You are on page 1of 33

Tilman Anuschek (tilman@anuschek.

net) und Hans-Joachim Seel

Aktuelle Rechtsprechung für


Betriebs- und Personalräte (Juni
2010)
Inhalt
I. Arbeitsvertragsrecht........................................................................................2
1. Gleichbehandlung bei Entgelterhöhung - Überkompensierung eines
Entgeltverzichts – Maßregelungsverbot...........................................................2
2. Arbeitszeitkonto - Aufbau und Abbau des Zeitguthabens -
Freizeitausgleich – Bereitschaftsdienst............................................................4
3. Unwirksame Vertragsabrede über die Pflicht zur Verschwiegenheit über
das eigene Einkommen....................................................................................6
4. Lohnzahlungsklage bei Schwarzgeldabrede..............................................7
II. Arbeitsschutzrecht...........................................................................................9
1. Hierarchische Eingliederung der Fachkraft für Arbeitssicherheit nach ASiG
9
III. Kündigung und andere Bestandsschutzstreitigkeiten.................................10
1. Kündigung wegen mangelnder Kenntnisse der deutschen Sprache........10
2. Keine Kündigung wegen eines bereits abgemahnten Vorfalls.................13
3. Europarechtswidrigkeit von § 622 Absatz 2 Satz 2 BGB..........................15
4. Auflösungsantrag des Arbeitgebers im Kündigungsschutzprozess
(„ungesetzliche Versuche einen Betriebsrat zu gründen“)............................16
5. Tätigkeitsaufnahme und Schriftform der Befristungsabrede...................18
IV. Betriebsverfassungsrecht...........................................................................19
1. Betriebsvereinbarung - Nachwirkung.......................................................19
2. Errichtung einer betrieblichen Beschwerdestelle nach § 13 AGG............20
3. Mitbestimmung bei der Beschäftigung einer Leiharbeitnehmerin nach §
99 BetrVG –Verstoß gegen das „equal-pay-Gebot“........................................22
V. Arbeitskampf und Tarifvertragsrecht.............................................................24
1. Ende der zwingenden Wirkung eines Tarifvertrages nach Austritt des
Arbeitgebers aus dem Arbeitgeberverband...................................................24
2. Arbeitskampf in Form von „Flashmob-Aktionen“.....................................25

Anuschek/Seel, Aktuelle Rechtsprechung für Betriebs- und Personalräte (Juni 2010) Seite 1 von 33
3. Grenzen der Vereinbarungsmacht der Betriebspartner...........................27
Grenzen der Vereinbarungsmacht der Betriebspartner

I. Arbeitsvertragsrecht

1. Gleichbehandlung bei Entgelterhöhung - Überkompensierung


eines Entgeltverzichts – Maßregelungsverbot
Die Entscheidung: BAG 17.03.2010 – 5 AZR 168/09 – nicht amtlich
veröffentlicht

Sachverhalt: Die Parteien streiten über einen Anspruch der klagenden


Arbeitnehmerin auf Gehaltserhöhung unter dem Gesichtspunkt der
Gleichbehandlung.

Die 1950 geborene Klägerin, Mitglied der Gewerkschaft ver.di, war vom 1.
Oktober 1990 bis zum 31. Januar 2008 bei der Beklagten, die ein
Einzelhandelsunternehmen betreibt, im Verkauf beschäftigt. Die Beklagte war bis
zum 31. Januar 2003 kraft Verbandsmitgliedschaft tarifgebunden und vergütete
die Klägerin bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses nach der VergGr. G II/7 des im
Jahre 2003 geltenden Entgelttarifvertrags. Die Klägerin arbeitete in Teilzeit 18
Wochenstunden und erhielt - unter Zugrundelegung einer wöchentlichen
Arbeitszeit von 37,5 Stunden bei Vollzeitbeschäftigten - ein Grundgehalt von
916,38 Euro brutto. Das entspricht bei 78 Monatsstunden einer
Stundenvergütung von 11,75 Euro brutto. Ferner erhielt die Klägerin
entsprechend der tariflichen Regelung Spätöffnungszuschläge.

Mit Mitarbeitern, die nach dem Verbandsaustritt eingestellt wurden, vereinbarte


die Beklagte eine Arbeitszeit von 40 Wochenstunden und eine Vergütung, die
geringer war als diejenige, die vor dem Verbandsaustritt eingestellte Mitarbeiter
erhielten. Die Beklagte hat in der Belegschaft mehrfach dafür geworben, dass
auch die Altarbeitnehmer die Verträge auf 40 Stunden umstellen und sie dabei
auch auf die Spätöffnungszuschläge verzichten sollten. Viele Arbeitnehmer sind
dem gefolgt, die Klägerin nicht.

Ab 1. September 2006 erhielten die Mitarbeiter, die arbeitsvertraglich eine


Arbeitszeit von 40 Wochenstunden vereinbart hatten, einen Personalrabatt auch
auf reduzierte Ware. Im Januar 2007 gewährte die Beklagte Mitarbeitern mit
einem Arbeitsvertrag auf der Basis einer 40-Stunden-Woche einen zusätzlichen
Personalkauf bis zu einem maximalen Verkaufswert von 400,00 Euro für
Vollzeitbeschäftigte und anteilig für Teilzeitbeschäftigte. Mit Wirkung ab Juli 2007
erhöhte die Beklagte die Grundgehälter der Beschäftigten mit Arbeitsverträgen
auf der Basis einer 40-Stunden-Woche ohne Anspruch auf Spätöffnungszuschläge
um 3 %.

Anuschek/Seel, Aktuelle Rechtsprechung für Betriebs- und Personalräte (Juni 2010) Seite 2 von 33
Mit ihrer Klage begehrt die Klägerin eine Gehaltserhöhung von 3 % für den
Zeitraum Juli 2007 bis Januar 2008 in Höhe von rund 200 Euro brutto. Sie hat
geltend gemacht, die Beklagte verstoße gegen den arbeitsrechtlichen
Gleichbehandlungsgrundsatz und nehme eine unzulässige Maßregelung vor.
Zumindest unter Einbeziehung der Personalrabatte seien Mitarbeiter mit einer
40-Stunden-Woche bessergestellt, ihre „Nachteile“ würden überkompensiert. –
Die Klage hatte vor dem Bundesarbeitsgericht keinen Erfolg.

Leitsätze:1. Hat eine Gruppe von Arbeitnehmern einer Verlängerung der


Arbeitszeit unter Verzicht auf einen vollen Entgeltausgleich zugestimmt, kann der
Arbeitgeber den Arbeitnehmern dieser Gruppe Entgelterhöhungen bis zur Höhe
des Verzichts gewähren, ohne den anderen Arbeitnehmergruppen gleichartige
Vorteile zukommen zu lassen.

2. Bei der Prüfung, ob der Arbeitgeber einen vorangegangenen Entgeltverzicht


einer Arbeitnehmergruppe entgegen dem arbeitsrechtlichen
Gleichbehandlungsgrundsatz überkompensiert, ist auf die jeweilige
Stundenvergütung abzustellen, wenn der Verzicht der Arbeitnehmergruppe zu
einer unterschiedlichen Arbeitszeit zwischen den Arbeitnehmergruppen geführt
hat.

3. Wird der Entgeltverzicht einer Arbeitnehmergruppe erst durch die Gewährung


eines zusätzlichen geldwerten Vorteils überkompensiert, der nicht im
Zusammenhang mit unterschiedlichen Vergütungssystemen im Betrieb steht,
haben die nicht begünstigten Arbeitnehmer nur einen Anspruch auf den
geldwerten Vorteil (hier ein Personalrabatt).

Textauszug: „[14] 1. Der Gleichbehandlungsgrundsatz gebietet dem


Arbeitgeber, seine Arbeitnehmer oder Gruppen von Arbeitnehmern, die sich in
vergleichbarer Lage befinden, bei Anwendung einer selbst gesetzten Regel gleich
zu behandeln. Damit verbietet der Gleichbehandlungsgrundsatz nicht nur die
willkürliche Schlechterstellung einzelner Arbeitnehmer innerhalb der Gruppe,
sondern auch eine sachfremde Gruppenbildung. Im Bereich der Arbeitsvergütung
ist er trotz des Vorrangs der Vertragsfreiheit anwendbar, wenn Arbeitsentgelte
durch eine betriebliche Einheitsregelung generell angehoben werden und der
Arbeitgeber die Leistungen nach einem bestimmten erkennbaren und
generalisierenden Prinzip gewährt, indem er bestimmte Voraussetzungen oder
Zwecke festlegt (Senat 15. Juli 2009 - 5 AZR 486/08 - Rn. 11, EzA BGB 2002 § 242
Gleichbehandlung Nr. 20; 14. März 2007 - 5 AZR 420/06 - Rn. 19, BAGE 122, 1;
31. August 2005 - 5 AZR 517/04 - BAGE 115, 367).

[15] Dem Arbeitgeber ist es verwehrt, einzelne Arbeitnehmer oder Gruppen von
ihnen aus unsachlichen Gründen von einer Erhöhung der Arbeitsentgelte
auszuschließen. Eine sachfremde Benachteiligung liegt nicht vor, wenn sich nach
dem Leistungszweck Gründe ergeben, die es unter Berücksichtigung aller
Umstände rechtfertigen, diesen Arbeitnehmern die den anderen gewährte
Leistung vorzuenthalten. Die Zweckbestimmung ergibt sich vorrangig aus den
tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen, von deren Vorliegen und

Anuschek/Seel, Aktuelle Rechtsprechung für Betriebs- und Personalräte (Juni 2010) Seite 3 von 33
Erfüllung die Leistung abhängig gemacht wird (Senat 15. Juli 2009 - 5 AZR 486/08
- Rn. 12, EzA BGB 2002 § 242 Gleichbehandlung Nr. 20; BAG 1. April 2009 - 10
AZR 353/08 - Rn. 14, DB 2009, 2494; 28. März 2007 - 10 AZR 261/06 - Rn. 14, AP
BGB § 611 Gratifikation Nr. 265 = EzA BGB 2002 § 611 Gratifikation, Prämie Nr.
21).

[16] Die Differenzierung zwischen der begünstigten Gruppe und den


benachteiligten Arbeitnehmern ist dann sachfremd, wenn es für die
unterschiedliche Behandlung keine billigenswerten Gründe gibt. Die Gründe
müssen auf vernünftigen, einleuchtenden Erwägungen beruhen und dürfen nicht
gegen höherrangige Wertentscheidungen verstoßen. Die Gruppenbildung ist nur
dann gerechtfertigt, wenn die Unterscheidung einem legitimen Zweck dient und
zur Erreichung dieses Zwecks erforderlich und angemessen ist. Die
unterschiedliche Leistungsgewährung muss stets im Sinne materieller
Gerechtigkeit sachgerecht sein (Senat 15. Juli 2009 - 5 AZR 486/08 - Rn. 13, EzA
BGB 2002 § 242 Gleichbehandlung Nr. 20; 14. März 2007 - 5 AZR 420/06 - Rn. 26,
BAGE 122, 1).

[17] Steht eine Gruppenbildung fest, hat der Arbeitgeber die Gründe für die
Differenzierung offenzulegen und so substantiiert darzutun, dass die Beurteilung
möglich ist, ob die Gruppenbildung sachlichen Kriterien entspricht. Liegt ein
Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz vor, ist der Arbeitgeber
verpflichtet, die Regel auf alle Arbeitnehmer anzuwenden und diese
entsprechend zu begünstigen. Der benachteiligte Arbeitnehmer hat Anspruch auf
die vorenthaltene Leistung (Senat 15. Juli 2009 - 5 AZR 486/08 - Rn. 14, EzA BGB
2002 § 242 Gleichbehandlung Nr. 20; BAG 14. August 2007 - 9 AZR 943/06 -
BAGE 123, 358).“

2. Arbeitszeitkonto - Aufbau und Abbau des Zeitguthabens -


Freizeitausgleich – Bereitschaftsdienst
Die Entscheidung: BAG 17.03.2010 – 5 AZR 296/09 – DB 2010, 1130

Sachverhalt: Die Parteien streiten über die Abgeltung eines Arbeitszeitkontos


im Rahmen der Schlussabrechnung des beendeten Arbeitsverhältnisses.

Die Beklagte ist ein Flugsicherungsunternehmen. Der klagende Arbeitnehmer war


bei ihr bis zum 31. Januar 2007 als Fluglotse beschäftigt. Auf das
Arbeitsverhältnis der Parteien fanden die Firmentarifverträge für die bei der
Beklagten beschäftigten Mitarbeiter Anwendung.

Nach Erstellung eines arbeitswissenschaftlichen Gutachtens durch Prof. Kastner


schlossen die Tarifvertragsparteien am 28. April 2000 eine „Rahmenvereinbarung
Belastung und Beanspruchung in den Flugsicherungsdiensten“, in der sie
verabredeten, die Empfehlungen dieses Gutachtens umzusetzen. Das erfolgte im
5. Änderungstarifvertrag zum Manteltarifvertrag. Die bundesdeutschen Flughäfen
wurden sieben (Belastungs-) Kategorien zugeordnet, nach denen sich die Dauer

Anuschek/Seel, Aktuelle Rechtsprechung für Betriebs- und Personalräte (Juni 2010) Seite 4 von 33
der wöchentlichen Arbeitszeit der Fluglotsen bestimmte. Außerdem erhielten die
Fluglotsen innerhalb der Arbeitszeit eine sog. Regenerationspause, deren Dauer
sich wiederum nach der Kategorie ihres Einsatzflughafens richtete. Während der
Regenerationspausen mussten sich die Fluglotsen im Zugriffsbereich der
Beklagten aufhalten und auf Anforderung ihre Arbeit wieder aufnehmen. Für den
klagenden Arbeitnehmer ergab sich daraus eine wöchentliche Bruttoarbeitszeit
von 33,5 Stunden, bestehend aus einer Nettoarbeitszeit von 26,5 und
Regenerationszeiten von sieben Stunden.

Zwischen den Tarifvertragsparteien bestand allerdings Einvernehmen, dass eine


Umsetzung der neuen Arbeitszeitregelungen wegen Personalmangels nicht sofort
durchführbar war und daher erst zum 31. Dezember 2003 erfolgen sollte.
Deshalb vereinbarten sie eine Übergangsregelung, nach der die Nettoarbeitszeit,
die über die tariflich vorgesehene Nettoarbeitszeit (Bruttoarbeitszeit abzüglich
Regenerationspause) hinaus geleistet wird, im Jahre 2000 zu 25 Prozent auf
einem Langzeitkonto (dem „Kastner-Konto“) gutgeschrieben wird, im Jahre 2001
zu 50 Prozent, im Jahre 2002 zu 75 Prozent und im Jahre 2003 zu 100 Prozent der
jeweiligen Differenz der Nettoarbeitszeit.

In einer Betriebsvereinbarung vom 22. November 2000 verabredeten die


Beklagte und ihr Gesamtbetriebsrat zu den Zeitgutschriften für die
Übergangsphase ergänzend unter anderem, dass der Abbau des „Kastner-
Kontos“ auf Basis der Nettoarbeitszeit erfolgen soll. Um eine Woche Freizeit zu
erhalten sollte der Kläger also entsprechend seiner Nettoarbeitszeit nur 26,5
Stunden des Kontos einsetzen müssen.

