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Interniert in Schweizer Flüchtlingslagern: Tagebuch des jüdischen Autors Felix Stössinger 1942/43
Interniert in Schweizer Flüchtlingslagern: Tagebuch des jüdischen Autors Felix Stössinger 1942/43
Interniert in Schweizer Flüchtlingslagern: Tagebuch des jüdischen Autors Felix Stössinger 1942/43
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Interniert in Schweizer Flüchtlingslagern: Tagebuch des jüdischen Autors Felix Stössinger 1942/43

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Frankreich, im Sommer 1942. Als die Deportationen beginnen, retten sich der jüdische Autor Felix Stössinger, seine Frau Charlotte und deren Sohn Hans in die Schweiz. Auf die geglückte Flucht folgt bald die Ernüchterung: Militärbürokratie und antisemitisches Personal prägen den Alltag in den Flüchtlingslagern. Stössinger wirft einen kritischen Blick auf die Schweizer Flüchtlingspolitik und gibt Einblick in die zeitgenössischen Befindlichkeiten. Seine Aufzeichnungen sind ein einzigartiges Zeitdokument, dessen Unmittelbarkeit beeindruckt.
LanguageDeutsch
Release dateOct 10, 2012
ISBN9783856165635
Interniert in Schweizer Flüchtlingslagern: Tagebuch des jüdischen Autors Felix Stössinger 1942/43

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    Interniert in Schweizer Flüchtlingslagern - Felix Stössinger

    Interniert

    In Schweizer Flüchtlingslagern

    Tagebuch des jüdischen Autors

    Felix Stössinger 1942/43

    Simon Erlanger,

    Peter-Jakob Kelting (Hg.)

    Christoph Merian Verlag

    Vorwort

    «… Wir meldeten uns beim Kommandanten. Er zog die Brille über die Stirn, wiegte sich etwas in den Hüften von hinten nach vorne, lächelte und sagte:

    – Ich habe eine Arbeit für Sie, die Ihnen gefallen wird. Sie werden das Lager-Tagebuch führen.

    – Ein Kassenjournal, fragte ich.

    – Nein, ein literarisches Tagebuch. Sie schreiben es für sich selbst. Was Sie sehen, denken, beobachten, erleben. Ich gebe Ihnen mein Wort: Was ich aus dem Tagebuch über das Lager erfahre, ist so, als ob ich es nicht erfahren hätte. Aber ich möchte, dass Sie schreiben, was Sie erleben.

    – Auch Beschwerden und Bemängelungen?

    – Alles. …»

    So beschreibt der österreichisch-jüdische Journalist und Publizist Felix Stössinger, wie er dazu kam, seine Erlebnisse in Schweizer Lagern schriftlich festzuhalten. Ein literarisches Journal sollte er schreiben, gewissermassen in offiziellem Auftrag. Nicht nur Geschehnisse sollte er dabei dokumentieren, sondern ein literarisches Tagebuch verfassen. Die Ereignisse sollten eingeordnet und analysiert werden. Zeiten und Umstände sollten dadurch verstanden, verstehbar gemacht werden. Dies konnte in Zeiten der Militärzensur und des strikten Flüchtlingsregimes durchaus gefährlich sein:

    «Sofort begriff ich aber, dass ich mein Lagerjournal in doppelter Buchführung anlegen musste: Eine für mich, die andere ad usum delphini. Ich wollte nicht jedermann zeigen, was ich sah und dachte. Ich hatte zum Kommandanten Vertrauen, aber ich wusste nicht, wer die 2 Exemplare lesen würde, die ich ausser seinem Privatexemplar zu schreiben hätte. Und schliesslich lässt sich die Kunstform des Tagebuchs nicht aus den Tagen schütteln. Ihre Ergebnisse bedürfen der Anordnung, weil sie sonst sinnlos wie das Tagesleben wirken.»

    Das Tagebuch ist so nicht blosse Chronik der Ereignisse und einfaches Zeitdokument, sondern ein literarisches Produkt, ein bewusst gesetzter und gewichteter Kommentar zur schweizerischen Flüchtlingspolitik, zum Lagersystem und zur Behandlung der Flüchtlinge durch die Schweiz.

    Felix Stössinger gehörte zusammen mit Frau Charlotte und Stiefsohn Hans zu den 22500 jüdischen Flüchtlingen und Emigranten, denen es bis 1945 gelang, in der Schweiz Aufnahme zu finden – trotz einer schon seit den zwanziger Jahren gegen Juden gerichteten Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik, welche während des Krieges noch verschärft wurde. Tausende jüdischer Flüchtlinge wurden an der Grenze abgewiesen und zurückgeschickt, in den sicheren Tod.

    Die meisten derjenigen, die Aufnahme fanden, wurden für kürzere oder längere Zeit in Auffang- und Arbeitslagern sowie in den sogenannten Flüchtlingsheimen interniert. Nur wenige hielten ihre Erlebnisse im schweizerischen Lagersystem in Tagebüchern fest. Einige mehr fassten sie, zum Teil Jahrzehnte später, in ihren Erinnerungen zusammen. Nur sehr wenige dieser Aufzeichnungen erreichen aber die literarische Qualität und die Unmittelbarkeit des Tagebuchs von Felix Stössinger. Die Sprachgewalt, die Genauigkeit der Beobachtung, die politische Analyse, die kulturelle Tiefe, die Feinheit der Ironie – das alles sucht seinesgleichen in der Erinnerungsliteratur. Immer wieder werden die präzisen und eindrücklichen Schilderungen des Lageralltags unterbrochen durch kurze Essays, in denen die Belesenheit und die Bildung des Autors zum Ausdruck kommt, der in Wien, Berlin und Prag als Kulturjournalist und politischer Publizist gewirkt hatte.

    Nach der Befreiung aus dem Lager und später noch nach Kriegsende redigierte Stössinger das Tagebuch und fügte Kapitel und Essays hinzu, die unter anderem seine Flucht aus Prag und Wien beleuchten. Schon der Titel des Manuskripts ‹Zwischen Tell und Gessler› deutet die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg: schwankend zwischen den Idealen von Schillers Tell, mit einer Schweiz als Hort der Freiheit, und einer antijüdischen Flüchtlingspolitik, die eher zur Staatsraison eines Landvogts Gessler passte. Lange Jahre blieb das nur als Typoskript in wenigen Exemplaren vorhandene Tagebuch unveröffentlicht. Fast ein halbes Jahrhundert nach der Redaktion durch Felix Stössinger übergab dessen Stiefsohn Hans Freisager eine Kopie des Tagebuchs dem Journalisten und Historiker Stefan Keller. Der hatte mit der Reportage ‹Grüningers Fall› 1993 die Geschichte des St. Galler Polizeihauptmanns und Fluchthelfers Grüninger aufgearbeitet und so dessen Rehabilitierung durchgesetzt – was damals auch ein Anstoss zu einer vertieften Beschäftigung mit der schweizerischen Flüchtlingspolitik war. Keller machte Ende der neunziger Jahre Simon Erlanger, Mitherausgeber der vorliegenden Edition, auf das Tagebuch aufmerksam, worauf es Erlanger als eine Quelle für seine 2006 erschienene Dissertation zum System der schweizerischen Arbeitslager und Heime verwendete. Durch diese Arbeit wurde Mitherausgeber Peter-Jakob Kelting auf das Manuskript aufmerksam, der es wiederum Beat von Wartburg von der Christoph Merian Stiftung vorlegte. Von Wartburgs Begeisterung für das Tagebuch ist es zu verdanken, dass es nun im Christoph Merian Verlag veröffentlicht und damit einer breiten Öffentlichkeit zugänglich wird.

