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Oana Paraschiv
Teatrolog

Palaver
(Wie ein vom Wind verwehter Luftballon)

Schauspiel in 5 Akten
von

L. Erwin – Deutsch

PERSONEN
Der Autor
Peter derselbe
Ein Junge
Dr. Harth
Pupak
Ludwig Schwartz
Isabella
Frau Müller – Hagenkamp
Der Stationsälteste
Maria
Der Hauswart (eine heisere Stimme)
Szabo
Der Führer einer ungarischen Pfeilkreuzlerstreife
Der Dichter
Ein Mädchen
Fredo (Stimme aus den Kulissen)
Ein Wächter
Herr Theo

Eine Streife ungarischer Pfeilkreuzler, ungarische Kommando-Mannschaft, S.S.-


Soldaten, Arbeitsabteilungen in Ungarn mit gelben – und Strafabteilungen mit weissen
Armbinden, Lagerinsassen in Häftlingskleidungen, eine ungarische Militär –
Radfahrerstreife.

PROLOG
(Im Raum vor dem Vorhang ist ein modernes Arbeitszimmer eingerichtet. In
einer Ecke, dem Publikum halb zugewandt, steht ein grosser Schreibtisch, mit
einer schmiedeeisernen Tischlampe; auf dem Schreibtisch liegt eine
Schreibmappe, Schreibpapier und ein Tonbandgerät. Am Schreibtisch, ein
Sessel. )
Der Autor : (Ein Mann von 38-40 Jahren, schlank, elegant . Er trägt eine Brille, sitzt im
Sessel am Schreibtisch, halb dem Publikum zugewandt, in der rechten Hand
einen Füller, der linke Ellenbogen auf dem Schreibtisch gestützt; er bereitet
sich zum Schreiben vor .Ein Augenblick vollkommener Ruhe und
Unbeweglichkeit, dann erhebt er plötzlich den Kopf und beginnt, jetzt das
Gesicht zum Publikum gewandt, mit ruhiger Stimmer, wie erklärend, zu
sprechen)
... Der Vorhang geht auf. Oder besser gesagt, der erste Vorhang. Bis zur
Vorstellung dauert es noch ein bisschen. Werden Sie bitte nicht ungeduldig.
Ich halte Sie nur zwei-drei Minuten auf...Selbstverständlich mit Erklärungen.
Ich weiss zwar Bescheid, dass Erläuterungen meistens überflüssig sind...Und
doch...
Also, wäre ich der Prolog. Ich wäre, wenn Sie nicht zu einem modernen Stück
gekommen wären. So kann ich kein Prolog sein, es wäre altmodisch. Sodann,
werde ich “Der Autor” sein... Der Autor, der sein Theaterstück vorstellt.Aber
er spricht nicht. Er schweigt, denkt und schreibt. Was Sie hören werden, sind
seine Gedanken...
(Er stellt das Tonbandgerät, das auf dem Schreibtisch steht, an, bereitet für
sich selbst ein Paar Bogen Papier vor; dann, nach einer kurzen Denkpause,
fängt er zu schreiben an. Ohne das Publikum weiter zu beachten, fährt er bis
zum Ende des Bildes mit dem Schreiben fort. Unterdessen hört man vom
Tonbandgerät klar und deutlich die Stimme des Autors)
...Im Laufe der Zeit verblassen die Erinnerungen. Selbst die Begebenheiten,
die das Sein eines Menschen erschüttern und sein ganzes Nervensystem
erbeben lassen, verlöschen allmählich, die Farben verlieren ihre Frische, die
Umrisse werden verwischt, die Tatsachen gleiten aus der Welt der greifbaren,
tridimensionalen Realität in die Welt der bidimensionalen Bilder, der Märchen
und der Träume. Derjeinige, der sich an längst vergangene Geschehnisse
erinnert, betrachtet manchmal seine alten Erinnerungen, als ob er sie nicht
selbst erlebt hätte, sondern nur irgendwo davon gelesen oder sonstwo gesehen
hätte. Die zeitliche Entfernung lässt die Tatsachen nicht nur verfliessen und
verbleichen, sondern sie verzerrt sie obendrein. Die Umrisse werden nicht nur
weniger scharf, sie verändern sich auch. Die Zeit und das Gedächtnis
unterstreichen gewisse Erinnerungen, bringen manche an die Oberfläche,
lassen andere versinken, verändern ihre Nuancen und lassen auch einige in der
Vergangenheit untertauchen...Und je mehr Zeit verfliesst, um so mehr
Verzerrungen entstehen.
...Seit zwanzig Jahren reifen, verwischen und verfärben sich meine
Erinnerungen.) Ich muss mich beeilen, um sie, noch so lange es nicht zu spät
ist, festzulegen, so lange ich noch in ihren verfliessenden Umrissen das
Wesentliche erkennen kann. Ich muss mich beeilen, die Erinnerungen, die in
die Unwirklichkeit, in die Märchen- und Traumwelt hinübergleiten,
festzuhalten und das, was noch möglich ist und der Mühe wert, in die Welt
unserer Wirklichkeit zurückzuholen...als Beispiel, Ermahnung, Belehrung.
...Die Erscheinungen, die Geschichten, die Alpdrücke, die ich
heraufbeschwöre, haben sich wirklich so zugetragen. Was Ihnen vielleicht
dabei als fürchterlich oder entsetzlich erscheinen mag, ist kein Spiel der
Einbildung. So war eben die Realität...
Der Schleier der Zeit und der Erinnerung mag zwar verdunkeln, Umrisse und
Farben verwischen, jedoch die Tatsachen sind unverfälscht geblieben.
(Beim letzten Wort, streckt der Autor, ohne aufzublicken die Hand aus und
schaltet das Tonbandgerät aus. Man hört ein leichtes Klirren,die Szene wird
verdunkelt und der Vorhang fällt).
(Der Raum vor dem zweiten Vorhang muss schnell ausgeräumt werden,
damit nach den letzten Worten des Prologs beide Vorhänge aufgezogen
werden können und der Erste Akt beginnen kann).
ERSTER AKT

( Ein Krankenzimmer in einem Sanatorium für Lungenkranke in Gauting bei München.


Durch das geöffnete Fenster sieht man die Zweige einer Tanne. Vier eiserne
Krankenhausbetten, vier Nachttische, ein Kleiderschrank, ein Tisch, vier Stühle. Ein
Radioempfänger. Am Fenster steht ein Blumentopf.
Es ist ein Herbstnachmittag des Jahres 1945. Der Krieg ist auch im Fernen Osten beendet.
Die vier Kranken liegen in ihren Betten. Ludwig Schwartz (25) liegt ausgestreckt auf
dem Rücken, mit geschlossenen Augen :möglich, dass er schläft, vielleicht atmet er nur
schwer. Dr. Harth (30) liegt auf seinem linken Ellenbogen gestützt und liest eine deutsche
Übersetzung von Shakespeare. Auf dem Radiogerät, das auf seinem Nachttisch steht,
liegen mehrere Bände von Shakespeare’s Dramen, abgeschabte Einbände mit goldenem
Aufdruck. Pupak (25), ein sehr hochgewachsener junger Mann, mit auffallend
entwickelter Muskulatur, welche man sogar durch seine Pyjamajacke erkennen kann, mit
sympatischem Kindergesicht, wirrem Haar, sitzt auf dem Bettrand und ordnet
verschiedene Dinge in der Schublade seines Nachttisches. Peter, der Autor im Alter von
20 Jahren, sitzt auf seinem Bett und liest. Auf dem Tisch liegt noch das Besteck vom
Mittagessen: drei leere Teller. Der vierte Teller, auf dem noch die halbe Portion Essen ist,
steht auf Ludwig Schwartz’s Nachttisch. Das Radio hört man nur gedämpft. Die Tür wird
geöffnet, ohne dass jemand vorher angeklopft hätte. In der Türöffnung erscheint für einen
Augenblick ein Kopf, mit schwarzem, struppigen Haar und Brille. Es ist Martinski (20).

Martinski: Heute abend halten wir ein Palaver. Ich komme um 9 Uhr.
Dr. Harth: Aber...
Pupak: Wieso...
Ludwig: (erschrocken, einen Augenblick später) Nicht doch...
(Der Kopf verschwindet. Der Knall, der von Martinski zugeschmissenen Tür,
setzt den drei angefangenen Sätzen ein jähes Ende).
Ludwig: (aufgeregt) Doktörchen, ich kann gar nicht verstehen was Steff will? Ich
träumte gerade, ich wäre beim Pneumothorax und dass sie wieder falsch
reinstechen. Gottlob, dass ich aufgewacht bin. Ich habe Angst vor den
Schmerzen. Sogar die Träume tun mir weh.... Sage mir bitte, was ist denn das
“ein Palaver” ?
Dr. Harth: (Während Ludwig Schwartz spricht, dreht er sich auf die rechte Seite, das
Gesicht diesem zugewendet; sein Buch hat sich geschlossen ). Eine Beratung.
Von Negern, vielleicht auch von Indianern. In den Geschichten von Wallace
über Bosambo halten die kriegerischen Negerstämme bei jeder Gelegenheit
Palaver. So eine Art Beratung beim Lagerfeuer in der Wildnis des
Dschungels. Aber was für ein Palaver Steff mit uns halten will, das kann ich
wirklich nicht begreifen.

Pupak: (beendet das Ordnungmachen in der Schublade, träumerisch) Palaver...Ein


Andenken von vor sieben Jahren. Damals habe ich zum letzten Mal die
Geschichte von Bosambo gelesen...Das Buch hatte ich einst zu meinem
Geburtstag bekommen, als ich in der ersten Gymnasiumklasse war. Ich habe
es oft wiedergelesen. Das letzte Mal im jahr 1938. Selbst der Name klingt wie
das Echo von unbekannten geheimnisvollen Fernen... Der Rhythus der Tam-
tam-Trommeln, der Hauch der Savannen, das Flackern der Lagerfeuer in der
Nacht, Dschungel, Negerstämme auf dem Kriegspfad...das kristallreine
Lachen meiner Mutter an diesem längst vergangenen Tag...

Peter: (ironisch lächelnd) Pupak wird gefühlsduselig. Doktorchen, gib ihm ein
Taschentuch. Rasch ein Taschentuch !

(Es wird an die Tür geklopft).

Dr. Harth: Herein.

Isabella: (Hilfsschwester, 17 Jahre, schlank, blond, blaue Augen, feingeschnittene,


delikate Züge; eine hübsche Estin, trägt weisse Schürze) Ich komme, um das
Besteck zu holen. Ich habe mich ein wenig verspätet, denn der polnische
Offizier, der Blut hustet, vom Krankenzimmer 25, hatte nichts gegessen, ich
musste ihn mit dem Löffel füttern... Aber ich sehe ja, hier wart ihr alle brav,
die Teller sind leer.

Pupak: (versucht Kunststücke vorzuführen, indem er auf dem Kopf eine Schachtel
Ovomaltin balanciert. Er blickt Isabella an, lächelt ihr zu) Die braven Kinder
haben wirklich alles aufgegessen. Und jetzt erwarten wir zur Belohnung einen
Kuss. Ich bin der Vertreter dieses Zimmers und deswegen steht er mir zu...

Isabella: (wendet sich an Pupak, leise, als mache sie ihm ein Geständnis) Aber doch
nicht jetzt...nicht vor den Anderen...(wendet sich an Peter) Sag’ mal, ist er
nicht wie ein Riesenbaby? Wie ein ungeheures Baby, süss und lieb...

Peter: Ludwig hat kaum vom Essen gekostet.Versuchen Sie, ihn mal zu überreden.
Isabella: (nähert sich Ludwigs Bett) Herr Ludwig, alle haben schon gegessen und Sie
sind neben dem vollen Teller eingeschlafen?

Ludwig: (seine Augen glänzen, während er die Schwester betrachtet) Schwesterchen,


ich bin schrecklich müde und habe gar keinen Hunger.

Isabella: Nur ein wenig...mir zu Liebe.

Ludwig: Bekomme ich dann auch einen Kuss?

Isabella: Einen brüderlichen.

Ludwig: Na, dann esse ich schon, selbst wenn mir danach schlecht werden sollte.

Isabella: (beugt sich über den Kranken, küsst ihn auf die Stirn, richtet ihm das Kissen
hinter dem Rücken, setzt sich auf den Bettrand und gibt ihm mit dem Löffel
zu essen)

Ludwig: (lächelt, zwingt sich herunterzuschlucken, ab und zu hält er aber an, hustet) Es
ist schwierig.

Dr. Harth: (erhebt sich schwerfällig, setzt sich auf den Bettrand, zieht die Hausschuhe an,
dann geht er, langsam, taumelnd zu Peters Bett. Holt sich einen Stuhl vom
Tisch und setzt sich hin. Erst nachdem er aus dem Bett gestiegen ist, bemerkt
man dass er spindeldürr wie ein Gespenst ist) Verliebt?

Peter: Ja, ich mag sie gern.

Dr. Harth: Wir haben sie alle gern. Vielleicht sogar ich.Trotzdem interessiert mich jetzt
schon die Literatur mehr als das Leben selbst...Wenn der Mensch aus dem
Trost der Religion entwachsen ist und sich vor dem Tode fürchtet, dann sucht
er sich den seelischen Trost woanders. Ich habe ihn in der Kunst gefunden;
gegenwärtig, ein Shakespeare-Stück bedeutet mir mehr als die wundervollste
Frau.

Peter: Das Versiegen der Lebenskraft, Doktorchen, -die dreissig Jahre. Dazu kommt
noch, dass Isabella dich auch gar nicht beachtet. Das Papier, die Schrift, alles
nur Ersatz.

Dr. Harth: Du liebst sie umsonst.


Peter: Das weiss ich.

Dr. Harth: Sie hat für jeden ein Lächeln, ein nettes Wort.So auch für dich. Vielleicht
sogar mehr als für die Anderen, denn sie weiss ja, dass du sie liebst.Und
ausserdem bist du auch krank. Und sie ist Krankenschwester.
Krankenschwester mit Leib und Seele.Aber ihr Blick strahlt nur, wenn sie
Pupak anschaut.Ihn liebt sie in allen Varianten der Liebe: wie einen
Liebhaber, wie einen Vater und wie ein Kind.

Peter: Ich beneide Pupak.

Dr. Harth: Das Riesenbaby. Einfach, lieb, kräftig.Und immer ruhig.Wie ein Mensch ohne
Probleme.

Peter: Oder der seine Probleme eben immer lösen kann.

Isabella: (ist mit dem Füttern fertig, sie streichelt Ludwigs Stirn, räumt alle Teller ab,
dann geht sie, mit dem Tablett in den Händen, zu Pupaks Bett.) (Leise) Herr
Pu-pak...(Sie lacht).Nach sechs erwarte ich dich.Ich möchte spazieren gehen.

Pupak: Komme bestimmt pünktlich.Aber ich muss heute um neun wieder zurück sein.

Isabella: Warum denn?

Pupak: Wir halten ein Palaver.

Isabella: Was ist denn das?

Pupak: Ich weiss es auch nicht genau. So eine Art Beratung.Morgen werde ich es dir
erzählen. (Isabella geht zur Tür).

Isabella: Angenehme Erholung ! (Geht hinaus).

Dr. Harth: (zu Peter) Ich weiss nicht, was zum Teufel der Martinski mit dem Palaver von
heute abend will. Es heisst, du seist sein bester Freund...hat er dir auch nicht
mehr gesagt?

Peter: Nein, auch mir nicht. Gestern abend, nach dem Abendbrot, war ich bei ihm. Er
hatte getrunken.Er beweinte Ludwig.Dann kam Frau Müller-Hagenkamp
herein.
Dr. Harth: Die verliebte Psychotherapeutin?

Peter: Ja. Sie brachte Steff eine Flasche Rheinwein und ein wenig verklärten Seelentrost.

Dr. Harth: Und hat ihm auf einem feinen Silbertablett das verliebte Herz einer
verflossenen Schönheit angeboten.

Peter: Du bist unausstehlich.

Dr. Harth: Nur neidisch und schadenfroh. Erzähle weiter!

Peter: Steff war ziemlich besäuselt. Er hat Theater gespielt. Er hat das elektrische Licht
ausgemacht und eine Kerze angezündet.Dann hat er den Rheinwein in die
Gläser gegossen.

(Während Peter spricht, wird die Bühne verdunkelt. In der Dunkelheit wird im
Vordergrund ein Tisch mit drei Stühlen aufgestellt. Drei Schatten setzen sich
auf die Stühle. Stephan Martinski, 20 Jahre alt, hochgewachsen, schwarzes,
struppiges Haar, blass, hübsch;Frau Müller-Hagenkamp, 40-50 Jahre alt,
immer noch schön, ein wenig mollig, ausdrucksvolles Gesicht; und Peter. Der
Scheinwerfer beleuchtet nur Martinski’s Hand, der zuerst ein Streichholz und
dann die Kerze anzündet, welche dann den Tisch beleuchtet ).

Martinski: (füllt die drei Gläser mit Wein.Es zittert ihm die Hand) Wir wollen zu Ehren
von Ludwigs Tod trinken.Er war mir ein guter Freund.Möge er die ewige
Ruhe finden.

