Discover millions of ebooks, audiobooks, and so much more with a free trial

Only $11.99/month after trial. Cancel anytime.

Verrannt
Verrannt
Verrannt
Ebook215 pages2 hours

Verrannt

Rating: 0 out of 5 stars

()

Read preview

About this ebook

Der achtjährige Tobias zwingt seinen jüngeren Bruder Dennis zu einer Mutprobe. Das dadurch ausgelöste Unglück lässt Tobis angeborenen Idealismus zur Verbissenheit werden. Als junger Neurochirurg verrennt er sich in seinem Streben nach medizinischem Fortschritt, zerstört sein Leben und das eines Patienten, während Dennis sich ungeahnt entwickelt.
LanguageDeutsch
Publisher110th
Release dateSep 20, 2014
ISBN9783958650954
Verrannt

Read more from Michael Höfler

Related to Verrannt

Related ebooks

Thrillers For You

View More

Related articles

Related categories

Reviews for Verrannt

Rating: 0 out of 5 stars
0 ratings

0 ratings0 reviews

What did you think?

Tap to rate

Review must be at least 10 words

    Book preview

    Verrannt - Michael Höfler

    werden.

    Prolog

    Alfons Gigl hätte noch ein halbes Jahr gehabt. Mindestens. Sechs, sieben, acht Monate im Kreise seiner Familie, die ihn umsorgt, getröstet, begleitet hätte. Noch einmal mindestens wären seine Frau, seine beiden Söhne und die drei Enkel mit ihm durch die Heide bei Bad Tölz gegangen, wo er die Wildblüten gesehen hätte und nebenan das späte Laub mit seinen prächtigen Farben, kurz bevor es herabfällt. Vielleicht wäre Alfons Gigl sogar noch ein Frühling vergönnt gewesen.

    Freunde und Familie hätten mit ihm ihre Trauer um sein Schicksal teilen können so wie er mit ihnen seine Angst vor dem Tod und die Hoffnung auf ein Wiedersehen danach. Sie wären beisammen gesessen unter Erinnerungen an die schönsten, bewegendsten, anrührendsten Momente seines Lebens. Vor allem aber hätten sie sich von ihm verabschieden können.

    Der Tumor mit den heimtückischen Ablegern wäre sein Tod gewesen ― später, aber dank moderner Schmerzmedizin hätte er nicht leiden müssen. Stattdessen habe ich wie ein Irrer versucht, die tödlichen Zellen aus seinem Gehirn zu schneiden. Um die Unbill in meinem eigenen auszumerzen. Weil ich fast dreißig Jahre zuvor bereits mit dem Ziel zu helfen zwei Leben zerstört hatte, wie ich glaubte, und in der Folge ein weiteres.

    Erster Teil

    1.

    Mein Bruder Dennis war mit seinen froschartig rollenden Augen und den in alle Richtungen wuchernden Locken das selige Kinderleben in Person. Am Rosenmontag 1981 kasperten die Worte „kein Hosenschontag aus dem stets halboffenem Mund. Er konnte sein Clownkostüm nicht finden. Pullis und Hosen flogen über seine Schulter, aber der bunte Flickenumhang war nicht dabei. Gleichzeitig murmelte er Dinge wie „Spaßvogel, Sahnekogel oder „einen Clown kannst nicht versau´n". Dabei muss ich mein Gewicht im Sekundentakt von einem Bein aufs andere verlegt haben, weil wir vor dem Kinderfasching in der Turnhalle noch dringend etwas zu erledigen hatten.

    Meine Indianersachen hatte ich längst an: Die Hose mit den Fransen an den Seiten und das Hemd mit den roten und weißen Karos auf der Brust. Dieses Gewand wäre meine zweite Haut geworden, hätte der Fasching länger als eine Woche gedauert. Es sollte den Tag nicht überleben.

    Ich liebte das Indianerkleid derart, dass ich es draußen keine halbe Stunde sauber halten konnte. Mama sagte immer schon prophylaktisch: „Wildleder ist nie richtig sauber zu kriegen!"

    Als Indianer musste ich freilich im Staub der Straßen und Felder gegen Cowboys kämpfen, sonst hätte ich gleich ein Matrose sein können, der, wie ich fand, nur langweilig auf seinem Schiff herumstand. Wenn die Apachen durch die Prärie streiften, trugen sie schwerlich saubere Klamotten, der Dreck der Erde glich sie der Umgebung an.

    Ich muss bereits meine Silberbüchse mit einer frisch eingespannten Tausendschussrolle gehalten haben. „Genau die gleiche wie Winnetou", hatte Papa versichert, als ich sie zwei Wochen davor bei meinem Geburtstag ausgepackt hatte.

