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Liebe Lotte: Ein historischer Roman
Liebe Lotte: Ein historischer Roman
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Liebe Lotte: Ein historischer Roman

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Der Briefroman »Die Leiden des jungen Werthers« von Johann Wolfgang von Goethe gehört zu den Klassikern der deutschsprachigen Literatur. Er beschreibt das Leben und die unglückliche Liebe eines jungen, stürmischen Mannes, der am Ende keinen anderen Ausweg kennt als den Freitod. Doch was fühlte, was dachte die Frau, die der Grund für so viel Leid gewesen ist? Wieso wies sie Werthers Liebe von sich?

Kim Vivian gibt im vorliegenden Roman Antworten auf diese Fragen. Fiktive Briefe der Geliebten Werthers, Lotte, an ihre beste Freundin und Vertraute beleuchten die andere Seite dieser tragischen Liebesgeschichte, die von Anfang an zum Scheitern verdammt war.

Ganz in dem blumigen Stil und in der Orthografie des 18. Jahrhunderts haucht der Autor Lotte Leben ein und verleiht ihr eine Persönlichkeit, die hin- und hergerissen ist zwischen Vernunft und Leidenschaft
LanguageDeutsch
Release dateMar 6, 2015
ISBN9783945408247
Liebe Lotte: Ein historischer Roman

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    Book preview

    Liebe Lotte - Kim Vivian

    2015

    Inhaltsverzeichnis

    Impressum

    Liebe Lotte

    Testament

    Bibliographie

    Impressum

    Bibliografische Information der Deutschen National­biblio­thek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

    Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechts ohne Zustimmung des Verlages ist unzulässig.

    © by Verlag Neue Literatur

    www.verlag-neue-literatur.com

    Titelbild: Idealporträt Lottes (Kupferstich von D. Berger nach D. N. Chodowiecki, Himburg 1775), Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katha­­rina-Kippen­berg-Stiftung

    Gesamtherstellung: Satzart Plauen

    ISBN 978-3-945408-24-7

    Dem Andenken des großen Goethe-Gelehrten

    Stuart Pratt Atkins (1914-2000),

    meinem Mentor und Doktorvater,

    aus Dankbarkeit für die Einführung

    in Goethes Leben und Werk

    herzlichst gewidmet.

    Für Christine – wie immer – die schon lange mit ihrem eigenen, modernen Werther fertig wird.

    Für Rosemarie Spannbauer-Pollmann, Kristine Guinther, Karen Wingo, Kristin Wolski, Helen Reinhold,

    Kevin Collins, Paul Jamieson, Anke Sägenschnitter,

    Barbara Greim, Tim Vivian, die alle daran glaubten.

