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Autorität und Freiheit in der Theologie*)

Von

Karl Gerhard Steck

Die Frage nach der wahren Begründung und nach dem rechten
Verhältnis von Autorität und Freiheit ist dem Menschen auf allen
Gebieten des Lebens und Denkens gestellt. Weder im vorwissen-
schaftlichen noch im wissenschaftlichen Stadium seiner Erkenntnis-
bemühung hat er sich ihr als einer Grundfrage seines Daseins in der
Welt je entziehen können und er hat sie, ganz allgemein gesagt,
immer derart beantwortet, daß ihm in den mit den Worten Autori-
tät und Freiheit gemeinten Sachverhalten zwei U r g e g e b e n -
h e i t e η seines Lebens entgegentreten, die er zwar dialektisch ver-
binden und ins Verhältnis setzen, aber nicht letztlich ausgleichen
kann. Auch dort, wo ihm angesichts seiner natürlichen Bestimmt-
heit, in Geschlecht und Charakter, in Schuld und Schicksal etwa,
nichts an Freiheit gelassen zu sein scheint, nimmt er seine Zuflucht
zur inneren Freiheit seiner selbst als des erkennenden, wollenden,
fühlenden Subjekts. „Si fractus illabatur orbis, impavidum ferient
ruinae." „Der Mensch ist frei, und wär er in Ketten geboren."
Nur in der Distanz der Abstraktion oder in nachträglicher
Konstruktion kann es freilich so aussehen, als sei das Verhältnis
von Autorität und Freiheit für den Mens dien immerhin in solcher
Dialektik ausreichend zur Darstellung zu bringen. In der Geschichte
des menschlichen Lebens zeigt sich vielmehr ein ständiger Kampf
um die Freiheit g e g e n die vorgegebene, den Menschen fesselnde
Autorität. Dieser Kampf betrifft, wenn audi nicht immer in gleicher
Stärke, alle Gebiete der Wirklichkeit und spielt sich also ab als
Kampf um die geistige, um die politische, um die wirtschaftliche
Freiheit — um nur diese wichtigsten Kapitel aus der Geschichte
der menschlichen Freiheitsbemühungen zu nennen. Dieser Kampf
um die Freiheit bedient sich aller Mittel und aller Bundesgenossen,
in der neueren Zeit ganz besonders auch der wissenschaftlichen
Erkenntnisbemühimg; ja, diese wird in dem Kampf um die Freiheit
zur stärksten Waffe. Im Zeichen des Strebens nach Freiheit des
menschlichen Geistes gelangt Wissenschaft ganz eigentlich zu ihrem
heutigen Ansehen.

*) Antrittsvorlesung, gehalten am 30. Juni 1954 nach Übernahme des


ordentlichen Lehrstuhls für evangelische Theologie (Stiftungsprofessur> in
der Philosophischen Fakultät der Johann Wolfgang Goethe-Universität
in Frankfurt am Main.

