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Flughafen BER
Verpatzt Berlin
erneut die Eröffnung?
Alltagsterror
Mehr Entlastung?
Hausmitteilung Mit durchgängig digitalen
Betr.: Clan-Kriminalität, Sudan, SPIEGEL WISSEN, »DEIN SPIEGEL«
kaufmännischen Abläufen.
Eine Richterin am Amtsgericht Berlin-
Erinnern Sie sich noch an Ihre Einschulung? Haben Sie sich die Termine der kom-
menden Woche gemerkt? Ohne Gedächtnis wüssten wir nicht, wer wir sind, und wir
wären unfähig, den Alltag zu organisieren. Das neue SPIEGEL WISSEN mit dem Titel
»Alles im Kopf! Unser Gedächtnis: Wie es funktioniert und wie wir es fit halten« be- Die digitalen DATEV-Lösungen unterstützen Sie bei
leuchtet die neuesten Erkenntnisse der Neurowissenschaft und geht Alltagsphänomenen allen kaufmännischen Aufgaben – vom Angebot über
nach: Wieso etwa weckt ein Lied, das wir im Radio hören, Erinnerungen? Ein Fami- die Kassenführung bis hin zur Buchführung. So ge-
lienvater, der seit einem Unfall an Amnesie leidet, erzählt, wie er sein Leben rekon- winnen Sie Freiräume und mehr Zeit für die Betreuung
struiert. Eine Frau schreibt über die Alzheimer-Erkrankung ihres Ehemanns. Das Heft Ihrer Kunden. Informieren Sie sich im Internet oder bei
erscheint am Dienstag. Außerdem am Kiosk: die neue Ausgabe von »DEIN SPIEGEL«, Ihrem Steuerberater.
dem Nachrichten-Magazin für Kinder. Das Heft
beschäftigt sich mit einem typischen Eltern-Kind-
Konflikt: Wie lange darf ein Kind sein Handy nut-
Digital-schafft-Perspektive.de
zen, welche Apps sind erlaubt? Kinder erzählen,
welche Regeln bei ihnen gelten und wie gut (oder
schlecht) das funktioniert. »DEIN SPIEGEL« gibt
Tipps, wie man sich im Netz bewegt, ohne zu viel
von sich preiszugeben. Dazu: Happy Birthday,
Bundesrepublik – das Grundgesetz wird 70.
Demokratie Kommunale
Prozess gegen den Cheforganisator des Holocaust. Dieselaffäre Porsche hat
Bürgerbündnisse sind weniger Bach ist 92 Jahre alt, aber er lässt nicht die Aufklärung des Skandals
transparent als Parteien . . . . 38 nach. Er wird immer noch gebraucht. Seite 56 in Europa verzögert . . . . . . . . 67
Agrarindustrie In Brasiliens
Obstanbau werden verbotene Wissenschaft
Pestizide eingesetzt . . . . . . . . . 70
Flüchtlinge auf Facebook
Arbeitsmarkt Minister Heil will zählen / Warum immer mehr
die Bedingungen für auslän- junge Frauen exzessiv
dische Arbeiter verbessern 73 Alkohol trinken / Impfmüde
wecken – wie geht das? . . . . . 98
Karrieren Ein 15-jähriger Har-
vard-Student schmiss das Studi- Raumfahrt Amazon-Milliardär
um, um Gründer zu werden 74 Jeff Bezos will bis zum
Jahr 2024 Menschen auf
den Mond schicken . . . . . . . . 100
Härte zeigen
Leitartikel Die Europäer müssen auf Erdoğans Despotismus mit Sanktionen reagieren.
D
ie Türkeipolitik der Bundesregierung ließ sich bis- ten Einfluss, der ihr geblieben ist, endlich geschickt nutzt.
lang in einem Satz zusammenfassen: »Wir müssen Sie sollte nun die Beitrittsgespräche mit der Türkei sus-
mit Erdoğan im Dialog bleiben.« Egal wie sehr der pendieren, wie es das Europaparlament fordert. Die EU
türkische Präsident provozierte, ob er deutsche würde damit ein Zeichen setzen, dass Erdoğans Autoritaris-
Staatsbürger als Geiseln hielt, Oppositionelle verhaften mus nicht ohne Folgen bleibt. Zugleich könnte sie die
oder kurdische Orte bombardieren ließ, Berlin verwies Verhandlungen wieder aufnehmen, sobald Erdoğan nicht
stets darauf, dass man Erdoğan brauche und sich deshalb mehr Staatschef ist. In der Zwischenzeit könnte sie die
mit ihm arrangieren müsse. Nun zeigt sich, dass »im Dialog »Vorbeitrittshilfen« weiter kürzen.
bleiben« allein noch keine Strategie ist. Recep Tayyip Sie sollte auch die Verhandlungen über eine Vertiefung
Erdoğan führt sein Land in die Diktatur – und die Bundes- der Zollunion weiter aufschieben. Die EU sollte der Türkei
regierung muss schnell eine Reaktion darauf finden. den Export von Waren und Dienstleistungen nach Europa
Der Niedergang der türkischen erst dann erleichtern, wenn
Demokratie begann nicht mit der Erdoğan zu Zugeständnissen bei
Entscheidung der Wahlkommis- Menschenrechtsfragen bereit ist.
sion vom Montag, die Istanbuler Parallel sollte die Bundesregie-
Bürgermeisterwahl vom 31. März rung Strafmaßnahmen gegen
wiederholen zu lassen. Erdoğan die Türkei verhängen, so wie sie
hat in den vergangenen Jahren es nach der Verhaftung des Ber-
systematisch den Rechtsstaat aus- liner Menschenrechtlers Peter
gehebelt und die Medien weitge- Steudtner im Sommer 2017 tat.
hend gleichgeschaltet. Bis Montag Damals verschärfte das Auswär-
konnten sich seine Gegner mit tige Amt die Reisehinweise für
dem Gedanken trösten, zumin- die Türkei und deckelte die
dest halbwegs frei und fair wählen Exportbürgschaften, was bei
zu dürfen – weshalb viele sich Erdoğan Wirkung zeigte. Nun
zu Recht davor scheuten, ihn muss es in erster Linie darum
einen Diktator zu nennen. Jetzt gehen, Manipulationen bei der
GORAN TOMASEVIC / REUTERS
Moderne Technik
steht jedem gut.
Auslaufmodell Deutschland
Standort Verwöhnt und behäbig geworden von Jahren des Erfolgs, riskiert das Land, in die zweite
Liga der Wirtschaftsnationen abzusteigen. Es fehlt an Innovationen und Mut zu
Reformen, jetzt drohen die USA auch noch mit Zöllen gegen die deutsche Autoindustrie.
W
ow, was waren das für Jahre! und Unternehmensstrategen früher oder nager der börsennotierten Konzerne, aber
Ein zweites Wirtschaftswun- später die gleiche besorgte Analyse: Wir die Stimmung ist überall zu spüren: ange-
der, eine goldene Dekade. Deutschen sind längst nicht mehr so gut, spannte Nervosität, Sorge, nur selten Op-
Aufschwung, Aufschwung, wie wir glauben, das deutsche Modell ist timismus.
Aufschwung. Deutschland, das war in den so nicht zukunftsfähig. Offen reden darü- »Im Ausland wird ›Made in Germany‹
vergangenen Jahren: eine Wohlstands- ber die wenigsten, vor allem nicht die Ma- zunehmend entzaubert«, warnt Wolfgang
maschine. Nie zuvor gab es so
viele Arbeitsplätze. Nie zuvor
wurde so viel exportiert. Die
Löhne stiegen und stiegen. Der
Staat ertrank fast in seinen
Steuereinnahmen. Ein blühen-
des Land, der schnurrende Mo-
tor Europas.
Vom Boom profitierten nicht
nur ein paar Reiche. Das real
verfügbare Einkommen der
Deutschen ist seit Anfang der
Neunzigerjahre um fast ein
Fünftel gewachsen. Die Zahl
der Arbeitslosen lag im April
bei 2,2 Millionen – der niedrigs-
te Wert für diesen Monat seit
der Wiedervereinigung.
Es waren fette
Jahre, tatsächlich.
Doch sie sind,
wie es aussieht, Problem
bald vorbei. In den
vergangenen Wo-
chen jagte eine Alarmmeldung
1
die nächste: Das deutsche
Wachstum fiel zuletzt fast auf
null, die Auftragslage der In-
dustrie brach ein, die Gewinn-
warnungen der Unternehmen
kletterten auf einen neuen
Höchststand. Und der Bundes-
finanzminister stellt die Nation
auf etwas ein, was sie kaum
noch kennt: aufs Sparen.
Die Konjunktur trübt sich
ein, wie das im Ökonomen-
deutsch so schön heißt. Das
muss erst einmal nichts Schlim-
mes bedeuten. Auch nach einer
Rezession, so hoffen viele Poli-
tiker, werde sich Deutschland
schon berappeln, aufstehen
und weiterrennen, so war es
doch zuletzt immer, oder nicht?
Einerseits stimmt das. Ande-
rerseits kommt in diesen Tagen
in fast jedem Gespräch mit
Konzernchefs, Topmanagern
10
Reitzle, langjähriger BMW-Chef und heu- Die Vorboten der Krise sind nicht zu größten börsennotieren Tech-Konzerne
te Aufsichtsratschef des Industrieriesen übersehen. Fast alles, was einmal den Stolz der Welt wird beherrscht von Unterneh-
Linde. »Zu vieles läuft verkehrt bei uns der sogenannten Deutschland AG aus- men, die erst in den vergangenen Jahr-
oder zu langsam, wir verlieren in wich- machte, steckt knietief im Schlamassel. zehnten entstanden sind, sie stammen aus
tigen Zukunftsfeldern den Anschluss. Volkswagen schlägt sich immer noch mit den USA und aus China. Ein deutsches
Deutschland fällt zurück, und wenn wir den Folgen der Dieselkrise herum. Der Unternehmen ist nicht dabei. Die er-
uns jetzt nicht anstrengen, werden wir im Bayer-Konzern, gerade noch das wertvolls- folgreichste deutsche Gründung der
Wettbewerb mit den USA, China und Ko- te deutsche Unternehmen, taumelt seit der Nachkriegszeit, SAP, findet sich erst auf
rea kaum bestehen können.« Übernahme von Monsanto. Die Deutsche Rang 18. Und auch die ist schon fast
Ähnlich besorgt klingt der Chef des Bun- Bank ist nur noch ein Schatten ihrer selbst. 50 Jahre alt.
desverbands der Industrie, Dieter Kempf: Kriselnde Unternehmen gab es immer, Das alles muss sich schnell ändern, sonst
Deutschland habe zwar erfolgreiche Jahre kriselnde Branchen auch. Dass aber so vie- droht das Hochlohnland Deutschland zer-
hinter sich. »Doch das Umfeld wird rauer, le gleichzeitig abgestürzt sind, kann kein quetscht zu werden zwischen den Über-
die Konkurrenz härter. Es braucht einen Zufall sein. Deutschlands traditionelle mächten China und den USA, die sich in
selbstbewussten wirtschaftspolitischen Wirtschaft hat sich zu lange auf ihr Erfolgs- den nächsten Jahren eine Schlacht um die
Neustart, damit Deutschland seinen Platz modell der Vergangenheit verlassen – und ökonomische Vorherrschaft liefern werden.
in der Welt behauptet und wir das Wohl- die Zukunft vernachlässigt. Gleichzeitig Das erste Opfer dieser Auseinandersetzung
standsniveau für die Zukunft sichern.« wuchs nichts Neues nach. Die Liste der ist die Globalisierung, der Wachstums-
motor der Weltwirtschaft in
den vergangenen Jahrzehnten.
Im Ausland hat man die deut-
sche Krise, den allmählichen
Niedergang eines ökonomi-
schen Superstars, längst im
Blick. Der britische »Econo-
mist« sieht »das goldene Zeital-
ter« zu Ende gehen und warnt,
es sei Zeit, sich um Deutschland
zu sorgen. Das US-Wirtschafts-
magazin »Bloomberg Business-
week« widmete Deutschland
vor wenigen Wochen eine
deprimierende Titelgeschichte.
Der deutsche »Nachkriegswohl-
stand droht zu enden, und nie-
mand scheint vorbereitet, etwas
dagegen zu tun«, schrieb das
Magazin. Die Atmosphäre im
Land fühle sich an »wie die letz-
ten Tage einer Ära«. Und der
Ökonom Ashoka Mody von
der amerikanischen Elite-Uni-
versität Princeton, zuvor lange
Europa-Direktor beim IWF,
prophezeit der Wirtschaftsna-
tion Deutschland den Abstieg
in die zweite Liga.
In dieser Phase der Unsicher-
heit, in der die Konjunktur
schwächelt und die Frage nach
dem Erfolgsmodell der Export-
nation grundsätzlich gestellt
11
2
Problem
wird, droht der deutschen Wirtschaft ein lem muss es begreifen, dass ein pures »Wei- Er hat eine besondere Beziehung zum
Schlag von außen. Er zielt auf das Herz ter so« nicht ausreicht, um den Wohlstand amerikanischen Werk in Spartanburg. Krü-
des Wohlstands: die Autoindustrie. zu bewahren. Sonst wird das Wirtschafts- ger baute es Mitte der Neunzigerjahre als
Ausgeführt würde er von Donald wunder jäh enden – auf die fetten Jahre junger Ingenieur mit auf, eine Erfolgsge-
Trump. Der amerikanische Präsident hat könnten dann viele magere folgen. schichte, bislang, für alle Seiten. BMW ver-
sich seit dem ersten Tag seiner Amtszeit kauft heute viermal so viele Autos in den
vorgenommen, neu zu definieren, wie die USA wie damals. Und South Carolina hat
Weltwirtschaft funktioniert. Er will bestim- Der Angriff einen erstaunlichen Wirtschaftsboom er-
men, wie weit Globalisierung gehen darf, Im äußersten Winkel South Carolinas, zwi- lebt.
wer am Handel verdient, und schon lange schen Kuhweiden und Schrottplätzen, ragt 80 deutsche Autozulieferer haben sich
scheint ihm die mächtige Exportnation plötzlich ein weißer Koloss aus der Land- angesiedelt, Zehntausende Jobs entstan-
Deutschland das perfekte Exempel, um schaft, die größte BMW-Fabrik der Welt. den. Als das Werk öffnete, bewarben sich
die Kräfteverhältnisse neu zu sortieren. Sie besteht aus fünf Hallen, bis zu 30 Me- 60 000 Menschen auf die ersten paar Hun-
Ein Strafzoll von 25 Prozent auf jedes ter hoch. Insgesamt sind es 4,5 Millionen dert Jobs.
eingeführte deutsche Auto, wenn Deutsch- Quadratmeter. Jahr für Jahr rollen hier mehr Drüben in Greenville, dem nächsten
land nicht so spurt, wie Trump es will, also als 400 000 Autos vom Band, sie werden in größeren Ort nahe der Fabrik, lieferten
weniger exportiert, mehr amerikanische 140 Länder exportiert. Ein Meisterstück der sich Gangs in den Neunzigerjahren noch
Güter kauft und sich überhaupt schön Globalisierung, made in Germany. Schießereien, nun stehen dort reihenweise
klein macht. Diese Drohung hängt seit Mo- BMW baut das Werk gerade noch ein- neue Luxushotels, Restaurants säumen die
naten über dem wichtigsten Industrie- mal aus, für 600 Millionen Dollar. Noch sanierte Innenstadt. »Wir haben diese Ge-
zweig des Landes, bis zum Ende der kom- mehr SUV-Modelle vom X3 müssen her. gend zu dem gemacht, was sie heute ist«,
menden Woche soll der US-Präsident ent- Auch der neue X7 wird hier produziert. sagt Knudt Flor, der Fabrikchef.
scheiden, ob er sie wahr macht. Der deutsche Autobauer hat knapp drei Es ist also kaum zu begreifen, warum
Die Folge wären Milliardeneinbußen für Dutzend Fabriken über den Planeten ver- der amerikanische Präsident die europäi-
BMW, Daimler, VW. Und es wäre der letz- teilt. Alles wird global gedacht, nicht na- schen Autohersteller als »nationale Bedro-
te entscheidende Faktor für einen perfek- tional, und das lohnte sich: Seit der Wie- hung« der USA einstufen konnte, wie er
ten Sturm, der sich seit Monaten über der dervereinigung hat sich der Umsatz von es im Februar tatsächlich tat, um mögliche
deutschen Wirtschaft zusammenbraut. BMW versiebenfacht. »Unser Geschäfts- Zölle zu rechtfertigen.
