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Drachenblutlinie: Die wiedergeborene Seele
Drachenblutlinie: Die wiedergeborene Seele
Drachenblutlinie: Die wiedergeborene Seele
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Drachenblutlinie: Die wiedergeborene Seele

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About this ebook

Der Krieg tobt.
Und mittedrin, an der Schlachtfront befindet sich Lilian. Als magische Heilerin des Jeskava-Ordens versucht sie im Blut kniend, die Leben der Verletzten zu retten. Doch Nurins Allmacht kennt kein Ende, die Opfer werden immer zahlreicher.
Auch Airen gibt sein Bestes, neben seinem Bruder das Heer seines niederträchtigen Onkels zurückzutreiben. Doch der Fluch in seinem Körper und in seinem Land nimmt Überhand. In die Enge getrieben, verrät er seine Liebe zu Lilian und wendet sich an die dunkle Macht, die der Fluch des Drachen in seinen Körper gepflanzt hat.
Ein wüstes Chaos bricht herein. Schafft es Lilian, Airen wieder zur Besinnung zu bringen? Wird Nurin den Ausfall ausnutzen und die Schlacht gewinnen?
LanguageDeutsch
Release dateFeb 1, 2018
ISBN9783746054360
Drachenblutlinie: Die wiedergeborene Seele
Author

Jana Nüßler

Im Alter von 17 Jahren konzipierte Jana Nüßler die Anfänge der Trilogie »Drachenblutlinie«. Während ihres Studiums der Germanistik und Kunstgeschichte in Münster setzte sie das Schreiben fort und vollendete schließlich ein Erstlingswerk, das den Leser zu einer spannenden Reise in eine magisch mystische Welt einlädt. Hier müssen sich die Protagonisten ihrer schicksalhaften Vergangenheit stellen, um durch Glaube und Liebe einen Ausweg aus dem verheerenden Chaos zu finden.

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    Book preview

    Drachenblutlinie - Jana Nüßler

    Die Autorin

    Im Alter von 17 Jahren konzipierte Jana Nüßler die Anfänge der Trilogie »Drachenblutlinie«. Während ihres Studiums der Germanistik und Kunstgeschichte in Münster setzte sie das Schreiben fort und vollendete schließlich ein Erstlingswerk, das den Leser zu einer spannenden Reise in eine magisch mystische Welt einlädt. Hier müssen sich die Protagonisten ihrer schicksalhaften Vergangenheit stellen, um durch Glaube und Liebe einen Ausweg aus dem verheerenden Chaos zu finden.

    Inhaltsverzeichnis

    Prolog

    Kapitel: Das Heer des Prinzen

    Kapitel: Rückschläge

    Kapitel: Der Sturz des Drachen

    Kapitel: Ein Hoffnungsschimmer

    Kapitel: Die Moore Tessaliens

    Kapitel: Das Schwert der zwei Seelen

    Kapitel: Vankawar

    Kapitel: Die Wiedergeburt Nailinas

    Kapitel: Drachenblut

    Kapitel: Das Ende

    Epilog

    Prolog

    Mit zusammengebissenem Kiefer und vor Schmerzen in die Stuhllehne verkrampften Fingern sah Serafan mit an, wie der Heiler mit der sorgenzerfurchten Stirn den Verband an seinem Bein wechselte. Die Miene des kahlköpfigen alten Mannes sprach Bände: Die Beinknochen waren durch den Sturz und die Wucht des Aufpralls unter dem schweren Körper des Pferdes in unzählige Teile zersplittert. Dass er jemals wieder gehen würde, war kaum vorstellbar, doch malträtierte nicht allein dieser Gedanke sein Hirn; viel schlimmer waren die vielen inneren Blutungen, die die Haut seines Beines bereits blau färbten.

    Widerwillig drang erneut die Unterhaltung der ein Dutzend Heiler in seine Gedanken, deren Fachgeplänkel er am Vortag zugehört hatte. Ihre Sorgen hatten ausschließlich dem unterbrochenen Fluss seiner Lebenssäfte gegolten. Sie befürchteten, dass man das Bein amputieren müsste, da das Blut ins Gewebe floss und nicht mehr ausreichend den unteren Teil des Beins belebte. Dass er folglich nicht mehr laufen konnte, war eine bittere Verharmlosung der eigentlichen gegenwärtigen Situation. Er würde sein Bein verlieren und nur noch als Krüppel in der Schlacht kämpfen können, während seine Männer ehrenhaft im Kampf starben. Es machte ihn rasend!

    Angestachelt von dieser Wut und den Schmerzen, die durch seinen Körper jagten musterte er den schwitzenden Kahlkopf, der gerade dabei war, die letzte Schicht der heilenden Paste auf seiner Haut abzutragen. Was darunter zum Vorschein kam, schimmerte bereits dunkelblau, verquollen und rot hervor. Die einzelnen Fleischwunden bluteten noch immer, da hatten selbst die blutstillenden Blätter, die man darauf gelegt hatte, nicht geholfen. Alles in allem kein schöner Anblick. Es erinnerte ihn an ein aufgeschlitztes Huhn von innen, wenn man die Eingeweide entfernt hatte und auf die dünnen blaurot schimmernden Muskelfasern zwischen den Rippen starrte – es wirkte so, als hätte man sein Inneres nach außen gekehrt.

    Aber das Fass wurde immer voller, wenn man von seinem eigenen Problem absah und die verbliebene Aufmerksamkeit auf das Gemetzel auf dem Schlachtfeld lenkte: Kamoris Beldronars Leichnam hatten sie vor zwei Tagen auf dem Esodarap feierlich verbrannt. Sein Sieg über die Behemos hatte ihnen viele Leben erhalten, doch schlug sein Tod auch eine große Kerbe in die Verteidigungslinie, da unter anderem Coronn als Truppenleiterin aufgrund ihrer Trauer ausschied. Das Schlimmste von allem war jedoch die Erkenntnis, dass Nurins Heer kaum an Angriffsstärke verloren hatte, wenngleich der Großteil der Behemos – so vermuteten sie lediglich aufgrund der Informationen ihrer eigenen Kundschafter – durch Beldronars Attacke vernichtet waren. Nurins Armee schien an Kraft, Schnelligkeit, Besonnenheit, Kampfgeist und Angriffskraft kaum abzunehmen. Im Gegenteil, schlug man einen Krieger, erschienen an dessen Stelle zwei neue und es hatte den Anschein, dass diese noch stärker waren als derjenige zuvor.

    Ein schmerzender Stich durchbrach Serafans Gedanken und er warf einen vernichtenden Blick auf den Heiler, der seinen Fehlgriff mit demütigem Augenaufschlag zu verzeihen suchte. Mürrisch ließ ihn der Prinz weiter am Verband gewähren und er wandte alsbald seine Gedanken wieder der gegenwärtigen Schlacht zu.

    Vielleicht hatte Nurin die Kraft, seine Krieger mit seiner Magie aufzurüsten, sie unbesiegbar zu machen, indem er sie durch diesen unheimlichen Nebel speiste. Vielleicht war das die Antwort auf diese unbezwingbare Gewalt, gegen die sie kämpfen mussten. Aber wie, bei Shivokors Namen, sollten sie sie aufhalten? Beldronar war tot, Coronn unpässlich, er selbst war ein Krüppel und seinem Heer fehlte es an leitenden, stärkenden Positionen. Bei den Göttern, wo steckte Airen bloß? Seine Boten, die er zu Pferd vorausgeschickt hatte, waren noch immer nicht zurück und konnten seine in ihm keimende Verzweiflung, wo die Unterstützung seines Bruders verblieb, noch immer nicht besänftigen. Es war Tage her, dass er sie losgeschickt hatte. Ob sie wohl umgekommen waren? Aber drei Mann auf einmal? Oder fing Nurin seine Boten ab?

    In seiner Grübelei gefangen bemerkte Serafan gar nicht, wie der Heiler, der seine Arbeit getan hatte, aus dem Zelt verschwand und nur wenige Augenblicke darauf ein Mann das Zelt betrat. Seine Kleider waren durchgeschwitzt, doch wirkten sie noch immer recht sauber und schicklich. Sein Gesicht war ausgezerrt und ein gehetzter Ausdruck stand darin geschrieben. Er räusperte sich kurz, doch schien der Prinz ihn weiterhin nicht wahrzunehmen. Erst als er den Vorgang wiederholte, glitten die braungrünen Augen des Prinzen auf den Neuankömmling.

    »Eure Hoheit.« Er verneigte sich flüchtig, ehe er fortfuhr. »Ich bringe Nachricht Eures Bruders, Prinz Airen.«

    Serafans Miene erhellte sich schlagartig. »Sprich, ich warte schon lange auf seine Botschaft. Wann wird uns sein Heer erreichen?«

    »In zwei Tagen, Hoheit. Euer Bruder hatte mich zu Euch gesandt, da Eure Boten, die vor vier Tagen unsere Flotte erreichten, dringend Unterstützung forderten. Prinz Airen schickte daher meinen Kameraden und mich zu Euch, um Euch darüber zu informieren.«

    Der Mann holte eine kleine Pergamentrolle aus seiner Gewandtasche hervor und streckte sie dem Kronprinzen entgegen. Sie war mit einem roten Wachssigel, in das ein fliegender Drache eingraviert war, verschlossen. Es war Airens Siegel, erkannte Serafan erwartungsvoll und durchbrach das Wachs mit seinem Fingernagel. Während der Bote weiterhin vor ihm kniete, erfasste der Prinz die wenigen Zeilen, die in der Handschrift seines Bruders geschrieben standen:

    Bruder,

    ich hoffe inständig, dass Dich dieser Brief erreichen wird und unsere Hilfe euch nicht zu spät zukommt. In circa zwei Tagen, wenn Dich meine Boten erreicht haben, werden meine Fünfundsiebzigtausend auf euch stoßen, von ihnen fünfhundert Heiler mit großen Heilkräutervorräten. Bei allem, was mir heilig ist, wir werden Nurin schlagen. Mögen die Götter über Dich wachen.

