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Beiträge zum Strafrecht
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Beiträge zum Strafrecht

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Strafrechtliche Zurechnung folgt nicht den Gesetzen der Natur, sondern verbindet ein deliktisches Geschehen mit einer Person nach gesellschaftlichen Regeln. Der Vorsatz ist deshalb kein psychisches Faktum, sondern ein eigenständiger normativer Zusammenhang, und ein Verbotsirrtum nur dann vermeidbar, wenn er Ausdruck mangelnder Rechts­treue des Irrenden ist. Auf einen auch nur "leisen" Unrechtszweifel kommt es also nicht an.
Auch in der Beteiligungslehre ist die Verbindung von Person und Delikt nicht gegenständlich-faktisch zu verstehen, sondern normativ als Zuständigkeit des Beteiligten für ein Geschehen, das er durch ein deliktisch befangenes Verhalten ermöglicht oder gefördert hat. Bei der Nötigung steht schließlich nicht die Freiheit als der Person natürlich gegebener Besitz im Zentrum der Interpretation von Gewalt und Drohung, sondern die Aufgabe der Freiheit in einer Gesellschaft der gegenwärtigen Gestalt. Die Nötigung schützt das allgemeine Interesse an der Bewahrung der Bestandsbedingungen einer Gesellschaft, die hochgradig anonyme Sozialkontakte ermöglichen muss, und nur dadurch vermittelt die Freiheit der Person.
LanguageDeutsch
Release dateDec 17, 2014
ISBN9783738667844
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    Beiträge zum Strafrecht - Gerhard Timpe

    Inhaltsverzeichnis

    SELBSTORGANISATION

    DIE ABERRATIO ICTUS

    A. Vorbemerkung.

    B. Vorsatz und Wissen

    C. Vorsatzabweichungen.

    1. Error in persona vel obiecto

    2. Aberratio ictus

    3. Schlussbemerkung

    „§ 17 IST ZU HART" – IST § 17 ZU HART?

    A. Vorbemerkung.

    B. Die „Pflichtverletzungslehre"

    C. Der „Unrechtszweifel" als Kennzeichen der Vermeidbarkeit eines Verbotsirrtums

    D. Rechtsunkenntnis als Ausdruck mangelnder Normbefolgungsbereitschaft

    1. Der vermeidbare Verbotsirrtum

    2. Der unvermeidbare Verbotsirrtum

    E. Schlussbemerkung

    DER TATBESTAND DER BEIHILFE

    A. Hilfeleisten

    1. Die Förderungsformel der Rechtsprechung

    2. Teilnehmerdelikt

    3. Die Kausalitätslehren

    4. Organisatorisch-normative Gemeinsamkeit

    B. Psychische Beihilfe

    C. Subjektiver Tatbestand.

    MITTELBARE TÄTERSCHAFT BEJ SELBSTSCHÄDIGUNG

    I. Einleitung

    II. Täterlehren

    A. Die Rechtsprechung.

    B. Das Verantwortungsprinzip

    III. Zuständigkeit für einen Defekt

    A. Paternalistische Zuständigkeit

    B. (Quasi-)vorsatzlos handelndes Werkzeug

    C. (Quasi-)gerechtfertigtes Werkzeug

    IV. Zuständigkeit für das Verhalten.

    BEMERKUNGEN ZUR MITTÄTERSCHAFT (§ 25 II STGB)

    A Konzepte der Verhaltenszurechnung bei der Mittäterschaft

    I. Funktionelle Tatherrschaft

    II. Mittäterschaft als Problem des Besonderen Teils

    III. Die Unrechtsvereinbarung

    IV. Organisatorisch-normative Gemeinsamkeit

    B. Gemeinsame Tatbegehung.

    C. Gemeinsamer Tatentschluss.

    1. Finale und funktionelle Tatherrschaft

    2. Einpassungsentschluss ausreichend?

    IST DIE NÖTIGUNG EIN DELIKT GEGEN DIE FREIHEIT?