Und Deutschland hat keine Wahl: Es muss modell basiert auf freiem Welthandel«, Würden die Strafzölle Realität, wären
reagieren. Es muss sich verändern. Vor al- sagt BMW-Chef Harald Krüger. davon auch alle Vorprodukte betroffen,
13
produziert. »Wenn wir so weitermachen,
verspielen wir die Zukunft des Industrie-
Unsichere Aussichten Deutschland mangele es an ausreichend
vielen schnellen, beweglichen Start-ups,
Wie Deutschland in
standorts Deutschland«, warnt BMW-Be- sagt der Wissenschaftler. Zwar gebe es vie-
wichtigen Zukunftsfeldern China
triebsratschef Manfred Schoch. le kleine und mittlere Unternehmen »mit
Die Autoindustrie, allen voran VW,
aufgestellt ist 1306 hoher Spezialisierung, die sich so tief in
scheint geradezu ein Symbol dafür zu sein, 1200
einzelnen Nischen etabliert haben wie in
was schiefläuft in der deutschen Wirtschaft: kaum einer anderen Volkswirtschaft«.
Sie war jahrelang zu erfolgsverwöhnt, zu Patentanträge Aber diese Detailbesessenheit sei auch ein
arrogant, zu unbeweglich, eben weil es zu nach Herkunftsland des Antragstellers, Problem. Wann immer technologische
lange zu gut lief. in Tausend Umbrüche passierten, »können all die
900 Hidden Champions auch keine Wunder
Der Abstieg vollbringen, weil ihre Spezialisierung vor
Was Deutschland droht, lässt sich an allem darauf beruht, dass sie weiter ma-
einem ehemaligen Wirtschaftschampion chen, was sie schon immer erfolgreich ge-
ablesen, der lange als unschlagbar galt: Ja- macht haben, nur noch einen Tick besser«.
600
pan. Bis in die Neunzigerjahre schwamm Amerika und China erobern die Welt.
das Land auf einer nicht enden wollenden Deutschland frickelt rum. Und selbst das
Wachstumswelle, japanische Konzerne USA nicht mehr so erfolgreich wie früher. Lange
wie Sony und Toshiba dominierten die 526 war Deutschland bei Patenten weltweit un-
Welt. Seither ist Japan in einer seit 20 Jah- 300 ter den Top drei, heute reichen chinesische
ren anhaltenden Stagnation versunken, Unternehmen siebenmal so viele Patente
viele seiner Weltkonzerne verschwanden ein wie deutsche. Bei Patenten zur künst-
in zweiter, dann dritter Reihe. Deutschland
lichen Intelligenz haben chinesische Firmen
Ökonomischen Erfolg gibt es nicht im die deutsche Industrie weit hinter sich ge-
Abo. Zumindest das hätte Deutschland aus
176 lassen. Die Folgen werden nicht lange auf
dem warnenden Beispiel Japan lernen kön- 2007 Quelle: WIPO 2017 sich warten lassen: Wenn künftig vollauto-
nen. Doch die Deutschen lernten nicht. matisierte Fabriken voller kluger Maschinen
Autos braucht man immer, hieß die Devi- in Shenzhen statt in Schwaben entstehen,
se – und dass die selbstfahrend oder elek- »Einhörner« erschüttert das den deutschen Mittelstand.
trisch sein könnten, fanden die Manager Start-ups, die mindestens USA Es ist eine seltsame Schubumkehr, die
in den deutschen Vorstandsetagen bis vor eine Milliarde Dollar wert sind 172 da im deutsch-chinesischen Verhältnis zu
Kurzem noch eine eher lachhafte Idee. An beobachten ist – und die für die deutsche
Quelle: CB Insights;
China verdienten sie gut, aber über chine- Stand: Januar 2019 Asien Wirtschaft mindestens so bedrohlich ist
sische Unternehmen machten sie sich gern 121 wie die trumpschen Zollideen.
lustig, weil die angeblich kopieren, aber Deutschland war lange Chinas Vorbild,
nichts Eigenes entwickeln können. ein Symbol für Weitblick und Effizienz.
Während die Deutschen sich auf ihrem Chinesische Manager, man kann das kaum
Europa
Erfolg ausruhten, monopolisierten die ame- anders sagen, stalkten die deutsche Indus-
rikanischen Tech-Riesen wie Google und 38 trie, immer auf dem Sprung, Innovationen
davon Deutschland:
Amazon die erste Welle der Digitalisierung. 8 abzugreifen. Der Begriff »Industrie 4.0«,
Und als die Deutschen allmählich aufwach- der die digitale Vernetzung der Produk-
ten, hatten sich die Chinesen längst aufge- tion beschreibt, hatte sich in Schwaben
macht, die zweite Welle zu übernehmen. kaum herumgesprochen, da zogen schon
Fast aus dem Nichts hat China in den die ersten chinesischen Delegationen
vergangenen Jahren eine neue Technolo- durch das Stuttgarter Umland, um heraus-
gie-Industrie aus dem Boden gestampft. Die zufinden, was es damit auf sich hat.
Entwicklung funktioniert fast immer nach Techkonzerne Doch der Reisestrom hat sich in den
dem gleichen Muster: Hunderte Entwickler Marktkapitalisierung in Mrd. Dollar vergangenen Jahren umgekehrt. Nun
werden auf neue Projekte geworfen, mit fliegen deutsche Manager nach
ehrgeizigen Zeitplänen und oft reichlich China, und egal mit welchem
1. Microsoft USA 962
finanzieller Schützenhilfe vom Staat. Des- Unternehmensstrategen man in
wegen kommt die weltbeste Smartphone- 2. Amazon USA 944 diesen Tagen spricht, alle sind
Technologie heute aus Shenzhen, sitzt der 3. Apple USA 934 gleichermaßen entgeistert und
kundenreichste E-Commerce-Händler in besorgt: mit welchem Tempo
4. Alphabet/Google USA 812
Hangzhou, der global führende Drohnen- dort entwickelt wird, neue Unter-
hersteller in Guangdong. 5. Facebook USA 542 nehmen entstehen, Branchen aufgebaut
Deutsche Firmen dagegen sind in nahe- 6. Tencent China 467 werden.
zu allen zentralen Zukunftsbranchen mitt- Umgekehrt gilt Deutschland den Chine-
lerweile abgeschlagen: Software, Biotech- 7. Alibaba China 466 sen vor allem als Konkurrenz. Als miss-
nologie, intelligente Maschinen. 8. Samsung Südkorea 251 günstige noch dazu. »Deutschland muss
»Wir haben ein Betulichkeitsproblem in 9. Cisco USA 235 sich an Chinas Aufstieg noch gewöhnen«,
Deutschland«, sagt Professor Dietmar Har- kommentierte etwa das Pekinger Zentral-
hoff. Er leitete ab 2007 bis vor wenigen 10. Verizon USA 233 blatt »Global Times«. Die Deutschen
Wochen die von der Bundesregierung … hätten wohl nicht verwunden, dass die
eingerichtete Expertenkommission For- 18. SAP Deutschland 154 chinesische Wirtschaft inzwischen deutlich
schung und Innovation. Und sein Urteil größer sei – und litten unter einem »Über-
ist alarmierend. Quelle: Thomson Reuters Datastream; Stand: 8. Mai legenheitskomplex«.
14
Der Ort heißt Zwiesel, die Firma auch.
14 Kilometer von der tschechischen Gren-
ze entfernt, mitten im Bayerischen Wald,
zwischen Karateschule und Kirche, fertigt
das Unternehmen die wohl besten Kris-
tallgläser der Welt.
Die Firma ist einer jener vielen Hidden
Champions, die die globale Strahlkraft des
deutschen Mittelstands ausmachen. Ob
Deutschland die Umbrüche der kommen-
den Jahrzehnte erfolgreich übersteht,
hängt wesentlich auch davon ab, ob diese
Firmen schnell genug reagieren, ob sie
bereit sind, sich anzupassen.
74 Millionen Gläser laufen hier jedes
Problem Jahr vom Band, Schmelztiegel, Feuerpoli-
tur, Nahtverschmelzung rund um die Uhr
17
Titel
18
Stelter: Wir haben eine gute Konjunktur,
aber leider hat sie uns nicht reich gemacht.
SPIEGEL: Wie meinen Sie das?
Stelter: Ich sehe mehrere Fehlentwicklun-
gen. Wir Deutsche legen zu viel Geld in
Sparbüchern statt in Aktien an, dadurch
bauen wir nur geringe Vermögen auf. Wir
leisten uns aus humanitären Gründen eine
Zuwanderung, die uns eher Geld kostet
als Geld bringt. Wir haben einen Staat, der
uns große Lasten für die Zukunft aufbür-
det. Und wir sind in einer Währungsunion
gefangen, die nur mit der extremen Nied-
rigzinspolitik von EZB-Präsident Mario
Draghi am Leben gehalten werden kann.
Wir haben einen künstlichen Boom, der
nicht nachhaltig ist und uns wohlhabender
erscheinen lässt, als wir tatsächlich sind.
Bofinger: Sie erzählen Märchen, Herr Stel-
ter. Schauen wir uns doch die Einkommens-
entwicklung an: Unter den sieben führen-
den Industrienationen liegen die USA an
der Spitze, Deutschland und Kanada bele-
gen Platz 2, und dann gibt es einen großen
Abstand zu Frankreich, Großbritannien,
Japan und Italien. Deutschland ist eines der
leistungsfähigsten und reichsten Länder die-
ser Erde. Reich sein heißt für Ökonomen,
hohe Einkommen erzielen zu können.
Stelter: Wenn es um Reichtum geht,
kommt es weniger auf das Einkommen als
auf das Vermögen an, und da sieht es ganz
anders aus. Nach den Zahlen der EZB ver-
20
Nächste Woche
rekt auch einer der Gründe für steigende
im SPIEGEL:
»Wenn wir uns erfolgreich
Mieten.
gegen China und die USA Bofinger: Unsinn. Die historisch niedrigen
behaupten wollen, können Zinsen sind ein weltweites Phänomen.
Und außerdem: Was wäre die Alternative,
wir das nur im europäischen wenn wir keinen Euro hätten? Schauen
Maßstab schaffen.« Sie in die Schweiz, da musste die Zentral-
bank die Zinsen noch viel tiefer drücken,
um zu verhindern, dass der Kurs des
Peter Bofinger Schweizer Frankens durch die Decke geht.
Das hätte die Industrie des Landes nämlich
zerstört, genauso wie es die Industrie in
funktioniert. Die Euroländer entwickeln Deutschland zerstören würde, wenn wir
sich wirtschaftlich auseinander, einige sind wieder die D-Mark einführten.
nicht wettbewerbsfähig, in anderen sind Stelter: Da haben Sie nicht unrecht, wes-
der Staats- oder der Privatsektor hoff- halb auch ich das verhindern möchte. Ich
nungslos überschuldet. Und um das vom fürchte nur, dass die politischen Spannun-
Zerfall bedrohte Gebilde zusammenzuhal- gen in der Eurozone so groß werden, dass
ten, hat Herr Draghi die ohnehin schon wir um eine Neuordnung nicht herumkom-
tiefen Zinsen noch weiter gesenkt und für men. Besser wäre es, wir könnten den
Hunderte Milliarden Euro Staatsanleihen Bruch vermeiden und uns auf die Proble-
gekauft. Das billige Geld befeuert einen me in Deutschland konzentrieren.
künstlichen Boom auf den Aktien- und Im- SPIEGEL: Was müsste geschehen?
mobilienmärkten, es kann aber die Pro- Stelter: Wir brauchen einen Politikwech-
bleme nicht lösen. sel. Wenn ich mit Unternehmern spreche,
Bofinger: Das finde ich nun wirklich lustig, sehen die ihre Zukunft meist nicht in
Herr Stelter, dass Sie uns Japan erst als Deutschland, sondern in dynamischeren
Vorbild hinstellen und dann die Nullzins- Teilen der Welt: in Asien oder Südamerika
politik als nicht nachhaltig bezeichnen. zum Beispiel. Auch weil sie sehen, wie in S-Magazin
Schließlich hat Japan die Nullzinspolitik Deutschland die Infrastruktur und das Bil-
erfunden und praktiziert sie seit 20 Jahren. dungswesen verfallen. Deshalb müssen Die Lifestyle-Beilage
Und was, bitte schön, ist daran künstlich? wir umsteuern. Statt konsumptiver Staats-
Stelter: Die Zinsen auf Staatsanleihen wä- ausgaben etwa für eine Grundrente brau- des SPIEGEL
ren in vielen Ländern höher, wenn die Zen- chen wir eine Investitionsoffensive, die
tralbank die Papiere nicht kaufen würde. uns die nötigen Grundlagen für wirtschaft-
Bofinger: Das stimmt, aber die Niedrigzins- liches Wachstum schafft. Sonst werden wir
politik wird derzeit nicht nur in der Euro- die Zukunft nicht gewinnen. Themen der Ausgabe:
zone praktiziert, sondern in so gut wie allen Bofinger: Ich sehe Staatskonsum nicht ne-
Industrieländern. Die USA haben in riesi- gativ. Schließlich werden die Stellen von Leh-
gem Umfang Staatsanleihen gekauft, genau- rern oder Professoren in der Statistik unter
Bankanlage
so wie Großbritannien oder die Schweiz. Staatskonsum geführt. Aber im Grundsatz Möbel, Schmuck, Geschirr:
Und überall ist der Grund derselbe: Es geht stimme ich mit Herrn Stelter überein. Was
darum, die Währungsräume vor dem Ab- wir vor allem brauchen, sind mehr staatliche acht Objekte für Europa
sturz in eine Rezession zu bewahren. Investitionen. Was mir bei seinem Pro-
Stelter: Es gibt einen entscheidenden Un- gramm aber völlig fehlt, ist die europäische Scheuer Mann
terschied. Die USA oder Großbritannien Dimension. Wenn wir uns erfolgreich im
sind homogene Länder. Der Euroraum da- Wettbewerb mit China und den USA be- Der polnische Modeunter-
gegen setzt sich aus 19 selbstständigen Na- haupten wollen, können wir das nur im eu-
tionen zusammen. Wenn die Zentralbank ropäischen Maßstab schaffen. Und deshalb
nehmer Marek Piechocki
da die Anleihen einzelner Länder kauft, lautet die wichtigste Aufgabe für die deut- und seine Erfolgsmarke
führt das automatisch zu einer Umvertei- sche Politik: die Integration der EU voran-
lung. Und die ist politisch nicht legitimiert. zutreiben und eine gemeinsame Industrie- Reserved
Bofinger: Falsch. Das Problem entsteht nur, politik auf den Weg zu bringen, die uns auf
weil Sie und andere Ökonomen den Euro- Augenhöhe mit China und den USA hält. Krisen-Fest
raum immer wieder in Subregionen auftei- SPIEGEL: Herr Stelter, Herr Bofinger, wo
len. Wenn man ihn hingegen als Einheit steht Deutschland in fünf Jahren? Mit Ideen gegen den Ab-
sieht, gibt es das Problem überhaupt nicht. Stelter: Unsere Reichtumsillusion wird
Stelter: Von einer Einheit kann nun mal platzen, und wir stehen deutlich schlechter schwung: die junge kreative
keine Rede sein, wenn es weder einen ge- da als heute. Szene Barcelonas
meinsamen Finanzminister noch gemein- Bofinger: Die Bäume wachsen nicht in den
same Steuern oder gemeinsame Anleihen Himmel. Aber Deutschland wird dank sei-
gibt. Sie können doch nicht leugnen, dass ner hervorragenden Unternehmensland-
die gegenwärtigen Zinsen im Euroraum schaft weiter in der ersten Riege der Wirt- Außerdem:
für Deutschland schlicht zu niedrig sind. schaftsnationen mitspielen. Das gezeichnete Interview
Darunter leiden nicht nur die Sparer, es SPIEGEL: Herr Bofinger, Herr Stelter, wir
befeuert auch einen ungesunden Boom in danken Ihnen für dieses Gespräch. mit Walter De Silva
vielen Teilen der Wirtschaft und ist indi-
SPD
Ringen um Sarrazin
Die Sozialdemokraten drohen beim geplanten Parteiausschluss des Buchautors erneut zu scheitern.