    Airen

    In zwei Tagen! Endlich, in zwei Tagen würde das Heer seines Bruders eintreffen und Nurins Stärke trotzen. Airens Worte, die sein Erscheinen ankündigten, waren der sehnsuchtsvoll erwartete Hoffnungsstrahl, der Nurins dunklen Nebel durchdringen würde und die Enge in Serafans Brustkorb vertrieb. Mit neuem Mut winkte der Thronfolger den Wachposten im Hintergrund seines Zeltes heran, der augenblicklich seine Erstarrung ablegte und sich mechanisch und wortkarg vor ihm verneigte.

    »Schickt auf der Stelle Boten zu den Anführern und Befehlshabers und benachrichtigt sie über die Ankunft meines Bruders in zwei Tagen.«

    Der Wachposten nickte und befolgte augenblicklich seinen Befehl. Nachdem er das Zelt verlassen hatte, wandte sich Serafan wieder dem Boten zu, der noch immer in seiner knienden Pose verweilte. »Lasst Euch und Eurem Kameraden Essen und saubere Kleider geben und ruht euch für den nächsten Tag von dem Ritt aus.«

    »Mit Verlaub, Eure Hoheit, aber ich – und ich spreche sicherlich auch im Sinne meines Kameraden – wir sind für Speise und Kleider sehr dankbar, aber wir sind nicht gekommen, um zu faulenzen, während tausende Männer an der Front das Land zu verteidigen versuchen.«

    Serafan zog bedächtig die Stirn kraus, während er weiterhin den Mann eingehend musterte. Er war ungefähr zehn bis fünfzehn Jahre älter als er selbst und die Jahre hatten tiefe Furchen um seine Augen und seinen Mund geworfen. Aber der ja fast jugendliche Glanz in seinen moosgrünen Augen schien jeglicher Zeit zu trotzen. Dieser drahtige Mann vor sich schien der Sorte Mensch anzugehören, deren unerbittlicher Eifer, der die Jugend vieler Männer kennzeichnete, noch lange nicht erloschen war. Er schien regelrecht in Airens Heer zu passen.

    »Euer Verhalten ehrt Euch. Wenn es somit Euer Wunsch ist, in der Schlacht zu kämpfen, so werde ich es Euch gewähren. Als Bote seid Ihr sicherlich gut ausgebildet, Euch auf dem Pferd zu schlagen. So meldet Euch bei Scharif Naharr, dem Sohn Herzog Naharrs und Anführer der Flankenreiterei.«

    »Jawohl, Eure Majestät. Habt Dank.« Er verneigte sich untertänig und offensichtlich zufrieden mit der Order und verließ den Prinzen. Endlich allein ließ sich Serafan in seinen Stuhl zurückfallen und dachte erneut an den Brief seines Bruders, während sein Blick wie so häufig in den letzten Tagen auf sein zertrümmertes Bein fiel. Die Ankunft von Airens Heer bedeutete nicht nur an der Front neue Hoffnung, sondern auch für sein eigenes Wohl, führte sein Bruder schließlich die einzige Magierin Merodiens mit sich, die durch die Göttliche Macht in ihrem Körper in der Lage war, Wunden zu heilen. Vielleicht konnte diese sagenumwobene Lilian Merell sein Bein noch retten, sodass er seinen Männern und seinem Bruder in der Schlacht beistehen konnte – im wahrsten Sinne des Wortes – und nicht weiterhin in seinem Zelt versauerte, während sein heerführerloses Heer die Schlacht ohne ihn schlug. Mit diesen hoffnungsträchtigen Gedanken erwartete der Prinz seinen Beraterstab.

    1. Kapitel: Das Heer des Prinzen

    Lilians Herzschlag dröhnte in ihren Ohren und ihr schwindelte, sodass ihr Griff um die hölzerne Reling nur noch fester wurde. Mit angstvoll geweiteten Augen nahm sie wahr, wie der Dreimaster langsam das Ufer des Esodaraps ansteuerte. Dort hatte sich bereits in den frühen Abendstunden eine große Menschenmenge versammelt, die offensichtlich gekommen war, den Prinzen und dessen Heer in Empfang zu nehmen. Eine Sänfte mit rotem Baldachin stakte in ihrer Mitte empor, umgeben von dutzenden Rittern, die mit eisernen Gesichtern zu den Ankömmlingen an Deck hinauf starrten. Lilian wurde immer unwohler.

    Ihr wurde unmittelbar bewusst, dass der Krieg nun kein gedankliches Konstrukt in ihrem Kopf mehr war, sondern er nun hier am sandigen Ufer des Esodaraps Realität wurde. Hier würde sie unweigerlich auf den Tod treffen, wenn sie ihren Fuß auf die Erde setzen würde und die Langlebigkeit im Schatten der Schiffsmasten hinter sich ließ. Es war ein Anfang und ein Ende. Aber ein Ende für diejenigen, die sie liebte? Oder gar für sich selbst? War das ihr von den Göttern auferlegtes Schicksal?

    Unsicher glitt ihr Blick auf die Menschen, die neben ihr an der Reling standen und dem Ereignis beiwohnten. Stumm, sprachlos und versteinert stierten die Männer auf das Empfangskomitee, welches ihnen immer näher kam und ihrerseits die Starrheit und Statuenhaftigkeit an Deck zu spiegeln schien. Es wirkte auf Lilian vollkommen zeitlos, wie ein stummer Blickkontakt ewiger Statuen. Plötzlich ging ein Ruck durch das Schiff: Sie hatten angelegt und der Ruck schien sich auf die Menschen an Deck zu übertragen. Taue wurden über Bord geworfen und an Land verbunden, Planken wurden gehievt und über Bord gelegt. Mit zittrigen Gliedern erfassten ihre blauen Augen, wie sich die Männer neben ihr lösten. Es war Zeit zu gehen, aber ihre Beine waren schwer wie Blei. Sie hatte das Gefühl, als würden ihr alle Körperfunktionen versagen. Sie wollte nicht hier sein. Bei den Göttern, hier hatte sie nichts zu suchen!

    Erschrocken fuhr sie zusammen, als sich eine Hand auf ihre Schulter legte. Panisch starrte sie in die vertrauensvollen Augen Brans, der ihr mitfühlend zunickte. »Es ist Zeit«, sagte er langsam. »Er verlangt nach dir. Du sollst ihm unmittelbar folgen, wenn wir das Schiff verlassen.«

    Er führte sie widerspruchslos mit sich und reihte sich mit Lilian an der Seite hinter Airen ein. Wie in Trance glitt ihr Blick über den schweren Mantel, der das breite Kreuz des Prinzen nur noch mehr unterstrich. Warum wollte er sie bloß hier haben? Hier vorne direkt an der Front des Geschehens? Sie fühlte sich schon schlecht genug, ohne sich vor dem Empfangskomitee präsentieren zu müssen, denn die Furcht vor dem Krieg, vor dem Tod, raubte ihr beinahe alle Sinne. Was sollte das bloß?

    Lilian fröstelte, obgleich die Abendluft angenehm war, und sie zog den hellblauen Seidenumhang, den ihr Felina zum Abschied geschenkt hatte und das schlichte Kleid darunter verbarg, enger um ihren Leib. Der Stoff griff den Blauton ihrer Kette hervorragend auf, was sicherlich von Felina beabsichtigt gewesen war. Bei den Göttern, sie vermisste sie, sie vermisste ihr starr geregeltes, aber friedvolles Leben als Priesterin in Lohringen mit all ihren Freunden, die sie nun hatte hinter sich lassen müssen. Lediglich Nail war ihr geblieben. Sie stockte. Wo war sie überhaupt? Die Frage nach dem Verbleib der jungen Novizin entriss sie ihrer Furcht und eine nagende Beklemmung machte sich augenblicklich in ihrem Inneren breit. Wo steckte Nail? Ruckartig riss sie suchend den Kopf herum, während gleichzeitig Nails Name von ihren Lippen glitt.

    »Ihr geht es gut. Du kannst sie später besuchen. Sie ist unter Deck«, fügte Bran leise hinzu, als Lilians panischer Ausdruck noch immer nicht aus ihrem Gesicht wich.

    »Warum kann ich sie nicht mitnehmen?«

    »Weil wir vom Kronprinzen in Empfang genommen werden. Ein Kind wie Nail würde da nur stören.«

    Lilian nickte langsam, wenngleich ihr Verstand die Tatsache noch immer nicht begreifen wollte. Sie fühlte sich so eigenartig schwammig, so als habe sie viel Wein getrunken. Als sich ihre Miene noch immer nicht klärte, flüsterte Bran ihr leise zu: »Der Kronprinz benötigt deine Hilfe als Magierin.«

    »Weshalb?«, fragte sie verdutzt.

    »Er ist verletzt.«

    Das Überraschen weitete flüchtig ihre Augen, ehe Bran die alte Entschlossenheit, die Lilian als hervorragende Heilerin kennzeichnete, in ihren Augen sowie in ihrer gesamten Körperausstrahlung erkennen konnte. Ihre Furcht verblasste immer mehr und neue Selbstsicherheit platzierte sich statt ihrer in ihrer Körpersprache. Sie schwieg und schaute nach vorne, wo einige Matrosen noch immer mit den Planken beschäftigt waren. Dann endlich hatten sie es geschafft und mit festen Schritten überquerte der Prinz die Planke und marschierte geradewegs zu der roten Sänfte. In seinem Schatten folgten Bran, Lilian sowie der Beraterstab und mit großem Abstand die restliche Schiffsmannschaft.

    Airens Augen glitten suchend über die Gesichter der Männer, die links und rechts neben ihm einen Gang bildeten und sich bei seinem Näherkommen vor ihm verneigten. Es waren viele unter ihnen, die er kannte, doch schien er ebenso viele Männer an dieser Stelle zu vermissen. Sie wirkten insgesamt abgehetzt und zerschlagen – das Antlitz des Krieges hatte Serafans Männer deutlich gezeichnet.

