Hitler in Pasewalk: Die Hypnose und ihre Folgen
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Book preview
Hitler in Pasewalk - Bernhard Horstmann
Bernhard Horstmann
Hitler in Pasewalk
Die Hypnose und ihre Folgen
Droste Verlag
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2017 Droste Verlag GmbH, Düsseldorf
Covergestaltung: unter Verwendung eines Fotos aus der Bayerische Staatsbibliothek München/Bildarchiv
Gesamtgestaltung/Satz: Droste Verlag
eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-7700-4147-3
www.drosteverlag.de
Vorbemerkung
„Nachdem sich der publizistische Wirbel
um ‚Das Doppelleben eines Diktators‘,
um die angebliche Homosexualität Hitlers,
gelegt hat, ist es an der Zeit,
sich den relevanten Themen der
Zeitgeschichte zuzuwenden."
Tillmann Bendikowsky
Vorbemerkung
Die auf unmittelbarer ärztlicher Befasstheit mit dem Patienten beruhende psychiatrische Diagnose über Hitler stammt aus dem Jahr 1918 und lautet: „Psychopath mit hysterischen Symptomen". Sie wurde Ende des Ersten Weltkriegs von einer psychiatrischen Kapazität, Professor Dr. med. Edmund Forster, später Ordinarius für Psychiatrie und Direktor der Nervenklinik der Universität Greifswald, gestellt. Forster entlarvte Hitlers Legende einer angeblich schweren Gasvergiftung der Augen, befreite ihn stattdessen durch ein genial angewandtes Hypnoseverfahren von einer hysterischen Erblindung und griff dadurch ohne Absicht und Willen in tragischer Weise in den Lauf der Geschichte ein.
In memoriam
Der Psychiater, Professor Dr. Edmund Forster,
wurde als neurologischer Chefarzt der psychiatrischen Abteilung des Reservelazaretts Pasewalk zum Entdecker von Hitlers unheilbarer psychopathologischer Persönlichkeitsstörung, heilte jedoch deren hysterische Symptomatik und wurde so zum Mitwisser und unbewussten Erfüllungsgehilfen von Hitlers Psychopathie. Von Hitler deshalb gnadenlos verfolgt, erschoss er sich am 11. September 1933 in seiner Wohnung in Greifswald.
Dr. med. Ernst Weiß, Arzt und Schriftsteller, übernahm im Pariser Exil, kurz vor Forsters Selbstmord im Sommer 1933, dessen privates Protokoll über seine Begegnung mit Hitler mit der wörtlich genauen Beschreibung der von Forster an Hitler durchgeführten Hypnose. Er verarbeitete diesen authentischen ärztlichen Bericht in einem Roman mit dem Titel „Der Augenzeuge" und beging aus Furcht vor Hitlers Rache am 14. Juni 1940 Selbstmord, als deutsche Truppen in Paris einrückten.
Oberst Ferdinand Eduard v. Bredow suchte und fand in Ausführung eines Befehls des Reichswehrministeriums den amtlichen Beweis für Hitlers frühe Psychopathie in den militärärztlichen Unterlagen über Hitler und stellte diese schon vor dessen Regierungsantritt 1932 sicher, so dass die Geheime Staatspolizei zum Mord schreiten musste, um ihrer habhaft zu werden. Ferdinand v. Bredow starb von Mörderhand in der Nacht zum 1. Juli 1934 in Berlin-Lichterfelde.
General der Infanterie Kurt v. Schleicher,
Reichswehrminister und einer der frühen Gegenspieler Hitlers, gab den Befehl zur Aktensuche und hatte Kenntnis von ihrem Inhalt. Er wurde zusammen mit seiner Ehefrau am 30. Juni 1934 in seiner Wohnung in Berlin ermordet.
