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Analysis A

Elmar Schrohe

Wintersemester 2006/07

1
2
1 Die Reellen Zahlen
1.1 Aussagen. Mengen. Eine Aussage nennen wir etwas, von dem wir sagen können, ob es
wahr ist oder falsch.
Aus zwei Aussagen A und B können wir neue Aussagen bilden, z.B. die Aussage A ⇒ B ( aus

A folgt B“). Sie ist falsch, wenn die Aussage A wahr ist und die Aussage B falsch. Ansonsten
ist sie wahr.
Wichtig ist auch die Aussage A ⇔ B ( A ist äquivalent (gleichwertig) zu B“). Sie ist wahr,

wenn die Aussagen A und B entweder beide wahr oder beide falsch sind.
Oder (gleichwertig): Sie ist wahr, wenn sowohl die Aussage A ⇒ B als auch die Aussage
B ⇒ A gilt, und ansonsten falsch.
Die Begriffe Menge“, Element“ und enthalten sein“ definieren wir nicht.
” ” ”
Wir schreiben x ∈ M , falls x in der Menge M enthalten ist, anderenfalls x ∈ / M . Wir
schreiben M = N ; falls die Mengen M und N dieselben Elemente enthalten, sonst M 6= N .
Wichtig: Alle Elemente einer Menge sind verschieden.
Für mehr Details siehe z. B. P. Halmos: Naive Mengenlehre oder Lévy: Basic Set Theory.

1.2 Bekannte Mengen.

∅ leere Menge
N = {1, 2, 3, . . .} natürliche Zahlen ohne Null
N0 = {0, 1, 2, . . .} natürliche Zahlen einschließlich Null
Z = {0, ±1, ±2, . . .} ganze Zahlen
Q = { pq : p ∈ Z, q ∈ N } rationale Zahlen
p r
Dabei sieht man die Brüche q und s in Q als gleich an, falls ps = rq.
Beispiel: 32 = 46 = 24
36 .
Oft beschreibt man Mengen auch in der Form:
{x : Aussage über x“}, meint die Menge aller Elemente, für die die Aussage gilt. Beispiel:

N = {x ∈ N0 : x 6= 0}.

1.3 Definition. Es seien M, N Mengen.

(a) Schreibe M ⊆ N , falls aus x ∈ M“ stets x ∈ N“ folgt M ist Teilmenge von N


” ”
(b) M ∪ N = {x : x ∈ M oder x ∈ N } Vereinigung von M und N
(c) M ∩ N = {x : x ∈ M und x ∈ N } Durchschnitt von M und N
(d) M \ N = {x : x ∈ M und x ∈ / N} Differenzmenge
(e) M × N = {(x, y) : x ∈ M und y ∈ N } kartesisches Produkt
(f) P(M ) = {N : N ⊆ M } Potenzmenge
Man nennt M und N disjunkt, falls M ∩ N = ∅.
Man kann auch Durchschnitte und Vereinigungen über mehrere (möglicherweise unendlich
viele) Mengen bilden. Es sei I eine Menge, und für jedes i ∈ I sei Mi eine Menge. Wir setzen
\
Mi = {x : x ∈ Mi f ür jedes i ∈ I}
i∈I
[
Mi = {x : x ∈ Mi f ür mindestens ein i ∈ I}
i∈I

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1.4 Reelle Zahlen. Die reellen Zahlen sind eine Menge R 6= ∅, die durch bestimmte Eigen-
schaften charakterisiert ist.
Auf R sind zwei Verknüpfungen definiert, nämlich +“, die Addition“, und ·“, die Mul-
” ” ” ”
tiplikation“, die zwei Elementen x, y die Summe x + y ∈ R bzw. das Produkt x · y = xy ∈ R
zuordnen (Malpunkt wird meist nicht geschrieben). Dabei gelten folgende Regeln ( Axiome“):

(A1) (x + y) + z = x + (y + z) für alle x, y, z ∈ R Assoziativgesetz der Addition

(A2) Es gibt ein Element 0 ∈ R mit x + 0 = x für alle x Neutralelement der Addition

(A3) Zu jedem x ∈ R existiert ein Element (−x) ∈ R mit x + (−x) = 0 Inverses Element der
Addition

(A4) x + y = y + x für alle x, y ∈ R Kommutativgesetz der Addition

(M1) (x · y) · z = x · (y · z) für alle x, y, z ∈ R Assoziativgesetz der Multiplikation

(M2) Es gibt ein von 0 verschiedenes Element 1 ∈ R mit x · 1 = x für alle x ∈ R Neutralelement
der Multiplikation

(M3) Zu jedem x 6= 0 existiert ein Element x −1 mit xx−1 = 1 Inverses Element der
Multiplikation

(M4) x · y = y · x für alle x, y ∈ R Kommutativgesetz der Multiplikation

(D) x · (y + z) = x · y + x · z für alle x, y, z ∈ R Distributivgesetz.

R ist ferner angeordnet, d. h. es gibt eine Beziehung > 0“ ( größer Null“) mit folgenden
” ”
Eigenschaften:

(O1) Für jedes x ∈ R gilt genau eine der folgenden Aussagen

x > 0, x = 0, oder − x > 0.

Insbesondere kann also für x 6= 0 nie x = −x gelten!

(O2) x > 0 und y > 0 =⇒ x + y > 0.

(O3) x > 0 und y > 0 =⇒ xy > 0.

Schließlich erfüllt R noch das sogenannte Supremumsaxiom

(S) Jede nichtleere, nach oben beschränkte Teilmenge von R hat eine kleinste obere Schranke.
Mehr dazu gleich!

1.5 Definition. Eine Menge mit mindestens zwei Elementen, in der die Axiome (A1)-(A4),
(M1)-(M4) und (D) gelten, heißt Körper.
Ein Körper mit ‘>’, in dem (O1)-(O3) gelten, heißt angeordneter Körper.

1.6 Beispiel.

(a) Q ist Körper, Z nicht (2 hat z.B. kein multiplikatives Inverses).


(b) Die Menge Z2 = {0, 1} ist Körper mit den Operationen 0 + 0 = 0, 0 + 1 = 1, 1 + 1 =
0, 0 · 0 = 0, 1 · 1 = 1.

4
(c) Q ist angeordnet, Z2 hingegen nicht (1+1=0!).
(d) In Q gilt das Supremumsaxiom nicht, wie wir später sehen werden.

1.7 Bezeichnungen.

(a) Statt x + (−y) schreiben wir auch x − y, statt x · y −1 auch xy .


(b) Wir schreiben:

x > y“ ⇐⇒ x−y >0



x < y“ ⇐⇒ y−x > 0

x ≥ y“ ⇐⇒ (x > y oder x = y)

x ≤ y“ ⇐⇒ (x < y oder x = y)

1.8 Beschränktheit. Supremum. Maximum/Minimum.

(a) M ⊆ R, M 6= ∅ heißt nach oben beschränkt, falls ein C ∈ R existiert mit x ≤ C für alle
x ∈ M . Die Zahl C heißt dann obere Schranke.
M heißt nach unten beschränkt, falls ein D ∈ R existiert mit D ≤ x für alle x ∈ M (untere
Schranke).
M heißt beschränkt, falls es nach oben und nach unten beschränkt ist.
(b) Es sei M ⊆ R, M 6= ∅. Eine Zahl C ∈ R heißt Supremum von M oder kleinste obere
Schranke von M , wenn gilt
(1) x ≤ C für alle x ∈ M (d.h. C ist obere Schranke)
(2) Zu jedem ε > 0 existiert ein x ∈ M mit x > C − ε (d.h. C − ε ist keine obere
Schranke).
(c) Ist C ein Supremum für die nichtleere Menge M , und zusätzlich C ∈ M , so heißt C
Maximum von M .
(d) Es sei M ⊆ R. Eine Zahl C ∈ R heißt Infimum für M , falls C größte untere Schranke ist,
d. h., falls (1) x ≥ C für alle x ∈ M und (2) zu jedem ε > 0 ein x ∈ M existiert mit
x < C + ε. Ist C Infimum von M und C ∈ M , so heißt C Minimum.

1.9 Satz.

(a) x · 0 = 0 für beliebiges x ∈ R.


(b) (−x)y = −(xy) für beliebige x, y ∈ R.
(c) Es seien a, b, c ∈ R und a 6= 0. Dann gibt es genau ein x ∈ R, das die Gleichung ax + b = c
erfüllt, nämlich x = (c − b)/a.
Insbesondere ist das additive Inverse von a (als Lösung von 1 · x + a = 0) eindeutig, und
es gilt −(−a) = a, weil sowohl a als auch −(−a) additive Inverse zu −a sind. Analog ist
das multiplikative Inverse von a (als Lösung von ax = 1) eindeutig und (a−1 )−1 = a.
(d) xy = 0 ⇐⇒ (x = 0 oder y = 0).

Beweis.
A2 A1
(a) x · 0 = x · (0 + 0) = x · 0 + x · 0. Addition von −(x · 0) liefert 0 = x · 0.
(b)
(c)

5
(d) Ist x = 0 oder y = 0, so ist xy = 0 nach (a). Ist andererseits xy = 0 und x 6= 0, so liefert
die Multiplikation mit x−1
M3,M4 M1 Ann (a)
y = (x−1 x)y = x−1 (xy) = x−1 0 = 0

Analog liefert y 6= 0, dass x = 0 ist. Also ist x = 0 oder y = 0. ⊳

1.10 Satz. Für a, b, c, d ∈ R gilt

(a) a 6= 0 ⇒ aa > 0, insbesondere: 1 = 1 · 1 > 0 und daher (−1) < 0.


(b) a < b, c < 0 ⇒ ac > bc
(c) a > 0 ⇒ a−1 > 0
(d) 0 < a < b ⇒ a1 > 1b und ab > 1
(e) a < b, b > 0, 0 < c < d ⇒ ac < bd
(f) a, b > 0. Dann ist a < b ⇔ a2 < b2 .

Beweis.

(a) Fall 1: a > 0. Dann folgt aus (O3): aa > 0


1.9(b) (M4),1.9(b)
Fall 2: −a > 0. Dann ist wegen (O3): (−a)(−a) > 0. Nun ist (−a)(−a) = −(a(−a)) =
1.9(c)
−(−aa) = aa, also aa > 0.
(O3) 1.9b
(b) b − a > 0, −c > 0 ⇒ (b − a)(−c) > 0 ⇐⇒ −bc + ac > 0 ⇐⇒ ac > bc.
1.9a
(c) Wäre a−1 = 0, so wäre 1 = aa−1 = a · 0 = 0 im Widerspruch zu (M2): 1 6= 0.
O3
Wäre −a−1 > 0, so wäre −1 = a(−a−1 ) > 0 im Widerspruch zu (a).
Bleibt nur a−1 > 0 !
(d) Nach (c) ist a−1 > 0, b−1 > 0. Aus b − a > 0 folgt (b − a)a−1 > 0 (wegen (O3)) bzw.
b
a − 1 > 0. Weitere Anwendung von (O3) liefert
 
b 1 1
− 1 b−1 > 0 ⇐⇒ − > 0.
a a b

(e) )
(O3)
b − a > 0 =⇒ bc − ac > 0 (O2)
=⇒ bd − ac > 0
b > 0 =⇒ bd − bc > 0

(f) (1) Ist a < b, so ist nach (e) a2 < b2 .


(2) Ist a = b, so ist a2 = b2 .
(3) Ist a > b, so ist a2 > b2 nach (e).
Es folgt die Behauptung.
x
1.11 Beispiel zum Supremum. Die Menge { 1+x : x ∈ R, x > 0} hat das Supremum 1, weil
x
(1) 1+x ≤ 1 für alle x > 0;
(2) für jedes ε > 0 gilt
x 1−ε
> 1 − ε falls x > (nachrechnen!),
1+x ε

6
1−ε x
also z.B. falls x = ε + 1 (nach 1.10(c) und (O2)). Beachte: 1 ist kein Maximum, weil 1+x <1
für alle x > 0.

1.12 Definition. Für a ∈ R definiert man |a| ( Betrag von a“, a Betrag“)
” ”

a , wenn a ≥ 0
|a| = .
−a , wenn a < 0

1.13 Satz. Seien a, b, ε ∈ R, ε > 0. Dann gilt


(a) |a| ≥ 0.
(b) |a| = 0 ⇔ a = 0.
(c) |a| < ε ⇔ −ε < a und a < ε. Schreibe: −ε < a < ε.
(d) |a + b| ≤ |a| + |b|.
(e) |ab| = |a||b|.