    Ebenso wie ihn selbst, durchschoss es Airen blitzartig, als er seinen Bruder in der auf den Boden niedergelassenen Sänfte sitzend erspähte. Seine Wangen waren eingefallen und die Haut wirkte blutleer, während ein nasser Schweißfilm seine Miene bedeckte, der neben den glänzenden, tief in den Höhlen liegenden Augen die Krankheit seines Körpers indizierte. Dann glitt Airens Blick auf das rechte Bein seines Bruders, welches unter dem Mantel, den Serafan trug, verdeckt war.

    Er kaschiert seine Verletzung, dieser Narr!

    Airens Zorn wuchs rapide, als sein Bruder trotz jeglicher Schmerzen zu seiner Begrüßung aufstand.

    »Es ist gut, dich zu sehen, Bruder.« Ein ehrliches Lächeln zierte Serafans Mundwinkel, als sie sich in der Manier von Brüdern kurz umarmten.

    »Du hättest dich mehr schonen sollen«, zischte Airen scheltend und musterte seinen Bruder besorgt. »Wo ist dein Zelt? Meine Vertrauten werden sich mit den deinigen schon allein auseinandersetzen, während dein Bein umgehend geheilt wird.« Ohne die Antwort seines Bruders abzuwarten, streifte Airens Blick über seinen Beraterstab. »Bran, Whidan und Maghoron, bitte kümmert euch um den Aufbau des Lagers und die Truppenzusammenführung mit dem Heer meines Bruders. Setzt euch dazu mit den zuständigen Befehlshabern auseinander und helft ihnen, wo es möglich ist. Die Heiler sollen sich unverzüglich um die Verletzten kümmern.« Seine Augen blieben auf Lilian hängen, die mit geweiteten Augen auf das Prinzenpaar starrte. »Merell, Ihr werdet Euch augenblicklich um die Verletzung meines Bruders kümmern.«

    »Ihr seid also die Magierin Lilian Merell?« Die vom Fieber glasigen braungrünen Augen blickten aus dem Airen so ähnlichen Gesicht freundlich auf Lilian hinab. Lilian stutzte. Wenn man von der augenscheinlichen Krankheit, dem braunen lockigen Haar und dem Altersunterschied absah, so wirkte Serafan Igradon wie das Ebenbild seines Bruders, wenngleich es viel mehr Wärme auszustrahlen schien. Eine innere Ruhe, die Lilian nicht zwingend mit Airen in Verbindung bringen würde. Verdattert machte sie erneut einen Knicks, während ihr Blick flüchtig zu Airen glitt, der sie mürrisch anstarrte. Die Ähnlichkeit schien tatsächlich nur äußerlich zu existieren. »Ich hoffe, Ihr werdet das vernichtende Urteil meiner Heiler über meine Verletzung verwerfen. Das Leben als zum Krüppel geschlagener Beobachter wäre eine allzu große Schmach für mich.«

    »Ich werde mein Bestes tun, Eure Majestät.«

    »Wir sollten keine Zeit verlieren«, schaltete sich Airen dazwischen. »Je eher dein Bein behandelt wird, desto größer ist die Möglichkeit zur Genesung. – Merell, Ihr werdet uns begleiten.«

    »Ja, Hoheit.«

    Schnellen Schrittes folgte sie der Sänfte, die sich dem weiteren Gewühl der Menschenmenge entzog. Sie spürte, wie viele prüfende Blicke dabei über sie fuhren, in denen häufig eine kalte Abschätzung lag. Obgleich dieses Heer bereits mit einer Magierin in den Krieg gezogen war, schien ihre Erscheinung zwischen ihren Reihen wohl dennoch zu missfallen. Ob es jener Likimeja Coronn ebenso erging?

    Unsicher und in sich gekehrt bemerkte Lilian gar nicht, dass die Sänfte angehalten hatte. In letzter Sekunde blieb sie stehen und verfolgte verstohlen, wie der Kronprinz sich unter Schmerzen erhob, die helfenden Hände seiner Diener abwehrte und sich mit einem schiefen Grinsen an Airens Schulter abstützte. Kurzerhand verschwand das brüderliche Gespann in dem großen Zelt. Erst jetzt wurde Lilian bewusst, dass sie zu folgen hatte. Schüchtern trat sie ein und blieb am Eingang stehen. Airen hatte seinem Bruder in einen großen Holzstuhl geholfen, der mit purpurfarbigen weichen Polstern bezogen war. Der Kronprinz hatte sein rechtes Bein auf einen ebenso gepolsterten Schemel aufgebahrt und wirkte scheinbar zufrieden. Lilians Fokus blieb an dem dick verbundenen Bein hängen, das offensichtlich verletzt war. Vorsichtig näherte sie sich den Prinzen, noch immer nicht sicher, wie sie verfahren sollte.

    »Tretet nur näher, meine Liebe.« Serafans Augen blickten gutmütig zu ihr empor. »Ich bin Euch von Herzen dankbar, dass Ihr Euch meiner annehmt. – Diese Unbeweglichkeit wird immer lästiger. Sprecht, möchtet Ihr lieber sitzen oder benötigt Ihr irgendwelche Kräuter?«

    »Vorerst wäre ein Stuhl und eine Schüssel mit warmen Wasser sehr hilfreich, Hoheit.«

    Mit wenigen Schritten stellte ihr Airen wortlos einen Stuhl neben den roten Holzschemel, auf den das Objekt ihrer aller Aufmerksamkeit thronte, und kam nur wenige Augenblicke später mit einer Schüssel dampfenden Wassers zurück. Mit dem Blick auf das Bein geheftet setzte sich Lilian und entfernte vorsichtig die blutdurchwirkten Verbandsschichten. Nachdem sie das Bein freigelegt und einen Moment benötigt hatte, den Schock bei dem Anblick der beinahe schwarz glänzenden Haut, den offenen Wunden und der Hitze, die ihr entgegenschlug, zu verarbeiten, wusch sie ihre Hände in dem Wasser und legte sie langsam auf den Oberschenkel des Prinzen. Dann entfachte sie ihre Göttliche Macht.

    Kritisch beobachtete Airen, wie Lilians Magie langsam und hauchzart durch Serafans Gewebe waberte. Diese Verletzung war alles andere als einfach zu heilen, das wusste er nicht nur durch seine eigene Erfahrung als heilender Magier, sondern allein das hohe Ausmaß des Wundbrandes war Anzeichen genug. Der untere Teil seines Beines, der Fuß und sogar die Zehen waren beinahe schwarz angelaufen – sein Bruder musste unter brutalen Schmerzen leiden! Warum hatte er nur so lange gewartet und warum waren sie nicht schneller eingetroffen? Sein Blick huschte über Serafs Gesicht, welches zum ersten Mal entspannt wirkte, seitdem sie das Tal erreicht hatten. Lilians Fähigkeiten hatten sich offensichtlich nicht nur in der Verteidigung verbessert, sondern auch in ihrer Heilfähigkeit. Hoffentlich konnte sie sein Bein retten. Seine von Sorge und Hilflosigkeit verdunkelten Augen glitten auf die junge Magierin neben sich. Sie hatte sich für den Empfang zurecht gemacht: Das lange schwarze Haar hatte sie sorgfältig in mehrere kleine Zöpfe geflochten und hochgesteckt, sodass ihr liebreizender Nacken unter dem hellblauen Seidenumhang zum Vorschein kam. Ihr Kleid war allerdings schlicht; beiges, wenn auch feines Leinen. Offensichtlich hatte sie gegen das rosa Seidenkleid, welches sie damals von Naiquir geschenkt bekommen hatte, eine ebensolche Abneigung wie für den charmanten Gastgeber, der sie hatte entführen wollen. Ein blaues Funkeln auf ihrer Brust fesselte seine Aufmerksamkeit. Dieser kleine, unscheinbare blaue Anhänger, den die Priesterschaft ihres Ordens trug, brannte ein schwarzes Loch in seine Seele. Wenngleich Lilian neben ihm saß, beförderte dieser Anhänger sie in eine entfernte Welt, in der nur alte mürrische Weiber lebten und als Folge ihres freudlosen Lebens elendig verreckten. Sie würde eine von ihnen sein, wenn dieser Krieg sie eventuell verschonte.

    Airens Aufmerksamkeit wanderte erneut zu seinem Bruder, dessen Schmerzen immer mehr zu schwinden schienen, was sich ebenso an der Verfärbung seines Beines zeigte: Die beinahe schwarzen Stellen wurden von Mal zu Mal blasser und die Wunden fingen bereits an, sich zu schließen. Ungläubig starrte er auf den sichtbaren Heilungsprozess.

    »Bei den Göttern, Seraf, sie schafft es!«, entfuhr es ihm mechanisch.

    Der Angesprochene blinzelte zufrieden zu seinem jüngeren Bruder empor. »Ich weiß, ich kann es fühlen.« Seine glasigen Augen glitten auf die junge Frau, die ihre Unterhaltung nicht mitbekommen hatte. Sie hatte ihre Augen fest zusammengepresst, während ihre Lider unaufhörlich zuckten – vermutlich war ihr Blick nach Innen, in seinen eigenen Körper gerichtet; so hatte es ihm zumindest Airen früher beschrieben, wenn er seine Gabe dazu verwendet hatte, Menschen zu heilen. Unmittelbar wurde er sich der angestrengten, verkrampften Körperhaltung der jungen Frau bewusst, deren Stirn zerfurcht und mit einem leichten Schweißfilm überdeckt war.

    »Es strengt sie zu sehr an«, entschied er jäh und wollte den Heilungsprozess unterbrechen, doch noch bevor er sein Bein verrücken konnte, hielt ihn Airen davon ab.

