Beim Wort genommen: 65 Gedichte gedeutet
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Eckart Kleßmann
Eckart Kleßmann, geb. 17.3.1933 in Lemgo (Lippe), veröffentlichte neben sechs Gedichtbänden kulturhistorische Darstellungen (»Universitätsmamsellen«) und Biographien, u. a. über Caroline Schlegel, E. T. A. Hoffmann, Matthias Claudius, Christiane Vulpius, Georg Philip Telemann und die autobiographische Darstellung »Über dir Flügel gebreitet. Eine Kindheit 1933 bis 1945« (2007). Zuletzt erschienen »Chaonias Tauben. Versuch über Vergil« (2017) und »Die alten Zimmer. Letzte Gedichte« (2018). Der Autor war von 1961 bis 1976 Verlagslektor und Redakteur in Hamburg, ist seit 1977 selbständiger Schriftsteller und lebt seit 1995 in Mecklenburg.
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Beim Wort genommen - Eckart Kleßmann
In memoriam
Albrecht Goes
Dieses Buch vereint 65 deutsche Gedichte aus 600 Jahren. Mir ging es nicht darum, »die schönsten« auszuwählen, wie heute die beliebten Serientitel lauten, denn wer will bestimmen, welche »die schönsten« sind? Es haben sich hier über dreißig Jahre Gedichte zusammengefunden, die einzig der individuelle Geschmack des Interpreten zusammengefügt hat.Viele von ihnen haben mich durch das ganze Leben begleitet, andere sind spät dazugekommen; die Bekanntschaft einiger Verse – und meine Liebe zu ihnen – habe ich der Musik zu danken. Nicht nur ein anderer hätte eine andere Wahl getroffen, auch ich hätte mich durchaus anders entscheiden können, wäre es nicht ums Ausdeuten gegangen. Denn ich habe mich nicht in jedem Fall für jene Gedichte entschieden, die mir die liebsten sind, sondern für jene, die meine Freude an der Interpretation beflügelten, wobei natürlich das eine nicht das andere ausschließt. Aber die Liebe zum jeweiligen Gedicht überwog, und es ist nicht zu übersehen, daß ich für einige Dichter eine besondere Neigung empfinde.
Oft wird gesagt, das vollkommene Kunstwerk bedürfe keiner Interpretationshilfe. Zweifellos sprechen Beethovens Streichquartette oder Rilkes Duineser Elegien auch ohne Deutung ganz unmittelbar zu uns. Doch selbst Goethe befand 1820, man könne sein gewiß schwieriges Gedicht »Harzreise im Winter« ohne die eigene Deutung nicht in seinem Sinne verstehen, und wenn auch eine Interpretation dem Kunstwerk nichts hinzufügen kann, so mag sie doch zu einem vertieften Verständnis beitragen, indem sie das Umfeld der Entstehung, Anspielungen und Verschlüsselungen ausleuchtet.
Das erste Gedicht in meinem Leben, an das ich mich erinnere, war des Matthias Claudius »Abendlied«, das ich als Vierjähriger mehrstimmig gesungen hörte. Damals haben sich Wörter und Wortverbindungen tief dem Kindergemüt eingeprägt, manches nur durch den Klang ohne eigentliches Wortverständnis. Später haben sich Gedichte mit bestimmten Lebensumständen verbunden, womit ich sagen will, daß nicht immer und zuvörderst die literarische Qualität der bestimmende Maßstab gewesen ist. Deswegen ist in meinen Texten zuweilen auch vom Persönlichen die Rede, und ich habe mich nicht gescheut, »ich« zu sagen, statt mich hinter einem anonymen »man« zu verbergen. Ich möchte dem Leser durchaus auch von persönlichen Empfindungen sprechen und ihm nicht weismachen, es gebe unanfechtbare Maßstäbe in der Beurteilung von Kunst, denen er sich zu beugen habe.
Meine erste Interpretation habe ich 1980 für die »Frankfurter Anthologie« geschrieben, und ich bin ihrem Gründer und Verwalter, Marcel Reich-Ranicki, dankbar für seine Einladung, mich daran beteiligen zu dürfen. Den eigentlichen Anstoß aber gab dreißig Jahre zuvor Albrecht Goes mit seinem 1952 erschienenen Buch »Freude am Gedicht«, das damals meinen Umgang mit Lyrik von Grund auf veränderte.