Einführung
Einführung
Wer die Absicht hat, sich historisch Hitler als bürgerlicher Person vor seiner Machtübernahme zu nähern, trifft auf große Schwierigkeiten. Hitler unterlag einer zwanghaften Obsession, Unterlagen „an sich zu ziehen", die geeignet waren, seine Vergangenheit in einem negativen Licht erscheinen zu lassen. So entdeckte man bald, dass z. B. die sechs Aktenbände der Münchner Polizei über ihn an Heinrich Himmler ausgeliefert wurden, der sie Hitler dann persönlich übergab. ¹ Nicht viel anders war es mit seinen österreichischen Militärakten, die im Mai 1938 vom Wiener Polizeipräsidenten an das „Reichskommissariat für die Wiedervereinigung" ausgeliefert werden mussten. ²
Auf diese Quellensituation wurde ich gleich zu Anfang meiner Nachforschungen durch eine Mitteilung des Bundesarchivs unmissverständlich hingewiesen: „Auf Ihr Schreiben vom 21. März d. J. kann ich lediglich erwidern, dass Ihre Überlegung, die Krankenunterlagen Hitlers müssten oder könnten sich theoretisch im Militärarchiv befinden, zwar durchaus logisch erscheint. Doch selbst für den Fall, dass sie sich einst (vermutlich bis 1933) in der zentralen diesbezüglichen Sammelstelle, dem heute noch als Abwicklungsbehörde bestehenden Krankenbuchlager Berlin …befunden haben, sind sie, wie grundsätzlich alle seiner Zeit ermittelbaren personenbezogenen Dokumente zu A. H., 1933 ff. ‚aus dem Verkehr gezogen‘ und unter – wessen auch immer – Verschluss genommen worden." ³
Hitlers Methode war es, die seiner Reputation abträglichen Aktenbestände durch hervorragende Fachleute ausfindig machen zu lassen und sie durch raffinierte Ausnutzung komplizierter Zuständigkeiten unter seine Kontrolle zu bringen, wo sie in eigenen Panzerschränken bis auf weiteres verschwanden. Erst im April 1945, kurz vor Ende des Krieges, sind sie durch seinen persönlichen Adjutanten, SS-Obergruppenführer Julius Schaub, nach Berchtesgaden geschafft und dort auf dem „Berghof" verbrannt worden. ⁴
Einen besonderen Rang innerhalb dieser Praktiken nehmen sämtliche Unterlagen und Personen ein, die über jene 28 Tage hätten Auskunft geben können, die Hitler vom 21. Oktober bis zum 19. November 1918 angeblich mit einer schweren Senfgasvergiftung der Augen im Reservelazarett Pasewalk verbracht hat, und zwar auf der Abteilung 6, die, einer begründeten Wahrscheinlichkeit nach, eine Sonderabteilung zur psychiatrischen Behandlung psychisch geschädigter Kriegsopfer gewesen ist. ⁵ Das vorliegende Buch behandelt diese Episode im Leben Hitlers, die in seinem Buch „Mein Kampf" auf nur fünf Seiten geschildert wird und folglich zu kurz gekommen ist, da sie nicht einen der unwichtigsten, sondern den folgenschwersten Lebensabschnitt Hitlers darstellt.
In diesen 28 Pasewalker Tagen hat sich bei Hitler eine der stärksten und auffallendsten seelischen Transformationen ereignet, die jemals bei einer geschichtlichen Person mit ähnlichem Volumen der Aktionen und deren Auswirkungen wie bei Hitler beobachtet worden sind. Der Frontsoldat des Ersten Weltkriegs wird von seinen Kameraden und Vorgesetzten als ruhiger, in sich gekehrter, gehorsamer, unauffälliger, zuverlässiger Untergebener geschildert, der nicht einmal den einfachen Rang eines Unteroffiziers erreicht hat, da er angeblich keinerlei Führungseigenschaften besaß.