    »Nicht, wenn du sie jetzt unterbrichst, wird sie noch mehr Kraft benötigen, um deine Wunde zu heilen. – Sie ist stärker, als es den Anschein hat.« Er legte seinem älteren Bruder beschwichtigend die Hand auf die Schulter. Augenblicklich spürte er ihre Präsenz, ihren Herzschlag, ihre Gedanken, als würde er durch Serafans Körper hindurchsehen können und Lilian darin erkennen. Hastig zog er sich zurück und starrte auf seine Handfläche, die diesen Kontakt ermöglicht hatte. »Hast du das auch gespürt?«, fragte er seinen Bruder.

    Dieser nickte bloß, noch immer verwirrt von diesem intensiven Gefühlsaustausch in sich. »Ich habe dich in mir gesehen, Airen. Dich und sie.« Sein Blick glitt auf die junge Frau, deren Körpersprache nichts von dem verriet, was eben zwischen ihnen geschehen war. Ob sie Airen auch gesehen hatte? »So etwas ist mir noch nie passiert.« Er grinste seinen Bruder schelmisch an. »Offenbar besteht eine starke Bindung zwischen dir und dieser hübschen jungen Frau.«

    »Kein Wort darüber!« Ruppig entzog sich Airen ihm und Serafan konnte mit anhören, wie sein jüngerer Bruder einem eingesperrten Raubtier gleich seine Bahnen durch das Zelt zog. Anscheinend hatte er genau Airens wunden Punkt getroffen. Einerseits tat es ihm leid, doch gleichsam war es interessant zu sehen, wie sehr er an diesem Mädchen hing. Ob sie beide wohl eines Tages ihren Frieden finden würden? Seine müden Augen glitten erneut zu der jungen Magierin und musterten sie eingehend. Sie war schön und er erinnerte sich an diese intensiven blauen Augen, die viel Tiefe und Verständnis versprachen, als er ihnen begegnet war. Vielleicht konnte sie nicht nur sein Bein retten, sondern die ganze Menschheit Merodiens, einschließlich des wütenden, verzweifelten Herzens seines Bruders. Er grinste in sich hinein. Es tat gut, sich einmal mit anderen Dingen beschäftigen zu können als mit Kriegsstrategien.

    Aber es war nicht gut, sich immer mehr vor den grausamen Seiten des Lebens zu verschließen. Mit langsam zurückkehrender Kraft, die sicherlich die sanfte, heilende Wärme in ihm frohlockte, rief er Airen zu sich, der sich augenblicklich zu ihm setzte.

    »In den letzten vier Tagen ist einiges geschehen, weshalb ich dringend mit dir sprechen muss. Kamoris Beldronar ist tot.«

    »Bei den Göttern! Ich habe ihn vorhin in der Menge bereits vermisst, aber ich dachte, er wäre anderweitig beschäftigt…Was ist geschehen?«

    »Er hat sämtliche Naturkräfte in sich gebündelt, um die Behemos zu zerstören. Diese gewaltigen Energien haben ihn schließlich umgebracht.«

    Sie schwiegen eine Weile, während ihre Blicke beide in die Leere glitten.

    »Er ist ein großes Risiko eingegangen«, sagte Airen langsam. »Das Bündeln fremder Naturenergien ist kein leichtes Unterfangen, vor allem, wenn man beabsichtigt, damit Kreaturen wie die Behemos zu eliminieren. Was ist mit den anderen Truppenführern? Wie steht es um Naharr?«

    »Er kämpft wie kein zweiter und sein Sohn Scharif ist ein hervorragender Stratege und ebenso mächtig im Kampf wie sein Vater. Aber es sind so viele. Du kannst dir nicht vorstellen, wie entsetzlich diese Viecher sind, Airen. Sie metzeln alles nieder, was ihnen vor die Füße läuft. Kamoris’ Tod war gleichzeitig ein schmerzlicher Segen, denn er riss den Großteil dieser Meute in den Tod. Allerdings fällt seitdem Likimeja als Anführerin aus.«

    Airen nickte verständnisvoll. Dass Likimeja Coronn den Magier Kamoris liebte, war ihm während seiner Ausbildung als Magier aufgefallen. Nach dem Tod Orions hatte er viel Zeit mit den vier Magiern des königlichen Rates verbracht und obgleich sie beinahe gleichaltrig waren, hatten sie dem jungen Prinzen noch viel beibringen können. Und schon damals hatte er bemerkt, dass zwischen Kamoris und Likimeja die Luft im wahrsten Sinne des Wortes knisterte. Ganz und gar zum Leidwesen seines besten Freundes, der Hals über Kopf in die schöne Blondine verschossen war. – Dass Beldronar nun aber tot war, warf dieses ganze Bild seiner vergangenen Erinnerung durcheinander.

    »Likimejas Rolle kann vorerst Bran einnehmen. Er ist ein hervorragender Reiter und kennt Likimeja und ihre Befehlsstrategien gut genug.«

    Serafan stimmte zu. »Vielleicht kann er auch eine Rolle in ihrem Herzen einnehmen. Ich erinnere mich noch gut daran, wie er am Hofe –« Plötzlich hielt er inne und starrte auf die junge Magierin vor sich. »Sie zittert.«

    Die braunen Augen richteten sich auf Lilian, deren Anwesenheit er tatsächlich kurz vergessen hatte. Ihr Gesicht war blass geworden, die Stirn verkrampft und ihre Hände zitterten extrem. Augenblicklich entfachte er den mickrigen Rest seiner eigenen Magie, um die magische Atmosphäre um Lilian herum sehen zu können. Unmittelbar sah er wieder den wabernden Strom, der unaufhörlich in Serafans Bein drang, dessen Dunkelheit fast vollkommen verschwunden war. Sie hat es in nur so kurzer Zeit geschafft, Serafs Wunde zu heilen! Sie hat erstaunlich viel dazugelernt. Bewundernd sah er ihre Macht, die in einem leuchtenden Silber erstrahlte, doch erkannte Airen jäh, dass die Farbe sich langsam verdunkelte und rotstichig wurde: Lilian transferierte ihre eigene Lebensenergie, durchschoss es ihn augenblicklich. Im selben Atemzug, indem er seinen eigenen Magiefluss stockte, zog er Lilian von dem Bein fort. Sie stöhnte auf, während ihre Lider kurz aufflatterten und sie schließlich bewusstlos in seine Arme glitt.

    »Was ist mit ihr?« Die panische Stimme seines Bruders riss ihn von Lilians Antlitz los.

    »Sie hat ihre Grenze überschritten, um dein Bein zu heilen, und dabei ihre eigene Lebensenergie benutzt.«

    »Hast du ihr denn nicht beigebracht, ihr Vermögen nicht zu überschreiten?«

    »Für wen hältst du mich?«, blaffte Airen seinen Bruder an, der sich ebenfalls zu Lilian gebeugt hatte. »Sie sollte sich am besten ausruhen.« Plötzlich grinste er schief. »Du scheinst noch gar nicht bemerkt zu haben, dass dein Bein wieder ganz das alte ist, was?« Das Stutzen in Serafans Gesicht brachte Airen zum Lachen. »Sie hat es geschafft.«

    »In der Tat.« Serafan starrte auf sein Bein, dann wieder auf Lilians ruhendes Gesicht. »Ich kann wahrhaft verstehen, was du an dieser Frau findest. Ihr Herz scheint mindestens für zwei Menschen zu reichen, wenn sie aus Herzensgüte allein ihr eigenes Leben für mich aufs Spiel gesetzt hat.«

    Airens Miene verfinsterte sich, während er Lilians unschuldiges Gesicht musterte. »Wenn Nurin sie in die Finger kriegen sollte, haben wir unsere besten Karten verspielt.«

    »Sie hat einen guten Beschützer.« Er klopfte seinem Bruder aufmunternd auf die Schulter, während er sich langsam erhob und die Stärke seines geheilten Beines genoss. »Bringe sie in ihr Zelt, Airen. Sie sollte sich gut ausruhen, ehe der Morgen anbricht. Wir haben noch viel Arbeit vor uns und sie wird ebenso viel zu tun haben, wenn ich nur an all die Verletzten denke. Ihr seid wahrlich neue Hoffnungsträger.« Er grinste seinem Bruder zu. »Lasse Wachen bei ihr.«

    »In Ordnung.« Airen erhob sich langsam und bettete Lilian vorsichtig in seinen Armen, ehe er sich seinem Bruder zuwandte. »Es freut mich, dich zu sehen, Seraf.« Er lächelte flüchtig und verließ sodann das Zelt des Geheilten, der zufrieden zu dem Tisch trat, auf dem die Karte des Tals mit den Aufstellungen der Heere positioniert war. Mit Airens und Lilians Stärke konnten sie vielleicht wirklich gewinnen.

    * * *

    Laute Trommelschläge rissen Lilian aus ihrem Schlaf. Sie blinzelte entkräftet, während sich ihre Hände aus der Decke befreiten. Wo war sie hier? Verwirrt und mit schwerem Kopf schaute sie sich um: Sie befand sich in einem großen Zelt, in welchem sie die vertraute Truhe vom Schiff, ihren Kräuterkasten und einen Tisch mit Stuhl erspähte, über dessen Lehne wohl gefaltet ihr blauer Seidenumhang hing. Auf dem Tisch erkannte sie schließlich eine Schale mit Obst und einen Krug Wasser. Durstig stieg sie aus dem Bett und trat noch immer in dem beigen Leinenkleid gekleidet zum Tisch, um sich aus dem Krug Wasser zu schenken. Noch während sie trank, drehte sie sich noch einmal in dem Zelt um: Man hatte ihre Sandalen sorgsam neben das Bett gestellt, neben dem kleinen Schemel am Fußende. Unmittelbar erfasste sie darauf ein kleines Säckchen mit einer dabei liegenden Pergamentrolle, die mit einer roten Kordel zusammengebunden war. Neugierig trat sie näher und öffnete sie, nachdem sie ihr Glas abgestellt hatte.