Beim Ausscheiden des Arbeitnehmers betrug sein Guthaben auf dem „Kastner-
Zeitkonto“ noch 190,5 Stunden. Zu dessen Abbau erhielt der Kläger 5,68 Wochen
Freizeitausgleich, den die Beklagte auf der Basis der wöchentlichen
Bruttoarbeitszeit (33,5 Stunden) ermittelte.

Mit seiner Klage hat der Arbeitnehmer die Abgeltung seiner Ansicht nach noch
offener Stunden aus dem Kastner-Zeitkonto geltend gemacht, weil beim Abbau
seines Arbeitszeitkontos nur die Nettoarbeitszeit (26,5 Stunden) zu Grunde gelegt
werden dürfe. Er errechnet sich daraus einen Zahlbetrag in Höhe von rund 2.500
Euro. – Vor dem BAG hat der Arbeitnehmer verloren.

Begründung des BAG: Das BAG hat sich zunächst allgemeiner mit dem Führen
von Arbeitszeitkonten beschäftigt und hat dazu festgestellt, dass die
Aufbuchungen auf ein Arbeitszeitkonto und die Abbuchungen aus dem Konto
nicht notwendig nach den gleichen Regeln erfolgen müssten; es sei vielmehr eine
Frage der Vereinbarung, wie gebucht werde.

Auf die ergänzende Betriebsvereinbarung zwischen dem Gesamtbetriebsrat und


der Arbeitgeberin, die ja in der Tat einen Abbau des Stundenkontos auf Basis der
Nettoarbeitszeit vorsieht, könne sich der Kläger nicht berufen, denn die
Betriebsvereinbarung sei insoweit wegen Verstoß gegen § 77 Absatz 3 BetrVG
unwirksam.

Anuschek/Seel, Aktuelle Rechtsprechung für Betriebs- und Personalräte (Juni 2010) Seite 5 von 33
Textauszug: „[15] I. Der von den Vorinstanzen ohne nähere Begründung
angenommene Grundsatz, ein Arbeitszeitkonto sei spiegelbildlich zu seinem
Aufbau abzubauen, besteht nicht. Ein Arbeitszeitkonto drückt im Allgemeinen
aus, in welchem Umfang der Arbeitnehmer Arbeit geleistet hat und deshalb
Vergütung beanspruchen kann bzw. in welchem Umfang er noch Arbeitsleistung
für die vereinbarte Vergütung erbringen muss (Senat 11. Februar 2009 - 5 AZR
341/08 - Rn. 11, AP TVG § 1 Tarifverträge: Lufthansa Nr. 44 = EzA TVG § 4
Luftfahrt Nr. 17). Dabei können Arbeitsleistungen nach besonderen Regelungen
höher (zB Mehrarbeit, Feiertagsarbeit) oder niedriger (zB Bereitschaftsdienst)
bewertet werden, als es ihrem zeitlichen Einsatz entspricht (Senat 19. März 2008
- 5 AZR 328/07 - Rn. 10, AP BGB § 611 Feiertagsvergütung Nr. 1). Die
Zeitgutschrift auf einem Arbeitszeitkonto ist lediglich eine abstrakte
Recheneinheit, die für sich gesehen keinen Aufschluss darüber gibt, wie sie
erarbeitet wurde. Deshalb kommt es für den Abbau eines Arbeitszeitkontos nur
noch auf die Höhe des Zeitguthabens in der maßgeblichen Recheneinheit an.
Aufbau und Abbau eines Arbeitszeitkontos können jeweils eigenen Regeln folgen.

... [17] Freizeit ist im arbeitsrechtlichen Sinne das Gegenteil von Arbeitszeit.
Freizeitausgleich bedeutet, statt Arbeitszeit ableisten zu müssen, bezahlte
Freizeit zu erhalten. Der Freizeitausgleich erfolgt durch Reduzierung der
Sollarbeitszeit (Senat 11. Februar 2009 - 5 AZR 341/08 - Rn. 13, AP TVG § 1
Tarifverträge: Lufthansa Nr. 44 = EzA TVG § 4 Luftfahrt Nr. 17). Der Abbau eines
Arbeitszeitkontos durch Freizeitausgleich vollzieht sich deshalb - soweit durch
Arbeitsvertrag, Betriebsvereinbarung oder Tarifvertrag nichts anderes geregelt
ist - dergestalt, dass errechnet wird, wie viel „freier Zeit“ die auf dem
Arbeitszeitkonto angesammelten Stunden entsprechen. Diese ist aufgrund der
vom Arbeitnehmer geschuldeten Arbeitszeit zu ermitteln. Zur Arbeitszeit zählen
nicht nur die Zeit tatsächlich geleisteter Arbeit, sondern auch innerhalb der
Arbeitszeit liegende Bereitschaftszeiten. Denn Bereitschaftsdienst ist Arbeitszeit
(Senat 16. Dezember 2009 - 5 AZR 157/09 - Rn. 9; 15. Juli 2009 - 5 AZR 867/08 -
Rn. 12, ZTR 2010, 35).

[18] Nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts müssen sich die


Fluglotsen während der Regenerationszeiten im Zugriffsbereich des Arbeitgebers
aufhalten und auf dessen Anforderung Arbeitsleistung erbringen. Die
Regenerationszeiten sind deshalb Bereitschaftsdienst und zählen damit zur
Arbeitszeit. Dementsprechend rechnet § 6 der Sonderregelungen FS-Dienste vom
19. November 2004 die Regenerationszeiten auf die Arbeitszeit der Fluglotsen
an.

[19] Bei der Ermittlung, wie viel Freizeit die auf dem Arbeitszeitkonto
angesammelten Stunden entsprechen, ist die die Bereitschaftsdienstzeiten
einschließende Bruttoarbeitszeit zugrunde zu legen. Um zB eine Woche Freizeit
zu erhalten, muss der Kläger nicht nur die Nettoarbeitszeit von 26,5 Stunden
einbringen, sondern - da er ansonsten in dieser Zeit Bereitschaftsdienst leisten
müsste - auch die Regenerationszeiten von wöchentlich sieben Stunden.

Anuschek/Seel, Aktuelle Rechtsprechung für Betriebs- und Personalräte (Juni 2010) Seite 6 von 33
… [22] b) § 5 Abs. 2 der Betriebsvereinbarung vom 22. November 2000 sieht
zwar vor, dass der Abbau der Zeitkonten „auf Basis der Nettoarbeitszeit“ erfolgen
soll. Ob damit gemeint ist, der Abbau der Zeitkonten solle durch Freistellung von
der Nettoarbeitszeit bei Fortzahlung der Vergütung für die Bruttoarbeitszeit
erfolgen, kann ebenso dahingestellt bleiben wie die Frage, ob die
Betriebsvereinbarung nach dem 31. Dezember 2003 überhaupt noch Wirkung
entfalten würde. Denn die Betriebsvereinbarung verstößt gegen § 77 Abs. 3
BetrVG und ist deshalb unwirksam.

[23] Die Dauer der Arbeitszeit unterliegt nicht der erzwingbaren Mitbestimmung
des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 3 BetrVG (BAG 24. Januar 2006 - 1
ABR 6/05 - Rn. 53, BAGE 117, 27; 22. Juli 2003 - 1 ABR 28/02 - zu B II 2 b aa der
Gründe, BAGE 107, 78). Sie könnte deshalb nach § 77 Abs. 3 BetrVG nur
Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein, wenn sie nicht durch Tarifvertrag
geregelt ist oder üblicherweise geregelt wird oder der Tarifvertrag den Abschluss
ergänzender Betriebsvereinbarungen ausdrücklich zuließe. Diese
Voraussetzungen liegen nicht vor. Die Zeitgutschrift für das Kastner-Zeitkonto
und dessen Abbau als Teil der tariflichen Bestimmungen zur Dauer der
Arbeitszeit waren zunächst durch § 1 Nr. 10g 5. ÄndTV und später durch § 13 der
Sonderregelungen FS-Dienste vom 19. November 2004 geregelt. Eine
Öffnungsklausel iSv. § 77 Abs. 3 Satz 2 BetrVG enthielten die tariflichen
Bestimmungen nicht.“

3. Unwirksame Vertragsabrede über die Pflicht zur


Verschwiegenheit über das eigene Einkommen
LAG MV 21.10.2009 – 2 Sa 237/09 – Unwirksame Vertragsabrede über die
Pflicht zur Verschwiegenheit über das eigene Einkommen

Sachverhalt: Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer Abmahnung wegen


Verstoß gegen eine Verschwiegenheitsverpflichtung. In § 4 Nr. 4 des
Arbeitsvertrages heißt es, dass der Arbeitnehmer verpflichtet ist, die Höhe der
Bezüge vertraulich zu behandeln, im Interesse des Betriebsfriedens auch
gegenüber anderen Firmenangehörigen. Der Kläger hat sich – in Zusammenhang
mit einer Entgeltkürzung, die er für nicht gerechtfertigt gehalten hat – mit einem
Kollegen über die Kürzung und damit auch über sein Gehalt unterhalten.
Daraufhin hat er die Abmahnung erhalten.

Leitsatz: Eine Klausel, wonach der Arbeitnehmer verpflichtet ist, über seine
Arbeitsvergütung auch gegenüber Arbeitskollegen Verschwiegenheit zu
bewahren, ist unwirksam, da sie den Arbeitnehmer daran hindert, Verstöße
gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz im Rahmen der Lohngestaltung
gegenüber dem Arbeitgeber erfolgreich geltend zu machen. Darüber hinaus
verstößt sie gegen Art. 9 Abs. 3 GG.

Textauszug: „ .… [18] Die Abmahnung vom 11.03.2009 ist aus der Personalakte
zu entfernen, da sie nicht gerechtfertigt ist. Eine Pflichtverletzung des Klägers
liegt nicht vor. Die Klausel in § 4 Nr. 4 des Anstellungsvertrages, wonach der

Anuschek/Seel, Aktuelle Rechtsprechung für Betriebs- und Personalräte (Juni 2010) Seite 7 von 33
Arbeitnehmer verpflichtet ist, die Höhe der Bezüge vertraulich zu behandeln und
auch gegenüber anderen Firmenangehörigen Stillschweigen darüber zu
bewahren, ist unwirksam. Sie stellt eine unangemessene Benachteiligung des
Arbeitnehmers entgegen den Geboten von Treu und Glauben im Sinne von § 307
BGB dar.

[19] Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (zuletzt:


Urteil vom 15.07.2009, 5 AZR 486/08) ist der Arbeitgeber auch bei der
Lohngestaltung dem Gleichbehandlungsgrundsatz verpflichtet. Die einzige
Möglichkeit für den Arbeitnehmer festzustellen, ob er Ansprüche aus dem
Gleichbehandlungsgrundsatz hinsichtlich seiner Lohnhöhe hat, ist das Gespräch
mit Arbeitskollegen. Ein solches Gespräch ist nur erfolgreich, wenn der
Arbeitnehmer selbst auch bereit ist, über seine eigene Lohngestaltung Auskunft
zu geben. Könnte man ihm derartige Gespräche wirksam verbieten, hätte der
Arbeitnehmer kein erfolgversprechendes Mittel, Ansprüche wegen Verletzung des
Gleichbehandlungsgrundsatzes im Rahmen der Lohngestaltung gerichtlich
geltend zu machen.

[20] Darüber hinaus wird das Verbot auch gegen die Koalitionsfreiheit gemäß Art.
9 Abs. 3 GG verstoßen, da sie auch Mitteilungen über die Lohnhöhe gegenüber
einer Gewerkschaft verbietet, deren Mitglied der betroffene Arbeitnehmer sein
könnte. Sinnvolle Arbeitskämpfe gegen ein Unternehmen wären so nicht möglich,
da die Gewerkschaft die Lohnstruktur nicht in Erfahrung bringen kann.“

Hinweis: Das LAG hat die Revision zugelassen. Es wurde keine Revision
eingelegt.

4. Lohnzahlungsklage bei Schwarzgeldabrede


Die Entscheidung: BAG 17.03.2010 – 5 AZR 301/09 – zur Veröffentlichung
vorgesehen

Sachverhalt: Die Parteien streiten über Vergütung. Die klagende


Arbeitnehmerin war seit August 2003 bei der beklagten Arbeitgeberin, die eine
Spielothek betreibt, beschäftigt. Die Beklagte behandelte die Klägerin steuer- und
sozialversicherungsrechtlich als geringfügig Beschäftigte mit einer monatlichen
Vergütung von 400,00 Euro und führte die Pauschalabgaben auf diesen Lohn ab.
Die Klägerin arbeitete allerdings regelmäßig 165 Stunden monatlich. Die
Arbeitgeberin zahlte ihr daher jeden Monat weitere 900,00 Euro ohne
Lohnabrechnung in bar.

Das Arbeitsverhältnis endete im Streit zum 31. Mai 2006. Die Arbeitgeberin hat
das Entgelt für April und Mai 2006 zunächst nicht gezahlt. Später hat die
Arbeitgeberin der Klägerin für diese beiden Monate einen Bruttolohn in Höhe von
1.300 Euro vergütet und den sich daraus ergebenden Nettobetrag nach
Abführung von Steuern und Beiträgen an die Arbeitnehmerin ausgezahlt.

Anuschek/Seel, Aktuelle Rechtsprechung für Betriebs- und Personalräte (Juni 2010) Seite 8 von 33
Die Arbeitnehmerin meint, sie habe für beide Monate Anspruch auf 1.300 Euro
netto und klagt daher die Differenz zwischen dem tatsächlich ausgezahlten
Entgelt und 1.300 Euro für beide Monate ein.

Die Klage hatte vor dem BAG keinen Erfolg.

Orientierungs- und Leitsatz: 1. Behandeln die Parteien ein reguläres


Arbeitsverhältnis nach außen als geringwertige Beschäftigung im Sinne des § 8
Absatz 1 Nr. 1 SGB 4, um Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zu
hinterziehen, kann aus diesem Verhalten nicht auf den Abschluss einer
Nettolohnvereinbarung geschlossen werden.

2. Die in § 14 Absatz 2 Satz 2 SGB IV geregelte Fiktion einer


Nettoarbeitsentgeltvereinbarung dient ausschließlich der Berechnung der
nachzufordernden Gesamtsozialversicherungsbeiträge und hat keine
arbeitsrechtliche Wirkung.

