismus, Menschen umbringen würden.” schon mit der Beschaffung von
sondern im Glauben an die Waffen für die Kampfgruppen des
Auflösung des Antisemitismus in der sozialistischen Bundes beschäftigt, rekapituliert die ungläubige
Zukunftsgesellschaft. Kein anderes Leben wird in Haltung zum Unvorstellbaren:
der Öffentlichkeit so stark an den Aufstand im
Warschauer Ghetto geklammert wie das von Marek „Die Menschen reden sich gegenseitig ein, erklären
Edelman. Dieser schildert in seinem unmittelbar sich selbst und den anderen, dass nicht einmal die
nach der Befreiung verfassten Buch „Das Ghetto Deutschen grundlos tausende von Menschen
kämpft“, wie 1942 die ersten Nachrichten über umbringen würden (…) Einem normalen Menschen
Vergasungen in Chelmno durch die Mauern des bei normalem Geisteszustand fällt es schwer zu glau-
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ben, Menschen könnten nur deshalb getötet werden, weil der jüdischen Kampforganisation(ZOB) als Zusam-
sie eine andere Haar- und Augenfarbe haben und ande- menschluss aller existierenden jüdischen Parteien und
rer Abstammung sind.“ Verbände zur Organisierung des
„Der Zug fährt an. Die Gaskammern in bewaffneten Widerstandes im Falle
Bald darauf erreicht ein Treblinka erhalten neuen Fraß.“ der nächsten großen Deportations-
Augenzeugenbericht aus welle. Edelman wird vom Bund als
Treblinka das Ghetto, doch „der Hunger, der noch stär- Kommandant entsandt und leitet von nun an die
ker ist, überschattet alles andere durch das Bild von drei Aktivitäten im Bürstenmacher-Viertel des Ghettos. Der
braunen, gut durchgebackenen Brotlaiben(…)“, das Bund erhält regen Zulauf und erste Vergeltungs-
denen versprochen wurde, die sich freiwillig zur aktionen, vorwiegend gegen jüdische Ghettopolizisten,
Ausreise meldeten. Mit welcher Systematik sich die sorgen für einen Popularitätsschub in der Bevölkerung,
deutsche „Volksgemeinschaft“ in so unübersehbarer der inzwischen bewusst ist, dass „Aussiedlung den Tod
Weise ihren ausgemachten „Zersetzern“ entledigte, bedeutet.“ Bei der nächsten Liquidierungsaktion im
konnten die meisten Juden des Warschauer Ghetto im Januar 1943 widersetzen sich erstmals fünf Kampf-
Gegensatz zu ihren Mördern nicht begreifen, angesichts gruppen der ZOB. Nur unzureichend bewaffnet suchen
des Stückchen Lebens, an das es sich noch zu halten sie die bewaffnete Auseinandersetzung mit den
galt. Die Erinnerungen an die Räumung des „kleinen Deutschen, verlieren wieder einen Großteil ihrer
Ghettos“ drängen Marek Edelman zum ersten Mal in Kämpfer aber sorgen trotzdem für eine entscheidende
seinem Ghetto- Wendung der Geschichte des
Zeugnis in die Rolle Dieser „psychische Durchbruch“ markiert wohl Warschauer Ghettos:
des fühlenden den Moment der Einsicht für die Jüdinnen und
Beteiligten. Er analy- Juden im Warschauer Ghetto, dem Tod zwar nicht „Es ist nicht wichtig, wie viele
siert nicht und die entkommen zu können, ihm dennoch aber als Deutsche durch die Schüsse der
Überlegungen takti- Mensch entgegentreten zu können. Eben nicht so, ZOB gefallen sind. Wichtig ist
scher Manöver wei- wie in Treblinka, wo der entmenschlichte Mensch der Moment des psychischen
chen der Einsicht des auch noch dem individuellen Tod beraubt wird. Durchbruches. Wichtig ist, dass
Einzelnen in sein die Deutschen angesichts eines
grauenvolles Ende: „Der Zug fährt an. Die Gaskammern zwar schwachen, aber für sie überraschenden
in Treblinka erhalten neuen Fraß.“ Widerstandes, gezwungen waren, ihre Aktion abzubre-
Lange Aufzählungen von Namen seiner Genoss_innen chen. In ganz Warschau verbreiteten sich Legenden von
ziehen sich durch die Erinnerungen, von den deportier- Hunderten getöteter Deutscher, von der großen Stärke
ten und den übrig gebliebenen, den kämpfenden und der ZOB.“
den sterbenden. Sie alle sollten Zeugnis sein für die
Wahrheit, die Edelman nach dem Kriegsende zu ver- Dieser „psychische Durchbruch“ markiert wohl den
künden sucht. Deutlich wird dabei, dass es ihm weniger Moment der Einsicht für die Jüdinnen und Juden im
ein Anliegen ist, seine persönlichen Erfahrungen zum Warschauer Ghetto, dem Tod zwar nicht entkommen zu
Ausdruck zu bringen; nicht die Person Marek Edelman können, ihm dennoch aber als Mensch entgegentreten
im Warschauer Ghetto zu präsentieren, sondern die zu können. Eben nicht so, wie in Treblinka, wo der ent-
wehrhaften Jüdinnen und Juden um ihn herum, in sei- menschlichte Mensch auch noch dem individuellen Tod
nem Sinne: den Bund. beraubt wird. Die Polnische Heimatarmee (AK), die
Ende des Jahres 1942 konstituiert sich das Kommando größte Widerstandsorganisation im besetzten Polen,
24 NO 3 2 0 0 9 P R O J E C T X

welche der Exilregierung in London unterstand, Judenhass keinen Glauben mehr schenken konnten.
nahm die Bestrebungen der Bis kurz vor seinem Tod unter-
Juden im Warschauer Ghetto Als am 19.April 1943 hunderte streicht Marek Edelman seine
nicht ernst. Wurden die eigenen deutscher Soldaten in das Ghetto Funktion, nicht als Held oder als
Widerstandsgruppen mit einfallen, um die verbliebene jüdi- Märtyrer, sondern als Wachposten
umfangreichen sche Bevölkerung zu liquidieren, der Erinnerung, solange dies noch
Waffenlieferungen versorgt, stoßen sie auf erbitterten geht. Ob die Angst vor dem Tod
verhallten die zahlreichen Widerstand der jüdischen im Warschauer-Ghetto größer
Hilferufe der aufständischen Kämpferinnen und Kämpfer. war oder die Angst vor dem
Jüdinnen und Juden im Nichts. Vergessen? Die Angst vor dem
Dem Engagement einzelner Führungskräfte der AK Vergessen. Dem Vergessen der Shoa, der Täter und
war es zu verdanken, dass überhaupt einige wenige der Opfer. Marek Edelman hat stets dagegen
Pistolen und Sprengstoffe über die Mauern des gewirkt, dass vergessen wird: „Wenn die Erinnerung
Ghetto geschmuggelt wurden. nicht bleibt, dann kann sich alles wiederholen. Und
Als am 19.April 1943 hunderte deutscher Soldaten je mehr man sich erinnert und weiß, desto größer
in das Ghetto einfallen, um die verbliebene jüdische die Chance, dass es sich nicht wiederholt. Der
Bevölkerung zu liquidieren, stoßen sie auf erbitter- Mensch ist schlecht.“
ten Widerstand der jüdischen Kämpferinnen und
Kämpfer. Viele tote Deutsche und der Abbruch der Marek Edelman ist am 2.Oktober 2009 in Warschau
Aktion kennzeichnen den ersten Tag, den Edelman gestorben.
mit seinen Kampfgruppen im Bürstenmachergebiet
verbringt:

„Es lässt sich schwer von Sieg reden, wenn man um


sein Leben kämpft und so viele Leute verliert, aller-
dings können wir eines über diese Schlacht sagen:
„Wir vereitelten die Pläne der Deutschen. Lebendig
haben sie niemanden abtransportiert.“
Marek Edelman kann während der vollständigen
Zerstörung und Niederbrennung des Ghettogebietes
durch die Kanalisation flüchten und sich auf der
arischen Seite durchschlagen.
Nach der Befreiung studiert er Medizin und arbeitet
als Kardiologe in Lodz. Er engagiert sich in der
Solidarnosc, verurteilt antiziganistische Verbrechen
in Polen, bringt Lebensmittellieferungen ins umzin-
gelte Sarajevo und publiziert Bücher und Artikel zu
den Ereignissen im Warschauer Ghetto. Nach Israel
gehen stand für ihn nicht in Frage. In Polen immer
in der Konfrontation stehend, immer die Stimme
gegen etwas erhebend, aber dieses Land doch als
das seine beanspruchend, ungeachtet der Tatsache,
dass Tausende seiner Mitstreiterinnen und Mit-
streiter dem bundistischen Zukunftsversprechen der
Verwirklichung einer polnischen Gesellschaft ohne
P R O J E C T X NO 3 2 0 0 9 25

Frauenidentifizierte Frauen oder


keine Frauen?
Lesbische Selbstverständnisse in den 1970ern
Vom gemeinsamen „Wir“ zur Lesbenbewegung öffentlich und konfrontativ für die Befreiung von
Schwulen und Lesben eintraten und setzte somit
S c h w e r p u n k t

Während es heutzutage in (queer-)feministischen deutliche Schritte für die späteren Liberalisierungen.


Debatten vor allem um die so genannte Dekonstruk- Da die Frauen in der GLF jedoch unsichtbar blieben,
tion von Geschlecht und Identitätszwang geht, sahen gründeten 1970 in San Francisco einige GLF-Frauen
die lesbenpolitischen Aktivitäten der 2. Frauen- die „Gay Women's Liberation“. 1973 ging auch aus
bewegung Mitte der 1970er bis Beginn der 1980er der bürgerlichen Abspaltung der GLF, der „Gay
Jahre anders aus. Nicht die Dekonstruktion, sondern Activists Alliance“ die „Lesbian Feminist Liberation“
vor allem das Sichtbarmachen der eigenen weib- hervor. (Vgl. Klauda, Georg: 2004) Lesbische
lichen Homosexualität stand anfangs im Vorder- Feministinnen meldeten sich aber bereits auf dem
grund der Debatten, was auch die Bildung einer zweiten Jahreskongress der größten US-amerikani-
(feministischen) Lesbenidentität forcierte. Wenig schen Frauenvereinigung, der „National Orga-
später zeigte sich jedoch, dass das gemeinsame „Wir“ nisation for Women“ (NOW) am 1. Mai 1970 in New
der Frauenbewegung von vielen lesbischen York erstmals öffentlich zu Wort indem sie vor Ort
Protagonistinnen nicht länger mitgetragen werden das „Manifest der Frauenidentifizierten Frau“ verteil-
konnte und sich nach und nach eine Lesben- ten. Die umstrittene Frage, „Was ist eine Lesbe?“,
bewegung (1) bildete. Aber auch in der beantworten sie darin folgendermaßen: „Eine Lesbe
Lesbenbewegung wurden ist die Wut aller
Differenzen betont und Mehr- Frauen, verdichtet bis
fachidentitäten festgestellt. Diese zum Punkt der
Differenzierungen hatten somit Explosion. Lesbisch
zwar einerseits ein zunehmend ist das Wort, das
verstärktes Bewusstsein für ande- Etikett, der Zustand,
re gesellschaftliche Diskrimi- der Frauen auf Linie
nierungsfaktoren mit sich hält. ... Lesbisch ist
gebracht, andererseits hatte diese ein Label, das vom
Entwicklung nach der Loslösung Mann erfunden
der Lesbenbewegung von der wurde, um es auf jede
männlich dominierten Schwulenbewegung, sowie Frau zu werfen, die es wagt, seinesgleichen zu sein,
der heteradominierten Frauenbewegung, auch seine Vorrechte in Frage zu stellen ... das Primat
Konfliktpotential innerhalb lesbischer, politischer ihrer eigenen Bedürfnisse zu behaupten. Es ist das
Zusammenhänge zur Folge. Primat von Frauen, die sich auf Frauen beziehen ...
die Basis für die Kulturrevolution.“ (zit. nach Klauda:
Entstehung der Lesbenbewegung in den USA 2004)
Nicht zuletzt konfrontierten die Verteilerinnen des
Die Gründung der „Gay Liberation Front“ (GLF) in Manifests auch das Abschlussplenum des Kongresses
den USA ist rund um den berühmten Stonewall- mit ihren Standpunkten und gründeten im
Aufstand (2) im Juni 1969 in New York anzusetzen. Anschluss die "Radicalesbians". (Vgl. Klauda: 1999)
Sie stellte eine der ersten Organisationen dar, die Nicht viel später gründeten sich 1971 in Washington
26 NO 3 2 0 0 9 P R O J E C T X

