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Ob Smartphone, Tablet oder Computer – über das Internet leben, lieben und kommunizieren wir. Was aber, wenn wir keine Geräte mehr bräuchten, um online zu sein? Was würdest du tun? Genau diese Erfahrung macht die 17-jährige Sophie und gerät schnell in einen rasanten Strudel aus Angst und Faszination. Gejagt von einer geheimnisvollen Organisation begibt sie sich auf eine abenteuerliche Flucht quer über den Globus. Zusammen mit dem smarten Franzosen Jean setzt Sophie alles daran, dem Ursprung ihrer Fähigkeiten und dem Rätsel um ihre Vergangenheit auf die Spur zu kommen.
\\Danksagung
Sophie beobachtete den blonden, blauäugigen Jungen dabei, wie er quer durch die Cafeteria auf sie zusteuerte. Jason. Er war der eine Typ, den jeder Junge an der Green River High zum Freund und jedes Mädchen unter ihrer Bluse haben wollte. Der Held der High School. Der Sieger unter den Siegern. Mit lässigen Schritten, hier und da kurz jemandem zuwinkend, schlug er eine Schneise durch die Schülerschaft und hielt tatsächlich geradewegs auf sie zu.
Sophie wusste genau, was nun geschehen würde. Und hätte Jason diese Idee vier Monate früher gehabt, wäre sie vermutlich sogar nervös geworden, hätte gehofft, ihr Lippenstift sei noch genauso frisch wie am Morgen. Sie hätte kokett zu Boden geschaut und so getan, als bemerke sie ihn nicht. Ihr Puls wäre schneller gegangen und im Geiste hätte sie bereits die ausschweifenden Erzählungen zusammengesponnen, welche sie ihrer besten Freundin Beth später brandheiß servieren würde. Hätte, wäre, sollte …
Jason war nicht vor vier Monaten auf die Idee gekommen, sie vor allen anderen Schülern der Green River High anzubaggern. Mitten zur Stoßzeit, zwischen den Stunden. Er hatte sich den denkbar ungünstigsten Tag für dieses Unternehmen ausgesucht. Einen schwarzen Tag voller Frustration und zermürbender Qual. Einen Tag, an dem sie sich eher die Zunge abgebissen hätte, als mit jemandem zu reden, selbst … selbst wenn es sich dabei um Jason handelte.
Sieger-Jason. Traummann-Jason.
Mieses-Timing-Jason.
»Hey«, entfuhr es Helden-Jason, so als würden sie sich jeden Tag auf diese Weise begrüßen, dabei nahm er gewöhnlich kaum Notiz von ihr.
Sie beäugte ihn kritisch und sann über ihre Möglichkeiten nach. Nichts zu erwidern, käme einem Skandal gleich, also überwand Sophie sich.
»Hey.«
»Was treibst du so?«, fragte er in lässigem Plauderton.
Erwartungsvoll starrte Jason sie an. Offenbar meinte er es ernst. Er hatte wirklich vor, mit ihr zu reden. Das war ein Präzedenzfall. Eine Anomalie!
Als sie nichts erwiderte, setzte er einen mitleidigen Blick auf und schwang sich auf den freien Stuhl neben Sophie. Scheinbar deutete er ihr Schweigen als die schüchterne Version einer Einladung. Seine plötzliche Nähe ließ sie leicht zur Seite zucken. Sie konnte sein Haargel riechen, so sehr rückte er ihr auf die Pelle. Zu sehen war davon allerdings kaum etwas. Er wusste definitiv mit Haarstylingprodukten umzugehen. Mit Menschen dafür umso weniger.
»Du, das mit deinen Eltern ist echt scheiße. Tut mir voll leid. Kommst du klar?«
Um seine Worte angemessen zu unterstreichen, legte er noch eine Portion Mitleidsblick nach.
Er sah schon ziemlich umwerfend aus, wie er so dasaß. Seine durch hartes Training geformten Muskeln zeichneten sich unter dem dünnen grauen Shirt ab. Er legte den Kopf leicht schief, um seinen Hundeblick noch besser in Szene zu setzen, wodurch ihm eine goldblonde Haarsträhne ins Gesicht fiel, was die Aufmerksamkeit nur noch mehr auf seine blauen Augen lenkte.
Sophie war natürlich klar, dass beinahe jedes Mädchen in unmittelbarer Nähe in diesem Moment einen beliebigen Preis gezahlt hätte, um mit ihr zu tauschen. Also machte sie sich die Mühe und dachte über seine Frage nach.
Ob sie klarkam? Echt scheiße? War das sein Ernst?
»Ja. Danke«, gab sie schließlich knapp zurück.
Sie rückte ein Stück von ihm ab und begann damit, den Müll auf ihrem Tablett zusammenzuräumen.
Jason fuhr indessen fort.
»Falls du mal reden willst, oder so …?«, er hob ergeben die Hände, »ich bin jederzeit verfügbar. Nur damit du Bescheid weißt.«
Er setzte ein gönnerhaftes Lächeln auf. Dann fuhr er sich wie beiläufig durch das Haar, um die verirrte Strähne an ihren Platz zu verweisen. Die Bewegung wirkte einstudiert und dennoch überzeugend natürlich.
Was er sich unter »reden« vorstellte, konnte Sophie sich denken. Die Tatsache, dass er den Tod ihrer Eltern als Einstieg für ein hormongesteuertes Gespräch heranzog, ließ jedoch augenblicklich Übelkeit in ihr aufsteigen.
»Es ist vier Monate her, Jason. Ich habe seitdem mit einer Menge Leuten geredet. Überwiegend Menschen, die ihr Beileid innerhalb der angemessenen Zeit bekundet haben.«
Mit diesen Worten stand sie ruckartig auf, schnappte sich Tablett und Tasche und schob den Stuhl quietschend mit dem Knie zur Seite.