Textauszug: „Eine Verpflichtung der Beklagten, der Klägerin die Vergütung über
die von ihr anerkannten Bruttobeträge hinaus als Nettobeträge auszuzahlen,
ergibt sich nicht aus den Vereinbarungen der Parteien. Das Landesarbeitsgericht
hat den Sachvortrag der Parteien über die monatliche Zahlung weiterer 900,00
Euro zuzüglich Umsatzprovisionen ohne Abzug von Lohnsteuern und
Sozialversicherungsbeiträgen zutreffend als Schwarzgeldabrede gewertet. Mit
einer Schwarzgeldabrede bezwecken die Arbeitsvertragsparteien, Steuern und
Sozialversicherungsbeiträge zu hinterziehen, nicht jedoch deren Übernahme
durch den Arbeitgeber (vgl. Senat 26. Februar 2003 - 5 AZR 690/01 - zu III 2 der
Gründe mwN, BAGE 105, 187). In einem solchen Fall ist nur die
Schwarzgeldabrede und nicht der Arbeitsvertrag insgesamt nichtig (Senat 24.
März 2004 - 5 AZR 233/03 - zu II 2 b cc (2) der Gründe, EzA BGB 2002 § 134 Nr. 2;
26. Februar 2003 - 5 AZR 690/01 - zu II 4, 5 der Gründe, aaO). Die Parteien des
Rechtsstreits behandelten das Arbeitsverhältnis nach außen als geringfügige
Beschäftigung iSv. § 8 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV und hatten die Absicht, keine weiteren
Lohnsteuern und Sozialversicherungsbeiträge abzuführen. Nach den
Feststellungen des Landesarbeitsgerichts wurde weder eine ausdrückliche
Nettolohnvereinbarung getroffen, noch hat die Beklagte durch ihr gesetzwidriges
Verhalten eine auf Begründung einer Nettolohnabrede gerichtete
Willenserklärung abgegeben, die die Klägerin hätte annehmen können. …

2. Eine Nettolohnabrede folgt auch nicht aus § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IV. Danach
gilt ein Nettoarbeitsentgelt als vereinbart, wenn bei illegalen
Beschäftigungsverhältnissen Steuern und Sozialversicherungsbeiträge nicht
gezahlt worden sind. Der Anwendungsbereich dieser Vorschrift beschränkt sich
auf das Sozialversicherungsrecht und erstreckt sich nicht auf das
bürgerlichrechtliche Rechtsverhältnis der Arbeitsvertragsparteien.“

Ähnliche Entscheidung: LAG Mecklenburg-Vorpommern 25.11.2008 – 5 Sa


174/08 – mit folgendem Textauszug: „Ein Arbeitgeber, der in Erfüllung einer
Schwarzgeldabrede Zahlungen an einen Arbeitnehmer leistet, ohne die

Anuschek/Seel, Aktuelle Rechtsprechung für Betriebs- und Personalräte (Juni 2010) Seite 9 von 33
Sozialversicherungsbeiträge abzuziehen und abzuführen, verwirklicht den
Tatbestand des § 266 a Abs. 1 StGB. Dadurch werden Beiträge des
Arbeitnehmers zur Sozialversicherung und zur Bundesagentur für Arbeit
vorenthalten. Darüber hinaus begehen Arbeitnehmer und Arbeitgeber bei
Abwicklung einer Schwarzgeldabrede einen Beitragsbetrug nach § 263 Abs. 1
StGB zu Lasten der Sozialversicherungsträger (vgl. BGH 25. Januar 1984 - 3 StR
278/83 - BGHSt 32, 236, 240); denn die Träger der Sozialversicherung werden
durch die abgegebene Erklärung getäuscht und unterlassen deswegen die
Einforderung der tatsächlich geschuldeten Beiträge, wodurch der
Versichertengemeinschaft ein Vermögensschaden entsteht. Zudem wird der
Tatbestand des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO verwirklicht, indem über steuerlich
erhebliche Tatsachen, nämlich die Höhe des Einkommens, falsche Angaben
gemacht und Steuern verkürzt werden. Schließlich verstoßen die Parteien gegen
steuer- und sozialversicherungsrechtliche Meldepflichten, insbesondere § 41 a
Abs. 1, § 41 b Abs. 1 EStG und § 28 a SGB IV (so Bundesarbeitsgericht 26.02.2003
- 5 AZR 690/01 - BAGE 105, 187 = AP Nr. 24 zu § 134 BGB = DB 2003, 1581).“

II. Arbeitsschutzrecht

1. Hierarchische Eingliederung der Fachkraft für Arbeitssicherheit


nach ASiG
Die Entscheidung: BAG 15.12.2009 – 9 AZR 769/08 – DB 2010, 791 = NZA
2010, 506

Sachverhalt: Die Parteien streiten über die organisatorische und disziplinarische


Einordnung der als Sicherheitsingenieurin (Fachkraft für Arbeitssicherheit)
beschäftigten klagenden Arbeitnehmerin. Die seit 1. März 2000 bei der Beklagten
beschäftigte Klägerin übt seit dem 1. Juli 2006 kraft entsprechender Bestellung
als Sicherheitsingenieurin die Funktion der Fachkraft für Arbeitssicherheit bei der
beklagten Landeshauptstadt (Potsdam) aus.

Seit 1999 war aufgrund Verfügung des damaligen Oberbürgermeisters der


arbeitssicherheitstechnische Dienst bei der Beklagten als Stabsstelle
organisatorisch unmittelbar dem Oberbürgermeister unterstellt. Im Rahmen einer
Strukturreform im Jahre 2003 ist dieser dem Geschäftsbereich 1 „Zentrale
Steuerung und Service“ zugeordnet worden, der vom Ersten Beigeordneten
geleitet wird. Innerhalb des Geschäftsbereichs erfolgte die Zuordnung zum
„Servicebereich Verwaltungsmanagement“.

Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, die Funktion des Sicherheitsingenieurs
gem. § 8 Abs. 2 des Gesetzes über Betriebsärzte, Sicherheitsingenieure und
andere Fachkräfte für Arbeitssicherheit (ASiG) sei fachlich und disziplinarisch
unmittelbar dem Oberbürgermeister zuzuordnen. Dies gelte gemäß § 16 ASiG
auch für Gemeinden. Nur so werde den Anforderungen des ASiG im Hinblick auf
die Weisungsfreiheit und die herausgehobene Stellung der Fachkraft für
Arbeitssicherheit Rechnung getragen. Sie beantragt daher, die Beklagte zu

Anuschek/Seel, Aktuelle Rechtsprechung für Betriebs- und Personalräte (Juni 2010) Seite 10 von 33
verurteilen, sie in ihrer Funktion als Fachkraft für Arbeitssicherheit im Rahmen
einer Stabsstelle unmittelbar dem Oberbürgermeister zu unterstellen und
festzustellen, dass diesem die Dienstaufsicht über ihre Tätigkeit zusteht. – Das
BAG hat der Klägerin Recht gegeben.

Leitsatz: 1. Der Arbeitgeber ist gem. § 8 Absatz 2 ASiG verpflichtet, im Rahmen


eines Arbeitsverhältnisses beschäftigte (leitende) Fachkräfte für Arbeitssicherheit
(mindestens) unmittelbar dem Leiter des Betriebs im Rahmen einer Stabsstelle
fachlich und disziplinarisch zu unterstellen. Diese herausgehobene Einordnung in
der betrieblichen Hierarchie gehört zu den strukturprägenden Grundsätzen des
ASiG.

2. Im Bereich der öffentlichen Verwaltung ist gem. § 16 ASiG ein den Grundsätzen
des ASiG gleichwertiger Arbeitsschutz zu gewährleisten. Dies beinhaltet auch das
unmittelbare fachliche und disziplinarische Unterstellungsverhältnis der
(leitenden) Fachkraft für Arbeitssicherheit entsprechend § 8 Absatz 2 ASiG unter
den Leiter der Dienststelle oder Behörde, für die sie bestellt ist.

Textauszug: „[27] b) § 8 Abs. 2 ASiG verpflichtet den Arbeitgeber, die Fachkraft


für Arbeitssicherheit oder, wenn für einen Betrieb mehrere Fachkräfte für
Arbeitssicherheit bestellt sind, die leitende Fachkraft für Arbeitssicherheit fachlich
und disziplinarisch unmittelbar dem Leiter des Betriebs zu unterstellen.

[28] aa) Im ursprünglichen Gesetzentwurf der Bundesregierung waren


Regelungen über die Stellung der Fachkräfte für Arbeitssicherheit im Betrieb
nicht enthalten, sondern nur die heutigen Absätze 1 und 3 des § 8 ASiG (BT-
Drucks. 7/260 S. 6). Im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens ist der heutige
Absatz 2 nach Beratungen im Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung mit der
Begründung eingefügt worden, diese Vorschrift solle sowohl „die Unabhängigkeit
als auch den Einfluss dieser Personen stärken“ (BT-Drucks. 7/1085 S. 6).

[29] Dementsprechend verpflichtet § 8 Abs. 2 ASiG den Arbeitgeber nach


allgemeiner Auffassung, den Fachkräften für Arbeitssicherheit bzw. der leitenden
Fachkraft für Arbeitssicherheit eine Stabsstelle zuzuweisen, die mindestens
unmittelbar dem Leiter des Betriebs unterstellt ist (LAG Köln 3. April 2003 - 10 (1)
Sa 1231/02 - ZTR 2003, 520; Anzinger/Bieneck § 8 Rn. 34; Hk-ASiG/Aufhauser § 8
Rn. 4; Kliesch/Nöthlichs/Wagner § 8 Anm. 5.1; Nöthlichs/Wilrich/Weber
Arbeitsschutz und Arbeitssicherheit Stand Juni 2009 § 8 Anm. 6.2; Rehbinder ZGR
1989, 305, 312, 326 f.). Diese gesetzlich vorgeschriebene Zuweisung einer
bestimmten Stellung innerhalb der betrieblichen Hierarchiestrukturen dient
sowohl der Sicherung der fachlichen Unabhängigkeit als auch der Herausstellung
der Bedeutung der Funktion der Fachkraft für Arbeitssicherheit. Ihr Einfluss als
Betriebsbeauftragte zur Beratung des Arbeitgebers in Sachen des
Arbeitsschutzes wird damit gestärkt (zum leitenden Betriebsarzt: LAG Berlin 2.
Februar 1998 - 9 Sa 114/97 - zu II 1 der Gründe, NZA-RR 1998, 437). Gleichzeitig
wird damit ein Ausgleich dafür geschaffen, dass die Fachkräfte für
Arbeitssicherheit nicht unmittelbar weisungsberechtigt gegenüber den
Beschäftigten sind.

Anuschek/Seel, Aktuelle Rechtsprechung für Betriebs- und Personalräte (Juni 2010) Seite 11 von 33
[30] Hinzu kommt, dass das System des Arbeitsschutzes in zunehmendem Maß
nicht mehr (ausschließlich) auf der Vorgabe technischer Normen basiert, sondern
das Ziel der Sicherung und Verbesserung der Sicherheit und des
Gesundheitsschutzes der Beschäftigten (auch) über die betriebliche
Implementierung von Strukturen und Verfahrensweisen erreicht werden soll. In
einem kontinuierlichen Prozess sollen mögliche Gefährdungen erkannt,
notwendige Maßnahmen zu deren Beseitigung ermittelt und deren Wirkung
überprüft werden (vgl. beispielhaft das System der Gefährdungsbeurteilung nach
§§ 5 ff. ArbSchG). Geeigneten betrieblichen Strukturen mit einer entsprechend
unabhängigen Stellung der beteiligten Fachkräfte für Arbeitssicherheit kommt in
einem solchen Prozess besondere Bedeutung zu.“

III. Kündigung und andere Bestandsschutzstreitigkeiten

1. Kündigung wegen mangelnder Kenntnisse der deutschen Sprache


Die Entscheidung: BAG 28.01.2010 – 2 AZR 764/08 –DB 2010, 1071

Sachverhalt: Die Parteien streiten über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses


aufgrund einer von der Arbeitgeberin (Beklagte) ausgesprochenen ordentlichen
personenbedingten Kündigung. Dabei steht die Frage im Vordergrund, ob die
Kündigung den Kläger wegen seiner ethnischen Herkunft benachteiligt.

Der 1948 in Spanien geborene und dort aufgewachsene Kläger trat 1978 in die
Dienste der Arbeitgeberin, die ein Unternehmen der Automobilzulieferer-Industrie
mit etwa 300 Arbeitnehmern betreibt.

Der Kläger arbeitete in der Spritzgussabteilung. Pro Schicht waren dort etwa 20
bis 30 Werker und ein Einrichter an mehreren Maschinen tätig. Zu den
Hauptaufgaben des Klägers zählten das Überwachen der automatischen
Behälterfüllung, das Einpacken von Teilen sowie die Produktionskontrolle, jeweils
nach mündlichen und schriftlichen Anweisungen. Er sollte ggf. Fehler und
Störungen an den Produktionsanlagen und an den Produkten erkennen und
melden. In einer am 30. Oktober 2001 erstellten und vom Kläger
unterschriebenen Stellenbeschreibung war unter „Anforderungen an den
Stelleninhaber“ auch die Kenntnis der deutschen Sprache in Wort und Schrift
aufgeführt.

Die von ihm verlangten Prüfungen nahm der Kläger nur nach Augenschein,
unspezifisch und nicht nach Maßgabe des von der Schuldnerin vorgegebenen
Prüfplans vor. Die Fehlercheckliste füllte er unvollständig aus. Zu der an sich
vorgesehenen sog. messenden Prüfung war er nicht in der Lage. Sie wurde von
einer dritten Person erledigt. Die Arbeitgeberin hat den Kläger mehrfach bei dem
Erwerb von ausreichenden Kenntnissen der deutschen Sprache unterstützt. So
konnte er während der Arbeitszeit auf Kosten der Arbeitgeberin einen
Deutschkurs besuchen, der jedoch nicht die erhoffte Verbesserung brachte.
Weitere Angebote scheiterten an der Weigerung des Arbeitnehmers zur

Anuschek/Seel, Aktuelle Rechtsprechung für Betriebs- und Personalräte (Juni 2010) Seite 12 von 33
Teilnahme. Im Februar 2006 drohte die Arbeitgeberin die Kündigung für den Fall
an, dass sich die Sprachkenntnisse nicht verbesserten. Ein Audit kam im April
2007 zu dem Ergebnis, dass der Kläger nicht in der Lage sei, die vom Kunden
geforderten Vorgaben und Spezifikationen einzuhalten. Am 18. Mai 2007
kündigte die Arbeitgeberin daher das Arbeitsverhältnis mit Zustimmung des
Betriebsrats zum 31. Dezember 2007.

Der Kläger hat Kündigungsschutzklage erhoben und geltend gemacht, er habe


seit 29 Jahren seine Arbeit beanstandungsfrei ausgeübt. Die Qualitätsnormen
erforderten nicht notwendig deutsche Sprachkenntnisse in Wort und Schrift. Die
wesentlichen Arbeitsabläufe seien gleichgelagert, auch die auftauchenden Fehler
seien in gleichgelagerte Kategorien einzuteilen. An seinem Arbeitsplatz könnten
Vorgaben auch unter Zuhilfenahme mündlicher Erklärungen umgesetzt werden,
die keinen großen Zeitaufwand erforderten. – Das BAG hat dem Kläger nicht
Recht gegeben.

Leitsatz: 1. Eine mittelbare Benachteiligung iSd. § 3 Abs. 2 AGG liegt nicht vor,
wenn die unterschiedliche Behandlung durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich
gerechtfertigt ist und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und
erforderlich sind.

2. Verlangt der Arbeitgeber von seinen Arbeitnehmern Kenntnisse der deutschen


Schriftsprache, damit sie schriftliche Arbeitsanweisungen verstehen und die
betrieblichen Aufgaben so gut wie möglich erledigen können, so verfolgt er ein
sachlich gerechtfertigtes Ziel.