I Evangelisdie Theologie Helt 9 1954 389

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Die Frage stellt-sich — und sie stellt sich nicht nur für den Theo-
logen —, wo in dieser Sache der Platz und die Funktion der Theo-
logie zu finden und wie diese des näheren zu bestimmen seien. Das
ist noch nicht eigentlich die Fragestellung unseres Themas, aber es
scheint mir wesentlich, daß wir der Themafrage auf diesem kleinen
Umweg zu Leibe gehen. Denn auch die Theologie und der Theologe
leben in der Welt, in der der Kampf um die menschliche Freiheit
als geistige, politische, wirtschaftliche Freiheit ausgefochten wurde
und wird. Hier bietet sich zunächst folgendes Bild: Die Theologie ist
älter als jener die Neuzeit bestimmende Kampf um die Freiheit
des Geistes. Sie ist für den ersten Blick geradezu der Inbegriff und
Träger außermenschlicher, ja übermenschlicher, überweltlicher
Autorität. So hat sich der Kampf um die Freiheit weithin abgespielt
als Kampf gegen die autoritative Theologie, gegen deren autoritäts-
gebundenes Denken. Es ist hier kein wesentlicher Unterschied zu
machen, ob es sich um die autoritative Theologie im römisch-katho-
lischen oder im orthodox-protestantischen Bereich handelt. Es muß
dabei f ü r den Augenblick außer Betracht bleiben, ob es sich hier
nicht vielleicht letztlich um ein tiefes Mißverständnis handelte und
handelt, ob es nicht vielmehr doch sehr wesentliche Linien gebe,
die von dem Kampf der Neuzeit um Freiheit zur christlichen Tra-
dition im reformatorischen, vielleicht gerade aber auch im katholi-
schen Verständnis zurückführen. Erst recht kann und muß hier außer
Betracht bleiben, daß dieser Kampf der Neuzeit um die Freiheit
des Menschen auf seinen einzelnen Lebensgebieten nach vielen
Seiten hin selbst eine tiefe Problematik in sich birgt, die heute zum
Gegenstand vieler kritischer Analysen und Programme geworden ist.
Denn auch dies ändert nichts daran, daß nun einmal zwischen dem
Freiheitsstreben des Menschen und dem Bereich des theologischen
Denkens eine gegenseitige Fremdheit, ein gewisser Antagonismus,
ein erhebliches (und erbliches) Mißtrauen vorhanden ist, das als sol-
ches wiederum zu den wesentlichen Charakterzügen der neueren
Zeit, ja wohl noch immer auch des elementaren öffentlichen Be-
wußtseins der Gegenwart gehört.
Dabei sind vielleicht die indirekten Vorgänge noch viel bezeich-
nender und wirksamer als alle direkte Polemik und Apologetik.
Dahin dürfte insonderheit die klassische Formel des philosophischen
Positivismus gehören von den drei Zeitaltern des menschlichen Gei-
stes, dem theologischen, in dem der Mensch zunächst alle Erschei-
nungen .wissenschaftlich' mittels der Begriffe von Personen (Göt-
tern und Geistern) erklärt, dem metaphysischen, welchem abstrakte,
metaphysische Begriffe zur Welterklärung dienen, und dem posi-
tiven, in welchem Alles auf Erfahrung und Erfahrbares zurückge-
führt wird. Hier wird mit Hilfe des Entwicklungsgedankens dem
theologischen Denken endgültig der Platz in der Vergangenheit
angewiesen. Daß das so gesehen werden und geschehen konnte,
zeigt deutlich genug, wie völlig die Theologie abseits geraten war.
Ich glaube nicht zu irren, wenn ich einen wesentlichen Faktor im

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Vorgang der sogenannten Säkularisierung des neueren Denkens
eben in diesem Ausfallen von Theologie und Kirche bei dem Kampf
um die Freiheit des Menschen erblicken möchte. Es macht das
eigentliche Problem der neueren Theologie- und Kirchengeschichte
aus, daß und warum sie beide, Kirche und Theologie, an diesen
Platz, in dieses Licht oder vielmehr in diesen Schatten der Unfrei-
heit und der Rückständigkeit geraten konnten — ein Schatten, in
dessen Auswirkung dann auch die vielen neueren und neuesten
Modernisierungsversuche in Kirche und Theologie mit einer tiefen
Unglaubwürdigkeit behaftet und geschlagen sind.
Nicht auf dem Wege der Geschichtsforschung und -beschreibung
soll heute und hier dieser Frage nachgegangen werden, sondern auf
dem Wege einer systematisch-sachlichen Besinnimg darauf, wie
denn nun Autorität und Freiheit in der Theologie selbst, und zwar
in der protestantischen Theologie, gesehen und verstanden werden.
Dabei ist noch keine direkte Antwort auf die eben gestellte Frage
beabsichtigt, was theologische Erkenntnis und Wahrheitsfindung
in diesen Dingen für die allgemeine geistige Lage bedeuten, ob sie
etwas Förderliches beitragen können. Die Theologie ist keine prag-
matische Wissenschaft, deren Ertrag für Welt und Leben von Jahr
zu Jahr abgeschöpft, eingeerntet und bilanzmäßig ausgewiesen wer-
den könnte. So wie jede wirkliche Wissenschaft sieht auch sie sich
unter das Gebot der Sachlichkeit gestellt, und zwar unter das Ge-
bot der ihr eigentümlichen Sachlichkeit, um derentwillen sie Theo-
logie und nicht Philosophie, Philologie oder Psychologie ist — von
welchen allen sie etwas hat, ohne sich in deren Gesetzmäßigkeit je
einordnen zu lassen.
Autorität und Freiheit sind für das theologische Erkennen nicht
so etwas wie letzte Größen, Urgegebenheiten oder Axiome, sondern
sie sind bezogen auf eine andere, fremde, außer ihnen liegende,
schlechthin vorgegebene und überlegene Größe: auf Offenbarung.
Man würde der wirklichen Intentionen, der echten Probleme, des
eigentlichen Anspruchs aller theologischen Aussagen nicht gewahr,
solange Theologie nicht als Offenbarungstheologie gesehen wird.
Offenbarung ist ihrem ursprünglichen Wesen nach Widerfahrnis
des Hervortretens, des Sprechens, der Zuwendung Gottes. Als sol-
ches ursprüngliches Widerfahrnis ist sie unableitbar, inkommen-
surabel zu den Möglichkeiten und Kriterien von Vernunft und Er-
fahrung. Offenbarung ist nicht die Realisierung, sei es auch letzter
Möglichkeiten von Mensch und Welt, auch nicht einfachhin Antwort
auf die tiefsten Fragen des menschlichen Geistes oder so etwas wie
Sinngebung des sonst Sinnlosen. Zwischen ihr und uns besteht
nicht das Verhältnis wie zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit,
so daß wir die Wirklichkeit der Offenbarimg an dem bemessen
könnten, was sich nach unserer Erkenntnis und Erfahrung als Mög-
lichkeit denken oder aufweisen läßt. Offenbarung wird sich unserer
Möglichkeiten zwar bedienen können; aber es dürfte schon zuviel
gesagt sein, wenn wir deswegen unsere Möglichkeiten als notwen-