»Mach’s gut, Jason.«
Im Weggehen drehte sich Sophie kurz entschlossen um und merkte an: »Ich glaube, deine Uhr ist kaputt. Solltest du mal checken lassen.«
Verblüfft hob Jason den Arm und begutachtete die monströse Smartwatch, welche sicher ebenso teuer wie ein Tablet-PC gewesen war. Als er wieder aufblickte, war Sophie fort.
Noch während sie den Eingang der Cafeteria passierte, steckte Jasons Crew bereits ihre Köpfe zusammen. Alle Anwesenden hatten die Abfuhr registriert. Das würde Gesprächsstoff für mindestens zwei Wochen geben. Wenn die Klatschkolumne der Schülerzeitung den Vorfall ordentlich pushte, vielleicht sogar für drei.
Sophie war das gleichgültig. Allerdings dachte sie mit Grauen daran, dass sie sich dieser hörigen, abgehobenen Meute auf dem College tagtäglich aufs Neue gegenübersehen würde. Beinahe alle Schüler ihrer Highschool strebten ein Studium an der UW, der University of Wyoming, an. Nur eine Handvoll würde ausschwärmen und eine weiter entfernt gelegene Uni besuchen.
Müde und genervt versuchte sie, auf dem Weg zum Sekretariat die lautstarke Kakofonie der tratschenden und brüllenden Schüler auszublenden.
Dieser erste Schultag war in jeder Hinsicht ätzend. Dabei hatte sie sich eigentlich sogar auf ihn gefreut. Ihr letztes Schuljahr. Der Beginn eines neuen Lebensabschnitts. Endlich wieder ein wenig Alltag, etwas Routine nach all den düsteren Wochen zu Haus. Keine endlosen Trauertage mehr in ihrem Zimmer. Mal einen Vormittag nicht die tägliche Fragerei von Tante Anna, ob es ihr gut gehe. Ob sie etwas brauche.
Natürlich brauchte sie etwas! Sie brauchte ihre Eltern! Solange Anna neben ihrer Malerei nicht auch einen Weg gefunden hatte, Menschen zu klonen oder von den Toten aufzuwecken, gab es nichts, das sie Sophie geben könnte.
Gut. Das stimmte so auch nicht. Tante Anna machte ihre Sache gut. Sehr gut sogar.
Sie war gleich nach dem Tod ihrer Schwester zu Sophie gezogen und hatte sich um alles gekümmert. Die Beerdigung, den Nachlass und vor allem um ihre Nichte, die drohte, an dem unvermittelten Verlust zu zerbrechen.
An etwas zerbrechen …
Diese Umschreibung war Sophie schon immer suspekt vorgekommen. Wie konnte man zerbrechen? Doch inzwischen musste sie sich eingestehen, dass es die Sache auf den Punkt traf. Genauso fühlte es sich nämlich an. Als würde man in viele, kleine Teile zerfallen, ohne eine Aussicht, diese jemals wieder zusammenfügen zu können. Sophie war heilfroh, dass sie Tante Anna hatte.
Seit dem Tod ihrer Eltern lebten die beiden ein unkonventionelles Leben in dem alten Haus, in welches Sophie vor einigen Jahren mit ihrer Familie gezogen war. Anna hatte einige Male vorgeschlagen, in die Stadt zu ziehen, näher an die Schule und weit weg von den Erinnerungen an ihr altes Leben, aber Sophie wollte das nicht. Es gab viele Gründe, warum sie das Haus nicht verlassen wollte. Ihr gefielen die Erinnerungen. Sie wollte sie gar nicht loswerden. Geburtstage, die hier gefeiert wurden. Sonntägliche Familienfrühstücke und missglückte Versuche, in der Eiche vor der großen Veranda ein Baumhaus zu bauen. Der vertraute Geruch des Holzes und die große Wiese, die in ihrer Kindheit als überdimensionaler Spielplatz und heute als Ort zum Entspannen und Sinnieren diente.
Ja, es gab eine Reihe Gründe, weshalb Sophie nicht wegwollte. Der wesentlichste aber war die Stille.
Nur hier draußen, weitab von der städtischen Reizüberflutung konnte sie existieren. Nur dort war es möglich, auch mal einen klaren Gedanken zu fassen. In der Stadt hörte sie es ticken und rattern, surren und rumoren. Sie vernahm jeden noch so kleinen Laut, spürte jeden Schaltkreis, jedes Rädchen im Getriebe. Zumindest nannte sie das Wirrwarr aus Informationen und Signalen, die sich ihr täglich ins Hirn brannten, so. Natürlich gab es kein Rattern und auch keine Rädchen, aber genauso fühlte es sich an.
Auf dem Land, in dem großen, alten Haus war die Geräuschkulisse auf ein Minimum reduziert. Es gab keinen modernen Fernseher, keinen WLAN-Kühlschrank oder sonst eine nervtötende, technische Spielerei. Die Gefahr, ihr Hirn zu überladen, konnte nur innerhalb des alten Hauses mit seinen schiefen Fensterläden und dem stellenweise abblätternden, cremefarbenen Anstrich gebannt werden. Es war ihre sichere Zone. Ihr Kokon. Niemals würde sie hier wegziehen. Eine Aussage, die zweifellos kein Mensch unter 21 Jahren nachvollziehen konnte. Wer wollte nicht gerne so schnell wie möglich sein Elternhaus verlassen und die Welt entdecken?
Nun, Sophie wollte es nicht.
Und dann kam der erste Schultag nach den Ferien. Mit ihm die Hiobsbotschaft. Vor lauter Trauer und Selbstmitleid hatte sie es einfach vergessen.
Der Schüleraustausch.
In was hatte ihre Mutter sie da nur reingeritten?
Vor einem Jahr hatte sie ihre Tochter dafür angemeldet, obwohl diese keinerlei Drang verspürte, nach Europa zu reisen. Doch Mom hatte nicht aufgegeben und beharrte auf ihrem Standpunkt, junge Menschen müssten Erfahrungen sammeln. Keine Chance sich da rauszuwinden und damals hatte Sophie gedacht, es wäre ja noch ewig hin. Ihr würde schon etwas einfallen. Sie hätte ein paar schlechte Noten abliefern und lieber Nachhilfe, statt eines stundenlangen Flugs nach wer weiß wo einfordern können.
