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Ein Terroranschlag mit radioaktivem Material!
Das ist die Story, an der Journalist Kurt Kulessa dran ist. In der Sperrzone von Tschernobyl gerät er in Gefahr und ruft seinen alten Schulfreund Rolaf Heymann zu Hilfe. Zögernd macht sich Rolaf auf die Reise zur Atomruine. In der Geisterstadt Pripjat trifft er auf Jule, die Tochter von Kurt. Die beiden müssen sich mit Plünderern auseinandersetzen. Inzwischen ist Kurt Kulessa am Aralsee in Usbekistan einem weit größeren Verbrechen auf der Spur.
Abenteuerroman
© 2017 AAVAA Verlag
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2017
Umschlaggestaltung: AAVAA Verlag
Coverbild: fotolia: Schiffsfriedhof am Aralsee
Datei: 133413588, Urheber: nadinousch
Printed in Germany
Taschenbuch: ISBN 978-3-8459-2482-3
Großdruck: ISBN 978-3-8459-2483-0
eBook epub: ISBN 978-3-8459-2484-7
eBook PDF: ISBN 978-3-8459-2485-4
Sonderdruck Mini-Buch ohne ISBN
AAVAA Verlag, Hohen Neuendorf, bei Berlin
www.aavaa-verlag.com
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Alle Personen und Namen innerhalb dieses E-Books sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Für Iris, meine Inga
„An allen Enden der Welt sehe ich den Rückzug von Natur,
sehe das Sterben von Natur,
sehe ich das Ende der Schöpfung.
Das Ende der Welt ist das Ende der Liebe,
das Ende der Sprache,
das Ende der Moral."
Roger Willemsen, 2015
Hamburg
„Danach haben wir Gerd Eilenberger an einen Apfelbaum gefesselt und sind weggelaufen. Rolaf Heymann grinste und hob schulterzuckend die Hände. Er erwartete eine Reaktion aus der Runde und setzte hinzu: „... einfach nach Hause gelaufen.
„Und dann?", fragte Bernd.
„Ein Spaziergänger hatte Gerds Hilferufe gehört, band ihn los und brachte ihn zu seinen Eltern."
„Und dann hat es mächtig Ärger gegeben, was?"
„Wir haben halt Indianer gespielt, damals. Gerd war immer mit dabei und an dem Tag war er eben unser Gefangener. Mutter Eilenberger hatte sich am Telefon bei meinen Eltern beschwert, aber sie haben nicht sehr doll mit mir geschimpft. Nur in die verwilderten Gärten durfte ich von da an nicht mehr. Aber gleich nach ein paar Tagen haben wir wieder dort gespielt."
„Fand Gerd das eigentlich genauso harmlos wie du?", fragte Inga ihren Mann mit ernstem Blick.
„Na, klar!, erwiderte Rolaf. „Am nächsten Tag war wieder alles wie immer. Gerd gehörte ja zu unserer Clique. Die eigentlichen Feinde waren die Jungens aus Waldhausen. Wenn wir Südstädter gegen die Fußball spielten, mussten immer Eltern dabei sein. Sonst hätte es mehr als blutige Knie gegeben. Aber was hätte Gerd auch machen sollen? Wir waren ja alle dabei: Matthias, Axel, Kurt, Michael und ich. Wir waren alle seine Freunde.
„Schöne Freunde ward ihr. Marco hob drohend den Zeigefinger. „Heutzutage hätte die Mutter von Gerd die Polizei benachrichtigt und eure Lehrer hätten eine Konferenz gegen Mobbing einberufen.
„Ja!, musste Inga lachen. „Ihr habt euren Freund zum Mobbing-Opfer gemacht. Die Lehrer hätten ein klärendes Gespräch im Sitzkreis mit Gerd angeordnet
, fügte sie hinzu.
Rolaf und Inga hatten ihre Kollegen Bernd und Marco mit ihren Ehefrauen zu einem Käsefondue eingeladen. So eine Begegnung fand alle paar Monate abwechselnd statt. Sie wollten sich nicht mit allzu viel Nähe auf die Nerven gehen, aber über die Jahre hatten sie einen ziemlich verlässlichen und gleichzeitig zwanglosen Rhythmus ihrer Treffen etabliert. Ihre Vereinbarung war seit langer Zeit, dass immer ein anderer der Gastgeber war und die Gäste die Getränke mitzubringen hatten.