    Dennis wühlte die Kiste durch, in der er Playmobil und Lego aufbewahrte. Mama kam freudestrahlend ins Zimmer, hielt den Flickenumhang mit dem forschen Ordnungshabitus von Ariels Klementine hoch: „Ich habe deinen Anzug nochmal gebügelt". Wie immer, wenn alles ordentlich und sauber war, lächelte sie. Dann stülpte sie Dennis das Clown-Kostüm über den Kopf. Ich schämte mich an Dennis’ Stelle, aber er ließ sich derlei gefallen.

    Die Clownperücke zog sich Dennis selbst über den Lockenkopf, aber falsch herum. Er grinste albern, man sah vom Gesicht nur Mund und Kinn. „Lässig, oder?", fand er. Ich drehte ihm den Kopfschmuck richtig herum, damit er die schwarzen Charlie-Chaplin-Schuhe sah, in die er noch schlüpfen musste.

    „Mein Bruder", nannte ich ihn. Wie Winnetou Old Shatterhand. Dabei hatte ich keinen Cowboy oder wenigstens Trapper zum Bruder, sondern einen albernen Clown.

    Ein Clown im Wilden Westen war so nützlich wie Leuchtraketen, wenn man auf hoher See vor Piraten auf der Flucht war. Dafür stellte ein Clown mich vor die Aufgabe, ihn mit meiner Silberbüchse zu schützen, ihm zu helfen, wenn ihn Banditen, Räuber, böse Menschen bedrohten. Später als Arzt sollte ich weit komplexere Instrumente als Hilfsmittel an die Hand bekommen.

    „Jetzt schick dich endlich! Wir müssen noch zu den Giesebrechts!, drängte ich Dennis. In einer dreiviertel Stunde begann die Faschingsparty in der Turnhalle, und Giesebrechts wohnten einige Straßen dahinter. „Giesebrechts, Miesepechs, dichtete Dennis. Aus jedem Namen machte er einen komischen Reim.

    Lukas Giesebrecht ging in die 3a, meine Parallelklasse, und Dennis in die erste. Tags zuvor hatte Lukas Dennis hinten am Schulranzen gepackt und mit dem Gesicht in einen Haufen Hundescheiße getaucht. Als ich hinrannte, floh Lukas und lachte im Weglaufen dreckig. Wir wuschen dann Dennis’ Gesicht gründlich im Bach, ehe wir nach Hause kamen. Mama sollte nichts mitbekommen, sie hätte nur unnötigen Aufhebens gemacht. Als großer Bruder konnte ich solche Dinge selbst regeln.

    An diesem Tag musste Lukas allein zuhause sein, denn seine Mutter ging samstagnachmittags schwimmen und der Vater zu den Bayern ins Stadion.

    Zuvor beim Gassigehen hatte Carlos eine Riesenwurst gelegt, so dick und lang, wie es nur ein Bernhardiner hinbekam und mit der Konsistenz eines halbfrischen Kuhfladens wie bei Opa und Oma in Huglfing. Aber die Wurst stank weitaus ärger. Als ich sie mit einem Taschentuch aufhob, musste ich mir mit der anderen Hand die Nase zuhalten, wobei sie in zwei gleichgroße Teile zerbrach. Ich wickelte die Scheißehälften in die Seiten der Zeitung mit den großen Buchstaben aus dem Mülleimer und legte sie in den Schuhkarton, den ich mithatte. Es würgte mich, und ich musste tief durchatmen, um nicht zu erbrechen.

    Wir läuteten an allen Klingeln im achten Stock, um ins Haus zu gelangen, Giesebrechts wohnten im fünften. „Dennis, klopf du, ich halte mich zum Anzünden bereit, entschied ich oben. Dennis klopfte vorsichtig. „Du musst das lauter machen, das hört er doch gar nicht!. Nun pochte er mit dem ganzen Umfang seiner Miniaturfaust an die Tür. „Wer da?, hörte man Lukas von drinnen. Ich drehte fest am Rad meines Feuerzeugs, sogleich brannte die Zeitung, und die Überschrift „Flammen auf der Ostsee wurde pechschwarz. „Als nächstes brennst du!", rief ich, so laut ich konnte, Richtung Tür, packte Dennis an der Hand und zog ihn die Stufen hinunter. Wir versteckten uns in der Treppenhausecke ein Stockwerk tiefer, von wo wir Lukas’ Tür gerade noch sehen konnten.

    Sie ging auf, während das Paket heftig loderte. Brennender Hundekot stinkt noch ärger als der frischste gefüllte Düngercontainer; sogar Stinkbomben können dagegen nicht anriechen. Lukas blickte so blöde aus der Wäsche wie Klementine und unsere Sportlehrerin Frau Scholzhuber zusammen. Er schrie „Bäähhhh!", legte die Hand um den Hals und verschwand unter würgenden Kieferbewegungen in der Wohnung.