Frau Müller-: (entrüstet) Aber Stephan, Ludwig lebt noch. Man kann ihn noch retten.

Hagenkamp

Martinski: Den Ludwig hat der behandelnde Arzt umgebracht, als er ihm beim
Pneumothorax in die Lunge gestochen hat; danach hat ihn der Chef-Arzt
umgebracht, mit der Erklärung, dass er keine Chance zum Überleben mehr
habe, und dann haben wir, seine Freunde ihn umgebracht, als wir zur Kenntnis
nahmen und es widerspruchslos akzeptierten, dass er sterben wird. Ludwig ist
schon tot.Selbst wenn er jetzt noch atmet, noch denkt, noch ein paar Tage
sprechen wird – er ist eben tot. Tot, wie der alte Marley, wie ein Türnagel.
Peter: Was willst du denn mit dem Türnagel?

Martinski: Siehe Dickens “ A Christmas Carol”, Seite 1, zweiter Absatz. Und jetzt lasst
uns trinken! (Sie erheben sich alle drei, stossen an, Frau Müller-Hagenkamp
küsst Martinski auf den Mund; sie leeren ihre Gläser).

Frau Müller-: Sei nicht so traurig, Stefan. Mein Herz schnürt sich zusammen, wenn ich

Hagenkamp dich ansehe.

Martinski: Dann sieh mich heute abend nicht mehr an.Besser lässt du uns jetzt allein. Für
dich ist Ludwig nur einer von zweitausend Kranken, uns war er ein Freund...

Frau Müller- Gute Nacht! Trinkt nicht zu viel...Stephen, ich erwarte dich.

Hagenkamp (Geht mit geneigtem Kopf hinaus).

Martinski: (schenkt nur in zwei Gläser ein) Der Mensch wartet immer. Wird er geheilt
oder stirbt er, er wartet auf die Heilung oder auf den Tod.Und alle gehen fort.
Auf diese Weise, oder auf jene...Wie Ludwig.

Peter: Wir sind irgendwie so, wie auf dem Zauberberg. Dort war es vor dem Krieg, hier
ist es danach. Die Zeit zerfliesst.

Martinski: (leert sein Glas, dann heftig) Genug damit ! Monatelang immer dieselben
weissen Wände, dieselben öden Korridore des Krankenhauses.Mag doch
etwas geschehen...Ganz egal was, nur soll es die amorphe Kette der sich
zusammenschmelzenden grauen Tage und schwarzen Nächte
zerreissen...irgend etwas...Liebe, Schlägerei, Skandal...oder wenigstens Lärm.
Viel Lärm...Ich halte diese Stille nicht mehr aus .(Er fasst sich mit der rechten
Hand in die Haarbüschel auf seiner Stirn, dann lehnt er den Ellenbogen auf
den Tisch und verbleibt so, mit in die Leere versunkenem Blick).

Peter: (nach einem kurzen Schweigen ) Woran denkst du?

Martinski: An nichts. Ich stiere einfach die Wände an...Peter, lass uns ein Palaver halten.

Peter: Was?

Martinski: Ein Palaver...


Peter: Wie meinst du das?

Martinski: Weiss ich nicht...So wie du. Keine Ahnung.Aber wir wollen ein Palaver
halten.Wenigstens wird dann etwas los sein.Ich werde sowieso Selbstmord
begehen.Es war genug.Aber vorher halten wir Palaver.Morgen Abend, von
neun bis Mitternacht.Dann trinke ich den Rest des Weins und hänge mich im
Waschraum auf.

Peter: Steff, du bist besoffen!

Martinski: Ich habe nicht viel getrunken.Was noch übrig geblieben ist, hebe ich für
morgen abend auf...und wenn du vernünftig bist, kommst du nach dem
Palaver mit, und hängst dich auch du auf.

Peter: Vielleicht.Werde morgen sehen, ob ich Lust dazu habe.

Martinski: Auch du hast nicht mehr Grund zum Weiterleben.

Peter: Vielleicht doch.Ich bin ein Kranker.Und den Kranken scheint der Tod
entsetzlicher.

Martinski: Überlege es dir.Bis morgen hat’s Zeit.Dann, nach dem Palaver..

(Die Bühne verdunkelt sich allmählich,Tisch und Stühle werden entfernt.


Martinski verschwindet.Peter legt sich wieder in sein Bett und spricht noch im
Dunkeln weiter).

Peter: Über das Palaver wurde nicht mehr gesprochen.Es blieb beschlossen.(Die Bühne
wird wieder hell).Und vorhin hat er es auch angekündigt.Mehr weiss ich
nicht...Und ich nehme an, dass auch er nicht mehr weiss.

Dr. Harth: Sodann um neun Uhr.Wie spät ist jetzt?

Peter: (zieht die Schublade, sieht hinein) Zehn nach vier !

Dr. Harth: Ich bin gar nicht schläfrig.

Peter: Das ist die Erwartung des Palavers.Wie beim Reisefieber.

Dr. Harth: Ich hätte Lust zum Vorlesen.

Peter: Von Ady?


Dr. Harth: Ja.

Peter: (reicht ihm einen Band von Ady’s Gedichten) Lies leise .Ludwig ist
eingeschlafen.

Ludwig: (öffnet die Augen) Nein, ich schlafe nicht.Ich möchte auch zuhören.

Pupak: (sitzt auf dem Bettrand) Wieder das alte Programm.Der Verwandte des
Todes...der Tod hier...der Tod dort...

Peter: Wer den Tod fürchtet, spricht oft von ihm.Dieser elende, quengelnde Mensch
schämt sich, seine Furcht mit eigenen Worten auszusprechen.Und wie ein
schüchterner Verliebter, sucht er Zuflucht in Zitaten.

Ludwig: (leise) Zu viel Wortklauberei.Leg’ mal los, Doktorchen. Aber eigentlich


könntest du auch wirklich etwas Neues vorlesen.

Dr. Harth: (öffnet das Buch, blättert darin herum) Da habt ihr, als Einführung: (ohne zu
deklamieren, mit Leidenschaft, als würde er seine eigene Meinung sagen,
weiter im Buche blätternd)

“Lass jedes sel’ge Lächeln

Vom Tode nun verlöschen

Und mag die hehre Kraft sich

Im eitlen Wahn erschöpfen.

Ein Festschmaus andrer Gäste,

Sei nimmermehr das Leben,

Das Gold zu Feuer werde,

Der Kuss, ein giftig Becher..”

(Während Dr. Harth die Verse aufsagt, verdunkelt sich die Bühne wieder.Der
Vorhang fällt langsam.Die letzten Worte erklingen hinter dem Vorhang)

(Im Raume vor dem Vorhang sitzt Peter auf einem weissen
Krankenhausstuhl.Über dem Pyjama trägt er einen Hausmantel.)
Peter: (erzählt) Der Nachmittag verging im Krankenzimmer 27 in der Erwartung des
Palavers. Dr. Harth hat vorgelesen.Inzwischen ist Ludwig eingeschlafen.Er
wälzte sich die ganze Zeit in seinem Bett, atmete unruhig.Um halb sechs
begann Pupak, sich anzuziehen.Danach kroch Dr. Harth wieder in sein Bett
zurück.Er blätterte im Ersten Band von Shakespeare’s Werken, las mit
Grabesstimme die Widmung : “ Quengelnder, lumpiger Bettler, jetzt bist du
ausbezahlt, nun wirst du sterben”. Wir drei- seine Zimmergenossen –
zusammen mit Martinski haben ihm zu seinem dreissigsten Geburtstag die
Gesammelten Werke Shakespeare’s geschenkt. Wir hatten Mitleid mit ihm,
dem Armen, dass er so alt war und wollten ihm bei dieser traurigen
Gelegenheit eine kleine Freude bereiten. Aber wir konnten es uns doch nicht
versagen, ihn mit einer leicht boshaften Widmung zu sticheln...Ich holte mir
ein Buch der Botanik heraus, aber ich hatte keine Geduld dazu.Peer Gynt
passte mir besser. Kurz vor sechs ist Pupak fortgegangen. Es wurde still.Ich
bin mit dem Buch in der hand eingeschlafen. Als ich aufwachte, war es schon
dunkel. Ludwig und Dr. Harth schliefen. Da schoss es mir durch den Kopf,
dass Ludwig im Sterben lag.Vielleicht schon in ein paar Tagen wird er
draussen im Friedhof von Gauting liegen.Allem Anschein nach wird in einem
halben Jahr auch Dr. Harth dort enden...Pupak wird wieder gesund...Vielleicht
auch ich...Aber auch die Genesung ist bloss ein Aufschub...Eine Woche, oder
ein halbes Jahrhundert...Alles verfliesst...Die Krankenhaus-korridore und
Säle, die weite Welt, wimmeln noch von unserer Generation...Isabellas Haare
haben einen goldenen Glanz...Und bald beginnt das Palaver.Das Licht wurde
zugedreht.Ich hatte es gar nicht bemerkt, dass die Tür geöffnet wurde und die
Schwester mit den Thermometern ins Zimmer trat.Sie ordnete Ludwigs
Kissen, wecktte Dr. Harth und mass unsere Temperatur.Danach kam das
Abendbrot. Dr. Harth und ich haben uns an den Tisch gesetzt. Ludwig hat im
Bett gegessen, langsam, mit stockendem Atem. Ihn fütterte eine ältliche
Nonne, während sie ihm mit sanfter Stimme die Vorstellung, die die Kinder
aus Gauting aufgeführt hatten, erzählte.Auch wir haben zugehört...Das
Geschirr wurde abgeräumt.Pupak’ s Essen habe ich ihm in seinem Nachttisch
aufbewahrt. Später erschien auch der diensthabende Arzt. Er ging zu Ludwig,
klopfte ihm auf die Schulter, sagte :”na gut” und ging hinaus. Damit war das
Tagesprogramm abgelaufen.

Überall ist still geworden. Nur hie und da noch eine Tür im Korridor...sonst
geschah nichts mehr.Jetzt ist es viertel vor neun.Pupak muss bald
zurückkommen, denn um neun beginnt das Palaver.

(Der Vorhang wird aufgezogen.Auf der Bühne, das Krankenzimmer Nr.27. Das
Licht brennt.Ludwig liegt mit offenen Augen auf Kissen gestützt.Dr. Harth
sitzt in seinem Bett und liest.Er dreht sich um und schaltet das Radio
ein.Pupak’s Bett ist leer.Die Decke, die Kissen, alles schön ausgerichtet.Die
Decke von Peters Bett ist zurückgeschlagen, man merkt, dass er vor kurzem
aufgestanden ist. Peter bringt den Stuhl zum Tisch zurück, zieht seinen
Hausmantel aus und hängt ihn in den Schrank.Danach legt er sich auch ins
Bett. Die Tür wird geöffnet.)

Pupak: (tritt fröhlich, leicht gerötet, ein, während er leise vor sich hin pfeift) Ich wusste
nicht, wieviel Uhr es ist. Ich dachte schon, dass ich zu spät komme.

Peter: Sieben Minuten vor neun...

Pupak: Dann habe ich noch fünf Minuten Zeit, etwas zu essen.

Dr. Harth: Dein Abendessen wartet auf dich im Nachttisch.

Pupak: Danke (er isst).

Peter: War es schön?

Pupak: (während er isst, glücklich) Sie ist schön...und süss.

(Es wird an die Tür geklopft).

Dr. Harth: Herein!

Der Stationsälteste: (ein hübscher, grosser, junger Mann, mit breiten Schultern, 25-30
Jahre, mit sorgfältig gepflegtem Vollbart)

Pupak, komm doch zu mir für eine Schachpartie...


Pupak: (mit vollem Mund) Ich kann nicht kommen.

Ludwig: (leise) Joseph, Pupak kann heute nicht. Wir haben Palaver.

Der Stationsälteste: Palaver? Keine Ahnung, was das ist. Aber ich will euch nicht mehr
aufhalten.Gute Nacht.Dann also, Pupak, auf morgen abend. (Geht ab).

Alle vier: Gute Nacht ! (Pupak schlingt schnell sein Essen hinunter, dann macht er
Ordnung auf dem Nachttisch).

Ludwig: Peter, ist es noch nicht neun?

Peter: (schaut in den Nachttischkasten) Genau neun.

(Man klopft an die Tür).

Dr. Harth: (nach einer Pause) Herein!

(Die Tür wird allmählich geöffnet, dann erscheint Martinski. Er tritt sehr feierlich
und mit Getue ein, schliesst langsam die Tür hinter sich).

Martinski: (Militärhose, kurze Jagdstiefel, dunkelblaue Jacke mit vergoldeten Knöpfen,


schwarze Fliege.Auf seinem struppigen Haar trägt er eine Krone aus
Goldpapier. Als Szepter hält er eine in Goldpapier eingewickelte Weinflasche
in der Hand. Deklamierend) Nun tanze ich euch vor, dass ich eintrete und
euch begrüsse, ich tanze jetzt vor, dass ich mich zu euren Tisch setze!( Er
stellt es als Pantomime dar, mit linkischen aber doch tänzenden Bewegungen.
So wie ich es dem Peter abgesehen habe, der ja keine einzige natürliche,
ungezwungene Bewegung macht. (Martinski setzt sich an den Tisch, erhebt
sich wieder, steigt auf den Stuhl, öffnet die Weinflasche und trinkt).

Martinski: Da tanze ich euch die Eröffnung des Palavers vor ! Anstatt der Friedenspfeife,
gebt nun die Flasche von einem zum andern weiter. Pupak, zum Fressen!

Pupak: (in zivil gekleidet, nicht gerade massgeschneidert, aber immerhin gut aussehend,
sitzt auf dem Rand des Bettes.Er springt blitzartig auf und bleibt in “Habt
Acht “ –Stellung stehen ).
Zu Befehl. (Während Martinski weiter redet, schneidet Pupak das Brot in
Scheiben, öffnet eine Konservenbüchse und bereitet belegte Brötchen vor. Dr.
Harth hilft ihm, ohne aus dem Bett zu steigen).

Martinski: Doktorchen, such dir am Radio einen Trauermarsch.Es ist an die Zeit, dass du
dich daran gewöhnst.Dein letzter Weg naht. (Zu Peter) Du, Peter, treib mal
eine Trommel auf.Bei einem Palaver braucht man zwei Arten von
Rhythmen.Besonders, wenn die, die sich schon auf dem Weg zum Tode
befinden, ein Palaver mit denen, die wieder ins Leben treten, halten.

(Während Martinski seine Rede hält, wandert die Flasche von Hand zu
Hand.Ludwig, dem Peter hilft, trinkt auch.Nach der ersten Runde ist die
Flasche halb geleert).

Martinski: (deklamiert) Wir haben zu Ehren des Palavers getrunken, jetzt wollen wir
auch uns zu Ehren trinken.Auf das Wohl der Todgeweihten ! (Er erhebt die
Flasche zuerst vor Ludwig, dann wendet er sich zu Dr. Harth ).Denen, die
wieder gesund werden, wünsche ich einen frühen und möglichst angenehmen
Tod. (Er verneigt sich vor Pupak). Auf Isabellas schöne Augen, auf ihr
blondes Haar und darauf, woran noch Pupak denkt.

Pupak: Pass auf, Steff, vielleicht schmeiss ich dich durch’s Fenster hinaus !

(Die Flasche macht wieder die Runde und wird geleert.Martinski steigt vom Stuhl
und setzt sich an den Tisch.Dr. Harth sucht am Radiogerät einen
Trauermarsch, und nachdem er ihn gefunden hat (evtl. den Trauermarsch aus
G. Mahlers Symphonie Nr. 1), stellt er den Apparat laut an.Pupak bietet die
Teller mit belegten Brötchen. Peter steigt aus dem Bett, zieht einen
Hausmantel an, danach steckt er Ludwig noch ein Kissen hinter den Rücken,
damit dieser möglichst bequem dem ersten – und auch wahrscheinlich auch
letzten – Palaver seines Lebens beiwohnen kann.Bevor der Trauermarsch
noch verklungen ist, kehrt Peter wieder in sein Bett zurück. Er nimmt vom
Bettende das eiserne schwarze Täfelchen, auf dem mit Kreide der Name des
Kranken, die Diagnose und die Fieberkurve verzeichnet sind – setzt sich auf
den Bettrand und bearbeitet das Täfelchen, das er an einer Schnur hängen
lässt, in einem teuflischen Rhythmus mit einem Löffel. Der Klang ist über alle
Erwartung schrill.Alle fahren auf.Das Radio ist nur noch in den kurzen Pausen
des ohrenbetäubenden Prasselns der improvisierten eisernen Trommel
hörbar.Martinski sitzt hoffärtig am Tisch.Seine Krone aus Goldpapier erstrahlt
im Glanze der schirmlosen Lampe.Er lässt seine Blicke langsam über die
Teilnehmer des Palavers schweifen. Als er Ludwig ansieht, bemerkt er, dass
dieser seine Lippen bewegt, ohne dass man aber in dem Lärm seine Stimme
vernehmen kann. Er stürzt sich auf Peter und hält ihm die Hand fest, als dieser
wieder auf das Eisenblechtäfelchen losschlagen will).