    Liebe Lotte

    am 20. Jenner 1771

    Liebe Lotte,

    Wie traurig binn ich weg zu seyn, getrennt von dir, der ich so gut binn, der Freundinn meiner Jugend. Nur ein paar Wochen sind verstrichen aber es scheint eine Ewigkeit zu seyn. Mein Lottgen, die Freundinn meiner Kindheit, von der ich mich zeitlebens unzertrennlich zu seyn däuchte. Wie offt hab ich geweint, wie offt! Es thut mir leid, dass ich nicht früher schrieb aber erstens war die lange Reise nach Hanover eine Strapatze mit üblen Weegen bey einem matschigen Gemisch aus Schnee und Regen zu Anfang, mit vielen tiefen Wagenspuren, in welche die Kutsche manchmal biß an die Achse hinuntersank, und vielen langen Unterbrechungen. Wenn es denn nur regnete, war der fette Boden besonders übel zu bereisen. Um nicht Räder und Axen zu zerbrechen, musste der Kutscher offt sehr langsam fahren und bey der leidigen Kälte war das auch ein Jammer. Dieß war bestimmt nicht die romantische winterliche Landschafft, die Klopstok in seinem Eislauf besungen! War das ein Omen? Du weist aber, wie abergläubig ich binn! Zweytens war ich nach der Ankunft cörperlich auch lange ziemlich unpaß und darzu seelisch betrübt, und ein paar Tage her binn ich wieder besonders übel dran. Es ist ja auch irgendwie traurig, wenn mann seine ganze Effekten in ein paar Koffern und Truhen hat, drittens ist es warrlich gesagt hier am Hofe mit dem steifen Leben nicht nach meinem Geschmakke, wenn ich redlich sprechen darf. Du kennst aber all zu gut meinen voreiligen, stürmischen Kopf aber das alles habe ich sofort zu spüren bekommen. Schon am ersten Tage hat mann Friedrigen die dikke Hofordnung in die Hand gegeben und damit ist unser Leben, unser ganz Kommen und Gehen regulirt. Die Hofgesellschafft hier besteht aus 10 Klassen und zur niedrigsten, zur 10ten, gehören die Hofgerichtsassessoren wie Friedrich. Daher stehen wir also, wenn mann das mit einer Hühnerleiter vergleichen will, auf der untersten Sprosse, unweit von der Scheiße. – Sey bitte nicht schokirt! – Diesen Vergleich habe ich allerdings von der gnädigen Frau eines Assessors, welcher mit Friedrigen arbeitet. Am drauffolgenden Tage hatten wir uns vor Sr. Durchlaucht in Höchstderselbem Zimmer zu präsentiren um ihm unsre Aufwartung zu machen. Ich habe dabey gelernt, daß das Hofparket fast so schlüpfrig ist wie viel Adeliche selber, denn ich binn fast ausgerutscht und habe mir den Fus ein wenig verstaucht. Erst denn hörte ich, daß mann Neuangekommenen Unterricht ertheile, wie mann auf dem Parket zu gehen habe. Das passte ja, eine Lection in einer Schule für Narren! Sofort raunte mir eine Hofdame zu, dass fremde Personen, wenn sie weiterkommen wollten, sich von Anfang an wie Leute von sehr guter Extraction präsentiren müßten, denn sonst kämen sie kein Schrittgen weiter. Alles gienge um die Connexions beym Hofe. Ja, es ist klar, alle sind auf Ergözzlichkeiten erpicht, alles geht um Finesse.

    Mann sucht schon auch Friedrigen in Stadt Verhältnisse einzuspinnen. Seine Majestät haben geruht uns eine kurze Zeit in Seiner Anwesenheit verweilen zu lassen! Dergleichen Spektakels kann ich mich nicht erinnern! Mann nennt es sogar antichambriren, diese Kunst sich am Hofe beliebt zu machen. Lauter Höflingen binn ich soweit begegnet, bey denen nur die Klügelei herrscht. Das Cärimoniele ist wahrhafftig am wichtigsten hier, nicht das Können und die Wissenschafft, und ein sehr steifer Ton ist in allem Umgang und Diskurs zu spüren. Ein Standesdünkel, eine Rangsucht herrscht unter den Edelleuten und den reichen Particulliers und ein jeder versucht dem andern so schnell als möglich zuvor zu kommen und so viel Airs anzunehmen wie möglich. Die Hofdamen und -fräuleins mit einem Train von Lackaien, mit ihren tausend Zierrathen, dikk geschmiertem Rouge, aufgethürmten Englischen statt Französchen Frisuren und fremden Costumen mit glänzenden Gold- und Silbertressen, et cetera. Ich weis schon viel Damen – nein, das laß ich lieber ungesagt seyn, doch so prüde binn ich im Grunde nicht! Viel Damen – doch nein, ungesagt ist ja besser! Und die Männer, lauter Flatterhaffte sind sie, die alle wie Pfauen herumstoltziren – diesen Ausdruk hab ich ja von dir! – herum promeniren als sollten alle sich an ihnen ergözzen. Und diese Ruhmsucht! Mann ist immer dabey den Hof zu spielen. Mann kann mit Recht sagen, daß die Adeliche hier sich von allen andern abschließen, daß sie in ihrer eigenen Welt leben, zu der nur sie Zugang haben und daß alle anderen ihnen unterthan sind. Es scheint, mann verbringt die mehreste Zeit damit um etwas zu erfinden um die Langeweile zu vertreiben und ennüirt ist mann hier anscheinend offt. Mann jagt hier am Hofe dem neusten Modegeiste nach und wenn mann die neuste Mode nicht trägt, wird mann von den Moderichtern ausgezischt. Das Hauptspiel und der Hauptzeitvertreib bestehen darinn, die jüngsten Intrigen aufzuspüren und schmunzelnd einander zuzuraunen, wer mit wem das ausereheliche Bette theilt. Sey nicht schokirt, liebe Lotte, denn das ist doch der Lauf der höflichen Welt hier und vielleicht überall. Du weist ja, wir haben offt drüber gesprochen, wie hohl und schal das Leben am Reichskammergericht zu Wetzlar ist, welches wir beide nicht mögen aber hier ist es viel schlimmer, sogar scheuslich. Entschuldige bitte die ausführliche, weitläuffige – ? – Beschreibung des Hofes. Ich hoffe, ich machte dir dabey keine lange Weile.