Nachdem der geschmolzene Gruyere im Topf von den letzten Brotwürfeln aufgesogen war und nur noch sein würziger Geruch im Raum lag, hatte sie ihr Gespräch zu den Spielen und Streichen ihrer Kindheit geführt. Die Bereitschaft der Runde, über Jugendsünden zu sprechen, war mit der Zahl der geleerten Gastgeschenke gestiegen, ebenso wie die Neigung, die kindlichen Fehltritte dramatisch auszuschmücken. Jeder trug eine Geschichte bei, die ihm in Erinnerung kam, und alle lachten und versicherten, so etwas ähnliches auch erlebt zu haben. Rolaf entkorkte die letzte Weinflasche aus den Mitbringseln seiner Gäste. Ihnen konnte die Arbeit morgen im Sender gleichgültig sein. Sie hatten alle dienstfrei: Bernd, der Nachrichtensprecher, seine Frau Sylvia, Marco, der Tontechniker und seine Frau Alva.
Rolaf war der Meteorologe im Team des Radiosenders. Er hatte noch nie einen Wetterbericht ins Mikrophon gesprochen. Das tat Inga mit charmanter Stimme und fügte – von Bernd anmoderiert – noch die Verkehrsnachrichten an. Aber jeder launige Text über Eiskaffee - oder Glühwein-Stimmung war in den letzten Jahren von ihm formuliert worden, auf der Basis seiner exakten Wetteranalyse.
Rolaf war ein Meister darin, die trockenen Daten der Meteorologie in die Erlebniswelt der Zuhörer zu übersetzen. Er brachte eine prognostizierte Wolkenlücke am Mittag in Verbindung mit dem bevorstehenden Frühlingsmarkt in der Stadt. Ergiebige Schneefälle fügte er mit freundlichen nachbarschaftlichen Begegnungen beim Schneeschippen zusammen. Für jedes Wetter textete er eine Metapher des Miteinanders. Seine Wetterberichte waren seit Jahren Kult beim Sender, aber selbst gesprochen hatte er noch nie eine Zeile. Das machte Inga. Rolaf war im Sommer 49 Jahre alt geworden. Das eine Jahr Abstand zu den fünfzig sah ihm aber niemand an. Er wirkte jünger. Das volle kurzgeschnittene Haar hatte an den Schläfen schon einen grauen Schimmer. Aber seine dunklen Augen wirkten aufmerksam und auf eine lebhafte Weise jugendlich. Seine Figur war die eines Marathonläufers: mittelgroß und schlank, fast schon hager.
„Hast du noch Kontakt zu Gerd?", fragte Marco, während die anderen den Tisch abdeckten.
„Nein! Rolaf schüttelte den Kopf. „Das ist fast vierzig Jahre her. Wir haben uns aus den Augen verloren.
Er strich nachdenklich durch seine Haare. „Es gab einmal ein Klassentreffen vor Jahren. Aber Gerd war nicht dabei und vor allem Susanne nicht."
„Susanne hast du bisher noch gar nicht erwähnt, bemerkte Inga im Vorbeigehen. „Sollte ich sie kennen?
Den erkalteten Fonduetopf in der Hand drehte sie sich mit hochgezogenen Brauen zu ihm. Inga war drei Jahre jünger als Rolaf, hätte aber auch für Ende dreißig durchgehen können. Sie war fast einen Kopf kleiner als er und wirkte kräftiger. Die rotblonden glatten Haare trug sie mittellang. Ihre grüngrauen Augen, mit denen sie ihre Umwelt immer etwas belustigt anzuschauen schien, strahlten eine tiefe innere Ruhe aus
„Nein, nicht nötig, entgegnete er lächelnd. „Susanne war meine erste Freundin … also, versteht mich nicht falsch! Sie war nicht meine erste Liebe. Sie war meine Indianer-Freundin. Wir waren Blutsbrüder … nein, Blutsgeschwister
, stotterte er.
„So so! Inga ging zügig auf die Küche zu. „Du hast eine Schwester?
Die anderen amüsierten sich über die gespielte Ehekrise.
„Ich habe Susanne seit der vierten Klasse nie wieder gesehen. Rolaf lehnte sich zurück und fügte vielsagend hinzu: „Leider
.
*
„Deine Geschichte hat mich an 'stayfriends' erinnert." Es war spät geworden, der Besuch war gegangen und Inga saß mit Rolaf bei einem letzten Glas Wein am Tisch.
„Stayfriends?", fragte er.
„Das Forum im Internet: alte Klassenkameraden treffen sich wieder. Kramlitz hat das neulich als neues Format vorgeschlagen. Aber so etwas eignet sich wohl mehr fürs Fernsehen."
„Du meinst, Kramlitz, unser Redakteur, will Sendungen über Klassentreffen machen?"