Martinski: (zu Peter) Hör auf ! Ludwig sagt etwas. (Er setzt sich neben Ludwig auf
dessen Bettrand.Dr. Harth schaltet das Radio aus.In der plötzlich
eingetretenen, fast unnatürlichen Stille, wendet er sich mit zärtlicher Stimme
an Ludwig) .So, Ludwig, jetzt kannst du sprechen. Dieser Verrückte machte
solch einen Lärm, dass man kein Wort, von dem was du sagtest, vernehmen
konnte.

Ludwig: (flüsternd, stockend, kaum verständlich) Bis jetzt hat Steff nur im Namen
derer, die wieder gesund werden, gesprochen.Er hat viel geschwätzt, wie
einer, der noch viel Zeit hat.Jetzt soll der Doktor in unserem, der den
Sterbenden, Namen sprechen.Dann soll jeder in seinem eigenen Namen
reden...Ihr habt mir gesagt, dass das Palaver eine Art Beratung ist.Und mir
scheint, dass wir in dieser Nacht, bei diesem deutschen Städtchen, von dessen
Namen ich früher nie etwas gehört habe, in diesem Krankenzimmer- einige
von uns am Tisch, die anderen auf dem Sterbebett – ähneln den Kriegern eines
Stammes, die nach der Schlacht, um das Lagerfeuer entfernter Jagdgebiete
versammelt sind. Fast alle verwundet, einige dem Tode gewidmet, die andern
dem Leben. Sie erwägen ihre Verluste, erinnern sich, halten ein Palaver. Also
lasst uns beraten und nicht die Zeit verplempern.

(Ludwigs Worte enden mit einem Hustenanfall.Seine Schultern zucken


krampfhaft, das Gesicht wird tiefrot, seine Augen voller Tränen.Alle
Amwesenden, mit ihrem echten oder nur vorgetäuschten Zynismus schweigen
ergriffen.Die Stille lässt den Hustenkrampf noch greller, noch erschütternder
erscheinen.So vergehen einige Augenblicke. Martinski ergreift das Handtuch,
das am Bettende hängt, und trocknet damit die Schweisstropfen vom Antlitz
des Kranken.Bei der Berührung seines Mundes, bleiben ein paar Blutflecken
auf dem Tuch.Damit der Kranke die Blutspuren nicht bemerkt, faltet
Martinski das Tuch sorgfältig zusammen...Aber scheinbar hat sie Ludwig
trotzdem gemerkt.

Martinski: (wirft Pupak das Handtuch zu) Pupak, hol für Ludwig ein frisches Handtuch !

Pupak: (legt ein sauberes Handtuch auf Ludwigs Bett) Bitte schön !

Ludwig: (versucht seine Kräfte zu sammeln ) Meine Zeit ist abgelaufen. Ich habe es
eilig.In dieser Nacht sollten wir, mir zuliebe, über wesentliche Dinge
sprechen.Danach könnt ihr schwätzen, so viel ihr Lust habt. Steff kann dann
noch vortanzen, dass er sein Leben bis zum Ende durchlebt, oder, dass er sich
aufhängt.Mich wird das sowieso nichts mehr angehen...Jetzt sollten wir aber
festlegen, welche diese wesentliche Dinge, über die wir sprechen wollen,
eigentlich sind. (Zu Dr. Harth gewandt ). Doktorchen, das ist deine Pflicht,
denn wie du ja weisst, bist du der Nächste der auf mich folgt, so sehr du dich
auch sträubst...Und ausserdem bist du doch der Älteste und Klügste von uns
allen...(Er schweigt, keucht ).

(Dr. Harth erhebt seinen Kopf, als ob er reden wollte.Aber Martinski kommt ihm
zuvor.)

Martinski: (erhebt sich feierlich.Diesmal ist er wirklich ernst, ohne den Narren zu spielen.
Er nimmt sich die Papierkrone vom Kopf, verneigt sich vor Ludwig und setzt
sie diesem auf)

Ich wusste nicht, dass Ludwig so weise und poetisch sein kann.An diesem Abend
gebührt die Krone ihm.Möge sie den Lorbeerkranz der Dichterfürsten
darstellen.(zu den anderen). Wir wollen ihn zum Ehrenvorsitzenden des
Palavers wählen.

Alle: Hoch soll er leben !


Ludwig: (leise, mit Bitterkeit ) Trotzdem dieser Ausspruch nicht gerade sehr passend
ist, so macht einem solch ein Wunsch selbst in der Todesstunde noch
Vergnügen. Ich danke euch, Jungs !

Martinski: Darauf müssen wir trinken ! Her mit dem Wein, den Pupak aufgehoben hat !
Für Isabella werden wir Himbeersaft beschaffen.

Pupak: (geht zum Schrank, holt eine beinahe volle Flasche hervor und lässt sie von Hand
zu Hand gehen ) Aber bis morgen, soll der Himbeersaft da sein. (Er trinkt
auch).

Martinski: Wird schon gemacht, Pupak, mach dir keine Sorgen für Isabella. (förmlich).
Und nun erteile ich das Wort Dr. Harth, der alt wie Nestor und schlau wie eine
Schlange ist, aber dem leider die Weisheit fehlt...der müde Verzicht und der
Frieden...und der sich wie eine alte, hysterische Jungfer an das Leben, das ihm
zwischen den Fingern verrinnt, krampft. (Zu Dr. Harth) Doktorchen, wir die
zwanzig- ja was sag ich denn- sogar fünfundzwanzigjährigen, erwarten fromm
und andächtig, dass du uns an deiner dreissigjährigen, in Worten
zusammengefassten Lebenserfahrung teilhaben lässt.

(Martinski schweigt. In der entstandenen Stille setzt er sich wieder auf den Rand
von Ludwigs Bett. Dr. Harth richtet sich auf, räuspert sich, sammelt sich).
ZWEITER AKT

(Vor dem zweiten Vorhang, in der rechten Ecke, ein bezogenes Krankenbett.Dr.
Harth, in Hausmantel und Hausschuhen, sitzt auf dem Bettrand, den Kopf in
die Hände gestützt, so wie er am Ende des Ersten Aktes verblieben ist.Der
Scheinwerfer beleuchtet nur das Bett, der Rest der Bühne bleibt im Dunkeln.)

Dr. Harth: (dumpf, mit abgehackten Sätzen) Dreiundvierzig...sind wir uns begegnet...im
englischen Park...in Budapest...Sie hatte langes, pechschwarzes Haar.Blaue
Augen, eine gerade Nase, wie eine griechische Skulptur.Sie hat mir sehr
gefallen.Ich habe sie direkt, ohne Umschweife, wie eine alte Bekanntschaft
angesprochen.Ich habe sie gefragt, ob sie mit mir, mit der Geisterbahn fahren
möchte.Sie hat mich vom Scheitel bis zur Sohle gemustert und dann “ja”
gesagt .So hat es begonnen...Vielleicht fand sie mich interessant, vielleicht
langweilte sie sich nur.Besonders hübsch war ich auch damals nicht.Ich habe
mich schon am ersten Abend in sie verliebt.Sie fühlte sich zuerst in meiner
Nähe wohl.Mit der Zeit, hat sie mich lieb gewonnen...Aus einem Abenteuer
entstand eine verzehrende Kriegsliebe.Maria war Ungarin, ich Jude.An Heirat
war nicht zu denken.Selbst ein Stelldichein war schon eine gewagte Sache. Im
März vierundvierzig sind die Deutschen einmarschiert.Es wurde der gelbe
Stern eingeführt.Jede glücklcihe Stunde wurde zu einem lebensgefährlichen
Abenteuer.Und dennoch kam sie täglich zu mir.Bis zu dem Abend, als uns der
Hauswart anzeigte.Ich wohnte damals in einer Dachwohnung über dem
vierten Stock...

(Der Raum vor dem zweiten Vorhang wird verdunkelt, der Vorhang geht auf, man
sieht auf der Bühne ein bescheiden eingerichtetes Dachzimmer. Dr. Harth sitzt
auf einem Sofa.Er ist jung, gesund, gut angezogen.Raucht aufgeregt.Man hört
draussen Schritte, ein kurzes, leises Klopfen an die Tür und bevor Dr. Harth
noch antworten kann, wird die Tür geöffnet.)

Maria: ( 18-20 Jahre alt, schlank, einfach in schwarz gekleidet, trägt einen Hut mit
Schleier, keucht als wenn sie gelaufen wäre)

Ich bin dem Hauswart auf der Treppe begegnet.Er hat mich gefragt, wen ich
suche, aber ich tat, als merkte ich nicht, dass er zu mir sprach.Er ist
stehengeblieben und hat mir lange nachgesehen.

Dr. Harth: (schliesst sorgfältig die Tür ab, umarmt dann Maria)

Keine Angst, Geliebte.Glücklicherweise sind in dieser alten Mietskaserne viele


Mitbewohner.Komm her und lass mich, dir den Hut abnehmen.So, mit dem
Schleier kann ich dich gar nicht küssen.

Maria: (legt den Hut ab, küsst ihn, spricht dann aufgeregt weiter)

Im vierten Stock hat mich dann einer in Uniform und mit Schnurrbart angehalten.

Dr. Harth: Feldwebel Balogh.

Maria: Er hat eine tiefe, grobe Stimme. “Wohin so eilig, Fräuleinchen, zum Harth?
Passen Sie auf, dass es nicht schief geht.Kommen Sie lieber mit mir, wir
gehen zusammen ins Kino.”

Dr. Harth: Ein Grossmaul, ein Schürzenjäger.Aber nicht gefährlich.Der zeigt uns nicht
an.Der Hauswart, der schon.Wenn er etwas erfährt.

Maria: (hängt sich an seinen Hals, liebkost ihm zärtlich mit ihrer Stirn sein Gesicht)
Wenn es nur einmal zu Ende wäre. Ich möchte schoh, dass wir den Krieg
verlieren.

Dr. Harth: (küsst sie auf die Stirne, auf die Augen, auf die Lippen)

Wenn ich es überlebe, heiraten wir gleich am ersten Friedenstag.Dann müssen wir
uns vor niemandem mehr verstecken. Dann wirst du keinen Hut mit Schleier
mehr tragen.Und...(er schaltet das Radio ein) ich werde nicht mehr das Radio
einschalten, damit uns die Nachbern nicht hören können, sondern nur wegen
der Musik.
(Im Radio erklingt eine Melodie aus den Jahren 1943-1944 ).

Maria: (lächelt bei den Klängen der Melodie ) Wird auch dieser Tag jemals kommen ?
Schwer, sich das vorzustellen, und noch schwerer es abzuwarten. (Sie setzt
sich auf das Sofa ). Setze dich zu mir.Versuche, zu vergesssen, was jenseits
dieses Zimmers ist.Vielleicht ist da überhaupt nichts.Und auch niemand.Nur
wir zwei, allein auf dem ganzen Erdenrund.Alles andere ist nur ein Traum, ein
böser Traum.Wach auf, mein Lieber !

(Die Sirenen der Luftwarnung beginnen zu heulen).

Dr. Harth: (setzt sich neben Maria, nimmt sie in die Arme, wiegt sie wie ein Kind)

Hab keine Angst mein Mädchen.Die Tür ist abgeschlossen.Es kann niemand
reinkommen.Und die Bomben weichen uns aus.Der Zufall behütet die
Verliebte, so lange sie sich wirklich lieben.

Maria: Ich weiss schon.Dein alter Aberglaube an das Wohlwollen des Zufalls...Ich traue
aber auch dem Zufall nicht.Jedoch es macht mir Vergnügen, mir vorzustellen,
wie sich das Haus jetzt leert, wie alle in den Luftschutzkeller laufen, und wie
nun tatsächlich wir zwei auf dem ganzen Erdenrund oder wenigstens in den
viereinhalb Stockwerken dieses Hauses allein geblieben sind.

(Während Maria spricht, hört man noch eine Weile die Sirenen, dann den Lärm,
den die in den Luftschutzkeller flüchtenden Bewohner verursachen.Bei den
letzten Worten hört man die Explosion einer Bombe, die Fensterscheiben
klirren).

Maria: Vor Bomben habe ich viel weniger Angst, als vor Menschen...

Dr. Harth: (stellt das Radio ab, holt den Schlüssel aus dem Türschloss)

Wenn doch jemand kommen sollte, so mag er annehmen, dass niemand zu Hause
ist.

(Man hört Schritte vor der Tür.Beide schweigen, halten den Atem an.Jemand
schlägt mit der Faust an die Tür.)

Eine heisere
Stimme: Alle in den Luftschutzkeller ! (Neue Schläge an die Tür ). Herr Harth, hören
sie denn nicht, ich weiss ja, dass Sie Besuch haben.Bringen Sie sie doch mit,
damit auch wir sie uns ansehen können.

Dr. Harth: ( flüstert Maria ins Ohr ) Der Hauswart.

(Stille.Dr. Harth und Maria warten gespannt.Die Tür knarrt unter dem Gewicht
des Hauswarts, der sich ans Schlüsselloch gelehnt hat, um zu horchen.Eine
neue Explosion, in der Nähe.Die Fenster klirren wieder, aber diesmal stärker).

Die heisere

Stimme: (wütend) Schliesslich, werde ich nicht mein Leben für Sie auf’s Spiel
setzen.Von mir aus können Sie verrecken.(Man hört, wie sich die Schritte
entfernen).

Dr. Harth: Dank der Bombe ist er abgezogen.

Maria: Vielleicht sollte auch ich jetzt gehen.

Dr. Harth: Jetzt auf keinen Fall.Erst wenn der Luftangriff abgeblasen wird.Ich nehme
dann den gelben Stern ab und begleite dich...

Maria: Es ist das erste Mal, dass ich Angst habe !

Dr. Harth: Mir ist das schon öfter passiert.Der Mensch versucht, sich an die Angst zu
gewöhnen, ihr zu trotzen, sich nicht mehr um sie zu kümmern.Und vielleicht
ist es das Wichtigste von allem, das die Angst einem nicht das Verhalten
ändert.

(Es wird leise an die Tür geklopft).

Eine Stimme:...Hier Szabo vom vierten Stock.Herr Doktor, machen Sie mir schnell
auf.Es ist wichtig.

Dr. Harth: Das ist der Buchdrucker, von dem ich dir letztes Mal gesprochen habe.Ein
anständiger Mensch.

Maria: Lass ihn rein.


(Dr. Harth öffnet die Tür, Szabo tritt ein.Er trägt einen alten, aber sorgfältig
gepflegten Anzug, ist schlank, grauhaarig, ein wenig gebeugt.Er schliesst
schnell die Tür hinter sich).

Szabo: (überstürzt, mit gesenkter Stimme) Küss’ die Hände, guten Tag Herr
Doktor.Schliessen Sie doch bitte die Tür ab.

Dr. Harth: (sperrt die Tür ab) Guten Tag, Herr Szabo.Sind Sie denn nicht in den
Luftschutzkeller gegangen? Sie gestatten, dass ich Sie meiner Braut vorstelle.

Szabo: Szabo.

Maria: Maria.

Szabo: Ich war unten, Herr Doktor, ich komme ja gerade von dort. Der Hauswart will Sie
anzeigen.Er weiss, dass Sie zu Hause sind und trompetet es überall aus, dass
Sie – das Fräulein wird mich bitte entschuldigen – mit einer Ungarin leben.Er
wartet nur darauf, dass der Fliegeralarm abgeblasen wird. (Zu Maria). Sie,
liebes Fräulein, müssten schon vorher weggehen.

Dr. Harth: Vielen Dank, Herr Szabo.

Szabo: Sie haben mir nichts zu danken.Es ist traurig genug, dass es so weit gekommen ist
– dass wir uns für unsere Gesetze und Behörden schämen müssen.Geben Sie
acht...Und ich wünsche Ihnen viel Glück...Auf mich können Sie sich
verlassen.Immer.

Dr. Harth: Danke schön, Herr Szabo.

Maria:

(Dr. Harth öffnet die Tür.Szabo geht.Danach schliesst er wieder ab).

Dr. Harth: Szabo hat Recht.Wir müssen fort, noch bevor der Fliegeralarm abgeblasen
wird.

Maria: Ja.Aber ich gehe allein.Ich fürchte mich nicht. Und ich will nicht, dass dir
meinetwegen etwas zustösst.Mir kann nichts geschehen...

Dr. Harth: Wir gehen zusammen, Maria.Ich begleite dich.


(Dr. Harth zieht sich an, nimmt den gelben Stern ab, bürstet die Stelle wo er
angenäht war, glättet sein Haar.Inzwischen setzt sich Maria ihren Hut auf.Sie
steht vor dem Spiegel).

Maria: Komm zu mir.( Dr. Harth ergreift ihren Arm). Beug dich zu mir.(Dr. Harth beugt
sich zu ihr). Noch mehr...So.jetzt kann niemand ahnen, ob du den gelben Stern
trägst oder nicht.Und wenn du mich küssen willst...bin ich dir näher.(Maria
bietet ihm ihren Mund an. Dr. Harth küsst sie lange. Sie stehen mit dem
Rücken zum Publikum, aber man sieht ihre Gesichter im Spiegel...so, und
jetzt mein Lieber, können wir gehen...

