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Die Nadel hat einen Durchmesser von 0,8 Millimetern und ist fast vier
Zentimeter lang. Ein richtiger Schweinepiekser. Vierzig Spritzen sind
in einem Päckchen aus Griechenland eingetroffen. Die
Gebrauchsanweisung gibt es auf Italienisch, Französisch, Griechisch
und Arabisch, nur nicht auf Englisch. Aber es sind ja nur Spritzen,
der Gebrauch erschließt sich von selbst. Ich hatte sie ein paar Tage
lang auf meinem Schreibtisch liegen – als unübersehbare Tatsache. Als
Einladung. Als Drohung.
Der Inhalt sieht aus wie öliger Urin. Ein Kubikzentimeter Equipoise –
ein Mittel aus der Tiermedizin, das man normalerweise Mastrindern
spritzt – und zwei Kubikzentimeter Testosteron Cypionat: die zehnfache
Menge des Testosterons, das ein Mann meiner Größe in einer Woche auf
natürlichem Weg produziert.
Ich steche sie mir in den Hintern, Fleisch habe ich da genug. Erwischt
man eine Vene, droht allerdings ein Herzanfall. Ich stelle mir vor,
wie der Vermieter über meinen verwesten Körper stolpert. Die
Schlagzeile: Toter Vollidiot aus Kanada mit einer Nadel im Arsch
aufgefunden.
Die Nadel geht locker rein, ich merke gar nicht, dass sie meine Haut
durchsticht. Ich atme ein und injiziere die Flüssigkeit tief ins
Gewebe. Als ich die Spritze wieder herausziehe, schießt eine
Blutfontäne quer durch den Raum.
Vor einiger Zeit habe ich einen Roman geschrieben. Viele, die ihren
ersten Roman verfassen, schreiben über das, was sie gut kennen. Das
gilt auch für mich. Mein Protagonist ist… nun ja: ich. Das stimmt
nicht ganz. Er ist wohlhabender, verhätschelter und arroganter. Doch
seine tief sitzenden Ängste, seine angeborenen Schwächen – diese Dinge
haben wir gemeinsam.
Meine Hauptfigur begibt sich auf dunkle Wege. Dem Buch zuliebe, dachte
ich, würde ich ihn auf diesen Wegen begleiten. Er fängt an, wie
besessen zu trainieren. Ich fing an, wie besessen zu trainieren. Er
tritt in einen Boxverein ein. Ich trat in einen Boxverein ein. Er
nimmt Steroide. Ich beschloss, ebenfalls Steroide zu nehmen. Da war
nur ein Problem: Wo kauft man so etwas? Wen kann man fragen? Ich
googelte »Steroide« – und über ein paar Umwege erhielt ich nach Wochen
des angespannten Wartens ein Paket mit Pillen, Ampullen und Spritzen,
eingewickelt in durchleuchtungssicheres Spezialpapier.
Drei Tage nach Beginn des Zyklus beginnen meine Brustwarzen zu jucken:
Die Gynäkomastie setzt ein. Schüttet man genug Testosteron in den
Körper, reagiert er mit einer erhöhten Östrogenproduktion, die zur
Bildung von Brustgewebe führt. Bei dauerhafter Einnahme kann es so
schlimm werden, dass man eine chirurgische Brustverkleinerung
benötigt. Als ich am Morgen des vierten Zyklustages in den Spiegel
schaue, trifft mich fast der Schlag. Meine Brustwarzen, groß wie
Fünf-Mark-Stücke, sind sanft gedehnt wie die Oberfläche eines Ballons.
Die Haut hat sich zu geschwollenen Beuteln geformt, die aussehen wie
die Gumminuckel einer Babyflasche. Ich habe richtige Brüste. Unförmige
Hängebrüste.
Zu diesem Zeitpunkt fallen auch schon meine Haare aus: Als ich unter
der Dusche stehe, finde ich Dutzende roter Strähnen zwischen meinen
mit Shampoo eingeschäumten Fingern. Bald sind sie überall. Und nicht
nur die Haare auf dem Kopf, auch die Haare an meinen Armen und Beinen,
sogar am Hodensack fallen aus.