    A. Die Aufgabe der Freiheit

    B. Gewalt als Verfälschung der Zurechnung

    C. Drohung als Komplementärbegrif zur Gewalt

    D. Das abgenötigte Verhalten

    E. Verwerflichkeit

    F. Nötigungsabsicht erforderlich?.

    Selbstorganisation

    Die neuere funktionale Strafrechtsdogmatik stellt nicht die verhaltenssteuernde, sondern die erwartenssichernde Funktion des Rechts in den Mittelpunkt. „Ein funktionales Strafrechtssystem lässt sich ... nicht mit der verhaltenssteuernden, sondern nur mit der erwatungssichernden Funktion des Rechts koordinieren, denn für eine „Verhaltenssteuerung komme es „immer schon zu spät"¹. Daran ist richtig, dass Individuen strukturdeterminiert² sind, also Systeme, deren Struktur ihr Verhalten bestimmt und nicht ihre Umwelt. Umweltreize können sie zwar zum Operieren nach ihren Prinzipien anregen, aber nicht determinieren. Recht ist deshalb konnotativ und nicht denotativ, also ein System von Sätzen zur Koordinierung des Verhaltens interagierender Individuen, aber nicht zur Steuerung ihres Verhaltens. Da es sich bei den interagierenden Individuen nicht um triviale Systeme handelt, die ihre Umwelt stereotyp nach einem vorgegebenen Schema ordnen, sondern um Systeme, bei denen ihr früheres Verhalten ihr späteres Verhalten mit bestimmt, sind sie geschichtsabhängig und deshalb unvorhersagbar, weil eine einmal beobachtete Reaktion auf einen bestimmten Reiz zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr auftreten muss. Strukturdeterminierte Systeme können lernen. Damit wird aber die Etablierung verhaltenskoordinierender Regeln zum Problem, weil stabile Interaktionen die Anschlussfähigkeit des Verhaltens der Beteiligten voraussetzen, an der es bei strukturdeterminierten Systemen aber gerade fehlt, weil interne Zustandsänderungen in Abhängigkeit von einem vorangegangenen Verhalten zu nicht vorhersagbaren Verhaltensänderungen führen können, aus der Beobachtung der Input- Output-Beziehung also nicht auf die Funktionsweise des Systems geschlossen werden kann. Der Verweis darauf, dass „gesellschaftliche Systeme ... objektive, generalisierte und kontrafaktisch stabilisierte Erwartungen (institutionalisieren), an denen man sich orientieren, nach denen man sich richten kann³, bezeichnet deshalb zwar das Problem, bietet aber keine Lösung, weil die Etablierung „gesellschaftlicher Systeme ihrerseits koordiniertes Verhalten voraussetzt, also ohne Regelorientierung nicht möglich ist; denn in einem regellosen Zustand muss jedermann „jederzeit mit jedem beliebigen Verhalten anderer⁴ rechnen. Regelorientierung wird im funktionalen Strafrechtssystem als „Grundbedingung sozialer Koexistenz (und darin eingeschlossen: menschlicher Personalität)⁵ zwar vorausgesetzt, aber die Genese der Regeln nicht erklärt. Eine Erklärung für die Etablierung verhaltenskoordinierender Regeln ergibt sich aus einer Besonderheit der Kommunikation strukturdeterminierter Systeme, ihrer Rekursivität. Strukturdeterminierte Systeme sind operativ geschlossen, autonom und selbstreferentiell, interagieren also rekursiv mit ihren eigenen internen Zuständen, aber nicht mit ihrer Umwelt, weil es wegen ihrer operativen Geschlossenheit keine semantischen Beziehungen zwischen System und Umwelt gibt, sondern nur energetische. Interagieren strukturdeterminierte Systeme aber rekursiv mit ihren eigenen inneren Zuständen, ist also der Output einer Interaktion der Input einer folgenden Interaktion und der Output dieser Interaktion wiederum der Input einer weiteren Interaktion und so weiter ohne Ende, entstehen als Resultat dieser rekursiven Operationen stabile Zustände, weil die Zustandsänderungen des rekursiv mit seinen internen Zuständen interagierenden Systems in Richtung auf bestimmte (Eigen-) Werte konvergieren⁶, die für andere Systeme anschlussfähig sind. Ebenso wie Individuen, erschafen auch soziale Systeme ihre Welt, indem sie sich selbst organisieren, weil die rekursive Interaktion eines strukturdeterminierter Systems mit seinen Input- und Outputzuständen der Interaktion mehrerer strukturdeterminierter Systeme entspricht. Ist der Output des einen Systems der Input für die Operationen des zweiten Systems und der Output dieses Systems wiederum der Input für die Operationen des ersten Systems und so weiter ohne Ende, entstehen operational geschlossene (Interaktions-)Systeme, die (trotz unbegrenzter Plastizität des Handelns) als (Eigen-)Werte stabile und vorhersagbare Zustände hervorbringen⁷, die dann zu generalisierten Verhaltenserwartungen werden, wenn es den interagierenden Systemen gelingt, Strategien für den Umgang mit Enttäuschungen zu entwickeln. Da Gesellschaft Kommunikation ist und jede Kommunikation rekursiv, ist Bedeutung keine ihr vorgegebene Eigenschaft der Natur, sondern entsteht erst im System als Ergebnis seiner (rekursiven) Operationen. Bedeutung ist in sozialen Systemen kein bloßes Derivat psychischer Fakten, kann also nicht mit dem Sinn gleichgesetzt werden, den die interagierenden Individuen ihrem Verhalten geben⁸, sondern eine gesellschaftliche Konstruktion. Psychische Fakten haben für sich genommen keine Bedeutung – sie sind, was sie sind⁹.