(Sie schreiten zur Tür.Dr. Harth macht auf und sie gehen untergehakt, eng
aneinander geschmiegt hinaus.Die Tür wird geschlossen.Man dreht den
Schlüssel im Schloss.Ihre Schritte entfernen sich. Die Bühne wird allmählich
dunkel und der Vorhang fällt langsam).

(Nach einer Pause erscheint im Licht des Scheinwerfers wieder das Krankenbett,
das wie am Anfang des Zweiten Aktes, in der rechten Ecke vor dem zweiten
Vorhang steht.Dr. Harth sitzt wie vorher, in derselben Haltung, in Hausmantel
und Hausschuhen, das Gesicht in den Händen vergraben.Alles andere bleibt
im Dunkel).

Dr. Harth: ...Maria konnte nicht mehr zu mir kommen.Tag für tag schlenderten wir durch
die Strassen.Manchmal, bei schönem Wetter, machten wir Ausflüge.Mit ihrer
Schulter verdeckte sie die Stelle des Gelben Sterns.Auf diese Weise – wie sie
mir damals vor dem Spiegel gesagt hatte – war ihr Gesicht dem meinigen viel
näher.Unsere Liebe dauerte schon ein Jahr.Wir hofften, dass der Krieg bald
beendet sein würde...aber er endete zu spät...Eines Abends hat uns der
Fliegeralarm in der Gegend des Rosenhügels überrascht.Wir begannen auf
einer unbekannten, dunklen Strasse, Hand in Hand, talwärts zu laufen.Wir
hatten die Absicht, einen Luftschutzkeller zu suchen.Aber während wir so
rannten, haben wir nicht mehr an Flieger, Bomben und Krieg gedacht...Wir
liefen Hand in Hand, lachend, glücklich wie zwei Kinder.
(Die Szene wird verdunkelt, der zweite Vorhang geht auf, und das Bühnenbild
stellt das Ende einer engen, dunklen, schiefen Strasse in Buda dar, die in eine
Querstrasse mündet. Die Häuser der schiefen Strasse entlang sind alt und
düster, als wenn sie absichtlich dort wären, um den zwei Verliebten, welche
Hand in Hand die Strasse hineilen, auflauern.Dr. Harth und Maria nähern sich
der Kreuzung und sehen sich lächelnd an.In der Luft hört man
Flugzeugmotorengedröhn und auf dem Pflaster der Querstrasse pochende
Soldatenschritte.An der Strassenecke erscheint plötzlich eine
Pfeilkreuzlerstreife.Die Laufenden bleiben wie versteinert stehen, das Lächeln
erstarrt auf ihren Lippen.Die Streife vertritt ihnen den Weg. Ein Augenblick
Stille, Bewegungslosigkeit.Man vernimmt nur das Flugzeuggedröhn.Mit
Ausnahme einiger Worte, wickelt sich die Szene eher als Pantomime ab).

Der Streifen-

führer: Stehen bleiben! Ihre Ausweise !

(Maria und Dr. Harth suchen aufgeregt ihre Ausweise.Währenddessen stampft der
Streifenführer ungeduldig mit dem Stiefel auf das Pflaster.Zuerst gibt Maria,
dann Dr. Harth den Ausweis.Der Streifenführer prüft Marias Ausweis, gibt
ihn ihr zurück, dann den Ausweis von Dr. Harth.Plötzlich hebt er wütend den
Kopf...)

Der Streifen-

führer: Jude ?! (Gleichzeitig erfasst er den Revers, wo der gelbe Stern fehlt. Die Streife
schart sich drohend um Dr. Harth. Einer aus der Mannschaft legt ihm die
Hand auf die Schulter).

Der Streifen-

führer: (zu seinen Leuten) Mitnehmen ! (Zeigt auf Maria ).Das Mädchen kann gehen.

Einer aus

der Streife:(stösst Dr. Harth unsanft; grob) Los!


(Die Streife nimmt Dr. Harth in die Mitte und zieht los.Dr. Harth dreht sich noch
einmal zu Maria um, und mit einer Gebärde, die Verzicht oder vielleicht
Ermutigung ausdrücken soll, neigt er den Kopf zu einem Abschiedsgruss).

Maria: (die bis dahin wie versteinert dastand, folgt jetzt der Streife.Mit gesenkter Stimme
wendet sie sich an Dr. Harth, ohne davon überzeugt zu sein, dass er sie noch
hören kann ).Ich komme mit dir Liebster...Zu Kriegszeiten dürfen sich
Liebende nie trennen.Jeder Abschied könnte der letzte sein. (Während sie
redet, eilt sie mit schnellen Schritten hinter der Streife her. Es ist ersichtlich,
dass sie sie einholen wird. Beim vorletzten Satz, fällt der Vorhang. Der letzte
Satz wird hinter dem Vorhang gesprochen und verklingt im Lärm der sich
entfernenden Soldatenschritten.Vollkommenes Dunkel).

(Der Scheinwerfer beleuchtet erneut das Krankenbett, das vor dem zweiten
Vorhang steht.Dr. Harth sitzt auf dem Bettrand).

Dr. Harth: (eintönig, wie abgehackt) Sie ist mitgekommen...Sie haben uns in einem von
hohen Mauern umgebenen Hof gebracht.Dort waren schon mehrere hundert
Menschen zusammengepfercht.Juden, Kommunisten.Auch ein junger
katholischer Priester war darunter...Man rätselte, ob wir deportiert oder
erschossen werden...Man hat uns deportiert.Nach zwei Tagen.Vor dem
Abschub hat uns noch Marias Bruder aufgespürt.Er war Panzerleutnant.Sie
haben ihn zu uns hereingelassen.Er wollte seine Schwester herausholen, aber
Maria hat mich nicht verlassen wollen...Sie ist mir ins Lager gefolgt...Nach
Auschwitz. Dort wurde sie umgebracht.Sie war erkrankt und abgemagert.
Mengele hat sie in die Gaskammer geschickt.Ich habe den Krieg überlebt,
werde aber nicht mehr nach Hause kommen.Ausserdem erwartet mich ja auch
niemand...Ich bleibe hier, im Gautinger Friedhof.

(Die Bühne wird verdunkelt, aber man hört die Stimmer Dr. Harth’s weiter)

Dr. Harth: Meine Geliebte ist gestorben, weil sie mit mir bleiben wollte.Sie zu überleben
ist irgendwie Verrat...
(Es wird wieder hell, der Vorhang geht auf.Das Bühnenbild zeigt das
Krankenzimmer Nr.27, so wie es am Ende des Ersten Aktes aussah.Nach Dr.
Harth’s letzten Worten, tritt eine kurze Pause ein.Niemand bewegt
sich.Danach erhebt Dr. Harth langsam seinen Kopf aus den Händen, setzt den
Ellenbogen auf den Nachttisch und sucht im Radio Musik).

Martinski: (mit gezwungenem Zynismus ) Stimmt, Doktorchen, es wäre richtiger


gewesen, wenn du ihr folgtest.Und trotzdem klammerst du dich ans Leben,
wie ein lächerlicher Affe an einen morschen Ast...”Elender, quengeliger
Mensch” der du bist.

Dr. Harth: (leise) Ich klammere mich eigentlich nicht ans Leben.Aber ich fürchte mich
vor dem Nichts...Oft schäme ich mich auch deswegen...aber das ist eine ganz
persönliche Angelegenheit, kein Thema für’s Palaver.

Ludwig: (flüsternd, er bemüht sich um je lauter und verständlicher zu sprechen). Der


Doktor hat Recht.Wir alle fürchten uns vor dem Tod.Ich vielleicht sogar noch
mehr als ihr anderen, denn mir steht der Tod am nächsten...Damit wir ihn mit
Würde begegnen und nicht mit vor Angst klappernden Zähnen, brauchen wir
Zeugen...Aber auch das gehört nicht zum Palaver.(Nach einer Ruhepause, die
einpaar Augenblicke dauert). Der Vorhang ist gefallen, der Doktor verlässt die
Bühne.( Während Ludwig noch spricht, zieht sich der Doktor den Hausmantel
aus, hängt ihn in den Schrank, schleppt sich zum Bett, legt sich schwerfällig
hin .) Der Vorhang geht von neuem auf, und Pupak hat das Wort.Erzähl was
über Bor.Im Namen derer von Bor.(Der Husten erstickt seine Worte.Die
Papierkrone fällt ihm vom Kopf.Martinski beugt sich, hebt sie auf, legt sie auf
den Nachttisch.Pupak erhebt sich, zündet sich eine Zigarette an, geht zum
Tisch, setzt sich auf einen Stuhl und stemmt sich auf die Tischplatte).

Pupak: (Zu Beginn stotternd, dann immer fliessender )...Ich werde nicht von mir
sprechen.Oder wenn es trotzdem geschehen sollte, dann nicht unmittelbar.Ich
will euch ein Ereignis, das sich in Bor abgespielt hat, erzählen...Wie ihr ja
wisst, war ich vor den Deportierungen, zusammen mit Ludwig zur
Zwangsarbeit nach Bor verschickt.Beim Aufbruch waren wir über
dreitausend.Zurückgekommen sind wir an die fünfzig.Danach wurden wir fast
alle deportiert.Ich weiss es nicht, wieviele von uns noch am Leben sind...Ich
aber werde nach Hause zurückkehren.Wenn auch nicht kerngesund, immerhin
stark.Und werde alles, was in meinen Kräften steht, tun, damit sich nie mehr
wiederholt, was gewesen ist.

Martinski: (unterbricht ihn) Pupak, halt uns keine Reden.Du bist nicht am Rednerpult.Du
bist beim Palaver. Erzähle !

Peter und

Dr. Harth: (im Chor, spöttisch winselnd ) Erzähle Pupak, erzähle uns !

Pupak: (unbewegt, als ob er das Winseln nicht bemerkt hätte, ernst)

...wir kamen aus Bor im Herbst vierundvierzig...Anfangs ermordeten sie uns


einfach auf Geratewohl...

(Auf der Bühne wird es dunkel, ohne dass sich die Kulissen verändern. Dann
beleuchtet ein Scheinwerfer nur den Tisch und den Erzähler).

...um unsere Kleidungssachen oder Schuhe wegzunehmen, oder auch völlig


grundlos. Die Wächter und die Banden aus dem Ort erschossen oder
erschlugen je einen von uns...Später begannen dann die organisierten
Hinrichtungen.Die Kolonne wird auf dem Marsch plötzlich angehalten.Zehn
Reihen werden abgetrennt.Fünfzig Leute treten vor.Von der Landstrasse
schwenken sie auf’s Feld ab.Sie werden von etwa 15-20 Wächtern
begleitet.Nach einpaar Minuten, in der Ferne, das Knattern von
Maschinenpistolen. (Während Pupak spricht, wird ein zweiter Scheinwerfer
eingeschaltet, welcher einen, im oberen Teil der Bühne aufgehängten
Bildschirm beleuchtet, auf dem man die Momente der Hinrichtung als
Stummfilm vorführt.Man hört nur das die letzten Worte Pupak’s begleitende
Knattern der Maschinenpistolen.Der Bildschirm verschwindet im Dunkeln.
Pupak fährt mit seiner Erzählung fort.)

Pupak: Bevor wir noch zum Nachtlager ankamen, hatten uns die zur Hinrichtung
befohlenen Wächter schon eingeholt...In einer dieser Fünfziger-Gruppen war
auch ein Dichter.Sein Name war im ganzen Ungarn bekannt.Wir waren
überzeugt, dass es um ihm geschehen war.Spät abends, nach dem
Zapfenstreich, knarrte die Tür: herein trat der Dichter. Er war mit Schmutz
und Blut besudelt, aber er war am Leben.

(Der Bildschirm wird wieder beleuchtet und es wird der Eintritt des Dichters
gezeigt.Ohne ein Wort zu sagen, sucht er sich zwischen den andern einen
Platz und streckt sich auch auf dem Boden aus. Dann zieht er aus der
Brusttasche ein Stück zerknülltes und zerrissenes Papier. Er setzt sich halb auf
und im Halbdunkel der Baracke – denn diese ist nur von einer verrussten
Petroleumlampe beleuchtet – beginnt er fieberhaft zu schreiben.Nach einer
kurzen Pause, bevor noch das Lichtbild verschwindet, setzt Pupak das
Erzählen fort.) ...Die, die noch wach waren, verfolgten sein Tun in
ehrfurchtsvoller Stille.Niemand sprach ein Wort.Niemand fragte etwas.Der
vom Grabe zurückgekehrte Dichter schrieb.Das bedeutete für ihn “Leben”. Er
verschwendete keine Worte, bevor er niederschrieb, was er zu schreiben
hatte.Dann las er mit gesenkter, stockender Stimme einpaar Verse über die
Hinrichtung...Leider kann ich sie mir nicht mehr ins Gedächtnis rufen.Aber es
war das erschütterndste Gedicht, das ich je gelesen oder gehört habe.

Ludwig: (abgehackt, aus dem Dunkel)

“Gefallen bin auch ich.

Sein Körper stürzt,

Verdeckt und schützt

Den meinen.

Ein straffer Bogen, hart gespannt.

Genickschuss.Der nächste ist für dich.

Der Tod ist nur noch Blume der Geduld.

Schön ruhig – murmelte in mir – nun reg’ dich nicht.

‘Der springt noch auf !’ - ruft eine schrille Stimme.


Von oben her, das matschig Blut, rieselt auf meine Stirne”.

Pupak: Ja.Ich erinnere mich...Und das erwartete ihn wirklich.Diesmal war er gefallen,
bevor ihn die Kugel traf, und die auf ihn gestürzten Leichen hatten ihn vor
dem Tod bewahrt.Als es Nacht wurde, ist er aus dem Kadaverhaufen
herausgekrochen und ist zum Nachtlager gekommen, um sein Gedicht zu
schreiben.Bis zum Morgengrauen haben wir ihm die Kleider von Blutflecken
gereinigt und er ist mit uns wetermarschiert.Dann fiel er wieder in eine zur
Hinrichtung bestimmten Gruppe...

(Pupak schweigt.In der eingetretenen Stille hört man das Prasseln der
Maschinenpistolen.Eine neue Pause, dann hört man plötzlich eine grelle
Stimme: “Der springt noch auf !” dann ein Pistolenschuss.Darauf folgt wieder
Stille).

Pupak: Die ganze Nacht habe ich darauf gewartet, dass er wieder wankend aus dem
Dunkel erscheine, um ein anderes Gedicht zu schreiben.Aber der Dichter ist
nicht mehr zurückgekehrt.Seine letzten Verse blieben in seiner
Rocktasche.Wahrscheinlich sind sie auch heute noch dort.Irgendwo, in einem
Massengrab, unter verwesenden Leichen.

Dr. Harth: (aus dem Dunkel) Pupak, du könntest diese Geschichte eigentlich
aufschreiben.Du hast sie wie ein echter Schriftsteller erzählt.

Pupak: Das ist nicht mein Verdienst.Das Geschehen hat mich eben mitgerissen.

Dr. Harth: Schreib es nieder !

(Die Bühne wird langsam hell.Während Pupak spricht, wird es ganz hell).

Pupak: Wenn ich es schreiben würde, würde ich es “Dichter im Krieg” benennen.Aber
vielleicht würde ich es als Märchen niederschreiben “ Die Geschichte vom
echten Dichter und einem hässlichen Krieg” oder, unter einem kürzeren Titel:
“Der Dichter und der Tod”.

Ludwig: (leise) Ich wäre für den letzteren Titel.


Martinski: (steht auf, reckt sich, fährt sich mit den Händen durch’s Haar.Träge und leicht
ironisch zu Pupak) Ich bin ganz sicher, du würdest – wenn überhaupt – ein
Märchen schreiben.Da könntest du leichter eine kleine moralisierende Lehre
anbringen, oder politische Schlussfolgerungen ziehen.

Dr. Harth: Steff, deine Bemerkungen werden langweilig.

Peter: Eigenartig wenn man daran denkt, dass sich Alles noch vor kaum einem Jahr
abgespielt hat...Im letzten Herbst lebte, marschierte, schrieb der Dichter
noch...Und heute ist all das eine weit entfernte Geschichte...

Ludwig: (schwer atmend, zu Peter) Peter, solange es noch Pause ist, gib mir ein Glas
Wasser.

Peter: (erhebt sich, geht zum Schrank, zieht einen Hausmantel an ) Ich will dir frisches
Wasser, von der Leitung, bringen.Nur einen Augenblick, Ludwig.

(Peter nimmt die Kanne von Ludwigs Nachttisch und geht hinaus.Pupak steht
vom Tisch auf und begibt sich mit schleppenden Schritten zu Peters Bett,
nimmt von dort das Eisenblechtäfelchen und den Löffel, die zum Trommeln
gedient haben, und schlägt die ersten Takte von Chopin’s Trauermarsch, zu
denen er brüllend singt: tam...tam...ta-tam...tam...tam...ta-tam...Als er den
ersten Takt zum vierten Mal von vorn anfangen will, schreit ihn Dr. Harth an).

Dr. Harth: Pupak ! Tobe nicht ! Hör auf !