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dige Voraussetzung f ü r das Geschehen, für das Widerfahrnis von
Offenbarung bezeichnen oder ausgeben wollten. Offenbarung setzt
selbst Wirklichkeit. Wir folgen mit diesen wenigen Aussagever-
suchen über Offenbarung nicht irgend einer besonderen (neuen
oder alten) Offenbarungstheorie, sondern wir geben nur in einer
gewissen begrifflichen Abstraktion das wieder, was die mancherlei
und verschiedenartigen Offenbarungsberichte und -Zeugnisse der
biblischen Schriften des Alten und Neuen Testaments deutlich ge-
nug erkennen lassen. Dort sind die wesentlichen und wichtigen
Gestalten, Propheten und Apostel, in ihrem Zeugnis Zeugen und
Träger jenes höchst ursprünglichen Widerfahrnisses der (fast immer
ungesuchten) Selbstbekundung und Selbstmitteilung Gottes — dem
keiner etwas zuvor gegeben hat, daß ihm werde wieder vergolten,
wie es einmal heißt (Rm. 11, 35 mit Hiob 41, 3). Daß wir hier weder
übertreiben noch abschwächen, zeigt sich, sobald wir der Mitte
alles biblischen Offenbarungsgeschehens auch nur flüchtig ansichtig
werden: der Menschwerdung Gottes in Christus und der Aufer-
stehung Jesu Christi von den Toten. Wer über das Verhältnis von
göttlicher Offenbarung und menschlicher Erkenntnis nachdenken
will, muß dort anfangen und dorthin immer wieder zurückkehren.
Für unsere Frage nach Autorität und Freiheit aber ergibt sich
zunächst, daß im Ursprungsbereich des Offenbarungswiderfahrnisses
als Handeln Gottes am Menschen Autorität und Freiheit im tiefsten
E i n s sind. Denn Gott bestimmt sich in der Offenbarung in Frei-
heit selbst. Und f ü r den von der Offenbarimg betroffenen Men-
schen ergibt sich, daß seine höchst autoritative, unwidersprechliche,
denkbar souveräne Indienstnahme gleichzeitig höchste und letzte
Freiheit ist. Dies freilich nicht im Sinne eines ruhenden, unstör-
baren und ungestörten Verhältnisses, sondern in der ganzen Be-
wegtheit und Bewegung, in der wir den Propheten sagen hören:
„Herr, du hast mich überredet und ich habe mich überreden lassen"
(Jer. 20, 7) oder den Apostel: „Daß ich das Evangelium predige, darf
ich mich nicht rühmen; denn ich muß es tun. Und wehe mir, wenn
ich das Evangelium nicht predige" (1. Kor. 9, 16). Das Inkommen-
surable des Offenbarungswiderfahrnisses klingt in den Selbstbe-
kenntnissen der Offenbarungszeugen und -träger allenthalben deut-
lich nach.
Nun sind w i r aber gar nicht unmittelbar vor dieses ursprüngliche
Offenbarungswiderfahrnis gestellt; wir sind nicht Propheten und
Apostel und haben deshalb auch nicht ohne weiteres Zugang zu
der absoluten Autorität und schlechthinnigen Freiheit, die den
Offenbarungsursprung kennzeichnen und ausmachen. Zwischen
unsere irdisch-geschichtliche Wirklichkeit und jenen Ursprung ist
eine andere Instanz getreten — die Ü e r l i e f e r u n g von der
Offenbarung. Und zwar Überlieferung in der zweifachen Gestalt
des schriftlich vorliegenden Bibelwortes und des mündlich ergehen-
den, jeweils gegenwärtigen Kirchenwortes, welch letzteres seiner-
seits wieder die doppelte Gestalt der dogmatisch fixierten Lehraus-