Der Hitler, der das Pasewalker Lazarett verließ, war erfüllt von der Sprengkraft einer ungeheuren Willensstärke, von der Überzeugung, er, und nur er, könne das Schicksal des zusammengebrochenen Deutschlands wenden, und von dem abgrundtiefen Hass auf die „Novemberverbrecher, die vermeintlich diesen schmählichen Verrat begangen hatten. Anlässlich eines Regimentstreffens Anfang der 20er-Jahre bescheinigt ihm der ehemalige Regimentsadjutant: „Daß er inzwischen ein Anderer geworden war, konnte ich auf den ersten Blick feststellen.
⁶ Und sein ehemaliger Kompaniefeldwebel Max Amann sagt aus: „So hatte ich ihn vorher nie gekannt. Es war ein unbekanntes Feuer, das in ihm brannte."
Aber viel mehr noch: Eine der wenigen konkreten Passagen in „Mein Kampf schildert den Augenblick, als der Geistliche die Patienten des Lazaretts über den an der Westfront abgeschlossenen Waffenstillstand von Compiègne unterrichtet. Hitler beschreibt hier den Vorgang, wie er in Verzweiflung fällt und erblindet, überaus glaubhaft. Dieser Moment war aber kein Rückfall in eine vorgeblich ursprünglich erlittene Senfgaserblindung an der Front, sondern es handelte sich um einen psychotischen Schub mit hysterischer Reaktion. Und nun ereignet sich nach Hitlers Legende ein „Wunder
, bei dessen Erwähnung Literatur und Forschung noch heute bis zu den neuesten biografischen Werken von Matussek/Marbach ⁷ und Ian Kershaw ⁸ im Nebel stochern. Innerhalb von drei Tagen eines vollkommenen seelischen Zusammenbruchs und totaler Erblindung wird der verzweifelte Hitler von seiner Erblindung und seinen Komplexen befreit, bereits am 13. November „kriegsverwendungsfähig" geschrieben ⁹ und am 19. November als vollständig geheilt in die Heimat entlassen.
Die Sichtung schon vorhandenen Materials mit neuen Erkenntnissen und Indizien hat die Unmöglichkeit dieser Deutung ergeben. Es geschah kein Wunder. Vielmehr wurde Hitler im Pasewalker Lazarett durch den damals schon sehr bekannten Bonhoeffer-Mitarbeiter, Marine-Stabsarzt DS II, Professor Dr. Edmund Forster, als „Psychopath mit hysterischen Symptomen" diagnostiziert und durch eine mit großer Perfektion ausgeführte Hypnose, deren posthypnotische Suggestionen und die dabei aufgetretene Amnesie unabsehbare Folgen gezeitigt haben, innerhalb einer knappen Stunde von seiner Erblindung geheilt und zu der aktiven und selbstbewussten Überpersönlichkeit aufgebaut, wie ihn die Welt zu ihrem Schrecken alsbald erlebt hat. ¹⁰
Hierüber waren Aufzeichnungen entstanden. Zum einen die militäramtlichen „Krankenblätter" seitens der Lazarettverwaltung und zum anderen aber auch private Notizen Professor Forsters über seine Begegnung mit Hitler. Beide sind im Original nicht mehr aufzufinden, weil 1932 das Interesse der militärischen Opposition an ihrem Besitz und ab 1933 das Interesse Hitlers an ihrer Vernichtung, ungeachtet der darüber entstandenen Legendenbildung, auf jeden Fall zu ihrem Verschwinden geführt haben.
Gleichwohl gibt es eine Reihe wichtiger Tatsachen, die zwar im Einzelnen allgemein bekannt, in ihrem Zusammenhang aber geeignet sind, ein neues Licht auf jenen „dunklen Punkt in Hitlers Lebensgeschichte zu werfen, dessen Vorhandensein in Bezug auf seinen Lazarettaufenthalt in Pasewalk von der neueren Forschung allgemein angenommen wird. Man kann sich dabei auf Tatsachen beziehen, wird andererseits aber auch Indizien zu würdigen haben. Unter Indizien versteht man Umstände, aus denen auf das Vorliegen bestimmter Sachverhalte geschlossen werden kann. Darüber hinaus gibt es Umstände, die einerseits auf das Vorliegen bestimmter Sachverhalte schließen lassen, andererseits aber bei vernünftiger Betrachtung die Möglichkeit eines anderen als des indizierten Sachverhalts ausschließen, so genannte „zwingende Indizien
.