(Pupak hört nicht auf ihn, fährt fort zu trommeln und singt dazu noch lauter.Die
Tür wird geöffnet.Peter tritt herein, geht mit der Wasserkanne zu Ludwigs
Bett, füllt ihm das Glas, stellt die Kanne auf den Nachttisch und hilft dem
Kranken beim Trinken.Ludwig fängt zu husten an.Peter geht zu Pupak, reisst
ihm das Eisenblech und den Löffel aus den Händen und legt sie auf den
Nachttisch).

Peter: (bleibt vor Pupak stehen, versucht eine ernste, autoritäre Miene anzunehmen)
Ruhe! Die nächste Nummer im Palaver bin ich. (Während er noch spricht,
begibt er sich mit einer gewissen Förmlichkeit zum Tisch, setzt sich auf den
selben Stuhl, auf dem Pupak gesessen hatte als er erzählte.Pupak hört mit dem
Brüllen auf.Es wird still.Peter, nach einer kurzen Pause)

Gong ! (Pupak springt glücklich auf und mit einer plötzlichen Bewegung ergreift
er wieder das Eisenblech und haut einmal mit dem Löffel darauf).

Liebesgeschichte in zwei Bildern.Melodramatisches Trauerspiel.Mildernde


Umstände: alles ist wahr.So wahr, dass man entweder über sich selbst lacht
oder sich aufhängt...

Martinski: (unterbricht ihn grinsend) Die Arbeit können wir uns teilen: ich werde über
dich lachen, du kannst dich ruhig aufhängen.

Ludwig: (keuchend, leise) Gib ihm eins hinter die Ohren,Pupak, sonst wird er nicht mit
den Randbemerkungen aufhören.

Dr. Harth: (zu Peter) Eine etwas lange Einleitung, Peter.Unsere Erlebnisse ähneln sich
irgendwie.Wir verstehen dich auch ohne Erklärungen.Erzähle schon.

Peter: (wartet ab, dass alles ruhig wird, dann erzählt er)

Erstes Bild: (Die Bühne wird verdunkelt). Klausenburg, der 31.Oktober 1943.
Abends, irgendwo hinter der St.Peterskirche.Am Tag war ich niemals dort.

(Während Pupak erzählt, beleuchtet ein Scheinwerfer den, wie bei Pupak’s
Erzählung, herabgleitenden Bildschirm.In der Felge erscheinen die von Peter
heraufbeschworenen Bilder.Mag sein auch nur als stilisierte Schatten.Man
sieht dei Abbildung eines Vorstadtviertels, im Abendlicht.In der Ferne
erscheinen die Umrisse der St.Peterskirche in Klausenburg, ein Bach
schlängelt sich zwischen niedrigen Häusern hindurch, eine schmale hölzerne
Brücke.Im Mondschein zeichnen sich die Konturen besonders klar ab.Auf der
Brücke erscheinen ein Junge und ein Mädchen.Sie bleiben in der Mitte der
Brücke stehen und lehnen sich an das Geländer.Vor ihnen ist eine Lücke in
der Häuserreihe, durch die man das Feld sieht.Drei sehr hohe Pappeln sind im
Mondschein getaucht.Die Bewegungen und Gebärden des Jungen und des
Mädchens folgen Peters Erzählung.Dieser selbst bleibt im Dunkel.Man
vernimmt nur seine erzählende Stimme).
...Über den Bach führt eine schmale Brücke.Am Geländer ein Junge und ein
Mädchen.Der Junge war ich, das Mädchen lebt nicht mehr.Beide stützen sich
auf das Geländer und betrachten die dunstige, im Mondschein getauchte
Landschaft.Vor ihnen, drei Pappeln, über den Bäumen, der zunehmende –
oder vielleicht abnehmende – Mond. Der Junge bewältigt seine
Schüchternheit, seine Hand gleitet auf dem betauten Geländer und bleibt auf
der Hand des Mädchens liegen.Das Mädchen zieht ihre Hand nicht zurück.
Sie neigt sich und streichelt mit ihrem Gesicht die Hand des Jungen...wie eine
Katze... (Seine Stimme erstickt für einen Augenblick; dann im selben Tonfall
wie vorher).

...Damals haben sie sich zum ersten Mal geküsst.

Die Stimme

des Jungen: Ich liebe dich!

Die Stimme

Des Mädchens: Ich liebe dich auch !

Peter: (bewegt) Die Augen des Mädchens glänzten im Mondschein...Vielleicht waren es


auch Tränen.

Die Stimme

Des Mädchens: Nie werde ich diesen Abend vergessen !

Die Stimme

des Jungen: Ich werde dich lieben, selbst wenn du ihn vergisst.

Peter: (wieder trocken) Da haben sie sich zum zweiten Mal geküsst...Danach sind sie
weitergegangen.Sie haben beschlossen, dass sie sich was auch geschehen
möge – denn es war doch Krieg – nach einem Jahr, am Abend des 31.Oktober
1944, um acht Uhr, wieder auf derselben Brücke treffen wollten.

(Während Peter erzählt, setzen sich die beiden Schatten auf dem Bildschirm in
Bewegung, verlassen die Brücke und verschwinden hinter einer Ecke
zwischen den Häusern.Auf dem Bildschirm sieht man wieder die Brücke, auf
der einen Seite die Umrisse der Kirche, auf der andern, der drei Pappeln.Das
Bild bleibt unbeweglich bis Peter seine Erzählung beendet.)

...Und wenn sie sich nach einem Jahr nicht treffen könnten – was sie in jenem
Augenblick gar nicht in Betracht ziehen wollten – dann eben nach zwei
Jahren. Und eben so weiter, Jahr für Jahr, so lange sie am Leben wären.Selbst
falls sie nicht mehr zusammen sein sollten und jeder seine eigene Familie
hätte.Selbst wenn sie sich streiten sollten, oder aus Klausenburg wegziehen
würden... (Das Licht verlischt.Der Bildschirm verschwindet, die Bühne wird
wieder hell.Man sieht wieder das Krankenzimmer wie am Anfang von Peters
Erzählung).

Peter: (nach einer Pause) Zweites Bild: Kaufering, ein Konzentrationslager in


Bayern.Irgendwo zwischen München und Augsburg.Es ist der Abend des
31.Oktober 1944.Wieder ein Abend mit Mondschein.Auf dem Pfad zwischen
den Lagerbaracken wankt ein Schatten in gestreiften Häftlingskleidern.

(Während Peter erzählt, wird die Bühne wieder verdunkelt, der Bildschirm wird
heruntergelassen und wird dann vom Scheinwerfer beleuchtet.Man erkennt
Barackendächer, Stacheldrahtzaun, Wachtürme.Dann erscheint hoch über dem
Stacheldrahtzaun die Losung “Arbeit macht frei”.Nachher eine andere
Losung: “Sprechen ist Silber, Schweigen ist Gold”. Über den Losungen
erscheint der Schatten eines Galgens.Die Losungen verschwinden und man
sieht wieder nur das von Peter beschriebene Bild: schnurgerade, öde Pfade
zwischen niedrigen, finsteren Baracken. Jenseits der Baracken, zwei Reihen
von Stacheldrahtverhauen mit Wachtürmen.Mondschein.Auf einem Pfad
erscheint der scharfe Umriss eines Häftlings.Peters Stimme...)

...Der Junge, der das Stelldichein auf der Brücke versäumt hat. (Für einen
Augenblick verschwindet das Bild des Lagers und es erscheinen wieder der
Bach, die kleine Brücke, der Kirchturm und die Pappeln.Sie erscheinen aber
nur für einen kurzen Augenblick.Danach wieder das Bild des Lagers, des auf
den öden Pfaden wandelnden Schattens).
...Mit Tränen in den Augen, mit knirschenden Zähnen.In seinem Gehirn summt
aufdringlich, ohne Sinn ein Villon Vers:

Die Stimme

des Jungen: (leise)... “ici n’ya ne ris, ne jeu” ...

Peters Stimme: (aus dem Dunkel, farblos, unverändert) Er entfernt sich von den
Baracken und schreitet durch das freie Feld auf den Stacheldrahtzaun zu.Wie
ein Mondsüchtiger schaut er zum Mond hinauf und dabei sieht er die drei
Pappeln jenseits der Brücke.

...Er gelangt schon fast zum Zaun, als von einem der Wachtürme ein Schuss
erschallt.

(Aus den Kulissen hört man den Gewehrschuss.Der Bildschirm erlischt und
verschwindet.Während Peter danach den nächsten Satz sagt, wird die Bühne
allmählich wieder hell: es ist erneut das Krankenzimmer).

...Instinktiv machte ich einen Sprung zurück und verschwand im Schatten der
Baracken. (Pause)... Und jetzt, der Epilog: der 31. Oktober 1945. Ich werde
mich hier im Krankenhaus von Gauting befinden.Um 8 Uhr abends werde ich
allein unter den Tannen spazieren gehen, werde den Mond oder den
bewölkten Himmel betrachten und werde wissen, dass das Mädchen
umgebracht wurde.Noch vierundvierzig.Ich weiss es. Trotzdem werde ich sie
im Herbst ’46 auf der Brücke erwarten.

Martinski: (ironisch, beinahe traurig) Überschrift: „Verpasstes Rendez-vous“.

Dr. Harth: (schaut zu Ludwig, macht die andern aufmerksam) Psst. Er ist eingeschlafen.

Martinski: (er erhebt sich behutsam von Ludwigs Bett.Leise) Ich setz mich zu Pupak, um
ihn nicht aufzuwecken.

(Er geht zu Peters Bett, setzt sich zu Pupak und legt ihm den Arm um die
Schultern.Peter bleibt, mit aufgestützten Ellenbogen am Tisch sitzen.Dr. Harth
rückt das Kissen hinter seinem Rücken in Ordnung. Martinski, jetzt sehr ernst,
spricht mit gesenkter Stimme). Ludwig schläft.Der Gong schweigt.Das
Vortanzen bleibt aus. Trotzdem ich euch es vortanzen wollte, dass ich zu
erzählen beginne...(Kurze Pause.Dann atmet er tief und beginnt die
Erzählung)... Mein Vater war Kommunist.Jude und Kommunist.Von Beruf:
Lehrer. Als sie ihn verhafteten, haben sie mich auch gleich
mitgenommen.Eine Zeit lang sassen wir in einem Sammelgefängnis, dann
haben sie uns deportiert.So bin ich nach Buchenwald gekommen.Dort habe
ich Fredo, den einzigen Menschen über den ich mich nie lustig gemacht habe,
kennengelernt.Von ihm will ich euch an diesem Abend erzählen...Er war
zuerst Buchdruckerlehrling, dann Lastwagenfahrer, Maler...Letztes Jahr wäre
er 22-23 Jahre alt gewesen.Fast ohne Schulbildung, aber gescheit und
belesen.Er hatte einen Freund, einen arbeitslosen Gymnasiallehrer der auch
Lastwagenfahrer geworden war.Über ihn sprach er immer mit viel
Hochachtung.Ihm verdankte er die Wahl der Bücher, die er las...Ansonsten
sprach Fredo nicht viel von seiner Vergangenheit...Es ist mir, als ob ich ihn
noch höre...

(Eine Stimme – es ist Fredos Stimme – klingt von irgendwo hinter der Bühne)
“Frag mich nicht Stephan.Hier muss man hart bleiben, und Erinnerungen
machen einen weich.”

(Martinski spricht fast ohne Unterbrechung weiter).

...Einmal ist es ihm doch entschlüpft, dass er wegen irgendwelcher Flugblätter


verschleppt wurde.Mehr als das haben selbst die, die ihn folterten, nicht aus
ihm herausbekommen können.Er war kein Mann, dem man Geständnisse
entlocken konnte.Wir arbeiteten im selben Kommando.Besser gesagt, er
arbeitete nicht.Oder, wenn er schon etwas tat, hatte jedenfalls das Dritte Reich
keinen grossen Nutzen davon...Viele haben von ihm gelernt was Sabotage
bedeutet...(Fredos Stimme, von irgendwo hinter der Bühne).

“...den jeder Stich mit der Spitzhacke, jede Schaufel mit Erde oder Zement
unterstützt ihren Krieg.Vielleicht bedeutet es zu wenig.Ein Tropfen im Meer,
ein Sandkorn in der Wüste...aber nicht einmal so viel will ich mithelfen...”
Martinski: (spricht weiter) Nur ein einziges Mal habe ich ihn richtig schuften
gesehen.Das war für mich...ich war völlig erschöpft...und er tat es um mich
vor den Schlägen des Kapo zu bewahren.(Leiser. Die Stimme versagt ihm)
Fredo hatte Recht, Erinnerungen machen weich...Seid mir nicht böse
Jungens...ich kann nicht fortfahren...vielleicht habe ich zu viel getrunken...Ich
will mich nicht als sentimentaler Philister benehmen, aber ich kann es
nicht...kann nicht...

Dr. Harth: (beeindruckt,aber trotzdem ironisch) Sieh da, jetzt tanzt du uns vor, dass du
weinst.In dieser Rolle haben wir dich noch nie bewundert.Kann ich dir
vielleicht mit einem Taschentuch bei deiner Darstellung behilflich sein ? (Er
holt aus der Nachttischschublade ein grosses, buntes Taschentuch). Es ist
elegant...sauber...und entspricht, als Grösse, deiner Trauer...

Martinski: Er war mein bester Freund...Als ich erkrankte, hat er – um mich zu retten –
Essen aus der SS-Küche gestohlen...Das werde ich euch ein ander Mal
erzählen...Einmal, wenn ich nicht vorher getrunken habe...Jetzt kann ich es
nicht...(er kann das Weinen kaum verhalten) Sie haben ihn gefoltert...sie
haben ihn erhängt...

Dr. Harth: (ironisch) Und all das, nur damit wir deine werte Anwesenheit heute bei uns
nicht vermissen...

Martinski: (Unterbricht ihn.Etwas lauter, doch stotternd) Ich bin genesen...Ich wurde
befreit...bin hier...mit dem Preis von Fredos Leben.Obwohl sein Leben
hundert Mal mehr wert war, als das meinige...

Pupak: (gerührt, doch spöttisch) Ja, Steff, ich glaube schon, dass es mehr wert war. (Auf
Pupak’s Bemerkung folgt eine tiefe Stille.Man vernimmt sogar das schwere
Atmen Ludwigs.Die Fünf bleiben mit verlorenen Blicken sitzen.Ihre
Gedanken verweilen in verschiedenen Konzentrationslagern. Dr. Harth ringt
die Hände, wiegt unwillkürlich seinen schmalen Vogelkopf).
Peter: (erhebt sich vom Tisch und nähert sich seinem Bett, nimmt das Eisenblech und
den Löffel, kehrt zurück zum Tisch und schlägt den Gong.Er ist ergriffen) Wir
sollten auf unsere toten Freunde trinken !

Alle: Sollten wir !

Ludwig: (zeigt zum Schrank, sehr leise) Hinten, im zweiten Fach...

Dr. Harth: Ludwig hat noch Wein...Pupak, such ihn mal.

(Pupak geht zum Schrank, holt die Flasche heraus, füllt die Gläser, bleibt dann in
der Mitte des Zimmers mit erhobenem Glas stehen).

Pupak: (feierlich) Zum Andenken an unsere Toten, auf unsere toten Freunde...Prosit !

(Alle leeren die Gläser, nur Ludwig trinkt langsam, in kleinen Schlucken).

Peter: (schlägt wieder auf das Eisenblech, dann zu Ludwig) Ludwig, liebster, jetzt bist
du an der Reihe. Erzählst du uns etwas ?

Ludwig: (keuchend, stotternd, leise) Das Sprechen fällt mir schwer.Ihr wisst es ja.Aber
auch ich habe ein Geschichtchen, das mir gefällt...mit Pupak haben wir uns oft
daran erinnert.Es ist ein drolliges Geschehnis...Hier, im Sanatorium habe ich
es noch niemandem erzählt.Pupak soll es an meiner Stelle vortragen.(zu
Pupak) Du willst doch, Pupak, nicht wahr ? Wie der Herr Theo ausgerissen
ist...

Pupak: (mit einem Lächeln in den Mundwinkeln ) Wenn ihr wollt, werde ich es euch
erzählen. Ich mag auch diese Geschichte gern. (Er schlürft die letzten Tropfen
Wein aus dem Glas, dann setzt er sich und erzählt).

Wir waren bei der Zwangsarbeit, neben Budapest, noch bevor wir nach Bor
kamen.In unserer Nähe arbeitete ein Strafkommando...Bei denen war ein
Typ... so etwas habt ihr in eurem Leben noch nicht gesehen.Er kam zur
Zwangsarbeit, angezogen wie zu einem Galaabendessen...wie ein Baron, der
aus einem kitschigen Schmöker herausgetreten ist...
Ludwig: (abgehackt, erschöpft, prustet leicht vor Lachen) Ihr hättet ihn unter den
anderen gebrochenen, erschöpften, abgerissenen, zerknüllten Arbeitsdienstlern
sehen sollen...Versucht es, ihn euch vorzustellen.

(Die Bühne wird verdunkelt, der Vorhang fällt.Hinter dem Vorhang hört man
Pupak weiter erzählen ).