Beweis. Klar. ⊳

1.14 N, N0 , Z, Q als Teilmengen von R. Wir finden die konkret bekannte Menge N nun
auch wieder in der abstrakten Menge R, indem wir n ∈ N mit 1 + . . . + 1 ∈ R (n−mal)
identifizieren. Damit haben wir auch N ∪ {0} = N ∪ {0}; ebenso Z als N 0 ∪ {−n : n ∈ N} und
Q = {p/q : p ∈ Z, q ∈ N} (mit der üblichen Identifikation von Brüchen).

Das Prinzip der vollständigen Induktion


1.15 Satz. (Vollständige Induktion) Für jedes n ∈ N sei A(n) eine Aussage. Um die Aus-
sagen A(n) für alle n ∈ N zu beweisen, genügt es, folgendes zu zeigen:
(1) A(1) ist richtig (Induktionsanfang).
(2) Für jedes n ≥ 1 gilt: Ist A(n) richtig, so ist auch A(n + 1) richtig (Induktionsschritt).

Beweis. –
Viele Beispiele folgen noch.

1.16 Quantoren.

Wir benutzen folgende Abkürzungen


∀ für alle“

∃ es existiert mindestens ein . . .“

∃! es existiert genau ein . . .“

1.17 Schreibweise für Summen, Produkte, Fakultäten. Es seien m, n ∈ Z, m ≤ n. Für
jedes k ∈ Z mit m ≤ k ≤ n sei ak eine reelle Zahl. Setze
n
X
ak := am + am+1 + . . . + an ;
k=m
n
Y
ak := am · am+1 · . . . · an .
k=m

7
(:= heißt: Wir definieren
Pn die SeiteQmit dem Doppelpunkt durch die andere.)
n
Für m > n setze k=m ak := 0, k=m ak := 1 (leere Summe, leeres Produkt).

Fakultät: Für n ∈ N0 setze


n
Y
n! := k (ausführlich = 1 · 2 · . . . · n)
k=1
Insbesondere ist 0! = 1

Binomialkoeffizient: Für k, n ∈ N0 , n ≥ k sei


 
n n!
:= .
k k!(n − k)!

Nützliche Identität ( Pascalsches Dreieck“): Für 1 ≤ k ≤ n:



     
n n n+1
+ = . (1)
k−1 k k

Es sei n ∈ N, a ∈ R- Wir setzen a n = nk=1 a; ferner a0 = 1. Für a 6= 0 setze


Q
1.18 Definition.
a−n = nk=1 a−1 .
Q

1.19 Satz. Es seien a, b ∈ R. Dann gilt:

(a) am an = am+n für alle m, n ∈ N0 .


(b) am an = am+n für alle m, n ∈ Z, falls a 6= 0.

Beweis. Alles mit Hilfe der vollständigen Induktion. ⊳

Weitere Aussagen, die sich leicht mit vollst ändiger Induktion beweisen lassen
1.20 Satz. Für n ∈ N ist
n
X n(n + 1)
k= .
2
k=1

Beweis. Mit vollständiger Induktion: Für n = 1 ist die Aussage, dass 1k=1 k = 1·2
P
2 bzw., dass
1 = 1, also richtig. Stimmt sie für ein n, so schließen wir folgendermaßen, dass sie auch für n + 1
gilt:
n+1 n
X X n(n + 1)
k = k + (n + 1) = + (n + 1)
2
k=1 k=1
n2 + n + 2n + 2 (n + 1)(n + 2)
= = .
2 2
1.21 Satz. Binomischer Lehrsatz“: Für a, b ∈ R und n ∈ N ist

n  
n
X n k n−k
(a + b) = a b
k
k=0
Pn n Pn n
Insbesondere: k=0 k = (1 + 1)n = 2n und k=0 (−1)
k
k = (−1 + 1)n = 0.

8
Beweis. ⊳

1.22 Satz. Für a ∈ R, a 6= 1 ist


n
X 1 − an+1
ak = endliche geometrische Reihe“.
1−a ”
k=0

Beweis. Es ist
n
X n
X Xn
(1 − a)( ak ) = ak − ( ak )a
k=0 k=0 k=0
Xn n
X n
X n+1
X
k k+1 k
= a − a = a − ak
k=0 k=0 k=0 k=1
n+1
= 1−a .

Für a 6= 1 folgt bei Division durch 1 − a die Behauptung. ⊳ ⊳

1.23 Satz. Bernoullische Ungleichung“. Für a ∈ R, a ≥ −1 und n ∈ N0 ist



(1 + a)n ≥ 1 + na.

Beweis. Mit vollständiger Induktion.


Induktionsanfang: Für n = 0 ist die Behauptung 1 ≥ 1 richtig.
Induktionschritt: Es gelte (1 + a)n ≥ 1 + na. Multiplikation mit (1 + a) (≥ Null) liefert

(1 + a)n+1 ≥ (1 + na)(1 + a) = 1 + (n + 1)a + na2 ≥ 1 + (n + 1)a, da na2 ≥ 0.

1.24 Intervalle. Seien a, b ∈ R. Wir setzen:

[a, b] = {x ∈ R : a ≤ x ≤ b}
]a, b] = {x ∈ R : a < x ≤ b}
[a, b[ = {x ∈ R : a ≤ x < b}
]a, b[ = {x ∈ R : a < x < b}
[a, ∞[ = {x ∈ R : x ≥ a}
]a, ∞[ = {x ∈ R : x > a}
] − ∞, a] = {x ∈ R : x ≤ a}
] − ∞, a[ = {x ∈ R : x < a}

1.25 Satz. Es gibt keine rationale Zahl mit Quadrat 2.

Beweis. Sei p/q ∈ Q ein gekürzter Bruch (d.h. p ∈ Z, q ∈ N sind teilerfremd) mit p 2 /q 2 = 2.
Dann ist p2 = 2q 2 . Dann ist p2 gerade, also p gerade, denn Quadrate ungerader Zahlen sind
ungerade. Es folgt: p2 ist durch 4 teilbar ⇒ q 2 = p2 /2 ist durch 2 teilbar ⇒ q gerade – im
Widerspruch zur Annahme, dass p, q teilerfremd sind. ⊳

1.26 Lemma. Seien a, b ∈ R. Gilt für jedes ε > 0, dass a < b + ε ist, so ist a ≤ b.

9
Beweis. Wäre a > b, so ergibt sich für ε = a − b ein Widerspruch:

a < b + ε = b + (a − b) = a.

1.27 Satz. Existenz der Quadratwurzel. Es sei a ∈ R + = ]0, ∞[. Dann existiert ein x ∈ R+

mit x2 = a. Schreibe x = a oder x = a1/2 .

Beweis. Die Menge M = {r ∈ ]0, ∞[ : r 2 ≤ a} ist nichtleer: Ist a < 1, so ist a2 ≤ a, also a ∈ M ;
ist a ≥ 1, so ist 12 = 1 ≤ a, also 1 ∈ M .
Sie ist ferner beschränkt, denn für C > 1 + a ist C 2 > (1 + a)2 = 1 + 2a + a2 > a.
Sie hat also ein Supremum, x. Wir zeigen, dass x 2 = a ist.
1. Schritt: Wir zeigen, dass x2 < a+ε für jedes ε > 0. Sei ε > 0 vorgelegt. Zu jedem 0 < δ ≤ 1
existiert nach der Definition des Supremums ein r ∈ M mit r > x − δ. Also ist

x2 < (r + δ)2 = r 2 + 2δr + δ 2 = r 2 + δ(2r + δ). (1)

Wir schätzen diesen Ausdruck nach oben ab. Zunächst ist δ ≤ 1. Wir unterscheiden nun zwei
Fälle: Ist r ≤ 1, so ist δ(2r + δ) ≤ δ(1 + 2) = 3δ. Ist r > 1, so ist r ≤ r 2 = a, also δ(2r + δ) ≤
δ(2a + 1). In jedem Fall ist

x2 < a + Cδ mit C = max{3, 2a + 1}.


n εo
Wählen wir also δ < min 1, , so ist
C
x2 < a + Cδ < a + ε.

2. Schritt: Zeige, dass x2 ≥ a. Angenommen: x2 < a. Setze ε = a − x2 . Wie in Schritt 1


(Gleichung (1) jetzt mit x in der Rolle von r) sieht man, dass

(x + δ)2 < x2 + ε = a,

falls δ hinreichend klein ist. Also ist x + δ ∈ M , und x ist nicht das Supremum. Widerspruch.

1.28 Bemerkung. Mit etwas mehr Arbeit kann man genauso die Existenz der n-ten Wurzel

a1/n bzw. n a aus jeder positiven reellen Zahl a zeigen.

1.29 Folgerungen.
(a) R ist (bedeutend) größer als Q. In Q gilt das Supremumsaxiom nicht (sonst könnten wir
schließen wie oben).
p
(b) Für rationales r = q mit p ∈ Z, q ∈ N und a ∈ R+ können wir

ar = (ap )1/q

definieren.
Es gilt ar = (a1/q )p und ar as = ar+s mit r, s ∈ Q.

Beweis. (b) Durch vollständige Induktion.

10
2 Komplexe Zahlen
2.1 Definition. Die Menge R×R bildet einen Körper, sofern man Addition und Multiplikation
wie folgt definiert:
Addition
(x1 , y1 ) + (x2 , y2 ) = (x1 + x2 , y1 + y2 );
Multiplikation
(x, y1 ) · (x2 , y2 ) = (x1 x2 − y1 y2 , x1 y2 + x2 y1 )
Das Nullelement ist (0, 0), das Einselement ist (1, 0) (nachrechnen!).
 
x −y
Additives Inverses: − (x, y) = (−x, −y), multiplikatives: (x, y) −1
= , 2 .
x + y x + y2
2 2

Dieser Körper heißt der Körper der komplexen Zahlen und wird mit C bezeichnet.
Aus den obigen Regeln ergibt sich, dass

(x1 , 0) + (x2 , 0) = (x1 + x2 , 0)


(x1 , 0) · (x2 , 0) = (x1 x2 , 0)

Wir können also R als Teilmenge von C auffassen, indem wir x ∈ R mit (x, 0) ∈ C identifizieren.
Die Schreibweise mit zwei Komponenten ist unpraktisch und wird nicht benutzt. Man schreibt

x + iy statt (x, y), x, y ∈ R.

Mit dieser Identifikation entspricht also i dem Tupel (0, 1). Unter Berücksichtigung der Regel
i2 = −1 kann man mit komplexen Zahlen dann wie mit reellen rechnen

(2 + 3i)(4 − 2i) = 8 + 12i − 4i − 6i2 = (8 − 6) + (12 − 6)i = 2 + 6i.

Achtung: C ist kein angeordneter Körper (i2 = −1 im Gegensatz zu 1.10(a))!

2.2 Definition. Sei z = x + iy ∈ C. Dann heißt x Realteil von z und y Imaginärteil von z.
Schreibe x = Re z, y = Im z.
Die Zahl z = xp − iy nennt man das Konjugiert-Komplexe von z.
Die Zahl |z| = x2 + y 2 ∈ [0, ∞[ heißt Betrag von z.

2.3 Satz. Für z, z1 , z2 ∈ C gilt:

(a) z 1 + z 2 = z1 + z2 .
(b) z 1 · z 2 = z1 · z2 .
(c) (z)−1 = z −1 .
(d) z = z.
(e) Re z = 12 (z + z), Im z = 1
2i (z − z).

Beweis.

(a) Sei z1 = x1 + iy1 , z2 = x2 + iy2 . Dann ist

z 1 + z 2 = x1 − iy1 + x2 − iy2 = (x1 + x2 ) − i(y1 + y2 ) = z1 + z2 .

11
(b) analog zu (a).
(b)
(c) z · z −1 = z · z −1 = 1 = 1. Die Multiplikation mit (z)−1 liefert die Behauptung.
(d) Schreibe z = x + iy. Dann ist z = x − iy und z = x + iy = z.
(e) Schreibe z = x + iy. Dann ist 21 (z + z) = 12 (x + iy + x − iy) = x und 2i 1
(z − z) =
1 1
2i (x + iy − x + iy) = 2i (2iy) = y.

2.4 Satz. Seien z, z1 , z2 ∈ C. Dann gilt

(a) |z| ≥ 0.
(b) |z| = 0 ⇔ z = 0.
(c) |z| = |z|, |z|2 = zz.
(d) |z1 z2 | = |z1 ||z2 |.
(e) |z1 + z2 | ≤ |z1 | + |z2 |.
(f) |z1 + z2 | ≥ ||z1 | − |z2 ||.

Beweis. (a) und (b) sind klar. p


(c) Schreibe z = x + iy. Dann ist z = x − iy ⇒ zz = x 2 + y 2 = |z|2 ⇒ |z| = x2 + y 2 = |z|.
(d) Schreibe z1 = x1 + iy1 , z2 = x2 + iy2 ⇒

|z1 z2 |2 = (x1 x2 − y1 y2 )2 + (x1 y2 + x2 y1 )2


= x21 x22 − 2x1 x2 y1 y2 + y12 y22 + x21 y22 + 2x1 x2 y1 y2 + x22 y12
= (x21 + y12 )(x22 + y22 )
= |z1 |2 |z2 |2
= (|z1 ||z2 |)2 .

