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Sein Leben
Der Roman Les 21 jours d'un neurasthénique aus dem ersten Jahr
des 20. Jahrhunderts ist formal der radikalste, zugleich aber auch der
repräsentativste des Autors Octave Mirbeau, denn er bietet zugleich ein
Resümee seines gesamten Wirkens als Romancier, Dramatiker,
Feuilletonist und agent provocateur.
Die Form : Mirbeau treibt hier seine Verachtung für die Gesetze des
traditionell komponierten realistischen Romans, wie ihn der Naturalismus
forderte, bis zum Exzess: Es gibt keine begrenzte Gruppe von
"Hauptfiguren", keine "Entwicklung", keine "Handlung" mehr, keine so
recht zu fassende Form. Es passiert nichts, es wird im Grunde nur
"geredet" – wenn auch über die komischsten, absurdesten,
schauderhaftesten Dinge, die diesem und jenem tatsächlich oder
angeblich passierten. Noch schlimmer, noch anarchistischer: der Autor
macht sich nicht einmal die Mühe, einen neuen Stoff, eine neue
Geschichte zu erfinden, sondern verwertet altes, noch dazu bereits
bekanntes Material "aus der Schublade", und zwar nicht weniger als 55
Prosatexte, Pamphlete, Glossen, authentische oder fiktive Interviews und
faits divers, die er zum Teil vor langen Jahren, zum Teil aber auch noch in
den ersten Monaten des Jahres 1901, also kurz vor Erscheinen des Romans
(er erscheint am 15. August im Verlag Fasquelle), in Pariser Zeitschriften,
zumeist in Le Journal, aber auch anderswo – in einigen Fällen sogar gleich
mehrfach mit lediglich verändertem Titel! – bereits veröffentlicht (und
dafür sein Honorar kassiert) hatte.
Allein dies löst sofort helle Empörung aus: Die erotisch-dekadente
Skandalautorin Rachilde (Autorin des Romans Monsieur Vénus) spricht vom
"Bodensatz aus der Schublade eines Journalisten"8 , der erste Mirbeau-
Biograph Maxime Revon urteilt, "das Etikett Roman auf dieses Produkt zu
setzen, ist eine Fiktion, die an eine Verbindung glauben machen will, die nicht
existiert"9, und Pierre Michel, der Herausgeber der kritischen
Gesamtausgabe des Œuvres, gibt seinem Vorwort der letzten Einzeledition
des Romans den Titel "Vom Anarchismus zum Tod des Romans"10 . Doch auf
all diese Kritik an seiner dekompositorischen Radikalität kontert Mirbeau
lediglich mit der Frage: "Gibt es etwa Komposition bei Tolstoi und
Dostojewski?"11
Der Ort : Den einzigen Textzusammenhalt bildet der Schauplatz, ein
mondänes x-beliebiges Thermalbad, genannt "X...", rings umschlossen
von Gebirge – ausgerechnet im Gebirge! Denn wie der Autor mehrmals in
seinen Briefen, so schildert der Erzähler das Gebirge gleich eingangs als
absolut geist- und lebenstötend. Überrascht wähnt man sich in diesem
Roman von 1901 fast wörtlich in die alpophobe Welt des Österreichers
Thomas Bernhard versetzt oder in die des Bayern Herbert Achternbusch,
der gesagt haben soll: "Solange es Berge gibt, gibt es keine
Gerechtigkeit." Die 21 Kurtage in dieser Höhenluft müssen demnach zu
einer einzigen Höllenqual zu werden, und sie werden es – und für den
Autor wie den Leser oft zu einem höllischen, grauenhaften Vergnügen. Nur
geht es hier natürlich nicht um eine Abrechnung mit dem Gebirge: eine
solche ergäbe kein ganzes Buch, sondern im Höchstfall eine
feuilletonistische Sottise. Das Gebirge als einschliessende Mauer und
versteinerte Masse ist vielmehr eine Metapher für die Isolation und
Lebensferne jener geschlossenen Gesellschaft der dekadenten
gesellschaftlichen Elite, die sich hier trifft. Dieses Bild kehrt auch ganz am
Schluss, im letzten Kapitel wieder, wo der Erzähler einen früheren, einst
vielversprechenden, doch nun völlig abgestumpften Freund im
Hochgebirge besucht, das nun vollends als Todeslandschaft geschildert
wird: Dieses Bild ist in der literarischen Décadence-Bewegung stark in
Mode und spiegelt zum einen in popularisierter Form die Philosophien von
Schopenhauer und Eduard von Hartmann wieder, zum anderen beruht es auf
dem damals sensationellen Entdeckungen der Entropie und des zweiten
Gesetzes der Thermodynamik12 .