    Die vorliegende Ausgabe umfasst den ganzen ungekürzten Text des Tagebuchs1, nebst zusätzlichen Artikeln und Essays, welche die Flucht Stössingers aus Wien und Prag schildern und die Stellung der Flüchtlinge in der Schweiz thematisieren. Wo es die Herausgeber als nötig erachteten, wurde der Text durch kurze Kommentare ergänzt. Diese sollen das Verständnis erleichtern. Um Leserinnen und Leser an die Person von Felix Stössinger und seine Zeit heranzuführen, enthält die vorliegende Edition eine biografische Notiz und eine kurze historische Einordnung sowie ein längeres Interview mit Stössingers Stiefsohn Hans Michael Freisager.

    An dieser Stelle sei Beat von Wartburg von der Christoph Merian Stiftung für seine Initiative ebenso herzlich gedankt wie Claus Donau, Kevin Heiniger und Oliver Bolanz vom Christoph Merian Verlag für die ausgezeichnete Betreuung. Dank gilt auch Jörg Bertsch für die gute und äusserst produktive Zusammenarbeit beim Lektorat sowie nicht zuletzt der Christoph Merian Stiftung und der Stiftung Irene Bollag-Herzheimer, ohne deren finanzielle Unterstützung die vorliegende Publikation nicht möglich gewesen wäre.

    Simon Erlanger und Peter-Jakob Kelting, Basel, im Juni 2011

    1 Das Originaltagebuch besteht aus zwei broschierten Bänden, die drei Teile enthalten. In dieser Publikation veröffentlicht werden der gesamte erste und zweite Teil, ausserdem drei Aufsätze aus dem dritten Teil. (Anm. d. Hg.)

    Zwischen Tell

    und Gessler

    von Felix Stössinger

    Was sie bedürfen, nicht was sie verlangen.

    IBSEN

    I. Teil

    Flucht aus

    Frankreich

    Naître, vivre et mourir dans la même maison.

    Sainte-Beuve

    1. Meine Rettung in die Schweiz – mit meiner Frau und ihrem erwachsenen Jungen – verdanke ich einem Zufall.

    Wir lebten in Nice, versteckt in der eleganten Wohnung einer französischen Familie, die sich im Sommer der Deportationen 1942 in den Alpes Maritimes vom heissen Meeresklima erholte. Die Concierge hatte die Schlüssel und überliess uns für einige Tage die Wohnung für 2500 Francs. Unser treuer Hima1 besorgte die Verbindung mit der Aussenwelt. Jeden Mittag brachte uns seine Frau Essen für 24 Stunden und Nachrichten über die Deportationen. Kaum war sie fort, warteten wir auf sie. Mit Unruhe im Magen und vergessenen Fragen in den Augen sassen wir um den Küchentisch. Wenn sie kam, gab die Concierge am Haustelephon ein Klingelzeichen, stundenlang hatten wir auf dieses hölzerne Klingeln gewartet. Manchmal klirrte es, wenn die Concierge die Klappe versehentlich streifte. Unsere Anwesenheit beirrte sie, daher passierte es öfters.

    Nie wussten wir, was das Klingeln bedeutete: eine falsche Verbindung, das Kommen von Hima oder die Polizei. In dem Fall wollte ich um die Balustrade der Terrasse klettern, die einen Häuserblock säumte. Die Nachbarwohnungen waren auf dem Balkon nur durch Milchglaswände getrennt. Man konnte längs der Balustrade in ein anderes Haus kriechen und es vielleicht verlassen. Man konnte auch 6 Treppen tief auf die besonnte Strasse stürzen. Ich war aber entschlossen, mich nicht deportieren zu lassen.

    Zunächst erschien aber bei jedem Klingeln Hima oder seine Frau. Simon war elsässischer Jude, Louise eine Strasbourgerin. Louise fuhr mit dem Lift bis zum 5. Stock, dann glitt sie geräuschlos die Spiraltreppe bis zum 6. hinauf, um von keiner Partei gesehn zu werden. Wusste man doch nie, ob es Freunde oder Verräter waren. Das Ohr an die Tür gepresst, warteten wir, bis Louise und die Concierge die letzte Stufe erreicht hatten, zogen die Tür weit nach innen auf, damit die Frauen eintreten konnten, ohne mit den Körben und Paketen die Tür zu streifen, dann erhielten wir Post und Essen. Wir erfuhren, ob die Strassen kontrolliert, Passanten verhaftet und französische Wohnungen noch respektiert wurden. Schliesslich unsere Hauptfrage: Ist Carmen zurück? Wir erwarteten von ihr und ihren vielen guten Beziehungen alles. Mit der Deutung der Nachrichten beschäftigten wir uns bis zum nächsten Mittag. Wie viele Möglichkeiten lagen hinter ihnen. Aus jedem Wort destillierten wir Ereignisse, die Hima vielleicht vor uns geheim hielt oder nicht richtig gedeutet hatte. So treu und lieb er auch war – sollten wir ihm rückhaltlos glauben? Manchmal begingen wir die Sünde, an ihm zu zweifeln. Er hatte Freunde, die ihn einschüchterten. Waren wir ihm nicht schon lästig geworden?