Aus 1.10(g) folgt, dass |z1 z2 | = |z1 ||z2 |.


(e) Übung.
(f) Setze w1 = z1 + z2 , w2 = −z2 . Dann liefert (e)

|w1 + w2 | ≤ |w1 | + |w2 |, also


|z1 | ≤ |z1 + z2 | + |z2 |, bzw.
|z1 | − |z2 | ≤ |z1 + z2 |.

Mit w2 = −z1 hätten wir stattdessen

|z2 | − |z1 | ≤ |z1 + z2 |

erhalten. Da für eine reelle Zahl a gilt: |a| = a oder |a| = −a, folgt die Behauptung. ⊳

12
3 Folgen
3.1 Definition.

(a) Eine Folge reeller bzw. komplexer Zahlen ist eine Vorschrift, die jedem k ∈ N eine reelle
bzw. komplexe Zahl ak zuordnet. Eine Folge schreibt man meist (a 1 , a2 , . . .) oder (ak )∞k=1
oder kurz (ak ).
(b) Sind n1 < n2 < n3 < . . . Elemente von N, so heißt (an1 , an2 , . . .) Teilfolge von (ak ).
(c) Es sei (ak ) eine Folge in R oder C und a ∈ R bzw. C. Wir sagen

(ak ) konvergiert gegen a oder (ak ) ist konvergent mit Grenzwert a

falls zu jedem ε > 0 ein n0 ∈ N existiert mit

|ak − a| < ε f ür alle k ≥ n0 .

k→∞
Wir schreiben lim ak = a oder ak → a und nennen a den Grenzwert. Eine Folge, die
keinen Grenzwert hat, heißt divergent.
(d) Eine Folge heißt Cauchy-Folge, falls gilt: Zu jedem ε > 0 existiert ein n 0 ∈ N mit

|ak − al | < ε f ür alle k, l ≥ n0 .

Die Existenz eines Grenzwerts wird hier nicht gefordert.

3.2 Beispiele.
 
(a) Die Folge 1 konvergiert in R gegen 0.
k
(b) Die Folge (ik )k in C ist divergent.

Beweis. (a) Es sei ε > 0 vorgelegt. Wir müssen ein n0 finden mit |1/k − 0| < ε für alle k ≥ n0 .
Dazu wähle n0 ∈ N mit n0 > 1/ε.1 Dann gilt für k ≥ n0 :
1 1 1
| |= ≤ < ε für alle k ≥ n0 .
k k n0
(b) Gäbe es einen Grenzwert z in C, so gäbe es zu ε = 1/4 ein n0 mit
1
|ik − z| ≤ für k ≥ n0
4
und somit
1
|ik − il | = |ik − z + z − il | ≤ |ik − z| + |il − z| ≤ für k, l ≥ n0 .
2
Da jedoch i4k = 1 ist und i4k+2 = −1 für beliebiges k ∈ N, ist |i4k − i4k+2 | = 2. Widerspruch. ⊳

3.3 Satz. Der Grenzwert ist eindeutig: Konvergiert eine Folge gegen a und a ′ , so ist a = a′ .
1
Wieso gibt es eine solche Zahl? Nehmen wir an, die Menge der natürlichen Zahlen wäre nach oben beschränkt.
Dann hätte sie ein Supremum s. Nach Definition des Supremums existierte ein n ∈ N mit n > s − 1/2. Dann wäre
jedoch n + 1 ∈ N mit n + 1 > s. Widerspruch!

14
Beweis. Sei ε > 0. Dann existiert ein n 1 : |ak − a| < ε/2 ∀k ≥ n1 und es existiert ein n2 mit
|ak − a′ | < ε/2 ∀k ≥ n2 . Dann gilt für n0 ≥ max{n0 , n1 } : |a − a′ | ≤ |a − an0 | + |an0 − a′ | < ε.
Also ist |a − a′ | = 0 bzw. a = a′ . ⊳

3.4 Satz. Es sei (zk ) eine Folge komplexer Zahlen, zk = xk + iyk und z = x + iy ∈ C. Dann
gilt 
xk konvergiert gegen x, und
zk konvergiert gegen z ⇐⇒
yk konvergiert gegen y.

Beweis.
⇒“ Sei zk konvergent gegen z = x+iy und ε > 0. Dann existiert ein n 0 mit |zk −z| < ε ∀k ≥ n0 .

Also

|xk − x| = |Re zk − Re z| = |Re (zk − z)| ≤ |zk − z| < ε;


|yk − y| = |Im zk − Im z| = |Im (zk − z)| ≤ |zk − z| < ε.

⇐“ Sei ε > 0 vorgelegt. Dann existiert ein n 1 mit |xk − x| < ε/2 ∀k ≥ n1 und es existiert ein

n2 mit |yk − y| < ε/2 ∀k ≥ n2 . Setze n0 = max{n1 , n2 } und z = x + iy. Dann gilt für
k ≥ n0
|zk − z| = |xk − x + iyk − iy| ≤ |xk − x| + |yk − y| < ε.

3.5 Satz: Rechenregeln für Grenzwerte. Es seien (xk ), (yk ) Folgen in K (K = R oder
K = C), x, y ∈ K.
(a) Ist die Folge (xk ) konvergent, so ist sie auch beschränkt, d. h.

∃ C ≥ 0 : |xk | ≤ C f ür alle k ∈ N.

(b) Aus xk → x und yk → y folgt xk + yk → x + y und xk yk → xy.


1
(c) Gilt xk → x und x 6= 0, so ist xk 6= 0 für alle hinreichend großen k, und es gilt xk → x1 .
Insbesondere gilt dann yk /xk → y/x für jede Folge yk → y.
Die Umkehrung der Aussagen in (b) gilt nicht!

Beweis.
(a) Zu ε = 1 existiert ein n0 mit |xk − x| < 1 für k ≥ n0 . Damit ist |xk | ≤ |xk − x| + |x| ≤
|x| + 1 ∀k ≥ n0 . Für C = max{|x1 |, . . . , |xn0 −1 |, |x| + 1} ergibt sich die Behauptung.
(b) (Additivität) Sei ε > 0 vorgelegt. Dann existieren n 1 , n2 mit |xk − x| ≤ ε/2 ∀k ≥ n1 und
|yk − y| ≤ ε/2 ∀k ≥ n2 . Für k ≥ n0 := max{n1 , n2 } folgt

|(xk − yk ) − (x − y)| ≤ |xk − x| + |yk − y| < ε.

(Multiplikativität) Nach (a) existiert ein C ≥ 0 mit |y k | ≤ C für alle k. Zu ε > 0 wähle
n1 und n2 so, dass
ε
|xk − x| < ∀k ≥ n1 , und
2C
ε
|yk − y| < ∀k ≥ n2 .
2|x| + 1

15
Für k ≥ max{n1 , n2 } folgt

|xk yk − xy| = |xk yk − xyk + xyk − xy|


≤ |xk yk − xyk | + |xyk − xy|
≤ |xk − x| |yk | + |x| |yk − y|
ε ε
< C + |x| ≤ ε.
2C 2|x| + 1

(c) Zu δ = |x|2 > 0 existiert ein k0 mit |xk −x| < δ =


|x|
2 ∀k ≥ k0 . Dann ist |xk | ≥ |x|−|xk −x| ≥
|x|/2 für k ≥ k0 . Sei ε > 0 vorgelegt. Nun ist

|x−1 −1 −1 −1 −1 −1
k − x | = |x (x − xk )xk | ≤ |x| |xk | |x − xk |.

Wähle n0 ≥ k0 so, dass |x − xk | < 2ε |x|2 für k ≥ n0 . Dann ist

1 2 ε 2
|x−1 −1
k −x |< |x| ≤ ε.
|x| |x| 2

3.6 Satz. Jede konvergente Folge ist eine Cauchy-Folge.

Beweis. Es sei xk → x und ε > 0. Wähle n0 so, dass |xk − x| < ε/2 ∀k ≥ n0 . Dann ist für
k, m ≥ n0 : |xk − xm | ≤ |xk − x| + |x − xm | < ε/2 + ε/2 = ε. ⊳

Einige Besonderheiten reeller Folgen


3.7 Definition. Eine Folge (xk ) in R heißt

monoton wachsend, falls xk+1 ≥ xk ∀k


streng monoton wachsend, falls xk+1 > xk ∀k
monoton fallend, falls xk+1 ≤ xk ∀k
streng monoton fallend, falls xk+1 < xk ∀k.

3.8 Satz. Monoton wachsende, nach oben beschränkte Folgen reeller Zahlen sind konvergent:
Gibt es ein C ∈ R mit xk ≤ xk+1 ≤ C für alle k, so gilt xk → x = sup{xk }.

Beweis. Sei ε > 0 vorgelegt. Nach Definition des Supremums existiert ein n 0 mit

xn0 > x − ε.

Für alle k ≥ n0 gilt also


x − ε < x n 0 ≤ xk ≤ x
und somit |x − xk | < ε. ⊳

3.9 Folgerung. Ist die Folge (xk ) monoton fallend und nach unten beschränkt, so ist (xk )
auch konvergent. (Betrachte (−xk )!)

3.10 Satz. Stabilität des Grenzwerts. Es seien (xk ), (yk ) Folgen in R mit xk ≤ yk ∀k. Gilt:
xk → x und yk → y, so folgt x ≤ y.

16
Beweis. Annahme: x > y. Setze ε = x − y > 0. Dann existieren n 1 , n2 mit |xk − x| < ε/2 für alle
k ≥ n1 bzw. |yk − y| < ε/2 für alle k ≥ n2 . Für k ≥ max{n1 , n2 } gilt

xk > x − ε/2 = y + ε/2 > yk . Widerspruch!

3.11 Satz. Schachtelungssatz. Es seien (a k ), (bk ), (xk ) Folgen in R und

ak ≤ xk ≤ bk für alle k ∈ N.

Gilt ak → x und bk → x, so ist auch (xk ) konvergent, und xk → x.

Beweis. Sei ε > 0 vorgelegt. Dann existieren n 1 , n2 mit |ak − x| < ε/3 ∀k ≥ n1 , |bk − x| <
ε/3 ∀k ≥ n2 . Setze n0 = max{n1 , n2 }. Dann gilt

|xk − x| ≤ |xk − ak | + |ak − x|


≤ |bk − ak | + |ak − x|
≤ |bk − x| + |x − ak | + |ak − x| < ε.

3.12 Satz. In R ist jede Cauchy-Folge konvergent. Eine Menge, in der jede Cauchyfolge einen
Grenzwert hat, nennt man vollständig.

Beweis. Es sei (xk ) eine Cauchy-Folge. Wir definieren zwei neue Folgen

ik = inf{xj : j ≥ k} und sk = sup{xj : j ≥ k}.

Dann gilt ik ≤ xk ≤ sk für alle k


(ik ) monoton wachsend und beschränkt (ik ≤ s1 ∀k) ⇒ (ik ) konvergiert gegen ein i ∈ R.
(sk ) monoton fallend und beschränkt (sk ≥ i1 ∀k) ⇒ (sk ) konvergiert gegen ein s ∈ R.
Zeige: i = s. Ist ε > 0 vorgelegt, wähle n0 so groß, dass |xj − xk | < ε/5, i − ik < ε/5, sk − s <
ε/5 für j, k ≥ n0 . Ferner existieren j0 , k0 ≥ n0 mit xj0 > sn0 − ε/5 und xk0 < in0 + ε/5. Dann ist

s − i = |s − i| ≤ |s − sn0 | + |sn0 − xj0 | + |xj0 − xk0 | + |xk0 − in0 | + |in0 − i| < ε.

Mit 3.11 folgt die Behauptung. ⊳

3.13 Folgerung. C ist vollständig.

Beweis. Sei (zk ) eine Cauchy-Folge in C. Dann sind (Re zk ) und (Im zk ) Cauchy-Folgen in R
nach 3.4. Mit 3.12 folgt, dass (Re zk ) und (Im zk ) Grenzwerte in R haben, und schließlich mit
3.4, dass (zk ) einen Grenzwert in C hat. ⊳

3.14 Definition und Bemerkung. Man sagt, eine Folge (a k ) reeller Zahlen divergiere be-
stimmt gegen +∞ und schreibt lim ak = +∞, falls gilt:

∀M > 0∃n0 : ak > M ∀k ≥ n0 .