Textauszug: „[12] 1. Mit der Befugnis zur personenbedingten Kündigung soll dem
Arbeitgeber die Möglichkeit eröffnet werden, das Arbeitsverhältnis aufzulösen,
wenn der Arbeitnehmer nicht (mehr) die erforderliche Eignung oder Fähigkeit
besitzt, die geschuldete Arbeitsleistung zu erbringen. Die Erreichung des
Vertragszwecks muss durch den in der Sphäre des Arbeitnehmers liegenden
Umstand nicht nur vorübergehend zumindest teilweise unmöglich sein (Senat 18.
September 2008 - 2 AZR 976/06 - Rn. 22, EzA KSchG § 1 Personenbedingte
Kündigung Nr. 23; 18. Januar 2007 - 2 AZR 731/05 - Rn. 15, BAGE 121, 32).

… [17] bb) Es liegt auch keine mittelbare Benachteiligung iSd. § 3 Abs. 2 AGG
vor. Ob der Kläger, allein weil er in Spanien geboren und dort zur Schule
gegangen ist, das Diskriminierungsmerkmal der Zugehörigkeit zu einer „Ethnie“
erfüllt - wie das Landesarbeitsgericht angenommen hat - kann dahinstehen.
Selbst wenn dies so wäre und selbst wenn, was angenommen werden mag, die
Anforderung deutscher Schriftsprachkenntnisse spanische Arbeitnehmer - im
Vergleich zu deutschen Arbeitnehmern - iSd. § 3 Abs. 2 Satz 1 AGG in besonderer
Weise benachteiligen kann (vgl. Bissels/Lützeler BB 2009, 833; aA offenbar
Hunold Anmerkung zur Entscheidung des LAG Hamm vom 17. Juli 2008 NZA-RR
2009, 13, 17; vgl. auch ArbG Berlin 29. September 2007 - 14 Ca 10356/07 - AuR
2008, 112; dazu kritisch: Maier AuR 2008, 112; Tolmein jurisPR-ArbR 4/2008
Anm. 3; Greßlin BB 2008, 115; vgl. auch ArbG Berlin 11. Februar 2009 - 55 Ca
16952/08 - NZA-RR 2010, 16), so war doch die Anforderung hier durch ein

Anuschek/Seel, Aktuelle Rechtsprechung für Betriebs- und Personalräte (Juni 2010) Seite 13 von 33
rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und waren auch die Mittel zur
Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich.

[18] (1) Zu Recht hat das Landesarbeitsgericht angenommen, dass im Streitfall


ein rechtmäßiges Ziel iSd. § 3 Abs. 2 AGG vorlag. – [19] (a) Rechtmäßige Ziele
iSd. § 3 Abs. 2 AGG können alle nicht ihrerseits diskriminierenden (vgl. EuGH 31.
März 1981 - C-96/80 - [J.P. Jenkins] Rn. 11, Slg. 1981, 911) und auch sonst legalen
Ziele sein. Dazu gehören auch privatautonom bestimmte Ziele des Arbeitgebers,
zB betriebliche Notwendigkeiten und Anforderungen an persönliche Fähigkeiten
des Arbeitnehmers (vgl. Schleusener in Schleusener/Suckow/Voigt AGG 2. Aufl. §
3 Rn. 74 f.; Bauer/Göpfert/Krieger AGG 2. Aufl. § 3 Rn. 32 f.; ErfK/Schlachter 10.
Aufl. § 3 AGG Rn. 8, 9; BeckOK R/G/K/U/Roloff AGG § 3 Rn. 20; Lingemann/Müller
BB 2007, 2006; Hunold Anmerkung zur Entscheidung des LAG Hamm vom 17. Juli
2008 NZA-RR 2009, 13, 17; Herbert/Oberrath DB 2009, 2434). Das Ziel ist im
Wortlaut des Gesetzes nicht weiter eingeschränkt als durch die Bestimmung,
dass es rechtmäßig sein muss. In der Gesetzesbegründung findet sich lediglich
der Hinweis, es müsse ein sachlicher Grund gegeben sein (BR-Drucks. 329/06
vom 18. Mai 2006 S. 34). Damit ist auf die bis dahin bestehende Rechtslage zu §
611a BGB verwiesen, nach der jedes rechtmäßige, seinerseits nicht
diskriminierende Ziel ausreichend war.

[20] (b) Das von der Schuldnerin mit der Forderung ausreichender Kenntnisse der
deutschen Schriftsprache verfolgte Ziel bestand nach den Feststellungen des
Landesarbeitsgerichts in der Erfüllung der Norm ISO/TS 16949. Aus dieser Norm
ergibt sich die berufliche Anforderung der Kenntnis der deutschen Schriftsprache
für die von der Schuldnerin im Spritzguss beschäftigten Werker. Der Beklagte hat
unwidersprochen vorgetragen, dass die Erfüllung dieser Norm deshalb von
Bedeutung ist, weil andernfalls keine Aufträge mehr akquiriert werden können.
Damit liegt ein Ziel vor, das nicht diskriminierend und auch sonst rechtmäßig ist.

[21] (c) Sieht man als Ziel des Verlangens nach deutscher Schriftsprache iSd. § 3
Abs. 2 AGG nicht die Erfüllung der ISO-Norm als solche, sondern - unabhängig
von deren Vorgaben - die möglichst optimale Erledigung der anfallenden Arbeit,
so ist auch dieses Ziel rechtmäßig. Der Arbeitgeber hat ein durch Art. 12 GG
geschütztes Recht, seiner unternehmerischen Tätigkeit so nachzugehen, dass er
damit am Markt bestehen kann. Er darf auch die sich daraus ergebenden
beruflichen Anforderungen an seine Mitarbeiter stellen. Wenn er dabei aus nicht
willkürlichen Erwägungen schriftliche Arbeitsanweisungen gibt und
Schriftkenntnisse voraussetzende Prüftätigkeiten seiner Arbeiter vorsieht, ist das
nicht zu beanstanden. Es ist nicht Sinn der Diskriminierungsverbote, dem
Arbeitgeber eine Arbeitsorganisation vorzuschreiben, die nach seiner Vorstellung
zu schlechten Arbeitsergebnissen führt. Die Diskriminierungsverbote sollen
vielmehr das wirtschaftliche Geschehen von sachlich nicht gerechtfertigten und
vernunftgebundene Entscheidungen hemmenden, zB auf Vorurteilen beruhenden
Erwägungen der Marktteilnehmer freihalten und auf diese Weise gerade im
Gegenteil die Dynamik rationaler, sachbezogener, rechtmäßiger Erwägungen
erhöhen (vgl. von Hoff SAE 2009, 293).

Anuschek/Seel, Aktuelle Rechtsprechung für Betriebs- und Personalräte (Juni 2010) Seite 14 von 33
[22] (2) Das Mittel zur Erreichung dieses legitimen Ziels - die Forderung
ausreichender Kenntnisse der deutschen Schriftsprache - war entgegen der
Auffassung des Landesarbeitsgerichts erforderlich iSd. § 3 Abs. 2 AGG.
Erforderlich ist ein Mittel zur Erreichung eines Ziels, wenn das Ziel ohne das
Mittel nicht erreicht werden kann. So liegt es hier. Die Schuldnerin konnte die
Erfüllung der Norm ISO/TS 16949 nicht nachweisen bzw. ihr unternehmerisches
Ziel nicht erreichen, wenn die als Werker beschäftigten Arbeitnehmer die
schriftlichen Arbeitsanweisungen und Prüfaufträge nicht lesen und verstehen und
deshalb ihre Aufgaben nicht wie vorgesehen erfüllen können. Wenn das
Landesarbeitsgericht demgegenüber meint, der Kläger habe in den vergangenen
29 Jahren seine „Fähigkeit“ unter Beweis gestellt und die meisten Fehler müssten
ihm auch ohne genaue schriftliche Prüfanweisung sofort auffallen, dann misst es
die „Erforderlichkeit“ des Mittels - nämlich der Anforderung, die deutsche
Sprache zu beherrschen - nicht, wie nach § 3 Abs. 2 AGG geboten, an dem vom
Arbeitgeber verfolgten Ziel, sondern an eigenen Vorstellungen von den
Fähigkeiten, die ein Arbeitnehmer haben muss, um in etwa seinen Aufgaben
gerecht zu werden. Außerdem darf der Arbeitgeber sowohl im Interesse seiner
Wettbewerbsfähigkeit als auch in dem der Produktqualität und -sicherheit
anstreben, nicht nur „die meisten“, sondern alle Fehler zu vermeiden. Dass dies -
die vollständige Vermeidung von Fehlern - regelmäßig nicht gelingt, heißt nicht,
dass es gar nicht erst beabsichtigt werden darf. Zu Unrecht würde dem
Arbeitgeber sonst angesonnen, aus Gründen des Diskriminierungsschutzes
Qualitätseinbußen bei seinen Produkten in Kauf zu nehmen und damit von der
Verfolgung seiner rechtmäßigen Ziele abzusehen. Das steht mit den Vorgaben
des Gesetzes nicht im Einklang.

[23] (3) Das Mittel zur Erreichung des Ziels ist auch angemessen. Ein weniger
belastendes Mittel ist nicht ersichtlich. Die Vorstellung, die Tätigkeit des Klägers
müsse im Interesse der Diskriminierungsfreiheit gewissermaßen aufgespalten
werden in solche Bestandteile, die er ohne deutsche Sprachkenntnisse erledigen
kann, und solche, bei denen er Deutsch lesen können muss, ist nicht richtig,
macht aber besonders deutlich, dass die Forderung von Deutschkenntnissen
unumgänglich ist: Wäre es anders, so müsste der Schuldnerin nicht - wie es das
Landesarbeitsgericht aber tut - zugemutet werden, - offenbar zweisprachiges -
Personal für die Übersetzung und mündliche Erläuterung von Arbeitsanweisungen
vorzuhalten und weitere Kräfte für an sich von ihm zu erbringende Teiltätigkeiten
(Messen) einzusetzen. Das Gesetz verlangt vom Arbeitgeber derart weitgehende
organisatorische Umgestaltungen nicht.“

2. Keine Kündigung wegen eines bereits abgemahnten Vorfalls


Die Entscheidung: BAG 26.11.2009 – 2 AZR 751/08 – DB 2010, 733 = NJW
2010, 1398

Sachverhalt: Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer


verhaltensbedingten Kündigung. Die beklagte Arbeitgeberin betreibt ein Hotel, in
dem der klagende Arbeitnehmer seit November 1996 als Barkeeper beschäftigt

Anuschek/Seel, Aktuelle Rechtsprechung für Betriebs- und Personalräte (Juni 2010) Seite 15 von 33
war. Nachdem die Beklagte den Kläger Mitte Dezember 2005 mündlich
abgemahnt hatte, sprach sie mit Schreiben vom 28. Dezember 2005 wegen der
Nichtbefolgung einer Anweisung und rufschädigender Äußerungen über den
Geschäftsführer und den Direktionsassistenten eine weitere Abmahnung aus. Der
Kläger war ab dem 28. Dezember 2005 arbeitsunfähig.

Tags darauf kündigte die Arbeitgeberin mit Schreiben vom 29. Dezember 2005
das Arbeitsverhältnis außerordentlich, hilfsweise ordentlich mit der Begründung,
der Kläger habe sich geschäftsschädigend gegenüber Mitarbeitern und Gästen
verhalten. Sie hat die Kündigung ferner auf eine Missachtung des betrieblichen
Alkoholverbots und den unbefugten, kostenlosen Ausschank von Alkohol an
ehemalige Mitarbeiter gestützt. Wegen des Alkoholausschanks erstattete die
Beklagte Strafanzeige. Die Staatsanwaltschaft stellte das Ermittlungsverfahren
nach Vernehmung zweier Zeugen ein.

Der Kläger hat Kündigungsschutzklage erhoben. Er hat die ihm vorgeworfenen


Pflichtverletzungen bestritten. Auch seien sie bereits abgemahnt worden.
Mögliche kritische Äußerungen seien sachlich gerechtfertigt und durch das Recht
auf freie Meinungsäußerung gedeckt. Er habe nicht kostenlos Alkohol an Kollegen
ausgegeben.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung
vertreten, schon die außerordentliche Kündigung sei gerechtfertigt. Am 25.
Dezember 2005 habe er die Weisung ihres Geschäftsführers, das Radio lauter zu
stellen, unterlaufen. Gegenüber dem vorgesetzten Direktionsassistenten habe er
sich negativ und abfällig dahin geäußert, er selbst sei seit neun Jahren im Betrieb
und wenn dieser dort zwei Jahre „überstehe“, sei er „der King“. Gegenüber zwei
Gästen habe der Kläger unter anderem geäußert, dass sie zu Weihnachten nicht
mehr zu kommen bräuchten, die finanzielle Situation sei katastrophal und das
Haus bankrott. Nachdem ihr Geschäftsführer am 29. Dezember 2005 davon
Kenntnis erhalten habe, dass der Kläger drei am 15. November 2005 neu
eingestellte Mitarbeiter durch abträgliche Äußerungen über die Geschäftsführung
und den Betrieb gezielt verunsichert habe, sei die Kündigung erfolgt. Erst Anfang
Januar 2006 habe die Beklagte erfahren, dass der Kläger zwei Mitarbeitern
kostenfrei alkoholische Getränke ausgegeben und damit nicht nur gegen das ihm
bekannte betriebliche Alkoholverbot verstoßen, sondern ihr bewusst einen
erheblichen Vermögensschaden zugefügt habe. – Das Landesarbeitsgericht hat
dem Arbeitnehmer Recht gegen. Das BAG hat dieses Urteil aufgehoben und die
Sache zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts zurückgeschickt.

Leitsatz: 1. Das Gericht hält an seiner Ansicht fest, dass regelmäßig im


Ausspruch einer Abmahnung der konkludente Verzicht auf das Recht zur
Kündigung aus den in ihr gerügten Gründen liegt.

2. Treten weitere Gründe zu den abgemahnten hinzu oder werden sie erst nach
Ausspruch der Abmahnung bekannt, sind diese vom Kündigungsverzicht nicht
erfasst. Der Arbeitgeber kann sie zur Begründung einer Kündigung heranziehen
und dabei auf die schon abgemahnten Gründe unterstützend zurückgreifen.

Anuschek/Seel, Aktuelle Rechtsprechung für Betriebs- und Personalräte (Juni 2010) Seite 16 von 33
Textauszug: „[11] 2. Zutreffend hat das Landesarbeitsgericht angenommen,
dass der Arbeitgeber auf das Recht zum Ausspruch einer außerordentlichen oder
ordentlichen Kündigung durch eine entsprechende Willenserklärung einseitig
verzichten kann (Senat 2. Februar 2006 - 2 AZR 222/05 - Rn. 22 mwN, AP KSchG
1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 52; 10. November 1988 - 2 AZR
215/88 - zu II 2 der Gründe, AP KSchG 1969 § 1 Abmahnung Nr. 3 = EzA BGB §
611 Abmahnung Nr. 18; BAG 13. Dezember 2007 - 6 AZR 145/07 - Rn. 24, BAGE
125, 208; KR/Fischermeier 9. Aufl. § 626 BGB Rn. 280). Ein solcher Verzicht ist
ausdrücklich oder konkludent möglich.