Pupaks

Stimme: ...Hochaufgeschossen, hager, bleiches Gesicht, immer frisch rasiert, Adlernase


und so weiter...so wie es im Buche steht... (Während Pupak spricht, werden
die Scheinwerfer, die den Raum vor dem zweiten Vorhang beleuchten,
eingeschaltet.Man sieht ein Feld am Rande der Landstrasse.Bäume,Gebüsche
und in der Ferne ein herrschaftlicher Gutshof.Der Landstrasse entlang,
schuftende Arbeitsdienstler.Von rechts erscheint auf der Landstrasse eine
elegante Gestalt, in Lackschuhen, schwarze, gestreifte Hose, Smoking, Fliege,
steifer Hut, Monokel.In der Hand hält er eine Pionierschaufel mit kurzem
Griff, die er so trägt wie ein Dandy seinen Spazierstock.Am Ärmel eine
weisse Binde, das Kennzeichen der nicht jüdischen Arbeitsdienstler vom
Strafkommando.)

...er hatte auch graue Schläfen, wie es sich gehört.Sein einziges Gepäck war ein
mit Zigarren vollgestopfter Lackkoffer.Immer hatte er eine Zigarre im Mund.
(Während Pupak erzählt, steckt der elegante Herr Theo die Schaufel in einen
Erdhaufen, dann holt er aus der Brusttasche eine feine Zigarrendose hervor
und steckt sich gemächlich eine Zigarre an).

Pupaks

Stimme:...beide Arbeitsteilungen waren verdutzt und lachten über ihn...sowohl die


Arbeitsdienstler, wie auch die Wächter.Ludwig grübelte über den Menschen,
der sich hinter solchen Kinkerlitzchen verbergen mag.Daher kam auch die
Freundschaft, dank derer Herr Theo ausgerissen ist.
(Während Pupak erzählt, nähert sich ein Wächter und wendet sich grinsend an
Herrn Theo).

Der Wächter: (mit unterdrücktem Wiehern) Wie geht’s denn, Papa ?Den ganzen Tag
Zigarren schmauchen, was? Glaubst du denn, dass du hier auf Wochenend-
Ausflug bist? Und nicht beim Arbeitsdienst?Oder meinst du, es wäre heute
Sonntag?

Herr Theo: (lüftet höflich den Hut und antwortet sehr höflich, doch nicht unterwürfig)
Ich ging gerade zu meinem Arbeitsplatz zum Schaufeln, wenn’s beliebt...Und
auf dem Weg rauche ich noch eine Zigarre...Ich weiss, eine schädliche
Leidenschaft, aber ich kann es mir nicht abgewöhnen.

Der Wächter: (grinsend) Dann los, fahr schon ab, du altes Wundertier...und gestatte dir
mal, auch was mit der Schaufel zu tun. (Er klopft ihm wiehernd auf die
Schulter und entfernt sich).

Herr Theo: (lüftet wieder den Hut, um den Wächter zu grüssen, und sagt dann freundlich)
Ist schon in Ordnung.Ich gehe ja. (Er holt aus der oberen Rocktasche ein
Taschentuch hervor, putzt damit die Stelle, wo ihn der Wächter auf die
Schulter geklopft hat, faltet das Taschentuch wieder zusammen, tut es in die
Tasche und geht gemütlich rauchend weiter).

Während dieser Szene erscheinen Pupak und Ludwig, die vom Feld kommen.Sie
sind Arbeitsdienstler, mit gelber Armbinde.Pupak hat eine Spitzhacke auf der
Schulter, Ludwig hat eine Schaufel in der Hand.Als Herr Theo sein
Taschentuch nimmt, um sich die Schulter zu putzen, erreichen die Beiden
eben die Landstrasse, bleiben stehen und glotzen Herrn Theo wie auch den
sich entfernenden Wächter an.Sie lächeln).

Ludwig: (zu Pupak, leise) Siehst du den da...Das Zigarren rauchende Wundertier...nicht
einmal die Wächter bändeln mit ihm an.

Pupak: Vielleicht beeindruckt er sie...Ein Herr, der auch in Teufels Küche immer noch
ein Herr bleibt.
Ludwig: Du, den müssen wir uns mal aus der Nähe betrachten.Ich will doch sehen, was
in ihm steckt...Bis du eine Zigarette geraucht hast, bin ich wieder zurück.(Er
geht zu Herrn Theo).

Pupak: (ruft hinter Ludwig her.Lauter) Inzwischen mach ich mir noch mit der Spitzhacke
zu schaffen...Damit mich die Wächter in Ruhe lassen.

(Ludwig hat den sich nähernden Herrn Theo erreicht.Er holt sich eine Zigarette
hervor, hebt die rechte Hand zum Gruss an die Mütze und redet ihn an).

Ludwig: Hab’ die Ehre, Sie zu begrüssen.Können Sie mir bitte Feuer geben ?

Herr Theo:(freundlich) Gerne, mein Junge.(Er bedient ihn).Bitte schön !

Ludwig: (er bemüht sich um besonders höflich zu sein) Verzeihen Sie mir bitte meine
Zudringlichkeit, aber woher beschaffen Sie sich denn das Benzin ?Ich kann
schon seit Wochen mein Feuerzeug nicht mehr benutzen.

Herr Theo: Kommen Sie mal mit, junger Mann...Ich gebe Ihnen gerne, wieviel Sie
brauchen.(Er streckt die Hand Ludwig entgegen).Sie gestatten...Mocsy...Theo,
Amtsleiter bei der Post, aus Budapest.

Ludwig: (lächelt zufrieden) Ludwig Schwartz, Taxifahrer, ebenfalls aus Budapest...

Herr Theo: Sehr erfreut, junger Mann.Dann können wir gehen.

Ludwig: (geht mit Herrn Theo) Eigentlich kenne ich Sie längst vom Hörensagen...Als
den elegantesten Arbeitsdienstler aus dem ganzen Strafkommando.(Als sie bei
Pupak vorbeigehen, macht er diesem ein Zeichen.Zu Pupak ). Komme sofort
wieder...ich kriege Benzin für mein Feuerzeug. (Zu Herrn Theo, erklärend)
Ein alter Freund.Student.Auch aus Budapest.

(Plaudernd, verschwinden sie in den Kulissen.Pupak arbeitet weiter).

(Ein Paar Sekunden Stille.Man hört nur die Schläge der Spitzhacke, mit der Pupak
arbeitet; dann fällt der Vorhang.Dunkelheit).

(Nach einem Augenblick beleuchtet der Scheinwerfer die linke Ecke vor dem
zweiten Vorhang.Pupak sitzt dort auf einem Stuhl wie in der vorigen Szene,
mit gelber Armbinde.Jetzt ist er der Erzähler des Palavers.Er zündet sich eine
Zigarette an und erzählt Ludwigs Lieblingsgeschichte weiter).

Pupak: ...so wie schon Ludwig sagte: man musste ihn gesehen haben.Ich weiss nicht, ob
es mir gelungen ist, euch das Humorvolle dieser närrisch – absonderlichen
Figur zu schildern...Ludwig hat sich schnell mit ihm angefreundet.Er erzählte
ihm alle möglichen Geschichten über Tanzabende, erstklassige Weibsstücke,
noch erstklassigere Schlägereien, und Onkel Theo – schon vom nächsten Tag
an, haben wir ihn so zu nennen begonnen – legte uns seinerseits seine
humanitären Überzeugungen dar.Er war verhaftet worden, weil er bei der
Roten Hilfe Beiträge gezahlt hatte und auch bei andern dafür warb.

Herr Theo’s

Stimme: Ich habe nie Politik getrieben, aber die Menschlichkeit als solche verpflichtet.

Pupak: (fortfahrend)...Die Polizei war aber anderer Meinung und so kam er eben ins
Strafkommando...Als sie ihn abholen kamen, hat er sich so angezogen, als ob
er am Sonntag Nachmittag ins Cafe ginge.Das war seine Art, der
faschistischen Polizei Horthys, der Zwangsarbeit, dem ganzen Krieg die Stirn
zu bieten...

Herr Theo’s

Stimme: (belehrend) Weisst du, mein Junge, der Mensch muss seinen Überzeugungen,
seiner Lebensart, ja sogar seinen Schrullen treu bleiben.Man darf nicht
annehmen, dass äussere Zwänge unsere Gewohnheiten ändern...So kannst du
leichter dir selber treu bleiben.Und das ist die Hauptsache...Schon
Shakespeare hat das vor beinah’ vierhundert Jahren gesagt...

Pupak: (fährt fort, als hätte er die Unterbrechung nicht bemerkt) Viellecht hat ihn gerade
das gerettet...Es war Ludwigs Einfall. (Aus einer Ecke des Vorhangs
erscheint Ludwig vor Eile keuchend, aufgeregt. So wie im vorigen Auftritt
gekleidet, mit der Schaufel in der Hand, nähert er sich Pupak).

Ludwig: (haspelnd) Hör mal her. Den Onkel Theo müssen wir von hier rausbekommen.
Wenn er die Armbinde ablegt, kann er – so wie er aussieht – hingehen, wohin
er Lust hat...niemand würde von ihm verlangen, sich auszuweisen...Die halten
ihn für einen dämlichen Aristokraten.

Pupak: Nun ja...so sieht er eben aus !

Ludwig: Nur müssen die Hosen fein gebügelt sein...und bestimmt wird ihn bis
Budapest niemand anhalten.Das kann ich verantworten.Und dort...weiss ich
schon zu wem er hingehen soll.Da gibt’s genug Kumpel.Wenn nötig, werden
sie ihn verstecken oder ihm helfen, weiterzukommen.

Pupak: Kein schlechter Gedanke.Sollten wir mal mit dem gnädigen Herrn sprechen (Steht
auf).

Ludwig: (aufgeregt) Lass uns gleich zu ihm gehen...Morgen könnte er schon abhauen.

(Beide verschwinden hinter dem Vorhang.Dann geht der zweite Vorhang auf.Die
Szene ist unverändert: Landstrasse, Feld, Bäume, Gebüsch, Arbeitsdienstler,
in der Ferne, der herrschaftliche Gutshof.Weiter hinten, zwischen den
Bäumen, sitzen einpaar Wächter um ein Feuer und kochen sich etwas.Vorne,
vom Gebüsch verdeckt, Ludwig, Pupak und Herr Theo).

Herr Theo:(bewundert die Bügelfalte der Hosen, sagt dann zu Ludwig)

Lieber Ludwig, nicht einmal meine geliebte Gattin hätte sie besser bügeln
können.

Ludwig: (während er Herrn Theo’s weisse Armbinde entfernt, zu Pupak) Jetzt pass nur
gut auf, dass uns niemand überrascht.

Pupak: (er beobachtet die Umgebung) Kannst dich auf mich verlassen !

Ludwig: (verreibt mit dem Taschentuch die Stelle, wo vorher die Armbinde gewesen
war ) Es ist keine Spur mehr davon zu sehen.So muss es auch sein. Da wenn
man was merken würde, ginge es schief...(Er zupft noch einmal Herrn Theo’s
Jackett zurecht, reibt noch mal etwas mit dem Taschentuch, und betrachtet
bewundernd sein Werk). Ein tadelloser Gentleman.Stecken Sie sich eine
Zigarre an, Herr Theo, und dann können Sie sich auf den Weg
machen...Richtung Budapest.
Herr Theo: (holt eine Zigarre hervor, seine Stimme zittert ein wenig vor Aufregung) Ich
habe noch nie in meinem Leben Theater gespielt...Es ist meine erste
Rolle...”Der verschrobene Baron geht auf der Landstrasse spazieren”.

Pupak: Für einen Anfänger ist die Rolle gar nicht so einfach...dafür ist aber die Gage
hoch.

Ludwig: (treibt ihn zur Eile an) Der Beifall kommt nach dem Krieg... (Gekünstelt)
Meister, bitte auf die Bühne !... Und die Adresse meines Kumpels nicht
vergessen.

Herr Theo:Werde ich bestimmt nicht.(Bewegt) Und vielen, sehr vielen Dank euch.

(Er schüttelt ihnen die Hände, macht gebückt zwishen den Gebüschen einpaar
Schritte, dann gelangt er an eine Stelle, die von den Wächtern nicht gesehen
werden kann, tritt auf die Landstrasse hinaus, steckt sich die Zigarre an und
geht ruhig spazierend weiter).

Ludwig

Pupak: (gleichzeitig, sehr leise ) Viel Glück, Herr Theo.

Ludwig: (zu Pupak) Ich begleite ihn noch ein wenig hinter den Gebüschen.Wartest du
auf mich ?

Pupak: Natürlich.Gib mir eine Zigarette.

(Ludwig ihm eine Zigarette und schleicht Herrn Theo nach.Pupak zündet sich die
Zigarette an.Dunkelheit.Man sieht nut eine, sich entfernende Zigarre.Es ist
Herr Theo, unterwegs).

(Nach einer – möglichst kurzen Pause, wird die Bühne wieder hell.Man sieht die
sich zwischen Bäumen und Gebüschen durchschlängelnde Landstrasse.Die
Wächter und die Arbeitsdienst-Abteilungen sind weggeblieben.Herr Theo
wandelt gemächlich der Stadt zu.Er steckt sich eine neue Zigarre an, seine
Gebärden sind nicht mehr hastig.Er hat sich in seine Rolle gefundet.Ludwig
folgt ihm, hinter den Gebüschen, schleichend.Von der entgegengesetzten
Richtung nähert sich eine Radfahrersoldatenstreife.Als die Soldaten bei Herrn
Theo vorbeikommen, grüsst er sie würdevoll, ruhig, freundlich mit der Hand).

Die Soldaten: (Gutmütig, ein bisschen spöttisch) Angenehmen Spaziergang, Exzellenz !

(Die Radfahrer verschwinden in der Kulisse.Herr Theo macht noch einpaar


Schritte, atmet erleichtert auf, bleibt stehen und wirft die Zigarre fort. Dann
wendet er sich dem Gebüsch zu, wo er Ludwig vermutet).

Herr Theo: (leise) Die Generalprobe ist gut ausgefallen.Ludwig, meine Junge, Gott segne
Dich !

Ludwig: (setzt sich hin, klatscht leise in die Hände und kichert vor sich hin). Gute
Reise, Exzellenz. Schöne Grüsse an Alle in Budapest ! (Herr Theo geht
weiter.Der Vorhang fällt.Die Bühne verdunkelt sich.)

Pupaks

Stimme: (im Dunkel.Er beendet die Geschichte). Kurz darauf wurden wir nach Bor
verschickt.Von Herrn Theo haben wir nie mehr gehört.Ich hoffe, dass er
glücklich angekommen ist.

(Während Pupak die letzten Worte spricht, wird der Vorhang aufgezogen, die
Bühne wird allmählich hell; man sieht wieder das Krankenzimmer).

Ludwig: (lächelnd, leise, doch mit etwas Autorenstolz in seiner Stimme)

Ein hübsches Geschichtchen, nicht wahr?

Dr. Harth: (zu Ludwig) Die einzige freundliche Erzählung des Abends.Wenn wir
wenigstens mehrere von dieser Sorte gehabt hätten.

Martinski: (deklamierend) Auf dem Kriegspfad bietet das Leben wenig Gelegenheit für
heitere Abenteuer.(Zu Ludwig, an dessen Bett er sanft gekommen ist,
während er ihm zu trinken hilft und ihn besser bedeckt; beinahe zärtlich )
Schlaf’ Ludwig, es ist schon Mitternacht und du bist müde. (Er setzt sich auf
den Bettrand)
Ludwig: (sehr leise) Ich bin nicht schläfrig, Steff. Und ausserdem heisst es ja, dass die
Ewigkeit lang genug dauert und ich noch genügend Zeit zum Schlafen haben
werde.Stellt mal ein wenig Musik ein.

Dr. Harth: (stellt den Radioapparat an.Er versucht verschiedene Sender.Dann erklingen
die ersten Takte von Beethovens fünfter Symphonie.Er lässt diesen Sender
weiterspielen).

Ludwig: (traurig) Das Pochen des Schicksals gilt mir...(Bis zum Ende des Aktes hört
man die Symphonie leise weiter).

Martinski: (erhebt sich, setzt sich die goldene Papierkrone wieder auf. Deklamatorisch)

Als Organisator und Leiter des Palavers ordne ich an, dass ihr alle sofort aus dem
Fass des Trübsals aussteigt.Flüsternd, zu Peter) Ich gehe jetzt in den
Waschraum und hänge mich auf.Kommst du mit ?

Peter: (halblaut, dass es alle hören) Ich gehe nicht, Steff. Im Waschraum ist es
kalt...überleg es dir auch du noch einmal.Der Strang schneidet ins Fleisch, die
Zunge hängt dir dann aus dem Mund, dein Gesicht läuft blau an. Falls du dich
noch sehen könntest, wärest auch du angeekelt.Kannst es mir glauben, das
alles wirkt höchst unästhetisch.

Martinski: (wütend) Dann verreck eben ruhig in deinem Bett...Mich bekommst du nicht
wieder zu sehen...zumindest lebend nicht.