    Zwischen Heldentum und Leichtsinn liegt oftmals kein großer Unterschied. Zur Stärkung einige Pastillen, die gegen die Erschöpfung helfen. Sie sind ungefährlich und haben keine Nebenwirkungen. Sei demnächst vorsichtiger. Airen

    Benommen legte sie die Schriftrolle beiseite und holte eine braune daumennagelgroße Pastille aus dem Säckchen hervor, die nach Erde und Salz roch. Ohne zu zögern, schluckte sie sie hinunter und leerte das Glas danach in einem Zug. Eigenartig berührt betrachtete sie wieder die Pergamentrolle. Airens Worte erzürnten sie gleichwohl, wie sie ihr schmeichelten. Offenbar war es ihr gelungen, die Beinverletzung seines Bruders zu heilen. Sie war sich nicht mehr sicher gewesen, denn das Letzte, an das sie sich erinnerte, war diese Hitze, die in ihren Körper gedrungen war. Davor hatte sie kurz Airen gespürt, unmittelbar, noch während sich all ihre Gedanken, ihre ganze Konzentration auf die schwere Verletzung gerichtet hatten, hatte sie ihn gesehen, so, als ob er in Miniaturformat in den Körper seines Bruders gesprungen war. Sie hatte seine Angst gespürt und die tiefe nagende Sorge in seinen Augen gesehen. Dann war er verschwunden und sie hatte weiter versucht, die dunklen Schatten aus dem Körper des Prinzen zu vertreiben. Dann war ihr ganz warm und schließlich schwindelig geworden.

    Ich muss in Ohnmacht gefallen sein.

    Plötzlich schreckte sie zusammen, als erneut die donnernden Trommelschläge zu ihr drangen. Offensichtlich war das das Zeichen zum Aufbruch. Mit einem griesgrämigen Grinsen trat sie an die Truhe und war abermals an diesem frühen Morgen überrascht, als sie auf ein in grobes Tuch eingewickeltes Paket blickte. Darauf lag ein kleiner Zettel, auf dem sie abermals Airens Handschrift wiedererkannte.

    Es kämpft sich schlecht mit weiten Röcken. Diese Kleider sind denjenigen Likimeja Coronns nachempfunden. Ihr Zelt befindet sich neben dem deinen, ebenso wie dasjenige von deiner Novizin Nail.

    Neugierig faltete sie das Tuch auseinander und stierte ungläubig auf die Männerkleidung in ihrer Hand. Es war folglich kein Gerücht, dass sich die einzige Magierin in des Prinzen Heer wie ein Mann anzog. Völlig perplex faltete sie die Hosen sowie das schwere Wams auseinander. Darunter kam ein feines Kettenhemd zutage, welches leichter war, als Lilian erwartet hatte. Außerdem war es viel schmaler, als diejenigen, die sie bisher gesehen hatte. Offenbar hatte Airen es für sie anfertigen lassen. Gerührt und unwohl zugleich legte sie es beiseite und blickte schließlich auf drei einfache Kleider, deren Rocksaum von innen mit dickem Leinen verstärkt war. Überwältigt wählte Lilian eines dieser Kleider aus und zog es sich schnell an. Es passte perfekt. Dann biss sie energisch in einen Apfel aus der Obstschale, kämmte sich schnell die Haare aus dem Gesicht, die sich aus ihren geflochtenen Zöpfen gelöst hatten, und band sie zu einem Zopf zusammen. Dann nahm sie ihren Kräuterkasten und verließ hastig ihr Zelt.

    Es war kurz vor Sonnenaufgang und die sich vor ihr ausgebreitete Zeltstadt verschwand hinter einem grauen Dunstschleier, der das niedergetrampelte Gras mit Tau benetzte und ihr kalt die Füße hochkroch. Lilian fröstelte, doch sie wusste aus Brans Erzählungen, dass hier im Tal zur Mittagsstunde die goldene Barke unheimlich an Stärke gewann und rücksichtslos auf die Männer niederbrannte – ganz egal, dass es Herbst war. Daher straffte sie bloß ihre Schultern und folgte ihrem ersten Impuls, der sie zu Nails Zelt führte. Da sie durch Airens Nachricht wusste, dass sich die Zelte von Nail sowie der Magierin des königlichen Rates neben dem ihren befanden, wählte sie das etwas kleinere aus und trat ein. Sie fand die junge Novizin bereits wach und angezogen vor.

    »Guten Morgen, Nail. Wie ich sehe, warst du schon fleißig.«

    Überstürzt rannte die Neunjährige in Lilians Arme und begann heftig zu schluchzen. Irritiert versuchte Lilian, sie zu beruhigen. »Nail, bei der Gottmutter, was ist denn passiert? Hat dir jemand etwas angetan?«

    Voller Tränen in den Augen blickte das Mädchen zu ihr auf. »Ich … ich dachte, ich würde Euch nie mehr wiedersehen.«

    »Aber wie bist du denn auf diese Idee gekommen? Ich würde dich niemals einfach so allein lassen, Nail.« Beruhigend strich sie Nail über die blonden Locken, während sie geduldig wartete, bis sich die Novizin wieder beruhigt hatte und ihre Tränen versiegten waren.

    »Der Mann, der mich gestern hierher brachte, der sagte mir, dass ich mir überlegen sollte, wie ich nach Hause käme. Das habe ich nicht gleich verstanden und ihn gefragt, wie er das meinte. Darauf hat er gesagt, dass Ihr mich verlassen würdet.« Sie starrte Lilian mit ihren großen Augen an.

    »Und warum sollte ich das tun?«, fragte Lilian mit einer schlechten Vorahnung.

    »Er meinte, Ihr würdet heute nicht mehr von der Front zurückkehren.«

    Lilian schluckte ihren Grimm bedächtig herunter und versuchte sich in einem vertrauenden Lächeln, was ihr halbwegs gelang. »Nail, höre mir gut zu. Es gibt hier einige Männer, die unseren Orden nicht dulden, weswegen sie solche Geschichten erzählen, um dir Angst einzujagen. Ich werde dich nicht verlassen und ich habe nicht vor, in diesem Krieg zu sterben. Dennoch musst du mir versprechen, dass du gut auf dich aufpasst, denn es ist hier zweifellos gefährlich.«

    »Na, das ist aber noch milde ausgedrückt.«

    Erschrocken drehte sich Lilian herum und erblickte eine blondhaarige junge Frau, die lässig im Eingang des Zeltes stand. Sie war wunderschön, wie Lilian fand, doch wirkten ihre blauen Augen wie Eis. Sie musste die Magierin Likimeja Coronn sein. Entgegen Lilians Vermutungen trug diese jedoch ein schlichtes Leinenkleid. Allerdings war Lilian überzeugt davon, dass die Magierin selbst in Männerkleidern durch ihre unglaubliche feminine Ausstrahlung wohl jeden Mann verführen konnte. Sie war groß, schlank und trug ihre goldene Mähne wie sie in mehreren Zöpfen, die sich am Hinterkopf in einen größeren vereinten. Sie wirkte wie eine Göttin.

    Langsam riss sich Lilian von dieser mächtigen Erscheinung los und besann sich wieder der Unterhaltung. Der schnippische Tonfall in der Stimme der jungen Frau war ihr nicht entgangen, sodass sie sich innerlich gegen diese mysteriöse Unbekannte wappnete. »Es ehrt uns, dass Ihr uns besuchen kommt, Likimeja Coronn. Wenn ich Euch vorstellen darf, mein Name ist –«

    »Ihr seid mir hinlänglich bekannt, Lilian Merell«, unterbrach sie sie brüsk. »Eine höfische Vorstellung ist unnötig. Ich bin gekommen, Euch zum Essensausschank und danach zu dem Verletztenlager zu bringen. Dort werden Eure Kräfte auf die Probe gestellt werden. Ich bin gespannt, wie viel an den Gerüchten wahr ist, dass Ihr eine herausragende Heilerin seid.«

    Lilian schnaubte verächtlich und legte Nail schützend die Hände auf die Schultern. »Nun, dass Gerücht, dass Ihr Männerkleider tragt, scheint jedenfalls der Phantasie einiger Männer zu entstammen.«

    Likimejas Gesichtsausdruck verfinsterte sich. »Es ist kein Gerücht, du ahnungsloses Ding. Hat dich denn niemand aufgeklärt, dass es sich bei einem Krieg nicht um ein Spiel handelt? Höfische Trachten und unnütze Röcke nützen keinem etwas, sondern verfangen sich in irgendwelchem Gestrüpp oder an Leichenteilen. Hast du schon einmal einen Blick an die Front geworfen?«

    Wütend schob Lilian die verdutzte Nail zur Seite und baute sich bedrohlich vor der ebenso zornigen Magierin auf. »Welches Recht, nehmt Ihr Euch, mich so anzukeifen? Ihr wisst doch zweifellos, dass ich noch nicht an der Front stand, geschweige denn die Verwundeten gesehen habe. Ich werde mir noch früh genug ein Bild vom Krieg machen, aber zuerst werde ich sicherstellen, dass meine Novizin versorgt und außer Gefahr ist. Ich werde es nicht billigen, dass Ihr mich herumkommandiert wie ein Barbar und mich zu Dingen drängt, die Nail in Gefahr bringen. Als Anführerin der Reiterei solltet Ihr doch darüber im Bilde sein, dass eine gegenseitige Rücksichtnahme unerlässlich ist.«

    Höchst gekränkt biss Likimeja ihre Kiefer so fest aufeinander, dass sie knirschten. »Du vorlautes Miststück.« Fluchend holte sie zum Schlag aus und zielte auf Lilians Wange. Doch ihre Hand prallte im selben Moment gegen eine unsichtbare Wand, die sich unmittelbar vor Lilian ausgebreitet hatte. Eigenartig zerschlagen starrte die blondhaarige Magierin auf Lilian und ließ schließlich kraftlos die Hand sinken. »Diesen Schild habe ich bisher nur bei dem Prinzen und Kamoris gesehen.« Tränen traten in ihre Augen und sie wandte sich von Lilian ab.