    1 Lesch Der Verbrechensbegriff (1999), S. 187; vgl. auch ders. Schiller FS (2014), 448 ff., 465 ff.

    2 Maturana Biologie der Realität (2000), S. 11 ff., 102 ff.; Maturana/Varela Autopoiesis and Cognition (1980), S. 46, 78 ff.

    3 Lesch Der Verbrechensbegriff (1999), 187.

    4 Lesch Der Verbrechensbegriff (1999), 187.

    5 Lesch Der Verbrechensbegriff (1999), 187.

    6 Vgl. dazu v. Förster Understanding Understanding (2003), S. 305 ff.

    7 Jakobs Norm, Person, Gesellschaft, 3. Aufl. (2008), S. 31, setzt nicht auf Selbstorganisation, sondern auf Gewalt: „(D)er Gewalthaber (muss) versuchen, die Individuen mit ihren je eigenen Schemata so zu ordnen, was heißt, mit, nebenund gegeneinander aufzustellen, dass eine Förderung der Gruppe herausspringt."

    8 Anders Armin Kaufmann Welzel FS (1974), 393 ff., 403, der meint, dass „in konsequenter Durchführung des personalen Unrechtskonzepts … allein der Sinn, den der Täter im Tatvorsatz seiner Tat gibt, das Wertungssubstrat des Normwidrigkeitsurteils" sei.

    9 Vgl. zum Verlust der Sinnhaftigkeit der Welt, „die (nach ihrer Entzauberung) ein schlichtes Dasein ist und deshalb durch menschliches Verhalten veränderbar wird", Cancio Melia Wolter FS (2013), 293 ff., 309; Jakobs Das Schuldprinzip (1993), S. 10 ff.

    Die Aberratio ictus

    A. Vorbemerkung

    In der Nikomachischen Ethik unterscheidet Aristoteles zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit und versteht unter vorsätzlichem Handeln freiwilliges Handeln: Freiwillig sei „eine Handlung, die zu verrichten bei ihrem Urheber steht, und die man mit Wissen verrichtet, ohne aber bezüglich der Person, der sie gilt, … in einem Irrtum befangen zu sein"¹⁰. „Als unfreiwillig (und deshalb fahrlässig) gilt, was … aus Unwissenheit geschieht¹¹. Nur das, „was freiwillig geschieht, sei für „Lob und Tadel ofen, „während das Unfreiwillige Nachsicht und manchmal Mitgefühl findet¹². Verdient der Fahrlässige aber „Nachsicht und „Mitgefühl, „dokumentiert sein Verhalten keine „Entscheidung gegen den Rechtswert¹³, verweist also nicht auf einen Mangel an Rechtsreue, sondern ist Folge seiner Unaufmerksamkeit oder seines Ungeschicks bei der Gestaltung der Welt. Fahrlässigkeit kann milder bestraft werden¹⁴ als Vorsatz, weil sich die Normen zweckrationalen Umgangs mit der Welt auch ohne strafrechtlichen Nachdruck selbst stabilisieren. Denn unsorgfältiges Verhalten wirkt in eine vorab nicht bestimmbare Richtung, eventuell also auch gegen den Täter selbst, der sich der Gefahr einer poena naturalis aussetzt¹⁵. Ein Kraftfahrer, der z. B. sieht, dass es schneit, aber nicht bedenkt, dass die Straßen deshalb glatt sein werden, und mit einem anderen Kraftfahrer kollidiert, weil er seine Geschwindigkeit nicht den Straßenverhältnissen angepasst hat, verletzt nicht nur den anderen Kraftfahrer, sondern wird regelmäßig auch selbst nicht ungeschoren davonkommen Die Unsorgfalt des Kraftfahrers ofenbart einen Mangel an Kompetenz zur Selbstverwaltung, wirkt also nicht vorbildhaft, weil sich jedermann schon im Eigeninteresse darum bemühen wird, unsorgfältiges Verhalten zu vermeiden.