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sage und der menschlich freien Rede in Predigt, Unterweisung,
Seelsorge, mit einem Wort in der lebendigen Verkündigung der
Kirche aufweist. Beide Gestalten der Überlieferung werden uns
durch die Kirche vermittelt. Diese konstituiert sich gerade in der
Weitergabe solcher Offenbarungsüberlieferung. Es ist dabei von
sekundärer Bedeutung, ob wir die Kirche mehr von Seiten ihrer
dynamischen oder ihrer statischen Struktur, ob mehr unter dem
Gesichtspunkt des Amtes oder der Gemeinde betrachten. Wir haben
es dort und nur dort mit der wirklichen Kirche zu tun, wo es in ihr
um die Überlieferung der göttlichen Offenbarimg und ihres spezi-
fischen Wahrheitsspruches geht. Gerade hier aber erhebt sich die
Frage nach Autorität und Freiheit in aller Schärfe; sie erhebt sich
für das theologische Denken, aber auch für alle übrige Erkenntnis-
bemühung des Menschen, sofern er sich nicht einfach entschließt,
diesen Fragenbereich zu ignorieren.
Die Wissenschaftlichkeit der Theologie besteht nun nicht darin,
daß sie das ihr in der Überlieferung entgegentretende Wort der
Bibel und der Kirche auf irgendwelche allgemeinen Kriterien be-
zieht, es daran mißt und gelten oder nicht gelten läßt. Theologie als
Wissenschaft fragt vielmehr nach der Eigenart der hier entgegen-
tretenden Autorität. Diese für die Theologie in Frage stehende
Autorität bezeichnet sich aber als Autorität der Offenbarung i n
jener Überlieferung. Nach dem Offenbarungsbezug der Überliefe-
rung also hat die Theologie zu fragen. Darin liegt ihr kritischer,
aber auch ihr positiver Charakter. Das kritische Geschäft der Theo-
logie vollzieht sich in zwei Stadien. Sie fragt zunächst nach dem
Offenbarungsbezug der ihr begegnenden Uberlieferung, d. h. der
Lehrverkündigung, des Dogmas der Kirche. Sie fragt darnach ohne
Befangenheit, d. h. ohne Seitenblick auf die größere oder geringere
politische, soziologische, allgemein geistige Mächtigkeit der Kirche.
Sie stellt diese Frage als kritische Frage i n der Kirche, aber die
Kirche ist nicht ihre Herrin und die Theologie ist nicht einfachhin,
wie es heute zuweilen gesagt wird, Funktion der Kirche. Der kriti-
schen Frage der Theologie zeigt sich dann die Autorität der Kirche
(als der Trägerin der Überlieferung) als n i c h t - a b s o l u t e
Autorität, nicht etwa als eine Autorität, die einer solchen kritischen
Frage einfach entzogen wäre. Die Autorität der Kirche wird viel-
mehr erkennbar in ihrer durchgängigen Relativität, d. h. in ihrer
notwendigen, aber gerade nicht selbstverständlichen Bezogenheit
auf die Offenbarung, von der sie herkommt, deren Spuren sie trägt,
deren Zeugnis und Echo sie ist.
Die Offenbarungsbezogenheit des Kirchenwortes ist nun aber für
das reformatorisch-protestantische Denken nicht unmittelbar zu dem
ursprünglichen Offenbarungsgeschehen, von dem oben die Rede
war. Die Rede der Kirche ist nicht als solche das Offenbarungs-
zeugnis der Propheten und Apostel, auch wenn, ja gerade weil sie
weiß, daß ihr der Geist verheißen ist, der in alle Wahrheit leitet
(Joh. 16, 13). Vielmehr gewinnt die Rede der Kirche ihre Autorität