Dies ist äquivalent dazu, dass ab einem festen Index n 1 gilt ak > 0 und lim a1k = 0. (Wieso?)
Ebenso: lim ak = −∞, falls lim(−ak ) = +∞, d.h. falls ∀M > 0∃n0 : ak < −M ∀k ≥ n0 .

17
3.15 Beispiele.
 
(a) Die Folgen 1 , j = 1, 2, 3, . . . konvergieren in R gegen 0.
j
k
(b) Ist z ∈ C mit |z| < 1, so ist die Folge (z k ) eine Nullfolge.
(c) Sei z ∈ C, |z| < 1, r ∈ N. Dann ist

lim k r |z|k = 0.

k
(d) k → 1.

(e) Es sei a > 0. Dann gile k a → 1.
√k
(f) k 2 + k + 2 → 1.
√k
(g) ( k!) divergiert bestimmt gegen +∞.

Beweis.

(a) Wir wissen, dass 0 ≤ k1j ≤ k1 für k ∈ N und j = 2, 3, . . . Also folgt die Behauptung aus 3.2
und dem Schachtelungssatz.
(b) Sei ε > 0 vorgelegt. Wir haben zu zeigen, dass ein n 0 existiert mit |z k | < ε ∀k ≥ n0 bzw.,
äquivalent dazu, dass |z1k | > 1ε ∀k ≥ n0 .
1 1
Es ist |z| > 1. Setze δ := |z| − 1. Wähle n0 so groß, dass n0 δ > 1ε .
Dann gilt für k ≥ n0 nach der Bernoullischen Ungleichung:
 n 0
1 1 1.10 1 1 n0
Bernoulli 1
k
= k
≥ n
= = (1 + δ) ≥ 1 + n 0 δ > .
|z | |z| |z| 0 |z| ε

(c) Setze bk = k r |z|k . Dann:


 r
bk+1 (k + 1)r |z|k+1 1
= = 1+ |z|. (1)
bk kr |z|k k

Da lim(1 + k1 )r = (lim( 1 + k1 ))r = 1 ist, und |z| < 1 folgt, dass bk+1 < bk für k ≥ k0 , k0
geeignet. Dann ist (bk )∞
k=k0 monoton fallend und beschränkt, somit konvergent nach 3.9.
Sei α der Grenzwert. Wäre α 6= 0, so wäre nach den Rechenregeln
bk+1 lim bk+1
lim = = 1,
bk lim bk

(weil lim bk+1 = lim bk !?). Dies ist ein Widerspruch zu (1). Also folgt α = 0.

(d) Zeige: Zu ε > 0 existiert ein n 0 mit k k − 1 < ε:
 k  k
1 1 1
Es ist 0 < 1+ε < 1. Somit ist nach (c) lim k 1+ε = 0. Es folgt k 1+ε < 1 bzw.
k

k
1 < k < (1 + ε) für k ≥ n0 , also auch 1 < k < 1 + ε für k ≥ n0 .
(e) Für a ≥ 1 folgt dies aus dem Schachtelungssatz, weil für alle k ≥ a gilt:
√ √
k
1 ≤ a ≤ k ⇒ 1 ≤ k a ≤ k → 1.
q
1 k 1
Für a < 1 betrachte 1/a: √ k a = a → 1.
√ √k
√ √ √
(f) Schachtelungssatz und Rechenregeln: 1 ≤ k k 2 + k + 2 ≤ 4k 2 = k 4 k k k k → 1.

18

(g) Zu zeigen: Zu M > 0 existiert n 0 mit bzw. M k /k! < 1 k
k! > M für alle k ≥ n0 . Nun ist
für k ≥ k0 ≥ 2M :

Mk M k0 M M M k0 k0 −k
= · ... · ≤ 2 <1
k! k0 ! k0 + 1 k k0 !
| {z }
(k−k0 ) Faktoren ≤1/2

für hinreichend großes k nach (c). ⊳

3.16 Satz von Bolzano-Weierstraß. In R und C hat jede beschränkte Folge eine konvergente
Teilfolge.

Beweis. 1. Schritt: Folge in R. Auf Grund der Beschränktheit gibt es ein Intervall [a1 , b1 ],
a1 < b1 , in dem alle Folgenglieder liegen. Wir halbieren es und erhalten zwei Teilintervalle
[a1 , a1 +b a1 +b1
2 ] und [ 2 , b1 ]. In einem davon (evtl. in beiden) liegen unendlich viele Glieder. Wir
1

nennen es [a2 , b2 ]. Schrittweise erhalten wir eine ineinander geschachtelte Folge von Intervallen
Ij = [aj , bj ] , deren Länge bj − aj gegen Null konvergiert. In ihrem Durchschnitt liegt genau ein
Punkt x (Übungsaufgabe). Wählt man Folgenglieder xkj ∈ Ij mit k1 < k2 < . . . so hat man die
gesuchte (gegen x) konvergente Teilfolge.
2. Schritt: Folge in C. Ebenso mit Real- und Imaginärteil. ⊳

19
4 Reihen
Im Folgenden sei K = R oder K = C.
4.1 Definition. Es sei (xk ) Folge in K. Wir schreiben

X
xk = s
k=1
P∞
und sagen, die Reihe k=1 xk konvergiere, falls die sogenannte Partialsummen-Folge
n
X
sn = xk n = 1, 2, . . .
k=1

in K gegen s konvergiert.
Oft startet man die Folge/Reihe auch bei k = 0. Für Konvergenzfragen macht das keinen
Unterschied.

X ∞
X
4.2 Satz. Es seien xk = x und yk = y konvergent. Dann folgt
k=1 k=1


X
(xk + yk ) = x + y und
k=1

X
(cxk ) = cx für c ∈ K.
k=1

Die konvergenten Reihen bilden also einen Vektorraum.

Beweis. Folgt sofort aus 3.5. ⊳

4.3 Cauchy-Kriterium. In K ist eine Folge genau dann konvergent, wenn sie eine Cauchyfolge
ist. Daher gilt

X Def.
xk konvergiert ⇔ Partialsummenfolge konvergiert
k=1
3.12
⇔ Partialsummenfolge ist Cauchy-Folge; mit anderen Worten:
M
X

∀ε > 0 ∃ n0 : xk < ε ∀N, M ≥ n0

k=N
Pn
4.4 Satz. Die Glieder einer konvergenten Reihe bilden eine Nullfolge: Ist k=1 xk konvergent
in K, so gilt xk → 0. (Die Umkehrung gilt nicht; siehe 4.8(b).)

Beweis. Die Partialsummenfolge (s n ) ist eine Cauchy-Folge nach 3.6. Daraus folgt, dass zu ε > 0
ein n0 existiert mit |sn − sm | < ε ∀n, m ≥ n0 ⇒ |xn | = |sn − sn−1 | < ε ∀n > n0 . ⊳
P P∞
4.5 Definition. Eine Reihe ∞ k=1 xk heißt absolut konvergent, falls k=1 |xk | konvergiert.

4.6 Satz. Absolut konvergente Reihen sind konvergent.


Aber: konvergent 6⇒ absolut konvergent (→ alternierende harmonische Reihe)!

20
Beweis. Wende Cauchy-Kriterium 4.3 an:
M
X M
X
| xk | ≤ |xk |.
k=N k=N

4.7 Bemerkung. Für Fragen der (absoluten) Konvergenz spielen alle Veränderungen, die an
lediglich endlich vielen Gliedern vorgenommen werden keine Rolle (für den Wert schon).
Wenn man endlich viele Glieder einer konvergenten Reihe umordnet, ändert sich der Wert
der Reihe nicht.

4.8 Beispiele.
P∞ k k
(a) k=1 (−1) ist nicht konvergent, da ((−1) ) keine Nullfolge ist.
P∞ 1 1
(b) (Harmonische Reihe) k=1 k ist nicht konvergent, obwohl ( k ) eine Nullfolge ist! Wir
betrachten die Partialsummen

s1 = 1
1
s2 = 1 +
2
1 1 1 1 1
s4 = 1+ + + >1+ +
2 |{z}
3 4 2 2
> 14
1 1 1 1 1 1 1 1 1 1
s8 = 1 + + + + + + + >1+ + +
2 3 4 5 6 7 8 2 2 2
Mit Induktion: s2k ≥ 1 + k2 , also nicht konvergent.
(c) (Geometrische Reihe) Es sei z ∈ C, |z| < 1. Dann ist

X 1
zk = ,
1−z
k=0

weil
n
X 1.22 1 − z n+1 n→∞ 1
zk = → .
1−z 1−z
k=0
nach 3.15.
P∞ 1 1 1 1
(d) k=1 k(k+1) = 1, denn k(k+1) = k − k+1 . Also ist
n
X 1 1 1 1
= + + ... +
k(k + 1) 1·2 2·3 n(n + 1)
k=1
1 1 1 1 1 1
+ − + ... + −
= 1− =1− .
2 2 3 n n+1 n+1
P P∞
4.9 Satz (Cauchy-Produkt). Es seien ∞ k=0 xk und k=0 yk absolut konvergent. Dann ist
(mit absoluter Konvergenz)

! ∞  ∞

k

X X X X
xk  yj  =  xk−j yj  .
k=0 j=0 k=0 j=0

21
Veranschaulichung: Es werden erst die Werte entlang der Diagonalen multipliziert und addiert;
dann werden diese aufaddiert.

x0 y0
|{z}
k=0
+ x1 y 0 + x0 y 1
| {z }
k=1
+ x2 y 0 + x1 y 1 + x0 y 2
| {z }
k=2
+ ...

Beweis. –

Konvergenzkriterien
4.10 Satz
P(Leibniz-Kriterium). Es sei (x n ) eine monoton fallende Nullfolge reeller Zahlen.
Dann ist ∞k=1 (−1)k x konvergent.
k
Pn k
Beweis. Setze sn = k=1 (−1) xk . Dann gilt

s2n+2 − s2n = −x2n+1 + x2n+2 ≤ 0


s2n+3 − s2n+1 = +x2n+2 − x2n+1 ≥ 0.

Man sieht:
(1) (s2n ) monoton fallend und nach unten beschränkt, da s2n ≥ s1 ∀n, hat also einen Grenzwert
s nach 3.8.
(2) (s2n+1 ) monoton wachsend und nach oben beschränkt: s2n+1 ≤ s2n ≤ s2 ; hat also einen
Grenzwert s′ .
Man sieht nun leicht, dass s = s′ ist, und ist fertig. ⊳
P∞ k1
4.11 Beispiel. Die alternierende harmonische Reihe k=1 (−1) k konvergiert nach dem Leib-
nizkriterium.

4.12 Satz (Vergleichskriterium/Majorantenkriterium). Es seien x k ∈ K, rk ≥ 0 und


P ∞
k=1 rk konvergent. Ferner sei
|xk | ≤ rk ∀k ≥ k0 .
P∞
Dann ist k=1 xk absolut konvergent.

Beweis. Cauchy-Kriterium 4.3: Für K, L ≥ k0 ist


L
X L
X
|xk | ≤ rk .
k=K k=K


P 1 P 1 1 1
4.13 Beispiel. Die Reihe k2
konvergiert, weil k(k+1) konvergiert und k2
≤ 2 k(k+1) .

22
4.14 Satz (Quotientenkriterium). Es sei (x k ) Folge in K. Falls ein k0 existiert, so dass für
k ≥ k0 gilt xk 6= 0 und
|xk+1 |
≤ c < 1, (1)
|xk |
P
so ist xk absolut konvergent.

Beweis. Aus (1) folgt mit vollständiger Induktion, dass

|xk0 +k | ≤ ck |xk0 |, k = 1, 2, . . . (2)

Damit folgt die Konvergenz aus dem Majorantenkriterium, denn die Reihe

X ∞
X
k
|xk0 |c = |xk0 | ck
k=k0 k=k0

ist ein Vielfaches der geometrischen Reihe. ⊳

4.15 Satz (Wurzelkriterium). Es sei (x k ) Folge in K mit


pk
|xk | ≤ c < 1 für alle k ≥ k0 . (1)
P∞
Dann ist k=1 xk absolut konvergent.

Beweis. Wegen |xk | ≤ ck folgt die Konvergenz aus dem Majorantenkriterium und der Konvergenz
der geometrischen Reihe. ⊳

4.16 Bemerkung.
(a) Das Wurzelkriterium bzw. das Quotientenkriterium sind insbesondere erfüllt, wenn die
folgenden Grenzwerte existieren und < 1 sind:
|xk+1 | p
lim < 1 bzw. lim k |xk | < 1.
k→∞ |xk | k→∞

|x | p
(b) Existiert ein k0 mit |xk+1
k|
≥ 1 oder k |xk | ≥ 1 für alle k ≥ k0 , so ist die Reihe divergent,
denn dann bilden die Glieder keine Nullfolge. Dies ist insbesondere der Fall wenn die
obigen Grenzwerte > 1 sind. (Sind die Grenzwerte 01, so ist keine Aussage möglich.)
(c) Ist das Quotientenkriterium erfüllt, so ist auch das Wurzelkriterium erfüllt, s. 4.14(2).
(d) Ist die Reihe absolut konvergent, so kann man die Glieder beliebig umordnen, ohne dass
sich der Reihenwert ändert.

