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Nr. 47 DIE ZEIT 2. Fassung S.

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13. November 2008 DIE ZEIT Nr. 47 WISSEN 57

Gravitation sei Dank:


DER MOND hinter der
Schweizer Jungfrau

Foto: P. Wegner/Arco Digital Images


W Ohne
as wäre, wenn wir den Mond nicht Samenmilch zu befruchten. Der Mensch ver- Computer: Wäre die Erdachse um 60 oder mehr Drehachse im Laufe der Jahrmillionen zwischen
hätten? Was wäre die Erde ohne wertet die Mondkraft durch den Bau von Ge- Grad geneigt, versänken die tropischen Zonen in 0 und 60 Grad schwanken lassen – im Gegensatz
ihren Trabanten? Auf den ersten zeitenkraftwerken. Schnee und Eis, die Polarregionen aber würden zur Erde wird der Nachbarplanet nur von zwei
Blick eine kuriose Frage. Doch Aber nicht nur das Wasser wird vom Mond sich auf bis zu 80 Grad Celsius aufheizen. In kleinen Monden umrundet.
beim zweiten Nachdenken zeigt beeinflusst, auch über das scheinbar stabile Mitteleuropa ginge die Sonne im Sommer bei Wir haben also dem Mond nicht weniger als
sich, wieviele Aspekte unseres Lebens von der Exis- Festland wandert ein Gezeitenbuckel von bis Temperaturen von 60 Grad während mehrerer unsere Existenz zu verdanken. Die lunare Le-
tenz des Mondes berührt sind.
Zunächst wäre unsere Mythologie um einiges
ärmer. Sein wechselndes Gesicht hat den Mond
zum Sinnbild für Werden und Vergehen, für Le-
ben und Tod gemacht. In der Mythologie trägt die
ägyptische Göttin Isis die Mondsichel als Frucht-
zu 40 Zentimetern Höhe. Diese mondbedingte
Verformung der Erdkruste führt dazu, dass es
bei Voll- und Neumond statistisch gesehen
häufiger zu Erdbeben kommt als sonst.
Dennoch könnte man fragen, ob das Fehlen
des Mondes für uns ein ernsthafter Verlust
ihn
Wenn die Erde den Mond nicht hätte,
Monate nicht unter. Im Winter herrschte hin-
gegen monatelang sonnenlose Nacht bei frosti-
gen minus 50 Grad. Ein Klima, das höher ent-
wickeltes Leben unmöglich gemacht hätte.
Der Mars hat ein solches Klima. Fotos der
Raumsonden Mariner und Viking aus den sieb-
benshilfe ist allerdings nur ein Dienst auf Zeit.
Der Mond entfernt sich laufend weiter von der
Erde. In etwa einer Milliarde Jahre wird sich sei-
ne Anziehungskraft so stark verringert haben,
dass wieder die Kräfte der großen Planeten do-
minieren. Dann wird die Erdachse in derart le-
barkeitssymbol im Haar; die griechische Mond- wäre. Die romantische Bootsfahrt im silbernen ziger Jahren zeigen an seinen Polkappen unregel- bensfeindliche Positionen kippen, dass die
göttin Selene verwaltet Friedhof und Grab. Licht würde entfallen und kein Vollmondbier wäre menschliches Leben mäßige Schichten aus Eis und Wüstensand. Die wärmsten Socken und der beste Sonnenschutz
Auf diese Geschichten könnten wir vielleicht gebraut werden. Aber sonst? nicht möglich VON HERBERT CERUTTI planetaren Störungen haben die Neigung seiner nicht mehr genügen.
verzichten. Aber die Lücke im Himmel hätte wei- Unbestritten wären die Tage kürzer. Der
tere Konsequenzen. Wissenschaftler haben in den Mond hatte für die Erde eine fundamentale Be-
vergangenen Jahrzehnten herausgefunden, wie deutung als kosmischer Bremser. Kurz nach der
wichtig der planetare Begleiter für die Entwick- Entstehung der Erde war der Tag vermutlich
lung der Erde war. Sie kommen zu dem Schluss, nur fünf Stunden lang, der neu gebildete Mond
dass ohne den Mond die Umweltbedingungen ra- raste in nur 20 000 Kilometern Höhe um die
dikal anders wären – ja dass unser Planet vielleicht Erde, die Mondscheibe am Himmel hatte den
sogar so lebensfeindlich wäre, wie der Mars es heu- vierzigfachen Durchmesser der heutigen. Die
te ist. Wahrscheinlich verdanken wir unsere Exis- Kraft auf die Gezeiten bremste die Erdrotation
tenz einem großen kosmischen Zufall. laufend – und beschleunigte den Mond per
Am Anfang war eine Scheibe aus Gas und Drehimpulsübertragung. Seine Umlaufbahn
Staub. Vor 4,6 Milliarden Jahren entstanden da- und damit sein Abstand zur Erde wurde größer,
raus unsere Sonne und die Planeten. In diesem die Gezeitenkraft schwächer. Der Mond er-
frühen Sonnensystem hatte die Gravitation noch reichte sukzessive seinen heutigen Erdabstand
nicht für Ordnung gesorgt – Himmelskörper von 380 000 Kilometern. Noch immer ent-
schwirrten wild umher und schlugen immer wie- fernt er sich jährlich um weitere 3,8 Zentimeter
der auf die jungen Planeten ein. Einer dieser Bro- und verlängert dadurch jedes Jahr den Erden-
cken traf 50 Millionen Jahre nach der Geburt des tag um etwa 20 Mikrosekunden.