Das Vorhaben des SPD-Vorstands, den umstrittenen islam- Verhaltens rechtfertigen«, heißt es in dem Brief. Das Schieds-
kritischen Buchautor Thilo Sarrazin aus der Partei auszu- gericht gibt der SPD-Spitze Gelegenheit, den Antrag zu
schließen, könnte erneut scheitern. Die Schiedskommission ergänzen. Im Dezember hatte sich die Parteispitze zu einem
des SPD-Kreisverbands Charlottenburg-Wilmersdorf, wo das weiteren Versuch entschlossen, Sarrazin aus der Partei
Ordnungsverfahren läuft, bemängelt die bisherige Begrün- hinauszuwerfen, obwohl die Sozialdemokraten bereits zwei-
dung des Parteivorstands. Die Vorwürfe, die sich auf Sarra- mal daran gescheitert sind. Ein von der SPD-Spitze eingesetz-
zins jüngstes Buch »Feindliche Übernahme« beziehen, wür- tes Gremium legte Ende vergangenen Jahres einen 18-seiti-
den »dem Begründungserfordernis nicht entsprechen«, teilte gen Bericht vor, der Sarrazin acht islamkritische und auslän-
die Schiedskommission der SPD schriftlich mit. Es führe derfeindliche Kernthesen seines Buches vorhält, die mit
»kein Weg daran vorbei, die beanstandeten Äußerungen kon- den »Grundsätzen der Sozialdemokratie unvereinbar« seien.
kret zu benennen und zu belegen sowie im Einzelnen dar- Die Verhandlung über einen möglichen Ausschluss des
zulegen, warum sie den Vorwurf eines parteischädigenden Parteimitglieds Sarrazin ist für den 26. Juni anberaumt. VME
Einbrüche justizministerium geeinigt. Bislang war vermuten, dass sie einem Serieneinbre-
Mehr Rechte für Ermittler das nur möglich, wenn der Verdacht
bestand, dass eine Bande die Einbrüche
cher auf der Spur sind. Der Paragraf 100a
der Strafprozessordnung soll entspre-
Die Polizei darf künftig Mails oder begangen hat. Auf Drängen der Union soll chend geändert werden. Die Eckpunkte
Anrufe von mutmaßlichen Wohnungs- es in Zukunft auch erlaubt sein, die Tele- für die Reform der Strafprozessordnung
einbrechern überwachen. Darauf haben kommunikation von Einzeltätern zu über- will das Bundeskabinett am Mittwoch ver-
sich das Bundesinnen- und das Bundes- wachen, allerdings nur, wenn die Ermittler abschieden. RAN
23
Dissidenten
Seltsamer Todesfall
Der Tod eines prominenten chinesi-
schen Flugpassagiers beschäftigt die
bayerische Justiz. Die für den Münch-
ner Flughafen zuständige Staatsanwalt-
schaft Landshut hat den Leichnam des
ehemaligen Dissidenten Zhang Jian
obduzieren lassen. Zhang starb Mitte
April in einem Krankenhaus in Freising,
nachdem der Linienflug, mit dem er
von Oman nach Paris reiste, wegen sei-
nes schlechten Gesundheitszustands
Zeitgeschichte Lenin. Vier Bände stammten von Mao um sich für eine gründliche Obduktion
Ensslin las Proust Zedong, zwei Bücher von Willy Brandt. einzusetzen. Sie verweist auf weitere
Romane gönnte sich die Literaturwissen- Todesfälle von chinesischen Dissiden-
Das Ministerium für Staatssicherheit schaftlerin Ensslin, die ihre Promotion ten, die zuvor an der Leber erkrankt
der DDR war bestens über die Lesege- aufgegeben und 1970 die »Rote Armee waren. »Das ist beunruhigend«, so die
wohnheiten westdeutscher Terroristen Fraktion« (RAF) mitgegründet hatte, nur Einschätzung von Huang Ciping. Auch
informiert. Den Spitzeln lag ein Verzeich- selten. Es fanden sich unter anderem Mar- Zhang hatte einen Leberabszess,
nis jener Bücher vor, die Beamte des Lan- cel Prousts »Auf der Suche nach der ver- ergab die Untersuchung im Auftrag der
deskriminalamts Baden-Württemberg in lorenen Zeit« oder das Drehbuch »Die Staatsanwaltschaft Landshut. Aller-
der Zelle der RAF-Gründe- letzten Worte von Dutch dings ermittelte das Institut für Rechts-
rin Gudrun Ensslin gefun- Schultz« des US-Poeten medizin in München als Todesursache,
den hatten. Ensslin hatte William S. Burroughs. dass der Dissident an Multiorganver-
sich am 18. Oktober 1977 Neben Büchern hinterließ sagen infolge einer Blutvergiftung ver-
in Zelle 720 im siebten Ensslin eine Schreibma- storben sei. Der Sprecher der Staats-
Stock der JVA Stuttgart- schine der Marke Olivetti, anwaltschaft Landshut betonte, dass
Stammheim erhängt. Einen eine Geige und eine Arm- den Ermittlern bisher »keine Hinweise
Tag später wurde die Liste banduhr der Marke Tissot. auf eine Straftat« vorlägen. Es habe
erstellt. Demnach bevor- Der Nachlass wurde in sich um »ein Todesermittlungsverfah-
zugte die schwäbische Pfar- einem Keller des Stamm- ren« gehandelt. Die Auswertung von
rerstochter Politiklektüren: heimer Gefängnisses einge- bei der Obduktion entnommenen Pro-
In den zwei Bücherregalen lagert, 1978 bei einer Über- ben steht allerdings noch aus. Im Labor
mit acht Fachböden stan- schwemmung beschädigt wird beispielsweise nach Spuren von
den allein 22 Bände des und anschließend als Müll bestimmten Substanzen oder nach Hin-
AP
russischen Revolutionärs Ensslin 1977 entsorgt. MBS weisen auf Radioaktivität gesucht. FRI
Claus Kleber
Deutschland
Lunte am
Pulverfass
Außenpolitik Die USA heizen die Konflikte im Nahen Osten
an, die Gefahr eines Krieges mit Iran wächst.
Die Folgen für Europa wären gravierend. Doch Berlin und
Brüssel schauen hilflos zu.
A
ls Heiko Maas am Dienstag- scher Flugzeugträger befand sich auf dem
nachmittag den Sitzungssaal der Weg in den Persischen Golf, alles deutete
SPD-Fraktion im Reichstag be- darauf hin, dass auch Pompeos Flugzeug
tritt, schauen ihn erwartungsvolle ein Ziel in der Krisenregion ansteuerte.
Augen an. Soeben ist bekannt geworden, Doch Heiko Maas sagte gar nichts. Statt-
dass der deutsche Außenminister einen dessen verließ er die Fraktion bereits nach
Anruf seines amerikanischen Amtskolle- einer halben Stunde. Auf die SPD-Abge-
gen Mike Pompeo erhalten hat. Der US- ordneten wirkte das Schweigen des Minis-
Außenminister habe, heißt es in dürren ters wie ein Sinnbild der Rat- und Orien-
Sätzen in einer Pressemitteilung des Aus- tierungslosigkeit deutscher Außenpolitik.
wärtigen Amts, »sein Bedauern« mitge- Denn es hätte einiges zu erklären gege-
teilt, dass er seinen Berlinbesuch kurzfris- ben: Der US-Außenminister war auf dem
tig absagen müsse. Weg nach Bagdad, um die irakische Regie-
Außenpolitik ist ein symbolisches Ge- rung auf die US-Strategie gegen Iran ein-
schäft. Wer wen wann besucht oder nicht zuschwören. Washington eskaliert in die-
besucht, wer wen wie lange warten lässt, sen Tagen den Konflikt mit Teheran – mit
hat immer Bedeutung. Auch wenn sich die unabsehbaren Folgen für seine Verbünde-
Bundesregierung größte Mühe gab, nicht ten in Europa. Im Nahen Osten, so fürchtet
verärgert zu scheinen: Pompeos Absage man in Berlin, wächst die Kriegsgefahr.
ist ein weiteres Indiz dafür, wie brüchig Erfahrene Diplomaten fühlen sich an
die Beziehungen zwischen Berlin und Wa- die Zeit vor dem US-Einmarsch im Irak
shington in diesen Zeiten sind. 2003 erinnert. Die Kriegsgefahr sei so groß
Auch die Genossen hätten von ihrem wie nie in den vergangenen Jahrzehnten,
Außenminister sehr gern etwas über die heißt es in der Bundesregierung.
Hintergründe der Absage erfahren, kam »Wir sehen überall in der Region eine
sie doch zu einem denkbar heiklen Zeit- zunehmende Konfrontation«, sagt Volker sächlich das Ziel des Regime-Change ver-
punkt. Die Nachrichten aus dem Nahen Perthes, Leiter der Stiftung Wissenschaft folgen oder nicht, ist schon fast egal. Wer
Osten waren alarmierend: Ein amerikani- und Politik. Es gebe »ein gefährliches Ne- nach dem Motto »mal schauen, was pas-
beneinander von Konflikten und siert« eine Lunte an ein Pulverfass legt,
zu viele risikobereite Akteure, nimmt einen Krieg in Kauf.
die nicht miteinander reden«. Die USA haben das iranische Regime mit
Auch der grüne Außenpoliti- harten Sanktionen überzogen und fahren
ker Jürgen Trittin sieht in der im Persischen Golf demonstrativ Kriegsge-
Region »eine riesige Eskala- rät auf. Nachdem Geheimdienste vor irani-
tionsgefahr«. »Die USA suchen schen Attacken auf US-Soldaten in der Re-
offenbar einen Vorwand, um gion gewarnt hatten, schickte Trump einen
FLORIAN GAERTNER / PHOTOTHEK / GETTY IMAGES
den Konflikt mit Iran zu eska- Kampfverband unter Führung des Flug-
lieren. Die Behauptung, Iran zeugträgers »Abraham Lincoln« und eine
plane einen Angriff gegen US- Bomberstaffel in Richtung iranischer Ho-
Truppen im Irak, riecht nach ei- heitsgewässer an den Persischen Golf.
nem Tonkin-Zwischenfall«, so Revolutionsführer Ali Khamenei wie-
Trittin in Anspielung auf den derum soll die iranischen Streitkräfte in
Vorwand, unter dem die USA erhöhte Bereitschaft versetzt haben. In ei-
den Vietnamkrieg verschärften. ner Rede am 1. Mai nannte er das Vorge-
Mit einer Mischung aus Wirt- hen Washingtons einen »totalen Krieg«.
schaftskrieg und militärischen Niemals seit Ende des Iran-Irak-Kriegs
Drohgebärden versucht Wa- 1988 schien die Kriegsgefahr größer.
Außenminister Maas shington, Iran in die Knie zu Das Vorgehen der USA ist doppelt ge-
»Wir sitzen auf einem Seil, und es wird immer dünner« zwingen. Ob die USA dabei tat- fährlich. Der Streit mit Iran könnte sich
26
ABACA PRESS / DDP
Präsident Rohani bei Militärparade in Teheran: »Riesige Eskalationsgefahr«
gewollt oder ungewollt zu einem militäri- malen Drucks. Trump sieht in Merkels regionalen Spannungen«, kritisiert Niels
schen Konflikt ausweiten. Nicht weniger Regierung keinen Verbündeten, sondern Annen, Staatsminister im Auswärtigen
gefährlich wäre es, wenn es den Falken in einen Quertreiber, der im Nahen Osten Amt. »Trumps Nahostpolitik ist brand-
Washington gelänge, Iran zu destabilisie- allzu oft auf Dialog setzt, zu enge Bindun- gefährlich«, sagt auch Luxemburgs Außen-
ren, und das Land in einem Bürgerkrieg gen nach Teheran unterhält, die Sanktio- minister Jean Asselborn. »Gegenüber Iran
versänke. Iran hat mehr als 80 Millionen nen unterläuft und den harten US-Kurs ge- bricht Trump internationale Abkommen.
Einwohner, etwa viermal so viel wie Sy- gen Iran torpediert. Und im israelisch-palästinensischen Kon-
rien vor dem Bürgerkrieg. Zwar steht ein Krieg im Nahen Osten flikt macht der US-Präsident eine Zwei-
Kein Wunder also, dass Trumps kon- eigentlich nicht auf Trumps Agenda. staatenlösung faktisch unmöglich«, sagt
frontative Nahostpolitik die Entfremdung Schließlich hat er im Wahlkampf verspro- Asselborn.
zwischen den USA und ihren europäi- chen, die USA würden unter seiner Präsi- Iran, so die Einschätzung in Berlin und
schen Verbündeten vorantreibt, denn an- dentschaft »den destruktiven Zirkel von Brüssel, reagiere dagegen eher maßvoll
ders als etwa in Venezuela wäre Europa Intervention und Chaos beenden« und und zurückhaltend auf amerikanischen
direkt betroffen. Es geht um die Sicherheit damit aufhören, »fremde Regime zu stür- Druck und Provokationen. Ein Jahr nach-
des Kontinents. zen, über die wir nichts wissen und mit dem Washington aus dem Atomabkom-
Die Folgen eines Kriegs hätte vor allem denen wir nichts zu tun haben sollten«. men mit Iran ausgestiegen ist und Iran mit
Europa zu tragen. Immer wieder habe Aber der Präsident und sein Sicherheits- schwersten Sanktionen belegt hat, kündig-
man den Amerikanern erklärt, dass ihre berater John Bolton sind sich einig darin, te Teheran in dieser Woche seinerseits ein
Politik für Europa deutlich größere Risiken die Drohkulisse gegen Iran immer höher Abrücken von dem Vertrag an – allerdings
berge als für die USA, heißt es in der Bun- zu bauen. in mikroskopischer Dosis.
desregierung. Vergebens. Die Europäer machen Washington für Irans Ankündigung, sich nicht mehr an
Aus amerikanischer Sicht sind die Eu- die Zuspitzung im Nahen Osten verant- die vereinbarten Obergrenzen für die La-
ropäer, allen voran Deutschland, dagegen wortlich. »Die USA verstärken mit ihrer gerung von angereichertem Uran und
ein Störfaktor für die Strategie des maxi- Politik des maximalen Drucks auf Iran die schwerem Wasser zu halten, ist nach Ein-
schätzung der Bundesregierung nicht so- ßen. Denn sollte sich herausstellen, dass die in Syrien, im Libanon und im Jemen sind
fort relevant, da diese Grenzwerte frühes- Europäer Geschäfte mit den Revolutions- mit Iran verbündete Milizen im Einsatz.
tens im kommenden Herbst erreicht wer- wächtern ermöglicht haben, die von den Für die wachsenden Spannungen macht
den. Bis dahin, so hofft man, sei noch Zeit USA als Terrororganisation eingestuft wur- Teheran die drei B verantwortlich: den is-
für Politik. den, wäre das ein gefundenes Fressen für raelischen Ministerpräsidenten Benjamin
»Irans Ankündigung allein ist keine Ver- die Trump-Regierung. Netanyahu, den saudischen Kronprinzen
letzung des Abkommens«, sagt Helga Selbst wenn es gelingt, das auszuschlie- Mohammed bin Salman und Trumps Si-
Schmid, Generalsekretärin des Auswärti- ßen, wird in der Bundesregierung bezwei- cherheitsberater John Bolton.
gen Dienstes in Brüssel. »Wir werden uns felt, dass das Handelsvolumen von Instex Besonders eine Maßnahme der Ameri-
an unsere Verpflichtungen halten, solange ausreichen wird, um die wirtschaftliche Si- kaner hat die Gefahr einer ungewollten
Iran das genauso tut.« tuation Irans entscheidend zu ändern. kriegerischen Zuspitzung erhöht: Am
In zwei Wochen wird eine neue Ein- Inzwischen hat Iran den Europäern ein 8. April erklärte Washington die iranischen
schätzung der Internationalen Atomener- Ultimatum von 60 Tagen gestellt, um die Revolutionswächter zur Terrororganisa-
giebehörde erwartet, die turnusgemäß Folgen der Sanktionen abzuwenden. tion. Im Gegenzug klassifizierte das Parla-
überprüft, ob Iran sich an das Abkommen Wenn das nicht gelingt, könnte Iran die ment in Teheran das für den Nahen Osten
hält. In Brüssel erwartet man, dass der Be- Anreicherung von Uran wieder aufneh- zuständige US-Zentralkommando Cent-
richt positiv ausfällt, genau wie die 14 bis- men oder den Atomwaffensperrvertrag com per Gesetz als terroristisch. Nun sind
herigen Berichte. kündigen. Dann dürfte es nicht mehr lange amerikanische und iranische Truppen, wo
Und das, obwohl die US-Sanktionen die
Islamische Republik inzwischen mit voller
Härte treffen. Das Wirtschaftswachstum
ist eingebrochen, für dieses Jahr wird ein
Rückgang des Bruttoinlandsprodukts von
6 Prozent erwartet, die Inflation liegt in-
zwischen bei nahezu 40 Prozent, der Un-
mut der Bevölkerung wächst, die humani-
täre Lage spitzt sich zu.