    B. Vorsatz und Wissen

    Neben dem Vorsatz und der Fahrlässigkeit kennt Aristoteles noch eine dritte Schuldform, die er zwischen die „Freiwilligkeit und die „Unfreiwilligkeit stellt und „Nichtfreiwilligkeit"¹⁶ nennt, weil bei ihr der Grund der Unkenntnis das Desinteresse des Täters an den Folgen seines Verhaltens ist. Diese dritte Schuldform unterscheidet sich von der „Freiwilligkeit dadurch, dass der Täter die tatbestandlichen Folgen seines Verhaltens nicht bedenkt, und von der „Unfreiwilligkeit dadurch, dass „sich danach (weder) Mißbehagen (noch) Bedauern einstellt¹⁷, weil „Kenntnis für den Täter keine entscheidungserheblichen Daten brächte¹⁸ und er seinen Kenntnismangel deshalb nicht negativ bewertet¹⁹. Unkenntnis, die nicht zur „Unfreiwilligkeit" führt, steht dem Vorsatz gleich, weil das Recht sich selbst zur Disposition stellen würde, wenn es diejenigen, die sich vom Recht abgewandt haben, die Gleichgültigen und die Tatsachenblinden, dann entlasten würde, wenn ihre Rechtsuntreue in einem Kenntnismangel Ausdruck gefunden hat. Diese Selbstrelativierung der Ordnung wäre aber mit ihrer Normativität nicht vereinbar.

    Um die Selbstrelativierung der Ordnung zu vermeiden, wird heute überwiegend angenommen, dass der Begrif des Vorsatzes sich nach der „Funktion (richte, die ihm) bei der subjektiven Zurechnung zukommt"²⁰, und die Feststellung des Vorsatzes deshalb einen „normativen Bewertungsmaßstab²¹ voraussetze. Bei der Normativierung des Vorsatzes soll aber keine Surrogation aktuell-psychischen Erlebens durch Gleichgültigkeit oder Tatsachenblindheit stattfinden, weil der Täter sich nur dann für die Rechtsgutsverletzung entscheide²², wenn er die Folgen seines Verhaltens kenne. Denn der Vorsatz könne seine „Funktion, eine „hervorgehobene Art der Verantwortlichkeit²³ zu kennzeichnen, nur dann erfüllen könne, wenn der Täter einen Sachverhalt kenne, „der (in ihm) den Impuls auslösen kann, sein Verhalten zu unterlassen²⁴. Der Begrif der „Entscheidung fügt demjenigen der Kenntnis aber dann nichts hinzu, wenn das Handeln in „Kenntnis der Folgen die Entscheidung ist²⁵, derjenige, der „alle schädigenden Umstände kennt und gleichwohl handelt (also) mit der Behauptung, dies entspreche nicht seiner Entscheidung, nicht gehört" wird²⁶. Als Grund der Vorsatzzurechnung bleibt damit nur die Folgenkenntnis, so dass gegenüber dem von Feuerbach²⁷ überkommenen psychologisierenden Verständnis des Vorsatzes wenig gewonnen ist.