Sonnensystems die noch kaum fertige Erde. Er war
von der Größe des Mars, etwa ein Zehntel so In Mitteleuropa würde es
schwer wie die Erde, raste aus dem All heran und im Sommer 60 Grad heiß
schlug in flachem Winkel ein. Der gewaltige Auf-
prall verwandelte die Erdkruste in einen See ge- Na ja, mag man denken. Ein mondloser Fünf-
schmolzener Lava und jagte eine Fontäne aus Gas stundentag wäre vielleicht etwas hektisch, aber
und flüssiger Materie Zehntausende von Kilome- kein größeres Problem. Die Computersimula-
tern in den Weltraum. Dort kreisten die Trümmer tionen des französischen Astronomen Jacques
der Katastrophe um die Erde und verdichteten Laskar ergeben jedoch für eine mondlose Erde
sich schließlich, von der Schwerkraft aufeinander ein geradezu vernichtendes Bild. Laskar zeigte
zugetrieben, zu einem neuen Himmelskörper – 1993, dass die Kräfte aus dem All die Erdachse
dem Mond. im Laufe der Jahrmillionen auf chaotische Wei-
Hätte der Brocken auf seinem Flug die Erde se taumeln ließen, würde der Mond sie nicht
knapp verfehlt, nur leicht angekratzt oder sie mit- stabilisieren. Die Drehachse der Erde hat heute
ten in den Bauch getroffen – der Mond wäre ent- eine Neigung von 23,5 Grad zur Ekliptik, ihrer
weder gar nicht oder in einer ganz anderen Größe Bahnebene im Lauf um die Sonne. Dieser
entstanden. So wie wir ihn kennen, verdanken wir Winkel beschert uns die Jahreszeiten, wie wir
den Mond diesem zufälligen Aufprallwinkel. sie kennen: Zeigt die Nordhalbkugel stärker in
Richtung Sonne, kommt dort mehr Licht und
Der Mond verlängert den Erdentag Wärme an als auf der Südhalbkugel; im Nor-
jährlich um 20 Mikrosekunden den herrscht dann Sommer, im Süden Winter.
Wandert die Erde so weit um die Sonne, dass
An den Einfluss des Mondes auf unser Leben glau- die Südhalbkugel dem Licht stärker zugeneigt
ben viele. Dabei sind die meisten dieser vermute- ist, wechseln die Jahreszeiten.
ten Einflüsse reine Mythen: Weder bestimmt der Die Drehung um ihre Achse lässt die Erde
Mond den weiblichen Menstruationszyklus, noch durch die Fliehkraft an den Polen etwas flacher
sorgt der Vollmond für vermehrte Autounfälle, und am Äquator leicht dicker werden. An die-
epileptische Anfälle, Gewaltverbrechen und Selbst- sem Äquatorwulst wirken die Anziehungskräfte
morde. Zahlreiche Studien haben einen statisti- der Sonne und der Planeten mit einer zusätz-
schen Zusammenhang widerlegt. Der Vollmond lichen Komponente, was die Erdachse wie bei
ist weder ungünstig für chirurgische Eingriffe, einem Spielzeugkreisel im Laufe der Jahre wa-
noch lässt er Geburtenzahlen steigen. ckeln lässt. Da die anderen Planeten nicht in
der gleichen Ebene um die Sonne kreisen, er-
ANZEIGE geben sich wechselnde Winkel und Abstände
zwischen ihnen und der Erde. Diese rufen eine
weitere Störung am Äquatorwulst hervor und
rütteln damit zusätzlich an der Drehachse.
Laskar berechnete, dass aufgrund dieser
Kräfte die Neigung der Erdachse eigentlich
zwischen 0 und 85 Grad schwanken müsste.
Doch das tut sie nicht. Die Achse wackelt um
weniger als drei Grad, ihre Neigung pendelt im
Laufe von jeweils 41 000 Jahren regelmäßig
Unbestritten dagegen ist, dass die Gravitation zwischen 22 und 25 Grad – und diese Stabilität
des Mondes auf die Meere wirkt, sichtbar durch verdankt sie dem großen und relativ nahen
Ebbe und Flut. 21 Meter maximaler Tidenhub an Mond. Er wirkt beruhigend auf den Äquator-
der kanadischen Atlantikküste zeigen die Dimen- wulst und zähmt dadurch den Einfluss der gro-
sionen seiner Kraft. Austern öffnen ihre Schalen ßen Planeten Saturn und Jupiter.
bei Flut und schließen sie bei Ebbe – sogar wenn Welche Bedeutung diese Balance hat, de-
sie fern der Meere im Aquarium gehalten werden. monstriert die Arbeit des serbischen Mathema-
Sie folgen dem Gezeitentakt der jeweiligen geogra- tikers Milutin Milanković. Der bewies im Jahr
fischen Länge. Der Palolowurm pflanzt sich in den 1930, dass selbst die kleine Variation der Ach-
Korallenriffen von Samoa im Frühling genau am senneigung wesentlich zum Entstehen der Eis-
Tag des abnehmenden Halbmondes fort. In Kali- zeiten beigetragen hat. Wie das Klima der Erde
fornien nutzt der Grunion, ein Ährenfisch, die ohne den Mond aussehen würde, simulierten
Springflut bei Voll- und bei Neumond, um auf die amerikanischen Astronomen Darren Wil-
dem feuchten Sandstrand Eier zu legen und mit liams und James Kasting in den Neunzigern im

Nr. 47 DIE ZEIT 2. Fassung S.57 SCHWARZ cyan magenta yellow

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