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erst durch ihre strenge Bezogenheit, durch ihren strikten Gehorsam
gegenüber dem b i b l i s c h e n Offenbarungszeugnis; ja, die Kirche
selbst gewinnt und bewährt ihren apostolischen Charàkter nur in
soldier Unterordnung unter das Schriftzeugnis der Propheten und
Apostel. Verläßt sie den Bereich dieser Unterordnung, so verliert
sie alsbald den Offenbarungsbezug, der sie allein zur wahren Kirche
macht und ihre relative Autorität konstituiert. Die kirchliche Über-
lieferung als solche kann sich also nicht als selbständige Größe, als
Herrin ihres Wortes und ihrer Wahrheit präsentieren oder zur in
sich ruhenden, inappellablen Autorität verabsolutieren. Es ist die
kritische Aufgabe der Theologie, an ihrem Teil diesem höchst be-
greiflichen, der Kirche, ihrer Überlieferung und Verkündigung inne-
wohnenden Drang zur eigenständigen Selbstetablierung zu w i d e r -
s t e h e n — freilich nicht im Namen einer autonomen Wissenschaft,
der Philosophie, Historie oder sonst einer Erkenntnis des Men-
schen, sondern um jenes ursprünglichen Offenbarungsbezuges wil-
len, der nur dem Gehorsam gegen das Schriftzeugnis verheißen ist
und immer neu geschenkt wird.
Aber auch die Autorität der b i b l i s c h e n Überlieferung ist
nicht schlechthin absolut. Es ist die große Streitfrage in der gegen-
wärtigen protestantischen Theologie, wie nun die kritische Aufgabe
der Theologie im Verhältnis zu den biblischen Gestalten des Offen-
barungszeugnisses anzusehen ist, ob es S a c h k r i t i k nicht nur
dem Kirchenwort, sondern auch dem Bibelwort gegenüber gibt und
wie diese zu üben ist. Während in den früheren Stadien einer
Bibelkritik die Maßstäbe mehr von außen herangetragen wurden
und der Offenbarungsbezug des biblischen Zeugnisses weithin ver-
blaßte und verdunkelt wurde, handelt es sich heute um das Problem
einer Sachkritik am Schriftwort gerade um des u r s p r ü n g -
l i c h e n O f f e n b a r u n g s b e z u g s willen. Man würde das in der
Oeffentlichkeit von Kirche und Welt so leidenschaftlich umstrittene
theologische Programm Rudolf Bultmanns, an welches ja hier vor
allem zu denken ist, in seinem Grundanliegen verkennen, wollte
man von vornherein in Abrede stellen, daß hier Sachkritik nicht nur
um der Verstehbarkeit des Evangeliums willen, sondern gerade
auch um des grundlegenden Offenbarungsbezuges willen geübt oder
versucht werden soll. Unsere Position kann hier nur in den elemen-
tarsten Grundlagen angedeutet werden, und zwar folgendermaßen:
Duae res sunt Deus et scriptura Dei, sagt Luther einmal (in seiner
Schrift gegen Erasmus, Cl. 3,101, β). Es besteht keine magisch-
mechanische Identität zwischen Gotteswort und Menschenwort in der
Schrift. Das bedeutet nicht nur, daß der menschlich-geschichtliche
Charakter der biblischen Überlieferung einzusehen ist, sondern
auch, daß wir es in der Bibel mit einer r e l a t i v e n Autorität zu
tun haben, will sagen einer Autorität, die sich wiederum nur gel-
tend machen kann und will in ihrem eigenen, sie tragenden und be-
vollmächtigenden O f f e n b a r u n g s b e z u g . Es darf dabei aber
nicht gehen um die Unterscheidung von Vorstellung und Begriff,