    Dazu kam, dass wir einige Tage hungerten. Die Vorräte, die wir Hima mitgebracht hatten, waren aufgegessen, aber Louise hatte eine schwere Hand zu ihren vollen Speisekammern. Ich sage das nicht, um die liebe Madame Hima herabzusetzen – aber welchen Wert könnte meine Erzählung haben ausser dem der sincérité, zu der mir der französische Roman Mut gemacht hat. So hatten wir in Hima [und Louise] Freunde entdeckt, die aus gaullistischem Enthusiasmus für uns ihr Leben gefährdeten, die aber zögerten, unser Leben durch Öffnung ihrer Vorratskisten in gutem Zustand zu erhalten. Der Enthusiasmus: Das war die Hingabe an eine Idee, die Liebe zu Frankreich, die résistance gegen die Deportationen. Die Hungerpsychose: Das war die Angst um das eigene, kleine Ich. Um allem gerecht zu werden, organisierte Simon unsere Versorgung bei unseren Gemüselieferanten draussen in St-Augustin, bei denen wir ihn früher eingeführt hatten. Die tropische Hitze hielt den lieben Menschen vor keiner Beschwerlichkeit zurück. Täglich nahm er das Risiko auf sich, in unserer Wohnung unsere Post abzuholen. Die Fleischerin auf dem Marché de la Buffa gab aus Sympathie mit den Versteckten für ein 250 Gramm-Ticket 1 Kilo Fleisch. Die brave Elise setzte die schwarzen Kartoffelpreise für verfolgte Juden um 2 Fr. per Kilo herab. Und an einem Tag brachte Louise sogar Obst. Es waren Pfirsiche, Tennisbälle aus gelbrotem Velours. Wir dachten beim Essen an unsere heiteren Expeditionen ins herrliche Tal des Var. Das Obst war überreif, hatte die Tüte nass gemacht, und damit sie nicht auseinanderging, hatte sie Hima in eine dicke Zeitung eingeschlagen; es war eine Beilage der Neuen Zürcher Zeitung.

    In Todesängsten sassen wir in der komfortablen Küche. Sie war mit allem Luxus raffinierter Küchengeräte ausgestattet, wie sie nur ein Volk von Feinschmeckern konstruieren kann.

    Nie haben wir so eine Wohnung gehabt, klagte Charlotte. Jetzt gehn meine Wünsche in Erfüllung, wo …

    Sie wollte sagen, wo wir sterben müssen. Das Tröpfeln der Wasserleitung, der Knall des Gases beim Entzünden, das Knarren einer Schranktüre erschreckten uns zu Tode. Da wir solche Geräusche nicht wie im Konzertsaal niederzischen konnten, ohne sie zu vergrössern, versuchten wir den Schuldigen mit Blicken zu ersticken. Hinter der Glaswand auf der Terrasse der Nebenwohnung sassen Franzosen mit Kindern und Gästen heiter beim déjeuner. Wir sahen auf dem Milchglas das Schattenspiel ihrer guten Laune und hörten ihren Gesprächen zu.

    Es war wie eine Ballettmusik von Verdi, bevor einer erstochen wird. Wir hielten den Atem an, die Seele in Tränen, unsere Lage war aussichtslos.

    In zwei Tagen sollten wir die Wohnung räumen. Die Concierge fürchtete nicht die Rückkehr der Mieter, sondern der Partei unter uns. «Nous sommes en brouille», fügte sie hinzu. Sie glaubte, sie könnten sie beim gérant denunzieren. Als sie uns aber ihren Namen nannte, fühlten wir uns wieder gerettet. Die Frau war eine Kundin von Charlottens Hutsalon, eine Jüdin, also kein Feind, eine Ungarin, also noch kein Opfer. Die Concierge gab aber nicht nach und daher zu neuem Misstrauen Anlass. Erst hatte sie 200 Francs refüsiert, um dann plötzlich 2500 zu verlangen, angeblich um ihre Tochter in der Bretagne besuchen zu können, da ihr Mann seine Stieftochter hasste. Man konnte nie wissen, ob sie uns gleich oder später verraten würde. Der Preis war eine Sicherung, denn niemand zahlte ihr für uns so viel wie wir selber. Um sie an unserem Leben zu interessieren, zahlten wir ratenweise, die Höhe der Schlussrate sollte ihre Treue verbürgen.

    Unsere grösste Sorge war unser nächstes Versteck. Himas Adressen waren erschöpft. Je vernünftiger wir unsere Lage durchdachten, umso hoffnungsloser wurde sie. Gerade in solchen Augenblicken ziehe ich mich instinktiv vor einem unlösbaren Problem zurück, ich erwarte mehr vom Wachstum der Dinge als von eigenen Bemühungen. Ich las viel, um mich nicht sinnlosen Plänen zu überlassen. Charlotte und Hansi spielten Karten oder Schach oder lasen etwas, aber jeden Moment besuchten wir uns auf den Fussspitzen in einem der drei Zimmer, um uns neue Einfälle oder Besorgnisse mitzuteilen.

    Wir trennten uns also nach Tisch, ich nahm die Neue Zürcher in mein Zimmer, leider war es nicht das Hauptblatt mit den Kriegsnachrichten, sondern eine Beilage mit Nachrichten aus den Kantonen, also für uns ohne Bedeutung. Ich legte mich aufs Sofa, sah das Blatt an, mein Leben blieb stehn. Da stand: «Flüchtlinge in der Schweiz». Ein nervöses Vibrieren verlor sich, als ich den Artikel bewusst ein zweites Mal las. Es war ein Bericht aus Bern über die Flüchtlingsfrage in der Schweiz. Wir hatten in Nice keine Ahnung, dass Flüchtlinge seit Monaten in die Schweiz eindrangen. Ich war in der Zone libre als Korrespondent und Mitarbeiter Schweizer Zeitungen tätig, bekam aber nur den Abdruck meiner Beiträge von einem Ausschnittbureau zugeschickt. Hima hatte sich die Zürcher erst seit einigen Wochen durch den Petit Niçois zu besorgen gewusst. Während des Urlaubs der Redaktionssekretärin übersetzte er die Zeitung. Langsam, wie einen schwierigen Text, begriff ich nun beim dritten Lesen, dass sich ein Flüchtlingsstrom aus Holland und Belgien über den Jura ein Bett in die Schweiz gebahnt hatte. Der Protest des Volkes gegen die Zurückweisung der Flüchtlinge hatte den Bundesrat gezwungen, sie aufzunehmen und allen, die bis zum 13. August in die Schweiz gelangt waren, Asyl zu gewähren. War auch schon der 3. September, so schloss der Ton des Berichts die Besorgnis aus, Flüchtlinge könnten im September wieder über die Grenze gestellt werden. Wir wussten in Nice wenig von den Greueln dieses Sommers. Wie konnten wir ahnen, was in den besetzten Gebieten vor sich ging, wo wir nicht einmal zuverlässig erfahren konnten, was sich in Marseille oder Lyon ereignete.

    Ich sah das Zeitungsblatt in jenem passiven Zustand an, in dem man scheinbar nichts denkt, weil sich das Denken in uns ohne Worte vollzieht, nicht in Begriffen sondern in Dingen, bevor die Worte sie so oft deformieren. Ich dachte also ‹nichts›, wusste ‹nichts›, beschloss ‹nichts›, nur dass dieses Nichts plötzlich vor mir ohne Überlegung die Gestalt eines hinreissenden Beschlusses angenommen hatte, der mich wie ein Lichtsturm erfüllte. Ich sah mich plötzlich in diesem anmutigen Zimmer mit seinen provençalisch zierlichen Möbeln, seinen Garnituren, Teppichen, hohen grünen Fensterläden, seinen Seidentapeten, den Goldbändern der Sonne, die auf allem lagen, wie in einem Ort der Gnade, in dem ich aufgehoben lebte, bis der Engel eintritt, wie in die Zelle des Apostels, mit seiner Lichtkraft die Kette schmilzt und die Streu des Gefangenen in Himmelswölkchen auflöst.