Die hier vereinten Interpretationen sind zum Teil für die »Frankfurter Anthologie« geschrieben worden, manche sind auch an anderer Stelle gedruckt und mehrere eigens für dieses Buch verfaßt worden. Geschrieben wurden sie zwischen 1980 und 2009. Gewidmet sind sie der Erinnerung an den Dichter und lebenslangen Freund Albrecht Goes, der meine Versuche stets mit Sympathie und ermunterndem Zuruf begleitet hat.
Eckart Kleßmann
INHALT
Unbekannter Dichter: Es ist ein schne gefallen
Unbekannter Dichter: Der glückliche Jäger
Unbekannter Dichter: Rewelge
Oswald von Wolkenstein (1377-1445): Ain graserin
Philipp Nicolai (1556-1608): Ein geistlich Braut-Lied
Barthold Hinrich Brockes (1680-1747): Der gestirnte Baum
Barthold Hinrich Brockes (1680-1747): Beym Pflügen
Barthold Hinrich Brockes (1680-1747): Gedanken bey dem Fall der Blätter im Herbst
Friedrich Gottlieb Klopstock (1724-1803): Die Musik
Matthias Claudius (1740-1815): Abendlied
Johann Wolfgang v. Goethe (1749-1832): Hinten im Winkel des Gartens
Johann Wolfgang v. Goethe (1749-1832): Die Liebende abermals
Johann Wolfgang v. Goethe (1749-1832): Es ist gut
Friedrich Hölderlin (1770-1843): Da ich ein Knabe war
Justinus Kerner (1786-1862): Unter dem Himmel
Joseph v. Eichendorff (1788-1857): Zwielicht
Joseph v. Eichendorff (1788-1857): Mondnacht
Friedrich Rückert (1788-1866): Ich bin der Welt abhanden gekommen
Heinrich Heine (1797-1856): Die Grenadiere
Heinrich Heine (1797-1856): Die schlesischen Weber
Nikolaus Lenau (1802-1850): Himmelstrauer
Eduard Mörike (1804-1875): Tag und Nacht
Conrad Ferdinand Meyer (1825-1898): Friede auf Erden
Christian Wagner (1835-1918): Rosenbeschattung
Christian Wagner (1835-1918): Im Garten des Albergo del Sole
Stefan George (1868-1933): Es lacht in dem steigenden jahr
Stefan George (1868-1933): Fenster wo ich einst mit dir
Christian Morgenstern (1871-1914): Der Traum der Magd
Christian Morgenstern (1871-1914): Zäzilie
Christian Morgenstern (1871-1914): Palmström an eine Nachtigall, die ihn nicht schlafen ließ
Rainer Maria Rilke (1875-1926): An die Musik
Rainer Maria Rilke (1875-1926): An der sonngewohnten Straße
Rainer Maria Rilke (1875-1926): Noch fast gleichgültig
Joachim Ringelnatz (1883-1934): An meinen längst verstorbenen Vater
Joachim Ringelnatz (1883-1934): An der Alten Elster
Joachim Ringelnatz (1883-1934): So ist es uns ergangen
Oskar Loerke (1884-1941): Pansmusik
Oskar Loerke (1884-1941): Grab des Dichters
Oskar Loerke (1884-1941): Einladung
Oskar Loerke (1884-1941): Das Segelschiff des Knaben
Gottfried Benn (1886-1956): Einsamer nie
Gottfried Benn (1886-1956): Worte
Georg Heym (1887-1912): Die Märkte
Georg Trakl (1887-1914): Die Kirche
Georg von der Vring (1889-1968): Wieskirche
Georg von der Vring (1889-1968): Einer Toten
Franz Werfel (1890-1945): Der schöne strahlende Mensch
Erich Jansen (1897-1968): Annettes Kutsche auf Rüschhaus
Bertolt Brecht (1898-1956): Das dreizehnte Sonett
Günter Eich (1907-1972): Ende eines Sommers
Günter Eich (1907-1972): Königin Hortense
Albrecht Goes (1908-2000): Über einer Todesnachricht
Ernst Meister (1911-1979): Der Grund kann nicht reden
Karl Krolow (1915-1999): Stele für Catull
Johannes Bobrowski (1917-1965): Nänie
Johannes Bobrowski (1917-1965): J. S. Bach
Paul Celan (1920-1970): Ein Knirschen von eisernen Schuhn
Paul Celan (1920-1970): In Ägypten
Ilse Aichinger (1921-2016): Winter, gemalt
Ludwig Greve (1924-1991): Nach dem Regen
Heinz Piontek (1925-2003): Um 1800
Walter Neumann (geb. 1926): Wintergespräch
Walter Helmut Fritz (1929-2010): Annette
Dieter Hoffmann (geb. 1934): Residenzpark
Wulf Kirsten (geb. 1934): Wüstgefallener jüdischer Friedhof in Mähren
UNBEKANNTER DICHTER
Es ist ein schne gefallen
Es ist ein schne gefallen
vnd ist es doch nit czeit;
man wurft mich mit den pallen,
der weg ist mir verschneit.