„Ja!, entgegnete Inga lebhaft. „Stell dir mal vor, du triffst deinen alten Klassenkameraden Gerd Eilenberger wieder und erzählst die Geschichte und er erinnert sich an seine Sicht der Dinge – vierzig Jahre später. Das kann doch eine spannende Sendung werden.
„Wenn er mir nachträglich noch eine runterhaut, wird das bestimmt spannend", lachte er.
„Oder stell dir mal vor, fuhr sie unbeirrt fort, „du triffst Jahrzehnte später auf deine alte Blutsschwester Susanne. Das wäre doch fast schon dramatisch.
„Jetzt übertreibst du aber." Rolaf gähnte.
„Oder was ist mit den anderen? Matthias, Axel, Kurt? Was ist aus denen geworden? Wie hießen die mit Nachnamen? Aus deiner alten Clique könnte man eine klasse Sendung machen, todsicher!"
„Glaube ich nicht. Er räkelte sich müde. „Das war doch nichts besonderes. Indianer spielen – alle haben das gemacht. Pierre Brice war unser großer Held, aber nicht nur unserer. Solche Winnetou-Clubs hat es bestimmt überall gegeben.
Er grübelte nach. „Axel hieß Hartwich, Matthias hieß Behrend und Kurt war Kurt Kulessa. Gerd Eilenberger kennst du ja schon."
*
Noch vor dem Frühstück suchte Rolaf am nächsten Morgen in den Tiefen seines Schreibtisches nach dem alten Klassenfoto. Die Suche war ergebnislos. Auf dem Parkplatz von Edeka am späten Vormittag kam ihm beim Einpacken der Sachen etwas in Erinnerung. „Mit Kurt Kulessa habe ich vor Jahren ganz lange gequatscht", sagte er zu Inga.
„Mit wem?", fragte sie.
„Mit Kurt Kulessa, wiederholte er. „Ich habe doch gestern von meinen alten Klassenkameraden erzählt. Vor fünf, sechs Jahren hatten wir dieses Klassentreffen. Du weißt doch noch, Susanne hatte gefehlt.
Rolaf grinste zu ihr herüber.
„An deine Blutsschwester kann ich mich erinnern." Inga sah nur kurz auf.
„Es war verrückt. Nach fast vierzig Jahren hatte ich mich mit Kurt wieder so gut verstanden, als wäre nichts dazwischen gewesen. Wir waren die letzten, die nachts noch an der Bar saßen. Er erzählte von seiner Arbeit als Fotograf. Kurt hatte keinen Beruf gelernt, aber die halbe Welt gesehen – ein richtig abenteuerliches Leben."
„Du hast ihn beneidet, stimmts?", fragte sie mit einem verschmitzten Lächeln.
„Ja, antwortete er gedehnt. „Ein bisschen schon. Er hat etwas aus seinem Leben gemacht, mit viel Willensstärke.
Rolaf hörte auf und fragte sich, warum seine Frau diese Frage gestellt hatte. „Am Ende unseres Gesprächs konnte ich ihm eine Weisheit mitgeben, die ich gelernt hatte: 'Die Leute wollen keinen Wetterbericht mit schlechtem Wetter'. Kurt hatte sich darüber geärgert, dass kritische Reportagen oft von der Redaktion abgelehnt worden waren. Er wollte aufrütteln. Aber zu viel über schlechtes Wetter wollen die Menschen nicht hören. So viel konnte ich ihm aus meiner Erfahrung erzählen."
„Können wir losfahren?" Inga hielt die Hand an der Kofferraumklappe und blickte fragend.
„Ja, sicher, sagte er wie aufgeweckt. „Ich weiß jetzt auch, wo ich das Klassenfoto suchen muss.
Wieder zu Hause brauchte Rolaf in seinem Arbeitszimmer keine zehn Minuten und er hatte das Bild gefunden. Alle Schubladen standen offen, mehrere Stapel von Papier verteilten sich auf dem Boden, er hatte ein ziemliches Chaos angerichtet. Aber das verblasste schwarz-weiß-Foto lag auf dem Schreibtisch. Etwa dreißig erwartungsfrohe Gesichter von hockenden, knienden und stehenden Erstklässlern waren zu sehen.
„Und wer von denen warst du?", fragte Inga.
Er zeigte verlegen auf einen Kopf, der hinter der Schulter eines anderen hervorragte.
„Niedlich!, entfuhr es ihr spontan. „Du konntest ja richtig süß lächeln, damals.