    Noch konnten wir nicht ohne Schreck das Klosettwasser ziehn, die Zimmer abends lüften, ins Nachbarhaus zu Hima schlüpfen, in ein neues Versteck umziehn: und schon schien es mir das Ungefährlichste, ja sogar Sicherste der Welt, vom Bahnhof wegzufahren, vom Mittelmeer zum Genfer See zu reisen und unbekannt wo in die Schweiz zu schleichen. Das Zeitungsblatt, nass von Pfirsichschalen, war ein Zeichen, ein Auftrag, ein eindeutiges Orakel. Ich habe stets an Zeichen geglaubt, sie als Kind von Gott gefordert, damit er sich vor mir beweise, und sie erhalten, wenn ich mich vor ihm beweisen wollte. Alle erhalten sie, die eine existenzielle Frage stellen. Wir erhalten die Antwort von Zahlen, Sternen, Texten, vom Vogelflug, von Opfertieren, von Zweigen, die verneinend schweigen, von Hunden, die uns anspringen, von einem Schatten, der sich auf eine bestimmte Stelle legt.

    «... Und Winke sind

    Von alters her die Sprache der Götter»

    hat George im ‹Neuen Reich› gesagt.

    Alle bis jetzt mangelnde Kraft auszubrechen sammelte sich plötzlich in mir in solcher Stärke, dass wir alle drei davon auf der langen Flucht zehren konnten. Mit entwaffnender Heiterkeit bestanden wir tödliche Situationen. Wir gingen den Weg in die Freiheit mit solcher Festigkeit, als ob wir ihn vorher geprobt hätten. Noch andere Zeichen kamen, von denen ich schweige. Stets wusste ich auf einem Streckenabschnitt, worauf wir gefasst sein sollten. Eine Feuersäule ging uns voraus, wie allen, die einer Marschroute folgen. Die Gefahren verzogen sich vor unserem Kommen. Hoffnungslos starre Wände hatten für uns offene Türen. Helfer warteten wie der Reisegefährte auf Tobias. Verreiste Helfer wurden rechtzeitig von geheimnisvollen Telegrammen heimberufen. Selbst die Griffe der Gendarmen öffneten sich wie zu Papagenos Zauberspiel. Von den Dingen her durchströmt die Freiheit und das Wunder jeden, der ihnen gehört. Sie verwandeln das Leben, aber sie verlangen Glauben und tätige Hilfe. Dann, aber auch nur dann wird das Werk des Zufalls zur Leistung des freien Willens.

    2. Von jetzt an wusste ich, was ich sollte; bisher hatte ich nur gewusst, was ich nicht sollte. Wir waren Todesgefahren entgangen, gegen die ich mich gewehrt hatte, und solchen, um die wir uns bewarben. Vor der résidence forcée in einem Bergdorf, dem Gehege, in dem das Menschenvieh erst zusammengetrieben und dann abgeholt wird, bewahrte mich im Januar 1942 die telegraphische Intervention des St. Galler Tagblatts und des Tages-Anzeigers in Zürich beim Präfekten. Vor dem sauf-conduit in die Départements Cher und Indre, deren Fülle uns Hima empfohlen hatte, bewahrte uns die Tücke der heimischen Präfektur, die uns aus Nice nicht fortlassen wollte, um unser sicher zu sein. Aber in Nice schützten uns Hima und Carmen, während sich in der Deportation Cher und Indre durch ihre Grausamkeit auszeichneten, und Sommergäste in kleinen Orten fast ausnahmslos verloren waren.

    So verbrachten wir, resigniert, einen unwahrscheinlich schönen Sommer nicht ungestraft unter den Palmen des Parc Masséna. Die antiken Sarkophage des Museums leuchteten altrömisch weiss durch den Garten. Das goldene Gartengitter öffnete sich auf den blauen Dom, in dessen Formen Luft und Meer zusammenflossen. Durch den Garten rieselte wie Wasser der geheimnisvolle Wind von Nice, der auf einer bestimmten Linie fahrplanmässig durch das Rhônetal nach Afrika strömt. Diese Linie ist nur wenige Meter breit, weil die Strassen sie spalten, rechts und links von ihr ist das Thermometer um 10 Grade höher.

    Auf dieser Windlinie lag ich täglich wie in einer Hängematte auf einem Liegestuhl, den die liebe alte Billeteuse für ihre Freunde versteckt hielt, unter mächtigen Ulmen beim Kinderspielplatz, deren Stimmchen so wenig stören wie Musik. Täglich brachte Mademoiselle Thérèse auf ihren Armen Claude und Michèle, damit wir ihr Gedeihen bewunderten. Die Kinder wälzten sich im Sand, bis eine junge Gouvernante sie zum ‹Pont d’Avignon› zusammenrief, der alten Chanson, die vor 45 Jahren uns 3 Kindern in Prag eine Erzieherin aus Neuchâtel vorgesungen hatte. Und dann ging es weiter durch alle Strophen des Liedes ‹Savez-vous planter les choux? À la mode de chez nous? On les plante avec les pieds, on les plante avec les mains, on les plante avec le nez›, wozu die Kinder Sandkuchen mit den Füsschen zusammenstiessen oder der weissgoldene kleine Philippe, seiner Anmut bewusst, mit der er die anderen Kinder tyrannisierte, die Nase in die Erde steckte. Die Erwachsenen waren guter Laune, die Deutschen begannen den Krieg sichtbar zu verlieren, nachdem sie ihn bisher in Dunkerque sur Marne nur unsichtbar verloren hatten, kurz, es brauchten nur noch 5–10 Millionen Menschen getötet zu werden, damit das gute Leben wieder beginnen konnte.

    Während aber einige Menschen glückliche Nachmittage in diesem antik heiteren Park verbrachten, sassen fleissige Beamte der préfecture über ihren Akten und sichteten sie. Die Dossiers von 2000 Personen, die den Beamten unbekannt waren und gegen die auch nichts vorlag, wurden links beiseite und nicht in die Aktenschachteln zurückgelegt, und das bedeutete, dass diese Menschen nachts überfallen, in Viehwagen verladen, 20 Tage stehend bei Brot und Urin in den Osten geschafft und dort sukzessive getötet wurden. Wahrheit wurde ruchbar, denn einige Beamte, die schon mit de Gaulle sympathisierten, erklärten laut, es ekle sie, ce sale travail, und eines Tages erfuhren wir im ‹Masséna›: Alles wird deportiert, was nach 1936 eingewandert ist, also auch Charlotte, auch Hans, auch ich, auch das reizende Fräulein Hausner, auch Noémi, auch Mme Jenny mit ihrem 6 Jahre alten Söhnchen, das gerade noch mit den Franzosenkindern Sandkuchen formte, à la mode de chez nous, alles, alles … Man sprang taumelnd auf, der Schweiss der Angst perlte anders als der der Côte, jeder fragte sich hastig: «Auch ich?». Jeder fand hastig Gründe, warum alle andern, nur er nicht.