Autor und Verlag erklären hierzu übereinstimmend, dass diese Untersuchung die Darstellung von Tatsachen zum Gegenstand hat, deren Kenntnis im Interesse objektiver Geschichtsbetrachtung notwendig erscheint. Nicht die Absicht des Buches ist es hingegen, aus diesen Tatsachen eine Bewertung der Moral, des Charakters oder der Psyche Adolf Hitlers abzuleiten oder gar Rückschlüssen aus diesen Tatsachen vorzugreifen, die bezüglich der psychologischen Kausalität der psychiatrischen Medizin überlassen bleiben.
Ich bin der Überzeugung, dass die auf bisher unbekanntes Material, neue Erkenntnisse, Tatsachen und zwingende Indizien gestützte Arbeit im Ergebnis der historischen Realität entspricht. Die Untersuchung beginnt daher mit einer Darstellung der Umstände, die zu der allgemein verbreiteten Auffassung geführt haben, die Ereignisse während Hitlers Aufenthalt in Pasewalk seien historisch bedeutungslos gewesen, und mit dem Ergebnis eigener Überlegungen, die mich zu einer gegenteiligen Auffassung kommen ließen.
Kapitel I
Die Geburt einer Legende
Die Vorgänge vom Herbst 1918 im Königlich Preußischen Reservelazarett zu Pasewalk in Pommern, wo der Gefreite Adolf Hitler vom 21. Oktober bis 19. November als Psychopath mit hysterischen Symptomen psychiatrisch behandelt und dann als geheilt nach München entlassen wurde, stellen bis heute einen dunklen Punkt in der Hitlerforschung und – literatur dar.
Diese Tatsache beruht darauf, dass Hitler alle mit diesem Zeitabschnitt befassten Personen und Dokumente radikal beseitigen ließ und diesen Zeitraum in seiner Autobiografie „Mein Kampf" teilweise entstellt und teilweise überhaupt nicht schildert.
Dies hat schon frühzeitig zu Fehldeutungen geführt. Acht Jahre vor der maßgeblichen Biografie „Hitler von Joachim C. Fest erschien das Buch „Die Frühgeschichte der NSDAP
von Werner Maser, der sich erstmals überhaupt mit dem Komplex Pasewalk befasst. ¹¹ Hier heißt es: „Ähnlich wie mit der Behauptung, daß Hitlers EK I erschwindelt worden sei, verhält es sich mit der (auf General v. Bredow zurückgehenden) Darstellung, dass Hitlers (vorübergehende) Erblindung im Oktober 1918 ausschließlich ‚hysterischer Art‘ gewesen sei. Sicherlich hat Hitler, der seine Zukunft in der Gestaltung künstlerischer Werte sah, während seines Aufenthaltes im Lazarett seelisch besonders gelitten und unter dem Schrecken, für immer zu erblinden, einen Augenblick tatsächlich seine Fassung verloren. Aber seine Augenerkrankung hatte mit Hysterie nichts zu tun, sondern war nach seinen Militärpapieren die Folge eines feindlichen Gasbeschusses bei La Montagne. In der dazu gehörigen Anmerkung 377 heißt es weiter: „Persönliche Mitteilung von General Vincenz Müller, dem von Bredow berichtete, im Auftrag Schleichers Nachforschungen angestellt zu haben.
Dieser Text impliziert, dass die Behauptung einer hysterischen Erblindung entweder von Müller oder von Bredow ebenfalls „erfunden" worden sei, und verweist die Behauptung einer hysterischen Erblindung bei Hitler in den Bereich des Belanglosen und Fabulösen.