Diese Überlegungen waren nun gegenstandslos. Sophie brachte es nicht über’s Herz, sich dem Wunsch ihrer Mutter posthum zu entziehen.
Als Mister Sampson ihr am Morgen während der Englischstunde mitgeteilt hatte, sie solle sich mittags im Sekretariat melden, um die erforderlichen Unterlagen abzuholen, war ihr der Unterkiefer hinuntergeklappt. Sie war aus allen Wolken gefallen. Obgleich artig nickend, hatte sie ihren Lehrer fassungslos angestarrt.
Sophie bog ab und drückte sich durch die Tür des Sekretariats. Dahinter saß die grauhaarige, mürrisch dreinblickende Mrs. Urge. Sie rückte ihre Brille zurecht und übergab Sophie auf Aufforderung die Dokumente. Dabei tat sie so, als wäre dies eine unzumutbare Anforderung, welche sie bei belangvolleren Dingen unterbreche. Dabei wusste jeder, dass Mrs. Urge den ganzen Tag nur in ihren uralten Klatschblättern las und das schulische Tagesgeschäft für sie eher ein lästiges Beiwerk war. Sophie bedankte sich, obwohl sich die Unterlagen in ihrer Hand wie ein Schulverweis anfühlten. Eben wie etwas, das man lieber nicht in Empfang nehmen wollte.
Das schicksalhafte Material im Gepäck machte Sophie sich auf den Weg zur Geschichtsstunde.
Erst, als sie sicher auf ihrem Stuhl saß und nicht fürchten musste, dass ihre Beine unter ihr nachgaben, wagte sie einen Blick auf das erste Blatt des dicken Stapels. Was dort geschrieben stand, machte aus dem Schüleraustausch erschreckende Realität. Was vorher bloß ein Wort gewesen war – Schüleraustausch – wurde durch die Druckbuchstaben auf dem Papier endgültig zum Programm. Langsam rutschte ihr die Tasche von den Knien hinunter auf den Boden, doch Sophie bekam davon nichts mit. Sie sah bloß noch die beiden Worte vor sich herumtanzen.
Avignon. Frankreich.
Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen. Nicht, weil ihr die Tränen kamen, sondern weil sie mit einem Mal Mühe hatte, zu fokussieren. Ihr Blick schweifte ins Leere ab und verweilte dort.
Zum zweiten Mal an diesem Tag war Sophie über eine Sache zutiefst unglücklich, die andere Mädchen dazu animiert hätte, Luftsprünge zu machen.
Frankreich.
»Ruhe bitte! Und alle schlagen jetzt mal das Buch auf Seite 42 auf.«
Seufzend wischte Sophie sich eine Strähne roten Haares aus dem Gesicht und folgte der Aufforderung der Lehrerin.
Frankreich.
»Wir starten bei ›Un jour, tout sera bien, voilà notre espérance. Tout est bien aujourd’hui, voilà l’illusion.‹«
Sehr witzig! Würde ein tätlicher Angriff auf die Geschichtslehrerin einen Rausschmiss nach sich ziehen? Womöglich wäre das ein Ausweg? Voltaire hatte leicht reden.
Frankreich …
Viel später übte sie sich gerade im Grimassenziehen, indem sie das Spiegelbild ihres Gesichts im Suppenlöffel begutachtete, während Tante Anna aufgeregt plapperte.
Das dampfende Chili vor sich, grübelte Sophie über ihr Dilemma. Zwar ging es ihr momentan nicht wirklich gut, ja nicht einmal annähernd, aber zumindest fühlte sie sich hier geborgen und in Ruhe gelassen. Sie hatte Anna und ihr Zimmer. Sie hatte Beth. Die Schule würde sie auf die eine oder andere Weise packen und der Schmerz würde mit den Monaten sicher leichter zu ertragen sein.
Ja, klar!
Auch wenn nicht alles perfekt war, Frankreich war ein Risiko. Definitiv! Fremde Menschen, eine neue Schule, eine Sprache, die sie nicht einmal im Ansatz beherrschte!
»Und die Männer da! Na ja, du wirst es sehen. Ich sage dir, in Paris habe ich das beste Jahr meines Lebens zugebracht. Wenn ich nur daran denke, werde ich ganz sentimental!«
Sophie starrte eine Löffelgroßaufnahme ihres rechten Auges an und stellte fasziniert fest, dass es in dem gewölbten Metall bläulich wirkte und nicht grün wie gewöhnlich.
Ohne von ihrem Selbstversuch abzulassen, erwiderte sie lustlos: »Ich werde aber nicht in Paris leben, Anna. Ich gehe nach Avignon. Das ist wohl kaum zu vergleichen.«
Tatsächlich wusste Sophie nicht einmal, wo diese Stadt lag und ob es eine Stadt oder bloß ein Dorf war, und Anna sicher auch nicht. Im Gegensatz zu ihrer Tante, die bereits das iPad zückte, um auf der Karte nachzusehen, hatte sie auch keinerlei Interesse daran, es herauszufinden.
»Ach du meine Güte! Das ist ja noch viel besser!«, rief Anna aus und drehte das Gerät mit einem Schwung in Sophies Richtung. »Es liegt im Süden. Besseres Wetter, Strände und vor allem: die Cote d’Azur! Stell dir vor, du wirst Cannes sehen und Nizza. Nizza! Oder du fährst mal in die andere Richtung und nimmst dir Montpellier vor oder die Camargue!«
Tante Anna kam aus dem Schwärmen gar nicht mehr heraus. Sie vergrößerte und verkleinerte diverse Orte und Küsten, redete über Museen, Cidre und Miesmuscheln.
Eigentlich solltest du dorthin fahren, dachte Sophie.
Annas Reaktion amüsierte sie allerdings schon ein wenig. Als begeisterte Malerin wäre Frankreich tatsächlich ein ideales Reiseziel für ihre Tante. Sophie sah sie praktisch vor sich, mit der Staffelei an einer wilden Küste, den Pinsel in der Hand und den Blick konzentriert auf eine entfernte Landzunge gerichtet.