    Mit gemischten Gefühlen ließ Lilian den Fluss ihrer Magie versiegen und der neu erlernte Schild verschwand. Von einer ihr noch unklaren Empfindung mitgerissen trat sie auf die Magierin zu und legte ihr fürsorglich die Hand auf die Schulter. Dieser Tag schien wahrhaft tränenreich zu werden. »Es tut mir leid, wenn ich Euch gekränkt habe, Likimeja«, sagte sie langsam. »Ihr müsst bereits furchtbare Dinge gesehen haben, die schlimmer sein müssen als jeder Alptraum. Bitte versteht meine Fürsorge für meine Novizin nicht falsch. Ich möchte sie nur, so gut es geht, beschützen, denn sie hätte eigentlich in Lohringen in Sicherheit bleiben sollen.«

    »Dieser Krieg ist fürchterlich.« Langsam drehte sich die Blondhaarige zu Lilian um, während noch immer Wasser in ihren Augen stand. »Er hat mir alles genommen.«

    Wie ein Blitz durchfuhr Lilian die Erkenntnis, dass Likimeja offensichtlich jemanden verloren hatte, der ihr sehr am Herzen lag. Es war eine schreckliche Vorstellung und ihre eigene Angst kroch wie kalter Morgentau ihr Rückgrat hinauf. »Euer Verlust muss Euer Herz zerrissen haben«, sagte Lilian langsam, als sie an ihre eigene innere Furcht dachte, dass jeden Moment womöglich Airen, Geyb, Bran oder Nail etwas im Krieg geschehen konnte.

    Die ehrliche Anteilnahme ließ Likimejas inneren Groll auf die jüngere Frau verpuffen. Sie saßen im selben Boot, verstand sie jäh und zudem – wie sie in ihrer Funktion als Beraterin des Prinzen und als Mitglied des königlichen Rates wusste – schien nicht nur diese grausame Verlustangst an Lilians Seele zu haften, sondern vermutlich auch die schreckliche Ungewissheit, weswegen Nurin ein Auge auf sie geworfen hatte. Und trotzdem strotzt sie vor einer inneren Stärke, dachte Likimeja mit aufsteigender Sympathie für die junge Priesterin, die sie mitfühlend anblickte. »Er hat sich für das Land geopfert.« Ein trauriges Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Bei ihm hatte ich das Gefühl, absolut geborgen zu sein trotz der hiesigen Gefahren im Krieg.« Energisch wischte sie sich die letzten Tränen aus dem Gesicht und lächelte Lilian zu. »Ihr seid eine wichtige Bezugsperson für Eure Novizin. Ihr solltet umso mehr auf Euch aufpassen. – Nun kommt. Es ist bereits spät.«

    Lilian nickte und folgte der Magierin, während Nails Hand fest in der ihren ruhte.

    In schnellen Schritten führte sie die Magierin an immer wiederkehrenden Zeltreihen vorbei, die bis auf wenige Ausnahmen verlassen zu sein schienen. Als sie einer Reihe auf die Spitze einer kleineren Anhöhe gefolgt waren, öffnete sich der Blick und Lilian gewahrte voller Staunen das gigantische Lager der Prinzen. Es waren abertausende Zeltwipfel, die sich über die Ebene erstreckten und von den Erstlingsstrahlen der goldenen Barke in sanftes Licht getaucht wurden. Es war gewaltig. Es schien bis an den Horizont zu reichen!

    »Seht ihr die großen Zelte dort rechts, am Esodarap? – Es sind die Lager für die Verletzten.«

    »Die sind ja riesig«, hörten die zwei Frauen Nail sagen.

    Likimeja nickte ernst. »Eure Arbeit wird dort dringend benötigt.« Sie drehte sich herum und blickte nun in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Die großen Zelte mit den roten Fahnen gehören den Prinzen. Neben ihnen befinden sich die Zelte der Berater, Barone und Truppenführer. Dieses Gebiet wird durchgehend von Wachen kontrolliert, weswegen es vermutlich der sicherste Teil des Lagers ist. – Kommt.«

    Lilian warf einen letzten Blick zurück auf die Zelte der Prinzen. Wenn sie sich nicht täuschte, war ihr eigenes Zelt in deren unmittelbarer Nähe; es stand nur wenige Zeltreihen entfernt. Sie verharrte einen Moment, denn sie hatte nicht damit gerechnet, hier ihr Lager zu haben, wenn man bedachte, dass sie während des Heereszuges – die brisante Situation in Mynas ausgenommen – ihr Lager stets bei den anderen Heilern aufgeschlagen hatte. Warum machten sie nun diese Ausnahme? Irritiert starrte Lilian auf die flatternd rote Fahne, auf der sich der gleißend goldene Drache, das majestätische Wappentier der Igradons, wand.

    »Lilian, wo bleibt Ihr denn?«

    Aus ihren Gedanken herausgerissen eilte Lilian die Anhöhe hinunter, wo Likimeja bereits auf Nail und sie wartete. Nur kurze Zeit später erreichten sie eines der Ausschankzelte, vor dem einige dutzend Krieger standen und sich hastig einen sättigenden Eintopf in die Münder schaufelten. Viele standen, manche saßen auf den wenigen Bänken, die neben dem Zelt aufgestellt worden waren; die Schwerter und Bögen stets neben sich. Als die Frauen näher traten, wanderten unverkennbar alle Blicke auf sie. Lilians Griff um Nails Hand wurde fester. Offenbar befanden sie sich hier in einem Teil, in dem ausschließlich oder überwiegend Ritter aus Serafans Heer zu finden waren und somit Nail und sie als Neulinge gebrandmarkt waren. Doch die Blicke hielten nicht an, stattdessen wurden sie immer eindringlicher, aggressiver und intimer, sodass ihr Zorn wuchs und sie ihre freie Hand zu einer Faust ballte.

    Wütend nahm sie die Schale mit dem dampfenden Inhalt vom Koch entgegen, bemerkte dabei auch seinen abschätzenden Blick und hätte ihn am liebsten den Eintopf in sein Gesicht geschleudert.

    »Kommt, Lilian. Wir setzen uns dort hinten in die Ecke. Es bringt nichts, sich über diese Hohlköpfe Gedanken zu machen«, flüsterte ihr Likimeja zu und geleitete die junge Priesterin mit ihrer Novizin an eine leere Bank. Der Eintopf, der eine wohlige Wärme in Lilians Magen ausbreitete, vermochte es jedoch nicht, ihren Missmut annähernd zu besänftigen.

    »Wie könnt Ihr das aushalten, Likimeja?«, fragte sie leise, während ihre blauen Augen über die Meute flogen. »Diese Geringschätzung ist furchtbar.«

    »Ihr werdet Euch daran gewöhnen. Und mit der Zeit wird Euer Ruf, der Euch in Lohringen nachgesagt wird, hier seine Runde machen und die Fähigkeit, Menschenleben zu retten, wird Euch mit dem fehlenden Schwert ausstatten, welches in ihren einfältigen Augen uns weibliche Schwächlinge langsam auf die Stufe der Achtsamkeit stellt.«

    »Ihr meint, ich muss mich erst beweisen, dass ich zu etwas nutze bin?«

    »Ja. Diese Spatzenhirne vergessen, dass wir Frauen es sind, die sie zur Welt bringen und ihnen Leben versprechen, indem wir uns um sie kümmern. Die Stellung als Magierin oder als Mitglied des königlichen Rates interessiert sie wenig. Es geht hauptsächlich darum, dass man als Frau auch mit Schwertern umgehen kann, um sich mit ihnen gleichzustellen.«

    »Als Truppenleiterin müsstet Ihr Euch somit Eure Achtung erkämpft haben.«

    Die Magierin nickte zustimmend. »Es hat das Leben hier deutlich einfacher gemacht.« Sie blickte auf und erkannte die Missgunst, die in dem Blick eines älteren braunhaarigen Mannes gegen sie gerichtet war. Ihren Respekt hatte sie wohl seit ihrem Zusammenbruch auf dem Schlachtfeld gänzlich verloren. Wegen ihrer Schwäche war Tommon Agoron verstorben, er hatte sein Leben für ihr närrisches Dasein gegeben.

    Während sich ihr Herz immer mehr verkrampfte, erinnerte sich Likimeja an den gerade einmal Achtzehnjährigen ihrer Einheit, der versucht hatte, sie davon abzuhalten, in Nurins Front zu dreschen und ihr verfluchtes Leben auszuhauchen. Bei den Göttern, er hätte sie gehen lassen sollen! Er hätte sich um sein eigenes Leben scheren und sie gefälligst ihre Rache ausüben lassen sollen. Dann wäre das alles nicht passiert und er wäre noch am Leben.

    »Likimeja?« Lilian hatte den Stimmungswechsel bemerkt und legte der Angesprochenen mitfühlend die Hand auf ihren Arm. Plötzlich durchzuckte ein Blitz ihren Leib und Bilder droschen auf sie ein: Sie sah einen Mann in einer magischen Aura, von dessen Körper ein riesiger, allverschlingender Magiestrom ausbrach und auf das Heer eindrosch; er starb. Dann sah sie Likimeja, wie sie mitten im Schlachtfeld zusammenbrach, sie sah zwei Männer, den rächenden verzehrenden Rausch der Magierin und schließlich einen weiteren schwarzhaarigen Mann, der ihr eine Schriftrolle übergab. Dann die hastige Flucht und den Tod des jüngeren Mannes. Schwer keuchend riss sich Lilian los und starrte erschrocken auf die Schale am Boden, die ihr aus der Hand gefallen war.

    »Was fällt dir ein?«, schrie Likimeja sie an. »Du hast nicht das Recht, meine Erinnerungen zu lesen!«

    Noch immer mit wild schlagenden Herzen richtete sich Lilian ihr zu. »Bitte, es war keine Absicht. So etwas ist mir noch nie passiert.«

    »Und das soll ich dir glauben?« Als sie den Schock in Lilians Gesicht erkannte, fügte sie leiser hinzu: »Du wirst vorsichtig sein müssen mit dieser Gabe. Wenn du einen Verletzten heilen willst, wird dir diese Innenschau Zeit und Kraft rauben. – Wir sollten jetzt gehen«, sagte sie dann, als sie einen Blick auf Nails leere Schüssel geworfen hatte. Sie selbst verspürte sowieso keinen Hunger mehr.