Mein hauß hat keinen gibel,
es ist mir worden alt;
czerbrochen sin mir dye rigel,
mein stublein ist mir kalt.
Ach lib, laß dichs erparmen,
das ich so elend pin,
vnd sleuß mich yn dein armen,
so vert der Winter do hin!
Der Winter wil vnß entschleichen,
der summer vert do herr,
mir libt ein seuberliche –
wolt got, wer sie mein!
Jch hat mir erkoren
ein minigliches leut,
an dem ich hab verloren
mein lib vnd auch mein treü.
Das lidlein sein gesungen
von einem freulein fein;
ein ander hat mich verdrungen,
das muß ich gut lan sein.
Ohne Ausweg
Zwischen 1460 und 1467 hat der Nürnberger Arzt und Humanist Hartmann Schedel (berühmt geworden durch seine 1493 erschienene »Weltchronik«) eine 150 Stücke umfassende Sammlung von vertonten und unvertonten Texten und Instrumentalsätzen zu Papier gebracht, darunter dieses Lied eines unbekannten Verfassers.
Im Mittelalter bedeutete der Winter die grausamste Zeit des Jahres. Die Frostperioden währten lang bei tiefsten Temperaturen. Zu Tausenden erfroren und verhungerten die Menschen; außerhalb der Städte, auf verschneiten Straßen und vereisten Flüssen, brach jeglicher Verkehr oft über Wochen völlig zusammen.
Den Dichter dieses Liedes quält aber nicht allein der meteorologische Winter. Denn nicht nur ist der Schnee vorzeitig gekommen (»vnd ist es doch nicht czeit«); der Weg, der ihm verschneit, ist sein Lebensweg, und die »pallen«, mit denen man ihn bewirft, fliegen nicht in übermütiger Schneeballschlacht, sondern meinen offensichtlich seine Demütigung. Dazu keine rechte Bleibe: Sein Haus ist gleich ihm gealtert, nicht mehr winterfest, die Stuben ausgekühlt. Ach, könnte bei so viel Trostlosigkeit doch wenigstens die Liebe ihm Schutz, Wärme und Geborgenheit gewähren, wie anders ließe sich dann der Winter an Leib und Seele überstehen.
In den meisten modernen Anthologien endet das Gedicht nach der dritten Strophe. Aber die folgenden drei sind von den ersten nicht zu trennen, auch wenn der Rhythmus jetzt ins Wanken gerät und mit ihm auch die Hoffnung. Denn nun, nach Winters Abschied, fährt der Sommer daher, und eine Schöne (»ein seuberliche«) zum Verlieben ist nah, doch seine Liebe und Treue hat das hübsche Ding (»minigliche leut«) verschmäht, der Dichter findet sich von einem anderen ausgestochen (»ein ander hat mich verdrungen«), was bleibt da noch?
Dieses resignierende-hoffnungslose »das muß ich gut lan sein« ist herzbewegend. Endete das Gedicht tatsächlich mit der dritten Strophe, so könnte man meinen, es gebe eine Geliebte, in deren Armen dann der Winter getrost dahinfahren könne. Doch in Wahrheit gibt es sie ja gar nicht, sie bleibt ein Traumbild, ein unerfüllter, wenn nicht gar unerfüllbarer Lebenswunsch, und der erwartungsfrohe Sommer bringt eine bittere Enttäuschung: Das »freulein fein«, dem sein Lied gilt, läßt sein Werben kalt. Und er? Kein Aufbegehren, kein Verwünschen, kein Zorn. Nichts ist ihm nach all dem Winterelend geblieben, keine Zärtlichkeit wird ihm sein vereinsamtes, heruntergekommenes Dasein aufhellen. Nur dieses ausweglose: Ich kann’s nicht ändern. Man glaubt sein resigniertes Achselzucken zu sehen und fürchtet für ihn im kommenden Winter.
UNBEKANNTER DICHTER
Der glückliche Jäger
Mit Lust tät ich ausreiten
Durch einen grünen Wald,
Darin da hört ich singen
Drei Vöglein wohlgestalt.
So sein es nit drei Vögelein,
Es sind drei Fräulein fein:
Soll mir das ein nit werden,
Gilt es das Leben mein.