Sie beobachtete ihre Tante von der Seite. Sie saßen wie so oft im Sommer draußen auf der Veranda. Bei sonnigen Temperaturen aßen sie an dem uralten, leicht abschüssigen Holztisch und tranken hinterher meist noch einen Tee zusammen. Heute hatte es Chili gegeben. Das wohl unpassendste Essen, wenn man in einem der heißesten Staaten Amerikas lebte. Aber Sophie mochte es, und weil Anna dies wusste, gab es das Gericht in letzter Zeit ziemlich oft. Jetzt zupfte ihre Tante an ihrer Unterlippe herum und studierte konzentriert eine der touristischen Webseiten. Sie erwähnte irgendwas von Flamingos und Weinanbau, während Sophie sich fragte, ob sie in Avignon Internet hatten. Anna war hoffnungslos optimistisch, lebensfroh und wild in ihrer Art. Sie verliebte sich oft und gerne und stets endete es in einer Tragödie. Früher hatte sie ebenso glühend rotes Haar gehabt wie Sophie, aber mit den Jahren war es goldener geworden. In langen Wellen fiel es ihr über die Schultern. Doch das hervorstechendste Merkmal ihrer Tante war ihr Lachen. Mitreißend, lauthals und herzerwärmend. Auch mit ihren knapp vierzig Jahren war sie noch immer eine Schönheit und die Männer lagen ihr zu Füßen. Insbesondere in einer Kleinstadt wie Green River sprach sich die Anwesenheit einer schönen und vor allem ledigen Frau schnell herum. Jeder alleinstehende Mann über vierzig und ebenso ein paar jüngere waren ihr verfallen. Aber Anna war wie ein heißblütiges Pferd. Ihre zahlreichen Hobbys und Vorlieben machten sie zu einem bunten Fabelwesen, dem bisher kein Mann gerecht werden konnte oder wollte.
»Wann geht es noch mal los?«, fragte Anna nun und sah ihre Nichte dabei nahezu berauscht an.
»In vier Wochen«, lautete die knappe Antwort.
»Perfekt! Dann können wir deinen Geburtstag ja noch feiern. Oh wie großartig. Siebzehn. Jung. Hübsch. Du wirst einen riesen Spaß haben, dort drüben! Aber mach mir keine Schande. Ich muss dir wohl kaum von den Bienen und den Blumen erzählen, oder? Du bist da im Bilde, ja?«
Peinlich berührt ließ Sophie den Löffel sinken und nickte hektisch. Für heute war die Schmerzgrenze definitiv erreicht.
»Wie ist der Termin beim Doc gewesen?«, versuchte sie, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.
»Super. Alles so weit in Schuss. Er meint, ich solle es mal mit Vitamin B versuchen.«
Der »Doc« war Green Rivers beliebtester Arzt. Ein ältlicher Kerl, der stets einen schmutzigen Witz auf den Lippen und Süßigkeiten für die jüngeren Patienten parat hatte. Anna war seit ihrem Umzug in den kleinen Ort eine seiner Lieblingspatientinnen und bekam, trotz ihres mitnichten kindlichen Alters, immer ein paar Bonbons.
Sophie nickte. »Na, dann ran an die Vitamine! Ich glaube, ich gehe hoch und lerne noch ein bisschen.«
»Keinen Tee?«, fragte Anna enttäuscht.
»Vielleicht später, in Ordnung?«
»Ist gut. Dann ruf mich, falls was ist oder du etwas brauchst.«
Auf ihrem Bett liegend, musste Sophie plötzlich an Jason denken. Sie stellte sich die Situation von heute Mittag vor und verlegte sie vier Monate zurück. Der Ehrlichkeit halber musste sie sich eingestehen, dass es eine Zeit gegeben hatte, in der sie ebenfalls zu Jasons Fanklub gehört hatte. Er sah wirklich gut aus und entgegen aller Erwartungen war Jason keineswegs dumm. Vielleicht hätte er sie nach einigen Dates zum Abschlussball eingeladen oder wäre mit ihr nach Mexiko gefahren? Man munkelte, er tue dies mit seinen Freundinnen, um sie mit dem Hotel seines Vaters zu beeindrucken. Sie hätten in seinem prolligen Wagen geknutscht und in der Schule Händchen gehalten. Ihre größte Sorge wäre jeden Morgen die Auswahl ihres Outfits gewesen und sie hätte Beth mit einem von Jasons Footballkollegen verkuppeln können. Alles wäre so einfach gewesen. Ganz normal. Stattdessen hatte sie ihn abblitzen lassen. Nicht, dass Sophie dies bereute. Ganz und gar nicht. Auf Jungs hatte sie gerade überhaupt keine Lust. Jedoch hätte man für Jason vielleicht eine Ausnahme machen können? Dass sie es nicht getan hatte, signalisierte ihr, wie tief der Verlust ihrer Eltern saß. Für ein anderes Gefühl außer Trauer war einfach kein Platz, würde vielleicht nie wieder Platz sein?
Sie setzte sich auf und starrte die Wand an.
Frankreich.
Vielleicht war es gar nicht so übel dort. Vielleicht war es ja genau das, was sie jetzt brauchte? Allein die Sprache leidlich zu erlernen, würde ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. Da blieb für Trübsal kaum Zeit. Vielleicht also gar nicht so fürchterlich?
In diesem Moment klingelte das Telefon und Sophie spürte, wie die Basisstation den Kanal mit den wenigsten Interferenzen über die RSSI-Liste auswählte. Über diese gewohnte Eigenschaft hinweg konnte sie Anna unten abnehmen hören und wenig später meldete sich der Apparat neben Sophies Bett.
Sie verfluchte dieses Telefon. Das einzige Gerät im Haus, welches dem neusten Stand der Technik entsprach, und das nur, weil ihr Vater sein Smartphone mit dem Festnetz koppeln wollte, um Kosten zu sparen. Das DECT-Telefon verfügte deshalb über eine WLAN-Funktion und brachte Sophie um den Verstand. Zum Glück erhielten Anna und sie in der Regel nicht allzu viele Anrufe.