    Mir scheint’s, die Freyheit meiner Jugend ist hin. Mann hat das Gefühl, dass niemand hier ehrlich ist. Und ich, ich Dumme wollte weg, wollte die Welt sehen! Vielleicht wird’s aber besser gehen. Erwarte aber nicht, meine Liebe, dass ich in’s Detail gehe, denn du kennst mich ja, ich binn kein Cronickenschreiber. Erwarte auch nicht, daß ich in allem so püncktlich binn, denn so ist meine Sinnesbeschaffenheit nicht. Darzu will ich dir nicht lange Weile machen. Jedes Mal wie ich mit Papa in Carlsbad zur Wassercur war hast du mich geschohlten ich sey keine gute Brieffreundinn. Hab bitte etwas Gedult mit mir, denn ich gebe mir alle Mühe mein Lottgen aber selbst wenn ich nicht so offt schreibe sey desohngeachtet sicher daß du immer in meinen Gedancken und meinem Herzen bist, und auch die deinige, denn ihr seyd ja meine Famielie. Schreib mir so offt als du kannst meine Liebste, denn ich höre so gern von dir. Grüs mir die Mama, wünsch ihr eine weitere Genesung, und grüs mir auch den Papa und die Kindergen alle. Friedrich lässet euch herzlich grüssen. Erhalte mich in dem Andencken unsrer gemeinsamen Jugend und unsrer Freundschafft und dencke mein wie ich dein dencke.

    Deine

    Claire

    am 28. Jenner 1771

    Meine vielgeliebte Claire,

    Ein Briefwechsel! Briefe schreiben! Briefe wechseln! Briefe tauschen wie Milady Juliette und Milady Henriette! Weist du denn nicht, wie ich im Leben so selten einen Brief geschrieben? Meistens nur wie Schreibübung bey unserm alten Schreibmeister. Nur ein paar Mal an dich hab ich geschrieben, wenn du zur Cur warest aber damals warest du jedes Mal nicht lange weg und ich wuste ja, dass du ehster Tage zurük kömmst und dass unser Leben sich so fort sezt wie immer. Entsinnst du dich noch wie traurig und enttäuscht ich war, dass du reisen durftest und dass ich nicht mit durfte, nur weil mein Vater meynte, das Reisen schikke sich nicht für junge unverheurathete Frauenzimmer. Erinnerst du dich noch, wie wir unsren Phantasien die Zügel schießen ließen und den mutigen Télémaque auf seiner Weltreise begleiteten! Wie wir die exotischen Länder besuchen wollten! Biss heute noch kenn ich das Land nur im Umkreis von einigen Meilen. Wenn wir nur wie Yorik miteinander herumreisen könnten! Kannst du dir das vorstellen? So einen Traum hab ich offt.