    Um Gewissheit zu bekommen, besuchte ich den Schweizer Vizekonsul Alexander Manz. Vichy, sagte er mir, will sich aller ausländischen Juden entledigen, um die deutschen Wünsche zu erfüllen. Während alles in mir schlotterte, versuchte ich ohne Überzeugungskraft, Frankreichs Schande zu erklären.

    – Je croyais le droit d’asyl sacré? fragte der Konsul ernst.

    So denkt die Schweiz, sagte ich mir und schämte mich, nicht zum ersten Mal, für das Land, das ich mehr als alle anderen liebe.

    Im jüdischen Hilfsverein las ich zusammen mit anderen entsetzten Menschen am schwarzen Brett unser Vernichtungsdekret. 11 Ausnahmen wurden gewährt. Wer ihnen vertraute, war verloren.

    Wieder verlangten meine zwei Schweizer Zeitungen telegraphisch vom Konsul, für mich zu intervenieren. Herr Manz ging 4mal in die Präfektur, mein Dossier wurde gesondert geprüft und beiseite gelegt. ‹Beiseite› hiess der Tod.

    Die Ereignisse überfielen uns aber nicht, sie schienen sich zu verziehn und dadurch die Pessimisten zu dementieren. Die Optimisten sprudelten von Beweisen über, weil sie zu feig waren, ihrem Schicksal zu begegnen. Die Behörden beobachteten, wie ihre Opfer auseinanderliefen, daher lockten sie sie durch ausgestreute Dementis zurück. Nachforschungen, wer schon verhaftet sei, waren ergebnislos. Die Gefangenen von Les Milles schrieben erfreut, die Urlaubssperre sei aufgehoben. Verhaftete, die ich feststellen konnte, gehörten alle derselben Gruppe an: detachierten Fremdarbeitern, die, statt bei Bauern gegen einen bescheidenen Lohn zu arbeiten, dem Bauern eine hohe Rente zahlten, um von ihm zur vorgetäuschten Arbeit angefordert zu werden. Das bewies den Optimisten, dass eben nur Sünder gefasst würden, wie sie ja auch in Deutschland und Österreich gern geglaubt hatten, dass das KZ nur ‹asoziale› Elemente aufnimmt. Allmählich sickerten die Greuel von Paris2 durch, aber auch nur unbestimmt, und nun wurden die Optimisten die Panikmacher. Das Unglück der andern interessiert die Menschen nur, wenn sie zu seiner Zone gehören, und in den Diskussionen zwischen Optimisten und Pessimisten behielt Nietzsche recht, dass Argumente nur intellektuelle Selbstbehauptungen des Lebenswillens sind.

    Die Stadt war sommerlich leer, auf vielen Läden stand mit Kreide «En voyage» oder «Congé payé», aber am Nachmittag vor meinem Geburtstag walzte Charlotte mir zur Feier einen Kirschenstrudel aus, als mein Vetter Hans wie ein Gehetzter in unsere Wohnung stürzte:

    – Alles ist weg, rief er entsetzt, und ihr macht einen Wiener Strudel? Wir fahren nach Monte Carlo, ich beschwöre euch, kommt mit!

    Als ich hörte, dass ‹alle› nach Monaco gingen, war ich entschlossen zu bleiben. Mein Leben steht unter dem Gesetz des Abseitigen, wenn ich es breche, gefährde ich mich. Nie stand ich in den Reihen der kompakten Majorität, und auch die kompakten Minoritäten sahen in mir einen Fremdling. Ich konnte nie mit dem Strome schwimmen, und daher auch nicht nach Monte Carlo. Ich glaubte nicht, dass Polizei und Garde Mobile über die Mittel verfügten, in einer Nacht alle Wohnungen aufzubrechen. Für unsere Reise nach Cher und Indre hatte ich das letzte amerikanische Sicherheitsschloss samt Schrauben, ja sogar einen Schlosser gefunden, der es anbringen konnte. Ich beschloss, so gerüstet die Polizei abzuwarten, ihr aber unter keinen Umständen zu öffnen. Nur eine Gefahr bestand: Hansi. Täglich holte er früh vor 7 Milch, Brot und Weisskäse (die Zulage für seine Jahresgruppe) zum Frühstück. Sein Frühstück war ein kultischer Akt, zu dem er sich schon am Nachmittag in Gedanken sammelte. Da ihn sicher nichts von seinem Ritus abhalten konnte, legte ich alle Wohnungsschlüssel unter mein Kopfkissen, und zur Sicherheit hängte ich vor die verriegelte Tür einen Zettel: «En voyage», dann gingen wir schlafen.

    Am 26. August um 7 Uhr früh stieg eine schwere Patrouille die Treppe herauf, eine Garde Mobile las laut: «En voyage», und ohne zu klingeln stieg die Patrouille eine Treppe höher, klingelte, unbegreiflicher Weise wurde geöffnet, Charlotte hörte oben Schreien und Schluchzen, die Truppe verliess das Haus mit ihrem Gefangenen. Ich selbst habe von all dem nichts gehört, da ich erst um 8 Uhr erwachte. Meine Deportation habe ich verschlafen.

    Was war geschehn? Wir wussten nichts. Das Strassenleben war alltäglich. Hansi holte erleichtert Milch, Brot und Weisskäse, aber während wir beim Frühstück sassen, stürzte gegen 9 Ruth Sternau zu uns. Ihre Brust flog, das liebe, lichte Gesicht war gelb von Schweiss, der Mund hing kraftlos zur Seite. Sie musste sich setzen, um sprechen zu können. Ihr Hotel in der rue Fricero war nachts viele Male durchsucht worden, fast alles wurde verhaftet. Als Mutter eines zweijährigen Kindes blieb Ruth mit ihrem Mann verschont. Aber nicht lange. Gegen 6 Uhr früh wurde ihr Name von der Strasse gerufen, unten stand zwischen zwei Gendarmen ihre Freundin Frau Herzka. Man hatte ihr den Umweg am Hotel Dante vorbei in ihr Inferno gestattet zum Abschied nehmen. Sie weinte etwas hinauf und wurde weitergeschleppt. Ohne die Warnung Ruths wären wir zu Hause geblieben und später vielleicht abgeholt worden.