D. C. außerdem die „Furien“, welche vor allem als 1970er Jahre. Lesben begannen sich innerhalb der
Vertreterinnen des lesbischen Separatismus auf sich Frauenbewegung zu outen und sich im Rahmen
aufmerksam machten. So meinte beispielsweise Rita schwuler Gruppen zu organisieren. So entstand
Mae Brown, eine Gründerin der besagten Gruppe: 1972 beispielsweise die „Frauengruppe der
„Heterosexuelle Frauen werden durch Männer ver- Homosexuellen Aktion Westberlin“ (HAW), die sich
wirrt, setzen Frauen nicht an erste Stelle. [...] Sie jedoch 1975 in „Lesbisches Aktionszentrum“ (LAZ)
verraten Lesben und zuletzt verraten sie auch sich umbenannte und sich zunehmend dem lesbischen
selbst.“ (Vgl. Klauda: 1999) Die „Furien“ versuchten Feminismus zuwandte und sich in weiterer Folge
außerdem das Programm des lesbischen Separa- von der HAW politisch weg entwickelte. Auch die
tismus auf die Organisation des privaten Lebens zu Ausstrahlung des Films „...Und wir nehmen uns das
übertragen. In der ersten Nummer ihrer gleichna- Recht! Lesbierinnen in Deutschland“ (BRD 1974,
migen Zeitschrift hieß es über den Lesbianismus: Regie: Claus-Ferdinand Siegfried) führte zur
„Lesben müssen Feministinnen werden und gegen Gründung der „Gruppe L74 Berlin“ (vgl. ebd.).
die Unterdrückung von Frauen kämpfen, genau wie Über die Entstehung der Lesbenbewegung in Öster-
Feministinnen Lesben werden müssen, wenn sie reich schreibt Ulrike Repnik (2001, 228): „Von einer
männliche Herrschaft zu beenden hof- gewissen Bedeutung ist sicher
fen.“ (zit. nach Klauda: 1999). So zeigt auch die Strafrechtsreform von
sich an Hand dieser ausgewählten Text- 1971, mit der das Verbot von
ausschnitte zweier Gruppen aus den Homosexualität (3), das auch
USA, dass weder die Einschätzungen lesbische Frauen betraf, abge-
lesbischer Identitäten noch des schafft wurde.“ Die erste lesbi-
Lesbianismus eine homogene sche Frauengruppe entstand
Vorstellung verfolgten, sondern viel- jedoch erst 1976 im Rahmen
mehr kontraversiell diskutiert wurden. eines Arbeitskreises der auto-
nomen AUF (Aktion unabhän-
Entstehung der Lesbenbewegung in giger Frauen), die Frauen-
Deutschland und Österreich gruppe der 1979 von schwulen
Männern gegründeten HOSI
Dennert, Leidinger und Rauchut (Homosexuellen Initiative) erst
(2007a, 43) betonen in ihrem Beitrag 1981 (vgl. ebd. 228). Auch die
„Lesben in Wut – Lesbenbewegung in Rosa Lila Villa, ein desolates
der BRD der 70er Jahre“ betonen: „In der BRD Haus der Gemeinde Wien, wurde sowohl von
waren es dagegen zwei Filme, die Anstöße für die Schwulen als auch Lesben bezogen.
Gründung von (Schwulen- und) Lesbengruppen
und schließlich für die Lesbenbewegung in der BRD Die Entstehung der politischen
gaben.“ So gilt in Deutschland vor allem die Lesbenbewegung
Uraufführung des Films „Nicht der Homosexuelle
ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“ Trotz der beschriebenen anfänglichen
(BRD 1970, Regie: Rosa von Praunheim, Text: Schwierigkeiten sowie der notwendigen
Martin Dannecker) bei den Berliner Filmfestspielen Abgrenzung von der Frauenbewegung sowie der
1971 als „Initialzünder“ der Schwulenbewegung. männlich dominierten Schwulenbewegung, wurde
Sowohl die „Homosexuelle Aktion Westberlin“ nicht nur die Bezeichnung „Lesbe“ zunehmend zu
(HAW) als auch die „Rote Zelle Schwul“ (ROTZ- einer politischen Kategorie, sondern auch die
SCHWUL) in Frankfurt gründeten sich im selben Lesbenbewegung. In Deutschland ließen sich u.a.
Jahr. Die Lesbenbewegung in der BRD und auch in die Bewegungszeitschriften „Lesbenpresse“, „Unsere
Österreich konstituierte sich ebenfalls im Laufe der Kleine Zeitung“, „Lesbenstich“ sowie „IHRSINN“
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finden. (Vgl. Dennert/ Leidinger/ Rauchut: 2007b, 151) Leidinger/ Rauchut: 2007b, 130f.) So schreiben auch
In Österreich wiederum wurden in der AUF Debatten Dennert, Leidinger und Rauchut (2007b, 127):
geführt, und auch die Hosi-Lesben waren in den „Unterschiede (oder auch Differenzen) zwischen
„Lambda Nachrichten“ mit Beiträgen vertreten und (Frauen)Lesben wurden in den Mittelpunkt lesbenbewe-
beteiligten sich 1989 an der Organisation der ILGA gungsinterner Debatten gerückt und die Verstrickungen
(International Lesbian and Gay Association). (Vgl. in unterschiedliche Herrschaftsverhältnisse, v.a.
Repnik: 2001, 226f.) Zentrale Diskussionsthemen der Antisemitismus und Rassismus, diskutiert. Die 80er
Lesbenbewegung waren bzw. sind teilweise bis heute, so waren die Zeit der „Reklamation bisher ausgegrenzter
zeigt es sich beispielsweise in dem Sammelband „In Identitäten“, der „Mehrfachidentitäten“ - „Binde-Strich-
Bewegung bleiben. 100 Jahre Politik, Kultur und Lesbe“ prägte 'die' Szene.“ Gleichzeitig ließ sich in den
Geschichte von Lesben“ sowie in Bezug auf Österreich 1980ern auch eine Institutionalisierung der Lesben- und
in den Ausführungen des von Hanna Hacker und Schwulenbewegung bemerken, wie es sich 1982 an der
Brigitte Geiger herausgegebenen Bands „Donauwalzer Gründung des „Lesbenrings“ als Dachorganisation les-
Damenwahl“, die Unsichtbarkeit von Lesben, Fragen bischer Frauen und 1986, als dessen schwules Pendant,
rund um den Lesben-Hetera-Konflikt, die unterschied- dem Bundesverband Homosexualität (BVH) verzeich-
lichen Separatismusformen sowie die Avantgardefrage. nen ließ(vgl. ebd., 138f.).
Aber auch Themen wie (Bi-)Sexualität,
Kriminalisierung, Gewalt gegen Frauen/Lesben sowie Lesbische Selbstverständnisse
der Kampf gegen den deutschen §218 sowie den öster-
reichischen §144 der jeweiligen Strafgesetzbücher mach- In den USA verabschiedete sich die lesbisch-feministi-
ten Teil der Debatten aus. Lesben beteiligten sich aber sche Bewegung bereits in den 1970ern von dem Begriff
auch stark im Häuserkampf sowie in den Anti- „gay“ und adaptierte indessen Bezeichnungen wie „les-
Apartheid-, Anti-Kriegs-, Anti- Zentrale Diskussionsthemen der bian“ und „dyke“. Auch die
AKW-Bewegungen und setzen Lesbenbewegung waren bzw. sind teilweise Schreibweise des englischen
sich auch mit Gen- und bis heute [...] die Unsichtbarkeit von Lesben, Worts „women“ wurde mit
Reproduktionstechnologien, Fragen rund um den Lesben-Hetera- den Schreibweisen "womyn",
Imperialismus, Internationalismus Konflikt, die unterschiedlichen "womon" oder "wimmin"
etc. auseinander. Auch die regel- Separatismusformen sowie die variiert um nicht weiter den
mäßigen Veranstaltungen wie in Avantgardefrage. männlichen Wortstamm
Deutschland die „Berliner „man“ in dem Wort beizube-
Lesbenwoche“ (1985-1997) oder das halten. (Vgl. Klauda: 1999) Im deutschsprachigen
„Lesbenfrühlingstreffen“ trugen einen wichtigen Teil zur Bereich hingegen wurden am Beginn der 1970er
Konstitution der Lesbenbewegung bei. Auch in Öster- Begriffe wie „homosexuelle Frauen“ oder „schwule
reich wurden ab 1980 Lesbentreffen veranstaltet. Frauen“ zur Selbstbezeichnung herangezogen, vereinzelt
In den 1980ern führten Ausdifferenzierungen sowie nannten sich manche bereits lesbische Frauen. (Vgl.
auch die anhaltenden Debatten rund um Rassismus, Dennert/ Leidinger/ Rauchut: 2007a, 35) Die positive
Antisemitismus, Behindertenfeindlichkeit und Gewalt Selbstbezeichnung „Lesbe“ und das damit verbundene
in den eigenen Reihen zur Herausbildung so genannter Verständnis einer politischen Kategorie ist zweifellos aus
Bindestrich- bzw. Mehrfachidentitäten, die dann dem Kontext der westlichen Frauenbewegung hervorge-
(Selbst-)Bezeichnungen wie schwarze Lesbe, jüdische gangen und das Produkt bestimmter kultureller, histori-
Lesbe, Prol-Lesbe, Krüppel-Lesbe mit sich brachten. scher und politischer Bedingungen.
Aber auch entlang politischer Differenzen kam es zu Zentrale Punkte in der Entwicklung des politischen
Bezeichnungen wie Polit-Lesbe, Anti-Imp(erialismus)- Selbstverständnisses der Lesbenbewegung sowie ihrer
Lesbe oder in Hinblick auf Vorlieben entstanden die Protagonistinnen stellten in den 1970ern zweifellos die
SM-Lesbe, Land-Lesbe oder Spiri-Lesbe. (Vgl. Dennert/ Selbsterfahrung (conciousness raising), die betriebene
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Öffentlichkeitspolitik sowie der florierende Zugang das in den 1970ern auch im deutschsprachigen
zu (feministischer) politischer Theorie dar. Da es Raum, nachdem es im Sammelband „Frauenliebe -
bei der Selbsterfahrung vor allem darum ging, dass Texte aus der amerikanischen Lesbierinnen-
Frauen und Lesben sich über ihre Erfahrungen aus- bewegung“ vom LAZ auf Deutsch veröffentlicht
tauschten und in den Vordergrund rückten, was sie wurde, großen Anklang fand. Sich mit Frauen zu
(gesellschaftlich) mit anderen Frauen teilten, wurde identifizieren stand als Abgrenzung auch durchaus
die „Bewusstseinsmachung“ gemeinsamer Stärken in einem Zusammenhang mit der anfänglich betrie-
forciert. Auch der Slogan „Das Private ist politisch!“ benen Identifikation mit schwulen Homosexuellen.
gewann zunehmend an Bedeutung und so wurde (Vgl. Dennert/ Leidinger/ Rauchut 2007a, 48)
politische Agitation sowohl auf der Straße als auch Gleichzeitig bedeutet es auch, dass Sexualität nicht
im eigenen Heim betrieben und mit einer wirksa- auf Triebe oder Naturkonzepte zurückgeführt
men Öffentlichkeitsarbeit und -politik verbunden. wurde, sondern auf die eigene Entscheidung bzw.
Auch die Reflexion über Erfahrungen sowie gesell- das soziale Handeln. So heißt es in dem 1975 von
schaftliche und politische (Lebens-)Situation durch der selben Gruppe verfassten Text „Frauen, die sich
die Theorie beeinflusste die Protagonistinnen der mit Frauen identifizieren“ (zit. nach LAZ Westberlin
Lesbenbewegung. In diesem Zusammenhang 1976, 14): „In einer Gesellschaft, in der Männer
gewann auch der Begriff der „zweifachen Frauen nicht unterdrücken und Sexualität sich ent-
Unterdrückung“ an Bedeutung, weil Lesben eben sprechend den Gefühlen ausdrücken darf, würden
nicht nur als Frauen („Spezialfall der Kategorien wie Homosexualität und Hetero-
Frauenunterdrückung“) sondern auch auf Grund sexualität verschwinden“.
ihrer sexuellen Orientierung („Spezialfall der allge- Sexologische Annäherungen an Lesbisch-Sein wur-
meinen Sexualunterdrückung“) unterdrückt wur- den durch frauenidentifizierte Erfahrungen ersetzt.
den. In diesem Sinne hieß es in einem Text der In diesem Sinne meint auch Andrea Bührmann in
HAW- Frauengruppe (1974, 24) beispielsweise: ihrem Werk „Das authentische Geschlecht“ (1995,
„Zwar begegnet man homosexuellen Frauen mit 186): „Im Gegensatz zu allen anderen Beziehungen
größerer Toleranz als männlichen Homosexuellen; sollte den lesbischen Frauenbeziehungen ein sub-
diese Toleranz aber ist lediglich „In einer Gesellschaft, versiver Charakter gegenüber dem Patriarchat
darauf zurückzuführen, daß der in der Männer Frauen innewohnen, da Frauen (...) die Chance erhiel-
weiblichen Sexualität in dieser nicht unterdrücken und ten, sich von „männlichen Werten zu entfer-
Gesellschaft eine untergeordne- Sexualität sich entspre- nen“. Wichtig schien außerdem, dass ein neues
te Funktion zugestanden wird.“ chend den Gefühlen Bewusstsein von und mit Frauen entwickelt
„Lesbischsein“ und Homo- ausdrücken darf, wür- werden müsste (ebd., 18) und dass die
sexualität wurden auf diese Art den Kategorien wie Bedeutung der Kategorie „Lesbe“ einhergeht
und Weise zunehmend als poli- Homosexualität und mit der Infragestellung des Konzepts „Frau“.
tische Kategorien und Ident- Heterosexualität ver- Als Vertreterinnen eines Separatismus lehnten
itäten verstanden und nicht als schwinden“ die Radicalesbians auch die Zusammenarbeit
etwas „Natürliches“. So schreiben auch Dennert, mit Männern ab. Außerdem wurden natürlich patri-
Leidinger und Rauchut (2007a, 45): „Selbst- archale heterosexuelle Modelle wie Ehe und Familie
erfahrung war die Grundlage für die Politisierung in Frage gestellt und nach alternativen Beziehungs-
von FrauenLesben (und Schwulen)“ konzepten und Wohnformen gesucht.

Radicalesbians: „Frauenidentifizierte Frauen“ Monique Wittig: „Lesben sind keine Frauen“