Und genau so wurde sie dann auch von Fest in seiner 1973 erschienenen großen Hitlerbiografie übernommen. Darin heißt es ¹²: „Der fraglos niederschmetternde Eindruck, den die unvermittelte Wendung des Kriegsgeschehens auf ihn (Hitler) gemacht hat, ist sogar Anlaß zu der Vermutung gewesen, die Erblindung von 1918 sei, teilweise zumindest, hysterischer Natur gewesen, und Hitler selber hat solchen Überlegungen auch gelegentlich einige Nahrung gegeben. In den dazugehörenden Anmerkungen 122 und 125 heißt es dann weiter: „Bedauerlicherweise ist die Krankenakte Hitlers schon vor 1933 verschwunden und seither nicht mehr greifbar gewesen. Hitlers Militärpapiere verzeichnen lediglich kurz, daß er ‚gaskrank‘ gewesen sei.
Und weiter unten: „Vgl. dazu im übrigen auch W. Maser ‚Frühgeschichte‘ S. 127, der eine persönliche Mitteilung von General Vincenz Müller erwähnt, der zufolge General von Bredow im Auftrag Schleichers ermittelt haben soll, daß Hitlers Erblindung ausschließlich ‚hysterischer Art‘ gewesen sei. In der Kriegsstammrolle wird Hitler dagegen als verwundet ‚gaskrank‘ bezeichnet."
Damit war die Legende geboren. Bei der zentralen Gewichtung von Fests biografischem Werk in der deutschen und internationalen Hitlerliteratur kursierten von 1973 an die Formulierungen: „sogar Anlass zu der Vermutung gewesen, „gelegentlich einige Nahrung gegeben
, „ermittelt haben soll, „wird Hitler dagegen als verwundet ‚gaskrank‘ bezeichnet
. Der erste wichtige Hinweis auf eine andere Einschätzung als des von Maser in die Welt gesetzten und von Fest übernommenen Zweifels verschwand in der Versenkung.
Allerdings gab es im Deutschland der frühen Nachkriegsjahre Andeutungen über die Pasewalker Vorgänge, die Rückschlüsse darauf zuließen, dass dort Ereignisse von außerordentlicher Tragweite stattgefunden hatten. Im Jahre 1985 wurde ich aufmerksam auf die Beschreibung einer dramatischen Szene zwischen den beiden Generalen Kurt Freiherr v. Hammerstein und dem damaligen Reichswehrminister Kurt v. Schleicher. Sie schilderte eine Kontroverse, die mit einer Warnung Hammersteins an Schleicher vor einer Beschlagnahme von Hitlers Pasewalker Lazarettpapieren abschloss und mit den drastischen Worten v. Hammersteins endete: ‚Wenn ihr die nicht zurückgebracht habt, bevor Hitler zur Macht kommt, sind Bredows und dein Kopf keinen Schuß Pulver mehr wert.’ Diese Szene übernahm ich in meinen Roman „Die Nacht von Barbarossa (S. 323f). Der offenkundige Zusammenhang zwischen der Beschlagnahme von Hitlers Pasewalker Lazarettakten, der Warnung v. Hammersteins und der späteren Ermordung der beiden Generale ließ mir keine Ruhe. Als ich die Vorarbeiten für dieses Buch begann, entsann ich mich der lobenden Zustimmung von Frau Lonny v. Schleicher zu meiner damaligen Romanfassung und befragte sie, ob sie sich an diese Ereignisse noch erinnern könne. Frau v. Schleicher berichtete mir, ihr sei ein Gespräch in Neu-Babelsberg in Erinnerung, wonach 1924 während Hitlers Festungshaft ihn belastende Krankenunterlagen eine Rolle gespielt hätten. Da für Hitlers Hochverratsprozess nach dem 9. November 1923 und für den anschließenden Strafvollzug die militärischen Papiere aus Pasewalk beigezogen und Verhandlungsgegenstand waren, spricht alles dafür, dass die in dem von Lonny v. Schleicher bezeugten Gespräch genannten Unterlagen tatsächlich die brisanten Pasewalker Papiere waren. Dies alles bestärkte mich in meiner lange gehegten Vermutung, dass hinter solchen Hinweisen wohl doch bedeutendere historische Tatsachen steckten als die bis heute unaufgeklärte Phase von Hitlers Aufenthalt in Pasewalk und die vielfach fälschlich als „Wunder
zelebrierte Blitzheilung seiner angeblich traumatischen Erblindung nebst totaler Wesensveränderung innerhalb von drei Tagen. Denn die Lazarettakten Pasewalk, von denen die beiden Generale in ihrer Auseinandersetzung gesprochen hatten, hat es tatsächlich gegeben.