Das totale Ölembargo, das Pompeo
Ende April angekündigt hat, wird Iran
nach Schätzungen des US-Außenministe-
riums 50 Milliarden Dollar im Jahr kosten,
40 Prozent des jährlichen Staatseinkom-
mens. Zwar gehen die Iraner davon aus,
dass China weiterhin eine begrenzte Men-
ge Öl abnehmen wird und auch über den
Irak und über die Türkei auf dem »grauen
Markt« Öl verkauft werden kann. Aber
der Export dürfte Schätzungen zufolge
MANDEL NGAN / DPA
WOHLFÜHLEN
wie die Temperatur zwischen Washington Bestätigung aus Washington warten sie in
und Teheran steigt. Ein EU-Diplomat be- Berlin noch.
schreibt die Lage so: »Wir sitzen auf einem Christiane Hoffmann, Peter Müller,
Seil, die Amerikaner ziehen an einem Christoph Scheuermann, Fidelius Schmid, FinnComfort Postfach
Ende, die Iraner am anderen, und das Seil Christoph Schult 97433 Haßfurt/Main
wird immer dünner.«
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Europawahl 2019
Miss Happy
Karrieren Katarina Barley, SPD-Spitzenkandidatin für Europa, redet im Wahlkampf nicht viel über
Politik, sondern zeigt sich vor allem als freundlicher Mensch. Das kommt gut an. Von Veit Medick
A
n einem Dienstagmorgen im eine Antwort geben. Schaffen es die pelte Staatsbürgerschaft, und ihre zwei
April sitzt Katarina Barley auf Rechtspopulisten, Brüssel und Straßburg Kinder habe sie mit einem Mann bekom-
Platz 6C eines Austrian-Airlines- zu unterwandern, steht ein ganzes Frie- men, den sie bei einem Studienaufenthalt
Flugs irgendwo über Süddeutsch- densprojekt zur Disposition, schneidet die in Paris kennengelernt habe. »Meine Eras-
land und wirkt wieder einmal so, als hätte SPD schlecht ab, könnte die älteste Partei mus-Babys« nennt Barley ihre Söhne, es
sie mit all diesem Wahnsinn um sich he- des Landes in Existenznot geraten. Das ist der Sound, den sie anschlägt, wo immer
rum nichts zu tun. Sie hat sich einen sind die Dimensionen. sie hinkommt. »Europa ist einfach mein
Schwarztee bestellt und ein Hefegebäck, Kurzum: Barley, die nebenbei noch Jus- Leben«, sagt sie. Übrigens wohne sie bei
in der Hand hält sie ihr iPhone, vor ihr tizministerin ist, hat sich in ein Abenteuer Trier. »Da kann man mit dem Fahrrad
steht eine Handtasche. Keine Akten, kein gestürzt und sich dabei für einen Wahl- durch vier Länder an einem Tag fahren –
Buch, kein Mitarbeiter. Barley allein in der kampf entschieden, der so still ist, dass wenn man gut drauf ist.«
Holzklasse. Sie lehnt sich zurück. Es sind manche in der Partei ein Anflug von Ner- Happy Katarina.
noch 60 Minuten bis Düsseldorf und noch vosität überfällt. Es kann sein, dass die 50- Der Termin läuft unter Wahlkampf, was
ein paar Wochen bis zur Europawahl. Jährige alle überrascht. Und wenn es ein Witz ist, sofern man mit der gewöhn-
Und dann? Was kommt nach dieser schlimm ausgeht am Wahlabend? Nur kei- lichen Brille auf ihre Kampagne blickt. Bar-
Wahl, Frau Barley? Wie soll das alles ne Panik, meint Barley. Wird schon. ley, die früher Richterin war, macht keinen
werden? »Übrigens hatte ich Tee bestellt«, sagt Wahlkampf, jedenfalls nicht diesen üb-
Barley schaut, als hätte man sich nach sie zur Stewardess, die einen Kaffee bringt. lichen »Wenn ihr nicht alle wählen geht,
ihrem Lieblingskuscheltier erkundigt. Ab- »Oh, stimmt.« werden wir alle sterben«-Wahlkampf. Sie
surde Frage! Was nach der Wahl komme, doziert nicht von oben herab und brüllt
interessiere sie nun wirklich nicht, sagt sie. keine Menschen an. Sie verzichtet darauf,
Nicht die Posten, die es zu verteilen gebe, Wer fragt, bekommt den Weltuntergang herbeizuanalysieren,
nicht die möglichen Folgen für ihre Partei. immer eine Antwort. und vermeidet es, ihre Gegner zu verteu-
Druck verspüre sie im Grunde gar nicht. feln. Sie macht nicht einmal einen Hehl
Sie wolle am Wahlmorgen einfach aufste- Aber sie will niemanden daraus, dass sie sich an ihre Rolle noch ge-
hen und sich innerlich sagen können, dass belästigen. wöhnen müsse. »Für mich«, sagt Barley,
sie alles getan habe, was sie sich vorge- »ist es immer ein komisches Gefühl, das
nommen habe, sagt sie. Das sei ihr wichtig. eigene Gesicht auf den Plakaten zu sehen.«
Kurzes Lächeln. Ein Tag im März, Barley besucht einen Letzteres könnte freilich Koketterie sein.
Die Uhr zeigt 7.55 Uhr, die Stewardess kleinen Stammtisch in Gera. Ein Raum in In der SPD gibt es auch Geschichten über
öffnet für die Fluggäste schon mal eine Fla- der Nähe des Bahnhofs, ein Dutzend Frau- ihre Eitelkeit.
sche Wein. en ist gekommen. Es gibt Kuchen und Rot- Manche Sozialdemokraten sind fast fas-
Ja gut, sagt Barley, mal wieder ein Glas käppchensekt, Barley trägt Turnschuhe, sungslos angesichts der Sanftheit, mit der
trinken zu können, darauf freue sie sich was sie häufig macht. Robert Habecks Er- Barley durch diese verrückten Zeiten
schon. Bis zum 26. Mai verzichte sie auf folg ist ein Beispiel dafür, dass schon kleine schreitet. Der Brexit hält Europa in Atem,
jeglichen Alkohol. »Das nervt mich lang- Unkonventionalitäten wie ein Dreitage- die USA und China kämpfen um die glo-
sam«, sagt sie in diesen Wochen häufiger. bart, ein offenes Hemd oder eben Turn- bale Vormachtstellung, und Barley spricht
Bei Politikern, die sich demonstrativ ent- schuhe Politiker umgänglicher wirken las- über ihre Erasmus-Babys. Natürlich be-
spannt zeigen, gilt es immer, vorsichtig zu sen. Hinten, in einer Ecke des Raums, sitzt steht die Gefahr, dass eine Kandidatin ver-
sein, aber bei Barley stehen persönlicher Barleys niederländischer Lebensgefährte, loren wirkt, wenn sie es scheut, das große
Auftritt und politisches Umfeld momentan ein kluger, unterhaltsamer Basketball- Rad zu drehen und von Megabühnen wie
in einem solch auffallenden Gegensatz, dass coach, der sich politisch auskennt, den jemand herunterzupredigen, der für alles
selbst Sozialdemokraten sich fragen, was »Guardian« liest und schon von einem so- konkrete Pläne hat. Allerdings haben die
da eigentlich los ist. Diese Wochen müssten zialdemokratischen Wiederaufstieg träum- Schreihals-Wahlkämpfe von Peer Stein-
für eine SPD-Spitzenkandidatin eigentlich te, als er Barley noch gar nicht kannte. brück und Martin Schulz zuletzt so
die reinste Tortur sein, weil kaum ein Wahl- »Wer ist denn dieser arrogante Raucher schlecht funktioniert, dass Barleys Gegen-
kampf so überladen wirkt wie dieser. Selbst da auf dem Bild über Katarina?«, fragt er. entwurf so verkehrt nicht wirkt.
die Floskel von der Schicksalswahl scheint Es ist Willy Brandt, in jüngeren Jahren. Der Wahlkampf ist ohnehin nicht ein-
ausnahmsweise mal eine gewisse Berechti- »Oh. Nicht erkannt.« fach für die SPD, die Partei muss ein
gung zu haben. Barley sitzt auf einem Sofa, über sich Europa verteidigen, das sie selbst gar nicht
Am 26. Mai geht es um Europa und um Brandt, vor sich die Frauen an kleinen, zu 100 Prozent aufrechterhalten will. Aber
die Sozialdemokratie, zwei große Ideen runden Tischchen. »Ich duze jetzt hier alle, sie kann auch nicht zu sehr an Europa he-
der jüngeren Geschichte, und die Frage ist, ’tschuldigung, das rutscht mir immer so rumschrauben wollen, weil es dann so wir-
ob diese Ideen nur noch auf dem Papier raus«, sagt sie und beginnt zu erzählen, ken würde, als stünde sie gar nicht mehr
existieren oder weiterhin ein reales Fun- weshalb sie sich diese Kandidatur antue. richtig hinter der Idee. »Viel Glück. Ich
dament haben. Am Wahltag wird es darauf Ihr Vater sei Brite, sie selbst habe die dop- kann mir vorstellen, wie sich das anfühlt,
31
regelrecht gefeiert. »Das hat soooooo gut- in ihrem Wagen in Richtung Flughafen.
ARTE RE getan«, sagt die Chefin der örtlichen SPD: Die Polizei lotst sie durch die Stadt. Immer
MONTAG, 13. 5., 19.40 – 20.10 UHR | ARTE »Wir brauchen mehr von deiner Sorte.« diese Kolonnen, sagt sie. Neulich habe die
Aber was ist ihre Sorte? In der SPD Polizei in ihrer Heimatstadt die Straßen
Brexit-Chaos in der Karibik – weiß niemand so richtig, wie sie politisch abgesperrt. Sie habe gedacht, die Chinesen
die Insel Anguilla steht kopf tickt. Sie ist weder sehr links noch sehr kämen. Dabei waren die Sperren für die
Die winzige Karibikinsel Anguilla ist konservativ, nicht jung, nicht alt, sie strei- Justizministerin, also für sie.
britisches Überseegebiet. Obwohl tet ungern, weder mit den eigenen Leuten Vielleicht geht doch alles zu schnell, sie
6500 Kilometer Luftlinie von London noch mit Bundesinnenminister Horst See- kommt manchmal selbst nicht hinterher
entfernt, bangen die Inselbewohner hofer, ihrem Counterpart in der Regierung, damit, welches Amt sie gerade hat.
um ihre Zukunft. Verlässt das Ver- und das will schon was heißen. Barley scrollt über ihr Display. Notre-
einigte Königreich die Europäische Es gibt keinen Patzer, an den man sich Dame brennt. Der Mittelturm ist gerade
Union, wird auch Anguilla von erinnerte, aber auch kein Projekt, das man eingestürzt, Barleys Timeline bei Twitter
den Segnungen der EU abgeschnitten. mit ihr verbände. Barley ist herzlich und ist ein einziges Flammenmeer. »Mir ist
interpretiert das Feminine in der Politik richtig flau im Magen. Das ist Kultur, das
anders als viele Frauen, die glauben, die ist ein Monument«, sagt sie und greift zum
SPIEGEL TV männliche Dominanz kopieren zu müssen, Telefon. Ein Anruf bei ihrem Lebensge-
MONTAG, 13. 5., 23.25 – 0.00 UHR | RTL um nach oben zu kommen. Ansonsten ist fährten. Wie so oft. Hin und wieder ist sie
sie schwer einzuordnen. Wer mit ihr bei ihm in Amsterdam, aber allzu häufig
Clankriminalität – Wie das Mitglied spricht, wird nicht indoktriniert. Einem sehen sie sich gerade nicht. In ein paar Wo-
einer arabischen Großfamilie Lager gehört sie nicht an, deshalb kann chen, wenn sie in Brüssel wohnt, ist sie
seine Nachbarn terrorisiert; Von der sich jeder bei ihr aufgehoben fühlen. Da ihm viel näher. Es sind dann nur knapp
Insolvenz zum Millionär – Der sie kein klares Profil hat, kann niemand zwei Stunden mit dem Zug, sie hat das
Aufstieg des Promi-Unternehmers sie in eine Schublade stecken. schon gecheckt. Ein Katzensprung.
Jens Hilbert; Bekifft, betrunken Zwei Wochen läuft der Wahlkampf
oder ohne TÜV – Großkontrolle im noch, und das Schöne aus Barleys Sicht
Berliner Umland. Weil die SPD sie schon ist, dass sie kaum verlieren kann. Die Er-
für fast alles eingesetzt wartungen der SPD an das eigene Ergebnis
sind historisch niedrig. Dass der Balken
SPIEGEL GESCHICHTE hat, ist sie bislang überall abstürzt, ist eingepreist, das 27-Prozent-
MITTWOCH, 15. 5., 23.10 – 23.55 UHR | SKY unvollendet geblieben. Ergebnis der vorigen Europawahl wird un-
erreichbar sein. Ist das Ergebnis halbwegs
Airbus und Boeing vernünftig, könnte Barley das als ihren Er-
Es ist die Auseinandersetzung der Der Lohn: 99 Prozent der Delegierten folg verkaufen. Wird es schlimm, dürfte
beiden größten Flugzeughersteller haben Barley auf dem SPD-Europakon- die Schuld eher anderen gegeben werden,
der Welt: des amerikanischen Boeing- vent im Dezember auf Platz eins der Liste zum Beispiel Kühnert.
Konzerns mit der multinationalen gewählt. Sie hat den höchsten Bekannt- Was Barley in Brüssel will, ist ein großes
Airbus-Gruppe der Europäer. heitsgrad unter allen deutschen Spitzen- Rätsel ihres Wahlkampfs. Den deutschen
kandidaten für Europa. Als sie im Juni Kommissarsposten wird die Union beset-
2017 nach gerade mal anderthalb Jahren zen, sofern Manfred Weber, der CSU-
DIENSTAG, 14. 5., 20.15 – 21.45 UHR | ARTE als Generalsekretärin das Willy-Brandt- Mann, nicht gar Kommissionspräsident
Haus verließ, flossen Tränen. wird. Und den Fraktionsvorsitz der Euro-
Demokratie unter Druck Ihre Popularität hat auch eine Tragik, päischen Sozialisten wird sie auch nicht
Ist die Demokratie in ihrer gegenwär- denn sie zeigt, wie sehr sich die Partei nach mal eben geschenkt bekommen.
tigen Form in Gefahr? In einer Hoffnungsträgern sehnt und wie schnell So könnte es sein, dass Katarina Barley
kritischen Analyse nimmt der Film Sozialdemokraten in diese Rolle rutschen nach diesem Wahlkampf, der irgendwie
die Macht des Volkes als historische können. Barleys Aufstieg verlief fast schon keiner so richtig sein will, sich erst einmal
Errungenschaft, als Rückbesinnung grotesk schnell: Generalsekretärin, Fami- in den hinteren Rängen wiederfindet, was
auf Partizipation und Freiheit in lien-, zusätzlich Arbeits- und später Jus- ein wenig ärgerlich für sie wäre, weil sich
den Blick und geht Schwachstellen tizministerin, jetzt die Nummer eins für eine bundespolitische Präsenz so deutlich
und Mängeln der repräsentativen Europa. All das innerhalb von drei Jahren. schwerer beibehalten ließe. Es wird dann
Demokratie nach. Weil die SPD glaubt, sie für fast alles interessant sein zu beobachten, ob die Par-
einsetzen zu können, ist sie bisher überall tei ihr trotzdem die Treue hält oder sich
unvollendet geblieben. Und weil sie das vielleicht so schnell wieder von ihr abwen-
SPIEGEL TV REPORTAGE weiß, fällt ihr der Abschied aus dem Jus- det, wie sie sich ihr zuwandte.