    Ich ging erst um die Ecke zur blanchisseuse, um die Strassen anzusehn. Da traten mir schon in der Rue Saint Philippe Gendarmen entgegen, die die Häuser mit Listen absuchten. Ich konnte noch gerade bei der Wäscherin eintreten, kauerte hinter einem hohen Stapel gebügelter Bettwäsche und stiess dort auf einen andern Versteckten. Kaum hatten die Gendarmen die Strasse verlassen, flüsterte die Büglerin am Fenster der Nachbarin zu: «Passé» – ich las das Wort von ihren Lippen, die Büglerinnen gaben es weiter, bis es uns erreichte. Wir rafften zu Hause einiges in 3 Handtaschen und nahmen die Tram zum Mont Boron. Dort stand ein Luxushôtel Castelle Miramare, das die Verhältnisse deklassiert hatten. Auf der grossen Terrasse über dem Meer hatten wir meinen Geburtstag gefeiert, um uns unauffällig der Besitzerin anzusagen, falls die Hitze anhalten sollte. Nun standen wir an der Haltestelle, unsere Tram wackelte den Boulevard Gambatta herunter, wir stürzen zu ihr, um uns hineinzudrängen, wie ein Blitz durchfuhr mich die Wagennummer: Mit einer der schönsten Zahlen des Lebens begann unsere Flucht in die Rettung, die sie verhiess.

    Die Promenade des Anglais in Nizza, um 1940. Munier, Nice.

    Charlotte Stössinger, geb. Pollak (1898–1984), 1930er Jahre. Hans Michael Freisager, Zürich

    Felix Stössinger, um 1946. Hans Michael Freisager, Zürich.

    Das Familienbüchlein der Eheleute Stössinger-Pollak, ausgestellt in Nizza im Jahr 1940. Hans Michael Freisager, Zürich.

    3. Unter fingierter Sorglosigkeit verbrachten wir den Tag auf der Hotelterrasse. Nie sah die Stadt herrlicher von oben aus als an diesem Tag entsetzlicher Verbrechen, an denen sie keinen Anteil nahm, wie die Natur an den ihren. Mir graute vor der Illusion der ruchlosen Maya, vor der uns die Upanishaden nicht genug warnen können. Auch das schöne Wetter ist ein Feind des Fortschritts und ein Verbündeter der Konterrevolution in Form des Hohenzollern- und Hitlerwetters. Warum hatte eine unbekannte Gnade gerade uns heil hier herauf gebracht? Unsere Blicke suchten ohne Unterlass vorsichtig die herrliche Strasse vor dem Hotel, die zur Corniche führt, ab, ob nicht vom Boulevard Carnot her die Garde Mobile uns suchen käme. Man konnte das Hotel auch rückwärts nach dem Walde zu verlassen, die hintere Strasse lag höher als die vordere, der Ausgang zu ihr lag in der 1. Etage. Freilich hätte uns die Flucht ins Verderben geführt. Erst später erfuhren wir, dass wenige Schritte entfernt die Strasse nach Monte Carlo schwer bewacht war, um Flüchtlinge zu fassen. Unser instinktives Bleiben auf dem Platz war wieder einmal unsere Rettung.

    Unsere Sorge war der unvermeidbare Augenblick der Ausfüllung der Meldebogen. Unsere besten Freunde hatten kein Telephon: Was hätte man schon sagen können? Ich rief das Schweizer Konsulat an, Herr Manz war in Marseille zur Eröffnung der Schweizer Messe. Der Hoteldirektor hörte auffällig zu. Ich fürchtete ihn. Ein alter Diener war vertrauenerweckend, ich gab ihm Briefe an Hima und Mme F., bei der Mimi vor ihrer Auswanderung nach Amerika zu Harry lange gewohnt hatte. Wie oft nannte sie sich «une grande amie de votre frère Félix». Jetzt erschien sie, um uns im Stiche zu lassen.

    Beim Mittagstisch erzählten sich die Gäste von Tisch zu Tisch, bei Fisch mit Mayonnaise, die Greuel des Tages. Frauen hatten sich vom Fenster oder unter die Elektrische geworfen, Mütter wurden den Kindern, Kinder den Müttern entrissen. «Quelles horreurs», sagte ein älterer Herr, «la France est retombée au moyen-âge.» Aber hätte er uns geholfen, wenn wir uns ihm deklariert hätten? Oder zwei anderen Flüchtlingen am Nebentisch, die die Nacht in einer Felsenhöhle des Mont Boron verbracht hatten?

    Endlich kam Hima, gut gelaunt, siegesgewiss, stolz, einer Mission zu dienen. Er brachte uns per Auto in seine Wohnung, der hastige Aufbruch verriet unsere Verhältnisse. Der Hoteldirektor war enttäuscht, dass wir schon gingen. «Warum haben Sie mir nicht reinen Wein eingeschenkt?», fragte er deutsch. «Ich bin Schweizer.» Er wollte damit, wie der Vizekonsul, sagen, dass ihm deshalb das Asylrecht heilig ist. Ich habe später an ihn denken müssen; vor allem in der Schweiz.

    In Himas grosser Wohnung hatten wir alle Platz. Und doch konnten wir bei ihm nur 2 Tage und Nächte bleiben. Er hatte sich zuviel zugemutet. Unsere Lebensmittelkarten konnte er nicht mehr abholen, weil inzwischen Emigranten bei diesem Anlass verhaftet wurden, obwohl 11 Punkte sie schützten. Aber da zu viele der Gesuchten entwischt waren, füllte man die versprochene Sendung Juden mit anderen aus, um nicht statistisch in Verzug zu geraten. So war die Rettung der einen der Tod der andern. Wer weiss, ob nicht Freunde von uns getötet wurden, weil man unser nicht habhaft wurde; es ist eben unmöglich, in der heutigen Welt zu leben, ohne schuldig zu werden.

    So konnte auch Hima nicht bleiben, wie er war. Gute Freunde wandten sich von uns ab. Menschen, die meinen Umgang gesucht hatten, kannten mich nicht mehr. Die Furcht wirkt ansteckend, denn Panik ist eine Krankheit. Abends beim englischen Radio, bei der Stimme der ‹France libre›, wandte mir Hima schuldbewusst den Rücken zu. Als Polizei im Hause eine Wohnung erbrach, um Zuhälter zu suchen, musste er ähnliches bei sich erwarten. Er war glücklich, uns das Versteck im Nebenhaus bei der Bretonin zu verschaffen und blieb bis zum letzten Augenblick unser Freund und Retter.

    In allem drückte sich, seitdem mir die Neue Zürcher zugefallen war, die Wendung aus. Ich hatte ein Ziel, die Mittel fanden sich, weil ich es wollte. Am Abend der Verheissung wagte ich mich endlich auf unsere Terrasse, um Luft zu holen. Wie angeschossen fiel ich zu Boden. Riesengross malte sich mein Schatten auf das Haus gegenüber. Wenn dort Freunde der verreisten Familie wohnten, konnten sie daraus, aber auch aus Licht, aus einer Veränderung der Fensterladen, aus irgend einer Umstellung auf deren Rückkehr schliessen und zu uns heraufkommen. Die frische Luft, der Anblick der unschuldigen Strassen, die Aufgabe, die mir zugefallen war, bestärkten mich im Entschluss, die Wohnung zu verlassen. Charlotte machte mich mit ihren kunstvollen Händchen auf der Identitätskarte um 11 Jahre älter, auch die Ereignisse hatten mein Aussehn vordatiert. Damit hatte ich die damalige Altersgrenze für Deportationen überschritten und war geschützt, ausser wenn die Strassenkontrolle Deportationslisten bei sich trug.