[12] a) Regelmäßig liegt im Ausspruch einer Abmahnung der konkludente


Verzicht auf das Recht zur Kündigung aus den in ihr gerügten Gründen. Der
Arbeitgeber gibt mit einer Abmahnung zu erkennen, dass er das Arbeitsverhältnis
noch nicht als so gestört ansieht, als dass er es nicht mehr fortsetzen könnte
(Senat 2. Februar 2006 - 2 AZR 222/05 - Rn. 22, AP KSchG 1969 § 1
Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 52; 10. November 1988 - 2 AZR 215/88 - zu II
2 der Gründe, AP KSchG 1969 § 1 Abmahnung Nr. 3 = EzA BGB § 611 Abmahnung
Nr. 18; BAG 13. Dezember 2007 - 6 AZR 145/07 - Rn. 24, BAGE 125, 208).

[13] b) Der Senat hält an dieser Rechtsprechung auch angesichts der jüngsten
Kritik (Raab FS Buchner S. 704) fest. … [15] c) Treten weitere Gründe zu den
abgemahnten hinzu oder werden sie erst nach dem Ausspruch der Abmahnung
bekannt, sind diese vom Kündigungsverzicht nicht erfasst. Der Arbeitgeber kann
sie zur Begründung einer Kündigung heranziehen und dabei auf die schon
abgemahnten Gründe unterstützend zurückgreifen (Senat 2. Februar 2006 - 2
AZR 222/05 - Rn. 22 mwN, AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr.
52; BAG 13. Dezember 2007 - 6 AZR 145/07 - Rn. 24, BAGE 125, 208). Kündigt
der Arbeitgeber im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit einer
vorausgegangenen Abmahnung, kann dies allerdings dafür sprechen, dass die
Kündigung in Wirklichkeit wegen der bereits abgemahnten Pflichtverletzung
erfolgt, zumal dann, wenn der Arbeitnehmer zwischen Abmahnung und
Kündigungserklärung - wie hier - nicht mehr gearbeitet hat. Es ist insbesondere in
einem solchen Fall Sache des Arbeitgebers, im Einzelnen darzulegen, dass neue
oder später bekannt gewordene Gründe hinzugetreten sind und erst sie seinen
Kündigungsentschluss bestimmt haben.“

3. Europarechtswidrigkeit von § 622 Absatz 2 Satz 2 BGB


LAG MV 19.08.2009 - 2 Sa 132/09 – NZA-RR 2010, 18 – Europarechtswidrige
Kündigungsfrist

Leitsatz: § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB ist wegen Europarechtswidrigkeit nicht


anzuwenden (siehe LAG Berlin-Brandenburg Urteil vom 26.8.2008 - 7 Sa 252/08
-). - Ein nach Ablauf der zutreffenden Kündigungsfrist erhobener Anspruch des
Arbeitnehmers auf Annahmeverzug ist grundsätzlich auch nicht verwirkt.

Verfahrensgang: Derzeit BAG - 5 AZR 700/09

Anuschek/Seel, Aktuelle Rechtsprechung für Betriebs- und Personalräte (Juni 2010) Seite 17 von 33
Anmerkung: Das Arbeitsgericht Neubrandenburg hatte in einem ähnlich
gelagerten Falle im April 2008 eine Vorlage beim Bundesverfassungsgericht
gemacht, weil es angenommen hat, § 622 Absatz 2 Satz 2 BGB verstoße gegen
Art. 3 GG (Beschluss vom 9. April 2008 – 1 Ca 1008/07). – Das
Bundesverfassungsgericht hat die Vorlage als unzulässig verworfen, da der
Anwendungsvorrang des europäischen Rechts eine verfassungskonforme Lösung
des Falles ermögliche (BVerfG 18.11.2008 – 1 BvL 4/08).

4. Auflösungsantrag des Arbeitgebers im Kündigungsschutzprozess


(„ungesetzliche Versuche einen Betriebsrat zu gründen“)
Die Entscheidung: BAG 08.10.2009 – 2 AZR 682/08 – ZTR 2010, 163

Sachverhalt: Die Parteien streiten über einen Auflösungsantrag der beklagten


Arbeitgeberin nach § 9 KSchG.

Der Kläger trat im März 2003 als „Manager Internal Audit“ zu einer monatlichen
Bruttovergütung in Höhe von 5.616,00 Euro in die Dienste der Beklagten. Der
Kläger hat am 19. Dezember 2003 versucht, bei der Beklagten eine
Betriebsratswahl einzuleiten. Darauf sprach diese mit Schreiben vom 22.
Dezember 2003 eine außerordentliche Kündigung aus, deren Unwirksamkeit das
Arbeitsgericht München mit Urteil vom 9. August 2005 festgestellt hat. Mit tags
darauf verfasstem Schreiben vom 10. August 2005 erklärte die Beklagte erneut
eine außerordentliche, hilfsweise ordentliche Kündigung. Dagegen hat der
klagende Arbeitnehmer die vorliegende Klage erhoben.

Am 22. August 2005 beantragte der Kläger zusammen mit der „Vereinten
Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, Bezirk München“ beim Arbeitsgericht
München den Erlass einer einstweiligen Verfügung zur Bestellung eines
Wahlvorstands. Der Antrag wurde zurückgewiesen. Dasselbe Schicksal erlitten
ein vom Kläger eingeleitetes Beschlussverfahren, mit dem er die Ergänzung des
Wählerverzeichnisses zu Betriebsratswahlen bei einer der Tochtergesellschaften
der Arbeitgeberin erstrebt hatte, und ein weiteres Beschlussverfahren zur
Anfechtung dieser Betriebsratswahlen. Hinsichtlich des letztgenannten
Verfahrens und einer vom Kläger auch im Namen von ver.di ausgesprochenen
Einladung zu einer Betriebsversammlung wurde zwischen diesem und seiner
Gewerkschaft streitig, ob er von ihr dazu bevollmächtigt war. Die Gewerkschaft
teilte der Beklagten in beiden Fällen mit, der Kläger habe ohne ihr Wollen
gehandelt.

Der Kläger hat vor Gericht die Feststellung der Unwirksamkeit der Kündigung
begehrt. Die Beklagte hält die Kündigung für wirksam. In jedem Fall sei das
Arbeitsverhältnis aufzulösen. Eine gedeihliche Zusammenarbeit sei aufgrund der
ungesetzlichen Versuche des Klägers, einen Betriebsrat ins Leben zu rufen, nicht
mehr zu erwarten.

Anuschek/Seel, Aktuelle Rechtsprechung für Betriebs- und Personalräte (Juni 2010) Seite 18 von 33
Das Arbeitsgericht hat die Unwirksamkeit der Kündigung festgestellt und das
Arbeitsverhältnis zum Ablauf des 31. Dezember 2005 gegen Zahlung einer
Abfindung in Höhe von 20.000,00 Euro aufgelöst. Der Kläger meint, die Auflösung
des Arbeitsverhältnisses sei nicht gerechtfertigt. – Er hat vor dem BAG Recht
bekommen.

Leitsatz: 1. … 2. Ist der Arbeitnehmer bei der - vermeintlichen oder wirklichen -


Wahrnehmung betriebsverfassungsrechtlicher Positionen "über das Ziel
hinausgeschossen" und hat er dabei die ihm gesetzten Grenzen verkannt und
betrachtet der Arbeitgeber ihn als einen menschlich problematischen und
herausfordernd wirkenden Mitarbeiter, ist jedoch nicht ersichtlich, dass dadurch
das Arbeitsverhältnis zum Arbeitgeber irgendwie fassbar - etwa im Bereich der
Hauptleistungspflichten oder einzelner Nebenpflichten - in Mitleidenschaft
gezogen worden wäre, ist eine Auflösung des Arbeitsverhältnisses nicht möglich.

3. Die Charakterisierung des Arbeitnehmers durch das Landesarbeitsgericht als


"unehrlich" und als jemand, der in Verfolgung eigener Interessen "Grenzen
überschreite" korrespondiert nicht ausreichend mit den gesetzlichen
Anforderungen an einen Auflösungsgrund. Störungen des erforderlichen
Vertrauens, die der weiteren wechselseitigen Erfüllung der Vertragspflichten und
dem Zusammenwirken zum Wohl des Betriebs entgegenstünden, müssen sich in
greifbaren Tatsachen niedergeschlagen.

Textauszug: „[13] a) Das KSchG ist seiner Konzeption nach ein Bestandsschutz-
und kein Abfindungsgesetz, so dass an den Auflösungsgrund strenge
Anforderungen zu stellen sind. … Ein Auflösungsantrag kommt vor allem dann in
Betracht, wenn während eines Kündigungsschutzprozesses zusätzliche
Spannungen zwischen den Parteien auftreten, die eine Fortsetzung des
Arbeitsverhältnisses sinnlos erscheinen lassen … .

[14] b) … Der Auflösungsantrag ist trotz seiner nach § 9 Abs. 2 KSchG gesetzlich
angeordneten Rückwirkung auf den Kündigungszeitpunkt in die Zukunft
gerichtet. Das Gericht hat eine Vorausschau anzustellen. Im Zeitpunkt der
Entscheidung über den Antrag ist zu fragen, ob in Zukunft noch mit einer den
Betriebszwecken dienlichen weiteren Zusammenarbeit der Parteien zu rechnen
ist. Es geht um die Würdigung, ob die zum Zeitpunkt der abschließenden
Entscheidung in der Tatsacheninstanz gegebenen Umstände eine künftige
gedeihliche Zusammenarbeit noch erwarten lassen … .

[15] c) Als Auflösungsgründe für den Arbeitgeber gemäß § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG
kommen solche Umstände in Betracht, die das persönliche Verhältnis zum
Arbeitnehmer, die Wertung seiner Persönlichkeit, seiner Leistung oder seiner
Eignung für die ihm gestellten Aufgaben und sein Verhältnis zu den übrigen
Mitarbeitern betreffen. Die Gründe, die eine den Betriebszwecken dienliche
weitere Zusammenarbeit zwischen den Vertragspartnern nicht erwarten lassen,
müssen allerdings nicht im Verhalten, insbesondere nicht im schuldhaften
Verhalten des Arbeitnehmers liegen. Vielmehr kommt es darauf an, ob die

Anuschek/Seel, Aktuelle Rechtsprechung für Betriebs- und Personalräte (Juni 2010) Seite 19 von 33
objektive Lage die Besorgnis rechtfertigt, dass die weitere Zusammenarbeit mit
dem Arbeitnehmer gefährdet ist … .

… [17] 2. Diesen Anforderungen hält die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts


nicht stand. – [18] a) Aus dem Vorbringen der Beklagten und aus dem
unstreitigen Sachverhalt ist nicht ersichtlich, dass es zwischen dem Kläger und
Vorgesetzten zu persönlichen Auseinandersetzungen gekommen wäre. Ebenso
wenig ist eine Trübung des Verhältnisses zwischen dem Kläger und
Arbeitskollegen ersichtlich. Die Leistung und die Eignung des Klägers für die
vertraglich geschuldete Arbeit sind nicht von den Sachverhalten betroffen, die
von der Beklagten als Auflösungsgründe herangezogen werden.

[19] b) Dass der Kläger Anträge bei Gericht gestellt hat, die erfolglos geblieben
sind, ist für sich genommen ersichtlich kein Auflösungsgrund. Dass die Anträge in
Schädigungsabsicht oder sonst schikanös angebracht worden wären, ist nicht
festgestellt. Überdies finden sich im Berufungsurteil und im Vorbringen der
Beklagten zur objektiven Lage der Beziehungen zwischen dem Kläger einerseits
und seinen Vorgesetzten und Kollegen andererseits im Zeitpunkt der mündlichen
Verhandlung in der Berufungsinstanz keinerlei Feststellungen, die das
Arbeitsverhältnis des Klägers konkret - dh. auf der Ebene der Tatsachen -
beträfen. Es mag sein, dass der Kläger bei der - vermeintlichen oder wirklichen -
Wahrnehmung betriebsverfassungsrechtlicher Positionen „über das Ziel
hinausgeschossen“ und dabei die ihm gesetzten Grenzen verkannt hat und die
Beklagte ihn als einen menschlich problematischen und herausfordernd
wirkenden Mitarbeiter betrachtet. Es mag auch sein, dass der Kläger sich in ein
schwieriges Verhältnis zu seiner Gewerkschaft gebracht hat. Dass dadurch das
Arbeitsverhältnis zur Beklagten irgendwie fassbar - etwa im Bereich der
Hauptleistungspflichten oder einzelner Nebenpflichten - in Mitleidenschaft
gezogen worden wäre, ist nicht ersichtlich.

[20] c) Wenn das Landesarbeitsgericht den Kläger als „unehrlich“ charakterisiert


und als jemanden ansieht, der in der Verfolgung eigener Interessen „Grenzen
überschreite“, so sind dies gewiss Würdigungen, die, wenn sie zutreffen, eine
zwar nicht unverbreitete, aber um deswillen doch nicht begrüßenswerte Haltung
im Wirtschaftsleben bezeichnen. Gleichwohl korrespondieren sie nicht
ausreichend mit den gesetzlichen Anforderungen an einen Auflösungsgrund.
Diese setzen vielmehr die Prognose einer schweren Beeinträchtigung des
Austauschverhältnisses voraus. Davon kann hier nach dem Vortrag der Beklagten
und den Feststellungen des Berufungsgerichts keine Rede sein. Dass eine
Vertrauensbeziehung zwischen den Vertragsparteien unerlässlich ist, wie das
Landesarbeitsgericht ausführt, trifft zu. Störungen des erforderlichen Vertrauens,
die der weiteren wechselseitigen Erfüllung der Vertragspflichten und dem
Zusammenwirken zum Wohl des Betriebs entgegenstünden, sind aber nicht
ersichtlich; zumindest haben sie sich nicht in greifbaren Tatsachen
niedergeschlagen.“

Anuschek/Seel, Aktuelle Rechtsprechung für Betriebs- und Personalräte (Juni 2010) Seite 20 von 33
5. Tätigkeitsaufnahme und Schriftform der Befristungsabrede
LAG MV 21.04.2009 - 5 Sa 268/08 - Tätigkeitsaufnahme und Schriftlichkeit der
Befristungsabrede

Leitsatz: 1. Tritt der befristet eingestellte Arbeitnehmer die Arbeit an, und liegt
ihm zu diesem Zeitpunkt bereits der einseitig vom Arbeitgeber unterzeichnete
schriftliche Arbeitsvertrag vor, kommt durch den bloßen Arbeitsantritt nicht
stillschweigend ein vom Vertragstext abweichendes unbefristetes
Arbeitsverhältnis zu Stande. Denn der Arbeitgeber macht durch die Übergabe der
Vertragsurkunde deutlich, dass er auf einem schriftlichen Arbeitsvertrag besteht.
Darauf lässt sich der Arbeitnehmer durch den Antritt der Arbeit ein. Nach § 154
Absatz 2 BGB kommt daher vor Abschluss der Beurkundung kein Vertrag zu
Stande (wie BAG vom 16. April 2008 - 7 AZR 1048/06 - NJW 2008, 3453).

Sachverhalt: Der Lehrer wird befristet eingestellt. Noch vor seinem ersten
Arbeitstag bekommt er den vom Arbeitgeber schon unterzeichneten schriftlichen
Arbeitsvertrag mit der Bitte übersandt, ihn unterschrieben zurückzusenden.
Unterschrift und Rücksendung erfolgen aber erst nach dem ersten Arbeitstag des
Lehrers.