4.17 Die Exponentialfunktion. Sinus. Cosinus.


P∞ z k z
(a) Die Reihe k=0 k! =: e (auch exp z) konvergiert für alle z ∈ C, da

z k+1

(k + 1)! |z|
= →0 (Quotientenkriterium).
zk
k +1
k!

Man setzt e : e1 .

23
2k
k z
P∞
(b) k=0 (−1) (2k)! = cos z konvergiert für alle z ∈ C (Wurzelkriterium).
P∞ 2k+1
(c) k z
k=0 (−1) (2k + 1)! = sin z konvergiert für alle z ∈ C (Wurzelkriterium).

4.18 Satz.
(a) e(0) = 1
(b) ez ew = ez+w . Insbesondere: ez 6= 0 ∀z ∈ C, da ez e−z = e0 = 1.
(c) eiz = cos z + i sin z, z ∈ C (Eulersche Formel).
Speziell: x ∈ R: cos x = Re eix , sin x = Im eix .
(d) cos(−z) = cos z, sin(−z) = − sin z, z ∈ C
eiz + e−iz eiz − e−iz
(e) cos z = , sin z = , z ∈ C.
2 2i
(f) |eix | = 1 für x ∈ R, insbesondere −1 ≤ cos x, sin x ≤ 1 für x ∈ R (auf C sind beide
Funktionen unbeschränkt).
(g) ez = ez
(h) cos(w + z) = cos w cos z − sin w sin z
sin(w + z) = sin w cos z + cos w sin z, w, z ∈ C.

Beweis.
(a) klar
(b)
∞ X
k ∞ X
k  
z w Cauchy−Produkt X z j wk−j X 1 k j k−j
e e = = z w
j! (k − j)! k! j
k=0 j=0 k=0 j=0

BIN LS
X 1
= (z + w)k = ez+w .
k!
k=0

(c)
∞ ∞ ∞
X (iz)k 4.2
X (iz)2l X (iz)2l+1
eiz = = +
k! (2l)! (2l + 1)!
k=0 l=0 l=0
∞ ∞
4.2
X z 2l X z 2l+1
= (−1)l +i (−1)l
(2l)! (2l + 1)!
l=0 l=0
= cos z + i sin z

Speziell für x ∈ R gilt cos x ∈ R, sin x ∈ R, also

cos x = Re eix und sin x = Im eix .

(d) Einsetzen in 4.17(c),(d)


(e) folgt aus (c).
(f) eix = cos x − i sin x = cos(−x) + i sin(−x) = e−ix ⇒

|eix |2 = eix e−ix = e0 = 1.

Da |eix |2 = cos2 x + sin2 x folgt Aussage über sin, cos.

24
(g) Schreibe z = x + iy,

ez = ex−iy = ex (cos(−y) + i sin(−y)) = ex (cos y − i sin y) = ex (cos y − i sin y) = ez .

(h) Einsetzen von (e) und (b). ⊳

25
5 Stetigkeit
Im Folgenden seien X, Y, Z Teilmengen von R oder C. Ferner sei f : X → Y eine Abbildung.

5.1 Definition.

(a) f heißt stetig in x0 ∈ X, falls gilt

∀ε > 0 ∃ δ > 0 so, dass |f (x) − f (x0 )| < ε, falls x ∈ X und |x − x0 | < δ.

(b) f heißt stetig auf X, falls f in jedem Punkt von X stetig ist.
(c) C(X, Y ) = {f : X → Y : f stetig}. Statt C(X, R) bzw. C(X, C) schreibt man meist C(X).

5.2 Satz (Folgencharakterisierung). f ist stetig in x 0 ∈ X genau dann, wenn für jede Folge
(xn ) mit xn → x0 gilt: f (xn ) → f (x0 ).

Beweis. ⇒“ Sei f stetig, xk → x0 , ε > 0 vorgelegt. Dann existiert δ > 0 mit:



|f (x) − f (x0 )| < ε falls |x − x0 | < δ.

Wähle n0 so groß, dass |xk − x0 | < δ für k ≥ n0 . Es folgt |f (xk ) − f (x0 )| < ε für k ≥ n0 ,
d.h.f (xk ) → f (x0 ).
⇐“ Sei f nicht stetig in x0 . Dann existiert ein ε0 derart, dass für alle δ mindestens ein x(δ)

existiert mit
|f (x(δ) ) − f (x0 )| ≥ ε0 , obwohl |x(δ) − x0 | < δ. (1)
Speziell für δn = 1/n wähle xn := x(δn ) , n = 1, 2, 3, . . .. Wegen (1): xn → x0 , aber f (xn ) 6→ f (x0 ).

5.3 Satz (Komposition). Ist f : X → Y stetig in x 0 ∈ X und g : Y → Z stetig in f (x0 ) ∈ Y ,


so ist g ◦ f : X → Z stetig in x0 .
f stetig g stetig
Beweis. xn → x0 ⇒ f (xn ) → f (x0 ) ⇒ g(f (xn )) → g(f (x0 )). ⊳

5.4 Lemma (Einschränkung). Ist f : X → Y stetig, und ist X0 ⊆ X, so ist die Einschränkung
von f auf X0 die Funktion f |X0 : X0 → Y mit f |X0 (x) = f (x) für x ∈ X0 .
Klar: Ist f stetig in x0 ∈ X0 , so auch f |X0 .

5.5 Satz (Summe, Produkt, Kehrwert). Sind f, g : X → K stetig in x 0 , so gilt

(a) f + g : X → K stetig in x0 .
(b) f g : X → K stetig in x0 .
1
(c) Ist zusätzlich f (x) 6= 0 für alle x ∈ X, so ist auch f (x) stetig in x0 .

Insbesondere: C(X) ist K-Vektorraum mit den Operationen

(f + g)(x) = f (x) + g(x), (cf )(x) = cf (x), f, g ∈ C(X), c ∈ K.

Beweis. Mit der Folgencharakterisierung. ⊳

26
5.6 C-wertige Funktionen. Ist f : X → C stetig, so gibt es für jedes x ∈ X zwei eindeutig
bestimmte Elemente a(x), b(x) ∈ R mit

f (x) = a(x) + ib(x).

Damit liefern a : x 7→ a(x) und b : x 7→ b(x) selbst Abbildungen von X nach R, die man als
Realteil und Imaginärteil von f bezeichnet: a = Re f, b = Im f .
Aus 3.4 folgt: f stetig in x0 ⇔ Re f und Im f stetig in x0 .
P
5.7 Lemma. Eine Funktion p : C → C der Form p(z) = nk=0 ak z k mit geeignetem n ∈ N0
und a0 , . . . , an ∈ C heißt (komplexwertiges) Polynom.
(a) Polynome sind auf C stetig (also auch auf R).
(b) Es seien p, q Polynome und X = {z : q(z) 6= 0}. Dann ist die Funktion f : X → C definiert
durch
p(z)
f (z) =
q(z)
stetig. Diese Funktionen heißen rationale Funktionen.

Beweis. (a) Schrittweise: Zunächst sind die konstanten Funktionen z 7→ c, c ∈ C fest, stetig: Aus
zn → z0 stets folgt c → c.
Ferner ist die Funktion z 7→ z stetig: Aus z n → z0 folgt zn → z0 .
Damit sind nach 5.5 auch die Funktionen z 7→ a k z k , k = 1, 2, . . ., stetig, somit, wiederum
nach 5.5 das Polynom als deren Summe.
(b) Verwende (a) und 5.5(c). ⊳

5.8 Lemma.
(a) Die Exponentialfunktion exp : C → C ist stetig.
(b) sin z, cos z : C → C sind stetig.

Beweis. (a) Zunächst z0 = 0: Sei ε > 0 vorgelegt. Wir können annehmen, dass ε < 1 ist. Wähle
δ = ε/2. Zeige zunächst Stetigkeit in 0: Für |z − 0| < δ gilt 1 − |z| > 1/2 und
∞ ∞
X zk X zk
| exp(z) − exp(0)| = | − 1| = | |
k! k!
k=0 k=1

∞ ∞
z}|{
X|z|k X
k |z| δ
≤ ≤ |z| = < = ε.
k! 1 − |z| 1/2
k=1 k=1 | {z }
>1/2

Nun sei z0 ∈ C beliebig. Dann ist

| exp(z) − exp(z0 )| = | exp(z0 )| | exp(z − z0 ) − 1|.

Aus zn → z0 folgt zn − z0 → 0 also (siehe oben) exp(zn − z0 ) → 1, also | exp(z0 )| | exp(zn − z0 ) −


1| → 0.
(b) Ähnlich. ⊳

5.9 Beispiele. Die Betragsfunktion ist stetig auf R und C, weil ||z| − |z n || ≤ |z − zn |.

27
5.10 Zwischenwertsatz. Es sei [a, b] ein Intervall, a < b und f : [a, b] → R stetig. Ist f (a) < 0
und f (b) > 0, so existiert ein x0 ∈]a, b[ mit f (x0 ) = 0.

Wichtig: Intervall, reellwertig, stetig


Beweis. Bisektionsverfahren: Wir konstruieren eine Folge von Intervallen [a k , bk ], k = 1, 2, . . . mit
b−a
f (ak ) ≤ 0, f (bk ) ≥ 0 und bk − ak = . (1)
2k
Dazu setze: a0 = a, b0 = b. Seien ak , bk konstruiert. Setze xk = (ak + bk )/2.
Ist f (xk ) ≤ 0, so setze ak+1 = xk , bk+1 = bk .
Ist f (xk ) > 0, so setze ak+1 = ak , bk+1 = xk .
Diese Folge hat gewünschte Eigenschaften. Eventuell treffen wir durch Zufall eine Nullstelle.
Ansonsten
ak monoton wachsend und beschränkt ⇒ {a k } habe Grenzwert ã
bk monoton fallend und beschränkt ⇒ {b k } habe Grenzwert b̃
Wegen (1) ã = b̃ =: x0 . Wegen Stetigkeit von f und Stabilität des Grenzwertes

f (x0 ) = lim f (ak ) ≤ 0
⇒ f (x0 ) = 0
f (x0 ) = lim f (bk ) ≥ 0

5.11 Folgerung (Zwischenwertsatz). Es sei f : [a, b] → R stetig. Dann nimmt f jeden Wert
zwischen f (a) und f (b) an.

Beweis. Sei etwa f (a) < f (b) und f (a) < c < f (b). Definiere g : [a, b] → R durch g(x) = f (x)− c.
Dann g(a) < 0, g(b) > 0. Nach 5.13 existiert x 0 mit g(x0 ) = 0, also f (x0 ) = c. Ist f (a) > f (b)
und f (a) > c > f (b), so betrachte g(x) = c − f (x). ⊳

5.12 Folgerung. Es sei I ∈ R irgendein Intervall, f : I → R stetig. Dann ist das Bild f (I) ein
Intervall.
Bemerkung: Der Intervalltyp (offen, abgeschlossen, beschränkt) muss nicht erhalten bleiben.

Der folgende Satz ist sehr nützlich:

5.13 Satz. Es sei f : [a, b] → R stetig und streng monoton wachsend (d. h. f (x 1 ) > f (x2 ) für
x1 > x2 , x1 , x2 ∈ [a, b]). Setze A = f (a), B = f (b). Dann ist
f : [a, b] → [A, B] bijektiv,
hat also eine Umkehrfunktion F : [A, B] → [a, b] und diese ist stetig und streng monoton
wachsend. (Analog für monoton fallende Funktionen.)

5.14 Folgerung. Für k ∈ N, k ≥ 2 ist die Abbildung


x 7→ xk : R≥0 → R≥0
stetig und streng monoton wachsend. Man sieht leicht, dass sie bijektiv ist. Da (nach Definition)
√ √
die k-te Wurzel die eindeutig bestimmte Zahl mit ( k x)k = x ist, ist x 7→ k x die Umkehrfunk-
tion. Nach 5.13 (angewendet auf Intervalle [a, b] = [0, n] und [A, B] = [0, N k ]) ist sie also stetig
und streng monoton wachsend.

28
5.15 Bemerkung. Ist k ∈ N ungerade, so ist x k : R → R streng monoton, bijektiv und stetig,

also existiert die Umkehrfunktion F (y) = k y.

5.16 Satz. exp : R → R ist stetig, streng monoton wachsend und bildet R bijektiv auf R + ab.
Die Umkehrfunktion wird als natürlicher Logarithmus bezeichnet

ln : R+ → R.