Anfang der 30er-Jahre des vorigen Jahrhunderts herrschte in den Berliner Medien eine lebhafte Fluktuation. In der zum Hause Ullstein gehörenden Vossischen Zeitung stürzte Chefre-dakteur Georg Bernhard über eine gegen die Frau von Franz Ullstein angezettelte Spionageaffäre. Hans Zehrer sollte die Nachfolge antreten, lehnte dies aber aus Loyalitätsgründen Bernhard gegenüber ab und ging als Chefredakteur zusammen mit Friedrich Wilhelm v. Oertzen zur Täglichen Rundschau, die kurz vorher von Reichswehrminister v. Schleicher erworben worden war, um über ein offiziöses Sprachrohr für die Interessen der Streitkräfte verfügen zu können. ¹³ Zehrer blieb aber gleichzeitig auch als Chefredakteur bei der Monatsschrift Die Tat, einem Sprachrohr für reaktionär-nationalistisches Gedankengut, das sie durchaus in die Nähe Schleichers rückte.
In den Redaktionssitzungen zur politischen Ausrichtung der Rundschau spielte deren Haltung insbesondere der immer stärker heranwachsenden NSDAP gegenüber eine entscheidende Rolle. Für Schleicher war es von Bedeutung, dass besonders F.W. v. Oertzen dieserhalb schon Recherchen angestellt hatte. Oertzen konnte glaubwürdige Hinweise dafür liefern, dass es über Hitlers Lazarettaufenthalt in Pasewalk im Oktober/November 1918 noch Krankenblätter gab, wonach tatsächlich die Schilderung Hitlers über eine schwere Senfgasvergiftung durch englische Artillerie, die die nationalsozialistische Propaganda in jenem überhitzten Sommer 1931 in großem Umfang heroisierend verbreitete, ernsthaft in Zweifel zu ziehen war.
Schleicher machte von dieser ihm gebotenen Gelegenheit, belastendes Material gegen Hitler und seine an die Macht drängende Partei in die Hand zu bekommen, unverzüglich Gebrauch. ¹⁴ Er beauftragte den leitenden Offizier seiner Abwehrabteilung, den damaligen Oberst Ferdinand v. Bredow, den Hinweisen v. Oertzens nachzugehen und sich auf die Suche nach diesen Krankenakten Hitlers zu begeben. Oberst v. Bredow und seine professionell arbeitende Abwehrabteilung hatten alsbald Erfolg. Die Papiere enthielten wirklich die ersten sensationellen Hinweise darauf, dass die Behauptungen Hitlers über die Ereignisse im Oktober und November 1918 in Pasewalk nicht nur nicht zutrafen, sondern darüber hinaus eine Wahrheit verdeck-ten, die in ihrem dramatischen Umfang erst Jahrzehnte später erkannt werden sollte: die militäramtliche Dokumentation, dass der Gefreite Hitler vom 21. Oktober bis zum 19. November dort Patient gewesen war und dass die über ihn gestellte Diagnose „Hysteriker mit entsprechenden Symptomen gelautet habe. Dies schildert H. J. Berndorff in seinem Tatsachenbericht „General zwischen Ost und West
(vgl. Anm. 14).