Eine Woche später spüre ich während einer weiteren schlaflosen Nacht
einen Wulst auf meiner Stirn. Schwellungen am Schädel – meist eine
Ausbuchtung über den Augenbrauen wie bei einem Neandertaler – werden
für gewöhnlich mit dem Steroid und Wachstumshormon Somatotropin in
Verbindung gebracht, das ursprünglich aus zerstampften
Hirnanhangdrüsen von Toten gewonnen wurde. Schädelschwellungen können
verschiedene Formen annehmen: Neben dem »Höhlenmenschenwulst« bilden
sich bei manchen Steroidkonsumenten Klumpen auf der Stirn, manchmal so
groß wie Hühnereier; dann ist ein chirurgischer Eingriff nötig.
Mein Rekord sind 20, mit der Gabel direkt aus der Dose. Schließlich
pendele ich mich bei sechs Dosen täglich ein, dazu fünf bis sechs
Protein-Shakes. Ich verbrauche vier große Pakete Proteinpulver pro
Woche und schaufle lustlos Tunfisch und Bananen in mich hinein, dazu
Eier ohne Eigelb und gekochte Hühnerbrust. Zum Glück verschafft mir
das Equipoise, das entwickelt wurde, um den Appetit von Pferden
anzuregen, den arg benötigten Hungerschub.
Meine Prostata fühlt sich an wie ein faustgroßer Ballon. Sie zwängt
die Harnröhre ein und macht das Wasserlassen zur Qual, drückt auch
gegen die Blase, weshalb ich ständig das Gefühl habe, aufs Klo zu
müssen. Ich pinkele 15-mal am Tag, mein Urin hat eine beunruhigend
dunkle Farbe. Wie im Fass gereifter Cognac. Ich höre, dass beherztes
Masturbieren bei Prostataschmerzen Linderung verschaffen soll. Doch
als ich es ausprobiere, kommt kaum etwas durch, und das wenige, das
schließlich zum Vorschein kommt, sieht aus, als schäme es sich dafür.
Bald masturbiere ich wie besessen, mindestens viermal täglich. Bei all
dem Testosteron in meinem Körper braucht es nicht viel, um mich auf
Touren zu bringen. Ich onaniere sogar zu Fotos muskulöser Frauen, die
Proteinpulverbehälter liebkosen!
Die Steroide sprengen die Grenzen meines Körpers. Zuerst spüre ich
ihre Wirkung auf der Hantelbank. Normalerweise liegt mein
Höchstgewicht bei 38,5 Kilo auf jeder Seite, also insgesamt 77 Kilo.
Doch nach zehn Wiederholungen mit den 38,5-Kilo-Gewichten bin ich
verblüfft: Es kommt mir vor wie ein Aufwärmtraining! Ich nehme die
40-Kilo-Gewichte, an denen ich mich noch nie zuvor versucht hatte. Es
geht ganz leicht, als hätte ich meinen Körper hinter mir gelassen: Die
Arme eines anderen stemmen die Gewichte – es sind nicht meine Muskeln,
die sich da strecken und zusammenziehen. Ich erhöhe auf
45-Kilo-Hanteln – und stemme etwa mein eigenes Körpergewicht.
Nachdem ich zwei Jahre lang nicht über maximal 77 Kilo hinausgekommen
war, habe ich mich jetzt schlagartig um 13 Kilo verbessert. Ich mache
Klimmzüge mit einer um die Hüfte geschnallten 15-Kilo-Scheibe,
Schultertraining mit 34-Kilo-Scheiben, arbeite mit 52 Kilo beim
Bizepstraining. Wenn das Fitnesscenter der Tempel des Körperkultes
ist, dann wandele ich mich vom Gläubigen, der gelegentlich zur Andacht
geht, zum Fanatiker. Ich werde zum Prahler und Stöhner.
Woche zwölf, ich wiege inzwischen 109 Kilo. In gut drei Monaten habe
ich 16 Kilo zugenommen. Mein Körper hat sich auf extreme Weise
verdichtet. Die Brustmuskeln sind solide Fleischwulste, meine
Rückenmuskeln wölben sich wie der Kopf einer gereizten Kobra. Meine
Trizepse und Bizepse sind derart angeschwollen, dass die Ärmel meiner
T-Shirts zu eng sind, um sie zu bedecken.