Das Heilbad : Als Treffpunkt der Grössen und Möchtegerngrossen aus
Politik, Wissenschaft, Adel, Militär, Haute Volée und Halbwelt ist ein
solcher Ort für Mirbeaus Beobachtungen und Attacken die dramaturgisch
ideale Bühne. Hier versammeln sich die Vertreter all jener
gesellschaftlichen und politischen Kreise, die dem Autor ein Dorn im Auge
sind, um Gesellschaftsklatsch zu pflegen und daneben auch die
Modekrankheit "Neurasthenie", an der sie alle leiden – wie der Autor in
zunehmendem Masse auch selbst und erst recht sein alter ego, der
Erzähler.
Der Erzähler : Er, Georges Vasseur, verleiht dem Ganzen einen
weiteren schwachen Zusammenhalt, indem er all die Beobachtungen,
Geschichten und Histörchen in lockerem Konversationston verknüpft (–
und dies höchst nachlässig, da er die Abfolge der 21 Tage in 23 sehr
ungleich lange Kapitel unterteilt, undatiert aneinanderreiht und zuweilen
durch reine Erinnerungen unterbricht): Er beobachtet von der Parkbank
aus, im Casino oder auf den ständigen Dîners die Berühmten und
Berüchtigten, er gibt ihre Gespräche wieder, erinnert sich an frühere
eigene Erlebnisse oder belauscht Intimstes – sein besonderes Faible (vgl.
Kap. 15) – durch die Wand des Hotelzimmers. Dieser provokante Kunstgriff
– der die Tradition des modernen, logisch strukturierten naturalistischen
Romans verspottet, zugleich aber auf die uralte Tradition von Chaucers
Canterbury Tales, Boccaccios Décamerone, Marguerite de Navarres
Heptaméron, Casanovas Icosaméron, ja sogar auf die der "Narrenliteratur"
seit Sebastian Brant zurückgreift – ermöglicht es dem Autor zum einen,
alle Facetten seiner Stilkunst und sämtliche Themen seines
gesellschaftskritischen Engagements zu präsentieren, zum anderen kann
er mit dieser Neuverarbeitung seiner Presse-Polemiken nun auch die eher
bürgerliche Zielgruppe der Roman-Leser mit seinen
gesellschaftskritischen Schocktherapien erreichen.
Eine weitere Provokation: Mirbeau rückt – wie bald nach ihm auf
ganz ähnlich schonungslose Art Karl Kraus in seinem Endzeit-
Pandämonium Die letzten Tage der Menschheit – nicht nur frühere oder
noch aktuelle Skandale der französischen Politik, Finanzwelt und
Gesellschaft, die möglichst verschwiegen werden sollen, erneut in grelle
Beleuchtung, sondern er stellt fiktive Figuren, pseudo-authentische ("Es
versteht sich von selbst, dass ich die Namen dieser Geschichte geändert
habe", vgl. Kap. 22) und real existierende, noch lebende Personen unter
Nennung ihres echten Namens (z.B. den Dauerminister Georges Leygues
in Kap. 7, den kriegstreibenden Ex-Premierminister Émile Ollivier in Kap.8
oder den blutrünstigen Kolonialgeneral Archinard in Kap. 9) auf einer
Ebene und gleichwertig nebeneinander und scheut sich nicht, auch
letztere hemmungslos bis ins Diffamierende, Groteske und Grauenhafte
zu überzeichnen. Mit anderen Worten: angesehene Politiker, ruhmreiche
Militärs und andere ehrenwerte Stützen des Staates stehen hier auf einer
Stufe mit Verbrechern, Betrügern, Trotteln und Psychopathen – und dies
deckt sich mit Mirbeaus Überzeugungen und Beobachtungen des
Tagesgeschehens. In der Darstellung des Émile Ollivier, der 1870 als
Regierungschef sein Volk "mit leichtem Herzen" in den Krieg geschickt
hatte, wird Mirbeau, der ihm dies als radikaler Pazifist nicht verzeihen kann,
sogar so "ehrverletzend", dass Olliviers Sohn den Autor nach Erscheinen des
Romans zum Duell fordert.