    Aber ein echter Briefwechsel! Eine echte Correspondenz! Ich kann Briefe schreiben wie eine Mistriss Fanni oder Lady Sara oder Milady Juliette! Erinnerst du dich noch, wie wir zusammen all diese Romane vorgelesen und wie du meinen französchen Accent critisirt? Dießmal brauchen wir ja keinen Comte oder Mylord! Was für alberne Träume hatten wir Mädgens damals! Oder mögtest du denn diese Rolle übernehmen und ich dürfte die vornehme Dame seyn, denn meistens spieltest du damals die elegante Dame. Das waren ja feine Zeiten und wie sehr wünsche ich mir sie zurüke! Ich glaube aber tief im Herzen, dass uns dieser Briefwechsel irgendwie näher bringt, wenn das überhaupt möglich wäre, dass er uns aber doch fester aneinander knüpft und uns auf immer unzertrennlich macht, denn das sind wir, nicht, mein lieb Clärgen? Wir Frauenzimmer müssen doch immer im Leben eine Vertraute haben und meine Vertraute bist seit je du. Kannst du dir überhaupt vorstellen keine Vertraute zu haben? Das wäre, als ob mann jahrelang auf einer Insel gestrandet wäre. Iezt bist du meine Briefvertaute, der ich mein ganz Herz ausschütten kann. Vielleicht könnte ich mir sogar vorstellen, dass ich Schriftstellerinn binn. Denn könnte ich meine eigne Welt erschaffen und sie mit meinen eignen Geschöpfen bevölkern und darunter wäre natürlich eine vornehme Dame, vielleicht eine junge Wittwe, welche alle meine Eigenschafften besäße und sie würde ein Leben führen, so wie es mir vorschwebt, in einem uralten abgelegnen Schlößgen oder goldnen Palästgen mit vielen Galants um sich. Wie schön! Welchen würde sie sich aber aussuchen? Den älteren, behäbigen mit vielem Geld oder den jungen, armen Poeten, welcher Verse über sie schreibt?

    Indeß bist du dießmal würcklich weg, Meilen weg und nur der liebe Gott weis, wann, ob! – Gott behüte – du zurüke kömmst. Was für ein schröklicher Gedancke dieß »ob« ist! Wie wär’s, mein lieb Clärgen, wenn wir uns nimmer wieder sähen! Wenn eine von uns stürbe! O warum dieser schrekliche Gedancke? Von wannen kömmt er denn? Ja, du bist daran schuld, meine Liebe, denn seit deiner Abreise binn ich am liebsten alleine, in meiner Kammer, wo ich in aller Ruhe deiner und meiner dencken kann, auch unsrer Kindheit zusammen, wo wir als Mädgens zusammen aufgewachsen, untrennbar, fast Schwestern, ja, denn das sind wir, nicht, mein Clärgen? Du bist meine ältere Schwester, denn selbst das eine Jahr, welches du mir voraus hast, macht, dass du immer meine ältere Schwester bleibst. Um mich hab ich nur jüngere Geschwister. Eine ältere Schwester fehlet mir aber nie, denn du bist für mich immer da, und selbst in deiner Abwesenheit, in unsrem Getrenntsein wirst du für mich immer da seyn und du weist ja, dass ich für dich immer da binn.

    O mein Clärgen, wie hab ich vor dem Thore geweint, wie die Kutsche langsam über den Hügel rollte und ein Theilgen von mir selber mitnahm, und wie offt hab ich in den nächsten paar Tagen geweint, die bittersten Thränen, dass du mich verlassen hättest! Nimm mir’s aber nicht übel, meine liebe Claire, nimm auch diese Offenheit nicht übel, denn das sind wir miteinander – offen, nicht? ganz vom Herzen offen. Selbst als Mädgens haben wir uns immer alles gesagt, gar alles!

    Alle Abende seit deinem Weggange siz ich alleine in meiner Kammer, in meinem Cabinet, in meiner Clause an der Stirnseite des Hauses, biss tief in die Nacht und dencke über unsre Kindheit und unsre Jugend nach und wie plözzlich sie dahin ist. Binnen sechs Monathen warest du verliebt, verlobt, verheurathet, verschwunden! Wie sehr ich dieß »ver« hasse! denn jezo binn ich verlassen, ver­lohren, würcklich verlohren! Mitunter scheint mir’s wenn ich im Dunckeln sizze, dass ich nur einer finstern Zukunft entgegen blikke, aber wie kann das denn seyn, denn hab ich nicht alles im Leben? Dich aber hab ich nicht mehr und du machtest ja den grösten Theil meines vormaligen Lebens aus. Manchmal wünschte ich, ich könnte die Uhr zurükstellen, denn damals schien alles viel einfacher zu seyn. Sag mir, liebes Clärgen, dass wir einander noch haben, dass wir einander immer haben, dass wir uns irgendwann wieder sehn, o sag mir das, Claire, sonst geh ich zugrunde!