Die US-amerikanische Gruppe „Radicalesbians“ Natürlich irritierten auch Lesben in den 1970ern
geht in ihrem Selbstverständnis des Lesbisch- Seins durch Auftreten, Lifestyle und Agitation. So mach-
von dem Konzept „Frauenidentifizierte Frauen“ aus, ten provokative Aktionen wie Kiss-Ins, Straßen-
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theater und Infostände ebenso einen fixen Bestandteil wählen konnten und dazu stehen konnten oder auch
ihres politischen Auftretens aus wie bestimmte Outfits nicht. Diese Herangehensweise machte in weiterer Folge
wie Kurzhaarschnitte oder Latzhosen, die nicht zuletzt auch Begrifflichkeiten wie „coming out“ oder „outing“
darauf abzielten, gängige Geschlechterbilder in Frage zu obsolet, da es in erster Linie um Bewusstseinswerdung
stellen. Lesben wurden immer wieder mit dem abwer- ging. Als alternative Begrifflichkeiten wurde in diesem
tenden Vorwurf konfrontiert, keine „richtigen Frauen“ Zusammenhang von „going public“ oder „aus dem
zu sein. Diesen Ansatz nahm Monique Wittig (1992, 32) Schrank kommen“ gesprochen, womit vor allem die
auf, indem sie meinte, „it would be incorrect to say that Deklaration vor dem eigenen Umfeld gemeint war.
lesbians associate, make love, live with women, for Gleichzeitig wurde Lesbisch-Sein auch als eine
“woman” has meaning only in heterosexual systems of Widerstandsform gegen das Patriarchat betrachtet, die
thought and heterosexual economic systems. Lesbians nicht notwendiger Weise politisch und/ oder femini-
are not women." In dieser Aussage lag Martina Witte stisch sein musste. In diesem Sinne meinte Johnston
(2007, 317) zufolge auch „etwas überaus Gewagtes und auch: „bis alle Frauen Lesbierinnen sind, wird es keine
Verbotenes. Gleichzeitig beinhaltete diese Aussage eine wirkliche politische Revolution geben.“ (zit. nach
unglaubliche Befreiung von Verhaltensregeln, die alle Dennert/ Leidinger/ Rauchut: 2007a, 50) Vor diesem
Frauen gelernt hatten, und verstärkte des Verlangen Hintergrund wurde auch die Idee der „lesbischen
nach Unabhängigkeit von Männern inklusive der Nation“ populär, und wenngleich diese nie als „Nation“
Schwulen, von Heteras – eben von allen, für die Lesben umgesetzt wurde, bemühten sich viele Lesben um eine
und Lesbenpolitik marginal waren.“ Wittig kritisierte separate Frauenkultur in Form von eigenen
folglich Heterosexualität als ein politisches System, dem Frauenpublikationen, Frauenbuchhandlungen,
sich Lesben verweigern müssten. Auch den Mythos Frau Frauencafés und -restaurants, Frauenfesten und -festi-
verwirft sie, da er ohnehin nur in heterosexuellen Denk- vals und dergleichen. (vgl. Dennert/ Leidinger/ Rauchut:
und Ökonomiestrukturen einen Sinn machen würde, 2007a, 48f.) In „Lesbian Nation“ wurde folglich auch der
weil die Kategorie „Frau“ eben nur in Relation zum Begriff des Lesbischen Feminismus geprägt.
Mann existieren würde. Im Lesbianismus erkennt sie
eine Form der Verweigerung. Adrienne Rich: „Das lesbische Kontinuum“
Obgleich die beiden Konzepte „Lesben sind Frauen, die
sich mit Frauen identifizieren“ und „Lesben sind keine Anfang der 1980er entwickelte Adrienne Rich das
Frauen“ in einem Widerspruch zu einander zu stehen umstrittene Konzept des „Lesbischen Kontinuums“, in
scheinen, muss betont werden, dass bei den welchem sie davon ausging, dass weibliche
Radicalesbians das neu zu entwickelnde neue Homosexualität das „Brechen eines Tabus“ und die
Bewusstsein im Vordergrund ihrer theoretischen Über- „Ablehnung einer erzwungenen Lebensweise“, der
legungen stand, wohingegen es Wittig in erster Linie Zwangsheterosexualität, sowie der „Widerstand gegen
darum ging, die tradierten Heterostrukturen zu untersu- die Versklavung der Frau“ wäre. Wenngleich die Frage
chen. nach den Wurzeln der Frauen“versklavung“ durch
Männer unbeantwortet bleibt, sollen diese
Jill Johnston: „Alle Frauen sind Lesben, bis auf Herangehensweisen eine Identitätsfindung und
die, die es noch nicht wissen“ Subjektwerdung für Frauen ermöglichen. So schreibt sie
in dem Aufsatz „Zwangsheterosexualität und lesbische
Ein weiteres Selbstverständnis von Lesbisch-Sein machte Existenz“ (in List, Elisabeth/ Studer, Herlinde: 1989,
der in Jill Johnstons „Lesbian Nation“ entwickelte 264):"Der Begriff lesbisches Kontinuum umschließt für
Ansatz „Alle Frauen sind Lesben, bis auf die, die es mich eine ganze Skala frauenbezogener Erfahrungen,
noch nicht wissen“ aus. Auch die Gruppe Lavender Jane quer durch das Leben jeder einzelnen Frau und quer
sang „any woman can be a lesbian“. Diesem Verständnis durch die Geschichte hindurch- und nicht einfach die
zufolge kann jede Frau eine Lesbe sein, und Lesbisch- Tatsache, dass eine Frau genitale Sexualität mit einer
Sein stellte vielmehr eine Identität dar, die Frauen frei anderen Frau erlebt hat oder sich bewusst wünscht. "
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In allen Ansätzen wird Zwangsheterosexualität in gegen das Patriarchat verstanden wird, gilt es nicht
Frage gestellt und von unterschiedlichen mehr als Privatsache, sondern als „das Problem von
Standpunkten aus betrachtet allen Frauen.“ (Bührmann: 1995,
„Ziel der Separierung war u.a., sich
sowie die Befreiung aus eben- 184) Auch sexuelle Praxen, die mit
nicht mehr in Auseinander-
diesen Strukturen angestrebt. Penetration verbunden waren, gal-
setzungen über die Frage nach der
ten oftmals als verpönt und so
Existenzberechtigung des Wortes
Lesbischer Separatismus wurden auch Sextoys abgelehnt
'Lesbe' oder über die empfundene
und in Summe dem Orgasmus
politische Notwendigkeit eigener
Den Hintergrund der weniger Wichtigkeit zugeschrie-
Lesbenräume aufzureiben.“
Differenzdebatten machte zwei- ben. Gleichzeitig gaben sich sepa-
fellos der Umstand aus, dass Lesben begannen, sich ratistische lesbische Strömungen auch oftmals
zunehmend als politische Subjekte wahrzunehmen bestimmte Verhaltensregeln wie das Verbot der
und sich sowohl die Zusammenarbeit mit der Partizipation in gemischten Gruppen vor.
Schwulenbewegung als auch mit der Außerdem kennzeichneten sich separatistische
Frauenbewegung als äußert konfliktreich bewiesen Gruppen oftmals als stark antimarxistisch sowie
hatte. Dabei lassen sich unterschiedliche Ebenen des antipsychoanalytisch. Martina Witte (2007, 317)
Separatismus festmachen: Ein allgemeiner beschreibt in ihrem Text „Lesbische Separatistinnen
Separatismus, der auf die Loslösung von Frauen von in der autonomen Szene“ ein dreitägiges, überregio-
Männern abzielt; ein Separaratismus unter Frauen, nales Treffen, das 1989 in Bochum von unterschied-
der als Konsequenz des Lesben-Hetera-Konflikts lichen separatistischen Gruppen organisiert wurde,
zur Loslösung der Lesben von den Heteras führte; bei dem auch „unterschiedliche Auffassungen, was
sowie ein Separatismus innerhalb der Separatismus ist und wozu er dienen solle“ disku-
Homosexuellenbewegung, bei dem es um die tiert wurden. „Der beschriebene inhaltliche Ansatz
Trennung der Lesben von der männlich dominier- war die Grundlage dafür, relativ offen über eigene
ten Schwulenbewegung geht. Gleichzeitig lassen politische Entwicklungen, über Lebensentwürfe und
sich aber auch Differenzen unter Lesben finden, Identitäten zu sprechen, was vorher in anderen
wobei hier nicht von Separatismus die Rede ist. Gruppen auf diese Weise nicht stattgefunden hatte.“
Während es beim allgemeinen Separatismus vor (ebd.)
allem um die bereits ausgeführten Ansätze ging, So rief die Separierung der lesbischen Teile homo-
Lesbianismus als Widerstandsform gegen das sexueller Gruppen zwar zumeist starke Kritik her-
Patriarchat und die gesamte Männerwelt als Feind vor, die Unsichtbarkeit von Lesben sowie die
zu betrachten und sich von ihr loslösen zu müssen, Ignoranz gegenüber den Problemen von Frauen lie-
wurde beim Separatismus unter Frauen vor allem ßen ihnen jedoch oftmals keine andere Möglichkeit.
das schwesterliche „Wir Frauen“ zunehmend in „Aus der separatistischen Bewegung kommen die
Frage gestellt. „Ziel der Separierung war u.a., sich stärksten Impulse zum Aufbau einer Frauenkultur,
nicht mehr in Auseinandersetzungen über die Frage weil Separatistinnen sich nur auf Frauen beziehen.
nach der Existenzberechtigung des Wortes 'Lesbe' [...] Separatistinnen wollen aber die Probleme, die
oder über die empfundene politische Notwendigkeit Frauen mit Frauen haben, angehen.“ zitieren auch
eigener Lesbenräume aufzureiben.“ (Witte, Martina: Dennert, Leidinger und Rachut (2007a. 51) „Die
2007, 317) Diese Tendenzen gingen aber soweit, Bastionen der Frauenkultur reichen von männer-
dass bestimmte lesbische Separatistinnen den freien Wohnungen (Lesbenwohngemeinschaften,
Kontakt mit Heteras komplett verweigerten und die kein Mann betritt) [...] bis hin zum Rückzug aus
auch keine Solidarität für jene Frauen übrig hatten, den Städten und der Bildung von Lesbenkollektiven,
da sie „Klassen-Kollaborateurinnen“ wären und den Lesbendörfern auf dem Land.“ (ebd.)
Männern an der Aufrechterhaltung des Patriarchats Bei den Differenzen unter Lesben ging es, wie eben-
dienen würden. „Weil Lesbisch-Sein als Rebellion falls schon in Bezug auf Rassismus, Antisemitismus
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2 2 0 0 9 31
und Behindertenfeindlichkeit angesprochen, vor allem muss.
um die Wahrnehmung bzw. Nicht-Wahrnehmung von Wenn es heute Anhängerinnen queer-feministischer
Differenzen durch eine verallgemeinernde, für alle spre- Ansätze darum geht, genau jene Kategorien abzuschaf-
chende Perspektive, die gesellschaftliche Ausschlüsse fen (bzw. zu dekonstruieren), nach denen die
reproduzierte. Unterschiede wie „Schichten- und Abgrenzungen und Loslösungen in den 1970ern betrie-
Klassenwidersprüche“ wurden in weiterer Folge (end- ben wurden, zeigt sich nicht nur eine radikale
lich) thematisiert. In diesem Sinne schrieben beispiels- Kursänderungen sondern vor allem auch ein unüber-
weise die HAW-Frauen (1974, 54):„...wir wissen, daß die brückbarer Unterschied zwischen zwei verschiedenen
homophile unternehmerin bereits sehr viel bessere feministischen Ansätzen. Dies verdeutlicht sich beispiel-
möglichkeiten hat, ihre schwulen interessen zu realisie- weise in Wien an den immer wiederkehrenden
ren als eine büroangestellte oder arbeiterin. und deshalb Debatten, ob Transgenderpersonen Zugang zum
müssen wir in unserem kampf prioritäten auf die inter- „Frauencafé“ oder „FrauenMädchenLesbenZentrum“,
essen derjenigen setzen, die am meisten aufgrund ihrer dem wahrscheinlich einzigen Projekt in Wien, das nach
klassen- und schichtlage unterdrückt sind. (...) weil wir wie vor einen separatistischen Ansatz verfolgt (4), haben
sonst wieder ein neues prinzip von normalität aufstellen sollten oder nicht. Gleichzeitig wird auch klar, dass zeit-
würden, das uns herrschenden unterdrückungsnormen genössische feministische Zusammenhänge kaum ein
anpaßt“. Aber auch Eva Schäfer weiß in dem Aufsatz: ausgewogenes Verhältnis erreicht haben zwischen der
„Postmoderne Implikationen im Feminismus - der ost- fortbestehenden Notwendigkeit von Frauenräumen und
deutsche Kontext“ (1998, 6) um die Unterschiede von der gleichzeitigen Notwendigkeit, Kategorien, die zur
Lesben in der DDR Bescheid: „Die Frauen und Lesben, gesellschaftlichen Diskriminierung dienen, zu bekämp-
die zu Beginn der achtziger Jahre die ersten Gruppen fen.
gründeten oder auch einzeln an verschiedenen Orten
(1) Gabriele Dennert, Christiane Leidinger und Franziska Rauchut
patriarchatskritische Gedanken entwickelten, richteten (2007c, 10) meinen in der Einleitung zu dem von ihnen herausgege-
sich konsequenterweise gegen das paternalistische staat- benen Werk zum Begriff „Lesbenbewegung“: „Als politische
Selbstbezeichnung ist die Verwendung des Begriffs
lich gesetzte ‘Wir’, das selbst noch das 'Lesbenbewegung' für die (alte) BRD unbestritten. Auch wissen-
schaftlich betrachtet gibt es Argumente, zumindest die
Emanzipationsideal ‘für unsere Frauen’ entwarf und per Lesbenbewegung der BRD als neue soziale Bewegung und nicht ein-
Parteibeschluß bestimmte, wann das Ziel erreicht war. fach als ein Potpourri verschiedener sozialer Gruppen von Lesben zu
bezeichnen. Der Unterschied liegt dabei im Netzwerkcharakter und
(...) Das, was feministisches Denken in den achtziger der Kontinuität der politischen Arbeit. Weitere wichtige Kriterien
einer sozialen Bewegung sind: ein Wir-Gefühl als Bewegung, varia-
Jahren in der DDR provozierte, war nicht einfach die ble Organisations- und Aktionsformen und das Ziel, einen grundle-
männliche Geschlechterdominanz, sondern deren genden sozialen Wandel herbeizuführen.“

Ausformung in staatsautoritärer Macht. Feministinnen (2) Beim Stonewall-Aufstand bzw. den Stonewall-Unruhen handelte
es sich um eine gewalttätige Auseinandersetzung zwischen
reagierten nicht nur darauf, was ‘Frau-Sein’ hier bedeu- Homosexuellen und Polizeibeamten nach einer Polizeirazzia im Juni
ten sollte. Sie reagierten auf das staatlich vereinnahmen- 1969 im Stonewall Inn, einem Schwulenlokal in der Christopher
Street in New York City. Da sich eine große Gruppe Homosexueller
de ‘Wir’ überhaupt. In den Frauen- und Lesbengruppen der Verhaftung widersetzte, wird dieses Ereignis gerne als positives
Beispiel im Kampf für Schwulen- und Lesbenrechte hervorgehoben.
lernten Frauen nicht nur zu sagen ‘ich als Lesbe’, sie Am Christopher Street Day, auch als Gay Pride bekannt, wird jedes
lernten auch ‘Ich’ zu sagen - in Abwehr des kollektiven Jahr des Aufstandes gedacht.
sozialistischen ‘Wir’.“ (3) „Gleichzeitig wurden aber drei völlig neue Strafbestimmungen
eingeführt. So wurde für notwendig erachtet, „Werbung für Unzucht
So wurde in separatistischen Zusammenhängen auch an mit Personen des gleichen Geschlechts oder mit Tieren“ zu bestrafen
die Parole „Sisterhood is powerful“ – „it can kill you!“ und „Verbindungen zur Begünstigung gleichgeschlechtlicher
Unzucht“ sowie männliche Prostitution unter Strafe zu stellen, letzte-
angehängt. Separatistische Modelle ließen sich lange re mit strengem Arrest bis zu zwei Jahren.“ (Dobias, Stefan: 2001,
173) Das Verbot homosexueller Prostitution wurde erst 1989 abge-
Zeit in Lesbenbewegungen bzw. lesbisch organisierter schafft, das Werbe- und Vereinigungsverbot 1996. Erst 2000 bestätig-
Zusammenhänge unterschiedlicher Länder finden. te das Oberlandesgericht Graz, dass somit auch der Vertrieb homo-
sexueller Pornographie nicht mehr strafbar sein könne. (Vgl.ebd.)
Dennoch scheint es wichtig festzuhalten, dass die
Anerkennung von Differenzen nicht notwendiger Weise
(4) Vgl. z.B. http://www.anschlaege.at/2006/0605ansage2.html,
mit der Loslösung von anderen ProtagonistInnen einer
http://www.anschlaege.at/2006/ansage1.html
Bewegung im Sinne eines Separatismus einhergehen
32 NO 3
2 2 0 0 9 P R O J E C T X

If I can't fuck it's not my revolution!


Hetero - Norm – Ausgrenzung
Gegen Homophobie und Transphobie, also die Also mal von vorne: Familie, Schule, Arbeit,
Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer Medien, Partys, Sport, und und und - die Hetero-
Geschlechtsidentität oder ihrer sexuellen normativität durchzieht alle wesentlichen gesell-
Orientierung zu sein ist zumindest auf Aufklebern, schaftlichen und kulturellen Bereiche; „gesunde“
manchen Transpis und Flyern in der österreichi- Körperlichkeit wird als heterosexuell definiert. Es
schen Linken weitestgehend Konsens. Bei näherer handelt sich also um ein Machtgefüge das allgegen-
Betrachtung entsteht hier wärtig ist und oft sehr subtil
aber leider sehr schnell der Alternative Varianten von Sexualität und wirkt.
Eindruck, dass es groß teils Geschlecht jenseits des heterosexuellen
nicht mehr als eine Floskel Tellerrands wie zum Beispiel Heteronormativität wirkt als
ist und die wenigsten sich Intersexualität, Homosexualität, strukturierendes Prinzip auf
mehr mit der Thematik und Bisexualität, Pansexualität und zwei Ebenen: Menschen wer-
vor allem dem was sie selber Transgender-Sein werden stets als den in die Form zweier ver-
reproduzieren auseinander- “irgendwie fremd” und andersartig meintlich körperlich und sozial
setzen. Zumindest die wie- wahrgenommen eindeutig voneinander zu
ner Szene ist in ihrem unterscheidenden Geschlechter
Erscheinungsbild extremst hetero-dominiert. Die gedrängt und im Hinblick auf ihre Sexualität und
wenige schwul-lesbische-queere linke Politik die in ihre sexuelle Orientierung kategorisiert. Auch jen-
Wien stattfindet, wird eigentlich nur von Leuten seits des Begehrens strukturiert es das Zusammen-
gemacht, die es selber betrifft. Das Infragestellen leben der Menschen. Folglich bestimmt dieses
von stereotypen Geschlechterrollen(1) ist zwar, vor Prinzip unser soziales Denken und Handeln, indem
allem über den Diskurs um Feminismus und Anti- es sich in Geschlechtsidentitäten, gesellschaftliche
Sexismus fester Bestandteil linksradikaler Politik Arbeitsteilung, in die Institution der Familie, die
geworden (wobei sich darüber streiten lässt, inwie- herrschenden Geschlechterverhältnisse und
weit Theorie hier in die Praxis übergeht). Darüber Geschlechterbeziehungen einschreibt. Das gesamte
hinaus ist aber das Konstrukt der „Heterosexualität“ gesellschaftliche Leben(2) wird auf diesem Wege
und die Auswirkung auf alle anderen die da nicht durch eine heterosexuelle Matrix gepresst und
hineinpassen kaum bis gar nicht Thema. Lebens-, Verhaltens- und Liebesweisen, die diesem
Prinzip zuwider laufen sind vielfachen Aus-
HeteroNO...was? -- wie war das noch mal? grenzungen ausgesetzt.