Sie ist streng monoton wachsend und stetig. Aus e u ev = eu+v folgt

ln(xy) = ln x + ln y, x, y ∈ R+ . (1)

5.17 Definition und Satz. Für a ∈ R+ und x ∈ R setze

ax := exp(x ln a).

Dann ist x 7→ ax eine stetige Funktion von R nach R + .

(a) ax ay = ax+y ∀x, y ∈ R


(b) (ax )y = axy a > 0, x, y ∈ R
(c) ax bx = (ab)x a, b > 0, x ∈ R
(d) ap = a · . . . · a, a−p = a−1 · . . . · a−1 (p-mal, p ∈ N)

(e) ap/q = q ap p ∈ Z, q ∈ N
(f) limx→0 ax = 1, d. h. für jede Folge xn → 0 mit xn 6= 0 für alle n gilt axn → 1.

Bemerkung: (d) und (e) zeigen, dass wir eine sinnvolle Erweiterung der bisherigen Definition
gewählt haben.

Das folgende Lemma wird in der Übung bewiesen.

5.18 Lemma und Definition. Die cos-Funktion hat auf [0, 2] genau eine Nullstelle. Sie wird
mit π/2 bezeichnet. Die sin-Funktion ist auf ]0, 2] positiv.

5.19 Folgerungen.
3
(a) eiπ/2 = i, eiπ = −1, ei 2 π = −i, e2πi = 1
(b) cos(x + 2π) = cos x, sin(x + 2π) = sin x 2π-periodisch“

(c) cos(x + π) = − cos x, sin(x + π) = − sin x
(d) cos( π2 − x) = sin x, sin( π2 − x) = cos x
(e) {x ∈ R : sin x = 0} = {kπ : k ∈ Z} {x ∈ R : cos x = 0} = {π/2 + kπ : k ∈ Z}
(f) ix
e = 1 ⇔ x = 2kπ für ein k ∈ Z

Beweis.
5.18
(a) cos2 π2 + sin2 π
2 = |eiπ/2 | = 1 ⇒ sin π2 = 1 ⇒ eiπ/2 = cos π2 + i sin π2 = 0 + i · 1 = i. Rest
mit 4.18(b).

Rest ähnlich. ⊳

29
5.20 Definition. Tangens, Cotangens
sin x π
tan x = x∈R\{ + kπ : k ∈ Z}
cos x 2
cos x
cot x = x ∈ R \ {kπ : k ∈ Z}
sin x
5.21 Inverse trigonometrische Funktionen.

(a) cos : [0, π] → [−1, 1] ist stetig und streng monoton fallend mit cos 0 = 1 und cos π = −1.
Nach 5.13 existiert stetige Umkehrfunktion arccos“

arccos : [−1, 1] → [0, π].

(b) sin : [−π/2, π/2] → [−1, 1] ist stetig, streng monoton wachsend und bijektiv. Nach 5.13
existiert eine stetige Umkehrfunktion arcsin“

arcsin : [−1, 1] → [−π/2, π/2].

(c) tan : ] − π/2, π/2[ → R ist stetig, streng monoton wachsend und bijektiv. Nach 5.13
(mit den Zusatzüberlegungen aus den Beweisen von 5.14 und 5.16) existiert eine stetige
Umkehrfunktion arctan“

arctan : R → ] − π/2, π/2[.

5.22 Satz (Polardarstellung komplexer Zahlen). Jedes z ∈ C lässt sich in der Form

z = reiϕ

schreiben, wobei r = |z| und ϕ ∈ R ist. Für z 6= 0 ist ϕ bis auf ein Vielfaches von 2π bestimmt.
Man nennt ϕ das Argument von z.

Beweis. (i) Ist z = 0, so ist z = 0 · eiϕ , ϕ beliebig.


(ii) Also sei z 6= 0. Setze r = |z|, ζ = z/|z| ∈ C. Schreibe ζ = ξ + iη mit ξ, η ∈ R. Es ist
|ζ| = 1, also |ξ| ≤ 1. Daher existiert α = arccos √ ξ ∈ [0, π].
2 2
Wegen sin α + cos α = 1 folgt sin α = ± 1 − cos2 α = ±η. Setze ϕ = α, falls sin α = η und
ϕ = −α, falls sin α = −η. Dann gilt cos ϕ = ξ, sin ϕ = η also e z = reiϕ .
(Eindeutigkeit) Ist z 6= 0 und z = reiϕ = reiψ , so ist ei(ϕ−ψ) = 1, also ϕ − ψ ∈ {2kπ : k ∈
Z nach 5.19(f )}. ⊳

5.23 Bemerkung. Der obige Beweis zeigt insbesondere, dass die Abbildung

eix : ] − π, π] → {z ∈ C : |z| = 1} bzw.


eix : [0, 2π[ → {z ∈ C : |z| = 1}

bijektiv ist.

5.24 Bemerkung (Interpretation der Multiplikation komplexer Zahlen).

z1 = r1 eiϕ1 , z2 = r2 eiϕ2 ⇒ z1 z2 = r1 r2 ei(ϕ1 +ϕ2 )

Beträge multiplizieren sich, die Argumente addieren sich.

30
5.25 Satz: n-te Einheitswurzeln. Sei n ∈ N, n ≥ 2. Dann hat die Gleichung z n = 1 in C
genau n verschiedene Lösungen, nämlich

zj = ei2πj/n j = 0, . . . , n − 1. (1)

Beweis. Offensichtlich gilt zjn = ei2πj = 1. Die zj sind paarweise verschieden nach 5.19(f).
Umgekehrt sei z ∈ C und z n = 1. Schreibe z = reiϕ . Es folgt r n einϕ = 1. Es folgt r = 1 und
nϕ ∈ {2kπ : k ∈ Z}, also ϕ ∈ {2kπ/n : k ∈ Z}. Wegen e i2kπ = 1 liefert dies genau (1). ⊳

5.26 Satz. Es sei f : [a, b] → R stetig. Dann nimmt f sein Maximum und sein Minimum an.

Wichtig: Stetige reellwertige Funktion, endliches, abgeschlossenes Intervall. Sonst i. Allg. falsch.

Beweis. 1. Schritt: f ist beschränkt. Annahme: Es existiert eine Folge (t k ) in [a, b] mit |f (tk )| →
∞ (*). Nach Bolzano-Weieerstraß hat (t k ) eine konvergente Teilfolgen (tkl ) mit tkl → t0 ∈ [a, b]
nach 3.10. Da |f | stetig ist, konvergiert |f (t kl )| gegen |f (t0 )| – Widerspruch zu (*).
2. Schritt: Also existiert ein M = sup{f (t) : t ∈ [a, b]}. Nach der Definition des Supremums
existiert eine Folge
(tk ) in [a, b] mit f (tk ) → M.
Nach Bolzano-Weierstraß existiert eine konvergente Teilfolge (t kj ) mit tkj → t0 in [a, b].
Da f stetig ist, folgt

M = lim f (tk ) = lim f (tkj ) = f (lim tkj ) = f (t0 ).


k→∞ j→∞

Mit tmax := t0 folgt die Behauptung. Für Minimum analog. ⊳

31
6 Differentialrechnung in R
Im Folgenden sei D ⊆ R ein Intervall (offen, abgeschlossen, . . .) mit mehr als einem Punkt und
f : D → K (K = R oder K = C) eine Funktion.

6.1 Definition. Wir sagen, f sei in t 0 ∈ D differenzierbar (db), falls

f (t) − f (t0 )
lim =: f ′ (t0 ) ∈ K. (1)
t→t0 t − t0
(Ableitung von f an der Stelle t0 ) existiert. Die Schreibweise lim t→t0 . . . soll heißen, dass für jede
Folge (tk ) mit tk → t0 gilt
f (tk ) − f (t0 )
lim =: f ′ (t0 ) ∈ K.
k→∞ t − t0
Der Ausdruck ist natürlich nur dann sinnvoll, wenn tk ∈ D und tk 6= t0 für alle k. Das wollen
wir stillschweigend voraussetzen.
Äquivalent zu (1) kann man schreiben

f (t0 + h) − f (t0 )
f ′ (t0 ) = lim ,
h→0 h
wobei hier Folgen (hk ) mit t0 + hk ∈ D, hk 6= 0 betrachtet werden.
Die Funktion f heißt von rechts (bzw. von links) differenzierbar, falls man sich auf Folgen
mit tk > t0 (bzw. tk < t0 ) beschränkt.
Die Funktion f heißt auf D differenzierbar, falls sie in jedem t 0 ∈ D differenzierbar ist.

6.2 Satz. Äquivalent sind

(a) f ist in t0 differenzierbar.


(b) f lässt sich in t0 linearisieren: Es gibt eine (von t 0 abhängige Funktion) ϕ : D → K (ϕ =
Fehler) mit der Eigenschaft, dass

f (t) = f (t0 ) + c(t − t0 ) + ϕ(t) (1)

für ein geeignetes c ∈ K und


ϕ(t)
lim = 0,
t→t0 t − t0
d.h. die Gerade t 7→ f (t0 ) + c(t − t0 ) nähert die Funktion f in der Nähe von t0 besser als
linear.
In diesem Fall ist c = f ′ (t0 ) und limt→t0 ϕ(t) = 0.

Beweis. (a) ⇒ (b) Wir definieren c = f ′ (t0 ) und ϕ(t) durch (1). Dann gilt

ϕ(t) f (t) − f (t0 )


= − f ′ (t0 ) → 0.
t − t0 t − t0

(b) ⇒ (a)
f (t) − f (t0 ) ϕ(t)
=c− → c.
t − t0 t − t0
Also ist f differenzierbar und f ′ (t0 ) = c. ⊳

30
6.3 Folgerung. Ist f : D → R in t0 differenzierbar, so ist f in t0 stetig, da aus 6.1(1) folgt,
dass limt→t0 f (t) = f (t0 ).
6.4 Satz.
(a) Eine Funktion f : D → C ist in t0 db genau dann, wenn Re (f ) und Im (f ) in t 0 db sind.
In diesem Fall ist f ′ (t0 ) = (Re f )′ (t0 ) + i(Im f )′ (t0 ).
(b) Sind f, g : D → K db in t0 , so ist
(i) (f + g) : D → K db in t0 und (f + g)′ (t0 ) = f ′ (t0 ) + g ′ (t0 ) und
(ii) (f g) : D → K ist db in t0 mit (f g)′ (t0 ) = f ′ (t0 )g(t0 ) + f (t0 )g′ (t0 ).
Insbesondere: (f =const) Die differenzierbaren Funktionen bilden also einen Unterraum
von C(D).
(c) Ist zusätzlich g(t) 6= 0 ∀t ∈ D, so ist auch 1/g : D → K differenzierbar in t 0 und
(1/g)′ (t0 ) = −g ′ (t0 )/g(t0 )2

Beweis. (a), (b.i) Rechenregeln für Grenzwerte.


(b.ii) Schreibe um und bilde den Grenzwert:
f (t)g(t) − f (t0 )g(t0 ) g(t) − g(t0 ) f (t) − f (t0 )
= f (t) + g(t0 ).
t − t0 t − t0 t − t0
Stetigkeit von f und Regeln für Produkt von Grenzwerten liefern Behauptung.
(c) Schreibe
1 1 1
− =− (g(t) − g(t0 ).
g(t) g(t0 ) g(t)g(t0 )

6.5 Beispiele. Mit vollständiger Induktion und den obigen Regeln zeigt man leicht:
(a) Für n ∈ N0 ist die durch fn (t) = tn definierte Funktion f : R → R differenzierbar auf R
mit
fn′ (t) = ntn−1
(b) f−n (t) = t−n differenzierbar auf R \ {0} wegen 6.4(c) und
fn′ (t) ntn−1
(f−n )′ (t) = − = − = −nt−n−1 .
fn2 (t) t2n
6.6 Beispiele.
(a) f (t) = et ist differenzierbar auf R mit f ′ (t) = et , denn
et+h − et eh − 1
= et → et ,
h h
denn es ist
∞ ∞
X hk 2
X 1
h
0 ≤ |e − 1 − h| = | | ≤ |h| |h|k = |h|2
k! 1 − |h|
k=2 k=0
somit
eh − 1 |h|
0≤| − 1| ≤ → 0.
h 1 − |h|
Also
eh − 1
lim = 1.
h→0 h

31
(b) Ähnlich zeigt man sin und cos sind differenzierbar auf R mit sin ′ = cos und cos′ = − sin.
(c) f (t) = |t| differenzierbar auf R \ {0} mit

′ 1 t>0
f (t) = .
−1 t < 0

Rechtsseitig differenzierbar in 0 (rechtseitige Ableitung = 1).