Ich habe chronische Rückenschmerzen, kann nicht weiter als ein paar
Häuserblocks laufen, ohne das Gefühl zu haben, als bohrte sich ein
faustgroßer Stein in meinen Rücken. Meine Beweglichkeit ist dahin.
Wegen meiner neuen Proportionen kann ich manche Stellen meines Körpers
gar nicht mehr berühren; will ich mich am Nacken kratzen, muss ich
erst eine Gabel aus der Schublade holen.Mein Zyklus geht zu Ende. Ich
habe alle Anti-Östrogen-Pillen geschluckt, jedes Gramm Testosteron,
Equipoise und Wachstumshormon gespritzt. Ich habe schätzungsweise 560
Dosen Tunfisch für ungefähr 750 Dollar gegessen. Proteinpulver für
1280 Dollar. Die Steroide selbst haben 600 Dollar gekostet.
Eines Morgens, anderthalb Wochen nach der letzten Spritze, wache ich
auf, und alles ist anders. Das Erste, was mir auffällt: Ich fühle mich
gut. Nicht mehr diese Schwerfälligkeit, nur ein bisschen
Gelenkschmerzen. Richtig erholt fühle ich mich. Dann, auf dem Weg zum
Badezimmer, spüre ich ungewohntes Gewicht zwischen meinen Beinen
baumeln – meine Hoden! Kollegen, wo seid ihr gewesen? Schön, euch
wieder bei mir zu haben, Jungs!
Das gute Gefühl hält genau zehn Schritte lang an – vom Bett bis zum
Spiegel. Vor mir steht ein menschliches Wrack. Wo sind meine Muskeln
geblieben? Von meiner Brust hängen zwei runzelige Säcke herab. Meine
Arme – meine Güte, meine Arme! Formlose Schnüre, die an eingedellten
Schultern befestigt sind. Mein Bauch sieht aus wie ein Luftballon, aus
dem die Luft entwichen ist, meine Beine sind jene eines Komapatienten.
Ich stelle mich auf die Waage: In einer einzigen Nacht habe ich rund
sechs Kilo abgenommen!
Ich hatte mich dermaßen an meinen neuen Körper gewöhnt, dass ich mich
jetzt wie eine Vogelscheuche mit aufgerissenem Bauch fühle, deren
Füllung auf den Acker quillt. Und es wird noch schlimmer, als ich ins
Fitnesscenter gehe. Brustmuskeltag, das heißt: Hanteltraining auf der
Langbank. Ich versuche es erst gar nicht mit meinen 47-Kilo-Hanteln.
Ich fange mit den 40ern an; würde ich sie stemmen können, wäre es
immer noch eine Steigerung im Vergleich zu meinen prästeroiden Zeiten.
Doch ich bekomme sie kaum von meiner Brust weg. Beim zweiten Versuch
krachen die Hanteln herunter, rollen von der Bank. Ich fühle mich wie
ein Betrüger. Alle, die in den vergangenen paar Monaten gesehen haben,
wie ich riesige Gewichte gestemmt und wie ein brunftiger Stier
gebrüllt habe – sie erkennen mich jetzt als das, was ich bin: ein
Scharlatan.
Alles, was ich erreicht hatte, ist wie weggefegt. Popeye ohne Spinat.
Schwach und gebrochen und ziemlich menschlich. All die Nadeln, die
vielen Kilo Protein, die ich mir reingedrückt hatte, der Urin
schwangerer Frauen, der durch meine Venen pulsierte, die
Ohnmachtsanfälle und die schlaflosen Nächte, die Muskelknoten und
Männer-Titten, die geschrumpften Hoden und die Haare in meinem Essen,
die Abszesse und der Höhlenmenschenwulst auf der Stirn, all die
Risiken, die ich eingegangen bin, all der Schweiß und die Mühe – für
nichts.
Wochenlang fühle ich mich elend und deprimiert. Der rationale Teil von
mir sagt: »Das war Teil der Recherche für dein Buch – du wusstest, was
auf dich zukommen würde.« Der andere Teil von mir – der Teil, der sich
an die verstohlenen Blicke im Fitnessraum gewöhnt hatte und an meinen
klarer definierten, irgendwie mächtigeren Schattenwurf, der Teil, der
es genoss, wie mir Passanten auf schmalen Gehsteigen Platz machten –,
dieser Teil war untröstlich.
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