(Martinski geht feierlich, mit Tanzschritten, bis zur Mitte des Zimmers, wirft
einen Blick auf alle Betten – er tanzt jetzt vor, dass er Abschied nimmt – hebt
mit einer grossartigen Abschiedsgebärde die Krone vom Kopf und verneigt
sich vor den andern). Lebt wohl, Jungens.So tanze ich euch jetzt meinen
Abschied vor.Ich werde vortanzen, dass ich sterbe.Ein Tanz ohne
Zuschauer.Ich danke euch (???) für eure Gastfreundlichkeit.Es ist wirklich ein
schönes Palaver gewesen.Lebt wohl, beziehungsweise, sterbt glücklich und
zufrieden. Jeder, so wie es ihm gegeben ist.

(Martinski erreicht die Tür.Peter springt aus dem Bett, ergreift einen zweiten
Löffel von Pupak’s Nachttisch, hängt schnell das Eisenblechtäfelchen an die
Tischecke und beginnt wie wild, jetzt mit zwei Löffeln, den Takt von einem
verrückten, entarteten Trauermarsch zu schlagen.Dieser Lärm übertönt die
Musik der fünften Symphonie.)

(Martinski verlässt das Zimmer im Tanzschritt.Durch die von ihm geöffnete Tür
sieht man noch einmal das Aufglänzen der goldenen Papierkrone im grellen
Licht der Korridorlampe.Er schlägt die Tür mit Nachdruck hinter sich zu.Peter
bearbeitet seine improvisierte Trommel weiter).

Dr. Harth: Da kann man ja verrückt werden !...Musik kann man sowieso nicht mehr
hören... (Er stellt das Radio ab.Peter schlägt weiter die Trommel.Pupak steht
auf, reckt sich und beginnt, Ordnung zu machen).

Peter: (wirft die zwei Löffel auf den Tisch, steht auf und hilft Pupak ) Du hast Recht, wir
müssen aufräumen.

Pupak: (zufrieden, aufatmend.) Na, endlich ist wieder Ruhe.

Peter: Du freust dich ein wenig zu früh.Es ist nur eine kurze Pause...bis wir Ordnung
gemacht haben und bis ich mich wieder hinlege.Im Bett mache ich dann
weiter.

(Peter und Pupak fahren mit dem Aufräumen fort.Dr. Harth stellt das Radio
wieder an.Gedämpft erklingen wieder die Töne von Beethovens V.
Symphonie.Ludwig lächelt, dann bekommt er einen Hustenanfall).

(Inzwischen fällt der Vorhang).


DRITTER AKT

(Im Krankenhauszimmer Nr.27, eine halbe Stunde später.Pupak und Peter sind
mit dem Aufräumen fertig und haben sich in ihre Betten gelegt.Pupak ist beim
Einschlafen.Dr. Harth blättert in einem Buch.Peter sitzt im Bett, mit
angewinkelten Knien und trommelt auf das Eisenblech.Ludwig rutscht höher
auf sein Kissen und sieht Peter amüsiert zu.Das Trommeln gefällt ihm Er
lächelt.)

Dr. Harth: (erhebt den Blick aus dem Buch und sieht der Reihe nach Pupak und Peter
an.Als er bemerkt, dass Pupak schlafen möchte, treibt er Peter hämisch
an).Lauter...leg’ mal los...trommle... Das ist der Palavermarsch...Kümmere
dich nicht um Pupak! (Peter trommelt noch lauter seinen
Trauermarsch.Ludwig kichert leise).

Pupak: (erhebt sich wütend) Genug! Hol’ euch beide der Teufel ! Ich will schlafen.Peter,
hör’ endlich auf... (Peter antwortet nicht.Lachend trommelt er weiter).

Dr. Harth: Pupak, tobe nicht !

Pupak: (Zu Peter, bedrohlich) Ich zähle bis drei, dann schleudere ich dir etwas an den
Kopf... (Peter trommelt weiter.Dr. Harth lacht laut.Pupak ergreift von seinem
Nachttisch ein Messer und droht) Eins...zw...

Dr. Harth: (versucht ihn zu beruhigen) Was machst du da, Pupak? Bist du verrückt?

Pupak: ...zwei...dr...(Peter hört mit dem Trommeln für einen Augenblick auf, nimmt das
Kissen als Schutz vor sich, dann trommelt weiter) ...drei (Wirft das Messer,
aber Peter wehrt es mit dem Kissen ab.Pupak wirft schnell nacheinander mit
allem, was ihm in die Hand fällt: Löffel, Gabel, Tasse, dann
Arzneimittelflaschen aus seiner Schublade) ....So...und das...und noch das
auch, hol dich der Teufel...(Je mehr Sachen er auf Peter schmeisst, desto
rascher nimmt seine Wut ab.Er beginnt zu lachen.Peter trommelt weiter hinter
seinem Kissen.Alle lachen).

Dr. Harth: (jubelnd, heiser) Na, bringt ein bisschen Leben in das Palaver...Peter trommle
mal...So, als wenn dein Leben davon abhinge...Pupak, gib nicht nach.Ziele
nicht auf seinen Kopf...schmeiss es lieber hinter ihn an die Wand...von dort
prallt es dann ab und saust auf seinen Kopf...

(Einige Flaschen fallen auf den Fussboden.Lärm von zerbrochenem Glas.Pupak


hört auf, die Sachen zu schmeissen, Peter trommelt nicht mehr.Vom
Nebenzimmer wird an die Wand geklopft).

Ludwig: (keuchend, leise) Das ist kein Wiederkäuen mehr.Das ist schon Gegenwart.
Bald werdet ihr wieder leben.Schade, dass ich euch nicht mehr nach Hause...
begleiten kann.
Dr. Harth: (wieder ruhig) Bei denen sind die wilden Fohlen ausgebrochen...und haben
die Nachbarn aufgeschreckt. (Er spitzt die Ohren.Man hört, wie sich auf dem
Korridor schnelle Schritte nähern).

Ich glaube, es kommt sogar der Stationsälteste in Person. (Es wird an die Tür
geklopft, und ohne eine Antwort abzuwarten, tritt der Stationsälteste ein.Er ist
struppig, noch ganz verschlafen und ordnet sich den Hausmantel).

Stations-

ältester: (sich im Krankenzimmer umsehend) Seid ihr verrückt ? Wie kommt ihr dazu,
um ein Uhr nachts das ganze Krankenhaus aufzuwecken ? (Streng) Hier ist
weder Zirkus, noch Bordell...wir sind hier in einem Sanatorium.Die Kranken
wollen schlafen.

Ludwig: Aber, mein Lieber Joseph...

Stations-

ältester: (verärgert) Hier gibt’s keinen “lieben Joseph”...

Ludwig: Mit so einem schönen Vollbart...

Stations-

ältester: Schluss.Wenn ich noch einen Laut höre, setze ich euch morgen früh alle raus.
So krank, wie ihr auch seid.(Ein wenig milder) Und jetzt: Gute Nacht !(Er
macht das Licht aus und geht weg).

Peter,

Dr. Harth: Gute Nacht !

Pupak

Ludwig: Schlaf gut, Joseph! (Dr. Harth schaltet die Nachttischlampe ein).

Dr. Harth: (leise) Eigentlich hat er Recht ! Wir haben uns wie rasende Bengel
benommen.Das Palaver ist zu Ende.Gute Nacht ! (Er dreht sich um und
beginnt zu lesen. Peter und Pupak steigen aus ihren Betten, heben die
Scherben auf, richten ihre Betten. Pupak wird als erster fertig und er geht zu
Bett.)

Peter: (bevor er auch schlafen ginge geht zu Pupak, reicht ihm die Hand) Ich hoffe, dass
du mir nicht böse bist.

Pupak: (drückt ihm die Hand) Sei kein Kindskopf ! Wir sind doch alte Freunde.

(Peter geht zu seinem Bett zurück und legt sich schlafen.Pupak liegt schon mit
geschlossenen Augen).

Peter: (zu Dr. Harth, leise ) Doktorchen, du könntest eigentlich das Licht ausmachen, es
ist ja schon spät genug...

Dr. Harth: Amen ! (Er erhebt sich um seine Lampe auszuschalten)

Ludwig: (stammelnd) “Herr: es ist Zeit.Der Sommer war sehr gross.

Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,

Und auf den Fluren lass die Winde los.”

(Während Ludwig das Gedicht aufsagt, macht Dr. Harth das Licht aus und der
Vorhang fällt langsam).

(Wenn der Vorhang wieder aufgezogen wird, ist es schon morgens.Das selbe
Bühnenbild, aber bei Tageslicht.Durch das Fenster fallen Sonnenstrahlen.Das
Zimmer scheint dadurch viel freundlicher.Vom Korridor her hört man
Schritte, Stimmen und zugeworfene Türen.Die vier Kranken liegen noch
regungslos.Es wird an die Tür geklopft, aber niemand antwortet.Die Tür wird
behutsam geöffnet, es erscheint Isabellas blonder Kopf, dann kommt Isabella
herein, Sie bringt ihre Putzmittel, dann schliesst die Tür).

Isabella: Aufstehen ! Es ist schon nach acht. (Peter, Pupak, Dr. Harth kommen langsam
zu sich)

Alle drei: (kanonartig nacheinander) Guten Morgen !

Isabella: Einen Guten Morgen wünsche ich euch allen.( Sie nähert sich zu Ludwigs
Bett) Herr Ludwig...töf, töf...aufgewacht, der Kaffee kommt. (Plötzlich beugt
sie sich erschrocken über das Bett. Stotternd). Ich glaube, dass...dass...er
gestorben ist.Ich hole den Arzt. (Geht eilig hinaus).

Dr. Harth: (erhebt sich, beugt sich zu Ludwigs Bett) Ludwig ist weg...Der Nächste bin
ich... (leise, verzweifelt, vor sich).

“Stimme im Dornbusch.Streife, Wem sie gilt,

die Schuhe ab und krümme sich und schlage

den ganzen Mantel vors Gesicht und sage

in seinem Mantel: Herr, ich bin gewillt...”

(Peter und Pupak sind inzwischen auch aufgestanden, und jetzt nähern sich
Ludwigs Bett.Peter bleibt am Bettende stehen und weint lautlos.Pupak setzt
sich auf den Bettrand und umarmt Ludwigs Schultern).

Pupak: (Mit Tränen in seinen Augen, mit versagender Stimme ) Gute Fahrt,
Ludwig...ruhe in Frieden.

(Der Vorhang fällt).

(Vor dem Vorhang erscheint, von rechts kommend, Peter.Er hat wieder den
Hausmantel über den Schlafanzug angezogen).

Peter: (erzählt)... Isabella hatte den Arzt geholt.Aber Ludwig war schon längst tot.Er ist
im Schlaf gestorben. Dann kam der Stationsälteste, den Ludwig manchmal –
wegen seines schönen, schwarzen Bartes – “Rabbi Joseph” nannte, und
versprach noch am selben Tag sich um die Entlassung des Arztes zu sorgen,
der Ludwigs Lunge mit der Pneumothorax – Nadel verletzt hatte.Später
kamen auch die Pfleger und brachten Ludwig in die Leichenhalle...Isabella hat
das Bett frisch bezogen – sie war noch blonder, noch blasser und noch schöner
als je – und wir warteten neugierig auf den neuen Mitbewohner unseres
Zimmers.Wir hätten es gern gesehen, wenn es Martinski gewesen wäre, aber
Martinski war verschwunden. Ich suchte ihn im Waschraum, und auch in der
Leichenhalle, aber ich konnte ihn nirgends entdecken.Es war anzunehmen,
dass er sich nicht aufgehängt hatte.Aber auch in sein Zimmer war er nicht
zurückgekehrt.Nach dem Mittagsessen, nachdem Isabella schon abgeräumt
hatte und Pupak ein wenig eingenickt war, erschien Frau Müller-Hagenkamp,
völlig aufgelöst.Erst bei Tisch hatte sie von Martinskis Verschwinden
erfahren...

(Die Bühne wird für einen Augenblick verdunkelt.Peter verschwindet hinter dem
Vorhang.Beim Wiederaufziehen des Vorhanges, erscheint das
Krankenzimmer Nr.27, diesmal im Nachmittagslicht.Alles ist sauber,
ordentlich.Ludwigs Bett frisch bezogen und unberührt.Pupak schläft.Dr. Harth
liegt im Bett und liest.Peter blättert in einem Buch.Man klopft an die Tür).

Peter: (leise) Herein !

(Es tritt Frau Müller-Hagenkamp ins Zimmer;sie schliesst behutsam die Tür und
kommt zu Peter).

Frau

Müller-

Hagenkamp: (aufgeregt) Stephan ist verschwunden !

Peter: Ich weiss es...Wir haben ihn schon überall gesucht.Bei uns ist ein Bett frei
geworden und wir wollten, dass er zu uns zieht.

Frau

Müller-

Hagenkamp:Doch nicht etwa Ludwig...?

Peter: Doch.Er ist gestorben...heute nacht.

Frau

Müller-

Hagenkamp: Das tut mir schrecklich leid.Stephan hat ihn sehr gern gehabt...Aber ich
habe grosse Angst, dass nicht auch Stephan etwas zugestossen ist...Seit einiger
Zeit war er sehr niedergeschlagen.Er sagte immer wieder, dass er nicht mehr
weitermachen wolle.Ich bin sehr besorgt.
Peter: Auch heute nacht sagte er, dass er sich im Waschraum aufhängen wolle.Aber er
ist nicht dort.So lange, wie er sich noch selbst laut bejammert, ist es halb so
schlimm.Der zur Schau getragene Schmerz enthült schon den eigenen Trost...

Frau

Müller-

Hagenkamp:Schon möglich...Trotzdem, ich habe Angst...Er ist so unausgeglichen.So wie


ein in die weite Welt ausgesetztes Kind...wie ein vom Winde verwehter
Luftballon...Selbst sein Zimmernachbar hat keine Ahnung...Gestern abend
war er zu euch gekommen, und seit dem ist er nicht mehr zurückgekehrt.

Peter: (wie von einem plötzlich Gedanken erhellt, doch zögernd) Moment mal...

(aufgeregt, streicht sich mit der linken Hand das Haar glatt) Es schimmert mir
was.Er hat einmal erzählt, wie er sich einst zu Hause auf dem Dachboden,
einen zerlumpten, ehemals mit rotem Samt ausgeschlagenen, ausrangierten
Sessel augestöbert hatte...Der ist dann seine Zufluchtsstätte geworden.Dorthin
flüchtete er sich vor den Menschen, vor dem Leben.Er hat das auch vor all den
Seinen verheimlicht.Selbst vor seiner Schwester, mit der ihn eine innige
Freundschaft verband.Und wenn ihm sien Vater eine Ohrfeige verabreicht
hatte, wenn er traurig war, dass er in den Kindergarten gehen musste, oder
später, in der Schule wenn er unterlag, wenn ihn jemand verletzte, wenn er
sich benachteiligt fühlte, oder auch nur so, ohne besonderen Grund, flüchtete
er in den roten Sessel auf dem Dachboden...Dort weinte er, dort grollte er, dort
hat er später über seine erste Liebe geträumt, dort hat er den Genuss der
ersten, heimlich gerauchten Zigarette erlebt.

Frau

Müller-

Hagenkamp:Aber was hat denn der rote Sessel von ehemals, mit Stephans heutigem
Verschwinden zu tun?

Peter: Nichts.Aber mit dem roten Sessel von hier, von Gauting hat es bestimmt zu tun.
Frau

Müller-

Hagenkamp: (nervös) Also, dann sprechen Sie doch, bitte...schneller...

Peter: Es sind doch keine zwei Wochen her, dass er einmal in einem versteckten Winkel
des Kellergeschosses einen Schaukelstuhl entdeckte.Damals hat er mir auch
vom roten Sessel erzählt.Ich nehme an, dass er dort hockt.

Frau

Müller-

Hagenkamp:Wissen Sie auch wo?

Peter: Ja, wollen Sie mitkommen?

Frau

Müller-

Hagenkamp:Aber natürlich.Schnell !

Peter: Dann drehen Sie sich bitte für einen Augenblick zum Fenster um.

(Frau Müller-Hagenkamp geht zum Fenster, Peter springt aus dem Bett, zieht sich
Socken und Hausschuhe, wie auch den Hausmantel, den er aus dem Schrank
holt, an).

Peter: Jetzt können wir gehen !

Frau

Müller-

Hagenkamp: Das ging aber wirklich schnell...also gehen wir.

(Sie gehen zur Tür.Mit der Hand auf der Türklinke, Peter dreht sich um).

Peter: (zu Pupak und Dr. Harth) Wir gehen, Martinski zu holen.Ich hoffe, dass wir
gleich zurück sind...

Dr. Harth: (erhebt den Kopf) Wisst ihr denn, wo man ihn suchen muss?
Peter: Ich glaube, ja.

(Pupak erwacht, er reckt sich, Dr. Harth liest weiter.Peter und Frau Müller-
Hagenkamp verlassen eilig das Zimmer.Stille.Dr. Harth streckt eine Hand
zum Radio aus, und mit der anderen hält er die Seite, die er grade im Buch
liest, fest).

Dr. Harth: Stört es dich? Wenn ich Musik suche?