Meter hoch blitzt mir der neueste Pärchenhandy- Alternative Varianten von Sexualität und Geschlecht
tarif für “Sie” und “Ihn” entgegen, als ich mir mei- jenseits des heterosexuellen Tellerrands wie zum
nen Weg ins Kaufhaus durch eine unüberschaubare Beispiel Intersexualität, Homosexualität, Bisexuali-
Menschenmenge bahne. Dort angekommen säuselt tät, Pansexualität und Transgender-Sein werden
mir eine Frauenstimme “Stand By Your Man” die stets als “irgendwie fremd” und andersartig wahrge-
aus dem Radio dröhnt ins Ohr und ich stolpere fast nommen. In der Praxis sind nicht-heterosexuell auf-
über ein sich küssendes Hetenpärchen. Meine tretende Menschen immer noch häufig von verbaler
Genervtheit steigt, zumal mir immer noch große und physischer Gewalt betroffen. Wenngleich diese
Teile des Heteronormativitätsartikels für Projekt-X Tatsache eine Toleranz gegenüber (einzelnen)
fehlen und mir die Zeit davon läuft. homosexuellen, bisexuellen, transsexuellen, usw.
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Menschen nicht unbedingt ausschließt. Die Norm Und die Szenelandschaft?


braucht sogar ihre “Anderen”, um sich von diesen abzu-
grenzen und sich als solche zu etablieren. Daraus ergibt Wie bereits anfangs erwähnt ist der linke Sumpf keines-
sich für Menschen, die mit dem Prinzip der wegs davor gefeit in die Heteronormativitätsfalle zu tap-
Heteronormativität nicht allzu verträglich sind, ein recht pen. Auch wenn einige den Versuch unternehmen mit
eindeutiger, wenn auch unbequemer Auftrag: Als das der monogamen Zweierbeziehung zu brechen, sind fast
“Andere” zu fungieren und somit Projektionsfläche für nur Mann-Frau-Pärchen auf Parties und Veranstal-
Abgrenzung zu liefern einerseits, und andererseits eine tungen sichtbar. Auf derartigen Events bewege ich mich
Anpassungsleistung an diverse andere Normen zu voll- als Schwuler oder als Lesbe zwar nicht mit dem Grund-
bringen, und sich damit das Toleriertwerden seitens der gefühl, befürchten zu müssen, angepöbelt oder angegrif-
Mehrheitsgesellschaft zu verdienen. fen zu werden und bin mir auch dessen sicher, dass ich
Ein Paradebeispiel für diesen Mechanismus, stellt die in im Falle eines solchen Vorfalls in der Regel mit der
vielen europäischen Ländern schon seit längerem Solidarität anderer rechnen kann. Aber wenn ich weit
geführte Diskussion bezüglich der sogenannten „Homo- und breit nichts als Hetero/as entdecken kann, fällt für
Ehe” dar. Die bürgerliche Kleinfamilie, innerhalb derer mich nicht-heterosexuell interessierten Menschen ein
ein – traditionell heterosexuelles – Paar ein staatlich wesentlicher sozialer Bestandteil der die Bewegung nun
abgesegnetes Abhängigkeitsverhältnis eingeht, hat sich mal auch ausmacht, weg. Diese Strukturen führen eben
als recht praktische Instanz zur Unterstützung staat- in letzter Konsequenz oft dazu, dass bestimmte
licher Interessen erwiesen. Warum also sollte diese sich Menschen ausgegrenzt werden. Somit verwundert es
nicht auch auf Lesben und Schwule übertragen lassen? auch wenig, dass die meisten Nicht-Heten sich dann
Freilich unter der Voraussetzung, dass „diese Homo- doch lieber über kurz oder lang recht gefrustet in der
sexuellen” ansonsten möglichst allen Kriterien „norma- viel unpolitischeren Schwulen- und Lesbenszene veror-
ler” Bürger_innen entsprechen und keine unschuldigen ten. Logischerweise kann “Heterosexualität” und daraus
Kinder in die ganze Angelegenheit hineinziehen, denn resultierendes Flirt- und Beziehungsverhalten
der reproduktive Part der Gesellschaft sollte sicherheits- Einzelpersonen nicht zum Vorwurf gemacht werden.
halber doch lieber in heterosexuellen Händen bleiben. Jedoch ist es unserer Meinung nach wichtig, dass derar-
Wichtig bei all dem bleibt, dass das Prinzip der romanti- tige Strukturen einerseits wahrgenommen werden,
schen Zweierbeziehung, des wirtschaftlichen Abhängig- andererseits der Versuch unternommen wird diese zu
keitsverhältnisses, der Zweigeschlechterordnung und reflektieren und nach Ansätzen zu suchen, diese ein
deren lebenslanger Stabilität nicht angetastet wird. Ist all Stück weit aufzubrechen. Voraussetzung dafür wäre
das erfüllt, steht der großzügigen Geste auch homo- allerdings, dass es das Thema überhaupt erst “soweit
sexuelle Menschen ehe-ähnliche (3) Verbindungen zu bringt” ernsthaft diskutiert zu werden. Eine sehr erfreu-
gewähren, eigentlich kaum noch etwas im Wege. Dies liche Neuheit der letzten Monate ist das “Freiräumchen”,
lässt sich auch recht anschaulich anhand der Ent- das jeden Donnerstag in der Rosa-Lila Villa stattfindet.
wicklung der Rechtslage diesbezüglich in diversen euro- Bleibt zu hoffen, dass das in Zukunft noch besser
päischen Ländern mitverfolgen. Der Trend weist in besucht wird und zu einer Anlaufstelle wird für all jene
Richtung einer Institutionalisierung mittels eingetrage- die in die Heteronorm nicht reinpassen und auch mit
ner Partner_innenschaften von homosexuellen Zweier- der Mainstream-Schwulen-/ Lesbenszene nichts anfan-
beziehungen. Damit wäre einerseits die Funktion einer gen können.
Abgrenzungsfolie für heterosexuelle Beziehung erfüllt,
wie auch eine möglichst vollständige Anpassung dieser “Jedes Geschlecht ist eine Imitation zu der es kein
Partner_innenschaften an heteronormative Vorgaben. Original gibt” Judith Butler

(1) Nicht – oder nur viel weniger – wird die Tatsache, ob ein binäres Geschlechtersystem per se sinnvoll ist, hinterfragt. (2) Dabei beziehen wir uns auf
den kulturellen Konext, den wir in unserem Alltag aktiv erleben – sprich den westeuropäischen, wenn nicht sogar nur den deutschsprachigen Raum.
(3) Die meisten Länder beharren darauf homosexuellen Beziehungen höchstens den Status einer eingetragenen Partner_innenschaft zu “gewähren”, und
somit wiederum klar von dem heterosexuellen “Privileg” der Ehe abzugrenzen. (Unterschiede sich vor sich vor allem für Adoptions- und
Erbschaftsrecht.)
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Wenn die Hüllen fallen


acktheitsdebatten lassen sich in der radika- erklären: „viele menschen fühlen sich durch so ein

N len Linken vor allem immer dann antreffen,


wenn irgendein Typ, aus welcher Motivation
auch immer, es für notwendig empfindet, seinen
verhalten unwohl. wahrscheinlich mehr frauen als
männer, weil ein nackter schwanz den man nicht
nach einvernehmen von allen beteiligten personen
Körper, meistens aber insbeson- zu sehen bekommt, für frauen oft
dere seinen Schwanz einem brei- als drohung wirkt. das audimax
teren Publikum zu präsentieren. sollte aber für alle menschen ein
Als Begleiterscheinung spaltet sicherer ort sein. insofern sexi-
die darauf folgende Debatte stisch.“ Mit anderen Worten:
zumeist die Gemüter, so bei- Nackte Schwänze bedeuten sexuali-
spielsweise als vor ca. einem Jahr sierte Grenzüberschreitungen.
ein szenebekannter Typ im Ernst
Kirchweger Haus bei einem Fest Verklemmt oder Politisch?
der IG Philosophie gänzlich aus-
zog oder auch heuer beim anar- Zwar mag es sein, dass vielen, gera-
chistischen Kongress in Berlin de frisch politisierten, Menschen
Menschen des Projekts „Fuck for Forrest“ (1) am bei der Audiaxbesetzung (noch) das Vokabular
Kongress eine Nacktblockade (ohne klaren politi- fehlt, derartige Ereignisse so zu benennen bzw. als
schen Hintergrund) durchführen wollten und sich Grenzüberschreitung zu erkennen. Dass dies jedoch
trotz starker Kritik weigerten, das Kongressgelände auch bei durchwegs schon länger politisierten
zu verlassen. Da Hippies ihren Rausschmiss verhin- Menschen wie am Anarchistischen Kongress nicht
derten und wurde der Kongress gänzlich abgebro- der Fall war, zeigte sich vor allem auch in der
chen. Auch bei der Audimax Besetzung meinte Reaktion bestimmter TeilnehmerInnen. So mag es
bereits in den ersten Tagen ein Typ auf der Bühne auch kaum verwundern, dass bereits nachdem sich
seinen Pimmel auspacken zu müssen. der erste Typ von „Fuck for Forrest“ ausgezogen
hatte und von einigen TeilnehmerInnen des
Sexistische Grenzüberschreitungen! Workshops darauf hingewiesen wurde, dass sie
seine „Aktion“ als unangemessen empfinden, selbi-
Dass das Beispiel des „Schwanzes im Audimax“ her- gen Menschen sofort „ein verklemmtes Verhältnis
angezogen wurde, um die Bandbreite sexistischer zu ihrem Körper“ unterstellt wurde und eine Person
Vorfälle und Übergriffe während der Besetzung zu als „Kampflesbe“ betitelt. Gerade rund um den
thematisieren, mag die einen nicht verwundern. Für Kongress kann auch argumentiert werden, dass sich
andere ist aber ganz und gar nicht klar, warum eben nicht nur Typen ausgezogen haben. Dazu
Nacktheit nicht per se subversiv oder „dumm“ son- muss gesagt werden, dass es aus einer ideologischen
dern durchaus als unangenehm oder sexistisch Betrachtungsweise wenig hilfreich scheint,
wahrgenommen wird. So lässt sich im Wiki der „Nacktheit“ per se als etwas Emanzipatorisches,
Frauen bzw. Antisexismus AG der Audimax Verteidigenswertes zu sehen (weil es in einer patri-
Besetzung neben einer Vielzahl höchst bedenklicher archalen Gesellschaft eben schon auf den Kontext
Kommentare, die meinen, legitime Kritik an der ankommt, in dem Nacktheit angetroffen wird,
Gruppe zu üben, auch die folgende Frage finden: sprich weder den nackten Frauen, die zur (Be-)
„Was ist sexistisch daran, wenn ein (offensichtlich Werbung diverser Produkte „dienen“, noch der zur
angsoffener) Mann auf die Bühne des Audimax geht Schaustellung muskulöser Männerkörper scheinen
und seine Hose runter zieht? IHMO ist es unnötig, sonderlich subversiv) und noch viel bedenklicher
dumm und wahrscheinlich findet es eh nur er sel- wird es, wenn in einem Dogmatismus der Nacktheit
ber lustig, aber was daran ist sexistisch?“ Dass es Verklemmtheit oder Prüdität (wie das in der
nicht nur „unnötig“ war und derartiges Verhalten Diskussion passiert ist) gegenübergestellt werden.
durchaus auch bei anderen Menschen Reaktionen Nackheit kann sicher auch Ausdruck von
hervorruft, wird versucht, folgender Maßen zu Politischem sein (zB der Aktion wegen 278a und
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den TierrechtlerInnen oder nackte Critical Mass usw.), Grenzüberschreitung. Genau um diese
aber das ist durch und durch eine andere Ebene. Grenzüberschreitung geht es im Grunde genommen
auch, da für manche Menschen, die Grenze davon, was
Nudismus, Exhibitionismus oder wo bleibt der sie in der jeweiligen Situation erleben wollten, damit
subversive Charakter? überschritten wurde.