    Mit Himas Hilfe fanden wir bei Madame B. in der rue Verdi eine neue Wohnung. Die Appartements, von deren Vermietung sie lebte, kosteten bisher 1200 Francs. Sie verlangte erst 3000, stieg im Lauf des Gesprächs auf 4000, und fügte zuletzt hinzu, der Preis gelte für 1 Tag oder 1 Monat. Ein Russe bezahlte ihr bereits 6000 Francs, er war aus Bordeaux in einem Krankenauto für 75000 Francs hergekommen, die Hochsaison der Pogrome hatte vielversprechend eingesetzt.

    Carmen war endlich zurückgekehrt; heiter, wohlwollend, graziös war ihre Hilfe. Was man brauchte, brachte sie. Und nun versprach sie uns sogar echt gestempelte falsche Papiere. Sie gehörten damals noch nicht zu jedem echten Franzosen. Sie waren teuer, die grössten Ausgaben standen uns noch bevor. Das Geld ging zur Neige. Schwere Wege waren mir auferlegt. Treppauf, treppab, mit Kleidern und Bettwäsche und mittelmässigen Perlen Handel treiben, während Laval mit mir selber Handel trieb. Käufer waren nicht immer anzutreffen, oder sie bestellten mich wiederzukommen, ohne dass sie mein Risiko kannten. Ich sah der gefälschten Jahreszahl täglich ähnlicher. Endlich kamen die neuen Karten, sie machten mich zu einem Franzosen namens Steiner aus Forbach, domiziliert in Corbeil bei Paris. Unsere neuen Namen entsprachen unseren Monogrammen, Charlotte wusch nun auch unsere Lebensmittelkarten und schrieb sie um, so dass wir uns doppelt legitimiert glaubten.

    Mit den neuen Papieren wartete ich gespannt auf die Gelegenheit mich zu legitimieren, aber ich erschrak, als ich sie, völlig unerwartet, im Reisebureau zeigen musste, als wir Billette nach Chambéry vorbestellten. Aber noch war unsere Wohnung zu leeren. 5mal gingen wir in die rue de France und füllten 11 Koffer, die unser unvergleichlicher Hima wirklich aus dem Haus in seine Wohnung brachte. Wir wählten für diese Wege die Zeit, die mir gefahrlos schien, die Stunde des déjeuner, das droit sacré des kleinen Mannes, das letzte, das noch galt. In Himas Wohnung packten wir die Koffer um, wie zu einer Erholungsreise in die Schweiz.

    – Das ist keine Flucht, das ist eine Expedition, sagte Hima verstimmt. So sonderbar ist die Seele gemischt.

    Als alles fertig war, trieb mich eine unverständliche Sucht in die rue de France zurück. Noch einmal ging ich in die alte Wohnung. Ach, wie gern hätte ich hier Wurzeln geschlagen. Gas, Licht und Wasser waren gesperrt, die Hungerblockade hatte angefangen. Der Zettel ‹En voyage› war abgerissen. Ich erneuerte ihn, denn ich ging nun auf Reisen. Einen Augenblick sass ich in der verdunkelten Wohnung zwischen aufgerissenen Schachteln und ausgeplünderten Schränken. Plötzlich fasste mich eine panische Angst, von der Strasse aus beobachtet zu werden, oder beim Weggehn von der Bonne der Wahrsagerin gesehn und der Polizei denunziert zu werden. Ich lief weg und schloss nicht die Tür ab. Im Briefkasten lag eine Vorladung zur Polizei «pour une affaire très urgente». Ich fand meine Abreise dringender und verliess eine Stunde später Nice, zur Nachtfahrt nach Grenoble.

    Vor unserem Wagenfenster stand Hima im Sonnenbrand. Von seinem kahlrasierten Stresemannschädel floss der Schweiss wie unter einer Dusche in seinen Schillerkragen. Er war nicht zu bewegen den Platz zu verlassen. Er schaute auf die Bahnhofsuhr und sagte lächelnd:

    – In zwei Minuten endet meine Mission.

    Er blickte uns noch lange nach, ungewiss, ob wir in den Tod fuhren, oder ob er bei ihm zurückblieb.

    4. Es war der 17. September. 23 Tage hatten wir in Nice gefährlich gelebt. 14 Tage hatte ich an der Durchführung des Auftrags gearbeitet, der mich hiess, in die Schweiz zu fahren. Irren würde aber, wer glaubt, dass wir drei auf unseren reservierten Plätzen 2. Klasse wie ein Plakat ‹Menschen auf der Flucht› ausgesehn hätten. Carmen und Hima hatten uns mit zahllosen Delikatessen versehn. Das Coupé wurde von unserem Handgepäck beherrscht, bei dessen Abzählung ich mich verzweifelt fragte, wie man damit über den Stacheldraht klettert. Aber auch dieser Fehler erwies sich später als Mittel der Rettung.

    Gewiss, wir waren besorgt; aber in verschiedenen Graden. Die Furcht Charlottens war gering, die von Hansi gleich null. Beiden fehlte die Phantasie, sich die kommenden Ereignisse vorzustellen. Das war ihr bester Schutz, denn als es auf Tod und Leben ging, klappten sie zusammen. Der übervolle Zug bot auch einen gewissen Schutz vor der Zugskontrolle. Am Deportationstag überschwemmte die Garde Mobile alle Verkehrswege und -mittel und machte sich durch ihre wahllosen Belästigungen verhasst. Dabei waren die Agenten Vichys damals noch zum Teil naive Franzosen. Carmen war bei einer Streife im Autocar Zeuge folgender Vernehmung eines Flüchtlings:

    – Vous-êtes Juive, Madame?

    – Jamais de la vie.

    – Vous jurez sur la croix?

    – Je jure sur la croix.

    – Passez, Madame.

    Man war also noch immer in Frankreich.

    Unsere Fahrt ins Ungewisse war aber nicht ziellos. Am 17. früh war Charlotte eingefallen, ihre Kundin Madame O. um Rat zu fragen. Ihr Sohn lebte in der Schweiz, die Eltern sprachen ihn öfters an Grenzstationen. Aber an welchen? Sie sollte noch nicht zurück sein, wir sandten aber Hans zu ihr – auf alle Fälle. Zufällig war sie eines besonderen Umstands wegen einen Tag früher zurückgekehrt, liess mich sofort kommen und gab mir 3 wichtige Adressen: einen armenischen Chauffeur und passeur in Annemasse; ihre corsettière Mlle Léa, die ‹Arman› eruieren könnte; und den Namen des Polizeikommissärs von Thonon, Pierre Fillon. Als Jüdin war ihr schon damals der Aufenthalt im Departement Haute Savoie verboten; Vichy hatte diese deutschen Schmutzgesetze adoptiert. Aber Fillon richtete ihr das Aufenthaltsrecht für einige hundert Franken, wurde selbst schon bewacht und kam als passeur nicht in Frage.

