Discover millions of ebooks, audiobooks, and so much more with a free trial

Only $11.99/month after trial. Cancel anytime.

Grashalme und Sterne
Grashalme und Sterne
Grashalme und Sterne
Ebook116 pages1 hour

Grashalme und Sterne

Rating: 0 out of 5 stars

()

Read preview

About this ebook

Anfang 1944: Der junge Soldat Jim ist unterwegs nach Europa, wo die Amerikaner Hitlers Armee endgültig in die Knie zwingen wollen. Doch der Abschied fällt ihm schwer – gerade erst ist er
Shannon begegnet, der er die schönsten Monate seines Lebens verdankt. Mit seiner poetischen, bilderreichen Sprache zieht Michael Döhmann uns von der ersten Seite an in den Bann.
LanguageDeutsch
Release dateMar 20, 2019
ISBN9783825161965
Grashalme und Sterne

Related to Grashalme und Sterne

Related ebooks

World War II Fiction For You

View More

Related articles

Related categories

Reviews for Grashalme und Sterne

Rating: 0 out of 5 stars
0 ratings

0 ratings0 reviews

What did you think?

Tap to rate

Review must be at least 10 words

    Book preview

    Grashalme und Sterne - Michael Döhmann

    galt.

    ES WAR NACHT. Ein kalter Wind wehte über das Meer. Jim hielt sich mit beiden Händen an der Reling fest. Das mächtige Schiff sank tief in die Wellentäler ein. Jedes Mal wenn sich der Bug wieder erhob, kamen Jim die Sterne entgegen. Er fühlte sich wie ein kleiner Junge auf einer großen Schiffschaukel – die Leichtigkeit des Schwebens war allerdings völlig verloren gegangen, dieses Schaukeln hier hatte etwas sehr Schweres und Bedrohliches an sich. Er hörte auch keine scheppernde Karussellmusik, keine aufgeregten Kinderstimmen, nur das gewaltige Rauschen des Meeres umgab ihn.

    Die Sterne sind immer gleich. Hier, auf dem Meer, leuchteten dieselben Sterne über ihm wie im rabenschwarzen Himmel über Long Island. Das Schiff musste auf einem ähnlichen Breitengrad die halbe Weltkugel umfahren haben, es hatte sich da oben beinahe nichts verändert. Die Sterne waren Jims Begleiter – überallhin.

    VOR EIN PAAR WOCHEN saß er noch in seinem Zimmer und stöberte in einer Pappschachtel nach Fotos. Die Kinderzeit und die Tage seiner Jugend rasten an ihm vorüber, zwanzig Jahre in wenigen Minuten.

    Er fand das Bild eines schmächtigen Jungen mit wirrem Lockenkopf, der neben einer Sandburg kniete. Der erste Roller, der Stoffwimpel mit seinem Namen, der erste Sturz. Jim hoch oben auf den breiten Schultern seines Vaters, ein riesiges Heftpflaster bedeckte die verletzte Stirn. Das demolierte Auto von Onkel Mitch, der dicke gestreifte Kater von Tante Caroline.

    Manchmal drehte er die zerknickten Bilder um, las die ausgeblichenen Jahreszahlen und die handgeschriebenen Notizen.

    Der Tag war lang gewesen, Jim wurde müde, er knipste die Schreibtischlampe aus. Er blieb noch eine Weile im Dunkeln sitzen, dann öffnete er das Fenster. Die Luft roch nach Schnee. Er steckte einen Brief ein und lief ins Erdgeschoss hinunter. Er stolperte über ein loses Holzbrett auf der Veranda und humpelte dann weiter über den Rasen. Das Gras schimmerte grau, und bei jedem seiner Schritte brachen die gefrorenen Halme unter seinen Füßen. Jim öffnete das Garagentor, klopfte liebevoll auf die rundliche Motorhaube seines Autos, der weinrote Lack hatte schon etliche rostige Flecken. Jims Hände wurden kalt, er versuchte, sie mit seinem Atem zu wärmen.

    Auf der Straße ratterte ein Lieferwagen entlang. Im Haus klingelte das Telefon, aber niemand hob ab. Rauch quoll aus dem Kamin. An der Dachkante flimmerte ein heller Stern.

    Er lag eine ganze Weile dort, als würde er sich ausruhen.

    Im Garten war es still. Die kräftigen Böen verfingen sich in den Baumkronen und den dicht gewachsenen Hecken, die den Platz umschlossen. Jim nahm Abschied. Draußen schlief die kleine Stadt.

    Ein letztes Mal wollte er die Wege gehen, die er so oft gegangen war. Seine Müdigkeit schien verflogen, die Kälte hatte ihn wachgerüttelt.

    Er blieb vor den Häusern seiner Freunde stehen, vor den geschlossenen Türen, hörte das Klappern der Briefkästen im Wind, sah die alte Schule, die abgenutzten Stufen. Nach all den Jahren empfand er immer noch eine seltsame Enge. Er kam an der Shell-Tankstelle vorbei. Das orange-gelbe Muschellicht hatte einen Kurzschluss und flackerte.