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von Kern und Schale, von Ausdruck und Inhalt, von Geschichtlichem
und Übergeschichtlichem, oder was sonst die Geschichte des theologi-
schen und des philosophischen Denkens an Unterscheidungen bereit-
stellt, um jene kritische Erhebimg des wesentlichen Offenbarungs-
bezuges zu ermöglichen. Vielmehr müßte sich die rechte Unterschei-
dung herausstellen, wenn wir uns darauf besinnen, daß das ganze
Schriftzeugnis e i n e Mitte hat — Evangelium ist, was Christum
treibt, hat es Luther formuliert — u n d daß es hier Ränder gibt.
Tiefer eindringend, wäre zu sagen, daß es im Schriftganzen das gibt,
was wir als das Ineinander und Gegenüber von Gesetz und Evange-
lium kennen; oder für unsern Zweck hier noch deutlicher: daß wir
es mit dem B u c h s t a b e n und dem G e i s t zu tun haben. Diese
aber stehen zueinander nicht im Verhältnis von Tod und Leben
— 2. Kor. 3 hat hier zunächst nichts zu suchen —, sondern im Ver-
hältnis von Verheißung und Erfüllung. Der B u c h s t a b e ist um-
geben von der Verheißung und Erwartung, daß er zum Träger von
Geist und Leben werde. Meine Worte sind Geist und Leben, heißt es
im vierten Evangelium (vgl. Joh. 6, 63).
Sachkritik an der Bibel hieße also ein Umgang mit ihrem Buch-
staben, der letztlich von der Erwartung und Verheißung des Geistes
bestimmt ist, nicht ein mechanischer Gehorsam dem Buchstaben
gegenüber, der nun freilich zum Tode, d. h. zum Nichtverstehen
führen müßte, sondern ein Gehorsam, der den Geist Gottes den
Herrn des Buchstabens sein und werden läßt, jedenfalls nicht den
eigenen Geist, auch nicht den Geist der Kirche, zum Herrn der Aus-
legung und des Verständnisses erhebt.
Die Autorität der Instanzen von Kirchenwort und Schriftwort f ü r
die Theologie besteht also in deren Offenbarungsbezug und n u r
i η i h m , und es ist die Aufgabe der Theologie, diesen Offen-
barungsbezug von allen anderen Elementen des Bibel- und des
Kirchenwortes zu unterscheiden und ihm ausschließlich zur Aner-
kennimg zu verhelfen.
Damit ist aber audi schon deutlich geworden, daß die Theologie
stets p o s i t i v e Theologie ist. Positiv in dem Sinn, daß sie auf Vor-
gegebenheiten angewiesen ist und von vorneherein mit ihnen rech-
net, eben mit den Vorgegebenheiten des ursprünglichen Offenba-
rungswiderfahrnisses, das jedoch iii sich dem philosophischen Wider-
streit von Gegenständlichkeit und Nichtgegenständlichkeit überlegen
sein dürfte; und dann mit den sekundären Vorgegebenheiten von
Schrift und Kirche, die von der positiven Erwartimg umgeben sind,
daß ihr Menschenwort in der aktuellen Begegnung von Geist und
Glaube Gotteswort wird, daß das Menschenwerk des theologisch-
wissenschaftlichen, aber auch des praktischen Umgangs mit ihnen
in den Dienst des göttlichen Handelns am Menschen genommen
werde.
Was über die F r e i h e i t in der Theologie zu sagen ist, dürfte
nach all dem bisher deutlich Gewordenen nicht mehr überraschen.
Weil die Theologie den Instanzen von Bibel und Kirche kritisch und

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positiv gegenübersteht, wird sie weder dem Papalismus der Kirche
noch dem der Wissenschaft verfallen, und soweit sie ihm verfallen
ist oder verfällt, sich immer wieder zu der ihr eigentümlichen Frei-
heit zurückrufen lassen. Das war der Sinn der Reformation der
Christenheit im 16. Jahrhundert und das ist der Sinn der Formel
von der Ecclesia semper reformanda. Das ist auch der Grund dafür,
daß die Theologie in der Christenheit eine durch nichts zu er-
setzende Aufgabe hat, zu deren Durchführung sie auch alle wissen-
schaftlichen Mittel und Begriffe unbefangen in Dienst nimmt, auch
die Mittel und Begriffe der Philosophie, der Historie oder der So-
ziologie usw. Diese unbefangene Indienstnahme der Wissenschaften
dürfte gemeint sein, wenn man der alten und nicht selten mißver-
standenen und mißbrauchten Formel von der Philosophie als der
ancilla theologiae, der Dienerin der Theologie, einen echten und zu-
lässigen Sinn geben will. Kants ironischer Hinweis ist freilich dabei
stets zu bedenken, es komme darauf an, ob diese Dienerin ihrer Herrin
die Leuchte vorantragen oder die Schleppe nachtragen solle. Sie, die
Philosophie und Wissenschaft, wird der Theologie eben d i e Leuchte,
d a s Maß an Erhellung verschaffen können, das ihr, der Philoso-
phie, selbst innewohnt; sie wird aber das eigentliche und eigene
Licht der Theologie, den ursprünglichen Offenbarungsbezug, nicht
verdunkeln, dazu nicht in eine sinnlose und unsachliche Konkurrenz
treten wollen. In der Wirklichkeit der Theologiegeschichte spielt
sich das freilich nicht in ausgeglichener Ruhe ab, sondern als ein
Kampf um die Freiheit der Theologie von der Philosophie, wie man
Luthers Anliegen und Leistung mit Recht bezeichnet hat.
Es liegt an dieser Stelle nahe genug, zu fragen, ob in dieser Weise
dann die Theologie zur Herrscherin über die Wissenschaften be-
stimmt und — geeignet sei. Aber das scheint mir keine glückliche
Fragestellung zu sein. Einerlei ob man eine solche Herrscherstellung
der Theologie für wünschenswert und realisierbar hält oder ob man
darin den sicheren Verderb aller Wissenschaft erblickt und ver-
mutet, die Theologie wird hier k e i n Programm aufstellen. Es gilt
für die Theologie nicht anders als für die Christenheit überhaupt,
daß sie am ersten nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit
zu trachten habe, d'. h. in Anwendung auf unseren bisherigen Ge-
dankengang, daß sie hinzielt auf jenes ursprüngliche Offenbarungs-
geschehen, in dem sie von ihm herkommt. Diese Grundintention der
theologischen Erkenntnisbemühung aber würde durch ein schielen-
des Auge, will sagen durch jede Art von Programmentwurf im
Sinne einer Herrschaft der Theologie über die Wissenschaften, im
Sinn einer Verchristlichung der Weltanschauungen und der Ver-
suche der Weltbewältigung geradezu verfälscht. Die oft übersehene
Rede des Evangeliums von der Einfalt des Auges, das vom Licht
der christlichen Wahrheit getroffen ist und sich immer wieder tref-
fen läßt, ist gerade hier von der allergrößten Wichtigkeit. Der
Kampf der Theologie um die Freiheit von aller, sei es philosophi-
schen sei es politischen, Umklammerung kann sich nicht unter der