„So hatten meine Eltern mich erzogen, entgegnete er irritiert. „Immer freundlich lächeln.
„Ein richtiges Babyface." Ingas Augen grinsten amüsiert.
„Sei froh darüber!, konterte er in gespieltem Zorn. „Hätte ich damals kein Babyface gehabt, würde ich heute aussehen wie ein alter Mann, das heißt: so alt wie ich wirklich bin.
Er runzelte die Stirn.
„Natürlich!, lachte sie und legte ihren Arm um seinen Hals. „Alle haben mich im Sommer gefragt, ob du 39 oder 40 Jahre alt geworden bist.
Sie berührte mit den Lippen seine Wange und flüsterte: „Das wolltest du doch hören, alter Mann?"
Kurchatov
Farida Satbajewa stand am offenen Herdfeuer ihres Hauses und ließ den Reis in die schwere eiserne Pfanne rieseln, während sie beständig mit dem Holzlöffel kreisförmig rührte. Es war später Vormittag, aber schon nach dem Frühstück, als ihr Mann Ashkat und ihr Sohn Tamal zur Arbeit gegangen waren, hatte sie angefangen, den Plow anzusetzen. Sie hatte ein gutes Kilo gesalzenes Lamm in das heiße Öl geworfen, Zwiebeln, gelbe Möhren und eine Knolle Knoblauch hinzugegeben. Später hatte sie die Kichererbsen in die brodelnde Pfanne gestreut und dann ständig Wasser nachgefüllt. In etwa einer Stunde würde der Reis im Plow gar sein und um diese Zeit erwartete Farida ihre Männer zurück.
Ashkat Satbajew betrieb eine gutgehende Kfz-Werkstatt in Kurchatov. Er stand in dem Ruf, nicht nur mechanische Bauteile reparieren zu können. Er konnte auch digitale Funktionen, wie sie seit Neustem alle Fahrzeuge aus Westeuropa aufwiesen, mit dem Computer analysieren und deren Störungen beheben. Ashkat verfügte über einen modernen Analyse-Laptop, den er an den Sicherungskasten der Autos anschließen konnte. Wie von Zauberhand konnte er mit diesem Gerät zum Erstaunen seiner Kunden die Ursache des Problems an ihrem Fahrzeug auffinden. Diese moderne Ausstattung machte den Ruf von Ashkats Werkstatt aus. Außerdem gehörte ihm dank einer riesigen Freifläche der größte Schrottplatz der Stadt.
Kurchatov war früher einmal eine der namenlosen Städte der Sowjetunion gewesen, die in keiner Landkarte verzeichnet waren. Sie grenzte an das Testgelände von Semipalatinsk in Kasachstan, auf dem vor Jahrzehnten Atombombenversuche durchgeführt worden waren. Kurchatov war eine verbotene Stadt, in der gutbezahlte Militärs und Wissenschaftler lebten. Vom Reichtum ihrer Bürger hatte damals auch Kuralbek Satbajew gelebt, Ashkats Vater. Er hatte als gelernter Mechaniker in den fünfziger Jahren bemerkt, dass das nächtliche heimliche Reparieren von Autos viel mehr Geld brachte, als die Wartung der Traktoren der Kolchose, für die er vom Staat nur knapp bezahlt wurde.
Kuralbek Satbajew starb noch bevor er seine Kfz-Werkstatt richtig aufbauen konnte. Er starb an der „Auszehrung", wie die Ärzte sagten, aber Ashkat wusste es besser. Sein Vater war Opfer der Strahlenkrankheit gewesen, wie so viele der alten Menschen in Kurchatov. Bei niemandem hatten die Ärzte es zugegeben, dass sie durch die radioaktive Strahlung krank geworden waren, niemand hatte eine Entschädigung für die Folgen der Atombombenversuche in Semipalatinsk bekommen. Ashkat Satbajew hasste die Russen dafür, dass sie seine Heimat verseucht hatten und dass sie seinen Vater umgebracht hatten. Das Sterben der Sowjetunion und die Gründung der Republik Kasachstan hatte ihn kurz nach dem Tod seines Vaters vor 25 Jahren mit großer Befriedigung erfüllt, ebenso wie der Bau der Moschee in Kurchatov. Hier konnte Ashkat, der vorher nie sehr gläubig gewesen war, in den ersten Jahren seine innere Ruhe finden.