Textauszug: „[26] Nach der Rechtsprechung des BAG sind zwei Fallgruppen zu
unterscheiden. Schließen die Parteien zunächst nur mündlich einen befristeten
Arbeitsvertrag und erst später den dazugehörenden schriftlichen Arbeitsvertrag
mit Befristungsabrede, dann ist die mündlichen Befristungsabrede wegen Verstoß
gegen § 14 Absatz 4 TzBfG, § 125 Satz 1 BGB formnichtig; zwischen den Parteien
ist ein unbefristetes Arbeitsverhältnis entstanden. Die nachträgliche schriftliche
Befristungsvereinbarung führt nicht dazu, dass die Befristung rückwirkend
formwirksam wird, weil sie sich in einer (unwirksamen) Bestätigung eines
nichtigen Rechtsgeschäfts erschöpft (BAG 16. März 2005 - 7 AZR 289/04; BAG
vom 1. Dezember 2004 - 7 AZR 198/04).

[27] Anders ist es allerdings, wenn der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer bereits vor
Arbeitsantritt den von ihm unterzeichneten Vertrag mit der schriftlichen
Befristungsabrede mit der Bitte um Unterzeichnung und Rückübersendung
übermittelt. Denn dann müsse davon ausgegangen werden, dass die
Beschäftigung auf der Basis dieses zumindest auf Arbeitgeberseite bereits
schriftlichen vorliegenden Vertrages erfolgen solle. Es werde daher durch den
Arbeitsantritt kein von dieser schriftlichen Vertragsurkunde abweichender
sonstiger Vertrag geschlossen. Daher sei es unschädlich, wenn in einem solchen
Falle der Arbeitnehmer den Arbeitsvertrag tatsächlich erst nach Arbeitsaufnahme
unterzeichne (BAG 16. April 2008 - 7 AZR 1048/06).

[28] Da nach den Feststellungen des Arbeitsgerichts dem Kläger das vom
beklagten Land unterzeichnete schriftliche Vertragsangebot mit der
Befristungsabrede bei Arbeitsantritt bereits vorgelegen hat, ist zwischen den
Parteien durch den Arbeitsantritt des Klägers und die Entgegennahme der Arbeit
durch das beklagte Land kein vom Vertragstext abweichender Arbeitsvertrag
durch schlüssiges Verhalten zu Stande gekommen. Der Kläger kannte durch die

Anuschek/Seel, Aktuelle Rechtsprechung für Betriebs- und Personalräte (Juni 2010) Seite 21 von 33
Kenntnis des Vertragtextes die vom beklagten Land gestellten Bedingungen und
er hat sich auf sie durch die Aufnahme der Tätigkeit eingelassen. Der Kläger
wusste aufgrund des Vertragstextes auch, dass das beklagte Land auf eine
schriftliche Fixierung des Vertrages Wert legt. Durch seinen Arbeitsantritt hat er
Einverständnis mit diesem Beurkundungserfordernis erklärt. Nach § 154 Absatz 2
BGB konnte daher vor Abschluss der Beurkundung durch den schriftlichen
Arbeitsvertrag keine gültige Vertragsbeziehung der Parteien entstehen. Die
einzige rechtsgeschäftliche Grundlage der Zusammenarbeit der Parteien bildet
daher der schriftliche Arbeitsvertrag, der eine formwirksame Befristungsabrede
enthält. Ein Verstoß gegen § 14 Absatz 4 TzBfG ist daher nicht gegeben.“

IV. Betriebsverfassungsrecht

1. Betriebsvereinbarung - Nachwirkung
Die Entscheidung: BAG 10. 11. 2009 - 1 AZR 511/08 nicht amtlich veröffentlicht

Sachverhalt: Die Parteien streiten über die Anrechnung einer betrieblichen


Zulage auf das geänderte Tarifentgelt des klagenden Arbeitnehmers.

Nach der ab dem 1. Juni 2003 geltenden mit dem Betriebsrat verhandelten
Prämienlohnvereinbarung betrug die monatliche übertarifliche Zulage für den
Kläger 252,74 Euro. Dieser Betrag ermäßigte sich ab dem 1. März 2004 auf
229,90 Euro und ab dem 1. März 2005 auf 204,94 Euro.

Ab dem 1. Oktober 2004 galt für die Beklagte für 3 Jahre außerdem ein
firmenbezogener Verbandstarifvertrag zur Beschäftigungssicherung, der zu einer
Entgeltabsenkung im Umfang von etwa 10 Prozent führte. Die unter dem 14.
März 2005 zwischen den Betriebsparteien abgeschlossene
Prämienlohnvereinbarung (PLV 2005) enthielt dazu einen Zusatz nach dem
während der Laufzeit des Beschäftigungssicherungstarifvertrages die in Spalte B
definierten Zulagen grundsätzlich nicht gegen eventuelle tarifliche Erhöhungen
des Tarifentgeltes (Spalte A) verrechnet werden.

Schließlich führte die Arbeitgeberin führte am 1. Juni 2006 das


Entgeltrahmenabkommen für die Metall- und Elektroindustrie in Nordrhein-
Westfalen (ERA) ein. Der Tarifgrundlohn des Klägers betrug zu diesem Zeitpunkt
1.503,40 Euro. Ab dem 1. Juni 2006 erhielt er ein Monatsgrundentgelt nach der
ERA-Entgeltgruppe 4 iHv. 1.519,08 Euro. Der Kläger gehörte damit zu den sog.
Unterschreitern, für die in § 4 Nr. 2 des zwischen den Parteien kraft Tarifbindung
anwendbaren Einführungstarifvertrags zum ERA (ERA-ETV) bestimmt ist, dass
bisher gewährte übertarifliche Verdienste „verrechnet werden sollen“.

Die sich zwischen alter und neuer Monatsvergütung ergebende Differenz von
15,68 Euro brutto verrechnete die Beklagte mit der übertariflichen betrieblichen
Zulage, deren Zahlbetrag sich daher von 204,94 Euro auf 189,26 Euro

Anuschek/Seel, Aktuelle Rechtsprechung für Betriebs- und Personalräte (Juni 2010) Seite 22 von 33
verringerte. Den Betriebsrat beteiligte sie nicht. Der klagende Arbeitnehmer hat
beantragt, die Arbeitgeberin zu verurteilen, an ihn für Juni 2006 weitere 15,68
Euro nebst fünf Prozent Zinsen über dem jeweiligen Basiszinssatz der
Europäischen Zentralbank seit Fälligkeit als Entgelt zu zahlen. – Die Klage hatte
in allen Instanzen Erfolg.

Orientierungssatz: 1. Betriebsvereinbarungen über finanzielle Leistungen des


Arbeitgebers sind regelmäßig teilmitbestimmt. Während der Arbeitgeber den
Dotierungsrahmen mitbestimmungsfrei vorgeben kann, bedarf er für die
Ausgestaltung, also für den Verteilungs- und Leistungsplan, nach § 87 Absatz 1
Nr. 10 BetrVG, der Zustimmung des Betriebsrats. Die Nachwirkung derart
teilmitbestimmter Betriebsvereinbarungen hängt im Falle ihrer Kündigung durch
den Arbeitgeber davon ab, ob die gesamten freiwilligen Leistungen ersatzlos
beseitigt oder lediglich reduziert werden sollen.

2. Will der Arbeitgeber seine finanziellen Leistungen nicht völlig zum Erlöschen
bringen, sondern mit der Kündigung einer Betriebsvereinbarung nur eine
Verringerung des Volumens der insgesamt zur Verfügung gestellten Mittel und
zugleich eine Veränderung des Verteilungsplans erreichen, wirkt die
Betriebsvereinbarung nach.

3. Bei Tarifgebundenheit des Arbeitgebers beschränkt sich die Mitbestimmung


des Betriebsrats nach § 87 Absatz 1 Nr. 10 BetrVG wegen § 87 Absatz 1
Eingangshalbsatz BetrVG auf den nicht tariflich geregelten Teil der Vergütung,
den der Arbeitgeber ohne normative Verpflichtung und damit freiwillig erbringt.
Eine Nachwirkung von Betriebsvereinbarungen nach § 77 Absatz 6 BetrVG kommt
dementsprechend auch nur hinsichtlich der übertariflichen
Vergütungsbestandteile in Betracht. Sollen diese durch die Kündigung einer
Betriebsvereinbarung vollständig beseitigt werden, ist für eine Mitbestimmung
nach § 87 Absatz 1 Nr. 10 BetrVG kein Raum (hier Nachwirkung der
Bestimmungen einer Betriebsvereinbarung).

2. Errichtung einer betrieblichen Beschwerdestelle nach § 13 AGG


Die Entscheidung: BAG v. 21.7.09 - 1 ABR 42/08 - DB 2009, 1993 = NZA 2009,
1049 = AP Nr. 1 zu § 13 AGG

Sachverhalt: Nach § 13 des allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG)


haben Arbeitnehmer das Recht, sich bei den zuständigen Stellen des Betriebs
oder des Unternehmens zu beschweren, wenn sie sich im Zusammenhang mit
ihrem Arbeitsverhältnis vom Arbeitgeber, von Vorgesetzten, von Kollegen oder
von Dritten wegen einer in der § 1 AGG genannten Gründe, also wegen ihrer
Rasse oder ihrer ethnischen Herkunft, ihres Geschlechts, ihrer Religion oder
Weltanschauung, wegen ihrer Behinderung, wegen ihres Alters oder wegen ihrer
sexuellen Identität benachteiligt fühlen.

Anuschek/Seel, Aktuelle Rechtsprechung für Betriebs- und Personalräte (Juni 2010) Seite 23 von 33
Die Arbeitgeberin ist eine bundesweit operierende Drogeriemarktkette. Bei ihr
werden die Betriebsräte nach einem Tarifvertrag nach § 3 BetrVG für regional
beieinander liegende Verkaufsstellen und Betriebsteile gebildet. Arbeitgeberseitig
werden die einzelnen Verkaufsstellen durch wenige Vertriebsbüros gesteuert und
gelenkt. Die arbeitgeberseitigen Führungsstrukturen und die betriebsrätlichen
Strukturen sind nicht aufeinander abgestimmt. Betriebsrat und Vertriebsbüro sind
im Regelfall nicht in derselben Betriebsstätte untergebracht.

Die Arbeitgeberin hat in Hinblick auf ihre Pflichten aus § 13 AGG durch
Unternehmensbeschluss diverse Beschwerdestellen errichtet, die jeweils am Sitz
des Vertriebsbüros angesiedelt sind und hat seinen Arbeitnehmer mitgeteilt, im
Falle von Beschwerden solle man sich an die Vorgesetzten im Vertriebsbüro
wenden. Dort werde man dann die Beschwerde an die zuständige Stelle weiter
leite.

Der Betriebsrat aus der Region Trier hat darauf die Einrichtung einer
Einigungsstelle zu der Frage durchgesetzt, wo Beschwerdestellen anzusiedeln
sind und wie diese personell besetzt werden. Die Einigungsstelle hat sich auf
Antrag der Arbeitgeberin für unzuständig erklärt. Im anschließenden
Gerichtsverfahren will der Betriebsrat nunmehr festgestellt wissen, dass ihm bei
der Entscheidung über den Ort, an dem die Beschwerdestelle eingerichtet wird
und über deren personelle Besetzung ein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Absatz
1 Nr. 1 BetrVG (Ordnung und Verhalten im Betrieb) zustehe. Außerdem begehrt
er die Feststellung, dass er bei der Ausgestaltung des Verfahrens des
Beschwerdewesens zu beteiligen sei. – Der Antrag war ohne Erfolg geblieben.

Leitsätze: 1. Der Betriebsrat hat nach § 87 Absatz 1 Nr. 1 BetrVG


mitzubestimmen bei der Einführung und Ausgestaltung des Verfahrens, in dem
Arbeitnehmer ihr Beschwerderecht nach § 13 Absatz 1 Satz 1 AGG wahrnehmen
können. Er hat insoweit auch ein Initiativrecht. [Ergänzung: Dieses
Beteiligungsrecht steht dem Gesamtbetriebsrat zu, wenn und soweit die
Beschwerdestelle vom Unternehmer unternehmenseinheitlich eingerichtet
worden ist].

2. Kein Mitbestimmungsrecht besteht bei der Frage, wo der Arbeitgeber die


Beschwerdestelle errichtet und wie er diese personell besetzt.

Textauszug: „[22] ... Gleichwohl besteht bei der Frage, wo die Beschwerdestelle
zu errichten ist, kein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 BetrVG. Ein solches
folgt insbesondere nicht aus § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG. Die Verortung der
Beschwerdestelle ist keine Frage der Ordnung des Betriebs oder des Verhaltens
der Arbeitnehmer im Betrieb. – [23] (1) Gegenstand der Mitbestimmung nach §
87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG ist das betriebliche Zusammenleben und
Zusammenwirken der Arbeitnehmer. Es beruht darauf, dass die Arbeitnehmer
ihre vertraglich geschuldete Leistung innerhalb einer vom Arbeitgeber
vorgegebenen Arbeitsorganisation erbringen und dabei dessen Weisungsrecht
unterliegen. Das berechtigt den Arbeitgeber dazu, Regelungen vorzugeben, die
das Verhalten der Belegschaft im Betrieb beeinflussen und koordinieren sollen.

Anuschek/Seel, Aktuelle Rechtsprechung für Betriebs- und Personalräte (Juni 2010) Seite 24 von 33
Bei solchen Maßnahmen hat der Betriebsrat mitzubestimmen. Das soll
gewährleisten, dass die Arbeitnehmer gleichberechtigt an der Gestaltung des
betrieblichen Zusammenlebens teilhaben (BAG 28. Mai 2002 - 1 ABR 32/01 - zu B
I 2 a der Gründe mwN, BAGE 101, 216). Die „Ordnung des Betriebs“ iSv. § 87 Abs.
1 Nr. 1 BetrVG ist jedoch nicht gleichbedeutend mit dessen Organisation. Diese
unterfällt nicht der Mitbestimmung des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 1
BetrVG (Wiese GK-BetrVG 8. Aufl. § 87 Rn. 173 mwN; Fitting § 87 Rn. 63).
Organisatorische Maßnahmen unterliegen vielmehr - in bestimmten Fällen - den
schwächeren Beteiligungsrechten nach §§ 90, 91 BetrVG. Zur
mitbestimmungsfreien Organisation des Arbeitgebers gehört auch dessen
Befugnis zu bestimmen, welche Personen oder Stellen für ihn im Verhältnis zu
den Arbeitnehmern Rechte wahrzunehmen und Pflichten zu erfüllen haben (BAG
13. Mai 1997 - 1 ABR 2/97 - zu B II 2 b der Gründe mwN, AP BetrVG 1972 § 37 Nr.
119 = EzA BetrVG 1972 § 37 Nr. 135).