Dem Verlauf der weiteren Ereignisse etwas vorgreifend, soll an dieser Stelle dargelegt werden, welche immense Bedeutung dieser Aktenfund durch Offiziere der Reichswehr für Hitler und für die Geheime Staatspolizei, seinem verlängerten Arm, besitzen musste. Es ist unstrittig, dass der offensive Eroberungskrieg gegen die Sowjetunion schon bei seiner Machtergreifung im Januar 1933 zu den integralen Bestandteilen von Hitlers visionären Zielsetzungen gehörte. Er hat dies am 3. Februar 1933 in einer Ansprache vor der gesamten Generalität der Reichswehr expressis verbis ausgesprochen und auf der Kriegskonferenz vom 5. November 1937 in Einzelheiten bekräftigt. ¹⁵ Es ist unschwer, sich vorzustellen, was ein dokumentierter Beweis, der oberste Kriegsherr solcher Planungen sei Hysteriker, in den Händen oppositioneller Offiziere für die ausschweifenden Pläne Hitlers bedeutet hätte. Sein Krieg hätte nämlich nicht stattfinden können. Denn trotz der Euphorie, die die Aufrüstung bei den Generalen der Kaste in Erwartung der Wiederherstellung alter Privilegien ausgelöst hatte, hätte es führende Militärs gegeben, die sich dem Oberkommando eines erwiesenen Hysterikers widersetzt hätten. Zumindest wäre dies auf der Kriegskonferenz vom 5. November bei den Teilnehmern Werner v. Fritsch für das Heer, Karl Dönitz für die Marine und Konstantin v. Neurath für die auswärtige Politik zu erwarten gewesen.
Es waren die von der Abwehrabteilung der Reichswehr sichergestellten Unterlagen, die den Anlass zu jener Auseinandersetzung zwischen den befreundeten Generalen v. Schleicher und v. Hammerstein gaben. Aus ihnen ging eindeutig hervor, dass der Gefreite Hitler „vorgäbe, infolge einer Senfgasvergiftung erblindet zu sein. Niemals habe der Gefreite indessen an einer Gasvergiftung gelitten. Seine Krankheit sei Hysterie und seine Erblindung eine hysterische Erblindung. „Zum Vorgesetzten untauglich
, vermeldete der behandelnde Arzt.
Über Jahrzehnte hinweg hat sich niemand ernsthaft mit der Frage beschäftigt, wie ein behandelnder Arzt eines Reservelazaretts es sich erlauben konnte, ein Urteil darüber abzugeben, ob einer seiner Patienten für die Position eines militärischen Vorgesetzten geeignet sei oder nicht, denn eine solche Aussage stellt einen psychiatrischen Status dar und nicht einen physiologischen. Auf diese Frage gab es nur zwei Antworten: Entweder war diese Aussage eine ungeheure Anmaßung, oder sie wurde von einer Person abgegeben, die dazu in hohem Maße befähigt und befugt war. Letzteres war der Fall.
An der Zuverlässigkeit der Überlieferung dieser Vorgänge besteht nicht der geringste Zweifel. Ihr Gewährsmann, H.R. Berndorff, war Journalist und zu der fraglichen Zeit als Reporter bei der Vossischen Zeitung tätig, also hautnah am Pulsschlag der Ereignisse. Berndorff schreibt zwar, man hätte den Namen des behandelnden Arztes ermittelt, aber leider hat er in seiner Niederschrift dessen Namen und wissenschaftlichen Rang nicht genannt. So blieb die Identität der zentralen Persönlichkeit jener Ereignisse bis weit in die 70er-Jahre des vorigen Jahrhunderts vor der Weltöffentlichkeit verborgen.
Das umso mehr, als die Krankenblätter, die v. Bredow auf v. Schleichers Anordnung entdeckt und sichergestellt hatte, nach Hitlers Machtübernahme am 30. Januar 1933 nicht mehr aufgefunden wurden. Um ihren Verbleib haben sich Legenden gebildet. Auch Max Amann, Hitlers Vertrauter und später Präsident der Reichspressekammer, hat als Zeuge in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen bestätigt, dass die Pasewalker Papiere auf Veranlassung v.