»Es ist Beth«, informierte Anna sie und legte gleich danach auf.
»Hi!«, begrüßte ihre beste Freundin sie mit krächzender Stimme.
Beth war also noch immer erkältet und deswegen heute nicht in der Schule erschienen. Wie man es schaffen konnte, mitten in Wyoming, bei mehr als 27 °C Außentemperatur eine Erkältung zu bekommen, war Sophie ein Rätsel. Eher bekam ein Eskimo einen Hitzschlag.
»Wie war der erste Schultag? Habe ich irgendwas verpasst?«
Sophie gab ein höhnisches Grunzen von sich.
»Tja … wo soll ich anfangen?«
Agent Lamar Bishop war kein besonders fröhlicher Mensch. Ja, er war nicht einmal sonderlich nett. Er war in seinem Leben nie auf jemanden angewiesen gewesen und hatte auch nicht vor, diesen Zustand zu ändern.
Lamar Bishop war vorbildlich in allem, was er tat. Er war die Art Mann, der keine Freunde, sondern bloß Kollegen hatte. Er war sorgfältig, einfallsreich und gewissenhaft, aber nicht nett. Nein, er war kein sympathischer Typ. Gleichwohl ließen sich diese Wesenszüge ganz hervorragend mit dem Job beim FBI verbinden. Nette Typen landeten woanders. Sie wurden Verkäufer im Walmart oder Pfleger im Altenheim. Sie servierten anderen das Essen oder kümmerten sich um kranke Tiere. Als FBI-Agent musste man hart durchgreifen können, die Ellenbogen einsetzen, sein Revier abstecken, um der Karriere willen im Privatleben Abstriche machen.
Für Lamar Bishop war dies alles nie ein Problem gewesen. Seine relativ kurze, aber ereignisreiche Laufbahn beim Federal Bureau of Investigation war makellos. Er war engagiert, motiviert und willig, seinem Land mit Leib und Seele zu dienen. Seine Zukunft hatte er sich stets als perfekt ausgemalt. Lamar konnte alles meistern. Wirklich alles! Die Karriere, die Anzahlung auf das Haus, die Ehe. Er war die amerikanische Idealbesetzung. Gebildet, fit, patriotisch, mit einem ausgeprägten Hang zum Perfektionismus.
Als früherer High-School-Kapitän des Football-Teams war er überdies mit einer athletischen Figur gesegnet und es gewöhnt, bei den Ladys gut anzukommen. Mit seinen kurzen Haaren, dem olivfarbenen Teint und dem meisterhaft einstudierten, verwegenen Lächeln hatte es nicht lange gedauert, bis er seine große Liebe Sally vor den Altar führen konnte und sie zu seiner perfekten, amerikanischen Frau wurde. Sein Leben glich einem neuzeitlichen Heldenepos. Er war ein Gott in seiner kleinen Welt. Dabei hatte er noch nicht mal das erste Drittel hinter sich gebracht. So wie die Dinge standen, gab es für ihn keine Grenzen, kein Limit. Er war mit Überschall auf dem Weg nach oben.
Was am Ende den Ursprung der Katastrophe markierte, konnte Lamar im Nachhinein eigentlich gar nicht so explizit definieren. Irgendwo zwischen den sonntäglichen Barbecues mit Frau und Familie, der Beförderung beim FBI und der Geburt seiner Tochter Amanda war etwas schiefgelaufen und trotz seiner Intuition, auf die er sich stets hatte verlassen können, hatte er es nicht kommen sehen. Sally teilte ihm Monate nach ihrer Trennung mit, dass sie sich die Ehe mit einem FBI-Agenten irgendwie anders vorgestellt hatte. Dabei hatte sie, wie gewöhnlich, ihre hübschen braunen Augen verdreht und mit dem Kopf gewippt. Ihr perfekt frisiertes und für eine afroamerikanische Frau viel zu unnatürlich geglättetes Haar spiegelte das Sonnenlicht des kalten Januartages wider, als sie Lamar diese überraschende Offenbarung machte. Ihr kokettes Gehabe hatte einst anziehend auf ihn gewirkt, doch in diesem neuen Zusammenhang brachte es Lamar zum Überschäumen.
Irgendwie anders.
Damit konnte Lamar nichts anfangen. Was sollte das bedeuten, irgendwie anders? Anders als was? Hatte er ihr nicht alles gegeben? Das Haus, die Urlaube, den Schmuck und schließlich diese vollkommene, kleine Tochter, dieses faszinierende Resultat ihrer gemeinsamen Liebe?
Was bitte hätte hier anders sein sollen? Was hatte Sally gemeint?
Diese Frage beschäftigte Agent Bishop so sehr, dass er auf der Suche nach einer befriedigenden Antwort und mangels enger Freunde schließlich regelmäßig seinen alten Kumpel Jack Daniels befragte und immer weniger perfekt agierte. Dies machte sich außerordentlich schnell im Büro bemerkbar und es dauerte nicht lange, da nahm ihn sein Vorgesetzter zur Seite und fragte, ob er vielleicht ein paar Wochen Urlaub benötige, wegen der Scheidung und so.
Doch Lamar brauchte keinen Urlaub. Was er wirklich, wirklich dringend brauchte, waren Antworten. Er benötigte eine detaillierte Auflistung der Dinge, die Ursache der Zerstörung seines Lebens waren und von denen er nichts mitbekommen hatte. Er wollte hieb- und stichfeste Argumente hören!
So kam es, dass Lamar Bishop immer öfter vor der Haustür der ehemaligen Mrs. Bishop – inzwischen wieder Morgan – auftauchte und freundlich um eine weniger schwammige Erklärung bat. Aus freundlich wurde eindringlich und aus eindringlich, lautstark. Nicht selten brachte er auch »Jack« mit und richtete es sich mit ihm auf Sallys Veranda ein. Eigentlich – so dachte er – war es ja auch seine Veranda. Zumindest, bis diese lästige Sache mit dem Haus endgültig geklärt wäre.