    Ohne weitere Erklärungen verließen sie das Ausschankzelt und Likimeja führte sie zum Krankenlager. Was Lilian dort erblickte, raubte ihr beinahe den letzten Funken Verstand. Vor ihr befanden sich mehrere Riesenzelte, die ein ungefähres Fassungsvermögen von achthundert bis tausend Mann besaßen und dennoch weitaus mehr Menschen in sich bargen. Die Verletzten kauerten Schulter an Schulter auf dem Erdboden und stöhnten von Schmerzen geplagt oder schrien. Langsam, noch immer um ihre Selbstbeherrschung bemüht, trat sie zum Eingang eines der von mehreren Stützen überspannten Zeltes, aus dem ein abgehetzter Priester hastete, die Hände bis zum Ellenbogen mit Blut überdeckt, das Gesicht aschfahl und hoffnungslos. Heiler, Priester aus verschiedenen Orden, eilten von einem Verletzten zum nächsten, verbanden offene Fleischwunden, wuschen Wunden mit heißem Wasser aus, trugen neue Pasten auf, während inzwischen Aberhunderte nach Hilfe schrien, wisperten oder gar für die Ewigkeit verstummten.

    Ohne auf Likimeja weiterhin zu achten, trat Lilian zu dem am nächsten liegenden Verletzten, einem schwarzhaarigen Mann in ihrem Alter, dessen Bauchwunde nicht zu bluten aufhörte und der bereits Blut spuckte. Er war kurz davor zu sterben und hatte niemanden, der sich um ihn kümmern konnte.

    »Nail, höre gut zu«, wies sie ihre Novizin an. »Ich werde mich um diese Männer hier kümmern, gehe du solange zum Vorratszelt und helfe den Priestern dort, blutstillende Salben herzustellen, verstanden?« Lilian warf einen bestimmenden Blick zu Likimeja, die ihnen wortlos gefolgt war. »Könnt Ihr Euch um meine Novizin kümmern und zu den Vorratszelten bringen? Ich kenne einige Priester des Girimmdon-Ordens, die sich Nail sicherlich annehmen werden und sowie ich weiß, wurden sie für die Kräuterzusammensetzungen ausgesucht.« Sie nannte die Namen, während Likimeja Nails Hand ergriff.

    »Ich werde mich darum kümmern, dass ihr nichts geschieht.« Mit diesen Worten zog die Magierin die verschreckte Nail mit sich, während sich Lilian augenblicklich dem jungen Mann zuwandte. Sein Brustkorb hob und senkte sich nur noch unregelmäßig, es war höchste Zeit! Sofort entfachte sie die Göttliche Macht in ihrem Inneren, spürte die unsagbare Energie und Kraft, die durch ihre Adern floss und ließ den sprudelnden Strom zu ihren Handflächen gleiten. Dann entfernte sie grob den blutdurchwirkten Stoff, der in die Wunde gedrungen war, und legte ihre Hände auf die nackte Haut. Augenblicklich spürte sie den raschen Herzschlag, die Angst, die durch seinen Körper jagte. Sie sah die Bilder von sterbenden Kameraden, von gigantischen Dämonen, die Unzählige zerfleischten, von Schwertern, die auf Schilden abprallten, und kleinen flinken Wesen, die unerwartet Männer aus der Menge zu Tode rissen. Anstatt die zerstörten Blutbahnen zu sehen, das zerrissene Gewebe, sah Lilian, wie sich ein Schwertschaft durch ihren Körper bohrte. Unfähig, in ihrer Vision gefangen hörte sie sein Stöhnen, das das ihre war, sah mit an, wie ihr Körper vornüber kippte und eine unglaubliche Schmerzwelle durch ihren Körper jagte. Sie sah Reiter an ihr vorbeipreschen, Ritter, die zu Fuß an ihr vorbeizogen, ohne auf sie zu achten. Stöhnend rang sie nach Atem, versuchte, um Hilfe zu schreien, doch niemand hörte sie. Wimmernd krümmte sie sich, presste unaufhörlich ihre Hände gegen die blutende Wunde, während ein schwarzer Schleier in ihre Sicht trat. Plötzlich wurde es ganz schwarz und kalt.

    Japsend löste sich Lilian von dem Ritter, dessen Atem immer schwerer zu werden schien. Was in der Götter Namen war das? Warum konnte sie sehen, wie er sich verwundet hatte? Entsetzt starrte sie auf ihre Hände, die voller Blut waren. Was war nur geschehen? Ihre von Panik ergriffenen Augen glitten langsam auf die schmerzverzerrte Miene des Mannes. Vielleicht hatte ihre Schulung mit Airen dazu geführt, dass sie ihre Magie auf einer anderen Ebene verwenden konnte. Vielleicht hatte es dazu geführt, dass sie Bilder in den Köpfen ihrer Patienten lesen konnte. Aber wie sollte sie auf diese Weise die Menschen heilen? Wenn sich ihr immer wieder die Gedanken der Betroffenen aufzwangen, hatte sie keine Möglichkeit, die Blutgefäße und die zerstörten Gewebefetzen zusammenzufügen. Schockiert starrte sie weiterhin auf den jungen Mann, dessen Röcheln immer schlimmer wurde.

    »Was macht Ihr denn da?«, drang plötzlich eine fremde Stimme zu ihr nieder. Ruckartig riss sie ihren Kopf herum und blickte in das mürrische Gesicht eines Priesters. »Ihr verschwendet mit dem dort nur Eure Zeit. Er ist schon so gut wie tot. Wenn Ihr tatsächlich helfen wollt, dann macht Euch nützlich und helft anderen!« Zornig verließ er mit einer Schale voller Blut das Zelt.

    »Was wisst Ihr schon?«, zischte Lilian und entfachte erneut ihre Magie. Die Götter hatten ihr diese Gabe gegeben, um Menschen zu heilen. Es machte keinen Sinn, wenn sie diese nicht weiterhin nutzen konnte. Sie musste versuchen, ihre ganze Konzentration auf die Blutbahnen und das Gewebe zu lenken. Sonst bestand tatsächlich keine Rettung mehr für den Krieger. Mit neuem Mut legte sie erneut die Hände auf und versank augenblicklich in den Gefühlswirrungen des Sterbenden. Nein, nicht schon wieder. Mit aller Willenskraft, die sich in ihr aufbot, kämpfte sie gegen den Bildersog an und triumphierte innerlich, als sie unmittelbar wieder die gewohnte Innensicht auf die Organe, Blutbahnen, Muskeln und Knochen erlangte. Schnell durchleuchtete ihr inneres Auge die Gefäße und fügte die Hauptblutbahnen mittels ihrer Magie schnell wieder zusammen. Es waren viele Blutgefäße, die zerrissen waren, doch erkannte Lilian alsbald, dass der Pulsschlag langsamer wurde. Das rasende Dröhnen des Herzschlages wurde ruhiger, allerdings war noch immer viel zu tun. Der Mann hatte sich vier Rippen gebrochen, von denen eine in die Lungenblase ragte. Mit gespreizten Fingern, die sie über den Brustkorb legte, flocht sie einige dünne Fäden ihrer Magie und wickelte sie um den Rippenbogen, der den Lungenflügel durchstach, und zog daran. Ein unangenehmes Schlupfgeräusch gab die Rippe frei und Lilian fixierte sie an der richtigen Stelle. Dann wandte sie sich schnell der Lunge zu, durchdrang ihre feinen Äderungen und versiegelte das Loch, leerte die Gefäße von Bluteinlagerungen und verschloss zuletzt die Bauchdecke.

    Schnaufend entzog sie sich dem inneren Bild und ließ ihre Magie in ihren Körper zurückgleiten. Als sie die Augen öffnete, stellte sie zufrieden fest, dass der Ritter außer Lebensgefahr war. Vorsichtig trug sie eine Paste aus zerstoßenen Beinwellwurzeln auf die gebrochenen Rippen und legte einen stützenden Verband an. Mehr konnte sie für den Mann nicht tun. Die Rippen mussten selbst heilen, denn Knochen zusammenzufügen, kostete ihr zu viel Kraft und schließlich auch zu viel Zeit, wenn sie daran dachte, wie viele Verletzte in diesem Zelt lagen.

    Gerade als sie sich erheben wollte, kam der Priester wieder ins Zelt zurück, der sie zuvor angeblafft hatte, überblickte rasch die Situation und baute sich schließlich bedrohlich vor ihr auf. »Waren meine Worte nicht verständlich genug? Wenn Ihr Euch tatsächlich mit Euren ach so berüchtigten Fähigkeiten wichtigmachen wollt, dann geht und macht Euch nützlich! Aber hört bloß auf, hier die Leidende zu mimen und den Toten die Hand zu halten, das bringt niemandem etwas.«

    Wütend stand Lilian auf und kämpfte gegen den schmeichelnden Willen an, dem Mann eine Backpfeife zu verpassen. Stattdessen verkrampften sich ihre Handknöchel nur noch mehr um ihren Kräuterkasten. »Mit Verlaub, aber ich habe mich hier bereits nützlich gemacht. Dieser Mann lag im Sterben, weswegen ich ihn weitestgehend geheilt habe. – Wenn Ihr noch mehr Fälle haben solltet, die für Euch hoffnungslos und zeitraubend erscheinen, bin ich sicher, dass ich mich ihrer annehmen kann.«

    Der Mann warf ihr einen vernichtenden Blick zu, richtete dann kurz sein Augenmerk auf den vermeintlich Toten und erstarrte. Lilian konnte buchstäblich sehen, wie die Maske des Zorns von seinem Gesicht rutschte und pures Entsetzen sich dort spiegelte, als er erkannte, dass der Tote quicklebendig aussah, sogar besser als manch anderer Genesender.