DIENSTAG, 14. 5., 23.10 – 0.15 UHR | SAT.1 tizministerium schwer. »Es ist einfach Ja, und dann? Barley lacht. Nur kein
ein ganz großartiges Amt, eigentlich hatte Stress. Sie wolle jetzt erst mal gut durch
Feuerwache Neukölln – ich gar nicht vor, das abzugeben«, sagt den Wahlkampf kommen. Viele Termine,
Alarm in der Sonnenallee sie auf fast jedem Termin. Das ist einiger- viele Gespräche, viel Sport. Zu Hause
Die Einsätze im Berliner Problem- maßen riskant, weil es so wirkt, als wäre macht sie Kraftübungen, mindestens ein-
bezirk Neukölln gelten als besondere sie nur mit halbem Herzen in Sachen mal die Woche geht sie joggen. Meistens
Herausforderung. Diesmal werden Europa unterwegs und könnte sich nicht am Mittwoch, gleich nach der Kabinetts-
die Feuerwehrmänner zu einem entscheiden. sitzung. Sie zieht sich im Kanzleramt um,
Wohnungsbrand in der Sonnenallee Mitte April, das Ende eines langen Ta- dann läuft sie durch Berlin. Bald muss sie
gerufen. Kaum angekommen, ges in Wien. Barley hat die dortigen Ge- sich eine neue Strecke suchen.
wird ihnen klar: Es sind noch Men- nossen besucht und sich über öffentlich ge- Wird schon alles, sagt sie.
schen in dem brennenden Haus. förderten Wohnraum informiert. Sie sitzt
32
Deutschland
Trickreiche
tungen nach. Vor allem die CSU hält Grundrente nun auf knapp vier Milliarden
an einer ihrer Lieblingsforderungen fest. Euro, möglicherweise auch mehr, je nach-
»Fast dreißig Jahre nach der Wiederver- dem welcher Personenkreis zum Zuge
Pläne
einigung gehört der Soli abgeschafft – kommt und was an Kindererziehung, Pfle-
ohne Ausnahme komplett für alle Steuer- ge und Arbeitslosigkeit auf die erforder-
zahler«, sagt Stefan Müller, der Parlamen- lichen 35 Beitragsjahre angerechnet wird.
tarische Geschäftsführer der CSU. Wenn Anders als ursprünglich geplant soll das
Haushalt Weil in der Finanz- aber der Bund tatsächlich auch den oberen Projekt aber nicht vollständig aus Steuer-
planung Milliarden fehlen, zehn Prozent der Steuerzahler den Auf- mitteln und damit aus dem Haushalt be-
schlag erlassen würde, wie von Müller ge- zahlt werden. Große Teile der Kosten wer-
wollen die SPD-Minister Scholz fordert, dann müsste er zusätzlich auf rund den aus Beitragsmitteln bestritten.
und Heil die Grundrente auf zehn Milliarden Euro jährlich verzichten. Scholz und Heil wollen nun sowohl die
ungewöhnliche Weise finanzieren. Deshalb widersprechen eigene Frak- gesetzlichen Krankenkassen als auch die Ar-
tionskollegen dieser Idee. »In Anbetracht beitslosenversicherung anzapfen. So erwä-
der deutlich nach unten korrigierten Steu- gen sie, den Beitragssatz für die Kranken-
34
Deutschland
Während sich die Amerikaner als Welt- schätzte Kosten zwischen 20 Milliarden und oder in Kriegsgefangenschaft. Polen greift
polizist zurückziehen, steigen in Europa 31 Milliarden Dollar. Außerdem brauchte ein, es kommt zu heftigen Gefechten zwi-
die Spannungen. Mit Sorge registriert die sie zehn Luftabwehr-Zerstörer, geschätzte schen polnischen und russischen Einheiten,
nun verkleinerte Nato starke Flottenakti- Kosten zwischen 19 Milliarden und 21 Mil- am Ende besetzt Russland eine 30 Kilo-
vitäten der Russen im östlichen Mittelmeer, liarden Dollar. meter tiefe Sicherheitszone an der Grenze
in der Ostsee, im Schwarzen Meer und im Das ist längst nicht alles. Es fehlt an zwischen der russischen Exklave Kalinin-
Nordatlantik. Zugleich verschlechtert sich U-Booten, Flugzeugträgern, an Flugzeugen grad und Polen.
die Sicherheitslage am Horn von Afrika. zur U-Boot-Bekämpfung. Um dieses Defi- Die Nato erklärt den Bündnisfall. In ei-
Ab Oktober 2021 überschlagen sich die zit zu beseitigen, müssten die Europäer ner ersten Operation sollen schnelle Ein-
Ereignisse. Im westlichen Mittelmeer wer- nach den Berechnungen des IISS zwischen greiftruppen in die Frontstaaten verlegt
den mehrere russische Kriegsschiffe ge- 94 Milliarden und 110 Milliarden Dollar werden, um Russland vor weiteren Aktio-
sichtet, in Montenegro kommt es zu pro- investieren. Die Kosten für Materialerhalt, nen abzuschrecken. Gelingt es nicht, Mos-
russischen Protesten, Moskau versetzt die Training und Personal kämen noch dazu. kau zum Abzug aus den besetzten Gebie-
russische Schwarzmeerflotte in Alarmbe- In einem zweiten Szenario spielen die ten zu bewegen, soll in einer zweiten Mis-
reitschaft. In schwedischen Hoheitsgewäs- Londoner Experten einen begrenzten sion die Rückeroberung versucht werden.
sern taucht ein unbekanntes U-Boot auf, Landkrieg mit Russland durch. Nach dem Auch für dieses Szenario errechnet das
gleichzeitig werden in Nord- und Ostsee Nato-Austritt der USA wachsen 2021 die IISS ein massives Rüstungsdefizit der Nato
die Navigationssysteme von Schiffen elek- militärischen Zwischenfälle in der Ostsee nach einem amerikanischen Austritt. Teu-
tronisch gestört, ein Tanker läuft deshalb zwischen Russland, Litauen und Polen. Als erster Posten wäre die Anschaffung von
auf Grund, Öl fließt aus. Folge kommen in den beiden osteuropäi- bis zu 90 Batterien von »Patriot«-Abwehr-
Die russische Nordflotte verlegt vier Ma- schen Bündnisstaaten nationalistische Re- raketen, die bis zu 78 Milliarden Dollar
rineeinheiten, bestückt mit Mittelstrecken- gierungen an die Macht, die gemeinsam kosten könnten. Schwere Kampfpanzer,
waffen, in den Ostatlantik, am Horn von Militärmanöver abhalten, bei denen auch Kriegsschiffe und Kampfflugzeuge sind die
Afrika sind Piraten aktiv. offensive Luftoperationen geübt werden. nächsten drei großen Posten.
Als Antwort auf diese Bedrohungen Russland fühlt sich provoziert. In Litau- Insgesamt müsste die kleinere Nato zwi-
lässt die Nato »Nemo« (»Nato/EU Maritime en und Polen werden Cyberangriffe auf schen 288 Milliarden und 357 Milliarden
Objective«) ausarbeiten. Es geht um eine Regierungs- und Militärnetzwerke regis- Dollar ausgeben, um für dieses Szenario
Operation, die knapp unterhalb eines be- triert. Wenig später setzen Hubschrauber gewappnet zu sein. Die Summen sind
waffneten Konflikts angesiedelt ist. Sie soll russische Luftlandetruppen in Litauen ab, atemberaubend.
mögliche Gegner abschrecken und in der aus Weißrussland greift eine russische Di- »Es geht nicht darum nachzuweisen, dass
Lage sein, die Auseinandersetzung notfalls vision an, in einer Überraschungsaktion die Europäer strukturell unfähig wären, sich
militärisch eskalieren zu können. bringen russische Kommandos den Flug- selbst zu verteidigen«, schreiben die Lon-
In langen Tabellen listen die IISS-Exper- hafen von Kaunas unter ihre Kontrolle. doner Forscher in ihrer Studie. Das militä-
ten auf, was den Europäern in einem sol- Bald ist der größte Teil der litauischen rische Defizit sei lösbar, »allerdings nur in
chen Fall fehlen würde. Um die Ame- Streitkräfte aufgerieben, die meisten Sol- einem Zeitraum von ein bis zwei Jahrzehn-
rikaner zu ersetzen, müssten sie allein daten der in Litauen stationierten Nato- ten«. Konstantin von Hammerstein
16 hochmoderne Fregatten beschaffen, ge- Truppe unter deutscher Führung sind tot
11 581 Mängel
drup. Das Fazit des Flughafenchefs: »Die
ursprüngliche Sicherheit des Eröffnungs-
termins im Oktober 2020 kann heute nicht
mehr uneingeschränkt garantiert werden.«
Berlin Der neue Flughafen soll, endlich, 2020 eröffnet werden. Gegenüber der Öffentlichkeit demen-
tiert das Flughafenmanagement, selbstre-
Doch auch dieser Termin ist womöglich nicht zu halten. dend, jeden Zweifel am Eröffnungsfahr-
plan. »Der Termin steht«, sagt ein Sprecher.
Und auch in der internen Gesellschaf-
Noch Anfang März warnte der TÜV: »Mit mag – ein Urteil sprechen, könnte der
dem derzeitigen Stand der Mängel könnte Rechtsstreit für die Flughafengesellschaft
eine Bescheinigung zur Fertigstellung für höchst riskant werden. Folgen die Richter
die sicherheitstechnische Gebäudeausrüs- der Argumentation der Kläger, müsste
tung nicht ausgestellt werden.« womöglich der Bau von Terminal 2 ge-
Das Problem mit dem Hauptterminal stoppt werden. Und am BER würde wei-
ist nicht die einzige Schwierigkeit, die den tere Jahre niemand abheben.
Eröffnungstermin gefährdet. Die Abferti- Andreas Wassermann
gungskapazität reicht nicht aus, um den Airportchef Lütke Daldrup Mail: andreas.wassermann@spiegel.de
derzeitigen Bedarf an Flügen zu decken. Sisyphos’ Schicksal
37
Deutschland
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Deutschland
WERNER SCHÜRING
vermeintlich aufgeklärten Milieus, die den
Ton angeben, erteilen Denkverbote.
SPIEGEL: Das ist ein harter Vorwurf – was
meinen Sie damit?
Koppetsch: Wenn der sogenannte Otto
Normalverbraucher während der Euro-
Koppetsch, 52, ist Professorin an der Tech- durch auch immer schwieriger, befriedigen- krise die Frage stellte, warum die EU
nischen Universität Darmstadt und unter- de Lösungen für soziale Fragen zu finden. eigentlich Griechenland retten müsse, lief
sucht die Ängste der Mittelschicht und den SPIEGEL: Warum? er Gefahr, als Verräter dazustehen. Und
Aufstieg der rechtspopulistischen Parteien. Koppetsch: Da ist einerseits eine globale wer kritisiert, dass die Europäische Kom-
Für ihr neues Buch hat sie Interviews mit Oberschicht, die durch die Welt fliegt oder mission wie eine Regierung arbeitet, aber
AfD-Anhängern geführt sowie Feiern und per Videokonferenz in allen Ländern mit- nicht unmittelbar durch Wahlen legitimiert
Treffen der Partei besucht*. berät, mitentscheidet und mitverdient, ist, gilt als Feind Europas. Dabei verdienen
ohne dass sie eine globale Verantwortung solche Fragen eine sachliche Diskussion.
SPIEGEL: Bei den Europawahlen wird das übernehmen müsste. Und andererseits ge- Aber viele der tonangebenden Kosmo-
rechtspopulistische Lager vermutlich er- langt die Masse der Menschen nicht ein- politen, wie ich die akademisch gebildete
neut an Stimmen gewinnen. Wie erklären mal zu bescheidenem Wohlstand, weil der und kulturell dominierende Klasse nennen
Sie sich den ungebrochenen Erfolg? Einfluss von Volksparteien, Gewerkschaf- möchte, meinen, dass allein ihr Blick auf
Koppetsch: Die Ursachen sind komplexer, ten und Tarifverträgen an den Landesgren- die Welt zulässig ist. Auch deshalb haben
als es in Talkshows und Wahlanalysen oft zen endet und ohnehin schwindet. viele bis zuletzt gedacht, dass das britische
nahegelegt wird. Weder der sogenannte SPIEGEL: Warum stärkt diese Entwicklung Volk niemals einen Brexit beschließen
Flüchtlingsstrom noch die wachsende zwangsläufig Rechtspopulisten? Denkbar könnte. Die Kosmopoliten verrennen sich
Kluft zwischen armen Verlierern und wäre doch, dass die Linken mit ihrer his- in Lebenslügen. Selbst jenen Rassismus,
reichen Gewinnern der Globalisierung torisch gewachsenen Idee einer schlagkräf- den sie den Rechtspopulisten vorwerfen,
reichen als Erklärungen aus. Wir befinden tigen Internationale davon profitieren. haben sie oft verinnerlicht.
uns vielmehr inmitten eines epochalen Koppetsch: Aber ihre Ideen gehören der SPIEGEL: Noch so ein harter Vorwurf.
weltweiten Umbruchs. vergangenen Epoche an. Die neuen Rechts- Koppetsch: Es ist eine Spielart von Ras-
SPIEGEL: Wie meinen Sie das? populisten hingegen geben sich den An- sismus, der weniger offenkundig ist, weil
Koppetsch: Seit dem Fall der Mauer be- schein, als seien ihre Ideen unverbrauchte er in den Institutionen und unserem Wirt-
stimmen nicht mehr zwei ideologisch ver- Alternativen. Die AfD trägt dieses Verspre- schaftssystem strukturell tief verankert ist.
feindete Blöcke das Weltgeschehen, son- chen sogar im Namen. Sie löst es nicht ein, Kosmopoliten fahren eine postkoloniale
dern grenzenlos operierende Großunter- aber dass wir neue und andere Konzepte Dividende ein.
nehmen. Die Nationalstaaten haben einen brauchen, um mit den tektonischen Ver- SPIEGEL: Was meinen Sie denn damit?
Großteil ihrer Souveränität verloren, weil schiebungen unserer Zeit umzugehen, ist Koppetsch: Viele halten es letztlich für
sie das weltweite Geschäft nicht regulieren normal, dass sie von den niedrigen Löhnen
können; der Einfluss ihrer Politiker und der Menschen aus sogenannten Drittwelt-
Behörden reicht trotz aller internationalen ländern profitieren. Sie erklären das Ge-
Abkommen nicht weit genug. Es wird da- »Viele Kosmopoliten fälle damit, dass deren Kultur nun einmal
meinen, dass nicht so weit entwickelt ist, und sind mit
sich im Reinen, wenn sie dem Paketboten
* Cornelia Koppetsch: »Die Gesellschaft des Zorns. allein ihr Blick auf die von Amazon ein anständiges Trinkgeld
Rechtspopulismus im globalen Zeitalter«. transcript;
288 Seiten; 19,99 Euro. Welt zulässig ist.« geben. Und natürlich ist es eine Form von
DRID, Hamburg
SPIEGEL: Zur Rhetorik der Rechtspopulis-
ten gehört menschenverachtende Propa-
ganda. Macht das einen unbefangenen
Dialog nicht von vornherein unmöglich?
Koppetsch: Die Menschenwürde ist unan-
tastbar, das steht natürlich über allem. Ich
will die Extreme in einer Partei wie der
AfD nicht verharmlosen, sie sind inakzep-
tabel. Aber die Partei ist auf vielen Ebenen
leider extrem anschlussfähig. Ich habe für
meine Forschung an Treffen des liberalen
Flügels teilgenommen, die sich von denen Sie erhalten vollen Zugriff auf alle Inhalte von SPIEGEL+ auf
linksliberaler Unidozenten kaum unter- SPIEGEL ONLINE, erfahren mit Daily Update das Wichtigste des
schieden. Auf einem Fest in der Advents- Tages und lesen die digitale SPIEGEL-Ausgabe schon freitags
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wir sie moralisch diffamieren, treiben wir
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Thomas Darnstädt me, die an der Haltbarkeit des vor 70 Jahren entstande-
nen Modells einer freiheitlichen Demokratie zweifeln
lassen. Schon fragen weise alte Männer wie der Ex-Ver-
G
Die Mückenplage des August 1948 über dem Chiemsee
eht es mal analog zur Sache, ist das Grundgesetz ist in die Verfassungsgeschichte eingegangen: Da saßen
auch im Leben eines YouTubers ein unentbehrli- sie, im Wirtsgarten beim Alten Schloss auf der Insel, die
ches Hilfsmittel. »Richtig krass«, so erklärte Kaan Väter der zweiten deutschen Demokratie, unter alten
Yavuzyasar, 21, seinen mehr als 300 000 Abon- Bäumen bis spät in die Nacht und schlugen wild um sich.
nenten, was ihm neulich in Frankfurt am Main passiert ist. Am anderen Ende Deutschlands brummten die amerika-
Der Netzstar hatte seine Freunde zu einem »Fantreffen« nischen Luftbrücken-Flugzeuge über den Ruinen der
auf der zentralen Konsummeile Zeil gerufen. Anlass war alten Hauptstadt. Die Berlin-Blockade der Sowjets durch-
ein rohes Ei, das ihm der Freund eines Facebook-Konkur- zustehen galt in diesen Tagen als eine Schicksalsfrage
renten auf dem Kopf zerschlagen hatte. der Nation. Die andere wurde hier, in der Idylle beantwor-
Mitten im Einkaufsrummel trafen alsbald rund tet: Wie wollen wir künftig leben, am Tatort eines Jahr-
600 überdrehte Jugendliche zusammen. Der andere In- tausendverbrechens, auf den noch rauchenden Trümmern
ternetstar fehlte zwar, aber weil sich Passanten belästigt einer Weltkatastrophe, die von hier, in Deutschland, ihren
fühlten, griff bald eine Hundertschaft der Polizei ein. Ein Ausgang genommen hat?