    Der Postillion kömmt bald und dieser Brief muss ins Couvert und versiegelt werden, damit du ihn bald bekömmst und damit ich baldigst wieder von dir höre. Ja, du hast völlig recht, in der Cur warest du keine gute Correspondentinn aber nun wirst du wohl eine gute seyn, nicht, mein Clärgen? Nur deine Briefe können ja die schwarzen Wolcken um mich her vertreiben.

    Du weist, du bist immer in meinen Gedancken und ich weis, ich binn immer in den deinigen.

    Adieu,

    Lotte

    am 5. Febr. 1771

    Liebe Lotte,

    Deinen holden Brief habe ich heute kriegt. Davor dancke ich dir herzlichst. Wie schön war’s von dir zu hören. Sey aber bitte nicht so traurig, denn das thut mir tief im Herzen so weh. Nimmer bist du ja allein, das weist du auch tief im Herzen. Beym Wegfahren giengen mir auch die Augen über. Der gute Friedrich suchte mich zu trösten aber weist du, in diesem Falle sind fast alle Mannsbilder hülflos. Auserdem war er zu sehr – was doch selbstverständlich ist – mit seinen eignen Gedancken beschäfftigt als meiner besonders zu achten.

    Wie schnell die Zeit vergeht, wenn mann an einem neuen Oertgen ist und was für eine Närrin binn ich zu dencken, daß alles in meinem Leben sich so ganz verändern würde und so auf einmal. Mein Leben! Ja, in meinem Leben – wie auch in deinem? – ist immer noch fast gar nichts ganzes aus mir worden. Ein neuer Ort aber die alte Hofgewohnheiten, ein neuer Ort und dieselbe Kleingeister, ein neuer Ort und die alte Rangsucht, das alte, herkömmliche Hochkletternmüssen, der Prinzen- und Fürstenstoltz. Und ich? Pracktisch ohne Freunde, besonders ohne Freundinnen – nur Thörinnen um mich und vor allem natürlich ohne dich, der ich so gut binn. Gott sey Danck ist Friedrich von jeher gewohnt alles langsam gehen zu lassen. Vorgestern war ich auf seinen Rath beym Leibmedikus Zimmermann und er gab mir wohlmeynend ein Rezept für ein übelriechend und noch übler schmekkend Pulver und schikte mich ruhig auf den Weeg und das sogar nachdem ich seiner eine ganze Stunde warten musste! Ja, liebe Lotte, ein neues Oertgen, der alte Hofmedikus. So aber ist die Welt, nicht? Es scheint, daß mann dies Frauenpulver – so nannte es schmunzelnd der Hof­apotheker – in ziemlicher Dose besizzet. Entspricht diese Arzney einer allgemeinen Frauenkranckheit, einer besonderen Kranckheit unter der vornehmsten Noblesse? Sind denn viel Frauen hier so kranck oder schwach oder so unzufrieden als ich? Ich wünschte, ich könnte sie ja kennen lernen. »Misery loves Company«, wie die Engländer hier am Hofe offt sagen.

    Meine Zeit verbringe ich meistens mit Lesen, denn bey weitem das Beste an diesem hochnäsigen Orte ist bestimmt der leichte Zugang zu allem Neuen auf dem Buchmarkte, denn gar alles neu Herauskommende erhalte ich sogleich, und du weist ja, wie versessen ich drauf binn. Buchläden und Lesebibliotheken sind anscheinend überall zu finden, obwohl die Bücher dort, besonders in den lezteren, oft nur Kolportage sind und am besten kriegt mann von Freunden und Bekanndten alles Gute und Interessante in die Hand was ohnlängst in Cirkulation ist. Ich habe gehört, wenn mann geschäfftlich in England und Frankreich zu thun hat oder dorthin reist, bringt mann Bücher kastenweise zurük und sie werden denn überal weitergereicht, herumgereicht, sobald mann damit fertig ist. Es scheint, Bücher gehören zum grosen Theil zum Allgemeinguth, was ja sehr lobenswert ist. Civilisirt ist es hier auf allen Fall!