    Dennis begann zu husten, benötigte beide Hände, um sich die Nase zuzuhalten. „Boooah, so eine Kacke!", kam es mühsam aus ihm. Mit der zugehaltenen Nase klang er wie ein verstimmtes Lamm.

    „Lass uns eine Fliege machen", sagte ich, und wir überschlugen uns fast vor Lachen und Stolpern, als wir die Treppen hinunter rannten.

    „So, und nun kommst du endlich mit über den Spinnerbogen", entschied ich. Bisher hatte er sich nie getraut, die Abkürzung zur Straße Richtung Turnhalle zu nehmen. Wenn er sich nicht bald zusammenriss, bliebe er für immer der Junge, den die anderen in den Schwitzkasten nahmen. Sogar Ronja aus seiner Klasse legte ihn beim Raufen aufs Kreuz. Ein Mädchen!

    „Spinnerbogen" nannten wir das seltsame bogenförmige Bauwerk aus Beton, das ein Kunstwerk von Spinnern war, wie Papa uns erklärt hatte. Jemand musste eine lange dünne Scheibe von einer grauen, zur Mitte hochgebogenen Brücke abgeschnitten haben, so kam es uns vor. Ein riesiger Indianerbogen ohne Pfeil, um den jemand von oben bis unten Beton gegossen hatte.

    An den Seiten des Bogens waren mit der Zeit immer mehr Farbkleckse dazugekommen. Zufällig wusste ich, dass die Ritzer-Brüder mit ihren Farbdosen, die sie in der Tankstelle klauten, die Täter waren. Im Winter zogen sie Dennis die Mütze ins Gesicht. Davor fragten sie: „Schisshase, hast du Paris schon mal bei Nacht gesehn? Wenn Dennis nein sagte, meinten sie: „Dann wird’s Zeit!. Antwortete er ja, hieß es: „Dann siehst du’s gleich nochmal!"

    „Ich hab keine Lust, schützte Dennis Langweile vor. Dabei war er ein Schisser. „Und ich habe keine Lust, wegen dir Angstbenny den Umweg um die drei Blocks zu laufen.

    Der Bogen stand genau zwischen den beiden einzigen Häusern, zwischen denen der Weg nicht durch Dornenbüsche versperrt war. Auch links und rechts des Spinnerbogens wuchsen drei Meter große Büsche, wir konnten nur über den Bogen durchkommen.

    Ich legte mir die Silberbüchse mit dem Band um die Schulter, machte meinen Rücken rund wie eine Katze, damit ich mit Händen und Füßen Halt bekam. Ich drückte mich mit den Beinen ab und zog mich mit den Armen hoch. Oben, wo es flach ist, stand ich auf, drehte mich vorsichtig um und breitete wie ein Seiltänzer langsam die Arme aus. Ich sah auf die Büsche links und rechts hinunter. Ich nahm die Silberbüchse vom Rücken und schoss in die Luft. Wie Winnetou, wenn er mit seinen Apachen angriff.

    „Willst du endlich ein Mann sein oder immer ein Waschweib bleiben?, rief ich Dennis zu. Er stand noch immer unten. „Waschweib, Klatschleib, dichtete er und robbte los. Mit der Hingabe eines Faultiers rutschte er voran. Nach ein paar Metern blieb er liegen wie Mamas gefüllter Wäschesack.

    „So wird das nichts, weiter! Und schneller! Er schob seinen kleinen Körper trotzig voran, bis er nur noch drei Meter von mir weg war. „Du kannst jetzt aufstehen.

    Wie ein verschreckter Straßenkater blickte er zu mir hoch. Ich ging die zwei Schritte zu ihm, sagte genervt „Jetzt komm, steh auf!" und packte seine Hand.

    Er stand. Aber unbeweglich wie ein Storch. „Jetzt gehe! Ich hielt seine Hand hoch, seitlich, wie ein Mann beim Opernball die einer Frau. Dennis setze einen Fuß hinter den anderen, alberte mit zittriger Stimme: „Seiltänzer, Schulschwänzer.

    „Super, Dennis, bist doch kein Schisser!"

    Nun standen wir beide ganz oben. „Jetzt du allein!, befahl ich, ließ ihn los und ging ein paar Schritte voran. Die Stirn unter Dennis’ roter Perücke runzelte sich. Sein kleiner Mund ging noch weiter auf als sonst, und er guckte ein großes Loch in die Luft. „Hab dich nicht so, mach einfach immer nur einen Schritt.