[24] (2) Danach unterliegt die Entscheidung des Arbeitgebers, wo er die


Beschwerdestelle einrichtet, nicht der Mitbestimmung des Betriebsrats nach § 87
Abs. 1 Nr. 1 BetrVG . Bei der Bestimmung der Beschwerdestelle geht es nicht um
das betriebliche Zusammenleben und Zusammenwirken der Arbeitnehmer,
sondern darum, welche Stelle oder Person für den Arbeitgeber berechtigt und
verpflichtet ist, die Beschwerden der Arbeitnehmer entgegenzunehmen. Dies
betrifft die mitbestimmungsfreie Organisation des Arbeitgebers. – [25] 2.
Gleiches gilt für die personelle Besetzung der Beschwerdestelle.“

3. Mitbestimmung bei der Beschäftigung einer Leiharbeitnehmerin


nach § 99 BetrVG –Verstoß gegen das „equal-pay-Gebot“
Die Entscheidung: BAG 21.07.2009 – 1 ABR 35/08 – DB 2009, 2157 = NZA
2009, 1156 = AP Nr. 4 zu § 3 AÜG

Sachverhalt: Die Beteiligten streiten über die Ersetzung der vom Betriebsrat
verweigerten Zustimmung zur Beschäftigung einer Leiharbeitnehmerin.

Die Arbeitgeberin, ein Zeitungsverlag, ist tarifgebunden und wendet auf die
Arbeitsverhältnisse der bei ihr beschäftigten Arbeitnehmer die
Branchentarifverträge des Zeitungsverlagsgewerbes Niedersachsen/Bremen an.
Für ihren Betrieb in S ist ein Betriebsrat errichtet. Mit Schreiben vom 2. August
2007 unterrichtete sie diesen über die beabsichtigte Beschäftigung der bei der E-
W P GmbH (im Folgenden: EWP) angestellten Leiharbeitnehmerin W und teilte
mit, dass sich Gehalt und Gehaltsgruppe nach den tariflichen Bedingungen des
Verleihers richteten. Die EWP befasst sich mit der Überlassung von
Arbeitnehmern und besitzt die Erlaubnis zur gewerbsmäßigen
Arbeitnehmerüberlassung. Ihre Gesellschafter sind weitgehend identisch mit
denen der Arbeitgeberin. Der Personalleiter der Arbeitgeberin ist zugleich
Geschäftsführer der EWP. Mit Schreiben vom 9. August 2007 verweigerte der
Betriebsrat seine Zustimmung zur Einstellung mit dem Argument, mit der

Anuschek/Seel, Aktuelle Rechtsprechung für Betriebs- und Personalräte (Juni 2010) Seite 25 von 33
Einstellung werde das tarifliche Entlohnungssystem untergraben. Außerdem
verstoße die schlechtere Vergütung der Leiharbeitnehmerin gegen das „equal-
pay-Prinzip“ aus §§ 3, 9 Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG).

Die Arbeitgeberin hat in dem von ihr am 7. September 2007 eingeleiteten


Verfahren die gerichtliche Ersetzung der Zustimmung des Betriebsrats zur
Beschäftigung der Leiharbeitnehmerin W begehrt. Sie hat die Auffassung
vertreten, die Zustimmungsverweigerung des Betriebsrats sei, soweit sie sich
überhaupt § 99 Abs. 2 BetrVG zuordnen lasse, unbegründet. – Der Antrag der
Arbeitgeberin hatte in allen Instanzen Erfolg.

Leitsatz: Der Betriebsrat im Betrieb des Entleihers kann seine Zustimmung zur
Übernahme eines Leiharbeitnehmers nicht mit der Begründung verweigern, die
Arbeitsbedingungen des Leiharbeitnehmers verstießen gegen das
Gleichstellungsgebot von § 3 Absatz 1 Nr. 3, § 9 Nr. 2 AÜG ("equal-pay-Gebot").

Textauszug: „[25] cc) Die Übernahme der Leiharbeitnehmerin durch die


Arbeitgeberin verstößt nicht gegen ein Gesetz. Ein Verstoß gegen das in § 9 Nr. 2,
§ 3 Abs. 1 Nr. 3 AÜG normierte Gleichstellungsgebot („equal-pay-Gebot“) ist nicht
hinreichend dargetan. Selbst wenn er vorläge, würde dies die
Zustimmungsverweigerung nicht rechtfertigen.

[26] (1) Das Gleichstellungsgebot des § 3 Abs. 1 Nr. 3, § 9 Nr. 2 AÜG untersagt
grundsätzlich Vereinbarungen, die für den Leiharbeitnehmer für die Zeit der
Überlassung an einen Entleiher schlechtere als die im Betrieb des Entleihers für
einen vergleichbaren Arbeitnehmer des Entleihers geltenden wesentlichen
Arbeitsbedingungen einschließlich des Arbeitsentgelts vorsehen. Allerdings kann
nach § 3 Abs. 1 Nr. 3 Satz 2, § 9 Nr. 2 3. Halbs. AÜG ein Tarifvertrag abweichende
Regelungen zulassen. Im Geltungsbereich eines solchen Tarifvertrags können
nach § 3 Abs. 1 Nr. 3 Satz 3, § 9 Nr. 2 4. Halbs. AÜG nicht tarifgebundene
Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Anwendung der tariflichen Regelungen
vereinbaren. Die Folgen einer Verletzung des Gleichstellungsgebots regelt das
AÜG. Zum einen ist nach § 3 Abs. 1 AÜG die Erlaubnis zur
Arbeitnehmerüberlassung oder deren Verlängerung zu versagen. Außerdem
kommt nach § 4 Abs. 1, § 5 Abs. 1 Nr. 3 AÜG die Rücknahme oder der Widerruf
der Erlaubnis zur Arbeitnehmerüberlassung in Betracht. Wird ein Vertrag
zwischen Verleiher und Leiharbeitnehmer unwirksam, weil der Verleiher die nach
§ 1 AÜG erforderliche Erlaubnis verliert, so gilt nach § 10 Abs. 1 Satz 1 1. und 2.
Halbs. AÜG mit dem Eintritt der Unwirksamkeit ein Arbeitsverhältnis zwischen
dem Arbeitnehmer und dem Entleiher als zustande gekommen. Zum anderen
sind nach § 9 Nr. 2 AÜG Vereinbarungen, die dem Gleichstellungsgebot
widersprechen, unwirksam. Die Rechtsfolge der Unwirksamkeit ergibt sich aus §
10 Satz 4 AÜG. Danach kann der Leiharbeitnehmer von dem Verleiher die
Gewährung der im Betrieb des Entleihers für einen vergleichbaren Arbeitnehmer
des Entleihers geltenden wesentlichen Arbeitsbedingungen einschließlich des
Entgelts verlangen.

Anuschek/Seel, Aktuelle Rechtsprechung für Betriebs- und Personalräte (Juni 2010) Seite 26 von 33
[27] (2) Hier kann nach den tatsächlichen Feststellungen des
Landesarbeitsgerichts nicht von einer Verletzung des „equal-pay-Gebots“ des § 3
Abs. 1 Nr. 3, § 9 Nr. 2 AÜG ausgegangen werden. Auch wenn die von der
Leiharbeitnehmerin W mit der EWP vereinbarten Arbeitsbedingungen schlechter
sein sollten als diejenigen von vergleichbaren Arbeitnehmern der Arbeitgeberin,
ergäbe sich allein daraus noch kein Verstoß gegen das Gleichstellungsgebot.
Vielmehr wäre dieses nicht verletzt, wenn - wofür vieles spricht, bindende
tatsächliche Feststellungen aber nicht getroffen sind - die EWP mit Frau W gemäß
§ 3 Abs. 1 Nr. 3 Satz 3, § 9 Nr. 2 4. Halbs. AÜG die Anwendung der tariflichen
Bedingungen eines für Zeitarbeitsunternehmen einschlägigen Tarifvertrags
vereinbart hat. Die Frage kann hier dahinstehen.

[28] (3) Selbst wenn das Gleichstellungsgebot des § 3 Abs. 1 Nr. 3, § 9 Nr. 2 AÜG
verletzt wäre, könnte der Betriebsrat mit dieser Begründung die Zustimmung zur
Übernahme der Leiharbeitnehmerin nicht verweigern. Im Beschluss vom 25.
Januar 2005 hat der Senat dahinstehen lassen, ob die Verletzung des
Gleichstellungsgebots des § 3 Abs. 1 Nr. 3 AÜG bei der gewerbsmäßigen
Arbeitnehmerüberlassung angesichts der möglichen gewerberechtlichen Folgen
nach einem Verbot der tatsächlichen Beschäftigung des Leiharbeitnehmers
verlange (- 1 ABR 61/03 - zu B II 4 b bb (3) (b) der Gründe, BAGE 113, 218). Dies
ist nicht der Fall. Eine Verletzung des „equal-pay-Gebots“ begründet gegenüber
der Übernahme eines Leiharbeitnehmers in den Entleiherbetrieb kein
Zustimmungsverweigerungsrecht des dortigen Betriebsrats (DKK Kittner/Bachner
BetrVG 11. Aufl. § 99 Rn. 175; Fitting BetrVG 24. Aufl. § 99 Rn. 192; Hamann NZA
2003, 526, 533; Reuter ZfA 2006, 459, 460; Schüren/Hamann AÜG 3. Aufl. § 14
Rn. 191 mwN; Wensing/Freise BB 2004, 2238, 2242). Die Gesamtkonzeption des
AÜG gebietet es nicht, im Falle eines Verstoßes gegen das Gleichstellungsgebot
bereits die Übernahme des Leiharbeitnehmers in den Betrieb des Entleihers als
solche zu unterbinden. Vielmehr widerspräche es gerade dem Sinn und Zweck
des AÜG, wenn die Einstellung in einem solchen Fall gänzlich unterbliebe . Erst
durch die Übernahme in den Entleiherbetrieb ergibt sich für den
Leiharbeitnehmer die Möglichkeit, die bei Verletzung des Gleichstellungsgebots
bestehenden Ansprüche nach § 10 Satz 4 AÜG oder gar im Falle einer späteren
Rücknahme oder des Widerrufs der Erlaubnis zur Arbeitnehmerüberlassung
gemäß § 1 AÜG die Fiktion des Zustandekommens eines Arbeitsverhältnisses mit
dem Entleiher nach § 10 Abs. 1 Satz 1 2. Halbs. AÜG geltend zu machen.
Unterbliebe die Einstellung überhaupt, hätte der Leiharbeitnehmer diese
Möglichkeiten nicht. Die Nichtübernahme würde seine Position nicht verbessern,
sondern seinen schützenswerten Interessen gerade zuwiderlaufen.“

V. Arbeitskampf und Tarifvertragsrecht

1. Ende der zwingenden Wirkung eines Tarifvertrages nach Austritt


des Arbeitgebers aus dem Arbeitgeberverband
Die Entscheidung: BAG 01.07.09 – 4 AZR 261 /08 – NZA 2010, 53

Anuschek/Seel, Aktuelle Rechtsprechung für Betriebs- und Personalräte (Juni 2010) Seite 27 von 33
Sachverhalt: Die Parteien streiten um die Arbeitszeit des Klägers. Ursprünglich
waren Arbeitgeber und Arbeitnehmer tarifgebunden. Zur Arbeitszeit war in dem
Gemeinsamen Manteltarifvertrag für die Arbeiter und Angestellten in der
weiterverarbeitenden Eisen-, Metall- und Elektroindustrie des Saarlandes (GMTV)
die 35-Stunden-Woche geregelt. Im September 2004 ist die Arbeitgeberin aus
dem Arbeitgeberverband ausgetreten.

Im Januar 2005 hat die Arbeitgeberin mit dem Arbeitnehmer eine Änderung zum
Arbeitsvertrag vereinbart, nach der der Arbeitnehmer (stufenweise ansteigend)
verpflichtet war, ab Januar 2007 wöchentlich 38 Stunden bei gleichem
Einkommen zu arbeiten.

Im Juli 2005 vereinbarten die Tarifvertragsparteien einen neuen


Manteltarifvertrag (MTV 2005), der in den Betrieben ab dem Zeitpunkt gelten
sollte, zu dem in dem jeweiligen Betrieb das Entgeltrahmenabkommen (ERA) der
Metallindustrie umgesetzt werde. Das ERA konnte ab 2006 eingeführt werden
und gilt zwingend in allen tarifgebundene Betrieben seit 2009.

Im November 2007 wurde dann in einer Krise des Arbeitgebers ein


Firmentarifvertrag mit der IG Metall abgeschlossen, nach dem die 38-Stunden-
Woche für alle Arbeitnehmer des Betriebes eingeführt wurde.

Der Kläger meint, für ihn habe bis zur Einführung des Firmentarifvertrages im
November 2007 nach wie vor die 35-Stunden-Woche aus dem GMTV gegolten, da
der Änderungsvertrag zum Arbeitsvertrag aus Januar 2005 wegen Vorrang des
Tarifvertrages (GMTV) keine Wirkung entfalte. Die Arbeitgeberin meint, der GMTV
binde sie nicht mehr, da sie mit Wirkung ab September 2004 aus dem
tarifschließenden Arbeitgeberverband ausgetreten sei. – Der Kläger hat vor dem
Bundesarbeitsgericht Recht bekommen.

Leitsätze: 1. Nach dem Wegfall der Tarifgebundenheit nach § 3 Absatz 1 TVG


infolge eines Austritts aus dem Arbeitgeberverband gelten die Tarifverträge
gemäß der in § 3 Absatz 3 TVG geregelten Nachbindung unmittelbar und
zwingend bis zur Beendigung des Tarifvertrages weiter.

2. Die Nachbindung an einen Tarifvertrag nach § 3 Absatz 3 TVG endet mit jeder
Änderung der durch den betreffenden Tarifvertrag normierten materiellen
Rechtslage. Eine solche kann durch die Änderung des betreffenden Tarifvertrags
erfolgen. Sie kann aber auch in der Vereinbarung einer auf den Tarifinhalt
einwirkenden Tarifnorm in einem neuen Tarifvertrag liegen [hier: Einführung des
MTV zur Ablösung des GMTV].

2. Arbeitskampf in Form von „Flashmob-Aktionen“


Die Entscheidung: BAG 22.09.09 – 1 AZR 972/08 – NJW 2010, 631 = MDR 2010,
451

Anuschek/Seel, Aktuelle Rechtsprechung für Betriebs- und Personalräte (Juni 2010) Seite 28 von 33
Sachverhalt: Der Arbeitgeberverband Einzelhandel verklagt die
dienstleistungsgewerkschaft ver.di auf zukünftige Unterlassung von sogenannten
„Flashmob-Aktionen“.

Der Streit entstand anlässlich eines von Streiks begleiteten Tarifkonflikts für den
Einzelhandel in Berlin und Brandenburg. Ver.di hatte über Internet und Presse zu
Flashmob-Aktionen aufgerufen und hat dazu ein Kommunikationssystem
aufgebaut und angeboten, das über das massenhafte Versenden SMS an die
Teilnehmer der Aktion funktioniert.