Es dauerte nicht lange und Sally fühlte sich unwohl mit ihrem immer häufiger erscheinenden Veranda-Gast.
Zwei Mal drohte sie, die Polizei zu rufen, doch erst beim dritten Mal machte sie ernst. Vermutlich lag es daran, dass Lamar so lange betrunken gegen die Haustür geschlagen hatte, bis Amanda in ihrem rosafarbenen Bettchen, in ihrem rosafarbenen Zimmer davon aufwachte und wie wild anfing zu brüllen. Oder daran, dass Agent Bishop vergessen hatte, seine Dienstwaffe zu Hause zu lassen, und diese – weil das Holster ihn beim Verprügeln der Tür störte – gut sichtbar auf dem kleinen Tisch vor dem Wohnzimmerfenster abgelegt hatte.
Es mochte viele Gründe geben, wieso Sally an diesem denkwürdigen Tag beschloss, dass es keine gute Idee war, ihren Ex-Mann weiterhin als gleichberechtigtes Elternteil ihres gemeinsamen Kindes zu billigen, doch es gab nur ein Ergebnis: Lamar Bishop wurde vorerst aus dem Leben seiner Tochter weggewischt wie ein paar ranzige Pommes vom Tisch eines Fast-Food-Restaurants.
Und als wären die Scheidung, die durch sein irritierend dämliches Verhalten entstandenen Rechtsstreitigkeiten und der anschließende Pflichtbeitritt bei den Anonymen Alkoholikern nicht schon erniedrigend genug gewesen, so war auch seine glänzende Zukunft beim FBI mit einem Schlag vorüber. Aus irgendeinem Grund wurden durchgängig betrunkene, zuweilen unpünktliche und leicht reizbare Agenten dort nicht gern gesehen.
Nur ein paar freundlich gesonnenen Kollegen und nicht zuletzt seinem erstaunlicherweise noch immer verständnisvollen und verhältnismäßig zugänglichen Vorgesetzten hatte Bishop es zu verdanken, dass er nicht als Streifenpolizist endete, sondern über drei Ecken in eine andere, weit weniger prestigeträchtige Behörde abgeschoben wurde.
Lamar war es zwischenzeitlich ganz und gar gleichgültig geworden, was mit seiner Karriere geschah. Ja, ihm war beinahe alles gleichgültig geworden.
Vor Amandas Geburt hätte er es sich nie träumen lassen, wie sehr ein so kleines und hilfloses Wesen ihn doch in seinem Innersten berühren konnte. Niemals hätte er gedacht, dass er um ihretwillen einmal alles aufs Spiel setzen würde, seine ideale Zukunft mit Füßen treten würde, als hätte er nicht die letzten zehn Jahre damit zugebracht, auf diese hinzuarbeiten.
Er hatte alles verloren und dieser neue Job in einer Behörde, die weder über offizielle Erwähnung noch Bezeichnung verfügte, in einer Abteilung, dessen genauen Zuständigkeitsbereich er auch nach Wochen nicht so recht einordnen konnte, war alles, was ihm geblieben war.
Wenn er jemals wieder ein Minimum an Vertrauen seitens Sally erwerben und regelmäßige Besuchstermine für die gemeinsame Tochter aushandeln wollte, musste er versuchen, aus Scheiße Gold zu machen. Er musste sein Leben wieder in den Griff bekommen, zurück zum FBI gehen und dort weitermachen, wo er aufgehört hatte. Vielleicht würde dies nun ohne Sally geschehen, ohne die Vorzeigeehe und das schnuckelige Haus mit dem Golfrasen und weißem Zaun davor, doch seinen Biss hatte Lamar noch lange nicht eingebüßt. Er würde diese dunkle Phase überwinden und es der Welt zeigen.
Der Welt und Sally.
Nur musste er zuerst ein wenig Eindruck bei seinen neuen Vorgesetzten schinden, wieder herausstechen aus der Masse inkompetenter und mittelmäßiger Männer und Frauen, mit denen er das Büro teilte und die allesamt länger dort beschäftigt waren als er selber. Lamar musste den letzten Rest des gerissenen Kerls ausgraben, der er einmal gewesen war, und vorzeigen, damit er wieder ernstgenommen wurde.
So kam es auch, dass er mit dem Fall einer gewissen Sophie Wallis betraut wurde. Ein anspruchsloser Fall, bei dem ihm bloß zwei Agenten unterstellt und nur bescheidene Mittel bewilligt wurden.
Schon nach der ersten Lagebesprechung hatten bei Lamar alle Alarmglocken geschrillt. Mit diesem Fall würde er sich keine Lorbeeren verdienen können. Es war offenkundig eher eine Art Beschäftigungstherapie für Ex-FBI-Agenten. Eine Endlos-Observation. Eine berufliche Sackgasse. Der unperfekte Abschluss einer perfekt begonnenen Laufbahn.
Nachdem Lamar den Fall übernommen hatte, hoffte er inständig, sich nach ein paar Wochen aus der Sache hinauswinden zu können. Sich irgendwie zu beweisen, wieder auf die Beine zu kommen und ein Stück des alten Ansehens zurückzuerlangen. Doch ganz offenbar brauchte er hier einen langen Atem.
Und als hätte er nicht schon genug Unannehmlichkeiten, musste das grausame Schicksal dem Ganzen nun auch noch die Krone aufsetzen.
Frankreich.
Ein Land voller selbstverliebter, amerikahassender, froschschenkelessender Idioten, die sehnsüchtige Schmonzetten über die Liebe und die Vergänglichkeit des Seins sangen und so ziemlich das Letzte waren, das Lamar jetzt ertragen konnte.
Aber hatte er eine Wahl?
Nun ja. Da war ja noch die Sache mit der Verkehrspolizei …
Nein. Er hatte keine Wahl. Vielleicht war es sogar gar keine üble Idee, ein paar Tausend Kilometer zwischen sich und sein altes Leben zu bringen. Womöglich verschaffte ihm das den nötigen Abstand, um sich neu zu organisieren?