Zur Mittagszeit legte er das Werkzeug ab und kehrte gemeinsam mit Tamal von der Werkstatt ins Wohnhaus zu Farida zurück. Der scharfe Rauch der brennenden Holzscheite unter dem Herd war längst abgezogen und zurück blieb im Haus der würzige Geruch von gebratenem Lamm, Knoblauch und Gemüse. Farida hatte Melonenstücke und Brot auf dem Tisch bereitgelegt, gab dem Gericht in der Pfanne noch die letzte Würze und dann tischte sie auf. Der Plow wurde mit der Hand gegessen. Die Satbajews nahmen Reisklumpen und Fleisch mit den Fingern auf oder strichen mit dem Brot durch die Soße. Zum Reinigen der Finger stand eine Schale mit Wasser bereit. Farida bekam Komplimente für ihr köstliches Essen. Am Ende der Mahlzeit gab es eine Tasse Tee. Ashkat richtete danach die Handflächen nach oben und sprach ein kurzes Gebet.
„Dank dir, Farida, sind wir jetzt gestärkt, weiter die Autos der Russen zu reparieren", sagte er.
„Du solltest meiner Mutter danken. Farida lächelte. „Von ihr habe ich gelernt, Plow zuzubereiten.
„Ich habe Nachricht von Kasbek. Ashkat richtete sich auf. „Er hat mich vorhin angerufen. Unser Sohn ist auf dem Rückweg. In ein paar Tagen wird er wieder bei uns sein.
„Davon hast du mir vorhin gar nichts gesagt", beklagte sich Tamal, während in seinen Augen ein frohes Leuchten zu sehen war.
Kasbek Satbajew war der älteste Sohn der Familie. Seit seiner Jugend hatte er beim Vater in der Werkstatt mitgearbeitet und so das Handwerk des Mechanikers gelernt. Als er mit ungefähr achtzehn Jahren alles wusste, was sein Vater ihm beibringen konnte, hatte Ashkat entschieden, ihn zu einem Bekannten in der alten Hauptstadt Almaty zu bringen, der dort eine Werkstatt besaß. Kasbek sollte in einem modernen Betrieb mehr lernen als er selbst ihm vermitteln konnte. Nach zwei Jahren war sein Sohn verändert zurückgekehrt. Er war vertraut geworden mit der Elektronik europäischer und japanischer Automarken. Er hatte einen tragbaren Computer mitgebracht, mit dem er Fehlerquellen im Motor auffand. Aber Kasbek hatte auch Ideen, mit denen man viel Geld verdienen konnte. Almaty lag nur gut dreihundert Kilometer von der chinesischen Grenze entfernt. Jedes Schrottauto hatte sein Chef mit einem Lkw dorthin fahren lassen. Das rohstoffhungrige China zahlte in bar für jedes Metall. Kasbek konnte seinen Vater von dieser Idee überzeugen und seitdem fuhr er mit einem Sattelschlepper Autoschrott von Kurchatov bis zur chinesischen Grenze. Da er sie nicht überfahren durfte, übergab er das Fahrzeug einem chinesischen Kompagnon, der ihn für den Schrott gut bezahlte und nach China hineinfuhr. Zwei oder drei Tage später hatte dieser das Metall noch besser bezahlt weiterverkauft und kam mit dem leeren Lastzug zurück. Seit etwa zwei Jahren funktionierte dieser Pendelverkehr zuverlässig und gewinnbringend. Kasbek brachte in den Betrieb mehr Geld ein als sein Vater Ashkat mit der Reparatur von Autos verdiente. Nun war er auf dem Rückweg von China – einer Fahrt, die manchmal zwei Wochen dauern konnte.
„Ich habe es zuerst deiner Mutter sagen wollen", erklärte Ashkat seinem Sohn.
„Kasbek kommt zurück?", wollte sich Farida bei ihrem Mann versichern und ergriff seinen Arm.
„Ja, in ein paar Tagen", antwortete er und streichelte ihre Hand.
„Da bin ich froh! Das wird ein Glückstag werden! Sie zog die Brauen zusammen und senkte den Kopf. „Ich war nie dafür, dass mein Sohn ewig mit dem Auto nach China fährt. Was kann ihm da alles passieren! Ich bin froh, wenn er bald wieder bei uns ist.
„Ach, Mutter!, wandte Tamal ein. „Du solltest stolz auf meinen Bruder sein. Er bringt mehr Geld ins Haus als Vater und ich mit der Werkstatt zusammen.
Ashkat runzelte die Stirn. „Das siehst du falsch, mein Sohn, tadelte er. „Ohne die Werkstatt gäbe es den Schrottplatz gar nicht, aus dem er sich bedient. Ich sähe es auch lieber, wenn Kasbek hierbliebe und mein Werk und das Werk seines Großvaters fortsetzen würde, statt diese Schmuggelei mit den Chinesen zu betreiben.