Die sprechenden Namen : Ebenso vielsagend wie die Namen der
authentischen Berühmtheiten der damaligen Zeitgeschichte sind für
französische Leser die porträtierenden Namen, die der Autor – in uralter
Komödientradition seit Aristophanes – seinen fiktiven Figuren verleiht.
Dem naiven, bestechlichen Provinzpolitiker und -ganoven gibt Mirbeau
den Namen Parsifal (in der damals anstössig deutschen Schreibweise
Richard Wagners!). Der Name der abstrusesten Figur, Clara Fistule,
gemahnt noch deutlich genug an "Fistel" oder "Abszess" und der des Dr.
Triceps an den sogenannten Trizeps-Muskel. Wer mit der französischen
Sprache nicht näher vertraut ist, assoziiert mit den meisten anderen
Namen zunächst jedoch wenig, weshalb sie der Erläuterung bedürfen:
Dr. Fardeau-Fardat lässt die Worte fardeau ("Last"), fard, fardé
("Schminke"; "geschminkt", beschönigt") oder fat ("eitel", "arrogant";
"Fatzke") anklingen; Der Namen von Monsieur Tarte, der erst wieder vor
Glück strahlt, nachdem er einen anderen Kurgast getötet hat, bedeutet
tarte (also "Torte", aber auch "dämlich", "bescheuert", "potthässlich" oder
"vertrottelt"); der pathetisch patriotische Gymnasiallehrer Isidor-Joseph
Tarabustin erweckt die Assoziation von tarabuster ("belästigen", "quälen",
"langweilen", "auf die Nerven fallen"), er heisst also "Langweiler" bzw.
"Nervensäge"; die Marquise de Parabole evoziert in Frankreich die
Bedeutungen "religiöse Erzählung aus der Bibel", "Gleichnis mit sittlicher
Lehre", daneben aber auch "gewunden, unklar, obskur"; und Maître
Barbot erweckt Assoziationen mit der wenig noblen Fischart barbeau
("Flussbarbe") und barbotte ("Bartgrundel") sowie mit barboter (im Wasser,
Morast oder Dreck "planschen"); die Namen der beiden ärmsten Teufel,
des Clochards Jean Guenille und des geistig verwirrten Jean Loqueteux,
bedeuten "Lumpen", "Fetzen", "wertloser Plunder" bzw. "In Fetzen
gekleideter, heruntergekommener Kerl".