    Er trat mit dem hinteren Fuß nach vorne, setze ihn auf. Dabei traf er mit seinem riesigen Schuh den Betonstreifen nur zur Hälfte. Ich sah, wie er wankte. Schnell griff ich mit der Hand nach ihm, bekam ihn am Unterarm zu fassen. Doch ich konnte ihn nicht halten. Seine Hand krallte sich an meinen Arm, er zog mich mit zur Seite. Ich spürte, dass ich selbst abzustürzen drohte. Machte meine Hand auf, ließ seine los. Er kippte zur Seite. Und fiel. Es zog mich im Bauch, als ob ich selbst stürzte. Ich schwankte, balancierte, konnte mich halten. Zugleich hörte ich Dennis’ Schrei, sah wie sein Körper sich nach unten drehte, der Kopf voran. Es knirschte und krachte, als er ins Gebüsch fiel.

    „Dennis! „Denniiissss! Ich starrte nach unten. Aber zwischen den vielen Ästen und Zweigen erkannte ich nur seinen bunten Flickenanzug und die rote Clownperücke. Nichts bewegte sich. Und es war totenstill.

    Lieber Gott, lass mich sterben, aber mach, dass Dennis lebt! Dennis, bitte! Nächste Woche sollte er in die zweite Klasse kommen. „Erste Klasse, Babyflasche — zweite Klasse, Untertasse", hatten wir gerufen.

    Heulend trottete ich den Bogen hinunter, spürte den feisten Geschmack des Rotzes auf meinen Oberlippen. Mit der Silberbüchse versuchte ich, mich durchs Gebüsch zu Dennis durchzuschlagen. „Dennis, sag was! Bitte! Damit ich weiß, dass du nicht tot bist!" Es blieb still. Nur das Knacken der Zweige. Geräusche, die ich selbst machte. Stacheln und spitze Zweige zerrten an Ärmeln, Hose, Brust. Mein Indianerkostüm war hundertfach festgetackert von den Dornen des Buschs. Ich kam nicht weiter. Auch die Silberbüchse steckte fest. Es musste an Händen, Hals und im Gesicht kratzen. Ich spürte nichts.

    „Tobi!, vernahm ich die Stimme einer Frau von hinten. Sie klang erschrocken. „Was machst du da?

    Ich kannte sie, aber wer war’s? „Denniiiis", schluchzte ich und brachte das s kaum noch heraus. Ich spürte große Hände um den Bauch, sie packten mich, zogen an mir, rissen mich nach hinten. Ich musste die Silberbüchse zurücklassen, aber sie hatte ohnehin versagt.

    Frau Giesebrecht starrte mich entgeistert an: „Tobias, um Himmels willen! Deine Sachen sind ja ganz zerrissen und du blutest überall. Sie holte ein Stofftaschentuch heraus und tupfte mein Gesicht ab. Ich stand nur da und blickte zur Erde. „Was hast du bloß in dem Gebüsch verloren?

    Ich hob nicht den Kopf, nur den Arm, deutete in den Busch, schluchzte: „Dennis ist da drin. Er ist tot! Ich habe ihn umgebracht!"

    2.

    „Es wird alles gut, mein Schatz", versprach Mama und drückte mir einen Kuss auf die Stirn. Doch sie klang, als weinte sie auch. Weinte wie ich. Ich will sterben, wünschte ich, merkte, dass es kein fieser Traum war, aus dem ich aufwachen konnte.

    Papa war schnell gekommen. Gleich nach der Feuerwehr und dem Notarzt. „Ich habe ihn getötet", hatte ich gleich gestanden. Papa blickte versteinert, ich war bereit für jede Strafe. Aber er nahm mich einfach in den Arm, drückte mich an seinen Bauch.

    Frau Giesebrecht sollte mich nach Hause bringen, während die Feuerwehr sich mit riesigen Scheren und einer Motorsäge durch das Gebüsch kämpfte. Ich protestierte: „Lasst mich hier bleiben, ich muss Dennis helfen!"

    Als Frau Giesebrecht mich an der Hand nahm, wollte ich mit Händen und Füßen um mich schlagen. Stattdessen trottete ich mit ihr mit und vergrub mein Gesicht im Ellbogen.

    „Was ist mit ihm, ist er tot?, wollte ich zum hundertsten Mal von Mama wissen. Ihre sonst so gütig strahlenden Augen sahen blass und müde aus, dennoch streichelten ihre weichen Hände meinen Nacken. Es fühlte sich merkwürdig an, in dem Moment den Pfirsichgeruch ihrer hellblonden, gewellten Haare zu riechen. Sie wischte sich über die Augen, schnäuzte, versprach: „Sein Schutzengel wird ihm helfen. Ganz bestimmt.

    Das Telefon klingelte. Ich streckte den Kopf hoch. „Vetter, meldete sich Mama. Sie schwieg eine Weile. Dann sagte sie „Tschüss Schatz, legte auf und kam zu mir. Sie verkündete „Dennis lebt", bemühte sich um ein Lächeln und streichelte meinen Hinterkopf. Nun fing sie

    Enjoying the preview?
    Page 1 of 1