Tamal blickte seinen Vater zornig an. „Was du Schmuggelei nennst, bringt uns eine Menge Geld."
„Trinkt noch eine Tasse Tee, bevor ihr zurück zur Arbeit geht!", unterbrach Farida und goss das heiße Getränk aus der Kanne, die auf dem Herd gestanden hatte, in die Schalen ein.
*
„Jetzt zeig mir doch mal die anderen!", bat Inga, während sie sich über das Klassenfoto beugte.
„Die anderen?", fragte Rolaf.
„Na, die, von denen du gestern erzählt hast: Gerd und Kurt und so weiter."
Er zog die Mundwinkel herunter und atmete tief ein. Sein Zeigefinger fuhr fahrig über das Bild. „Ich kenne sie nicht mehr alle, raunte er. Dann verharrte der Finger. „Nein, warte! Das ist Gerd. Ich weiß es wegen seiner blonden Haare. Und da rechts, das müsste Kurt sein. Siehst du? Der da rechts außen in der ersten Reihe.
„Der hat kein Babyface, schon als Erstklässler nicht." Inga beugte den Kopf tief über das Foto.
„Das hatte er auch später nicht, bestätigte Rolaf. „Kurt Kulessa war immer dabei, wenn es Remmidemmi gab. Der hatte vor gar keinem Angst.
Er schwieg einen Moment, drehte sich vom Klassenfoto weg und lächelte. „Einmal hat er mich rausgehauen, flüsterte er. „Ich hatte mich mit dem Falschen angelegt – Frank Deppe aus Waldhausen. Der Kerl konnte nicht lesen und schreiben, aber er war stärker als ich. Kurt hat sich auf ihn geschmissen, als er sah, dass ich unten lag. Von da an ist Frank mir aus dem Weg gegangen.
Inga nahm das Klassenfoto in die Hand und hielt es Rolaf vor. Sie grinste ihn herausfordernd an. „Stell dir doch mal diese Sechsjährigen vor: das Babyface und Kurt, den Abenteurer! Hättest du mit ihm tauschen wollen, wenn es möglich gewesen wäre?"
„Nein, antwortete er schnell. „Natürlich nicht. Kurt war viel schlechter in der Schule als ich. Er hat immer bei mir abgeschrieben. Am Ende der Grundschule war klar, dass er nicht auf ein Gymnasium gehen konnte.
„Du bist arrogant, Rolaf, sagte sie und legte das Foto zurück auf den Schreibtisch. „Ich habe dich nicht gefragt, ob du besser in der Schule warst. Ich wollte wissen, ob du heimlich in dir drinnen ein abenteuerliches Leben bevorzugt hättest.
„Nein, antwortete er gedehnt. „Ich glaube nicht. Ich bin nie in meinem Leben gestolpert oder gar hingefallen. Ich liebe die Sicherheit, in der ich lebe, und ich liebe auch manchmal die Langeweile.
Er ging ein paar Schritte durchs Arbeitszimmer. „Obwohl, schränkte er ein. „Was Kurt mir damals erzählt hat von seinen Reisen und von den Reportagen, das war schon faszinierend. Ich glaube, Kurt wollte die Welt verändern, er wollte mit seinen Berichten den Horizont der Menschen erweitern.
*
Der Ellenbogen ist der nördlichste Zipfel Deutschlands und gehört zur Insel Sylt. Er ragt wie ein Kleiderhaken als Halbinsel über Sylt hinaus und weist in Richtung Dänemark. Eine private Fahrstraße aus Betonplatten erlaubt gegen eine Mautgebühr die Fahrt mit dem Auto ans äußerste Ende der Insel, an dem sich eine Siedlung mit einer Pension und ein paar Häusern befindet. Von hier aus blickt man nach gegenüber auf den Ort List und bei klarem Wetter auf die Insel Römö und auf das dänische Festland. Ein rot-weiß gestrichener Leuchtturm steht ein paar hundert Meter vorher in den Dünen. Darunter geduckt befinden sich zwei Bungalows.