Wie es sein kann, dass „Nacktheit“ entweder als „natür- Gerade Argumentationen, die darauf abzielen, dass „das
lich“, „nicht-störend“ oder gar „subversiv“ betrachtet Problem bei einem/ einer selber liegen“ würde, lassen
wird, hat wohl auch damit zu tun, dass einerseits anti- oft keine andere Möglichkeit, als den Typen selbst raus-
sexistische Mindeststandards sowohl bei der zuwerfen (was in dem Fall nicht nur Körperkontakt mit
Audimaxbesetzung als auch in der radikalen Linken zu jemanden bedeutet, den die Betroffenen wahrscheinlich
wünschen übrig lassen und andererseits, dass der noch weniger haben wollen als mit anderen, sich fehl-
Diskurs sich nur zwischen den Polen „offen“ und verhaltenden, Typen, die rausgeschmissen werden soll-
„prüde“ bewegt und andere Aspekte männlicher zur ten, sondern sich vor allem auch die darauf folgenden
Schau gestellter Nacktheit weitgehend ausklammert. Verharmlosungen, Vorwürfe etc. anhören zu müssen
Und das, obwohl eigentlich klar sein sollte, dass durch und sich nicht auf die Unterstützung von anderen, im
nackte Körper (und vor allem Schwänze) Unbehagen Raum anwesenden, Personen in den Räumlichkeiten
hervorgerufen wird, das nichts mit Prüderie zu tun hat. verlassen zu können). Oder selbst zu gehen, was halt
Da in derartigen Debatten immer wieder das Argument bedeutet, dass er den Raum bekommt, der den
auftaucht, bei der Entblößung würde es sich um Betroffenen in dem Fall genommen wird. Anstatt
Nudismus – losgelöst von jeglicher sexuellen jedoch jene zu unterstützen, die sich an der
Komponente – handeln und der besagte Typ würde Demonstration eines Phallus stören, wird von den mei-
„einfach gerne nackt rumrennen“, scheint wichtig, ein sten Anwesenden in der Regel der nackte Typ weitge-
paar Unterschiede zu diskutieren. Vorweg, bereits das hend ingnoriert, belächelt oder unter „eh schon
„ohne sexuelle Komponente“ scheint sehr bedenklich, Bekanntes“ eingeordnet.
da wir uns weder auf der Uni noch sonst am Kongress
oder sonstwo in Räumen bewegen, die frei von
Sexualität und natürlich auch nicht von Sexismen sind (1) „Bei "Fuck for Forrest" handelt es sich in keiner
(abgesehen davon, dass wir in der Regel auch keine ase- Weise um eine irgendwie geartete emanzipatorische
xuellen Wesen sind und demnach unsere Handlungen Gruppe. Ihr politischer Ansatz ist es, Geld zu sammeln,
durchwegs sexuelle Komponenten aufweisen. Wenn ein um damit Regenwald zu kaufen. Trotz aller Liebe zum
Mann sich an einem öffentlichen Raum auszieht und Regenwald, mit Anarchismus hat das Kaufen von
nackt ist, so tut er dies nicht als asexuelles Wesen und Regenwald herzlich wenig zu tun. Diese Form der
auch die dazugehörige Öffentlichkeit ist es nicht. Der Privatisierung von Land ist eher eine moderne Variante
Typ nimmt sich dadurch auch einen sexualisierten des Ablasshandels. Der problematischste Teil dieses
Raum, auf den die unterschiedlichen Anwesenden eben Geschäftes ist aber, dass "Fuck for Forrest" Geld mit
unterschiedlich reagieren.) Ohne jetzt auf Porno-Filmen sammelt. Dies muss in diesem Fall nicht
Begriffsdefinitionen eingehen zu wollen, scheint es aus einer Anti-Porno-Haltung heraus kritisiert werden,
wichtig festzuhalten, dass es beim Nudismus (im sondern aus dem Charakter der Filme, die diese Gruppe
Gegensatz zum Exhibitionismus) zumeist ein kollektives dreht. Sie reproduzieren ein heterosexuelles, auf eine
Moment gibt, sprich gemeinsam erlebte Nacktheit, der männliche Zielgruppe ausgerichtetes
gemeinsame Kampf dafür und auch das gegenseitige Geschlechterverhältnis. Frauen werden als benutzbare
Einverständnis der Beteiligten (sprich klar definierte und gefügige Objekte dargestellt. Daran ändert auch
Ort, an denen Nudismus ausgelebt werden kann.) Beim nichts, dass dies freiwillig geschieht. Doch selbst das
Exhibitionismus hingegen geht es vor allem um die muss bei dieser Gruppe in Frage gestellt werden. So gibt
Zurschaustellung, Entblößung der Geschlechtsteile in es konkrete Vorwürfe gegen Mitglieder, Menschen alko-
der Öffentlichkeit (und das zumeist zu einer bestimm- holisiert zum Sex vor der Kamera gedrängt zu haben.
ten Triebbefriedigung) und es wird auch nicht um das Diese Vorwürfe können an dieser Stelle nicht geklärt
Einverständnis der anwesenden Personen gefragt werden, aber auch unabhängig davon hat das Konzept
(sprich an Orten, wo Menschen ohnehin nackt sind, fin- von "Fuck For Forrest" nichts mit Anarchie und
den sie zumeist keine Befriedigung). Beim Emanzipation zu tun.“
Exhibitionismus geht es neben einem möglichen sexuel- http://de.indymedia.org/2009/04/247021.shtml
len Lustgewinn auch um den Wunsch einer
36 NO 3 2 0 0 9 P R O J E C T X

Let’s talk about sex, Baby!


Pro Sex? Pro Porno?
lassische Pornodiskussionen (wer kuckt was,
K was macht wen an, wie oft...) haben in der
gemischten radikalen Linken Seltenheitswert, zu
ligen und ständig feuchten Frau, die nur drauf war-
tet, dass ihr zaghaftes „nein“ von einem oft muskel-
bepackten, aber vor allem dick- und langschwänzi-
dominant ist das Tabu über den eigenen Konsum gen Hengst zu einem „ja“ umgedeutet wird und sich
von „Schmuddelfilmchen“, zu groß wäre der (ver- dann in allen Farben und Formen durchficken lässt?
meintliche?) Rechtfertigungsdruck oder das „sich Oder ist der Unterschied zwischen „guter“ und
Erklären müssen“ im Zusammenhang mit einer „böser“ Pornografie die Freiwilligkeit und
bemühten antisexistischen Praxis in den Szenen. Zustimmung der Frau – real und filmisch klar
Bei diversen Ladyfesten und da in (vorwiegend) les- transportiert und erkennbar für die
bischen/trans* Kreisen wird dann doch das ein oder KonsumentInnen*?
andere Wort zu Porno gewechselt, angeblich wurde
sogar einmal ein DIY-Pornofilmchen im EKH Pro Sex oder „sex-positive feminism“ begann sich in
gedreht, im kleinen Rahmen erzählen sich den USA der frühen 80er Jahre als feministische
Freundinnen, was sie geil macht, welche Toys sie Strömung zu entwickeln, welche
gerne im Bett verwenden oder warum sie den anfangs als eine Art
Porno, den sie letztes Wochenende mit dem Hauptthema die
Lebensabschnittspartner gesehen haben, Entscheidung von
keineswegs sexistisch fanden. Begierden, Frauen verteidigte, an
Phantasien und oft der Wunsch tat- Pornographie mit-
sächlich „was zu sehen“ ohne ver- zuwirken bzw. sie
niedlichende und verkitschte konsumieren zu
Darstellungen von Sexualitäten trei- können ohne
ben auch einige von „uns“ (antisexi- dafür diskrimi-
stische, aufgeklärte, undogmatische niert bzw. als
Linke, Autonome und Antifas) Opfer stigmati-
dazu, Pornografie zu konsumieren. siert zu werden.
Vor allem seit dem die Sexindustrie Pro Sex ausschließ-
die „Alternative“-Ecke entdeckt hat, lich als Pro Porno
können wir dank Suicide Girls und Co darzustellen wäre aller-
(http://suicidegirls.com/) tätowierte, dings verkürzt und
gepiercte, punkige, gothige, emo, vegane unvollständig, da die
(http://www.vegporn.com/) und andere tolle Diskurse viel weiter als die stets
Frauen statt silikonbusigen Blondinen bewundern, sehr polarisierenden Debatten um Pornographie
und fühlen uns ganz gut dabei – die Frauen gehen. Das Themenspektrum umfasst u.a. neben
machens freiwillig, haben sichtlich Spaß an der diversen „klassischen“ Sexualitätsthemen
Sache, tatsächlich einen Orgasmus (Aufklärung, Kampf gegen Aids) einen
(http://ishotmyself.com) und manchmal kommt das Gegenstandpunkt zur feministischen Kritik an der
Ende sogar ohne obligatorischen Cumshot (absprit- (kommerziellen) Sexindustrie wie z.B. die lustvolle
zen ins Gesicht der Frau) aus. Entdeckung diverser Sexspielzeuge oder die
Rückeroberung des eigenen Körpers.
Gibt es tatsächlich feministischen, Bald bereicherten (lesbische) S/M-Kreise die
progressiven, emanzipatorischen Porno? Diskussionen mit Inputs zu den Themen
Macht/Unterwerfung/Gewalt/Bondage/Rollenspiel
Bedienen nicht die „alternative porns“ genau die und entwarfen die Gegenthese zur (vorherrschen-
gleichen Klischees der ewig geilen, fickbereiten, wil den) feministischen Vorstellung, dass S/M prinzi-
P R O J E C T X NO 3 2 0 0 9 37
piell sexistisch ist und sein muss, da stets Herrschaft im geführt werden - ein lebensnahes Bild der alltäglichen
Spiel sei (wenn auch nur gespielte). Erfahrungen von Mädchen und Frauen entsteht dabei
allerdings nicht. Zwangsprostitution beispielsweise ist
Im Mittelpunkt des Pro Sex-Feminismus steht die Teil der alltäglich erlebten Gewalt von (zum Teil noch
Auseinandersetzung mit Sex und einem, damit verbun- minderjährigen) migrantischen Frauen, die mit falschen
denen, positiven Bezug zum eigenen (weiblichen) Versprechungen in die reichen Länder der nördlichen
Körper, der trotz propagandiertem Schönheitswahn, Hemisphäre gelockt werden und dort unter sklavinnen-
normierten Sexualvorstellungen und einer jahrhunderte ähnlichen Zuständen zur Prostitution gezwungen wer-
lang betriebenen Tabuisierung der weiblichen Sexualität den. Auch an den Rändern der Pornoindustrie gibt es
geliebt werden und schöne Gefühle bereiten kann. Die eine Nische für sogenannte „Snuffproduktionen“, in
Rückeroberung und Neudefinierung des eigenen (weib- denen die „dargestellte“ Gewalt in Form von z.B.
lichen? oder eben auch nicht) Körpers kann somit als Massenvergewaltigungen oder Misshandlungen nicht
radikale Forderung von Pro Sex verstanden werden. Der inszeniert, sondern bitterer Ernst sind. Ob in
Kern dieses positiven Bezugs zum eigenen Körper, zum „Snuffproduktionen“ tatsächlich auch Frauen ermordet
Umgang mit sich und der eigenen Sexualität ist die wurden, ist umstritten.
Stärkung der eigenen Persönlichkeit und des
Selbstbewusstseins. Der Pornodiskurs hierzulande ist vor allem geprägt
Schon früh werden kleine Mädchen kaum in ihrer durch Deutschlands vorzeige- und mittlerweile massen-
Erziehung oder Entwicklung bestärkt, ihre eigenen und BILD-zeitungstaugliche Feministin Alice Schwarzer
Wünsche, Begierden oder Gefühle in ihrem Körper zu und der 1987 durch die Zeitschrift „Emma“ ins Leben
leben, zu erforschen oder zu fördern. Meist ist das gerufenen PorNO-Kampagne, die als Ziel eine gesetzli-
Gegenteil – verdrängen, nicht drüber reden, „da unten“ che Reglementierung von Pornografie beinhaltet.
gut waschen, nicht herzeigen, nicht Pornografie habe
damit spielen, keine schönen “Weil die Auseinandersetzung mit Sex, demnach ausschließ-
Gefühle zulassen... - der Fall. Zu Pornographie oder der neu zu erlernenden lich die totale
allem Überfluss zerstören mitunter Selbstliebe des eigenen Körpers nicht ohne den Objektivierung von
sexualisierte Gewalterfahrungen Frauen zum Inhalt,
gesellschaftlichen, heterosexistischen Kontext
alles wenige, was noch positiv mit was Frauen-
dem eigenen Körper und Sex assozi- gesehen werden kann, ist Pro Sex auch stets verachtung und –
iert werden könnte. Diesen mit allen negativen Dingen, die Sex hervor- unterdrückung pro-
Teufelskreis von Verschweigen, bringen kann, zu denken.” pagiert, fördert und
Tabuisieren, Nichtvorhandensein letztendlich zu einem
von Selbstwertgefühlen, keine expli- Anstieg der (sexuali-
zite Ermutigung oder Bestärkung zum Nein sagen, sierten) Gewalt gegen Mädchen und Frauen führt.
gesellschaftliche Erwartungen und Vorstellungen, wie Deklarierte antipornografisch orientierte
Sex zu sein hat, usw. führen zur traurigen Tatsache, dass Amerikanerinnen wie Catharine MacKinnon oder
für viele Frauen/Mädchen* Sex negativ besetzt ist, der Andrea Dworkin stell(t)en Pornografie in den
eigene Körper verabscheut und sich für die erfahrene Mittelpunkt der feministischen Erklärungsmodelle für
Gewalt die Schuld gegeben wird. die Unterdrückung von Frauen in der Gesellschaft. Die
deutsche PorNO-Kampagne schloss sich dieser
Weil die Auseinandersetzung mit Sex, Pornographie Meinung an und sammelte Daten und Fakten zur These,
oder der neu zu erlernenden Selbstliebe des eigenen dass die visualisierte Gewalt gegen Frauen am
Körpers nicht ohne den gesellschaftlichen, heterosexisti- Bildschirm in Pornoproduktionen die Hemmschwelle
schen Kontext gesehen werden kann, ist Pro Sex auch für Gewalttaten gegen Frauen in der Realität drastisch
stets mit allen negativen Dingen, die Sex hervorbringen heben würde, was allerdings bis dato nicht belegt wurde,
kann, zu denken. Ohne die Thematisierung von sexuali- da für Gewalttaten gegen Mädchen und Frauen vielfälti-
sierter Gewalt ist Pro Sex nur die halbe Sache und führt ge und differenzierungswürdige Faktoren zum Tragen
zu einer verklärten und romantischen Darstellung einer kommen.
Sexualität, die nicht der Realität entspricht.
Was bei der feministischen Kritik an Pornografie ausge-
So kann die Debatte um Pornographie oder Prostitution lagert wird, ist die Idee dahinter, dass das Bildmaterial
zwar mit der totalen Ausklammerung von Zwang zur Erregung der BetracherInnen* dienen kann und,
38 NO 3 2 0 0 9 P R O J E C T X