    Mit unseren konkreten Reiseplänen sahen wir gewiss nicht besorgter aus als die anderen Passagiere in diesen Zeiten, als der junge Mann mit den italienischen Vogelaugen in der anderen Ecke, an dem ich beflissen vorübersah, da wir uns gegenseitig bekannt vorkamen. Mein verwischendes physiognomisches Vergessen hatte ihn unter ähnlich aussehenden Erinnerungen begraben. Aber, oh Schreck!, er neigte sich herüber und sagte: «Ich kenne Sie!» Charlotte sprang ein, es war der épicier der rue St-Philippe, bei dem wir zwar Kunden waren, aber nicht eingeschrieben. Die Rationierung hatte das französische Verhältnis zwischen Kaufmann und Kunden verändert, früher hatte man Kredit, wenn man als ami de la maison nur dem Vornamen nach bekannt war, jetzt war man mit Namen und Adresse bekannt und musste bar bezahlen. Unser épicier fuhr nach Grenoble auf den schwarzen Markt, ihn hatten die Verfolgungen in Nice tief verstimmt, er musste für seine untergetauchte Kundschaft neue Versorgungsquellen finden.

    Es war 7 Uhr abends, Mme B. hatte wohl schon unseren Abschiedszettel im Briefkasten gefunden: «Adieu et Grand Merci», aber wir machten uns Vorwürfe, weggefahren zu sein, ohne uns um das Schicksal anderer gekümmert zu haben. Was war aus Fania im Hôtel Everest geworden? Hatte sie der Abbé in seinem Bett versteckt? Hatte Casanova sie geschützt? So nannten wir einen spanischen Bel Ami, der Damen im Alter von 60–70 in seinem Zimmer, Laute spielend, in schwarzem Seidenpyjama erwartete, wenn sie ihm gebratenes Huhn brachten. Er verschob Devisen in die Schweiz, hatte eigene Kuriere und kannte sicher die besten Grenzübergänge. Hätten wir ihn nur besucht!

    Der Schnellzug zischte an den betörenden Schönheiten der Côte vorüber, ich hatte mir vorgenommen, am Coupéfenster einen langen Abschied von der douce France zu feiern. Aber was sind die Vorsätze unseres abstrakten Ich gegenüber dem wirklichen? Ich verabscheute alles, was ich sah: die mächtigen Kakteen, die Poesie der hässlichen wilden Ölbäume, die Burg von Cagnes, die Villa Renoires, die Landschaft, die jahrtausendelang formlos lebte, bis Cézanne erschien, sie sah und neu erfand. Ich ertrug nicht diese von sich selbst befriedigte Schönheit des Meers, die friedlichen Landhäuser, die Einrichtungen des Wohlstands. Groll wütete in mir gegen alles, was ich 20 Jahre liebend Frankreich nannte. Mit welchen Hoffnungen war ich vor 40 Monaten auf meiner Flucht aus Prag vor den Deutschen über Basel hierher zu Mama und Mimi die gleiche Strecke gefahren. Und welche Antwort gab dieser Krieg den wenigen, für die noch das Wort Thomas Jeffersons Geltung hatte: «Jeder zivilisierte Mensch hat zwei Vaterländer, das eigene und Frankreich» – jetzt, wo ich keins mehr hatte?

    Und doch konnte ich das oft von mir veröffentlichte Wort nicht widerrufen: Solange Frankreich steht, haben wir kein Recht zu verzweifeln. Aber war kein Grund zu verzweifeln, als sich das Mutterland der Kathedralen und der Menschenrechte mit dem Gorilla paarte?

    Obwohl ich tausendmal schlimmer als alle dachte, die Frankreich jetzt herabsetzten, gab ich ihnen doch kein Recht dazu. Nur wer Frankreichs Grösse wollte, darf Frankreichs Schuld verdammen. Die europäische Linke, die seit dem Ostpakt Barthous3 mit der Sowjetunion auf Frankreich grosse Hoffnungen setzte, hatte Frankreich 15 Jahre diffamiert und zu einer Politik der Abrüstung, des Verzichts auf Reparationen, der Räumung des Rheinlands und der Preisgabe von Versailles gedrängt. Die Lügen, die von 1918–1934 Frankreich als Erben des deutschen Militarismus verleumdeten, haben sein Selbstbewusstsein untergraben und Tendenzen der Kapitulation lange vor Pétain begünstigt.

    Ohne es zu wissen, hatte die europäische Linke ihren Idealismus in den Dienst der britischen Aussenpolitik gestellt, welche die französische Plusmacht von 1918 durch Stärkung der deutschen Minusmacht, durch Begünstigung des deutschen Nationalismus und Militarismus zu reduzieren suchte. Ich gehörte in Deutschland seit 1916 zum verfemten Mitarbeiterkreis der Sozialistischen Monatshefte, deren geistiges Haupt ihr Herausgeber Joseph Bloch war. Im wirklichen Interesse Deutschlands und der ganzen Welt – einschliesslich des Britischen Empire – erwarteten wir von einer französischen Politik der Stärke, gegründet auf dem moralischen Fundament des Vertrags von Versailles, die Überwindung der Nationalstaaten und ihre föderative Zusammenfassung zu neuen, grösseren Wirtschaftseinheiten, die Bloch Imperien nannte. Nicht die Krise des ‹Kapitalismus›, nicht die Stockung der ‹Weltrevolution›, nicht Militarismus und Autokratie haben die Welt erschüttert, sondern die ihnen zugrunde liegende Zentralkrise des europäischen Nationalstaats, der den modernen Produktionsverhältnissen zu eng geworden ist, so dass er sie unterdrückt oder sie ihn sprengen. Auf diese Formel lassen sich alle wesentlichen Krisenerscheinungen zurückführen.

    Unter stabilen aussenpolitischen Verhältnissen, die aber nicht im Interesse der Balance of Power lagen, hätte sich die Prophezeiung Victor Hugos von 1871 1919 erfüllt: durch Reparation zur Föderation. Die britische Politik widersetzte sich dieser Lösung, weil sie die Föderation mehr fürchtete als Spannungen zwischen den Grossmächten; die Politik von Weimar schuf die Republik der Revanche; die französische Linke war gewiss nicht weniger patriotisch als die französische Rechte, wagte aber aus blindem Formalismus nicht, von den Mitteln Gebrauch zu machen, die allein imstande gewesen wären, einen konstruktiven Frieden herbeizuführen. Ihr

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