Auf der kleinen Terrasse des einen Hauses stand Hanno Söring mit einer Tasse Tee in der Hand. Söring hatte vor Jahren beschlossen, seinen Ruhestand hier gewissermaßen am Ende der Welt zu erleben. Von den Einnahmen aus seinen Fotobildbänden hatte er sich in die Erbengemeinschaft der Besitzer des Ellenbogens einkaufen können und dieses kleine Häuschen erworben. Söring war ein renommierter Fotograf in allen Kriegs- und Krisengebieten der Welt gewesen und hatte für namhafte Zeitungen und Magazine gearbeitet. Er war bekannt dafür, dass er für seine Fotografien dicht heranging an dramatische Situationen. Mehr als einmal hatte er sich dafür in Lebensgefahr gebracht. Dabei war er nicht unbedingt ein Draufgänger. Er hatte immer die Chancen und Risiken bei einer Reportage genau kalkuliert und sich häufig mit erfahreneren Kollegen besprochen. So hatte er ein sicheres Gefühl dafür entwickelt, wie weit er gehen konnte. Zu vielen dieser ehemaligen Kollegen hatte Hanno bis jetzt Kontakt gehalten und so verfügte er über ein beachtliches Netzwerk zu Fotoreportern in aller Welt.
Trotz seiner 65 Jahre besaß Hanno Söring eine schlanke, sportliche Figur. Seine wasserblauen Augen, die wirkten, als seien sie es ein Leben lang gewohnt in weite Ferne zu blicken, sahen hinüber nach List, wo gerade ein Fährschiff aus Römö einlief. Sein braungebranntes Gesicht war eingerahmt von schulterlangen, schlohweißen Haaren. Tief eingegrabene Falten um den Mund und auf der Stirn ließen ihn etwas müde wirken. Die graue Cordhose und das Leinenhemd trug er fast immer, so als hätte er mehrere Teile davon im Schrank.
Es war warm an diesem Spätsommernachmittag. Nur der Wind, der hier eigentlich immer wehte, kühlte die Luft etwas ab. Aber in seiner vollen Stärke blies er von der Seeseite her und die beiden Bungalows lagen geschützt im Windschatten der Dünen. Hanno hatte am Vormittag eine beunruhigende Mail erhalten. Einer seiner früheren Kollegen hatte ein Problem und ihn um Hilfe gebeten. Offensichtlich war er bei einer brisanten Reportage und es gab Leute, die er damit gestört hatte. Hanno wusste nicht, worum es ging. Der Kollege wollte Fotos per Mail nachliefern und sich im Laufe des Tages telefonisch melden. Darauf wartete er seitdem.
*
Kasbek Satbajew war seit Stunden mit dem leeren Sattelschlepper auf der staubigen Straße unterwegs. Er war übermüdet und immer wieder fielen ihm auf der schnurgeraden, langweiligen Piste die Augen zu. Gleichzeitig musste er höllisch aufpassen, wenn ihm ein Lkw entgegenkam. Es gab zwar Verkehrsregeln, aber kaum jemand hielt sich daran. Da es auf dem über 1000 Kilometer langen Weg von Almaty nach Kurchatov nur spärlich Polizeiposten gab, galt auf dieser Straße praktisch das Recht des Stärkeren. Glücklicherweise lenkte Kasbek das größte Fahrzeug weit und breit. Aber er musste bei jedem entgegenkommenden schweren Lkw damit rechnen, dass dieser nicht rechts fuhr, sondern die bequeme nicht von Sand zugewehte Mittellinie hielt und ihn zum Ausweichen zwang. Eine ruckartige Lenkbewegung und damit das Schleudern seines Sattelschleppers durfte er nicht riskieren. Kasbek freute sich auf seine Rückkehr nach Hause. Er musste nur noch eine geschäftliche Sache abwickeln, die seit ein paar Monaten zum festen Bestandteil seiner Tour gehörte. In einigen Kilometern würde ein schwarzes Allradfahrzeug am versandeten Seitenstreifen stehen. Die Männer, die er damals in einer Moschee in Almaty kennengelernt hatte, warteten auf ihn. Sie waren ihm seitdem mit jedem Treffen so sehr zu Freunden geworden, dass er sie 'Brüder' nannte. Er hatte nach wenigen Gesprächen gespürt, dass sie eine Auffassung vertraten, die seiner Überzeugung entsprach: Die Russen, die Chinesen und der Westen nutzen alle anderen Länder aus. Die kleinen Länder, die zwischen diese Mühlsteine gerieten, hätten überhaupt keine Chance für eine freie Entwicklung gegenüber diesen Riesen. Selbst das große Kasachstan mit seinen Ölvorkommen würde immer unterdrückt bleiben. Nur der Islam – die Religion der Völker am Rande von Russland und China – würde ein Gegengewicht schaffen können. Eine Milliarde Muslime auf der Welt musste gegen die Fremdherrschaft durch die Ungläubigen aufstehen und Kasbek Satbajew wollte an diesem Aufstand teilhaben.