dass aufgrund der riesigen Bandbreite der Auseinandersetzungen klitoraler versus vaginaler
Pornografie am Markt zu einem nicht kleinen Teil Orgasmus, da dieser lange Zeit in wissenschaft-
Frauen, Lesben, Trans*, Inter*, Schwule zu ihren lichen Diskursen als das Nonplusultra galt und zur
KundInnen* zählen. Nicht-heterosexistische oder Rechtfertigungsstrategie vieler Männer wurde, die
penetrationszentrierte Szenen, die ohne Abspritzen dachten, dass nach dem klassischem „Rein-Raus“-
ins Gesicht der Frauen oder festgehaltene Köpfe Fick alle Beteiligten zufrieden sind.
beim Blasen auskommen, finden sich mittlerweile
millionenfach auf den einschlägigen DVDs, Konsequent beim Wort nehmen Pro-Sex-
Internetseiten oder in kommerziellen Sexchats. Feministinnen* das Prinzips „Mein Bauch gehört
Pornografie und vor allem mir!“ und beste-
S/M, Bondage oder Fetische “Lust und Begehren sind – wie Menschen an sich – hen darauf, dass
spielen ganz bewusst mit unterschiedlich. Pro-Sex-Feministinnen* wehren jede freie
Macht, Unterwerfung und sich vor allem dagegen, dass sie aufgrund ihrer Entscheidung,
dem Überwinden von körperlichen Begierden, die eben nicht (nur) aus die eine Frau
Widerständen. In Hardcore- bezüglich ihres
zärtlichem, romantischem Streicheln, Blümchen-
Produktionen wie z.B. eigenen Körpers
sexandsubmission.com wird oder Vanilla Sex bestehen können, von den trifft, zu akzep-
augenscheinlich eine Frau Anti-Porno-Aktivistinnen* als Komplizin des tieren und
von einem oder mehreren Patriarchats betrachtet werden” respektieren ist.
Männern gequält, gefesselt, Wie frei die
geschlagen, mehrfach mit Entscheidung
Dildos, Schwänzen und anderen Hilfsmittel pene- der Frauen* innerhalb des kapitalistischen Systems
triert, vor allem aber sehr hart angefasst – mit dem tatsächlich ist, bleibt offen. Viele Sexarbeiterinnen*
klar erkennbaren Einverständnis aller Beteiligten. führen aber immer wieder als Hauptargument den
Die teilweise unglaublich brutal anmutenden ökonomische Zwang an, wo sie sich in der Qual der
Szenen laufen dank strikten SM-Regelungen nach Wahl zwischen Fabrik und Puff mit guten
den Prinzip „safe, sane and consensual“ ab, d.h. die Gewissens für letzteres entschieden haben. Diese
sexuellen Handlungen werden von mündigen bewusste Entscheidung trifft allerdings keinesfalls
PartnerInnen* freiwillig und unter gegenseitigem auf alle Sexarbeiterinnen* zu. Migrantinnen* ohne
Einverständnis in einem sicheren Maße praktiziert. Arbeitserlaubnis beispielsweise bleibt oft gar nichts
Am Ende der Videos sind gelegentlich die anderes übrig als ihren Körper auf der Straße zu
DarstellerInnen* nach „erlittener“ Session kurz in verkaufen.
vertrauten Umarmungen und am Kuscheln zu
sehen, die aggressive Darstellung des gänzlichen Viele Pro Sex-Aktivistinnen* kamen/kommen
Unterwerfens einer Frau wird dadurch gebrochen ursprünglich aus dem Sexarbeitsbereich oder der
und die SM-Sequenz unmissverständlich als kommerziellen Pornobranche und haben es satt, auf
Rollenspiel deklariert. der einen Seite immer nur als Opfer gesehen zu
Alice Schwarzer vertritt hingegen nach wie vor die werden, auf der anderen Seite wiederum von femi-
These, dass es keine Frauen mit sadomasochisti- nistischen Kreisen nicht akzeptiert zu werden, da
schen Neigungen geben würde und, dass diejenigen, sie nach dem Motto ‚Pornographie ist die Theorie,
die dies propagieren würden, mit dem Feind, d.h. Vergewaltigung die Praxis!’ als Handlangerinnen
den Männern, kollaborieren. des patriarchalen Systems und nicht als ebenbürtige
Kämpferinnen für die feministische Ziele angesehen
Lust und Begehren sind – wie Menschen an sich – werden.
unterschiedlich. Pro-Sex-Feministinnen* wehren
sich vor allem dagegen, dass sie aufgrund ihrer kör- Viele Sexarbeiterinnen* und Pornodarstellerinnen*,
perlichen Begierden, die eben nicht (nur) aus zärtli- die sich in der Pro-Sex-Bewegung engagieren und
chem, romantischem Streicheln, Blümchen- oder welche im übrigen von konservativ-katholischen
Vanilla Sex bestehen können, von den Anti-Porno- Kreisen gleichermaßen und Hand in Hand mit
Aktivistinnen* als Komplizin des Patriarchats feministischen Gruppen bekämpft werden, sehen in
betrachtet werden. Im Zuge der PorNO-Kampagne der Pornografie keine Erniedrigungsstrategie, son-
wurde teilweise sogar penetrierender Sex als frauen- dern eine Möglichkeit zur Befreiung und
verachtend verurteilt, auch im Kontext der Emanzipation, da die Chance besteht, über Porno
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neue Definitionen für die eigene Sexualität finden zu
können. Quellen:
Andrea Dworkin – PorNOgrafie – Männer beherrschen
Pro Sex-Feministinnen wie Susie Sexpert oder Annie Frauen (1981, Fischer)
Sprinkle zeigen in ihren Büchern, Videos oder Susie Bright – Best of Susie Sexpert (2001, Krug &
Performances auf, wie Porno auch (anders) sein kann Schadenberg )
und wie befreiend sich Rückeroberungen des eigenen Annie Sprinkle – Hardcore von Herzen (2004, Edition
Körpers anfühlen können. Nautilus)
Alice Schwarzer – PorNO (1994, Kiepenheuer &
In Pro Sex steckt viel Potential und ein differenzierter Witsch)
Blickwinkel auf alles, was mit Sex assoziiert werden http://www.anniesprinkle.org/
kann. In kritischer Selbstreflexion kann auch stets das http://www.fibrig.net/
eigene Begehren hinterfragt und begutachtet werden – http://www.konkursbuch.com/
und im Sinne des Topics „Let’s talk about sex, Baby!“ –
kann nie zu viel über Sex gesprochen werden. Wo auch
immer – in der Politgruppe, in der Beziehung, mit dem
One Night-Stand, mit den FreundInnen – damit unser
Sex genau der ist, den wir haben wollen. Verschwitzt,
sexy, dreckig, pervers, polymorph, queer, aggressiv,
kuschelig, divers, alleine, zu zweit, zu dritt, zu zehnt,
DIY, mit oder ohne Digicam.

Reclaim your body! Reclaim your sex!


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Queer – Labeling
We are here, we are not queer, get used to it? Oder: Sind
wir nicht alle ein bisschen queer?

Alltagserlebnis 1#

Unlängst sah ich einen Typen in einem pinken T-


Shirt mit der Aufschrift: „Schwarz war leider aus“.
Linke bzw. Autonome, die Rosa tragen, wollen ja
zumeist gewisse (zumindest Solidarität mit)
Queerness symbolisieren oder, dass sie sicher nicht
zu den Mackern gehören. Die eben erwähnte Optik
thematisierte zwar diese Codierung der Farb-
symbolik, signalisierte letztendlich aber auch, dass
das pure Rosa doch nicht so cool ist, und erst mit
einer lässig, ironischen Aufschrift tragbar wird. We are here, we are not queer, get used to it?
Ironie entsteht eben auch aus dem Spiel der Oder Sind wir nicht alle ein bisschen queer?
Oszillation zwischen Identifizierung und Ab-
grenzung. Irgendwie erschien mir dies Erlebnis Die Debatte um das subversive Potenzial von quee-
exemplarisch für einen des öfteren bemerkten ren Praxen innerhalb der Linksradikalen ist ein alter
Umgang mit Queerness, auch in der sogenannten Hut. Andererseits war aber auch auffällig, dass die
„Szene“. Queer Kritik dann doch zumeist von Menschen mit
Cisgender bzw. Hetero- Identität erfolgte.
Bei der Hausbesetzung in der Spitalgasse, die als Crossdressing wird von Cisgendern wieder unver-
„queer- feministische Hausbesetzung“ angekündigt blümter die „allgemeine Subversivität“ abgespro-
war, fragte ich mich: Was ist jetzt eigentlich „das chen, wobei sie froh sind, dass der allgemeine Hype
Queere“ daran? Oder die queere „Fête blanche“ vorüber ist. Immerhin habe mann/frau sich auch
Party in der I:DA. Bei allen guten Absichten der das ein oder andere mal „verkleidet“, so toll war das
Organisator_innen, wer war dort anzutreffen? dann gar nicht. Strumpfhosen sind halt doch schei-
Letztendlich ein weißgemischter Haufen von ten- ße und aufgeklebte Bärte ebenso kratzig. Die
denziell cisgender, heterosexuellen Menschen. Oft Wahrnehmung von queeren Events beschränkt sich
reicht es, wenn sich vereinzelt verkleidet wird und oft auf die Partyszenerie, insofern scheint passend,
„so eine queer-riot-girl Band“ ein Stündchen dass die Grenzen zwischen Badtaste, Lustvollkleiden
Bühnenpräsenz erhält, sodass die Queer-Party allge- und expliziten Queer-Parties mittlerweile auch ver-
mein als gelungen gilt. schwimmen. Was sollte dadurch nochmal verändert
werden?
Was bezweckt Queer- Labeling? Ist es eine Art soli-
darischer Praxis, oder doch eher die inflationäre Dabei ist für queere Inhalte Verständnis und
Verwendung eines Begriffs, von dem die Vorstel- Gesprächspartner_innen zu finden nicht immer
lungen, was er bezeichnen soll teilweise stark variie- einfach. Gespräche wie, was ist wenn sich feministi-
ren, und dementsprechend die diesbezügliche sche und queere Ansätze im Subjekt auch mal im
Praxis noch schwerer zu verorten ist? Alltag zu spießen scheinen. Beispielsweise ein
P R O J E C T X NO 3 2 0 0 9 41
Gespräch darüber, was es heißt für eine Bio-Frau mit zen Abend mit ihr geredet, gelacht, das x-te Bier geteilt.
Hang zum Androgynen mal ein paar zugenommene Die Stunde schreitet voran mit dem Betrunkenheits-
Kilos mit Stirnrunzeln zu bemerken, da sie entstehende grad. Irgendwann sind wir beim Thema „Leute abchek-
„weibliche“ Rundungen verstärken, die einem sowieso ken“ angelangt. Ich erwische mich beim Flirten, und
eher befremdlich vorkommen. Ab wann Verschränken habe zumindest das Gefühl mein Gegenüber ist nicht
sich queere Bearbeitungen des Körpers mit anderen abgeneigt. Ja, Leute abchecken, apropos, „Du...?“ flüstert
Körpernormierungen bis hinzu Selbstdisziplinierungs- sie mir zu. „Jaaa?“ „Weißt du eigentlich...“ „Hm...? *räu-
techniken? sper*“ „Wie der Typ da drüben heißt?“ Bang! Das hat
gesessen. Okay, ich dachte WIR flirten gerade. Sorry,
Bei dem Di:Day- Vortrag vom 10.11 mit dem Titel wie blöd von mir. Ich als Person, die selbst die meiste
„Geschlechterfantasien. Du musst den Scheiss fühlen“ Zeit hetero Praxen lebt, klage natürlich gleich am näch-
stellte der Vortragende zu Nation und Geschlecht ganz sten Tag einem guten Freund meiner Wahl mein Leid.
richtig fest, dass patriotische Heimatgefühle Menschen Der, wie könnte es anders sein, schwul ist. „Scheiß
mit emanzipatorischen Ansprüchen reichlich absurd Heteronormativität, bla, würg, kotz, %$“%/“&!“ bricht
vorkommen und dass dieses Gefühl auch nicht einfach es über ihn hernieder. Gute Freunde zeichnen sich darin
nachvollziehbar ist. Alles in allem spiegelt dies einen aus, dass sie einen nicht nur gut kennen, sondern auch
linksradikalen Grundkonsens wider. Bei Geschlecht ist mal dezent die Stirn bieten. „Und wenn sie jetzt gefragt
das hingegen schon uneindeutiger. Es kann zwar als hätte, wer diese Typin ist?“
Konstrukt verstanden und politisiert werden, oft jedoch
derartig nicht gefühlt. Heterosexelle Cisgender können Ich verstand natürlich worauf mein Freund mich dezent
nicht einfach rational entscheiden, dies nicht zu sein. hinweisen wollte, trotzdem reihte sich das damalige
Und genauso gibt es Grenzen der Einfühlbarkeit in Erlebnis in Überlegungen, bezüglich Heteronormativität
Bezug auf jene, die „abweichen“. So kann etwa ein und Strukturen der radikalen Linken, ein. Ernsthafte
Bedürfnis nach Binding für eine Person schon selbst Auseinandersetzungen wie heteronormativ die Szene ist,
reichlich verwirrend sein, vor dem Spiegel zu stehen finden sich spärlich, und oft eher im privaten. Etwa
und irgendwie sieht es richtig (= gut) aus, fühlt sich aber inwiefern es für Lesben und Schwule (gerade innerhalb
auch komisch an. Warum eigentlich? Wenn beim eige- des nochmal eingeschränkten Ressourcenpools „Szene“)
nen Selbst ein “Warum?” bleibt, wie soll es dann erst für schwieriger ist jemensch kennenzulernen. Für Frauen*
andere leicht nachvollziehbar sein? Gibt es überhaupt bietet sich mit Frauen*/ Trans* - Freiräumen und
eine Sprache dafür? Beim Binding Workshop, der den Veranstaltungen noch eher ein Möglichkeiten, weil Bio-
Touch von einer heiteren gemeinsamen Bastelstunde Männer dort grundlegend ausgeschlossen sind. Dass bei
hat, verschwinden derartige Ambivalenzen. Obwohl für Queer-Parties eine Atmosphäre jenseits von Hetero-
den Moment ein spezifischer Kontext entsteht, der die dominanz gewünscht wäre, kommt Personen nicht
Praxis auch normalisiert, wirkt alles oft auch etwas immer in den Sinn. Eigentlich ist es erstaunlich, wie
gekünstelt. Denn selbst wenn mensch „Normalität“ als wenig in linksradikalen bzw. autonomen Kontexten die
Konstrukt auffasst, bleibt der Kampf mit der gesamt- Debatte geführt wurde, ob es nicht erneutes Dominanz-
symbolischen Ordnung in den Tiefen des Subjekts. Das verhalten des hegemonialen, unmarkierten, hetero-
Warum-mache-ich-das-eigentlich bleibt insofern ein sexuellen Subjekts darstellt, sich nicht einmal die Frage
warum, weil es eben kein (ausschließlich) strategisches zu stellen, ob sie auf einer Queer-Party etwas verloren
Handeln zum Zweck des Kampfes gegen eben diese haben. Beziehungsweise, wenn sie dort hingehen, was
Ordnung darstellt. Rational. Nein, du fühlst auch sie gerne finden würden. Gleichzeitig zeigt sich, dass
irgendeinen Scheiß. dann absurderweise gerade Queer-Parties „an sich“
implizit eine gewisse „Unauthentizität“ unterstellt wird.
Alltagserlebnis 2# Außen/außer viel Glitzer, wenig dahinter. Und nein, es
soll und kann keine queer „Polizei“ gegeben. In dem
Ein Szene-Party Abend wie so viele. Ich habe den gan- Wort Atmosphäre schwingt auch mit, dass es nicht
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immer leicht festzumachen ist, woraus diese behaupten heterosexuelle und cisgender Identität
Stimmung besteht oder entstehen kann. Es verweist wären „reaktionärer“ als queere. Oder Queere
eher auf ein Zusammenspiel von mehreren wären nicht subversiv. Die Subversivität kann sich
Elementen. Das Potenzial des Queer- Begriffs lag immer nur auf die jeweiligen Praxen beziehen, diese
immer in seiner Offen- und Unabgeschlossenheit, Bedürfnisse zu verwirklichen...
wodurch immer wieder Kategorien hinterfragt wer-
den konnten. Gleichzeitig liegt in dessen Dieser Artikel entstand aus einem Bedürfnis
Ausdehnungen auch die Gefahr der Zähmung, Reflexionen zu Teilen. Er stellt ein Sammelsurium
Beliebigkeit und Vereinnahmung. Die Gender- aus eigenen Erlebnissen, theoretischen Gedanken,
Wissenschaftlerin Hanna Hacker beschrieb etwa Erfahrungsberichten, sowie intensiven Gespräche
Tendenzen der Kommerzialisierung von Queer zu und Erlebnisse mit Freund_innen dar. To be conti-
einem weiteren hippen und chicen Lifestyle von vie- nued...
len mit „we are here, we are queer, we go shopping“.