    An einer psychologisierenden, auf aktuelle Folgenkenntnis abstellenden Deutung des Vorsatzes ist zwar richtig, dass derjenige, der seine Pflichten nicht nur zufällig erfüllen will, wissen muss, was der Fall ist. Wer z. B. in einer Scheune ein ofenes Feuer entzünden, das Niederbrennen der Scheune aber vermeiden will, muss nicht nur wissen, dass er sich in einer Scheune befindet und wie er ein Feuer legen kann, sondern auch, dass die Scheune aus brennbarem Material errichtet wurde, dass der Funkenflug eines ofenen Feuers das Baumaterial der Scheune in Brand setzen kann und was „Brandstiften" in der gegenwärtigen Gesellschaft bedeute, also z. B. das Inbrandsetzen von Teilen des Dachstuhls, aber nicht die flehentliche Bitte an irgendwelche Heilige, die Scheune niederzubrennen²⁸. Dieses Wissen reicht allein aber nicht aus, um ein Niederbrennen der Scheune zu vermeiden, sondern hinzukommen müssen elementare Kenntnisse der Mathematik, der Logik und der Naturgesetze, weil nur derjenige in der Lage ist, ein Feuer zu entfachen und den Funkenflug des Feuers zu kontrollieren, der dieses Wissen besitzt. Um das Niederbrennen der Scheune zu vermeiden, muss zum Wissen um den zweckrationalen Umgang mit der Welt aber noch hinzukommen, dass er auch dominant dazu motiviert ist, seine Pflichten zu erfüllen; er muss die Gutsverletzung also auch vermeiden wollen²⁹. Wissen und Wollen sind deshalb zwar in dem Sinn äquivalent, dass sie notwendige Bedingungen der Normbefolgung sind. Das Recht behandelt kognitive Leistungsdefizite (Wissensfehler) aber trotzdem anders als voluntative. Während Wissensfehler regelmäßig entlasten (§ 16), ist mangelnde Rechtstreue kein Milderungsgrund, sondern belastet in dem Maß, in dem sich der Täter vom Recht entfernt hat. Weiß er zwar, was der Fall ist, vermeidet die Gutsverletzung aber trotzdem nicht, so ist seine Schuld nicht deshalb größer als die eines Fahrlässigkeitstäters in gleicher Lage, weil es ihm leichter gefallen wäre, die Tat zu vermeiden, als dem Fahrlässigen³⁰, sondern sie ist der Ausdruck „höchster Schuld³¹, weil maßgeblicher Grund der Tatbestandsverwirklichung ein Wertungsfehler und kein Wissensfehler ist. Wertungsfehler belasten, weil das Recht in einer „nicht beweisbaren und in diesem Sinn unvollkommenen Ordnung³² nicht beweisen kann, dass seine Befolgung stets vorzugswürdig ist und es deshalb jedem einzelnen als von ihm zu verantwortende Aufgabe zuschreiben muss, für ausreichende Normbefolgungsbereitschaft zu sorgen. Das Recht konstituiert die Person also nach seinen Funktionsbedingungen als ein System, das zwar für ihr rechtliches Wollen, aber nicht für ihr Wissen³³ zuständig ist. Der Grund der Zurechnung der Verhaltensfolgen zum Vorsatz ist deshalb nicht, dass der Täter in Kenntnis der Folgen gehandelt hat, sondern ein durch Folgenkenntnis indizierter Wertungsfehler³⁴. Der Täter hat die Rechtstreue nicht aufgebracht, die von ihm als Person im Recht rollenübergreifend erwartet wird, damit eine Gesellschaft, die ihre Bürger als frei darstellt, zugleich aber hochgradig anonyme Sozialkontakte ermöglichen muss, verwaltbar bleibt³⁵. Zur Folgenkenntnis als Indiz mangelnder Rechtstreue gibt es aber Surrogate, weil auch Gleichgültigkeit und Tatsachenblindheit eine Interpretation des Verhältnisses zu anderen Personen ist, nämlich ihre Abwertung³⁶, und der Täter deshalb auch ohne Kenntnis³⁷ der Folgen seines Verhaltens „dokumentieren kann, dass „ihn fremde Interessen nicht interessieren³⁸. Auch für Gleichgültige und Tatsachenblinde sind die Handlungsfolgen zum Tatzeitpunkt akzeptabel, also nicht bedenkenswert³⁹, weil sie gelernt⁴⁰ haben, sich so zu verhalten dass sie nicht in die Gefahr einer poena naturalis geraten. Denn hat der Täter die Risikostandards einer Gesellschaft der gegenwärtigen Gestalt nur selektiv zur Kenntnis genommen, also nur insoweit, als ihre Einhaltung ihm nutzt, können die Folgen seines Verhaltens nur in dem Bereich eintreten, dessen Entwicklung ihn nicht interessiert⁴¹. Das nicht Bedachte ist dann nicht entscheidungserheblich, weil der Täter auch gehandelt hätte, wenn er die Folgen gekannt hätte.