In einiger Entfernung nahm er neben der Fahrbahn ein schwarzes Auto wahr. Einige Meter davor parkte ein weiteres Fahrzeug. Er verlangsamte das Tempo, lenkte nach rechts und stoppte den Sattelschlepper. Kasbek kletterte aus seinem Fahrerhaus. Aus dem Van kamen ihm drei Personen entgegen. Mit ausgebreiteten Armen begrüßte er den ersten von ihnen.
„Haschem!, rief er. „Schön, dass wir uns wiedersehen!
Er umarmte sein Gegenüber und danach die beiden anderen Männer.
„Eine Freude, Kasbek! Wie geht es dir?", erwiderte der Angesprochene.
„Gut geht es! Ich habe meinen Schrott für viel Geld an den Chinesen verkauft. Der verkauft ihn für noch mehr Geld in China weiter und nun freue ich mich auf zu Hause." Er lächelte.
„Die Chinesen sind ein wertloses Volk. Haschem verzog unwillig sein Gesicht und schüttelte den Kopf. „Aber es gibt von ihnen so viele wie Mücken im Sommer.
Haschem Jahani stammte aus Faizabad im Norden Afghanistans, er lebte aber seit langem in Tadschikistan und pendelte aus geschäftlichen Gründen zwischen den Ländern bis hin nach Kasachstan. Sein Geschäft war der Handel mit Heroin. Mit seiner in den Jahren angewachsenen Flotte von Fahrzeugen holte er von den Schlafmohnfeldern seiner Familie das Rohopium ab und brachte es über die Berge zu den Destillerien in kleinen Dörfern Tadschikistans. Früher hatte er den tadschikischen Zöllnern am Grenzübergang Bestechungsgeld zahlen müssen, damit sie seine Lieferungen ohne Kontrolle durchwinkten. Heute zahlte er den Beamten an bestimmten Straßen über die Grenze ein regelrechtes Gehalt, das ein zehnfaches ihrer normalen Bezahlung ausmachte.
Aus den Destillerien holten er und seine Kurierfahrer das reine Heroin verpackt in Plastiktüten zu einem Kilo ab. Jedes Kilogramm war hier knapp 4000 Dollar wert. In Moskau zahlte man dafür 40000 Dollar. Zuletzt hatte Haschem die Gehaltszahlung auch für einige Zollbeamte an der Grenze zu Usbekistan eingeführt. So verfügte die Route seiner Fahrzeuge über eine sichere Logistik bis nach Kasachstan. Vor der dortigen Grenze musste er seine Ware allerdings verstecken. Aber das war ihm auch heute wieder gelungen. Die Plastiktüten waren in einem Benzinkanister unter seinem Auto verborgen.
„Ja, du hast recht, stimmte Kasbek zu. „Die Chinesen sind Ungläubige. Sie interessieren sich nur für das Geschäft. Aber sie zahlen gut für den Schrott, der bei uns einfach herumliegt.
„Ich habe eine Bitte an dich, sagte Haschem und gab einem seiner Leute ein Zeichen. „Das heißt, eigentlich ist es eine Bitte des Sheiks.
Er atmete tief ein und warf den Kopf in den Nacken. „Ich habe Sheik Omar von dem riesengroßen Schrottplatz deines Vater erzählt. Einen Teil davon möchte er pachten. Er hat bestimmte Vorstellungen. Sheik Omar wünscht eine Niederlassung in Kasachstan. Kannst du das ermöglichen, Kasbek?"
„Ich weiß es nicht. Er blickte Haschem erstaunt an und zuckte mit den Schultern. „Mein Vater ist ein eigensinniger alter Mann. Aber ich habe ihm durch meinen Handel mit China zu viel Geld verholfen. Er konnte sich diese computergesteuerten Geräte nur meinetwegen kaufen. Vielleicht erweist er sich als dankbar. Aber du weißt ja, wie diese Bauern sind. Die geben niemals ein Stück Land her. Was will der Sheik denn mit dem Schrottplatz?
„Du wirst deinem Vater weiterhin viel Geld einbringen, lächelte Haschem und wies auf seinen Mann, der mit einem Benzinkanister auf die beiden zukam. Dieser klappte den vermeintlichen Kanister auf und Kasbek sah eine Plastiktüte mit weißem Pulver darin. „Ein Kilo reinstes Heroin. Du kannst es mit einem Kilo Kreide verlängern und es ist immer noch erstklassig. Ich schenke es dir.
Kasbek riss die Augen auf. „Das kannst du nicht tun, Haschem! Du weißt, ich habe Geld bei mir."
„Doch,
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