    Er berührte einen Stapel abgefahrener Autoreifen. Er sog die Benzinluft ein. Dampfender Teer, frisch gemähtes Gras, die Brise des Meeres, gemahlener Kaffee und eben Benzin, das waren Jims Lieblingsgerüche.

    Vorsichtig stieg er den steilen Weg hinauf zum Aussichtsturm und setzte sich auf eine morsche Bank. Die Rücklichter des Lieferwagens verschwanden zwischen den weichen Hügeln.

    Der abnehmende Mond zog über den Ozean. Er sah blass und erschöpft aus, wirkte wie ein weißer Lampion, der schon zur Hälfte zusammengefaltet war. Der Mond wurde von düsteren Wolken verfolgt. Jim nahm Abschied. Er fuhr mit seinen Fingerkuppen über das Holz, über die eingeritzten Namen. Seiner war nicht dabei, auch nicht der Name von Shannon. Jim spürte ein Herz mit Pfeil.

    Shannon … Shannon. Ihr Name stand auf dem Brief.

    Jim streckte die Arme aus, als wollte er die Luft fest an sich drücken. Die ersten Schneeflocken landeten in seinen Händen und schmolzen zu Wasser.

    Er zündete ein Streichholz an. Das schenkte ihm für einen Augenblick Wärme. Doch obwohl er schützend seine Hand darum breitete, war der ungleiche Kampf gegen den kalten Wind nach einer Sekunde verloren. Der Schnee wirbelte in sein Gesicht. Er lief zurück in die schützende Stadt. Die rote Erde auf dem kümmerlichen Sportplatz war gefroren, die Reste eines Netzes hingen an einem Basketballkorb. Jim würde morgen in den Krieg ziehen.

    An einer grauen Kirche, die von dicken Ästen umschlungen war, hielt er inne. Zwei Grablichter funkelten in der Mitte des Friedhofs wie zwei vergessene Feuer in einem Wald aus Stein. Die Glocke schlug einmal. Der Schnee fiel herab wie nasses Konfetti, bald würde er die kleinen Lämpchen zudecken, und irgendwann würde das Leuchten aufhören.

    Am Schaufenster der Bäckerei sah er jemanden vorbeieilen. Jim dachte, es wäre sein Freund David. Er rief laut seinen Namen, aber niemand antwortete. Es blieben nur frische Fußspuren auf dem Gehweg. In der Nähe des Postladens wurden Jims Schritte langsamer. Er zögerte.

    Mit einer zärtlichen Handbewegung strich er über den Briefkasten. Er zog den Brief aus der Tasche, hielt ihn eine Weile zwischen den Fingern. Die Schneeflocken lösten einige der Buchstaben auf. Jim warf den Brief ein, schloss die Augen. Es war vollkommen still, er konnte sogar das leise Knistern des Schnees hören. Ein anderer Geruch kam ihm noch in den Sinn, er hatte nichts mit Benzin, Teer oder Kaffee zu tun – es war eigentlich auch kein Geruch, vielmehr ein Duft. Diesen Duft liebte er am meisten. Es war der Duft von Shannons Parfüm.

    Es hatte in Strömen geregnet, als Jim Shannon an der Bushaltestelle stehen sah. Er hielt an und nahm sie im Auto mit – und sofort hatte der intensive Duft das Innere seines Wagens erfüllt.

    Shannon mochte nicht nach Hause. Sie fuhren einen großen Umweg und gingen am Meer spazieren. Es war das letzte Mal, dass sie sich sahen.

    Als Jim wieder in seiner Straße ankam, brannte kein Licht mehr. Das Haus wirkte dunkel, fast schwarz und hob sich wie ein wuchtiger Kasten gegen die milchigen Wolken ab, die inzwischen den fliehenden Mond gefangen und in eine Schlafdecke gepackt hatten.

    Eine zierliche Gestalt lehnte im Türrahmen. Es war seine Mutter. Sie sagte nur »Ach, Jim« – und umarmte ihn mit ihrer ganzen Kraft. Dann begann ihr Körper zu zittern. Jim wusste nicht, ob vor Kälte oder aus Angst.

    DER WIND NAHM an Stärke zu. Die Gischt der Wellen spritzte über die Bordwand. Die jagenden Tropfen schmerzten auf seiner Haut. Er suchte Schutz hinter einem riesigen Schornstein.

    Dort stand eine Kiste, das Holz fühlte sich glatt und neu an, es roch nach Farbe, es waren keine Namen eingeritzt. Jim zog sich die nasse Kapuze über den Kopf. Er dachte an den Brief, dachte an die fallenden Schneeflocken, sah das S von Shannon, wie es in einer blauen Tintenträne zerfloss. Unter ihre Adresse hatte er den Titel eines bretonischen Liedes geschrieben »An hini a garan«. Der Brief war bestimmt schon lange bei ihr angekommen.

    Er sah ihr Gesicht im Schein der Lampe vor sich, hörte das leichte Rascheln ihrer Haare, wenn sie den Kopf bewegte. Er sah die vollen geschwungenen Brauen, sah, wie ihre Augäpfel hin und her wanderten, wie sie die Worte verfolgten, sah ihre schönen, zarten Hände, wie

    Enjoying the preview?
    Page 1 of 1