Die erste heißet Ursulein,
Das ander Barbelein,
Das dritt hat keinen Namen,
Das soll des Jägers sein!
Er nahm sie bei der Hände,
Bei ihr schneeweißen Hand,
Er führts des Walds ein Ende,
Da er ein Bettlein fand.
Da lagens bei einander
Bis an die dritte Stund:
Kehr dich, schöns Lieb, herumme,
Beut mir deinen roten Mund!
Der ungenannte Name
Eichendorffs Jäger (im »Waldgespräch«) ist weniger glücklich. Das von ihm erbeutete Fräulein erweist sich als »die Hexe Loreley« und verheißt ihm drohend: »Kommst nimmermehr aus diesem Wald.« Aus Magie und Sexualangst mischt sie ihrem scheinbaren Bezwinger ein tödliches Elixier.
Der Jäger dieses Volkslieds wird »glücklich« geheißen, allerdings kam der Titel wohl erst später hinzu. Dennoch ist an der unbekümmerten Erotik drei Jahrhunderte vor Eichendorff kein Zweifel erlaubt. Unser Gedicht ist zum erstenmal 1534 von dem Nürnberger Verleger Hans Olt gedruckt worden, dem Ludwig Senfl, der von Martin Luther zu Recht so bewunderte Komponist, die Melodie beifügte. Eine lebenskräftige Weise: Orlando di Lasso (1576), Felix Mendelssohn (1839) und Johannes Brahms (1864) haben sie in schöne Sätze gebracht.
Mit dem Text hatte es die Nachwelt schwerer. Als Ende 1805 der erste Band der Anthologie »Des Knaben Wunderhorn« erschien, stand darin auch dieses Lied unter der Überschrift »Nächtliche Jagd«, von Achim von Arnim auf die ersten zwei Strophen reduziert und durch eigene Zutaten entstellt.
Daß aus »Fräulein« Vöglein werden können, wissen wir aus dem hintergründigen Märchen »Jorinde und Joringel« der Grimms. Hier aber werden die Vöglein zu Fräulein, ohne uns als todbringende Sirenen zu ängstigen. Aber etwas Numinoses bleibt doch: Das Dritte, alte Zahlensymbolik (numerus perfectus), »hat keinen Namen«, das schützt bei verbotenem Tun und hält die bösen Geister fern.
Wer spricht? In der ersten und zweiten Strophe der Jäger selbst, aber dann übernimmt ein Erzähler den Part. Ist er so verschwiegen, daß er den ungenannten Namen besser hüten kann? Schließlich bedarf das nur allzu willige Fräulein zarter Diskretion.
Ein »Fräulein« wird damals nur eine jungfräuliche Adlige geheißen, und deren »schneeweiße Hand« ist ihr Standessymbol. Die Jagdtrophäe – wenn es denn eine ist – entspricht damit assoziierend dem schneeigen Einhorn etwa oder dem weißen Hirsch, berührt den Legendenzauber. Und doch endet das feine Symbolspiel recht derb im »Bettlein« (bei Brahms wird es züchtig als »Hüttlein« kaschiert, als wenn da ernstlich ein Unterschied wäre), übrigens am Waldrand, wo die bannende Magie nicht mehr so recht wirkt.
Die fünfte Strophe fehlt meist, das dürfte ihrem freisinnigen Inhalt zuzuschreiben sein. Schon die Aufforderung der letzten beiden Verse, verdeutlicht man sich anschaulich die zärtliche Situation, betont gegenüber den ersten drei Strophen die erotische Realistik. Die »dritte Stund« hat natürlich wieder mit der magischen Drei zu tun, der göttlichen Zahl schlechthin. Und was da sonst noch geschieht, möge sich die lüsterne Phantasie des Lesers selbst liebevoll ausmalen.
Die drei singenden Vöglein (»wohlgestalt«), die so willig auf den Jäger gewartet zu haben scheinen, werden sich nicht ernstlich der derben Assoziation durch ein volkstümliches Verbum entziehen wollen. Denn bei aller feinsinnigen Bildsprache sieht natürlich auch dieser unbekannte Dichter dem Volk aufs Maul und weiß nur zu gut, was es hören und singen will: Wie sich da einer einen uralten Männertraum verwirklicht, doch darf er keinen Namen tragen; aussprechen hieße auslöschen. Dieses Lied mit seiner rhythmisch-akzentuierten und zugleich so sehnsüchtig ziehenden Melodie wirkt nicht im mindesten grob, sondern verzaubert uns mit seinen Bildern und Verwandlungen nun schon seit fünf Jahrhunderten.