Weil der Fall ins Ausland verlegt werden musste, strich man ihm einen weiteren Agenten und so blieben nur noch er und Bob Wilson. Ein in die Jahre gekommener, recht korpulenter Typ mit ungepflegten Fingernägeln und schlechten Angewohnheiten. Im Auto unnötig laut die Spice Girls zu hören, war bloß eine davon.
Bob war zuvor in einer privaten Sicherheitsfirma tätig gewesen. Da diese jedoch wegen des Verdachts auf illegale Aktivitäten in relativ kurzer Zeit alle ihre Mitarbeiter entlassen hatte, war Bob über einen Cousin bei der Behörde gelandet. Lamar war es ein Rätsel, wie überhaupt jemand einen Menschen wie Bob Wilson einstellen konnte. Selbst über Vitamin B war dies noch ein fragwürdiges Unterfangen, doch der unangenehme Zeitgenosse hatte sich seinen Platz gesichert und machte dennoch keine Anstalten, sich in dem, was sie taten, erwähnenswert anzustrengen. Er verließ sich einfach auf sein Glück oder seinen Cousin oder die Tatsache, dass es dieses Mal kein geheimes Meth-Labor im Hinterzimmer geben würde, welches ihn seinen Job kosten könnte, und machte sich im Büro eine schöne Zeit. Er kam spät, ging früh und war für den Job in etwa so geeignet wie ein Stück Käsekuchen.
Jetzt, wo Lamar an seinem Schreibtisch saß und seinen fetten Kollegen missgünstig von der Seite betrachtete, schien ihm sein altes Leben so fern und unerreichbar wie nie zuvor. Frustriert langte er nach dem Telefonhörer und versuchte, Sally ein weiteres Mal zu erreichen, um einen Termin auszumachen. Wenn Daddy nach Europa musste, würde es ja wohl irgendwie möglich sein, sich noch von Amanda zu verabschieden. Er wollte es unbedingt! Doch erneut sprang nach ein paar Mal Klingeln der Anrufbeantworter an und wieder legte Lamar auf.
Vielleicht könnte er es morgen noch einmal versuchen.
Da war er, der große Tag.
Sophie hatte ihn in den letzten Wochen sorgsam aus ihren Gedanken vertrieben, einfach so getan, als wäre die Reise nach Frankreich nicht längst beschlossene Sache, als wäre das Ganze nur so etwas wie ein leidiger Zahnarzttermin, den man immer noch verschieben oder absagen konnte. Doch als die Abreise näher rückte, war sie in Panik geraten und hatte ein paar klägliche Versuche unternommen, ihr Schulfranzösisch aufzubessern. Zum einen, weil sie eine unschöne Vision von sich selbst auf einer verlassenen Landstraße im französischen Nirwana hatte, in der sie sich nicht mal in der Lage sah, nach dem Weg zu fragen, und zum anderen, weil Beth ihr erzählt hatte, dass Franzosen einen Gräuel gegen Fremdsprachen hegten. Insbesondere gegen die amerikanische. Ein paar Floskeln zu lernen, würde sicher nicht schaden. Doch wie sich herausstellte, war Sophie leider nur bedingt sprachbegabt.
Auf der Wiese vor ihrem Haus sitzend, brütete sie stundenlang über einer endlosen Zusammenstellung von Vokabeln. Der warme Wind fuhr ihr um die bloßen Füße und in der Ferne konnte sie in regelmäßigen Abständen einen der in die Jahre gekommen Pick-ups von einer der Nachbarsfarmen vorbeirumpeln hören.
Wenigstens würde sie nicht auf gutes Wetter verzichten müssen. Das Klima in der Provence glich dem Wyomings. Sie würde nicht einmal andere Klamotten einpacken müssen. Nun ja, zumindest für die erste Zeit. Selbstverständlich dauerte der Austausch länger als nur den Herbst über und so waren auch ein paar Pullis und die warme Jacke mit ins Gepäck gewandert. Doch jetzt war Ende September. Der ideale Reisemonat für Frankreich, wie Anna den zahllosen Reiseführern entnommen hatte und von denen Sophie beileibe keinen mitnehmen würde. Wenn die Franzosen schon keine Amerikaner mochten, dann würde eine Stadtplan studierendes, mit Kamera und Sonnencreme bewaffnetes Mädchen sicher erst recht keinen großen Eindruck schinden.
Eine unangenehme Aufregung machte sich in ihr breit und auch ihre geliebte Wiese und die große alte Eiche in ihrem Rücken konnten Sophie nicht davon ablenken, dass es nun bald ernst wurde.
Noch wenige Minuten, dann würde sie gemeinsam mit Anna zum Flughafen aufbrechen. Sie schüttelte den Gedanken an das riesige Areal mit unzähligen Computern, Funkverkehr, Radar, Sicherheitsschleusen und dröhnenden Turbinen ab. Noch blieben ihr ein paar Momente.
Es war schön hier unter freiem Himmel. Nur hier draußen war es denkbar, einen leidlich klaren Kopf zu bewahren, die grausam ohrenbetäubende Welt auszusperren und neues Wissen hineinzulassen. Im Haus waren einfach zu viele Geräte und anderes Zeug, das ihre Hirnwindungen verstopfte, genau wie in der Schule.
Als Sophie das erste Mal bemerkt hatte, dass sie eine Vielzahl an technischen Gegenständen anders wahrnahm als die Menschen in ihrer Umgebung, war sie fasziniert gewesen, ja geradezu euphorisch. Zugegeben, auch ein bisschen erschrocken, aber in erster Linie fasziniert.