paar Fäuste flogen, Steine auch. »Diese Menschen kom- Es waren lange Nächte voller Volkslieder und großer
men nur wegen mir dahin und machen so einen Auf- Worte. Bei Vollmond über dem See sah der bayerische
stand«, freute sich Yavuzyasar. »Das Demonstrationsrecht Staatsminister Anton Pfeiffer einen »Schimmer von
ist ein Grundrecht«, ärgerte sich die Polizei, die auch in Romantik«. Einen Liter Spezialbier pro Tag und Person
anderen Großstädten mit den so sinnfreien wie plötzli- hatte der Gastgeber, die bayerische Staatskanzlei, bewilligt.
chen Ausbrüchen der digitalen Gemeinde in die analoge Carlo Schmid, der württembergische SPD-Politiker und
Welt zu kämpfen hat, »solche Aufrufe und Treffen kann Verfassungsjurist, begleitete die sangesfreudige Runde
man nicht verbieten.« am Klavier. Er hatte sich gerade erst den neuen Vornamen
Krass. Das alte Wunderbuch ist überall dabei. Auf das zugelegt, um sich abzugrenzen von Carl Schmitt. Der
Grundgesetz berufen sich die rechten Populisten, die Name des Staatsrechtlers war untrennbar mit dem Ver-
behaupten, »das Volk« zu sein, von dem (Artikel 20) alle fassungsdenken verbunden, das die erste deutsche, die
Macht ausgeht. Auch die Linken finden ihre Nummern, Weimarer Demokratie in den Abgrund geführt hatte.
etwa wenn sie ein Volksbegehren zur Versorgung mit Diesmal würde man es besser machen, und Schmid,
bezahlbarem Wohnraum in Berlin planen, in dem sie die Carlo, war der Wortführer. Auf ihn gehen einfache Sätze
»Vergesellschaftung« (Artikel 15) großer Immobilienbesit- zurück, die nachts dann heftig diskutiert wurden: »Der
ze verlangen. Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um
Keine Idee zu schräg, keine Entwicklung zu neuartig, des Staates willen«, sollte ganz am Anfang stehen. Und
um nicht ihren Ankerplatz im Kosmos des deutschen Ver- dann Artikel 2: »Alle Menschen sind frei.«
fassungsrechts zu finden. Sieben Jahrzehnte lang segelte Alle Menschen sind frei. Kann man das so sagen? Nicht
die Bonner und später die Berliner Republik einigerma- mal die Amerikaner, das große Vorbild, haben jemals
ßen sicher in einigermaßenem Frieden und einigermaße- unbedingte Freiheit in ihrer Verfassung versprochen. Was
nem Wohlstand durch bewegte Zeiten, durch Wiederauf- sollen überhaupt die Alliierten dazu sagen? Des Nachts
bau und Wirtschaftswunder, durch Studentenrevolten und fanden sich schließlich Kompromisse und Beschwichtigun-
RAF-Terror, durch Wiedervereinigung in das globalisierte gen, niemand sollte Angst vor zu viel Freiheit haben.
und digitalisierte 21. Jahrhundert. Artikel 21: Die Grundrechte sind »im Rahmen der allge-
Die Demokratie des Grundgeset- meinen Rechtsordnung zu verstehen«.
zes ist, gemessen an den Verfallser-
W
Thomas Darnstädt scheinungen ringsum, im Vergleich
wurde 1949 geboren, in dem zum Verfall des Parlamentarismus in as schließlich, nach monatelangen Beratungen
Jahr, als das Grundgesetz in europäischen Nachbarländern, am des Herrenchiemsee-Entwurfs im Bonner Par-
Kraft trat. Der Jurist arbeite- Vormarsch der »illiberalen Demo- lamentarischen Rat, mit Verbesserungen und
te von 1984 bis 2014 als Re- kratie«, an den Triumphen der Popu- Kompromissen als endgültiger Text in die
dakteur beim SPIEGEL. Im listen diesseits und jenseits des Atlan- Welt kam, war streckenweise so wirr, dass die Westmäch-
November des vergangenen tiks, noch immer eine friedliche te, immerhin die Auftraggeber des Werkes, es nicht ge-
Jahres erschien sein Buch Insel. Doch der Zerfall der Volkspar- nehmigen wollten. Sie stießen sich weniger an der unaus-
»Verschlusssache Karlsruhe. teien, die Vergiftung politischer gegorenen Konstruktion der Grundrechte als an der hoch
Die internen Akten des Bun- Debatten, die Risse in der Gesell- raffinierten Verknüpfung von Bundes- und Länderinteres-
desverfassungsgerichts«. schaft: Das alles sind Krisensympto- sen im organisatorischen Teil des Grundgesetzes. Weil es
keine Einigkeit gegeben hatte, wo der Bund und wo die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes, an Auf-
Länder das letzte Wort im neu konstruierten Bundesstaat träge und Weisungen nicht gebunden.«
hatten, waren die föderalen mit den zentralen Kompeten- Das hätte sehr gut danebengehen können. Eine »autori-
zen so kompliziert verflochten worden, dass häufig nur täre Interpretation« des Grundgesetzes als Machtbasis für
noch im Konsens aller entschieden werden konnte. Der eine Ein-Mann-Demokratie, wie sie sich etwa in Frank-
Gipfel des Irrsinns war die Erfindung des Bundesrats, die reich unter Charles de Gaulle entwickelte, wäre nach dem
den Regierungen der Länder ein gleichberechtigtes Mit- Urteil des Würzburger Verfassungsprofessors Florian Mei-
spracherecht bei der Gesetzgebungsarbeit des Bundes- nel »innerhalb der Möglichkeit dieser Verfassung« gewe-
tages gab. sen – »und es ist die Leistung des politischen Systems,
Was der Parlamentarische Rat da am 23. Mai 1949 dass die Bundesrepublik einen anderen Weg gegangen ist«.
dem Volk ablieferte, war ein Gestrüpp ängstlicher Kom-
D
promisse. »Freiheit« nur im Rahmen der »verfassungs-
mäßigen Ordnung« und des »Sittengesetzes«. Der ass es – bis jetzt – so gut gegangen ist, verdankt
Gesetzgeber behindert von den Vetorechten der Länder. die zweite deutsche Demokratie der »eigentli-
Der Kanzler (Konrad Adenauer, einen anderen konnte chen Innovation« (so der Zeitgeschichtler Hans-
man sich ohnehin nicht vorstellen) mit fast präsidialen Ulrich Wehler) des Grundgesetzes, dem Bundes-
Vollmachten (»bestimmt die Richtlinien der Politik«) verfassungsgericht. Ein Richtergremium weiser Männer
und praktisch unstürzbar – oder jedenfalls nur, wenn sich und anfangs nur einer Frau als Oberaufsicht an die Stelle
eine Mehrheit für einen neuen findet (auch unvorstell- eines mächtigen Präsidenten zu setzen, wie Adenauer
bar). gern einer geworden wäre, war auch ein aus Vorsicht
Am schlimmsten waren die Parteien dran. Dass Partei- geborener Kompromiss: So groß war das Vertrauen in die
politik ein schmutziges Geschäft sei, war nicht mehr aus Demokratie doch nicht, dass man das Schicksal Deutsch-
den Köpfen herauszubringen. Parteien wurden im Grund- lands ohne jede Sicherung dem Volk überlassen wollte.
gesetz wie illegitime Kinder der Demokratie behandelt, Diese Innovation war es, die dem klapprigen Proviso-
sie »wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes rium von 1949 Dauer und Strahlkraft verlieh. Denn die
mit« – das klingt nach Schülermitverwaltung. Kein Wort Richter nutzten ihre Machtfülle, die Entscheidungen aller
darüber, wie sie sich finanzieren sollen, kein Wort über drei Gewalten – Gesetze, Exekutiventscheidungen,
ihre entscheidende Rolle als Rekrutierungs- und Steue- Gerichtsurteile – zu kippen, Lesarten des Grundgesetzes
rungsinstanz des Parlaments, des wichtigsten Verfassungs- durchzusetzen, mit denen die Politik arbeiten und an
organs von allen. Artikel 38 des Grundgesetzes sagt: »Die denen das Volk sich wärmen konnte. Das Gericht ent-
43
Deutschland
wickelte für die Bürger vernünftige Grundsätze im men hatte: Adolf Arndt, berühmt geworden als »Kronju-
Umgang mit den Freiheiten der Grundrechte, es verflüs- rist« der Sozialdemokraten, paukte damals im Streit gegen
sigte wenigstens zum Teil die Blockaden des deutschen den autoritären Staat Konrad Adenauers fast alle wichti-
Föderalismus. Es organisierte den Parteien einen ange- gen Sachen vor dem Bundesverfassungsgericht durch.
messenen Platz in der repräsentativen Demokratie. Es Was Lüth gesagt hat, das müsse man ja wohl noch
wies Konrad Adenauer in seine Grenzen und mit ihm sagen dürfen: Dies war, wie die Akten nahelegen, von
den Ungeist des politischen Katholizismus, der in den Beginn an die Parole im Gericht. Die ganz große Mehr-
frühen Jahren wichtige Teile der Justiz beherrschte und heit der Richter war von der Vergangenheit unbelastet,
jede Chance nutzte, die neuen Freiheiten des Grundge- viele selbst Opfer, Verfolgte jenes Regimes, dem der Fil-
setzes mit den alten »Werten« einer göttlichen Ordnung memacher Harlan die Bilder und die Parolen geliefert
zu blockieren. hatte. Ganz im Gegensatz zu den allermeisten Kollegen
An die Stelle des alten Denkens setzten die zweimal vom Bundesgerichtshof, die, als wäre nichts gewesen, ein
zwölf – später: zweimal acht – Richterinnen und Richter paar Straßen weiter nun ihre als Nazirichter begonnene
von Karlsruhe Urteil für Urteil, Beschluss für Beschluss, Karriere fortsetzten, war das Bundesverfassungsgericht
eine Kommunikationsordnung, die zur die »Instanz der sauberen Hände« – so der Frankfurter
Ordnung des demokratischen Prozes- Verfassungshistoriker Michael Stolleis.
Wie könnte es ses der Willensbildung im Volke wur- Wie begründen, dass die Meinungsfreiheit des Grund-
funktionieren mit de. Willensbildung lebt von der Kom- gesetzes die »guten Sitten« missachten darf, die noch
munikation. Und Kommunikation lebt immer im alten Bürgerlichen Gesetzbuch standen und
der neuen Frei- vom gleichberechtigten Diskurs aller, von den Zivilgerichten, vor allem vom Bundesgerichtshof,
heit der Deutschen? die etwas zu sagen haben. So entstand hochgehalten wurden? Der Dreh, der die Welt verändern
eine demokratische Infrastruktur in sollte, findet sich erstmals ausformuliert in einer erst jetzt
Durch reden. der Gesellschaft, die verfassungsfest aus den alten Akten aufgetauchten Notiz des weithin
war und regelmäßig in Karlsruhe ein unbekannten Richters Wilhelm Ellinghaus. Er schrieb sie
Update erfuhr. Die Karlsruher Lehre für die Kollegen im Ersten Senat, die über den Fall Lüth
wurde dadurch so etwas wie eine zweite Aufklärung: Im brüteten: »Verfassungsrechtlich gesehen handelt es sich
politischen Prozess sollte nicht mehr Gott, sondern der um ein Duell zweier Grundrechte«, notierte der Jurist.
Mensch das letzte Wort haben. Er ist das Maß aller Dinge. »Es treten an zum Zweikampf«: die Meinungsfreiheit
Seiner Vernunft ist zu trauen, seine Würde ist zu schützen, (Artikel 5) gegen die allgemeine Handlungsfreiheit (Arti-
seine Freiheit ist der Ausfluss seiner Würde und liegt im kel 2), zu der es auch gehört, Filme zu drehen und zu ver-
Gebrauch seiner Vernunft. markten. »Von Fall zu Fall ist zu entscheiden, welches
Für deutsche Juristen ein recht anspruchsvolles Pro- Grundrecht im konkreten Konfliktsfalle das höherwertige
gramm. Und wie sie das gemacht haben, in Karlsruhe, ist.« Für den Fall Lüth gelte: »Hier ist offensichtlich Arti-
kann man jetzt erstmals im Detail nachlesen, in den frei- kel 5 höherwertig … Denn es steht das Wohl und das
gegebenen internen Akten des Bundesverfassungsge- Ansehen Deutschlands auf dem Spiele.«
richts: Entwürfe, Voten, kritische Anmerkungen, Notiz- Im Urteil, das erst sechs Jahre später erging, machten
zettel der ersten Generation der Verfassungsrichter. Da sie dann alles wesentlich komplizierter, doch die Bot-
bietet sich das erstaunliche Bild einer verfassungsrecht- schaft findet sich im Kern auch im Urteilstext wieder: Die
lichen Sinnsuche. Die Akten belegen: Es gab keinen Guru »guten Sitten« können sich die Kollegen drüben beim
in Karlsruhe, kein Mastermind, das seinen Plan über das Bundesgerichtshof in die Haare schmieren. Über die
deutsche Volk gestülpt hatte. Die Männer und die eine Grenzen politischer Debatten im Lande wird von Fall zu
Frau haben miteinander gerungen und miteinander disku- Fall hier entschieden: beim Bundesverfassungsgericht.
tiert: Wie könnte es funktionieren mit der neuen Freiheit
F
der Deutschen? Durch reden.
Dass Reden Gold ist in dieser dem Naziterror entsprun- ür die Verfassungsrechtswissenschaft ist diese
genen Gesellschaft, die gerade allzu viel zu verschweigen Notiz von Ellinghaus so etwas wie das Morgen-
hatte, das wurde den Richtern gleich zu Beginn klar, als grauen der zweiten deutschen Demokratie: Hier
1951 der Hamburger Senatsdirektor Erich Lüth sich mit wurde zum ersten Mal der freien Auseinanderset-
einer Verfassungsbeschwerde an das Verfassungsgericht zung der Bürger in Rede und Gegenrede das Laufen
wandte. Lüth hatte in seiner Heimatstadt einen Boykott- gelehrt. Keine Werte und keine Autoritäten außerhalb des
aufruf gegen den neuen Film des Naziregisseurs Veit Grundgesetzes können politische Debatten bremsen.
Harlan veröffentlicht. Kein »anständiger Deutscher« kön- Wenn es kracht, und es muss ja krachen, damit sich etwas
ne es verantworten, auch nur eine Kinokarte für das verändert, ist abzuwägen und mit guten Argumenten zu
neue Machwerk des antisemitischen Hetzers zu kaufen. begründen: Welche Freiheit hat im Einzelfall das höhere
Die Filmproduktionsfirma ließ dem frechen Beamten Gewicht? Ist es erforderlich, dass jemand zurücksteckt?
Lüth solche Äußerungen unter Berufung auf das Bürger- Und ist es ihm zuzumuten?
liche Gesetzbuch als »vorsätzliche sittenwidrige Schädi- Keine Freiheit steht für sich allein. Dass der Gebrauch
gung« verbieten, und das Hamburger Landgericht zog der Freiheit wie auch ihre Einschränkung zu welchen
mit: So etwas dürfe man nicht sagen. Meinungsfreiheit sei Zielen auch immer im Kollisionsfall zu rechtfertigen und
eine schöne Sache, aber bitte in netter Form. im Hin und Her der Argumente zu begründen ist: Diese
Der Fall Lüth sollte zum wichtigsten Rechtsstreit in der Lehre wurde fortan zum Kern der Kommunikationsord-
Historie des Grundgesetzes werden. Die Antwort auf die nung der Freiheit unter dem Grundgesetz. Aus dem Lüth-
Frage, »ob Lüth sagen durfte, was er gesagt hat«, sei von Urteil entwickelte sich der Grundsatz, der heute nicht
»geschichtsbildender Bedeutung«, notierte damals der jun- nur das Verfassungsrecht in Deutschland, sondern die
ge Assistent im Bonner Fraktionsjustiziariat der SPD für meisten freiheitlichen Demokratien der Welt beherrscht:
seinen Chef, der sich der Sache Lüths juristisch angenom- der Grundsatz der »Verhältnismäßigkeit«.