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Hand in einen Kampf um die Herrschaft der Theologie oder der
Kirche verwandeln.
Dem Trachten nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtig-
keit ist verheißen, daß ihm .solches Alles zufallen' werde. Aber der
Charakter der Bergpredigt und des Evangeliums überhaupt als des
Inbegriffs der göttlichen Offenbarung verbietet aufs strengste eine
allzu pragmatistische Betrachtung der hier anstehenden Fragen und
Möglichkeiten. Wiederum ist das ursprüngliche Stadium von Lu-
thers Reformation das beste Beispiel dafür, was sinnvollerweise als
Ertrag jenes Ringens um die Freiheit der Theologie, wie um die
Freiheit des Christenmenschen überhaupt, ins Auge gefaßt werden
kann. Luther trifft in diesem Kampf seine Entscheidungen ohne alle
Berechnung und — löst damit unberechenbare Wirkungen aus. Er
läßt sich die grundlegende Offenheit zur Offenbarungswahrheit
durch kein Bündnisangebot abkaufen, weder durch das Angebot des
Humanismus noch des Sozialismus noch der Einheitstradition des
sog. christlichen Abendlandes, und er nimmt den Vorwurf der Bar-
barei, der reaktionärsten Volksverknechtung und der Zertrümme-
rung der abendländisch-christlichen Einheit in Kauf. Aber er legt
den kostbaren Schatz der ihm zuteil gewordenen Offenbarungs-
wahrheit und -erkenntnis nun auch nicht in die Hände einer wohl-
organisierten Kirche, als ob darin eine bessere Bürgschaft für die
Wahrimg der .reinen Lehre' liege, sondern läßt es mit erstaunlicher
und seither oft genug als verhängnisvoll bezeichneter Unbefangen-
heit zu jenem landesherrlichen Kirchenregiment kommen, das dann
die Weiterentwicklung der Dinge in einer vielumstrittenen, hier
nicht zu erörternden Weise bestimmt hat. Die auf Luther folgende
protestantische Orthodoxie aber dürfte dahingehend zu kennzeich-
nen sein, daß sie dessen unbefangene und rücksichtslose Konzentra-
tion auf den ursprünglichen Offenbarungsbezug und die damit ge-
schenkte Neuerkenntnis der christlichen Wahrheit und Freiheit zu-
nächst zu sichern unternimmt, einmal durch die politisch-rechtliche
Ordnung des konfessionell-absolutistischen, landesherrlichen Kir-
chenregiments, dessen Inhaber zu Hütern des Bekenntnisses und
seiner äußeren Geltung (auch für den Bereich der Wissenschaft)
werden, dann aber vor allem durch den Ausbau der reinen Lehre
zum System, welches sich ebenso notwendig wiederum philosophi-
scher Hilfsmittel bedienen muß, um seine Einheit zu sichern — eben
derjenigen philosophischen Hilfsmittel, von deren Umklammerung
Luther die Theologie zu befreien begonnen hatte. Da beide Siche-
rungsvorrichtungen, die politisch-rechtliche und die wissenschaft-
lich-philosophische, dem Wandel der Zeit unterworfen sind, da auf
diese Weise die Autorität der christlichen Lehre durch weltliche
Mittel aufgerichtet und abgestützt wurde, kann es nicht eigentlich
verwundern, daß im Fortgang der Entwicklung der Wahrheits-
anspruch des so gestützten christlichen Lehrsystems allmählich
immer mehr an Glaubwürdigkeit und Haltbarkeit verliert, daß es zu
dem kommt, was man die Verweltlichung des geistigen und poli-