    Lilian nutzte diesen Moment und gab sich zu erklären. »Es würde mir in der Tat sehr viel helfen, wenn Ihr mir kurz sagen könntet, wie das System hier zu funktionieren hat. Wo liegen die Schwerverletzten? Brüche kann ich zwar nicht heilen, denn die Knochensubstanz ist wirklich schwer herzustellen, aber Blutungen und Organe, die beschädigt sind, fallen in mein Gebiet. Ich –«

    Der kahlköpfige Priester starrte sie mit offenem Mund an. »Ihr, Ihr habt ihn gerettet. Wie ist das möglich?«

    »Ich bin Trägerin der Göttlichen Macht, mein Herr, und ich bin gekommen, um mich um die Verletzten hier zu kümmern. Also könnt Ihr mir schnell den Zugang zu dem System hier verschaffen?«

    Der Priester nickte bedächtig. »Ihr befindet Euch im Lager eins. Wir haben die Zelte der Einfachheit halber nummeriert. Hier vorne liegen die jüngst Eingetroffenen, um die sich noch keiner kümmern konnte, dort hinten rechts, wo die zwei Priester stehen, von da an fangen die Behandelten an. Ihr seht – dieser Teil ist wohlgemerkt der kleinste. Zumal trotz unserer Hilfe viele wegsterben.« Sein Finger glitt zur Zeltwand, vor der Regale mit Kräutern, Tiegeln, Schüsseln, Verbänden, Hölzern zum Schienen von Knochenbrüchen und wenigen Tüchern standen. »Seitdem wir endlich Unterstützung bekommen haben, sind diese Regale wenigstens mit etwas gefüllt.«

    Lilian erfasste kritisch den Bestand der Heilkräuter. Es waren zwar nicht so viele, wie in dem Lager auf dem Schiff, doch würde es vorerst reichen. »Gibt es hier einen zuständigen Priester, der alles koordiniert?«

    »Den gab es. Ein Pfeil hatte seinen Kopf durchbohrt, als er einem Verwundeten auf dem Schlachtfeld helfen wollte. Es waren einfach zu viele. – Seitdem gibt es keinen mehr«, fügte er nach einer Pause langsam hinzu.

    »Ich verstehe.« Lilians Blick wanderte durch das riesige Zelt. Es waren tatsächlich viel zu viele. »Ich werde mich um die Schwerkranken kümmern, wenn Ihr es erlaubt, Priester …«

    »Moldred, Herrin.«

    Ein amüsiertes Lächeln huschte über Lilians Miene, als sie den demütigen Blick des Priesters mit dessen nur vor wenigen Augenblicken erzürnten Augen verglich: Eine Wandlung von Nacht zu Tag. »Ihr könnt mich Lilian nennen, Moldred.«

    Der ältere Priester machte eine kurze Verbeugung. »Wie Ihr wünscht, Herrin.«

    »Bitte zeigt mir die schlimmsten Fälle, vielleicht kann ich diese Ritter noch retten.«

    »Natürlich.«

    Erstaunlich behände für sein Alter führte er Lilian zu dem vorderen Teil des Zeltes. Hier lagen tatsächlich die schlimmeren Verletzten. Die Männer waren weder ansprechbar noch fähig, sich zu rühren, ihr letzter Lebensfunke war bereits im Inbegriff zu erlöschen, was angesichts der triefenden und bereits nässenden Wunden, in denen die Laken klebten, kein Überraschen war. Trotz des nahen Zelteingangs roch die Luft hier nach Krankheit und Schlimmerem, sodass sich ein flaues Gefühl in Lilians Magengegend ausbreitete. Irritiert von dem Anblick der in Leinen bedeckten, roten blutenden Leiber fragte Lilian nach einer Schale mit heißem Wasser und einem Tuch, an dem sie sich die Hände abtrocknen konnte, was ihr Moldred umgehend brachte. Dass Lilian selbst in der Lage gewesen war, die verlangten Dinge zu holen, kam dem knapp fünfzigjährigen Mann offensichtlich nicht mehr in den Sinn, seitdem er von ihren Fähigkeiten erfahren hatte. Stattdessen schien es ihr, als würde er sich selbst zu ihrem persönlichen Diener erkoren haben. Dankbar für seine anfängliche Unterstützung kniete sich Lilian neben einen Mann mittleren Alters nieder, dessen langer Bart sich in der gefährlichen Wunde an seiner Kehle verwoben hatte. Man hatte provisorisch einen Druckverband angelegt, doch schien diese Maßnahme kaum Früchte zu tragen, wenn man bedachte, dass die Priester zu sonst nichts anderem in der Lage waren. Augenblicklich ließ sie den silbrigen Strom durch ihren Körper bis zu ihren Fingerspitzen fließen. Dann berührte sie sanft seine Schultern und ließ von dort die silbrige Magie walten. Schnell bekämpfte sie den erneuten Bildersturm in ihren Gedanken, bis sie nur noch die Innensicht des Verletzten wahrnahm. Es war nur ein kurzer Eingriff, denn die Wunde war das einzige, was dem Mann fehlte.

    Unter staunenden Augen Moldreds wandte sich Lilian dem nächsten Ritter zu. Er hatte blondes kurzes Haar und war nur wenige Jahre älter als sie. Sein Brustkorb war von einem stumpfen Gegenstand eingedrückt – ein schlimmer Anblick. Schnell entfachte sie ihre Magie. Doch in dem Moment, in dem sie ihre Hände auflegte, spürte sie seinen letzten Atemzug. Kurz sah sie das Bild einer jungen Frau mit einem Knaben an jeder Hand vor einem kleinen Haus am Stadtrand, dann wurde alles schwarz und Lilian öffnete trübselig die Augen. »Verzeiht mir.« Eigenartig ergriffen schloss sie die Lider des Toten und zog das Leinentuch über sein Haupt.

    »Gebt Euch nicht die Schuld an all dem, Lilian«, schaltete sich Moldred nun dazwischen. »Ihr werdet noch vielen Verletzten begegnen, die lediglich nur noch einen Atemzug machen, wenn sie hier eingeliefert werden, und dann vor unseren Augen sterben. Gebt Euch nicht die Schuld für den Krieg dort draußen! Damit kommt ihr nicht weit.«

    »Das stimmt. Vielen Dank für Euren Rat.«

    In den nächsten Stunden versuchte Lilian so viele Schwerverletzte zu heilen, wie es nur in ihrer Macht stand. Dabei vergaß sie alles um sich herum, sie sah nur noch die stöhnenden Männer, die nach Hilfe verlangten, die kurz vor dem Sterben standen und keinen Priester mehr an ihrer Seite hatten, der ihnen helfen konnte. Es waren viele, denen Lilian half, doch schien es bei all der Verstümmelung, den bluttriefenden Verletzungen kaum ihren Geist zu befriedigen, wenn sie es schaffte, einen Mann zu heilen, wenn gleichzeitig ein anderer dafür starb, da jede Hilfe zu spät kam.

    Ihre schlimmste Befürchtung, über Leben und Tod richten zu müssen, konfrontierte sie anfangs beinahe bei jedem Verletzten, den sie anderen vorzog. Doch rief sie sich immer wieder Moldreds Worte vor Augen, damit das Schuldgefühl in ihrer Brust den Leib nicht zersprengte. Ohne einen Gedanken an sich zu verschwenden, arbeitete sich Lilian von Verletzten zu Verletzten vor, bis ihr Körper unter der Belastung langsam schwächelte: Ihre Hände waren zittrig, ihr Kopf schwindelte und ihr Rücken und ihre Beine taten weh vom vielen Sitzen. Mühsam riss sie sich von dem nächsten Verletzten los und trat zu den Regalen, um sich aus einer Karaffe Wasser einzuschenken. Erst jetzt merkte sie, dass ihr Kleid und ihre Hände über und über mit Blut verschmiert waren. Irritiert wischte sie sich die Hände am saubereren Rock trocken, ehe sie ihr Haar, welches ihr ins Gesicht gefallen war, fortwischte. In diesem Moment fand sie Nail. Die kleine Novizin trat mit angsterfüllten Augen auf die Priesterin zu und streckte ihr stumm eine Schüssel mit dampfender Speise entgegen.

    »Ihr müsst etwas essen, hat Likimeja gesagt.« Sie stierte ungläubig auf das viele Blut an Lilians Körper.

    »Hab vielen Dank, Nail. Genau das brauche ich jetzt.« Gierig löffelte sie sich den Eintopf vom Morgen in den Mund, ließ gesättigt jedoch die Hälfte über und stellte die Schüssel neben sich auf den Tisch. »Ich muss mich wieder um die Verletzten kümmern, Nail. Doch sag schnell, geht es dir gut? Hat dir Likimeja alles gezeigt und kümmert sich gut um dich?«

    Die Novizin nickte nur, während sie weiterhin auf Lilians Kleid starrte. »Sie hilft mir und einem Mann namens Ismirik bei den Kräuterzusammensetzungen.«

    »Sehr gut.« Lilian schloss erleichtert die Augen, ehe sie sich wieder dem kleinen Mädchen zuwandte. »Versprich mir, weiterhin auf dich achtzugeben, ja?«

    Abermals nickte das Mädchen und verschwand schnellen Schrittes aus dem Zelt, sodass auch Lilian sich wieder an die Arbeit begab. Sie war gerade dabei, die enggewickelten Binden aus der Wunde zu lösen, als plötzlich zwei Priester mit einer Trage in das Zelt stürmten, auf der sich ein schreiender Mann in schrecklichen Schmerzen wand. Unsicher verharrte Lilian in ihrer Position, schockiert und gefesselt von dem Anblick, dann riss sie sich los und eilte zu den Priestern, die versuchten, die offen klaffende Verletzung unter dem zerrissenen Kettenhemd zu stillen.

    Schnell erkannte ihr geschulter Blick zwischen den Schultern der Priester hindurch, dass der Mann nur noch wenige Augenblicke zu leben hatte, sodass sie unmittelbar reagierte. Energisch drückte sie

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