Nur
noch bis
31.05.
fest, die ein staatsfreies und pluralistisches Fernsehen sungsgerichts Andreas Voßkuhle, vor dem bösen Spiel
garantieren soll. warnt, das in den Filterblasen des Netzes mit »dem Vol-
Der freiheitliche Geist, den die Richter über das Volk ke« getrieben wird, von dem doch nach Artikel 20 alle
des Grundgesetzes ausschütteten, war der Geist des gro- Staatsgewalt ausgeht. Den Willen des Volkes, so Voß-
ßen bundesrepublikanischen Gesprächs. Doch Diskurse kuhle in der »Frankfurter Allgemeinen«, könne niemand
über den richtigen Weg zum erwünschten Ziel, das Hin für sich reklamieren. »Einen einheitlichen Volkswillen
und Her der Argumente, werden inzwischen – wie der gibt es in Wahrheit nicht.« Das Volk des Grundgesetzes,
Münchner Soziologe Armin Nassehi registriert – zuneh- so zitiert der Verfassungsrichter den Philosophen Jürgen
mend abgeblockt durch das Geltendmachen von »Identi- Habermas, »pflegt im Plural aufzutreten«.
täten«, immer wichtiger wird, was jemand »ist« – Mann, Es ist unübersehbar, dass die Kommunikationsordnung
Muslim, Ausländer, nicht, was er zu sagen hat. der Gesellschaft, vom Bundesverfassungsgericht so fein
Und es scheint, dass der Karlsruher Weg der Aufklä- in den bald 150 Bänden seiner Urteilssammlung auszise-
rung an sein Ende gelangt, seit Facebook die Presse als liert, sich aufgelöst hat. Werden die Weisen von Karlsruhe
Plattform der Willensbildung im Volke abgelöst hat. Die einen Ausweg finden? I
45
Deutschland
Städten Europas längst zum sommerlichen E-Tretrollern auf der Straße zu verhalten
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Deutschland
G
eschafft! Was für ein Tag, der bekannt als »Tyson-Ali«, der sein Recht nicht endlich mal vertragen oder einfach
12. Juni 2017: endlich den Kauf- des Rücksichtslosen auslebt. Es gab schon aus dem Weg gehen können. Wenn zwei
vertrag unterschrieben. Konnte zahllose Anzeigen gegen ihn, aber offen- sich streiten, liegt das nicht meistens an
sich etwas besser anfühlen? Ein bar nichts, was Herrn Osman – eng ver- beiden?
Leben lang hatten sie sich abgerackert, bunden mit der mächtigen Großfamilie Tatsächlich bündelt sich in diesem Block
Klaus-Dieter Nisch und seine Frau Karla. der Rammos – beeindruckt hätte. alles, was im Umgang mit arabischstäm-
Erst im Werkzeugmaschinen-Kombinat Beeindruckt waren dafür die Nischs, als migen Clans jahrzehntelang schiefgelaufen
»7. Oktober«. Und nach der Wende er als sie am 5. Dezember 2018 eine SMS beka- ist: das Wegschauen, das Hinnehmen, die-
Anstreicher, sie als Arzthelferin. Hatten men. Von einem Handy, nicht zurückzu- se Mischung aus Ohnmacht und Unwillen,
jede Mark, jeden Euro gespart, dann der verfolgen zu Osman, der mit dieser SMS Clan-Männer zu stoppen, die ganze Vier-
Tiefschlag: die Mietwohnung in Prenzlau- sicherlich nichts zu tun gehabt haben will. tel erobern, ihre Macht ausleben, ein Re-
er Berg verloren. Eigenbedarf. Aber jetzt, Auf Fragen des SPIEGEL antwortet er gime der Angst. Der Fall zeigt unter dem
haste Worte: stolze Eigentümer! nicht. Aber soweit bekannt, hat er noch Brennglas, wie die Gewalt in den Alltag
Drei Zimmer mit Balkon im ersten so gut wie jeden Vorwurf bestritten. Der einfacher Menschen hereinbricht und
Stock an der Falkenhagener Straße in Ber- Text der SMS: »Der Tod ist gewisserma- ihnen eine Entscheidung abfordert, die
lin-Spandau: nur ein paar Minuten zur ßen eine Unmöglichkeit, die plötzlich zur ihnen der Staat nicht erspart hat: Sollen
Fußgängerzone mit den Geschäften, zum Wirklichkeit wird.« Darunter die Geburts- sie ausharren oder aber flüchten wie Frau
Koeltzepark, in den Spandauer Forst. Und tage von Klaus-Dieter und Karla Nisch, je- F., die ihre Wohnung an die Nischs ver-
am Ende war die Verkäuferin noch um weils mit einem Fragezeichen dahinter. kauft hat? Sollen sie kuschen, sich ducken
20 000 Euro mit dem Preis runtergegan- Wohl für ihren Todestag, der plötzlich und unterwerfen, aus purer Angst? Oder
gen. War gar nicht mal so schwer gewesen, »zur Wirklichkeit« werden könnte. sich wehren, mit allen Risiken?
vielleicht hatte die Frau F. ja verkaufen Ein Block, drei Häuser – so wie Polizei Die Nischs haben ihren ganzen Mut
müssen. Klaus-Dieter und Karla holten ihr und Gerichte den Fall lange behandelt ha- zusammengenommen, und mit ihnen ein
Erspartes von der Bank, den größten Teil, ben, war das für den Staat nur der Schau- gutes Dutzend Nachbarn. Sie kämpfen. Sie
180 000 Euro. Aber das war die Wohnung platz eines Nachbarschaftsstreits, wie er haben eine Chat-Gruppe gegründet, sie
wert. Ein Traum. ständig vorkommt. Piefkes gegen Auslän- dokumentieren alles, was im Haus passiert,
Geschafft! Was für ein Tag, der 12. Juni der, die sich nicht an die deutsche Haus- eine Liste mit 265 Vorfällen vom 9. April
2017. War sie endlich losgeworden, ihre ordnung halten. Eine Sache für genervte 2016 bis zum 22. April 2019. Sie schreiben
Wohnung. Konnte sich etwas besser an- Streifenpolizisten und Amtsrichter, die Anzeigen gegen Osman und Fatma H., die
fühlen? Klar, konnte es. Sie musste noch nicht verstehen, warum die Leute sich Frau an seiner Seite. Sie klagen vor dem
mal 20 000 Euro runtergehen, sie hatte Amtsgericht gegen die Vermieterin der bei-
Geld verloren, viel Geld. Aber egal, nur den, die offenbar nur eine Strohfrau ist.
raus, raus, raus aus diesem Horror. Falken- Sie schalten Politiker ein, die Presse, sie
hagener Straße 64. Frau F. konnte kaum versuchen es strikt mit den Mitteln des
noch schlafen, sie hatte Todesangst. Da Rechtsstaats. Das ist anrührend, aber es
war dieser Mieter in der Wohnung unter ist auch tragisch, wenn wieder ihre Reifen
ihr, der ihr das »Leben zur Hölle machte«. zerstochen sind, Eier vor ihr Fenster klat-
Massige Figur, dünne Nerven, böser Blick, schen oder ein Kackhaufen vor ihrer Tür
aus einem der berüchtigtsten Araber-Clans liegt. Wie diese Mutprobe für sie endet,
in Berlin. Ein Mann, so sagte sie einmal, wissen sie nicht. Kann schon sein, dass sie
der vor ihr stand und erklärt haben soll: jetzt Helden der Zivilcourage sind. In der
»Ich bin mein eigenes Gesetz.« Und: »Hin- Welt der Clan-Männer sind solche Helden
ter mir habe ich tausend Leute.« Ein Alb- weiche Ziele.
traum. Im Jahr 2014 kaufte eine Nina O. in der
Einer, der weitergeht, immer weiter, nun Nummer 64 die Wohnung unten rechts.
aber für Klaus-Dieter und Karla Nisch. Nina O., damals 24, hatte einen deutschen
16 Wohnungen gibt es in der 64, 64A, 64B; Nachnamen und auf den ersten Blick
in 15 leben Eigentümer, leben Mieter, die nichts, was sie mit arabischstämmigen
einem Nachbarn ausgeliefert sind, der die Clans verband. Auf den zweiten eine Men-
drei Häuser wie ein Clan-Revier behan- ge: Sie hatte 140 000 Euro bezahlt, er-
delt. Eine Welt, in der es zwei Sorten staunlich für eine Frau, die später vor Ge-
Mensch gibt: die Schwachen, die ihr klein- richt behauptete, sie verdiene 7000 Euro.
SPIEGEL TV
bürgerliches Dasein in den Grenzen von Im Jahr. Woher also das Geld?
Recht und Ordnung leben – ein Recht und Aus dem Libanon, der alten Heimat der
eine Ordnung, die offenbar nicht dafür ge- Rammos, von der BBAC-Bank. Offenbar
macht waren, sie zu beschützen. Und Ab- Mieter Osman nach Razzia konnte oder wollte Nina O. auch keine Er-
dulkadir Osman, 36, in gewissen Kreisen Dünne Nerven, böser Blick klärung dafür liefern, warum ihr ein groß-
49
Neukölln, weil er scharfe Munition mit-
brachte und den Kopf eines Mitschülers
ins Schulklo drückte. Mit nicht mal zehn
Jahren (SPIEGEL 8/2019).
Auch Osman soll tief in die kriminelle
Szene verstrickt gewesen sein. 2010 liefer-
te er angeblich den Grund für eine wilde
Schießerei unter Clan-Männern: Damals
kam der stadtbekannte Intensivstraftäter
Nidal Rabih aus dem Knast. Die »Brüder«
aus der Araberszene hatten für ihn gesam-
melt; Osman, so heißt es, sollte das Geld
übergeben, habe es aber selbst eingesteckt.
Ergebnis: ein Showdown auf der Emser
Straße, 18 Schüsse. Nidal Rabih war mit
zwei Brüdern gekommen, auf der anderen
Seite stand angeblich ein gutes Dutzend
Rammos. Als Rabih 2018 nicht ganz über-
raschend auf offener Straße erschossen
wurde und seine Beerdigung zu einer Art
Vollversammlung der Berliner Clan-Grö-
ßen wurde, stand Osman neben Rammo-
Chef Issa.
Das alles gehörte nun zum lebenswich-
tigen Hintergrundwissen für die anderen
Bewohner der Falkenhagener Straße 64,
etwa wenn Osman im Hinterhof stand und
kochend vor Wut in sein Handy brüllte:
»Zwei Autos, aber ganz schnell … Ruf mal
meine Brüder an und meine Cousins, die
sollen kommen hierher!«
An einem Montag im April sitzen Klaus-
Dieter und Karla Nisch am Küchentisch
und erzählen, wie sie doch eigentlich alles
richtig gemacht hatten mit dieser wunder-
baren Wohnung. Dem schönen Bad, an
dem sie gar nicht mehr viel ändern muss-
ten, den neuen Böden, die sie selbst gelegt
haben. Wie alles seinen perfekten Platz
fand für ein neues Leben, auch der Große
Brockhaus in 24 Bänden im Vitrinen-
schrank. Aber wie dann alles falsch wurde,
50
Deutschland
öffentlichen Parkstreifen, stellte Osman kon, die Kapuze der Jacke tief ins Gesicht passiert«, sagt Klaus-Dieter Nisch. Kürz-
seine Roller ab, und wenn er wegfuhr und gezogen, und wirft vier Eier nach oben ge- lich beschwerte sich eine Frau in der Eigen-
ein anderer dort parkte, flogen später Eier gen die Fassade. tümerversammlung: »Wir bekommen kei-
auf das Auto, oder es bekam Kratzer. Des- Eigentlich müsste sie ausziehen, sagt ne Hilfe, egal wohin wir uns wenden. Diese
halb schauten sich die Nischs inzwischen Hildegard Jagodschinski. Aber ihr ganzes Familie weiß, es gibt keine Konsequenzen.«
auch um, wenn sie zu ihrem Wagen gingen, Geld steckt in der Wohnung, sie kann Ja, das könne schon sein, dass Stadt und
für den sie ein paar Straßen weiter einen nicht, sie will nicht, sie wird nicht. Kann Polizei die Sache lange nicht ernst genom-
Parkplatz gemietet hatten. Einmal stiegen nicht einfach hinschmeißen wie die Haus- men hätten – überhaupt das ganze Clan-
sie in einen Bus, den sie gar nicht nehmen verwaltung, die den Vertrag nicht verlän- Problem in Berlin, glaubt Tom Schreiber.
wollten, nur weil sie Osman hinter sich ge- gert hat. Ja, stimmt, früher sei das ein nor- Der Berliner SPD-Abgeordnete gilt als
sehen hatten. Und eines Tages kamen sie males Haus gewesen, sehr ruhig, bestätigt Clan-Experte, kennt den Fall. »Diese Leute
zu ihren Audi, und drei Reifen waren trotz- der Verwalter. Dann seien die neuen Mie- dürfen nicht den Eindruck haben, dass sie
dem zerstochen. Nur bei ihrem Auto, auf ter gekommen und ständig Anrufe, weil im Stich gelassen werden und besser nichts
einem Parkplatz mit einem guten Dutzend wieder was im Haus zerstört war. Zu viel mehr sagen. So scheitert der Rechtsstaat,
Autos. Das kostete sie einen Tausender. Ärger, das habe sich nicht mehr gelohnt. so scheitern wir alle.«
An diesem Montag im April, an dem sie Auch die beiden syrischen Studenten Hildegard Jagodschinski erinnert sich
in ihrer Küche sitzen, am Tag vor ihrem sind längst weg. Wohnten zur Miete. An noch an den Quartierspolizisten, der ihre
Urlaub in Schweden, der aber kein richti- einem Abend bauten sie ein Ikea-Bett auf, Nachbarn vor Osman gewarnt haben soll:
ger Urlaub sein wird, weil sie immer den- es wurde lauter, aber laut sein darf in die- »Der ist gefährlich.« Am einfachsten wäre
ken werden, was wohl gerade zu Hause sem Haus nur einer: Osman. Er schrie, sie es deshalb, die anderen würden ihn bei
passiert, an diesem Montag hat Klaus-Die- sollten rauskommen, nach draußen. »Ich der »Ehre packen« und ihm etwas Geld
ter Nisch auch noch Restspuren eines blau- hatte Angst, Mafia«, sagt Taha Alsalamah dafür geben, dass er auf das Haus aufpasse.
en Auges. »Ich kam mit zwei Sektkisten heute in gebrochenem Deutsch. Er machte Für die Sekretärin klang das wie eine Emp-
die Treppe hoch, da stand seine Frau und deshalb nur sein Fenster auf, und Osman fehlung der Polizei, Schutzgeld zu zahlen.
schlug mir mit der Faust ins Gesicht.« Ein- schrie: »Ich ficke deine Mutter! Mir ist egal, Die Polizei sagt dazu nichts; nur dass
fach so. Aber so einfach ist das eben doch woher du kommst! Ich ficke dein Land!« man das Haus schon lange im Blick habe,
nicht. Auf eine Anzeige folgt in der Regel So steht es in einem Urteil des Berliner die Sache ernst nehme. Heute laufe alles
eine Gegenanzeige; man sei doch zuerst bei einem Beamten zusammen. Und jetzt,
geschlagen worden, heißt es dann von der am Mittwoch, setzte die Polizei plötzlich
Familie Osman. Für die Polizei klingt das »Wir bekommen keine ein Zeichen, wie es die Bewohner der Fal-
meist nach einem Querulantenkrieg unter Hilfe, egal wohin kenhagener Straße in fünf Jahren noch
Nachbarn, in den man sich besser nicht nicht gesehen hatten: Ein Kommando
hineinziehen lässt. wir uns wenden. Es gibt rammte morgens um sechs die Tür von Ab-
Das kennt auch Hildegard Jagodschin- keine Konsequenzen.« dulkadir Osman ein, durchsuchte seine
ski, 59, aus der 64A. Sekretärin in einem Wohnung. Der Verdacht: Sachbeschädi-
internationalen Konzern, eine Frau, die gungen im Haus und Diebstahl von Post
sagt, dass sie mit jeder Nationalität zu- Landgerichts. Dann sprühte er Reizgas aus den Briefkästen der Nachbarn. War
rechtkommt, wirklich mit jeder – nur für hinein. Notarztwageneinsatz, Kranken- das Zufall, so ein Einsatz, gerade jetzt?
den Fall, dass einer das Gerede glauben haus. »Ich konnte sieben Stunden nichts Oder war der Druck auf die Polizei zu groß
sollte, sie seien doch alles Rassisten, die mehr sehen«, sagt Alsalamah. Was half es geworden, etwas zu tun, was mehr nach
etwas gegen die Ausländer hätten. So stellt da schon, dass Osman wegen gefährlicher Freund und Helfer aussah, nicht nach frus-
das Osman nämlich gern mal dar, wenn Körperverletzung zu zehn Monaten auf triert und hilflos?