Es war etwa drei Monate, bevor ihre Eltern den Unfall gehabt hatten, geschehen. Das erste Ding, welches mit Sophie »gesprochen« hatte, war ihr Radiowecker gewesen. Weil sie noch ziemlich verschlafen gewesen war und kaum einen klaren Gedanken hatte fassen können, wäre ihr die Besonderheit dieser ersten Kontaktaufnahme um ein Haar entgangen. Ein wenig konnte man es mit Wachstumsschmerzen vergleichen. Jeder weiß, dass sie die Vorboten für einen Wachstumsschub der eigenen Gliedmaßen sind, aber tatsächlich abspielen tut sich zum Zeitpunkt ihres Auftretens eigentlich nichts Besonderes. Doch je länger die mit Bandaufklebern verzierte Dockingstation damals vor sich hingeplärrt hatte, desto deutlicher vernahm Sophie auch die unterschwellige Botschaft. Es war wie ein Geistesblitz gewesen, eine Erleuchtung. So als wenn man lange über einer Mathematikaufgabe gebrütet hatte und dann plötzlich verstand. Die zunächst zusammenhangslosen Informationsfetzen in ihrem Schädel begannen, nach und nach einen Sinn zu ergeben. Das knubbelige grauschwarze Gerät teilte ihr mit, dass es praktisch genau im Moment ihres Erwachens von Batteriestrom auf Netzstrom umgeschaltet hatte.
Sophie war diese Information seltsam irreal vorgekommen und sie hatte sie kaum wahrgenommen, es als ein Überbleibsel ihres Traumes abgetan.
Doch später am selben Tag, als ihr Vater heftig darüber fluchte, dass nun alle Uhren im Haus neu gestellt werden müssten, weil es in der Nacht einen Stromausfall gegeben hatte, war Sophie ihr morgendliches Erlebnis wieder eingefallen und sie war misstrauisch geworden.
Und dann bekam sie plötzlich Kopfschmerzen, als sie zeitgleich ihr Notebook, den kabellosen Drucker in Dads Büro und ihr Handy in Betrieb nahm und alle drei Geräte unaufhörlich Informationen an ihr Gehirn sendeten.
Aus Angst, ihre Eltern könnten sie für verrückt halten, beschloss sie, der Sache erst einmal auf eigene Faust nachzugehen. Vielleicht war sie nur krank oder schlicht etwas überspannt? Man hörte schließlich ständig von den negativen Auswirkungen der Telefonmasten auf Menschen. Und soweit Sophie wusste, stand genau so ein Teil unweit ihrer eigenen Behausung.
Tagelang sperrte sie sich in ihrem Zimmer ein und setzte sich immer nur mit einem Gerät auseinander. Trotz ihres beunruhigenden Zustands genoss sie ihr kleines Geheimnis. Nicht einmal Beth erzählte sie davon. Nicht bevor sie nicht Genaueres herausgefunden hatte.
Sie testete verschiedene Einstellungen, versuchte herauszufinden, ob sie wahrhaft »allergisch« gegen Technik war oder ob es nur an ganz bestimmten Gerätschaften, möglicherweise an einer Kombination derer lag.
An Tag vier wusste sie mehr über die Funktionsweise von WLAN-fähigen Druckern, externen Festplatten und Wi-Fi-Kompaktkameras als dessen Erfinder. Nur konnte sie den Ursprung der Informationen nie genau bestimmen. Die Datenfetzen und Erkenntnisse flogen ihr nur so zu wie Randnotizen oder Geistesblitze. Sie konnte das neuartige Wissen nicht sinnvoll ordnen und manchmal vermischten sich die Daten auch. Den Großteil der Fakten vergaß sie schneller wieder, als sie sie begreifen konnte. Überhaupt schien kein nennenswertes System hinter ihrer neuen Fähigkeit, ihrem zusätzlichen Sinn zu stehen. Es war unbeschreiblich aufregend und supergeheim. Sie spielte mit dem Gedanken, sich ihrem Vater anzuvertrauen, weil der doch so ein Tüftler war, aber dann entschied sie, dass er sie sofort zu einem Therapeuten schicken würde, und behielt ihre neue Gabe für sich. So nannte sie es ab da an: ihre Gabe. Sie konnte nicht ahnen, dass es sich dabei eher um einen Fluch handelte.
Mit ein paar soliden Selbstversuchen war es Sophie gelungen, ihr Problem einzugrenzen. Sie reagierte keineswegs allergisch auf jedes technische Gerät. Mikrowellen, Toaster und Rasierapparate waren kein Problem. Auch ihre Armbanduhr und der Deckenventilator waren nicht Ursache der Stimmen in ihrem Kopf. Der Übeltäter war das Internet – oder besser: eine Schnittstelle zu selbigem.
Jedes Ding, das über eine Verbindung zum World Wide Web verfügte, drängte sich ihr auf, sobald sie in Reichweite war. Was konkret Reichweite bedeutete, also um welchen Radius es sich tatsächlich handelte, konnte Sophie nicht genauer feststellen, aber pauschal war alles in Sichtweite potenziell nervig.
Von außen betrachtet, hätte man meinen können, Sophie akzeptierte ihre neu errungenen Fertigkeiten viel zu schnell und ohne großes Hinterfragen. Aber mit dieser Gabe verhielt es sich letztendlich wie mit jeder neu erlernten Fähigkeit. Es war, als würde man plötzlich damit beginnen, Musik zu machen. Anfangs fühlte es sich seltsam an, fremd und künstlich. Jeder Ton wurde mit Bedacht gespielt und Lieder waren nur eine Abfolge auswendig gelernter Noten. Doch mit der Zeit nahm man es einfach an wie eine neue Frisur oder längere Fingernägel. Es ging einem sozusagen in Fleisch und Blut über und nach einer Weile vergaß man beinahe, dass andere dieses Talent nicht besaßen.
Nachteil dieser Fertigkeit war natürlich das andauernde »Geplapper« der unzähligen, technischen Gegenstände in ihrem unmittelbaren Umfeld. Jedes noch so unwichtige, alltägliche Ding entsandte detaillierte Informationen über seine Einzelteile und durchlöcherte Sophies Gehirn damit ununterbrochen. Insbesondere Computer brachten sie um den Verstand. Sie bestanden aus so vielen Einzelteilen, dass Sophie in der Nähe jedes Laptops und gewöhnlichen Heim-PCs
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