    Besteht die „Funktion"⁴² des Vorsatzes im System der subjektiven Zurechnung also darin, denjenigen ihre Tat verschärft zuzurechen, die die Rechtstreue nicht aufgebracht haben, die von ihnen in allen ihren Rollen erwartet wird, um gesellschaftstauglich zu sein, kann der Vorsatz keine dem Recht vorgegebenen individualpsychologischen Fakten bezeichnen, sondern muss als eigenständiger normativer Zusammenhang verstanden werden. Gegenstand der Normativierung kann dabei einmal die intellektuelle Seite des Vorsatzes sein, aber auch die voluntative, oder sowohl die intellektuelle als auch die voluntative Seite⁴³. Puppe⁴⁴ versteht die intellektuelle Seite des Vorsatzes normativ. Nach der von ihr entwickelten Lehre von der „Vorsatzgefahr soll vorsätzlich handeln, wer die „qualifizierte Gefahr⁴⁵ des Erfolgseintritts schaft. Eine „Vorsatzgefahr sei eine „taugliche Methode zur Herbeiführung des Erfolges⁴⁶, also eine Gefahr, „die ein vernünftiger Täter nur dann setzen würde, wenn er sich mit dem Eintritt des Erfolges abfindet, ihn sich zu eigen macht⁴⁷. Das Setzen einer „Vorsatzgefahr sei daher „Ausdruck … tiefster Gleichgültigkeit gegenüber dem fremden Rechtsgut, (das) den schwersten … Schuldvorwurf verdient⁴⁸. Die „tiefste Gleichgültigkeit des Täters ist aber kein Surrogat für sein Wissen, sondern zur Gleichgültigkeit muss hinzukommen, dass der „Täter … sich bewusst (sei), dass überhaupt eine Gefahr der Tatbestandsverwirklichung besteht"⁴⁹. Damit entscheidet aber nicht mehr das Recht darüber, ob dem Täter die Tatbestandsverwirklichung zum Vorsatz zugerechnet wird, sondern der Täter⁵⁰, der sich dem Recht aus Gleichgültigkeit verweigert⁵¹, ein axiologisch zumindest befremdliches Ergebnis.

    Axiologische Unstimmigkeiten dieser Art lassen sich nur vermeiden, wenn in Abhängigkeit von der gesellschaftlichen Funktion strafrechtlicher Zurechnung darüber entschieden wird, ob das Recht sich ohne Schaden für die Normgeltung auf die psychische Befindlichkeit des Täters einlassen kann, oder ob dem Täter die Folgen seines Verhaltens trotz seines Wissensmangels zum Vorsatz zugerechnet werden müssen, weil anderenfalls für den Erhalt der normativen Struktur der Gesellschaft erforderliche Zurechnung verloren ginge. Der insbesondere von Roxin⁵² und Schünemann⁵³ vertretene „volitive Normativismus meint deshalb, dass das „erkannte Ausmaß der Gefahr⁵⁴ nicht die einzige „Beurteilungsgrundlage⁵⁵ sei, sondern „Beurteilungsgrundlage sei der „gesamte Geschehensablauf⁵⁶. Die zur Bezeichnung der voluntativen Komponente des Vorsatzes verwendeten Formeln (Ernstnehmen, Billigen, Sichabfinden) seien „keine exakt beschreibbaren Bewusstseinsphänomene, sondern … verkappte Bewertungen eines Gesamtsachverhalts⁵⁷ und der Vorsatz daher ein „Typusbegrif, der „sowohl subjektive als auch objektive Merkmale vereint⁵⁸. Demgemäß sei zu fragen, „ob bei Würdigung aller Umstände des Einzelfalls das Täterverhalten so gedeutet werden kann, dass der Handelnde sich … gegen das geschützte Rechtsgut entschieden hat⁵⁹. Das Vorhandensein einer „Entscheidung für (eine Gutsverletzung) wird also aus der Gesamtsituation mit all ihren äußeren und inneren Umständen und nicht aus Reflexionen des Täters erschlossen, die er wahrscheinlich gar nicht angestellt hat⁶⁰: Das Erfordernis präsenter Folgenkenntnis⁶¹, das auch der „volitive Normativismus nicht preisgibt, konterkariert bei Gleichgültigkeit und Tatsachenblindheit aber die generalpräventiv⁶² erforderliche Bemessung der Strafe, so dass die Legitimation der Strafe selbst in Gefahr gerät, „weil konterkarierte Zwecke keine mehr sind⁶³. Eine Begrifsbestimmung des Vorsatzes, die sich an psychischen Fakten und nicht am Strafzweck orientiert, ist „sinnlos⁶⁴, weil sie keinen „normativen Maßstab und Bezugspunkt hat⁶⁵, also allenfalls zufällig zweckvoll wirken kann. Geht es bei der Zurechnung zum Vorsatz „um eine Interpretation des Tatverhaltens als Hinnahme des Erfolgs⁶⁶ nach einem „normativen Maßstab, der im Falle evidentermaßen höchster Schuld zur Bejahung vorsätzlichen Handelns führt⁶⁷, ist für die Feststellung des Vorsatzes das Maß der Schuld entscheidend und nicht das zufällige Vorhandensein eines psychischen Faktums, der Folgenkenntnis, weil es „höchste Schuld"⁶⁸ auch ohne diese Kenntnis geben kann. Folgenkenntnis gehört also nicht zum Begrif des Vorsatzes, sondern ist nur ein Indiz dafür, dass rechtlich maßgeblicher Grund des Konflikts ein Wertungsfehler ist.