Linksseitig differenzierbar in 0 (linksseitige Ableitung = −1).
Aber nicht differenzierbar in 0! Der linksseitige Grezwert für die Ableitung in 0 ist −1,
der rechtsseitige ist +1. Wäre die Funktion differenzierbar, so müssten beide gleich sein.

6.7 Satz. Ableitung der Umkehrfunktion. Es sei f : D = [a, b] → R stetig und streng mo-
noton, D ∗ = f (D). Ist f differenzierbar in t0 ∈ D und f ′ (t0 ) 6= 0, so ist auch die Umkehrfunktion
F : D ∗ → D differenzierbar in x0 = f (t0 ) ∈ D ∗ mit
1
F ′ (x0 ) = .
f ′ (F (x 0 ))

Beweis. Sei (yk ) Folge in D ∗ \ {f (t0 )} mit yk → f (t0 ) =: y0 . Setze tk = F (yk ). Da F stetig ist
nach (5.16), gilt tk → t0 ; ferner ist tk 6= t0 für alle k, da f : D → D ∗ bijektiv ist.
Nun gilt
F (yk ) − F (y0 ) tk − t 0
= .
yk − y0 f (tk ) − f (t0 )
1 1
Da f ′ (t0 ) 6= 0 existiert nach 3.5 der Grenzwert, und F ′ (y0 ) = f ′ (x0 ) = f ′ (F (y0 )) . ⊳

6.8 Beispiel. ln : R+ → R ist die Umkehrfunktion von exp. Also ist


1 1 1
ln′ (t) = = = .
exp′ (ln t) exp(ln t) t

6.9 Satz. (Kettenregel). Es seien D, E ⊆ R und f : D → R, g : E → K mit f (D) ⊆ E.


Ist f in t0 ∈ D differenzierbar und g in e0 = f (t0 ) differenzierbar, so ist die Komposition
g ◦ f : D → K in t0 differenzierbar und (g ◦ f )′ (t0 ) = g ′ (f (t0 ))f ′ (t0 ).

Beweis. Definiere g ∗ : E → R durch


(
g(e)−g(e0 )
∗ e−e0 x 6= e0
g (e) = .
g′ (e0 ) e = e0

Da g in e0 differenzierbar ist, gilt lime→e0 g∗ (e) = g ′ (e0 ), also ist g ∗ stetig. Außerdem gilt für
alle e ∈ E
g(e) − g(e0 ) = g ∗ (e)(e − e0 ).
Somit folgt
g(f (t)) − g(f (t0 )) f (t) − f (t0 )
= g∗ (f (t)) .
t − t0 t − t0
Also existiert (g ◦ f )′ (t0 ) und hat den Wert g ′ (f (t0 ))f ′ (t0 ). ⊳

32
6.10 Beispiele. f (t) = tc = exp(c ln t); t > 0, c ∈ R fest. Dann ist
1 1
f ′ (t) = exp′ (c ln t) · c = tc c = c tc−1 .
t t

6.11 Definition. Es sei f : D → K differenzierbar in D. Ist f ′ differenzierbar in t0 ∈ D, so


heißt (f ′ )′ (t0 ) die zweite Ableitung von f in t0 und wird mit f ′′ (t0 ) bezeichnet.
Analog höhere Ableitungen: f ′′′ , f (4) , . . ., allgemein f (n) , n ∈ N0 . Man schreibt auch

df d2 f dn f
f′ = , f ′′ = , ..., f (n) = .
dt dt2 dtn
Man sagt, f sei k-mal stetig differenzierbar auf D, falls f k-mal differenzierbar ist und die k-te
Ableitung stetig ist. Schreibe f ∈ C k (D).

6.12 Lokale und globale Extrema und Minima. Nach Satz 5.26 hat eine stetige Funktion
f : [a, b] → R auf [a, b] Maxima und Minima (‘globale Maxima/Minima’). Man nennt t 0 ∈ [a, b]
ein lokales Maximum, falls ein ε > 0 existiert mit

f (t0 ) ≥ f (t) ∀t ∈ [a, b] mit |t − t0 | < ε. (1)

Analog lokales Minimum, falls

f (t0 ) ≤ f (t) ∀t ∈ [a, b] mit |t − t0 | < ε. (2)

Man spricht von isoliertem lokalen Maximum/Minimum, falls (1) bzw. (2) nur für t = t0 Gleich-
heit gilt.
Extremum“ = Oberbegriff für Maximum“ und Minimum“.
” ” ”
6.13 Satz. Die Funktion f : [a, b] → R sei in t 0 ∈ ]a, b[ differenzierbar und habe dort ein lokales
Extremum. Dann ist f ′ (t0 ) = 0.

Beweis. f besitze in t0 ein lokales Maximum. Dann existiert ein ε > 0, so dass I ε = ]t0 − ε, t0 + ε[ ⊆
]a, b[ und f (t) ≤ f (t0 ) ∀t ∈ Iε . Für die links- bzw. rechtsseitige Ableitung f − und f+ folgt:

f (t) − f (t0 )
f+′ (t0 ) = lim ≤0
t→t+
0
t − t0
f (t) − f (t0 )
f−′ (t0 ) = lim ≥ 0.
t→t−
0
t − t0

Da f in t0 differenzierbar ist, gilt f+′ (t0 ) = f−′ (t0 ) = f ′ (t0 ), also f ′ (t0 ) = 0.
Für Minima analog. ⊳

6.14 Bemerkung. Notwendig, nicht hinreichend: f : [−1, 1] → R mit f (t) = t 3 hat kein
Extremum in t0 = 0, obwohl f ′ (0) = 0.

6.15 Bemerkung. Ist f : [a, b] → R stetig, so hat f auf [a, b] ein Maximum, denn [a, b] ist
kompakt. Nun zwei Möglichkeiten:

(i) Das Maximum liegt auf dem Rand (Untersuche f (a), f (b)) oder

33
(ii) das Maximum liegt im Inneren ]a, b[. Dort 6.13 anwenden, vorausgesetzt dass f differen-
zierbar ist in ]a, b[.

6.16 Satz. (Satz von Rolle). Sei a < b und f : [a, b] → R stetig Funktion, differenzierbar in
]a, b[. Ist f (a) = f (b), so existiert ein t 0 ∈ ]a, b[ mit f ′ (t0 ) = 0.
Wichtig ist hier, dass K = R!

Beweis. f konstant ⇒ f ′ = 0, nichts zu zeigen.


Ist f nicht konstant, so hat f ein Extremum t 0 im Inneren. Dort ist f ′ (t0 ) = 0 nach 6.13. ⊳

6.17 Satz. (Mittelwertsatz). Sei a < b, f : [a, b] → R stetig, differenzierbar in ]a, b[. Dann
existiert ein t0 ∈ ]a, b[ mit
f (b) − f (a) = f ′ (t0 )(b − a). (1)
f (b)−f (a)
Beweis. Definiere g : [a, b] → R durch g(t) = f (t) − b−a (t − a). Dann ist g stetig in [a, b]
f (b)−f (a)
und g(a) = f (a), g(b) = f (b). Nach Rolle existiert ein t 0 mit 0 = g ′ (t0 ) = f ′ (t0 ) − b−a . ⊳

6.18 Folgerungen. Sei f wie in 6.17.

(a) Falls m ≤ f ′ (ξ) ≤ M für geeignete m, M ∈ R und alle ξ ∈]a, b[, so ist für alle s, t ∈ [a, b]
mit s ≤ t
m(t − s) ≤ f (t) − f (s) ≤ M (t − s).

(b) Falls |f ′ (ξ)| ≤ C ist für geeignete C ∈ R und alle ξ ∈]a, b[, so ist ∀s, t ∈ [a, b]

|f (t) − f (s)| ≤ C|t − s|.

(c) Falls f ′ (t) = 0 ist für alle t ∈]a, b[, so ist f konstant nach (b).

6.19 Satz. Ist f : [a, b] → R stetig und differenzierbar in ]a, b[, so gilt:
Ist f ′ (t) ≥ 0 ∀t ∈]a, b[, so ist f monoton wachsend.
Ist f ′ (t) > 0 ∀t ∈]a, b[, so ist f streng monoton wachsend.
Ist f ′ (t) ≤ 0 ∀t ∈]a, b[, so ist f monoton fallend.
Ist f ′ (t) < 0 ∀t ∈]a, b[, so ist f streng monoton fallend.
Umgekehrt: Ist f monoton wachsend bzw. fallend auf [a, b], so ist f ′ (t) ≥ 0 bzw. ≤ 0 für alle
t ∈ ]a, b[

Beweis. Die ersten Aussagen folgen sofort aus 6.18(a). Ist umgekehrt f monoton wachsend, so
ist der Differenzenquotient f (t)−f
t−t0
(t0 )
≥ 0 für alle t,also f ′ (t0 ) ≥ 0. ⊳

6.20 Satz. Sei f : ]a, b[ → R differenzierbar. In t 0 ∈ ]a, b[ sei f zweimal differenzierbar mit
f ′ (t0 ) = 0, f ′′ (t0 ) > 0 (bzw. f ′′ (t0 ) < 0).
Dann besitzt f in t0 ein isoliertes lokales Minimum (bzw. ein isoliertes lokales Maximum).

Bemerkung: Hinreichend, nicht notwendig: f (t) = t 4 in t = 0

f ′ (t)−f ′ (t0 )
Beweis. Es ist limt→0 t−t0 = f ′′ (t0 ) > 0. Also existiert zu ε = f ′′ (t0 )/2 ein δ > 0 mit

f ′ (t) − f ′ (t0 )
> ε,
t − t0

34
falls |t − t0 | < δ, t 6= t0 .
Nun ist f ′ (t0 ) = 0, also folgt:

f ′ (t) > 0 f ür t > t0 , f ′ (t) < 0 f ür t < t0 .

Es folgt dass f streng monoton fallend links von t 0 und streng monoton wachsend rechts von t 0
ist. ⊳

6.21 Satz. Regel von de l’Hospital. Es seien a, b ∈ R ∪ {+∞, −∞}, f, g : ]a, b[ → R


differenzierbar und g ′ (t) 6= 0 ∀t. Ferner treffe eine der folgenden Annahmen zu:

(i) limt→a+ f (t) = limt→a+ g(t) = 0 oder


(ii) limt→a+ g(t) = +∞ oder limt→a+ g(t) = −∞.

Dann ist
f (t) f ′ (t)
lim = lim ′ ,
t→a+ g(t) t→a+ g (t)
falls der rechte Limes existiert oder bestimmt gegen ±∞ divergiert. Die entsprechende Aussage
gilt für t → b− .

Beweis. Dem Beweis liegt eine einfache Idee zu Grunde, die man gut sieht, wenn f, g stetig
differenzierbar sind und Fall (i) für a ∈ R vorliegt:
f (t)−f (a)
f (t) f (t) − f (a) t−a f ′ (t)
lim = lim = lim f (t)−f (a)
= lim .
t→a g(t)
+ t→a g(t) − g(a)
+ t→a+ t→a+ g′ (t)
t−a

Andere Fälle technisch schwieriger. ⊳

6.22 Definition. Eine Funktion f : D → R heißt konvex, falls für t1 , t2 ∈ D und 0 ≤ λ ≤ 1


gilt
f (λt1 + (1 − λ)t2 ) ≤ λf (t1 ) + (1 − λ)f (t2 ). (1)
Geometrisch bedeutet dies, dass der Graph von f zwischen t 1 und t2 unterhalb der Verbindungs-
strecke von f (t1 ) und f (t2 ) verläuft.
Man nennt die Funktion konkav, falls in (1) ≥ steht. Klar: f konkav ⇔ −f konvex.

6.23 Satz. Auf [a, b] sei f stetig und auf ]a, b[ differenzierbar. Dann gilt: f konvex auf [a, b]
genau dann, wenn f ′ monoton wachsend auf ]a, b[ ist.

Ohne Beweis.
Kombination von Satz 6.19 und 6.23 liefert dann:

6.24 Folgerung. Ist f auf [a, b] stetig und auf ]a, b[ zweimal differenzierbar, so gilt: f ist konvex
auf [a, b] genau dann, wenn f ′′ (t) ≥ 0 für alle t ∈ ]a, b[.

35
7 Das Riemann-Integral
Im Folgenden sei K = R oder C, [a, b] ein Intervall in R, a < b und f : [a, b] → K beschränkt,
(d.h. ∃C > 0 : kf (x)| ≤ C ∀x ∈ [a, b]).