Pupak: Mich nicht...(Pupak reckt sich weiter, er versucht seine struppig gewordenen
Haare zu glätten.Dr. Harth schaltet das Radio ein, stellt es auf einen Sender
ein: man hört Teile aus Lehars Operetten).

Dr. Harth: Ein wenig lustigere Musik könnte uns nicht schaden.

Pupak: (lakonisch) Schadet nicht.

(Dr. Harth liest weiter.Plötzlich geht die Tür auf.Frau Müller-Hagenkamp und
Peter treten ein).

Peter: (noch von der Tür aus) Da war er, im roten Sessel.

Frau

Müller-

Hagenkamp:Besser gesagt, im Kellergeschoss, im Schaukelstuhl.

Dr. Harth: Roter Sessel...Schaukelstuhl...Ist ja alles dasselbe.Hauptsache, dass ihr ihn


gefunden habt.

Pupak: (erhebt sich) Wohlauf und unversehrt ?

Peter: Beinahe...(Er setzt sich auf’s Bett und bietet Frau Müller-Hagenkamp einen Stuhl
neben seinem Bett an.Dann fährt er ruhiger, leiser fort).

Eigentlich nicht wir haben ihn entdeckt, sondern einer der Pfleger...schon vor
ungefähr einer Stunde...dort, im Kellergeschoss, in einer dunklen Ecke, in
einem ausgedienten Schaukelstuhl.Er hatte eine halb ausgetrunkene Flasche
Kognak und eine völlig geleerte Luminal-Tube in seinem Schoss.
Dr. Harth: Klar.Er hat zuerst das Schlafmittel genommen und sich dann ordentlich
besoffen, damit er zum Schluss noch einen recht schönen letzten Traum habe.

Frau

Müller-

Hagenkamp:Lacht nicht über ihn...Der arme Junge...

Dr. Harth: Ich habe auch Mitleid mit ihm...sowohl mit ihm, wie auch mit mir.

Pupak: (grinsend, singt vollkommen falsch) “Seine Fröhlichkeit ist doch nur eine
Maske...”

Peter: (erklärend) Entweder war die Tube nicht voll, oder er hat das Schlafmittel erst
gegen Morgengrauen eingenommen.Jedenfalls ist ihm nichts passiert.Eine
Strichnin-Spritze und eine kleine Magenspülung hatten ihn wieder auf die
Beine gebracht.

Frau

Müller-

Hagenkamp:Vorhin war er noch oben.Im Behandlungssaal.Er ist schon wieder zu sich


gekommen.Ich habe den Arzt gebeten, ihn hier...an Stelle von
Ludwig...einzuquartieren.

Pupak: Daran haben Sie sehr gut getan.

Frau

Müller-

Hagenkamp:Sie müssen ihn gleich bringen.Kümmert euch ein bisschen um ihn...Ich


gehe.Ich will ihm jetzt nicht begegnen...Nachher mach ich ihm einen
Besuch.Jungs, auf Wiedersehen ! (Noch von der Tür, lächelnd) Und... verletzt
ihn nicht !

Dr. Harth: Wir werden uns schon um ihn sorgen.Küss’ die Hand!

Pupak:

Peter: Küss die Hand.


Dr. Harth: (Nach einer Pause) Martinski – die letzte Leidenschaft einer verbühten
Schönheit.

Pupak: Doktorchen, bist schon wieder ekelhaft.

Dr. Harth: (mehr zu sich selbst, sinnend) Er wollte sich umbringen...Quatsch...ein


Lauskerl...er brauchte es nur, damit etwas los sei...genau wie mit dem
Palaver...Wenn schon nichts anderes, dann Lärm, Wirrwarr, ein wenig
Besorgnis...

Peter: (verständnisvoller)...er suchte ein wenig Wärme, ein bisschen Liebe...Ein vom
Winde verwehter Luftballon...er braucht Ballast, der ihn wieder auf die Erde
zurückbringt.

Pupak: Ballast...Na ja...Eigentlich eine paradoxe Geschichte...Der Ballast, der einen


an die Erde fesselt ist eben das vergängliche Trugbild...das Ideal, der Zweck,
die Zukunft...Die Vergangenheit, so schwer sie auch wiegen mag, hilft nicht.
Das Wiederkäuen ist trostlos...Sich etwas vornehmen, sich ein Ziel stecken,
etwas tun...das ist der Weg zurück ins Leben, in den Alltag...Wirres Gerede,
aber ich weiss, dass ich Recht habe.

Dr. Harth: (mit einiger Ironie) In der Tiefe der banalen Phrasen ruht Weisheit.Es fragt
sich nur, ob es der Mühe Wert ist, sie an die Oberfläche zu bringen.Und was
Martinski als Luftballon anbetrifft...da hat Peter Recht...Ein wenig Liebe...

(Man hört draussen schlurfende Schritte)

Pupak: Ruhe! Ich glaube, da kommt er. (Es wird leise an die Tür geklopft).

Alle: Herein ! (Die Tür wird langsam geöffnet. Es erscheint Martinski in einem gut
gebügelten Schlafanzug, mit um den Schultern geworfenem Hausmantel,
frisch gekämmt, blass, feierlich. Er tritt im Tanzschritt ein, macht die Tür zu.
Seine Bewegungen sind unsicher, ein wenig torkelnd, als ob die betäubende
Wirkung der Schlafmittel nicht spurlos behoben wäre).

Martinski: Ich tanze euch vor, dass ich wieder da bin und euch begrüsse...Ich tanze
vor,dass...
Dr. Harth: Da tanzt du deine Auferstehung vom Tode vor...Setz dich lieber auf dein
Bett...(für einen Augenblick hält still, verdutzt, dass er Ludwigs Bett schon als
das Bett Martinskis betrachtet.Stotternd)...auf Ludwigs bett.

Martinski: (betroffen) Und Ludwig?

Pupak: (trübsinnig, leise) Ludwig ist nicht mehr...Er hat vorgetanzt, dass er
verschwindet...ohne viel Aufhebens, bescheiden, lautlos...Ein Tanz ohne
Zuschauern.Als wir alle schliefen.

Peter: Ein Auto kam um ihn...mit leerem Fahrersitz...Er ist eingestiegen und
weggefahren...ohne zu hupen...unbemerkt.

Martinski: Die dem Tode geweihten, sterben...

Dr. Harth: Du wurdest, ersichtlich, eben nicht dem Tode geweiht.

Peter: Der Strang schneidet ins Fleisch, mein lieber Steff.Dann schon lieber einen
Cocktail von Schlafmitteln mit Kognak.

Martinski: Und wieder aufzuwachen ist gar nicht so schlecht.(Sich reckend) Trotzdem
mir der Schlaf noch nicht ganz vergangen ist.

Peter: Mit Magenspülung inbegriffen?

Martinski: (nachdenklich) Das ist eben der Preis den man bezahlen muss...Mit dem Tod
als Hintergrund, erscheint das Leben bunter, leuchtender, anziehender...Der
Effekt der Kontraste...Macht mal das Fenster auf, mein Kopf ist noch ganz
wirr.

Pupak: (öffnet das Fenster, lehnt sich hinaus) Wie schön es draussen ist !

Dr. Harth: Schön...Und auf der Schwelle des Todes wird einem plötzlich bewusst, dass
immerhin, trotz alledem, ist es gut zu leben.Nicht wahr, Steff?

Martinski: Lass deine Nase nicht hängen, Doktorchen, vielleicht kommst auch du noch
durch. Du möchtest so sehr weiterleben...das kann schon vieles ausmachen...

Pupak: Wir sollten ihm zu einem Abenteuer verhelfen.

Peter: Zu einer Liebe.


Dr. Harth: Hatte ich, sie ist gestorben.

Martinski: Eine Isabella.

Pupak: Es gibt nur eine einzige Isabella.

Dr. Harth: (ironisch) Und es gibt auch nur eine einzige wahre Liebe...Und nur Pupak
kennt sie.

Pupak: (verärgert) Hört schon mal auf !

Peter: Man braucht die Liebe, aber sie genügt nicht.Wir müssen einen Ausweg aus
diesem Zustand des Wiederkäuens finden.

Martinski: Schwerlich.

Peter: Stimmt, schwerlich, aber es muss sein.

Pupak: Peter hat Recht.Langsam und allmählich werden wir wieder gesund.

Dr. Harth: Ihr werdet gesund.

Peter: (zu Dr. Harth) Beneide uns nicht.Vielleicht wirst auch du genesen.

Dr. Harth: (zweifelnd, doch mit Hoffnung) Mag sein...

Peter: Seit Monaten wühlen wir nur in der Vergangenheit...

Dr. Harth: (unterbricht ihn) Wenn wir eben keine Gegenwart haben...

Pupak: (steht auf) Ich habe...(Er holt seinen Anzug aus dem Schrank). Und sie
erwartet mich um sechs.

Peter: Wir könnten auch in der Zukunft wühlen.

Martinski: Das wäre schon was, darüber liesse sich reden...

Dr. Harth: (ironisch) Vielleicht wünscht ihr euch noch ein Palaver?

Martinski: (munter) Wenn wir uns eben daran gewöhnt haben...halten wir noch eins...(Er
horcht auf die Operettenmusik, und auch ohne
Trommelbegleitung.Doktorchen, stell mal klassische Musik oder Neger-Jazz
ein.(Dr. Harth sucht andere Musik).
Pupak: Aber bitte nicht jetzt.Ihr wisst doch, ich muss weg. (Vom Radio hört man Jazz-
Musik, bis zum Ende des Spieles).

Peter: Bist du bis neun zurück?

Pupak: Ja, und dann können wir uns wieder beraten...Das gestrige Palaver behandelte das
Thema “Woher kommen wir ?” Heute abend wollen wir die Frage “Wohin
gehen wir?” erörtern...Das ist doch jetzt die Hauptsache.(Er zieht sich
sorgfältig an).

Dr. Harth: Das wurde schon von dir wahrgenommen und sogar formuliert. Vielleicht
auch auf eine frappantere Weise ausgedrückt.

Peter: Doktorchen, den alten Griechen fiel es noch leicht, kluge Aussprüche zu
machen.Zu ihrer Zeit waren fast alle gut formulierten Gedanken ganz eigen,
persönlich, modern, noch nie ausgesprochen.Für Pupak ist es viel
schwieriger...Die meisten Weisheiten sind schon von anderen, vor ihm,
gedacht, ja sogar ausgedrückt worden.Lass sie ihn also wiederholen...oder sie
von Neuem schaffen.Zwar das Neuschaffen entsühnt kaum vom Plagiat.

Dr. Harth: So ist es.Deshalb mag ich auch lieber, wenn wir uns jeder Philosophiererei
enthalten.Bei sehr bewussten Menschen wird selbst das Denken meistens zu
Pose...

Pupak: (unterbricht ihn, nüchtern) Ihr schweift zu weit vom Subjekt ab.Also, halten wir
abends Palaver, oder nicht ? Das ist die Frage.

Martinski: (mit erhobener Stimme) Halten wir...Halten wir...Unser allabendliches Palaver


gib uns heute...

Pupak: (scharf) Mund halten.Das Thema: “Wohin gehen wir ?“

Dr. Harth: Sich einen Weg suchen... sich entscheiden...es schaudert mich.

Peter: Du brauchst vielleicht keinen Weg mehr zu suchen...Vielleicht ist deiner schon
bestimmt.
Dr. Harth: Fühlt ihr nicht? Das Entscheiden macht alt...Jede getroffene Wahl schliesst
tausende von Möglichkeiten aus, jede Entscheidung verengt einem
tausendfach die Perspektive.

Pupak: Schon möglich.Aber wenn der Mensch weitergehen will, muss er sich für einen,
der sich vor ihm öffnenden Wege entscheiden.Selbst wählen...nicht
annehmen, was andere für ihn bestimmten...

Peter: Pupak hat Recht.Die tausenden von Möglichkeiten müssen einer einzigen
Verwirklichung geopfert werden...Das Leben ist weder Grübeln noch
Literatur.Es ist Handlung.

Dr. Harth: Vielleciht für die Zwanzigjährigen.Mein Leben ist eher Literatur.Ich stimme
für die Möglichkeiten...Ruhen, warten, aufpassen, horchen...Zu wissen, dass
alle Wege offen stehen...

Martinski: Oder dass, ohne dein Wollen, sie dir alle versperrt worden sind. Ich bin für’s
Palaver.

Peter: Ich ebenso.

Pupak: Ich auch. (Inzwischen ist er zum Fortgehen bereit, er kämmt sich).

Dr. Harth: Also, schön.Dann eben Palaver.

Martinski: (erhebt sich; er taumelt nicht mehr.Mit feierlichen Gebärden und feierlichem
Tonfall) So seht ihr mich also vortanzen, vortanzen, dass ich anmelde...das
heisst, dass ich euch verkündige: Heute abend halten wir Palaver.Ich komme
um neun Uhr...(Er tanzt feierlich zur Tür, dann wendet er sich plötzlich und
tanzt zurück zu seinem Bett)...eigentlich...(er stammelt) jetzt wohne ich
hier...ich hatte es vergessen...(Er setzt sich, ins Leere starrend, auf den
Bettrand des freien Bettes)

XXX

Das Stück kann auch hier beendet werden :Martinski setzt sich auf den Rand von seinem,

Das heisst Ludwigs Bett.Ein Augenblick Stille, dann fällt der Vorhang.
Pupak: Um neun bin ich wieder da.

Martinski: (springt auf) Halt, Pupak.Warte mal.

Pupak: Was willst du denn?Du weisst, dass ich mich beeile.

Martinski: (aufgeregt, lebhaft) Ich beeile mich auch...Ich gehe mit.

Dr. Harth: (spöttisch) Zum Stelldichein mit Isabella? Im Schlafanzug?

Martinski: Du sagst es, du Leichenkandidat, zum Stelldichein – aber nicht mit Isabella
und auch nicht im Schlafanzug.Ich steige mal zu meiner alten Behausung und
ziehe mich um. (Er geht zur Tür)

Pupak: Das dauert mir zu lange.Lebewohl!

Martinski: Dann...(er zögert, nachdenklich) ziehe ich mir Ludwigs grauen Anzug an. Wir
haben dieselbe Gestalt...

Dr. Harth: (unterbricht ihn) Asche hat keine Gestalt mehr.

Pupak: (ungeduldig, mit der Hand auf der Türklinke) Dann aber schnell.(Er geht zum
Schrank, sucht etwas). Ich helfe dir.(Er holt Ludwigs Anzug heraus und wirft
ihn Martinski zu.) Fang ihn auf. Hier auch noch ein Hemd und eine Krawatte
vom Doktor...seine sind schöner.(Er wirft ihm auch ein Hemd und eine
Krawatte zu, Martinski fängt sie auf).

Martinski: Danke schön, Pupak. Ich bin sofort fertig.(Er zieht sich hastig an).

Dr. Harth: (verärgert) Du kannst dich bei Pupak für Ludwigs Anzug bedanken, aber
Hemd und Krawatte gehören noch mir...Oder habt ihr mich auch schon
beerdigt?

Peter: Doktorchen, du kränkst dich umsonst.Siehst du denn nicht, dass er seinen Kopf
ganz verloren hat? Vor einpaar Stunden wollte er sterben...und jetzt ...rennt er
dem Leben nach...
Martinski: So ist es, Doktor.Stimmt genau was Peter sagt.Ich habe meinen Kopf
verloren...entschuldige mich bitte.Ich danke dir selbstverständlich auch...Die
Sehnsucht nach frischer Luft, nach die Grüne (?)...nach gesunden Menschen,
hat mich übermannt...ich will Mädchen lachen hören.

Dr. Harth: Kann denn Frau Müller-Hagenkamp nicht lachen? Wegen so einer Kleinigkeit
machst du dich auf und davon?

Martinski: Ich brauche helles Lachen, in dem tausend Glöckchen klingen...

Peter: Doktorchen, Frau Müller-Hagenkamp gehört zur Vergangenheit.

Martinski: Ja, zur Vergangenheit...wie lieb ich sie auch hatte.Isabella und ihre
Freundinnen sind unsere Generation, sie sind die Gegenwart und ...

Dr. Harth: (ironisch) ...die Zukunft...und, noch dazu, haben sie viel reizendere Hüften.

Martinski: (beendet seinen unterbrochenen Satz)...und jetzt will ich lieben, nicht geliebt
werden...(Zu Pupak). Jetzt will ich derjenige sein, der seine Wahl trifft.

Dr. Harth: Proust sagt...

Pupak: (fällt ihm ins Wort) Proust sagt nichts mehr...Und auch du nicht...(Er nimmt
Martinski am Arm, und zerrt ihn zur Tür).Los !Oder du bleibst hier und kaust
die Literatur wieder.Aber dann verlange nicht mehr von mir, dass ich noch
warte !

Martinski: (von der Türschwelle) Adieu, Doktorchen.Um neun sind wir wieder da !

Dr. Harth: (nimmt einen Band von Shakespeare’s Werken von seinem Nachttisch und
bereitet sich zum Lesen vor) Geht ihr nur grad’ in ‘s Teufels Namen!

(Pupak und Martinski gehen weg, die Tür wird dröhnend zugeschlagen).

V O R H A N G.

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