Die zunehmende Aktualität : Noch vor 10 bis 15 Jahren konnte man
diese chronique scandaleuse mit voyeuristischem Vergnügen und
prickelndem Grauen lesen, vor allem aber mit dem höchst beruhigenden
Gefühl, dass die darin geschilderten Zustände und Skandale, die die IIIe
République um 1900 erschütterten, längst und unwiederholbar
Vergangenheit und "heute" nicht mehr – und schon gar nicht "bei uns" in
Deutschland, Österreich oder der Schweiz – möglich sind. Heute, ein
Jahrhundert später, ja sogar zu Beginn eines neuen Jahrtausends, frönen
wir wieder dem gleichen haarsträubenden Fortschrittsoptimismus,
müssen aber seit wenigen Jahren in immer dichterer Abfolge haargenau
den gleichen rapiden Verfall der Republik, haargenau die gleiche
Kriminalität in Politik, Wirtschaft und Finanzwelt beobachten, so dass uns
das beunruhigende Gefühl beschleichen könnte, dass sich die Geschichte
offenbar doch wiederholt – auf alle Fälle aber die Erkenntnis ergreifen
muss, dass Mirbeaus Roman plötzlich wieder, und bestürzend rasch, an
Aktualität zunimmt, denn was sich im Vergleich zu seiner Zeit und seinem
Buch geändert hat, sind im Grunde nur ein paar Namen. Mit anderen
Worten: die Zeit ist reif, Die 21 Tage eines Neurasthenikers wieder zu lesen
und den Ruf Nie wieder Höhenluft – so der vom deutschen Verlag gewählte
Titelzusatz womöglich als Warnung zu verstehen.
»Die Zukunft«, so urteilte bereits Mirbeaus frühester Entdecker und
erster Biograph Gustave Geffroy, "wird seine Gabe der Voraussicht
würdigen müssen, da sie sich so oft mit herrlicher Kraft bewiesen hat." 13
_____________________________
[1] So wird diese Zeit treffend in der Mirbeau-Monographie Octave Mirbeau,
l'imprécateur au cœur fidèle, Paris 1990, S. 939, von P. Michel - J.-F. Nivet bezeichnet.
[2] Alle bisher entdeckten oder ihm zugeschriebenen anonym verfassten Romane
erschienen erstmals in Bd. I der krit. Roman-Ausg, Octave Mirbeau, Œuvre romanesque
(Hrsg. Pierre Michel), 3 Bde., Paris 2000 ff.
[3] siehe Combats esthétiques, 2 Bde. Paris 1993 sowie Correspondances avec
Rodin, Tusson 1988, Correspondances avec Claude Monet, Tusson 1990, Correspondances
avec Camille Pissarro, Tusson 1990, sowie Correspondance générale, 4 Bde., (Bd. I
Lausanne 2002; Bd. II Lausanne 2005; Bd. III u. IV in Vorber.) ), alle hrsg. von P. Michel und
J.-F. Nivet.
[4] siehe P. Michel - J.-F. Nivet (Hrsg.): Combats politiques, Paris 1990, sowie P.
Michel (Hrsg.): Correspondance Octave Mirbeau – Jean Grave, Paris 1993, und P. Michel:
"Lettres à Émile Zola" in Cahiers naturalistes Nr. 64 (1990), S. 7 – 34.
[5] siehe Combats pour l'enfant (Hrsg. P. Michel), Vauchrétien 1990.
[6] siehe seine gesamten Glossen, Berichte und Aufrufe dazu in P. Michel - J.-F.
Nivet (Hrsg.): L'Affaire Dreyfus, Paris 1991
[7] zitiert in P. Michel - J.-F. Nivet, Octave Mirbeau..., a.a.O. S. 902
[8] in Mercure de France, Oktober 1901, zitiert in P. Michel - J.-F. Nivet, Octave
Mirbeau..., a.a.O. S. 679.
[9] in ders.: Octave Mirbeau, son œuvre, Paris 1924; zit. in Les 21 jours d'un
neurasthénique (Hrsg. P. Michel), Nantes 1998, S. 7.
[10] in Les 21 jours d'un neurasthénique (Hrsg. P. Michel), a.a.O., S. 7.
[11] in einem Interview mit Maurice Le Blond in L'Aurore, 7.6. 1903; zit. in J.-F.
Rivet, P. Michel, Octave Mirbeau..., a.a.O., S. 679.
[12] siehe Anm. zu Kap. 23 der krit. Ausg. von Les 21 jours d'un neurasthénique in
Octave Mirbeau, Œuvre romanesque (Hrsg. Pierre Michel), Paris 2000, Bd. III.
[13] siehe Katalog der Wanderausstellung Octave Mirbeau, Angers 1898, S. 42.