7.1 Definition. Für eine Zerlegung ( Partition“)



Z = {t0 = a ≤ t1 ≤ . . . ≤ tN = b}

von [a, b] heißt


|Z| = max{tj − tj−1 : j = 1, . . . , N }
die Feinheit von Z. Wähle sj ∈ [tj−1 , tj ], j = 1, . . . , N , setze s = {s1 , . . . , sN }.
Die Riemannsche Zwischensumme zur Zerlegung Z und Zwischenpunkten s 1 , . . . , sN ist
N
X
σ(f, Z, s) = f (sj )(tj − tj−1 ). (1)
j=1

Wir nennen f (Riemann-) integrierbar, falls f beschränkt ist und ein Element I ∈ K existiert,
für das gilt
∀ε > 0 ∃ δ > 0 so, dass gilt |Z| < δ ⇒ |I − σ(f, Z, s)| < ε
unabhängig von der Wahl der sj . In diesem Fall nennen wir I das Integral von f und schreiben
Z b
I= f (t) dt.
a

Offensichtlich spielt es keine Rolle, wenn man f in endlich vielen Punkten abändert: Der Beitrag
zu (1) geht bei hoher Feinheit gegen 0.

7.2 Satz. f : [a, b] → C ist Riemann-integrierbar, genau dann wenn Re f, Im f : [a, b] → R


Riemann-integrierbar sind; dann ist
Z b Z b Z b
f (t) dt = Re f (t) dt + i Im f (t) dt.
a a a

Man kann sich also auf die Integration reeller Fuktionen beschränken.

Beweis. f beschränkt ⇔ Re f und Im f beschränkt. Ferner: Re σ(f, Z, s) = σ(Re f, Z, s) und


Im σ(f, Z, s) = σ(Im f, Z, s).
Nun gilt:

lim (σ(f, Z, s) = I ⇔ lim σ(Re f, Z, s) → Re I und lim σ(Im f, Z, s) → Im I.


|Z|→0 |Z|→0 |Z|→0

7.3 Satz. Es seien f, g : [a, b] → K Riemann-integrierbar, c ∈ K.

(a) f + g : [a, b] → K ist Riemann-integrierbar,


Z b Z b Z b
f (t) + g(t) dt = f (t) dt + g(t) dt.
a a a

36
(b) cf : [a, b] → K ist Riemann-integrierbar,
Z b Z b
cf (t) dt = c f (t) dt.
a a

(c) Ist K = R und f ≤ g, so ist


Z b Z b
f (t) dt ≤ g(t) dt.
a a

Beweis. Folgt sofort aus der Definition über Zwischensummen. ⊳

7.4 Satz. Es sei f : [a, b] → K stetig. Dann ist f Riemann-integrierbar.

Beweis. Lassen wir weg.

7.5 Satz. Es sei a < b < c, f1 : [a, b] → K Riemann-integrierbar, f 2 : [b, c] → K Riemann-


integrierbar. Definiere f : [a, c] → K durch

f1 (t) a ≤ t ≤ b
f (t) = .
f2 (t) b < t ≤ c

Dann ist f : [a, c] → K Riemann-integrierbar und


Z c Z b Z c
f (t) dt = f1 (t) dt + f2 (t) dt.
a a b

Beweis. Weglassen

7.6 Definition und Folgerung. Wir nennen eine Funktion f : [a, b] → K stückweise ste-
tig, falls es eine Zerlegung a = t0 < t1 < . . . < tN = b gibt mit der Eigenschaft, dass für
j = 0, . . . , N − 1 die Einschränkung f |]tj ,tj+1 [ stetig ist und die Grenzwerte limt→t+ f (t) und
j
limt→t− f (t) existieren.
j+1
Der obige Satz zeigt, dass stückweise stetige Funktionen Riemann-integrierbar sind.

7.7 Satz. Es sei f : [a, b] → K stückweise stetig. Dann ist


Z b Z b
| f (t) dt| ≤ |f (t)| dt.
a a
Rb
Insbesondere | a f (t) dt| ≤ (b − a) maxt∈[a,b] |f (t)|.

Beweis. Beachte: |f | ist stückweise stetig, also auch Riemann-integrierbar.


Die Ungleichung folgt aus der Tatsache, dass

|σ(f, Z, s)| ≤ σ(|f |, Z, s)

für beliebige Z, s. ⊳

37
7.8 Definition. Ist f : [a, b] → K Riemann-integrierbar, a < b, so setze
Z a Z b
f (t) dt = − f (t) dt.
b a

7.9 Satz. Es sei f : [a, b] → K stetig, t 0 ∈ [a, b]. Definiere F : [a, b] → K durch
Z t
F (t) = f (s) ds.
t0

Dann ist F differenzierbar auf [a, b] und

F ′ (t) = f (t).

Beweis. Sei t1 ∈ [a, b] fest. Dann ist für t 6= t1


Rt
F (t) − F (t1 ) t1 f (s) ds − f (t1 )(t − t1 )
− f (t1 ) =
t − t1 t − t1
Rt
t1 f (s) − f (t1 ) ds
= . (1)
t − t1
Wegen der Stetigkeit von f in t1 existiert zu ε > 0 ein δ > 0 mit

|f (s) − f (t1 )| < ε, falls |s − t1 | < δ.

Nach 7.7 ist


Z t Z t
| f (s) − f (t1 ) ds| ≤ | |f (s) − f (t1 )| ds|
t1 t1
< ε|t1 − t|.

Also ist die rechte Seite von (1) ≤ ε. ⊳

7.10 Definition. Eine differenzierbare Funktion F : [a, b] → K heißt Stammfunktion von


f : [a, b] → K, falls F ′ = f .

7.11 Satz. Es sei F : [a, b] → K eine Stammfunktion von f : [a, b] → K und G : [a, b] → K eine
weitere Funktion. Dann gilt:

G ist ebenfalls Stammfunktion ⇔ F − G konstant .

Beweis. ⇐“ Ist F − G konstant, so ist G′ = (F + C)′ = F ′ = f .



⇒“ Ist G′ = F ′ = f , so ist (F − G)′ = 0, also F − G konstant nach 6.18. ⊳

7.12 Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung. Sei f : [a, b] → K stetig und F
eine Stammfunktion von f . Dann gilt
Z b
f (t) dt = F (b) − F (a) =: F (t)|ba .
a
R R
Man schreibt diese Identität oft in der RForm f (t) dt = F (oder genauer f (t) dt = F + c für
eine beliebige Konstante c) und nennt f (t) dt das unbestimmte Integral.

38
Rt
Beweis. Definiere F0 (t) = a f (s) ds. Dann ist F0 Stammfunktion von f und
Z b
F0 (a) = 0, F0 (b) = f (s) ds.
a

Ist F beliebige Stammfunktion, so ist F (t) = F 0 (t) + c für ein festes c ∈ K. Es folgt
Z b
F (b) − F (a) = F0 (b) − F0 (a) = f (s) ds.
a

7.13 Beispiele.

(a) Sei s ∈ R, s 6= −1. Wegen (ts+1 )′ = (s + 1)ts gilt

b
b
ts+1
Z
s
t dt = ,
a s + 1 a

Für s = −2, −3, . . . soll 0 nicht im Integrationsintervall liegen. Für s ∈ R \ Z soll Integra-
tionsintervall in R+ liegen, ansonsten ist ts nicht definiert.
(b) Für a, b > 0 gilt
Z b
dt
= ln t|ba ,
a t
da ln t Stammfunktion zu 1/t auf R + ist.
Für a, b < 0 gilt Z b
dt
= ln(−t)|ba ,
a t
da ln(−t) Stammfunktion zu 1/t auf R − ist.
(c)
b
dt 1
Z
√ = arcsin t|ba , arcsin′ (t) = √
da , −1 ≤ a ≤ b ≤ 1
a 1 − t2 1 − t2
Z b
dt 1
= arctan t|ba , da arctan′ (t) =
a 1 + t2 1 + t2
Z b
dt 1
2
= tan t|ba , da tan′ (t) = ;
a cos t cos2 t

hier setzen wir voraus, dass cos 2 t 6= 0 im Integrationsintervall.

7.14 Beispiel.
Z 2π 
2π k=0
eikt dt = e2πki −1 .
0 ik k ∈ R \ {0}
Speziell = 0 für k ∈ Z \ {0}.

Beweis. Gilt, weil (eikt )′ = ikeikt .

39
7.15 Satz. (Substitutionsregel). Sei f : [a, b] → K stetig, ϕ : [c, d] → [a, b] stetig differen-
zierbar. Dann gilt
Z d Z ϕ(d)

f (ϕ(t))ϕ (t) dt = f (s) ds.
c ϕ(c)

Beweis. Sei F Stammfunktion zu f . Für F ◦ ϕ gilt nach der Kettenregel:

(F ◦ ϕ)′ (t) = F ′ (ϕ(t))ϕ′ (t) = f (ϕ(t))ϕ′ (t).

Also:
Z d
f (ϕ(t))ϕ′ (t) dt = (F ◦ ϕ)|dc = F (ϕ(d)) − F (ϕ(c))
c
Z ϕ(d)
= f (s) ds.
ϕ(c)

7.16 Beispiel: Halbkreisfläche. Sei −1 ≤ u ≤ v < 1, t = sin x = ϕ(x), a = arcsin u,


b = arcsin v.
Z vp Z arcsin v p
1 − t2 dt = 1 − sin2 x cos x dx (mit cos ≥ 0!)
u arcsin u
Z arcsin v
= cos2 x dx. (1)
arcsin u

Wegen
2
eix + e−ix

2 1 1 1 1
cos x = = (e2ix + e−2ix ) + = cos 2x +
2 4 2 2 2
folgt
v
1 arcsin v
 
1
Z p
1 − t2 dt = sin 2x + x .
u 4 2 arcsin u
p
Nun ist sin 2x = 2 sin x cos x = 2 sin x 1 − sin2 x. Es folgt
Z vp  p  v
1 1
1 − t2 dt = t 1 − t2 + arcsin t .
u 2 2 u

Für u = −1, v = +1 folgt


1
π
Z p
1 − t2 dt = .
−1 2
Dies ist die Fläche des Halbkreises vom Radius 1. Bild!

7.17 Satz. (Partielle Integration). Es seien f, g : [a, b] → C stetig differenzierbar. Dann gilt
Z b Z

f (t)g (t) dt = f (t)g(t)|ba − f ′ (t)g(t) dt.
a

40
Beweis. Setze F = f g. Dann ist F ′ = f ′ g + f g ′ , also
Z b
f ′ g + f g ′ dt = F |ba = f g|ba .
a

7.18 Beispiel. a, b > 0


b b
1
Z Z
ln t dt = ln t · t|ba − · t dt = t(ln t − 1)|ba .
a a t

7.19 Integration rationaler Funktionen mittels Partialbruchzerlegung. Es sei f (t) =


p(t)
q(t) eine rationale Funktion. Wir können annehmen, dass grad q > grad p ist; sonst kann man
ein Polynom abdividieren, und Polynome können wir bereits integrieren.
Nach dem Fundamentalsatz der Algebra hat q(t) die Darstellung

q(t) = c(t − t1 )ρ1 . . . (t − tr )ρr (t2 + A1 t + B1 )σ1 . . . (t2 + As t + Bs )σs

mit c ∈ R, ρj ∈ N, σj ∈ N, tj ∈ R, Aj , Bj ∈ R. Dabei sollen die quadratischen Faktoren keine


rellen Nullstellen haben. Dann findet man a ij , αij , βij ∈ R mit

p(t) a11 a1ρ1


= + ... +
q(t) t − t1 (t − t1 )ρ1
+ ...
ar1 arρr
+ + ... +
t − t1 (t − tr )ρr
α11 t + β11 α1σ t + β1σ1
+ 2 + ... + 2 1
t + A1 t + B1 (t + A1 t + B1 )σ1
+ ...
αs1 t + βs1 αsσ t + βsσs
+ 2 + ... + 2 s
t + As t + Bs (t + As t + Bs )σs

Man braucht also nur noch die Funktionen auf der rechten Seite integrieren zu können; diese
sind tabelliert.

7.20 Uneigentliche Integrale.

(a) f : [a, ∞[→ K sei Riemann-integrierbar auf allen abgeschlossenen Intervallen [a, R], R ∈ R.
R∞ R∞ RR
Man nennt das Integral a f (t) dt konvergent und setzt a f (t) dt = limR→∞ a f (t) dt,
falls der Limes existiert.
Ra
Analog −∞ f (t) dt für f :] − ∞, a] → K.
(b) f :]a, b] → K sei Riemann-integrierbar auf allen abgeschlossenen Intervallen [a+ε, b], ε > 0.
Rb Rb Rb
Man nennt das Integral a f (t) dt konvergent und setzt a f (t) dt = limε→0 a+ε f (t) dt,
falls der Limes existiert.
Rb Rb
Analog a f (t) dt für f : [a, b[→ K und schließlich a f (t)dt für f :]a, b[→ K, a ∈ R ∪
{−∞}, b ∈ R ∪ {∞}.

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