Queer Labeling - Solidarität und Grenzen der 1 Cisgender:


Subversivität Die offizielle Bezeichnung für Nicht-Trans*
Personen bzw. jene, die sich mit ihrem zugeschrie-
Eine Verschiebung der Debatte, die sich ausschließ- benen Geschlecht identifizieren. Der Begriff dient
lich auf Fragen der „prinzipiellen“ Subversivität von einerseits als Alternative zur Bezeichnung der eige-
Queer bezieht, muss scheitern. Beispielsweise wenn nen Identität als „normal“ und legt andererseits
frau behauptet, sie könne Transmänner nicht verste- einen Fokus darauf, nicht nur die minoritäre
hen, auf gewisse Art und Weise seien diese ja doch Gruppe zu definieren. Im Deutschen werden auch die
„zum Feind übergelaufen“. „Der Feind“ im eigenen Ausdrücke Bio-Mann und Bio-Frau verwendet.
Bett ist aber okay. Queers und Trans* werden somit
auf ihr subversives Potenzial instrumentalisiert und
reduziert. Somit kann sich der Begriff als Label auch
angeeignet werden. Es fehlt noch der extra subversi-
ve Touch? Kein Problem: zum Drüberstreuen fügen
wir noch eine Prise "queer" hinzu. Gleichzeitig
schleicht sich so wiederum leicht ein quantifizieren-
des Denken ein, dass den Circulus Virtuosus end-
gültig verschnürt: Haben diese handvoll Trans*,
diese handvoll Schwule und die paar Lesben, diese
bisschen größere handvoll Bisexuelle, die handvoll
Menschen, die sich Crossdressen, diese handvoll
Die-wissen-ja-selber-nicht-was-sie-sind und Wie-
auch-immer Menschen, überhaupt ein Potenzial,
dass diesem ganzen Queer-Gehype gerecht wird?
Die eigentlich Frage nach den vielschichtigen
Bedürfnissen (und Möglichkeiten der
Selbstbestimmung) von Individuen, die eben all zu
oft quer zur hegemonialen Bedürfnisproduktion
stehen, geraten so letztendlich ins Hintertreff. Beim
großen Battle des „Wer ist am subversivsten?“ wer-
den all zu gerne Identitäten gegeneinander ausge-
spielt. So gesehen macht es also gar keinen Sinn zu
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Leben? Es gibt kein Kontinuum mehr!


Ein Aspekt der Sexualität bei
Arno Schmidt
ie Behandlung des Themas Sexualität zieht Belletristik, in welcher Geschlechterrollen und
D sich wie ein Generalbaß durch das
Gesamtwerk Arno Schmidts und avanciert in den
Frequenz/Art/Intensität... der sexuellen Kontakte
weiterbestehen, als gäbe es keine Gründe für eine
großformatigen Typoskripte der späten Zäsur.
Schaffensphase fast zur Hauptmelodie. Hier soll Arno Schmidt sieht sich also mit einer offensicht-
aber weniger auf Schmidts Beweisführung des lichen Doppelmoral konfrontiert und ist dennoch
Etyms, also einer weiteren Instanz jenseits der versucht, der durch Narben des Krieges und
drei Freudschen, welche permanent, sexuell auf- strukturelle sexualisierte Gewalt im Allgemeinen
geladen und die wahren Abgründe der Sprache lädierten Sexualität eine adäquate Form zu geben.
A r t e f a c t s

aufzeigend, reinn/muschelt, eingegangen werden. So verwundert es kaum, daß der Schrecken und
Diese Operation vollzieht sich auf der rein phone- das Elend der Vergangenheit stets auch in die
tischen Ebene und ließe bestimmt Lacan, welcher sexuelle Gegenwart hineinspielen beziehungs-
insistiert, dass das Lautmaterial stets weiterarbei- weise mit Sexualität verbundene Elemente wie
tet und sich verselbständigen kann, frohlocken: Eros oder Liebe strukturieren, die unschuldige
Phillaicht ist es des Autors Kissmett, durch Idee der (wahrscheinlich inexistenten) idealen/
zuPhall auf zu-Fellige lie/eibrei/iechige, verwegen- wahren Liebe scheint für immer verloren. So
ste lyrische, pee-cunte convulvulushige Überphäl- kommentiert der Erzähler in Brand's Haide selbst
le auf Orthographie und Sündtax reduziert zu das profane Aufhängen der rosafarbenen Wäsche
werden. zweier Frauen folgendermaßen: „Jetzt wurde es
Aus dem phasenweise alles andere als linkspro- rosa: aber auch gleich so gemein rosa, wie in
gressiven Kosmos der Schmidtschen Sexualität, einem Mädchenpensionat um 1900; als sei nichts
welche sich generell in einer aussichtslosen passiert; schamlos“.
Buhlschaft mit stets wohl sortieren Bücherregalen Inmitten eines revanchistischen Diskurses, wel-
(trotz atomarer Katastrophe oder Eliminierung cher systematische Vergewaltigungen nicht als
ganzer Kontinente!!) und aus der Perspektive (männliche) Kriegsstrategie, sondern meist als
dominanter=männlicher Protagonisten und deren russisch-kommunistische Besonderheit zu mar-
Erzählperspektive vollzieht, wird hier der kieren versucht, ist Schmidt einer der ersten, wel-
Themenkomplex „Sexualität nach dem 2. che diese Gewalttat auch in ihren Konsequenzen
Weltkrieg“ umrissen. wie Retraumatisierung literarisch vermitteln.

Schreiben nach WWII Sexualisierte Kriegsgewalt

Die Kontinuitäten nazistischen Denkens als auch Die gesamte schreckliche Allgegenwart von sexu-
eine immer repressiver werdende Sexualmoral in alisierter Gewalt in der Nachkriegszeit wird zum
den ersten Jahren des Nachkriegsdeutschlands Beispiel in „Schwarze Spiegel“, in welcher sich der
stellen nicht die einzigen Herausforderungen für Protagonist nach einer weltweiten Katastrophe als
Autor_innen, welche sich dem beinahe totge- letzter Überlebender wägt und die anscheinend
schwiegenen Komplex Sexualität nähern, dar. letzte Überlebende im Wald überwältigt hat,
Adornos Maxime „Ein Gedicht nach Ausschwitz anhand ihrer allerersten Worte („Sie staunte
zu schreiben, ist barbarisch“ wird von vielen auch müde : > Und Sie haben mich nicht vergewal-
inhaltlich auf die Sexualität erweitert und steht tigt.<) deutlich. Gerade die Beiläufigkeit der
hiermit in krassem Widerspruch zu dem weiter- Schilderungen seitens weiblicher Erzählfiguren
hin florierenden Markt an pornographischer führt zu einem dichten und unentrinnbaren Netz
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der „Normalität“ hinsichtlich im Krieg erlittener Mittelfinger“ auslösendes Moment ist. Eine weitere
sexualisierter Gewalt. traumatische Erinnerung löst die andere nicht ab,
Besonders brutal und entlarvend ist in dieser ohne Erkennen der beidseitig ruinierten Sexualität
Hinsicht die eheliche Misere in „Kaff auch Mare bleibt das Paar in dem miserablen Amalgam aus
Crisium“, in welcher der vom Krieg gezeichnete Sexualität und Gewalt verhaftet.
Protagonist Karl völlig ignorant und bar jeglicher Der Roman „Das steinerne Herz“, in welchem ein
Sensibilität im Umgang mit diesem Thema ist. bibliophiler Archivar eine Zweckgemeinschaft
Nachdem Hertha wiederholt von ihrem schlimmen wegen unter den Dielen lagernder seltener
Erlebnis träumt, kommentiert er folgendermaßen: Schriftstücke mit Frida, welche dieses Spiel durch-
„Ich weiß. - <Passiert> war ihr ansonstn damals schaut und durchaus für ihre Zwecke funktionali-
nichts weiter; Nur als sie in´n Westn rüberwexeltn, siert, eingeht, gilt mit großen Vorbehalten neben
hatte 1 Pole=Star, nach Armbanduhren & Ringen „Seelandschaft mit Pocahontas“ als der positivste
lüstern, ihr den Mittelfinger ins Unterernährte rein- Versuch im Frühwerk, inmitten belastender
geschteckt – das vergaß sie Rappatzkie ´s nie! Trümmer und (Haut-)fetzen der Vergangenheit eine
(Einerseiz mit Recht. Andererseiz ist jener Plan „sexuelle Fluchtutopie“ zu kreieren. Doch während
natürlich …)“ Hier lassen sich sowohl eine völlig das Liebesglück des einen Paars wegen einer
unzulässige Relativierung der Wahrnehmung anscheinend unlädierten Sexualität phasenweise
Herthas als auch eine Desexualisierung des Über- gegeben ist, ist der in der Parallelbeziehung zu Karl
griffs, da es ja schließlich um Wertgegenstände geht, stehenden Linne jeglicher körperliche Kontakt zu
erkennen. Zudem ist in der Perzeption Karls ein Männern undenkbar. Im Gegensatz zu „Kaff auch
weiterer, sich in der Folge gravierend auswirkender Mare Crisium“ ist es die Betroffene selbst, welche
Denkfehler eingeschrieben: Nicht der Pole ist das Erlebte relativiert. So fügt sie der Erzählung
unvergessen, sondern Hertha ist voll und ganz in über eine Mitschülerin, deren Eltern sie wegen
diesem Ereignis befangen, sodass es zuallererst ihr Lebensmittel andauernd vergewaltigen ließen, lako-
unvergessen bleibt, so sehr sie es auch vergessen nisch hinzu, dass sie wegen einer Augenentzündung
will. Hieraus resultiert die nächste und eines Ausschlages manchmal in Ruhe gelassen
Retraumatisierung, da Karl der Situation völlig worden ist. Eine weitere
unangemessen eine sexuelle Schilderung mit der Retraumatisierungsabwehr/Verdrängung finden wir
traumatisierenden Gewalterfahrung Herthas bei ihrer Schilderung der auch an ihr durchgeführ-
zusammenfallen läßt: „vom=Knie=an=aufwerz: dies ten intimen Perlustrierungen, welche sie entsexuali-
also 1 der knochijeren Warrianntn. Leider war das siert und sogar ihre Peiniger entlastet, da „eine frü-
eigentliche <Paradies> [...] mit rabenschwarzem her mal ne Taschenuhr drin gehabt hätte“.
festem Floor überschpannt [...]. Sonnst hättesDu Den Protagonist_innen ist das Leben ein einziges
geschpürt, daß 1 gerrmanischer Mittelfinger...“ elendes Provisorium „(<Lebensbahn>,
Als sich die eigentlich als Trost gedachten <Lebensreise>? : so was Vornehmes gabs früher;
Handgreiflichkeiten zu einer Mischung aus Krieg heute robbt man bis zu dem Dreckpunkt, wo Einem
und Sex dergestalt konkretisieren, dass selbst Karl <seine> Granate <trifft>“ und hiermit auch die
wegen der von ihrer Erinnerung gemarterten und Sexualität als zentraler Lebensbestandteil als nicht
dadurch regungslosen Hertha an ein mehr positiv zu werten. Im Folgenden sollen natür-
Mißverständnis glaubt, schildert sie ein weiteres lich vergebliche Verschiebungs- und
Erlebnis von ihrer Flucht, an welches sie die sexuelle Abwehrmechanismen skizziert werden.
Schilderung Karls und vor allem die Wendung „rei-
fije Bauchmähne“erinnert hat. Als 16-Jährige hat Verschoben ist nicht gleich aufgehoben?
Hertha gedankenverloren neben einer nackten, im
Schnee liegenden Frauenleiche, welche „ooch lauter Theweleit hat anhand des hier nicht näher behan-
<Reif=im=Schaam=Haar> gehaapt“ hat, Kaffee delten Werkes „Seelandschaft mit Pocahontas“
getrunken. Die prinzipielle Unmöglichkeit Karls, überzeugend dargestellt, dass Schmidt um die
welcher sich unter anderem stets in eine für immer Umschreibung von latenter und geschehener Gewalt
ruinierte Vorkriegssexualität flüchtet und sich nie in Lust bemüht ist, die dargestellte Sexualität ist also
mit seinen eigentlich homophilen Neigungen kon- eigentlich der Verschiebungseffekt in Form einer
frontieren will, mit der Vergangenheit Herthas adä- Sexualisierung von Elementen, die nicht zwangs-
quat umzugehen, zeigt sich in seiner Euphorie, dass weise mit Sexualität zu tun haben müssen.
hier endlich einmal nicht der „polnische
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Eine der einfachsten Taktiken besteht für die intellek- Pflanzenleib mir zu.“
tuellen, aber sexuell porösen Protagonist_innen darin, Angesichts einer derartigen Verdichtung und hier nur
durch Sprache Körper und Geist zu trennen, also in kurz angedeuteter Verschiebungseffekte kann auch ein
gewisser Hinsicht ihr Genital zu externalisieren. In dem weiterer Bewältigungsmechanismus nur zum Scheitern
„Steinernen Herz“ lesen wir folgendes: „La Dame aux verurteilt sein. Sämtliche Figuren in den Frühwerken
Camélias : sie war mit einem dünnen, ebenen, gegen die Schmidts könnten auch als Negativfolie zur
Ekliptik geneigten Ring umgürtet (genau nach der Protagonistin in Roches Feuchtgebieten firmieren. Ich
Huygens'schen Definition; und rosa gerippt war er auch kenne kein weiteres Gesamtwerk, in welchem sich
noch. Also nicht ? Aber sie strahlte eifrig : <Nain: Du Menschen in Verbindung mit Sex derart oft und fast
kanns! Iss eben vorbei!> - Auch mein Bauch war bald obsessiv waschen oder gar der Gedanke an eventuell
nackt : also erst mal das erledigen. Die weiße nicht keimfreie Körperpartien sämtliches
Riesenklaue ihres geöffneten Leibes; ich hatte keine Lustempfinden verunmöglicht. Während der ebenso
Lust, aber moi.“ Neben der typischen Reaktion der unter Waschzwang leidende Winer eigentlich ganz froh
Schmidtschen Hauptfiguren, sämtlichen Lebensalltag in ist „daß wir nicht genau wissen, wie sehr wir die Frauen
Literatur oder Wissenschaft zu kleiden, was auch ennuyieren und anekeln“, präsentiert sich die Situation
Einiges über ihre Kernkompetenzen als auch in „Kaff “ als Grenzbereich zwischen Neurose und feh-
Veredelungstendenzen aussagen könnte, interessiert hier lender realistischer Darstellung. Tante Heete bemerkt
das moi, welches sich wie ein Leitmotiv durch fast sämt- über die abwesende Hertha: „Ja; könn'n tut sie ja, das
liche Romane und Typoskripte zieht. Diese rein sprach- hab ich obm gerochn.“ Alleine die Vorstellung, dass
liche Operation muß auch wie in obigem Beispiel selbst- nach beschriebener penibelster Waschung und
redend scheitern, sehr bezeichnend ist hierfür eine wei- Kondomverbrennung am nächsten Tag die Liebesnacht
tere Schilderung im Steinernen Herz. Der Protagonist noch „anrüchig“ ist, bezeugt in unrealistisch überhöhter
träumt, dass ihn zum wiederholten Male rote Fische Darstellung die Atmosphäre eines unbändigen Ekels vor
fressen, wenig später wird dieser Traum, logischerweise allem Körperlichen.
inmitten des latent durch Angst und Gewalt begleiteten Ebenso kann die vor allem im Spätwerk anzutreffende
Koitus „dechiffriert“: „Komm her, Du Fisch!“ [...] (alli- Ersatzhandlung des Redens über Sexualität, welches sich
gatoren klafften Schenkelkiefer; um ein buschiges schon mal über 100e A3-Seiten ziehen kann, nichts an
Kleinnmaul : ihr Körper schnappte zu)". Wir dürfen dem Dilemma eines Verdrängens der lädierten
hier zu Recht an längst überwunden geglaubte oder Sexualität ändern, solange keine Konfrontation oder
gerade noch immer Aktualität einfordernde Bilder wie zumindest ein erstes Erkennen stattfindet.
jenes der vagina dentata, Kubins Todessprung oder eben Bezeichnend hierfür ist die pseudosouveräne, intratex-
an die klassische Verschiebung von tuell immer wieder auftauchende biblio-
Gewalt/Angsterfahrungen in sexualisierte Vorstellungen phil=euphorische Bejahung der Hauptforderungen an
denken. Selbst der den Leser_innen von ProjectX wohl den Historiker seitens Dionysius von Halikarnassos:
bekannte Journalist Winer fällt auf der „keine Religion, kein Vaterland, keine Freunde: das
Gelehrtenrepublik in irritierendes Vokabular zurück: kannste haben!“
„bis an die Knöchel stand sie in der weinroten Lache des Den durch die Irrwege, Labyrinthe und Sackgassen der
Teppichs./ Ich lag schon“. Diese Schilderung erinnert Sexualität mäandernden Hauptfiguren seien an dieser
eher an eine Schlacht als an sich anbahnende Stelle nicht jahrtausend=alte Argumente, sondern die
Intimitäten, (Schreiben über) Sexualität ist also perma- Lektüre einschlägijer Komm=penn=dijen für
nent einer brutalen Bildsprache oder Assoziationsketten Gynäko=Mannie, professionelle Hilfe oder die Lektüre
ausgesetzt, welche sich sogar in Alltagsbeschreibungen ausgewählter Artikel in dieser Ausgabe empfohlen.
verlängert.
Die letzten beiden Überlebenden in der Erzählung
„Schwarze Spiegel“ beschließen einen Waffenstillstand
und schmidttypisch die ausbleibende Rettung der Welt,
da Nachwuchs angesichts dieser Menscheit für unsere
negative Adam und Eva-Variante undenkbar ist.
Inmitten des Idylls aus ausgelöschter Menschheit, aber
(kompensatorisch) völlständig erhaltener Bibliothek
lesen wir unvermittelt folgende Kochbeschreibung: „Sie
zog einem Waldchampignon das Präputium zurück,
beschnitt den Rand und schob den verstümmelten
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Topographie der Spannungen und