    Einballirt findest du übrigens ein Büchelgen, das mich hoch amüsiert hat, »The Castle of Otranto«, von einem gewissen Walpole. Es ist zwar überhaupt nicht nagelneu aber davon wird noch geredt und damit kannst du dir bestimmt ein paar Stunden vertreiben und dabey übst du ja dein Englisch, denn wenn ich dich wiedersehe – und wiedersehen werden wir uns doch in naher Zukunft, nicht? – denn ich kann mir die Zukunft nur mit dir mahlen. Wer weis es? Vielleicht binn ich vorm Jahresende wieder in Wetzlar, wieder bey dir, und du liegst mir wieder im Schooße und wir verplaudern die schöne Stunden wie ehemals und vergessen dabey die alte böse, welche uns getrennt – denn lesen wir uns etwas auf Englisch vor und plaudern im gebrochnen Englischen oder vielleicht spreche ich biß denn Englisch ganz perfect und ich kann denn deine Sprachmeisterin seyn! Traurig darfst du auch nicht seyn, denn du hast deine ganze Famielie, deine Eltern, deine vielen Geschwister und deinen Alberten, der dir doch was bedeutet, nicht, selbst wenn du’s mir läugnest!

    Ach, wo sind meine Gedancken hin? Weit vom Weege binn ich abgekommen. Ich schrieb grad von dem Englischen Roman »The Castle of Otranto«. Wie du am Titel siehst, spielt sich das irgendwo in Italien ab und der kommischen Sprache nach sollen wir vermuthlich im 16. Jahrhundert seyn, denn alle Leute sprechen ja wie in einer Schäkespearschen Tragödie. Du weist ja, wie ich den Schäkespearn liebe und ich hoffe nächstens eine Tragödie – oder vielleicht in meinem jeztigen seelischen Zustande lieber eine Commödie – aufgeführt zu sehen, denn mann hat mir gesagt, daß im Sommer eine Englische Schauspielertruppe hier gastirt. Ach ja, bevor ich wieder vergesse, habe ich dir was Interessantes zu erzälen, daß mann mich nähmlich zu einem Lesecirkel eingeladen. Ich binn sehr neugierig, ob was draus wird.

    Zum Schluß sage ich wieder: Sey bitte nicht traurig, sey gutes Muths. Gedencke meiner wie ich deiner immer gedencke und dencke auch der guten Mädgenjahre, welche wir glüklich zusammen verbrachten, denn das ist ein Trost, nicht? und was noch wichtiger ist, gedencke der Frauenjahre – der Mutterjahre?! – welche immer noch vor uns liegen und die wir dereinst bestimmt wieder zusammen verbringen werden.

    Addio – denn das ist doch Italienisch, nicht? Ich habe angefangen Italienisch zu lernen, denn zusammen mit Französisch und Englisch muss mann am Hofe auch Ita­lienisch beherrschen können. Ach, könnte ich nur in einem uralten, italienischen Schlosse wohnen, wo es spukt! Wie abentheuerlich. Denn könntest du auf einem Pferde mich ja retten kommen!

    Deine

    Claire

    am 8. Febr. 1771

    Liebe Lotte,

    Entschuldige mich bitte, mein lieb Lottgen, daß ich nicht auf eine Antwort auf mein Briefgen warte, aber das ist denn das Schöne an einer Correspondenz, nicht? Daß mann schreiben kann wenn mann auch immer will, oder sogar muss?

    Seit Tagen geht’s mir seelisch nicht gut oder vielleicht doch auch cörperlich. Vielleicht habe ich das alte Gallenfieber, welches mich zuweilen plaget. Mir scheint’s, dass ich jezt nur etwas Zeit im Käfig zubringe, daß sogar mein Leben pracktisch zu Ende ist. – Ich höre dich sagen, das ist ja ein Bisgen übertrieben! – Wie kann das mit nur 20 Jahren möglich seyn? O meine liebe Lotte, wie konnte ich denn damals so töricht seyn zu glauben, daß der Ehestand ein Ausweeg wäre? Misversteh mich bitte nicht, Lottgen, denn ich liebe Friedrigen ganz vom Herzen und ich dancke dir herzlich, daß du uns zusammen

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