1 Evangelische T h e o l o g i e Heft 9 1954 397

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tischen Lebens der neueren Jahrhunderte nennt — g e r a d e w e i l
der Schutz der christlichen Lehre so ausgezeichnet gesichert schien.
So muß der ursprüngliche Freiheitskampf der Reformation zum
Zeugen werden gegen den Stand und Bestand eines autoritären Be-
kenntnisses und eines nicht weniger autoritären Kirchensystems.
So entsteht für den Betrachter der neueren Entwicklung in Theo-
logie und Kirche der Eindruck auf der einen Seite eines immer
krampfhafteren Versuchs, ein unhaltbares Erbe zu wahren und mit
immer neuen Stützen zu sichern, auf der andern Seite der Eindruck
einer ebenfalls problematischen, weil allzu direkten Angleichung
der protestantischen Theologie an die allgemeinen Tendenzen einer
autonomen Wissenschaftsbegründimg, unter Verdunklung des
eigentlichen Wahrheits- und Offenbarungsbezuges aller theologi-
schen Erkenntnis.
Was von den Voraussetzungen der Reformation her über unser
Thema zu sagen ist, läßt sich schließlich am besten mit einer knap-
pen Formel Luthers z u s a m m e n f a s s e n d so ausdrücken: „Doc-
trina non est nostra, sed dei" (WA 40 II, 46). Die Lehre, will sagen,
das Element göttlicher Wahrheit, um dessentwillen es Schrift und
Kirche, und dann auch Theologie gibt, ist nicht u n s e r E i g e n -
t u m , weder das Eigentum der Kirche noch das Eigentum der Theo-
logie als Wissenschaft. Daher ist das Zeichen von Theologie und
Kirche nicht das Szepter (auch nicht die Krone oder der Krumm-
stab), sondern das Kreuz. Das Kreuz, als das Zeichen der Gottes-
offenbarung in Christus, verbietet es, die Wahrheit dieser Offen-
barung in die eigene Verfügung zu übernehmen und sich damit die
Welt, etwa die Welt der Wissenschaft, dienstbar zu machen. Wo
Theologie und Kirche dies versucht haben oder versuchen, kann es
höchstens scheinbar und auf Zeit gelingen, und immer um den Preis
der ursprünglichen Wahrheit der Offenbarung selbst. Das ist die
königliche Freiheit der Theologie, daß sie daran immer wieder
unerbittlich erinnert, daß sie die schwere Last aber auch den Zau-
ber der bloßen Überlieferung nicht in eins zu setzen und zu ver-
wechseln braucht mit dem ursprünglichen Wahrheits- und Offen-
barungsbezug, daß sie aus dem Vorletzten von Schrift und Kirche
kein Letztes werden läßt, weder im Sinn der Verweltlichung noch
der Verkirchlichung, sondern daß sie im Vorletzten auf das Letzte
wartet und den Zugang zu ihm offenhält. Das ist aber zugleich die
der Theologie eigene, einzigartige Autorität, daß sie nicht bloß auf
die Wahrheit harrt — von einer Morgenwache bis zur andern, wie
es im Psalm heißt, sondern daß sie von der Offenbarungswahrheit
und deren Licht h e r k o m m t ; es ist das, was Jaspers einmal das
Unüberholbare der Theologie nennt. Aber eben im Sinne der alle
Beziehungen und Verhältnisse, Fragen und Antworten bestimmen-
den und allein heilsamen Regel Luthers: Doctrina non est nostra,
sed dei — darin liegt für die Theologie Autorität und Freiheit be-
schlossen.

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