Verwerfungen
ährend bislang die meisten Analysen des Gesamtwerks zeigt der Autor nicht
W Schriften, die sich mit
Pasolinis Werk auseinandersetz-
nur die Vielschichtigkeit in Bezug auf Stil, Form
und Inhalt von Pasolinis Schaffen, sondern auch
ten, versuchten, diese von bio- Verbindungen zwischen den unterschiedlichen
graphischen Standpunkten aus Gattungen. So meint Groß beispielsweise, dass „die
zu betrachten und erklären, Literatur Pasolinis von Anfang an ihre Themen
wählt Bernhard Groß in seinem kinematographisch bearbeitet, während sein Kino
2008 erschienen Werk „Pier sich mit literarischen Problemen auseinandersetzt“.
Paolo Pasolini. Figurationen des Durch seinen Zugang, Pasolinis Werk als eine
Sprechens“ eine theorie-, film- und literaturge- „Topographie der Spannungen und Verwerfungen“
schichtliche Annäherung und fragt nach der zu verstehen, ermöglicht der Autor nicht nur eine
„immanenten poetischen Logik, die dieses Werk in neue Betrachtungsweise von Pasolinis Schaffen,
seiner Heterogenität und Brüchigkeit durchzieht.“ sondern verdeutlicht auch seine Aktualität.
Groß berücksichtigt dabei das Gesamtwerk des
Italieners, von den Dialekt- und Lehrgedichten bis Bernhard Groß: Pier Paolo Pasolini. Figurationen
hin zu seinen Romanen, Filmen und Theorieessays. des Sprechens. Berlin: 2008
Die Logik erkennt er in der Entfaltung von
„Bildräumen“, die folglich sowohl optisch als auch
akustisch wirken sowie im Wechsel von Gattungen
und Medien, Ausdrucksformen und Redeweisen,
die Groß als Prinzip erkennt. Durch die detaillierten

Status Queer der Verhältnisse


nter dem Titel „Verqueerte einander und wird im zweiten Teil mit dem Titel
U Verhältnisse“ erschien vor kur-
zem ausgehend von der
„Mehr Intersektionen“ um die Analyse- und
Verflechtungsebene der Ökonomie bzw. des
Vortragsreihe „Jenseits der Kapitalismus (oder auch Neoliberalismus) ergänzt,
Geschlechtergrenzen“ der zweite wohingegen im dritten Teil mit dem Titel „Inter-
Sammelband der AG Queer Studies. ventionen“ Möglichkeiten nicht-identitärer Arbeit
Trotz der Unterschiedlichkeit der aufgezeigt werden. So kommt vor allem auch die
zehn Beiträge, die von „Sexuelle Reflexion über queere Praxen und die Gefahr in
Spektakel von Kiez und Nation“ bis zu „Ökono- neue Machtverhältnisse, Zuschreibungen und
queer“ reichen, wird klar, dass sich ein gemeinsa- Ausgrenzungen zu verfallen nicht zu kurz. In
mes Interesse vor allem daraus ergibt, „queere Summe zeigt sich, dass die im akademischen
Themen“ wie Geschlechterdichotomien und Betrieb oftmals radikalitätsentleerten Konzepte der
Heteronormativität ausgehend von anderen Intersektionalität und Queer Studies in dem vorlie-
Herrschaftsverhältnissen wie Rassifizierungen, genden Band nicht nur politisiert werden sondern
Kapitalismus, Ökonomie, Politik zu betrachten und vor allem auch subversiv aufgeladen und somit
die Zusammenhänge ausgehend von Inter- einen spannenden und vor allem auch bedeutungs-
sektionalitätskonzepten zu analysieren. So setzt sich vollen Beitrag zu einer radikalen, queeren
der in drei Teil gegliederte Sammelband in einem Gesellschaftsanalyse beitragen.
ersten Teil mit dem Titel „Intersektionen“ mit den
Verflechtungen von Geschlecht, Sexualität mit
anderen (rassifizierenden) Machtverhältnissen aus-
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Völkische Verbindungen - Beiträge zum


deutschnationalen Korporationswesen
ie im Juni 2009 erschienene Broschüre wurde aus der dem Umgang der Universität Wien mit den Korporationen.
D Motivation heraus geschrieben, die neu aufgeflammte
Diskussion über deutschnationale Männerbünde fortzuset-
Geschichtlich wird der Umgang der Uni Wien mit
Burschenschaften aufgezeigt und die nationalsozialistische
zen. Ihr Beitrag liefert zur Diskussion in erster Linie eines: Kontinuität herausgehoben. Die AutorInnen haben sich dafür
Information. Das liebevoll „Burschi-Broschüre“ genannte entschieden, das Werk in Softcover und dafür gratis zu ver-
Werk klärt schonungslos und akribisch über Hintergründe, breiten. Somit kommt augenscheinlich nicht die Funktion
Verstrickungen und die Geschichte der deutschnationalen dieser Broschüre ans Licht. Denn ein Nachschlagewerk ist im
Korporierten auf und im Zuge dessen zerstört und belegt sie Normalfall fest gebunden. Doch die Prioritätensetzung der
wissenschaftlich und hemmungslos jene Mythen, mit welchen AutorInnen ist unter dem Aspekt äußerst verständlich, wenn
sich die Völkischen all zu gern umgeben. Diese Beiträge sind beachtet wird, dass die Broschüre somit in einer sehr hohen
ein exakt recherchiertes und vollständig mit Quellen belegtes Auflage für eine große LeserInnenschaft leicht zugänglich
Nachschlagwerk, das auf keinen Fall in den Bücherregalen gemacht wurde.
von AntifaschistInnen fehlen darf. Auch NeueisteigerInnen Wer also noch immer nicht weiß, warum die Couleur-
gibt sie die wichtigsten Argumente gegen jenen revisionisti- bummler jeden Mittwoch zum Siegfriedskopf bummeln
schen Müll in die Hand, den die Zerschlitzten so gerne ver- wollen, sollte das in diesem Nachschlagewerk schleunigst
zapfen. Außerdem wird der Bogen von den Korporationen
nachlesen, spätestens ab jetzt gibt es keine Ausrede mehr.
zur Freiheitlichen Partei gespannt und diesbezügliche
Verstrickungen und Zusammenhänge beleuchtet sowie das
Phänomen der Mädelschaften genauer unter die Lupe Zu haben ist sie übrigens natürlich auf der ÖH, im Queer
genommen. Ein ganzes Kapitel widmet die AutorInnenschaft (w23), auf der GeWi und in sämtlichen Infoläden.

Marx & Engels intim


eine_r ist perfekt, heißt es, mitunter lapidar, so oft. Dass Organisation fehlte, aber hiernach scheint sie bereits im
K dies auch Karl Marx und Friedrich Engels (be)trifft,
bekommen wir seit einiger Zeit zu hören. Den gelesenen pri-
geheimen zu bestehen. Und da sie ja in allen alten und selbst
neuen Parteien, von Rösing bis Schweitzer, so bedeutende
vaten Briefwechsel eben jener haben nun Harry Rowohlt Männer zählen, kann ihnen der Sieg nicht ausbleiben.
(aufgrund seiner optischen Ähnlichkeit, wie er selbst einge- „Guerre aux cons, paix aus trous-de-cul“[Krieg den Mösen,
steht, als Marx ) und Gregor Gysi (da nicht mehr viel übrig Friede den Arschlöchern; Anmerk.], wird es jetzt heißen. Es
bleibt, als Engels) als Hörbuch veröffentlicht. Während Marx ist nur ein Glück, daß wir persönlich zu alt sind, als daß wir
und Engels über Gott und die Welt lästern, verliert mensch noch beim Sieg dieser Partei fürchten müßten, den Siegern
fast den Überblick, wen diese nun eigentlich als das größere körperlich Tribut zahlen zu müssen. Aber die junge
Übel verorten: dieses „barbarische Volk“ der Slawen, den Generation!" Wer nicht all zu sensiblen Gemütes ist erlebt
bigotten „Juden-Nigger“ Lassalle, oder sind es gar die die hier, nebst einem schonungslosen Stimmgewitter aus
Arbeiter, die sowieso immer schon die größten „Esel“ auf Schimpftiraden, bis hin zur eigenen Mutter von Marx, eine
Erden waren? Die Deutschen dürften es wohl kaum sein, ironisch-inszenierte Personenkult- Demontage mit
denn diese hätten ihre „Ebenbürtigkeit“ – bis hinzu „Überle- Unterhaltungswert, wobei sich zugleich als historisches
genheit“ – sowieso schon längst „wissenschaftlich“ bewiesen. Dokument zeigt, wie tief greifend nationalistisches Denken,
Auch zu unserem diesmaligen Schwerpunkt findet sich das antisemitische Stereotype, Rassismus, Sexismus und
ein oder andere passende Zitat. So etwa wenn Engels am 22. Homophobie gesellschaftlich verankert waren und sind.
Juni 1869 einen Brief an Marx verfasst, in dem er Schriften
von Karl-Heinrich Ulrichs über Homosexualität folgender- Marx & Engels intim. Harry Rowohlt und Gregor Gysi
maßen kommentiert: „Das sind ja äußerst widernatürliche aus dem unzensierten Briefwechsel. 1 CD (Live-
Enthüllungen. Die Päerasten fangen an sich zu zählen und
Mitschnitt) [Audiobook] 2009
finden, daß sie eine Macht im Staat bilden. Nur die
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Vom Klagelied
zur Verachtung
wei Jahre ist es her, dass das Editionkollektiv Gedichten. „3 Fälle“ sollen dabei helfen, es nie mehr
Z Mezzanin zum letzten Mal mit einer Publikation
an die Öffentlichkeit schritt und ihr damals neuestes
unverdeutlicht sehen zu können, während die
„Genauigkeit des Zufalls“ in „1975“ beschrieben
Buch präsentierte. Im Oktober dieses Jahres war es wird. Aber auch Gewässern wird literarisch auf den
dann wieder so weit. Mit einem stimmungsvollen, Grund gegangen. Wird in dem Text „Linien des
facettenreichen und vor allem rauschenden Fest Meeres“ versucht, die Liebe zum Meer zu retten und
wurde unter dem Titel „Unzeitgemäße von der Seemannromatik zu befreien, widmet sich
Verachtungen“ erneut eine überlegte Textsammlung, „Teich“ einem geerbten Teich in Simmering, der als
die 14 Beiträge auf 126 Seiten umfasst, präsentiert Ausgangslage für eine in Briefform betriebene
und gefeiert. Die ursprünglich als „Klagelieder“ kon- Selbstreflexion fungiert. Die lyrische Behandlung
zipierte Ausgabe verspricht nach Selbstangaben eine der „Militanz“ jedoch kommt leider nicht ohne plat-
„materialistische Seelenarchäologie“ und te Kriegsmetaphern aus. Nicht zu überblättern sind
„Unzweideutigkeit“, denen die AutorInnen mit allem auch die humorhaften und doch erschreckenden
sprachlichen Mitteln und Möglichkeiten nachzu- Alltagsgeschichten aus Tirol oder die in „Lightening“
kommen versuchen. Wenngleich zwar nicht immer gestellte Frage „Was schreiben die Menschen in
geklagt oder verachtet wird, so bietet der Band eine Griechenland nur für Gedichte.“ Die Anwendbarkeit
beeindruckende Breite unterschiedlicher Beiträge des Spruches „mensch liest ja auch mit dem Auge“
und Ausdrucksformen, deren Gemeinsamkeit sich vollzieht sich nicht nur an Hand der schlichten aber
nicht nur im geteilten Interesse am Schreiben liegt. äußerst überlegten Gestaltung der Publikation, son-
Und so wird weder erzählt um zu erzählen oder dern vor allem auch an den Buchstabenpositionen in
geschrieben um zu schreiben, sondern vielmehr um einzelnen Texten. Was zwar beim schnellen
aufzuschreiben, aufzuzeigen und anzuprangern. Hinschauen nach Dada aussehen mag, wird beim
Nach dem Vorarbeiten durch die beiden Vorwörter genaueren Lesen von „Ausräumungen“ jedoch
und dem Fortwort stellt Protagonistin Mara mit schnell zu „Wortenden Tapeten“ in der SCS oder ein-
Handständen nicht nur die Welt auf den Kopf son- fachen Aufzählungen. Dass sich in den zwei Jahren
dern konfrontiert mit der „Treibjagd Weihnachten einiges getan hat, zeigen folglich nicht nur die Texte,
1944“ nicht nur mit einer Großvatergeschichte son- die das Kollektiv der Zeitschrift Project X zur
dern deutsch-österreichischen Familiengeschichten. Verfügung stellte, sondern auch die detailreiche,
Leichtere Kost gibt’s in einer weiteren Erzählung bei nahezu liebevolle Hand-(arbeit), die hinter dem
Protagonistin Bettina und ihren „Kunstproblemen“. Endprodukt steckt. Schließlich, um mit den Worten
Sybille wiederum muss sich im Text „Der Korb“ vor der AutorInnen zu sprechen: Langeweile ist
allem mit Herrn Sanftmuth rumschlagen. Um die Diebstahl an Möglichkeiten.
„ungerüht unberührbare“ Eva geht es gleich in drei

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