    Der „volitive Normativismus verkennt, dass die subjektive Zurechnung keine individualisierende, sondern eine „personale Zurechnung⁶⁹ ist und eine Tat deshalb dann vorsätzlich begangen wurde, wenn der Täter für seinen Kenntnismangel zuständig ist, weil die Tatbestandsverwirklichung nicht Ausdruck seiner Inkompetenz zur Selbstverwaltung ist, wie bei der ungerichteten Fahrlässigkeit, sondern auf einem Wertungsfehler beruht, eben auf Gleichgültigkeit oder Tatsachenblindheit. Da Folgenkenntnis nur ein Indiz für objektiv fehlende Rechtstreue ist und es zur Folgenkenntnis Surrogate gibt, ist der Vorsatz zwar eine hervorgehobene Schuldform, aber kein besonderer Bewusstseinszustand⁷⁰. Die Zurechnung zum Vorsatz setzt deshalb nicht voraus, dass der Täter die Folgen seines Verhaltens gekannt hat, sondern es muss nachgewiesen werden, dass die Quelle seines Kenntnismangels ein Wertungsfehler ist⁷¹. Hat der Täter aber falsch gewertet, wird die Rollentrennung durchbrochen und dem Täter seine Tat in dem Sinn verschärft zugerechnet werden, dass er durch die Erklärung des Konflikts als Ausdruck mangelnder Rechtstreue „nicht nur in einem gesellschaftlichen Sektor (desavouiert wird), sondern rundum⁷², weil er vor den Anforderungen versagt hat, die er rollenübergreifend erfüllen muss, um gesellschaftstauglich zu sein. Die „subjektive Tatseite ist also „nichts (anderes) als am Individuum erscheinende objektiv mangelnde Rechtstreue"⁷³.

    C. Vorsatzabweichungen

    1. Error in persona vel obiecto

    Die gesellschaftliche Notwendigkeit, die für die Bewahrung der normativen Struktur der Gesellschaft notwendige Zurechnung zu erhalten, setzt sich auch beim error in persona vel obiecto gegen ein psychologisierendes Verständnis des Vorsatzes durch. Denn individualisiert der Täter das Tatobjekt nicht nach seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gattung, z. B. als „Mensch, sondern konkret in seiner raumzeitlichen Befindlichkeit als ganz bestimmter Mensch, irrt er sich aber über die Identität des so individualisierten Tatobjekts, ist das „Geschehene nicht das „Gewollte"⁷⁴ und der error in persona vel obiecto deshalb eine Schuldform zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit⁷⁵. Ebenso wie bei der Fahrlässigkeit sind die Folgen der Tat nicht entscheidungsirrelevant, weil der Identitätsirrtum des Täters seine Nutzenkalkulation durchkreuzt⁷⁶ und ihn dann sogar eine poena naturalis trift, wenn er z. B. versehentlich seine Ehefrau erschießt, weil er sie in der Dämmerung mit seinem Feind verwechselt hat. Beim error in persona

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