Am 8. Dezember 2007 führte ver.di ab 10.45 Uhr in der Filiale eines


Mitgliedsunternehmen des klagenden Einzelhandelsverbandes im Berliner
Ostbahnhof eine „Flashmob-Aktion“ durch. An dieser beteiligten sich ca. 40 bis
50 Personen, die per SMS von der Beklagten dorthin bestellt worden waren.
Zunächst betraten etwa drei Personen die Filiale, klebten ein Flugblatt mit einem
Streikaufruf an einen Backofen in der Filiale und deponierten weitere Flugblätter
an der Kasse. Außerdem sprachen sie eine der vier in der Filiale tätigen
Arbeitnehmerinnen an und forderten sie zur Streikteilnahme auf. In der Folgezeit
begaben sich ca. 40 Personen in das Ladengeschäft. Zum einen kauften sie dort
sog. Cent-Artikel. Deren Einscannen durch die Kassiererinnen nahm längere Zeit
in Anspruch, so dass sich an den Kassen Warteschlangen bildeten. Zum anderen
befüllten die Aktionsteilnehmer etwa 40 Einkaufswagen und ließen sie dann ohne
Begründung oder mit dem Vorwand, das Geld vergessen zu haben, in den
Gängen oder im Kassenbereich stehen. In einem Fall begab sich eine Frau mit
einem von ihr gefüllten Einkaufswagen an die Kasse und bejahte dort die Frage
der Kassiererin, ob sie bezahlen könne. Die Artikel wurden sodann von der
Kassiererin eingescannt und von der Frau wieder in den Einkaufswagen gelegt. Es
ergab sich ein Gesamtbetrag von 371,78 Euro. Die Aktionsteilnehmerin erklärte
daraufhin, ihr Geld vergessen zu haben und stellte den Einkaufswagen an der
Kasse ab. Dabei klatschten die anderen Aktionsteilnehmer Beifall und brachten
durch laute Zurufe ihr Gefallen zum Ausdruck. Die ganze Aktion dauerte knapp
eine Stunde.

Leitsatz: Eine streikbegleitende Aktion, mit der eine Gewerkschaft in einem


öffentlich zugänglichen Betrieb kurzfristig und überraschend eine Störung
betrieblicher Abläufe hervorrufen will, um zur Durchsetzung tariflicher Ziele
Druck auf die Arbeitgeberseite auszuüben, ist nicht generell unzulässig. Der
damit verbundene Eingriff in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb
des betroffenen Arbeitgebers kann aus Gründen des Arbeitskampfrechts
gerechtfertigt sein, wenn dem Arbeitgeber wirksame Verteidigungsmöglichkeiten
zur Verfügung stehen.

1. Sogenannte "Flashmob-Aktionen", bei denen viele Menschen koordiniert zur


gleichen Zeit Artikel von geringem Wert einkaufen, um so für längere Zeit den
Kassenbereich zu blockieren, oder viele Menschen zur gleichen Zeit ihre
Einkaufswagen befüllen, um diese dann an der Kasse oder anderswo in den
Filialräumen stehen zu lassen, führen eine gezielte Störung betrieblicher Abläufe

Anuschek/Seel, Aktuelle Rechtsprechung für Betriebs- und Personalräte (Juni 2010) Seite 29 von 33
herbei und stellen typischerweise einen Eingriff in den eingerichteten und
ausgeübten Gewerbebetrieb des Einzelhändlers dar.

2. Bei streikbegleitenden "Flashmob-Aktionen" handelt sich um eine


koalitionsspezifische Betätigung der Gewerkschaft. Dem steht nicht entgegen,
dass derartige Aktionsformen bislang kein typisches, in der Geschichte des
Arbeitskampfs schon seit längerem bekanntes und anerkanntes, sondern ein
neues Arbeitskampfmittel sind. Dem Schutz des Art 9 Absatz 3 GG unterfällt nicht
nur ein historisch gewachsener, abschließender numerus clausus von
Arbeitskampfmitteln. Vielmehr gehört es zur verfassungsrechtlich geschützten
Freiheit der Koalitionen, ihre Kampfmittel an die sich wandelnden Umstände
anzupassen, um dem Gegner gewachsen zu bleiben und ausgewogene
Tarifabschlüsse zu erzielen.

3. Der Schutzbereich des Art 9 Absatz 3 GG auch nicht etwa deshalb versperrt,
weil nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann, dass sich an
gewerkschaftlichen "Flashmob-Aktionen" auch Dritte beteiligen. Hierdurch wird
die Aktion nicht typischerweise zum Demonstrationsarbeitskampf, der auf eine
kollektive Meinungsäußerung zu etwaigen politischen, gesellschaftlichen oder
wirtschaftlichen Verhältnissen gerichtet ist und nicht der Durchsetzung tariflicher
Forderungen dient.

4. Der Umstand, dass zum Zwecke des Arbeitskampfs durchgeführte "Flashmob-


Aktionen" dem Schutzbereich des Art. 9 Absatz 3 GG unterfallen, bedeutet nicht,
dass sie deshalb stets zulässig wären. Ihre Zulässigkeit richtet sich vielmehr nach
der Ausgestaltung des Grundrechts durch die Rechtsordnung. Maßgebliches
Prinzip ist insoweit der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im weiten Sinn.

Textauszug: „Der Kläger [der Einzelhandelsverband] kann von der Beklagten


[ver.di] nicht verlangen, dass diese künftig im Rahmen von Arbeitskämpfen
jeglichen Aufruf zu den im Klageantrag beschriebenen streikbegleitenden
„Flashmob-Aktionen“ im Einzelhandel unterlässt. Eine gewerkschaftliche Aktion,
bei der die Teilnehmer durch den Kauf geringwertiger Waren oder das Befüllen
und Stehenlassen von Einkaufswagen in einem Einzelhandelsgeschäft kurzfristig
und überraschend eine Störung betrieblicher Abläufe hervorrufen, ist im
Arbeitskampf nicht generell unzulässig. Zwar greift eine derartige Aktion in den
eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb des Betriebsinhabers ein. Der
Eingriff kann aber aus Gründen des Arbeitskampfs gerechtfertigt sein.
Gewerkschaftliche Maßnahmen, die in einem laufenden Arbeitskampf zur
Durchsetzung tariflicher Ziele auf eine Störung betrieblicher Abläufe gerichtet
sind, unterfallen grundsätzlich der durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleisteten
Betätigungsfreiheit der Gewerkschaften. Diese ist nicht auf das Kampfmittel der
kollektiven Arbeitsniederlegung beschränkt, sondern umfasst auch andere
Kampfformen. Die Zulässigkeit der konkret gewählten Arbeitskampfmittel richtet
sich, wie bei sonstigen Kampfmitteln auch, nach dem Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit. Arbeitskampfmittel sind rechtswidrig, wenn sie zur
Durchsetzung der - zwar rechtmäßig - erhobenen Forderungen offensichtlich
ungeeignet oder nicht erforderlich oder wenn sie unangemessen sind.

Anuschek/Seel, Aktuelle Rechtsprechung für Betriebs- und Personalräte (Juni 2010) Seite 30 von 33
Regelmäßig unangemessen sind Verletzungen der in § 823 Abs. 1 BGB
ausdrücklich genannten Rechte wie Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit und
Eigentum. Dies gilt nicht in gleicher Weise für den arbeitskampfbedingten Eingriff
in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb. Ob ein solcher
angemessen ist, hängt wesentlich davon ab, ob das Kampfmittel den durch
Richterrecht entwickelten Grundsätzen genügt. Dazu zählt insbesondere das
Gebot der fairen Kampfführung. Dabei ist von wesentlicher Bedeutung, ob für den
Arbeitgeber Verteidigungsmöglichkeiten bestehen. Solche können sich ua. aus
seinem Hausrecht und der Möglichkeit zur suspendierenden Betriebsschließung
ergeben. Danach sind „Flashmob-Aktionen“ der streitbefangenen Art nicht
generell unangemessen.“

Hinweis: Gegen die Entscheidung wurde Verfassungsbeschwerde eingelegt.

3. Grenzen der Vereinbarungsmacht der Betriebspartner


Die Entscheidung: BAG 05.08.2009 – 10 AZR 483/08 – AP Nr. 85 zu § 242 BGB
Betriebliche Übung = NZA 2009, 1105

Sachverhalt: Die Parteien streiten über die Zahlung des Weihnachtsgeldes für
das Jahr 2006.

Die beklagte Arbeitgeberin stellt Fleisch- und Wurstwaren her. Der klagende
Arbeitnehmer ist bei ihr bereits seit vielen Jahren als Angestellter beschäftigt.
Seit mehr als zehn Jahren zahlte die Arbeitgeberin ihm und ihren anderen
Arbeitnehmern jeweils mit der Vergütung für November Weihnachtsgeld in Höhe
eines gleichbleibenden Prozentsatzes der Bruttomonatsvergütung. Zuletzt erhielt
der Kläger im Jahr 2005 Weihnachtsgeld iHv. 894,00 Euro brutto. Am 21.
November 2006 schloss die Beklagte mit dem Betriebsrat folgende
Betriebsvereinbarung:

„Mit Blick auf die schwierige Lage, in der sich die [Arbeitgeberin] aufgrund
der eingeschränkten Funktionsfähigkeit der neu errichteten
Rohwurstproduktionsanlage gegenwärtig befindet, vereinbaren die
Betriebspartner mit einer Geltung für alle im Unternehmen tätigen
Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, wie folgt: 1. Für das Kalenderjahr
2006 wird keine Jahressonderzuwendung (Weihnachtsgeld) gezahlt. 2.
Diese Vereinbarung beschränkt sich auf das Kalenderjahr 2006.“

Für das Jahr 2006 erhielten der Kläger und die anderen Arbeitnehmer der
Beklagten kein Weihnachtsgeld.

Der Kläger ist der Auffassung, die Beklagte schulde ihm aus betrieblicher Übung
Weihnachtsgeld für das Jahr 2006. Durch die jahrelange vorbehaltlose Zahlung
des Weihnachtsgeldes sei ein vertraglicher Anspruch auf Weihnachtsgeld
begründet worden. Dieser Anspruch sei durch die Betriebsvereinbarung vom 21.
November 2006 für das Jahr 2006 nicht aufgehoben worden.

Anuschek/Seel, Aktuelle Rechtsprechung für Betriebs- und Personalräte (Juni 2010) Seite 31 von 33
Der Kläger hat in allen Instanzen Recht bekommen.

Leitsatz: 1. Ist der Arbeitgeber durch eine dreimalige vorbehaltlose


Gratifikationszahlung vertraglich zur Leistung verpflichtet, kann er einen nach
den Grundsätzen der betrieblichen Übung entstandenen Anspruch des
Arbeitnehmers auf Weihnachtsgeld ebenso wie einen im Arbeitsvertrag
geregelten Weihnachtsgeldanspruch nur durch Kündigung oder eine
entsprechende Vereinbarung mit dem Arbeitnehmer beseitigen. Ein durch
betriebliche Übung begründeter Vergütungsanspruch des Arbeitnehmers ist ohne
entsprechende Abreden der Arbeitsvertragsparteien nicht grundsätzlich
"betriebsvereinbarungsoffen".

2. Will ein Arbeitgeber verhindern, dass im Verhältnis zu einer


Betriebsvereinbarung das Günstigkeitsprinzip gilt und dem Arbeitnehmer
günstigere einzelvertragliche Abreden über eine Sonderzahlung gegenüber den
in einer Betriebsvereinbarung getroffenen Regelungen Vorrang haben, muss er
die Sonderzahlung unter dem Vorbehalt einer ablösenden Betriebsvereinbarung
leisten. Dieser Vorbehalt muss ebenso wie ein Widerrufs- oder
Freiwilligkeitsvorbehalt dem Transparenzgebot des § 307 Absatz 1 Satz 2 BGB
genügen.

Textauszug: „[12] 2. Will ein Arbeitgeber verhindern, dass im Verhältnis zu einer


Betriebsvereinbarung das Günstigkeitsprinzip gilt und dem Arbeitnehmer
günstigere einzelvertragliche Abreden über eine Sonderzahlung gegenüber den
in einer Betriebsvereinbarung getroffenen Regelungen Vorrang haben, darf er die
Sonderzahlung nicht jahrelang ohne jeden Vorbehalt leisten.

[13] a) Auch eine mündliche oder durch betriebliche Übung begründete


Vertragsbedingung, die der Arbeitgeber für eine Vielzahl von Arbeitsverhältnissen
verwendet, ist eine Allgemeine Geschäftsbedingung (BAG 27. August 2008 - 5
AZR 820/07 - AP BGB § 307 Nr. 36 = EzA TVG § 4 Tariflohnerhöhung Nr. 49). Nach
§ 307 Abs. 1 Satz 2 BGB kann sich eine zur Unwirksamkeit der Klausel führende
unangemessene Benachteiligung (§ 307 Abs. 1 Satz 1 BGB) daraus ergeben, dass
die Klausel nicht klar und verständlich ist. Die tatbestandlichen Voraussetzungen
und Rechtsfolgen müssen in einer Vertragsklausel deshalb so genau beschrieben
werden, dass für den Verwender keine ungerechtfertigten
Beurteilungsspielräume entstehen. Eine Klausel hat vielmehr im Rahmen des
rechtlich und tatsächlich Zumutbaren die Rechte und Pflichten des
Vertragspartners so eindeutig und so verständlich wie möglich darzustellen (BAG
27. August 2008 - 5 AZR 820/07 - aaO).

[14] b) In der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist anerkannt, dass ein


Widerrufsvorbehalt, der das Recht des Arbeitgebers begründen soll,
versprochene Leistungen einseitig zu ändern, dem Transparenzgebot des § 307
Abs. 1 Satz 2 BGB genügen und hinsichtlich der Voraussetzungen und des
Umfangs der vorbehaltenen Änderungen so konkret formuliert sein muss, dass
der Arbeitnehmer erkennen kann, was gegebenenfalls „auf ihn zukommt“ (vgl.
11. Oktober 2006 - 5 AZR 721/05 - AP BGB § 308 Nr. 6 = EzA BGB 2002 § 308 Nr.

Anuschek/Seel, Aktuelle Rechtsprechung für Betriebs- und Personalräte (Juni 2010) Seite 32 von 33
6; 12. Januar 2005 - 5 AZR 364/04 - BAGE 113, 140, 146). Ebenso muss der
Arbeitgeber einen Freiwilligkeitsvorbehalt bei Sonderzahlungen, der einen
Rechtsanspruch des Arbeitnehmers auf künftige Leistungen ausschließen soll, so
klar und verständlich abfassen, dass der Arbeitnehmer gemäß dem Sinn und
Zweck des Transparenzgebots den Vertragsinhalt sachgerecht beurteilen und
erkennen kann, dass er keinen Rechtsanspruch auf künftige Leistungen hat (vgl.
BAG 18. März 2009 - 10 AZR 289/08 - NZA 2009, 535; 21. Januar 2009 - 10 AZR
219/08 - EzA BGB 2002 § 307 Nr. 41; 10. Dezember 2008 - 10 AZR 1/08 - AP BGB
§ 307 Nr. 40 = EzA BGB 2002 § 307 Nr. 40; 30. Juli 2008 - 10 AZR 606/07 - AP
BGB § 611 Gratifikation Nr. 274 = EzA BGB 2002 § 307 Nr. 38; 24. Oktober 2007 -
10 AZR 825/06 - AP BGB § 307 Nr. 32 = EzA BGB 2002 § 307 Nr. 26).

[15] c) Will ein Arbeitgeber seinen Arbeitnehmern eine Sonderzahlung unter dem
Vorbehalt einer ablösenden Betriebsvereinbarung leisten, muss dieser Vorbehalt
ebenso wie ein Widerrufs- oder Freiwilligkeitsvorbehalt dem Transparenzgebot
des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB genügen. ...“

Anuschek/Seel, Aktuelle Rechtsprechung für Betriebs- und Personalräte (Juni 2010) Seite 33 von 33

You might also like