die Polizei gerufen wurde. Bewährung verurteilt wurde, eine Strafe, Vielleicht bekommt die Geschichte vom
An einem Tag im Oktober 2018 sam- die in zweiter Instanz noch abgemildert Mut der Anständigen und vom Wider-
melte die Polizei elf Anzeigen: Fatma H., wurde, auf sechs Monate? stand der Machtlosen also noch ein gutes
so erzählt das Hildegard Jagodschinski, Jagodschinski aber bleibt. Sie muss, des- Ende. Dagegen spricht, dass sich Osman
habe bei ihnen Sturm geklingelt, sei die halb hat sie eine Entscheidung gefällt, bei in der Vergangenheit einen Anwalt leisten
Treppe hochgestürmt; und noch bevor sie der ihr jeden Tag mulmig wird: sich zu konnte, der sein Geld offenbar wert war.
oben auf dem Treppenabsatz den verdutz- wehren. So wie Walter, der Gewerkschafts- Andererseits soll es da noch einen geben,
ten Sohn Janis Jagodschinski erreicht habe, jurist, der seine Wohnung für die Tochter der sogar mächtiger als jeder Clan ist. Wie
soll sie schon geschrien haben: »Ey, was gekauft hatte, die dann aber doch nicht in hatte Frau F., verzogen nach Süddeutsch-
soll das! Fass mich nicht an!« Dann habe Berlin geblieben ist. So wie Edvard und land, nur ein paar Tage vor der Razzia ge-
die Frau ihren Janis, einen Studenten, ohne Darica, die schon seit den Achtzigern hier sagt? »Ich bete jeden Tag zu Gott, dass sie
erkennbaren Grund geschubst. Das führte leben. ihn doch noch schnappen.«
zu einer Anzeige von Janis Jagodschinski, Eine aus dem Haus hat tatsächlich mal Jürgen Dahlkamp, Thomas Heise, Gunther
einer Gegenanzeige von Fatma H., einer den Mut gehabt, die Frage zu stellen, auf Latsch, Claas Meyer-Heuer, Jörg Schmitt
Gegen-Gegen-Anzeige wegen falscher Be- die keiner von ihnen eine Antwort hat, die
schuldigung. Und so weiter und noch mehr. Frage an Osman: Warum benehmen Sie
Man wüsste noch gern, was Fatma H. dazu sich so, wieso geht es nicht anders? In Frie- ‣ SPIEGEL TV am Montag, 13. Mai, ab
23.25 Uhr bei RTL: Wie das Mitglied
sagt; keine Reaktion. den. Will er denn wirklich, wie sie vermu- eines Clans seine Nachbarn terrorisiert
Auch Hildegard Jagodschinski hatte ten, das Haus herunterwohnen, die ande-
schon zwei zerstochene Reifen, natürlich ren rausekeln, den Preis drücken, um noch
Video
durch »unbekannt«. Dafür hat sie aber ein mehr Wohnungen zu übernehmen, für den Der Mieter
Video, das zeigt, wie Fatma H. unten auf Clan? Es kam keine Antwort.
dem Balkon der Familie Osman erscheint, Die andere Frage ist, warum die Polizei spiegel.de/sp202019clans
wieder verschwindet. Und kurz danach das fünf Jahre lang zuließ. Allein die Nischs oder in der App DER SPIEGEL
betritt ein kräftig gebauter Mann den Bal- haben 57 Anzeigen gestellt. »Da ist nichts
»Das ist Grundwissen« lösen. Die Schüler müssen zum Beispiel wis-
sen, was ein Erwartungswert ist, und eine
Nullhypothese aufstellen. Das ist Grundwis-
Bildung War das Mathe-Abi diesmal zu schwer? Ja, finden viele sen und absolut lehrplankonform. Insgesamt
eine schöne, moderne Prüfungsaufgabe.
Schüler und unterzeichnen wütend Petitionen. SPIEGEL: Was meinen Sie damit?
Nicht doch, sagt der Experte Richard Lewandowsky. Lewandowsky: Früher wurden im Mathe-
Abitur überwiegend reine Rechenaufga-
ben gestellt. »Gegeben sei eine Funktion
In etlichen Bundeslän- SPIEGEL: Die Schüler kritisieren unter an- f(x), berechnen Sie die Hochpunkte« –
dern protestieren Schü- derem, dass sie solche Aufgaben im Un- so in der Art. Solche Aufgaben lassen sich
ler online gegen die terricht nie behandelt hätten. stur nach Schema F lösen. Wer ausrei-
Aufgaben in den dies- Lewandowsky: Man muss dazu wissen: chend trainiert hat, wie man Hochpunkte
jährigen Abiturprüfun- Am Morgen der Prüfung bekommen baye- einer Funktion bestimmt, wird gut zurecht-
PEER WIESNER
gen – allein in Bayern rische Schulen zwei Aufgabenvorschläge. kommen. Ein tieferes mathematisches Ver-
unterzeichneten mehr Die Lehrerinnen und Lehrer wählen dann ständnis braucht man dafür allerdings
als 60 000 Menschen denjenigen aus, den sie für besser machbar nicht. Seit etwa 15 Jahren etabliert man
eine Petition. Lewan- halten. Sie wissen ja selbst am besten, was daher einen neuen Aufgabentypus.
dowsky, 49, leitet die Fachabteilung Mathe- sie im Unterricht gemacht haben. Die Kri- SPIEGEL: Wie sieht der aus?
matik und Physik des Stark-Verlags in Hall- tik geht schon deshalb teilweise ins Leere. Lewandowsky: Es gibt nicht das eine, vor-
bergmoos bei München. Seit 40 Jahren kön- SPIEGEL: Schüler und auch manche Leh- gefertigte Rezept, wie Schüler zur Lösung
nen sich Schüler mit den roten Büchern des rer finden, die Aufgaben seien zu textlastig gelangen können – sondern mindestens
Verlags auf Abschlussprüfungen vorberei- gewesen. zwei oder drei verschiedene Wege. So soll
ten. Sie finden darin Aufgaben aus den vor- Lewandowsky: Die Kritik zielt unter an- der Kreativität mehr Raum gegeben wer-
hergehenden Jahren samt Beispiellösungen, derem auf eine Teilaufgabe der Stochastik, den. Es geht nicht primär darum, eine Glei-
die Autoren nach Vorgaben der Bildungs- die etwas ausführlicher war: etwa eine chung zu lösen. Die Rechnung steht in
ministerien formuliert haben. halbe Seite Text. Das finde ich nicht zu einem anwendungsbezogenen Kontext.
viel. Aufgaben in vergleichbarer Länge Die Schüler müssen verschiedene Kompe-
SPIEGEL: Herr Lewandowsky, wohl kaum wurden zum Beispiel auch 2017 in Bayern tenzen einsetzen: Textverständnis und Ur-
jemand hat so viele Mathe-Abiturprüfun- gestellt. Damals blieb der Protest aus. teilsvermögen zum Beispiel. So ist es auch
gen gesehen wie Sie. Vor allem die Aufga- SPIEGEL: Die diesjährigen Abiturienten in den Bildungsstandards für die Allgemei-
ben aus Bayern stehen nun in der Kritik. sagen auch, die Aufgabe sei nicht klar ge- ne Hochschulreife festgelegt. Die Leistung
Waren die wirklich so schwer? nug formuliert gewesen. besteht darin, aus einer beschriebenen
Lewandowsky: Ich habe bisher noch nicht Lewandowsky: Das kann ich so nicht Situation ein mathematisches Problem zu
alle Aufgaben anschauen können – aber bestätigen. Alle Fakten, die Schüler für die destillieren und es in eine Rechnung zu
die von den Schülern bemängelten schon. Lösung brauchen, waren präzise dargestellt, übersetzen. Die Rechnung an sich ist dafür
Es handelt sich dabei um Aufgaben der Text war verständlich formuliert. Auch aber oft weniger schwierig als früher.
aus den Themenbereichen Wahrschein- der Inhalt war nicht sonderlich komplex: Es SPIEGEL: Die Korrektur einer solchen Auf-
lichkeitsrechnung und Analytische Geo- ging um Gewinnerwartungen der Betreibe- gabe klingt aufwendig.
metrie. rin einer Losbude. Die Aufgabe lässt sich Lewandowsky: Ich glaube, diese Kröte
schlucken die meisten Mathematiklehrer
gern. Wenn Schüler nicht nur Formeln an-
wenden, sondern kraft ihres eigenen Den-
kens zu einer Lösung kommen, empfinden
auch die Lehrkräfte das als sinnvoll. Au-
ßerdem sind die Fachkollegen sicherlich
in der Lage, auch kreative Ansätze zu
durchschauen und zu bewerten.
SPIEGEL: Halten Sie die Proteste in Bayern
und anderswo für gerechtfertigt?
Lewandowsky: Natürlich passieren mal
Fehler – ich erinnere mich noch gut an den
»Oktaeder des Grauens« aus der Mathe-
matikprüfung 2008 in Nordrhein-West-
falen, eine unglücklich formulierte Aufga-
be aus der Analytischen Geometrie, die
für Irritationen bei den Prüflingen sorgte.
Grundsätzlich finde ich es sehr gut, wenn
junge Menschen Autoritäten hinterfragen.
Aber: In diesem Fall ist die Kritik kaum
fachlich begründet, die Argumentation
FELIX KÄSTLE / DPA
Die genannten Ausstattungen sind teilweise optional bzw. in höheren Ausstattungslinien verfügbar.
Abb. zeigt Sonderausstattung.
Gesellschaft
»Ich höre gelegentlich von einem wachsenden Antisemitismus in Deutschland, ist da was dran?« ‣ S. 56
»Habe nun, ach!, Philosophie, Juristerei und Medizin stu- 2005 waren es erst rund 11 000. Es lassen sich Master machen in
diert«, monologisierte Faust seufzend und kam sich kein Pferdewissenschaften, E-Learning, Bauen im Bestand, Biodiver-
bisschen klüger vor. Aber damals gab es eben auch noch keine sity, Mediation oder Gerontologie. Und natürlich, schon ange-
Studiengänge für Angewandte Sexualwissenschaft, Raumkon- sichts dieses Angebots, in Beratung. Besonders stark, so das Cen-
flikte und Friesische Philologie. Auch Culinary Management trum für Hochschulentwicklung, sei der Zuwachs in den Medizin-
nicht, geschweige denn Körperpflege oder den Space Master an und Gesundheitswissenschaften. Dort wird Hebammen- oder
der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Zu Goethes Zei- Pflegewissenschaft angeboten. Jean-Jacques Rousseau mag
ten durfte man noch glauben, mit den drei genannten Wissen- bezweifelt haben, dass hierin schon ein Fortschritt des Men-
schaften »und leider auch Theologie« sämtliche relevanten Stu- schengeschlechts abzulesen ist. Aber der hatte ja auch nicht stu-
diengänge absolviert zu haben. In der Spätantike kam man mit diert, sondern sich alles selbst beigebracht. Natürlich ist Vielfalt
den sieben freien Künsten (Grammatik, Rhetorik, Dialektik, kein Wert an sich. Aber der immer weitergehenden Spezialisie-
Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie) schon gut aus. rung in den Wissenschaften darf durchaus eine der Lehre gegen-
Inzwischen kann man an Deutschlands Hochschulen und Univer- überstehen – sofern es nur, als weiterführender Studiengang,
sitäten mehr als 19 000 Studiengänge belegen, noch im Jahr auf festem Fundament geschieht. alexander.smoltczyk@spiegel.de
Neid SPIEGEL: Schadenfreude gilt nicht gerade SPIEGEL: Aus Fehlern wird man klug,
Wieso sind wir so als positive Charaktereigenschaft. heißt es doch in einem Sprichwort. Gilt
Morgenroth: In Gesellschaften, in denen das auch für die Fehler anderer?
schadenfroh, soziale Ungleichheit herrscht, ist es ein Mit- Morgenroth: Ja, vielleicht sogar leichter
tel, mit der eigenen Rolle zurechtzukom- als aus den eigenen. Dann haben wir eine
Herr Morgenroth? men. Es gibt nicht umsonst Karnevalsreden beobachtende Perspektive und müssen
Olaf Morgenroth, 55, Gesundheitspsycholo- oder Kabarettauftritte, in denen wir uns uns nicht erst schützen. Bei Flugzeug-
ge an der Medical School Hamburg, über über die Fehler anderer auslassen können. abstürzen zum Beispiel analysieren Exper-
unseren Umgang mit den Fehlern anderer ten haargenau, was falsch gelaufen ist, um
die Fehler in Zukunft zu vermeiden.
SPIEGEL: In einer Folge von »Game of SPIEGEL: Und was lernen wir jetzt aus
Thrones« monieren wir einen Kaffee- dem übersehenen Kaffeebecher?
FRIEDRICH SAURER / IMAGEBROKER / DDP
becher, der am Set vergessen wurde, auf Morgenroth: Der Fall klingt banal, aber
Facebook Rechtschreibfehler. Wieso stür- er zeigt, dass kein Mensch perfekt ist. Und
zen wir uns so gern auf die Fehler anderer? bei einer so teuren Serie freuen wir uns
Morgenroth: Wir fühlen uns dadurch bes- besonders über Fehler. Man kann das mit
ser. Schadenfreude steigert das Selbstwert- einem Konsumartikel vergleichen: Wenn
gefühl, es entlastet von eigenen Zweifeln. mein Nachbar nach zehn Kilometern mit
Wenn wir andere bei Fehlern ertappen, seinem neuen Porsche liegen bleibt, ist die
akzeptieren wir es auch eher, wenn wir Schadenfreude größer, als wenn er bloß
selbst etwas nicht unter Kontrolle haben. einen Mittelklassewagen kaputt fährt. CAT
55
Gesellschaft
Angeklagter Eichmann vor Gericht in Jerusalem 1961: Gnadenlose, zuverlässige deutsche Vernichtungsmaschine
Adolf Eichmann in Israel der Prozess gemacht wurde. Seit 58 Jahren erzählt er der Welt
dessen Geschichte – weil er glaubt, dass sie nie zu Ende ist. Von Alexander Osang
56
G
abriel Bach findet sein Auto toffeln entladen hatten, wurden danach »Er lebt noch?«, sagt Bach, als man ihm
nicht. Er läuft vor dem Amtssitz getötet. Der einzige Überlebende war der die Grüße ausrichtet. »Gut. Was sagt er
des israelischen Staatspräsiden- spätere Zeuge. Ein SS-Mann hatte eine denn?«
ten auf und ab, Bach wohnt um Zuneigung zu dem Jungen entwickelt und »Nichts.«
die Ecke. Er parkt oft vorm Präsidenten- stellte ihn als Schuhputzer ein. So hat der Bach nickt. Lächelt wieder.
palast, denn da ist Platz. Er fährt einen Junge überlebt. Er konnte es beschreiben. Gabriel Bach war elf Jahre alt, als seine
Volvo, einen kleinen, er kenne die ersten Er konnte beschreiben, wie es im Innern Familie Berlin verließ, wo er zur Schule
zwei Buchstaben seines Nummernschilds, der Gaskammer war«, sagt Gabriel Bach. gegangen war. Sie flüchteten erst in die
sagt er und die letzten beiden Zahlen. 31. Er lächelt. Er hat das schon oft erzählt, Niederlande, dann in das heutige Israel.
Er murmelt das vor sich hin, den Auto- auch mir. Immer hat er am Ende gelächelt. Er sprach nur Deutsch, als sie dort anka-
schlüssel in der Hand. Er ist 92 Jahre alt Bach sagt, dass sie nach der Aussage die- men. Er wuchs zwischen den schweren
und wirkt in diesem Moment wie ein ses Zeugen eine Pause machen mussten. deutschen Möbeln seiner Eltern in Jerusa-
Mann seines Alters. Er sei in das Büro gegangen, das er wäh- lem auf, ihren alten Büchern, seine Mutter
Als er das Auto in einer Nebenstraße rend des Prozesses als Vertreter der An- lernte nie richtig Hebräisch, sein Vater lüf-
findet, wird er wieder jünger. Er rast durch klage bezogen hatte. Nach ein paar Minu- tete den Hut, wenn er bei Spaziergängen
die engen, verstopften Jerusalemer Stra- ten ging die Tür auf, und Dieter Wechten- einem deutschen Juden, einem »Jecke« be-
ßen nach En Karem, einem Vorort, wo sich bruch erschien, ein junger deutscher gegnete. Es gab immer Kaffee und Kuchen,
der kleine Konzertsaal befindet, den er Anwalt, der gemeinsam mit einem Kolle- wenn Besuch kam. Bach hat in England
mindestens einmal die Woche besucht. Es gen Eichmann verteidigte. Wechtenbruch studiert und sein ganzes Erwachsenen-
ist ein Wintervormittag, Studenten leben in Israel verbracht, seine Kin-
singen Mozart. Auf der Bühne zwei der sind hier geboren, seine Enkel,
dicke Sängerinnen. Die erste Arie er war hier Generalstaatsanwalt
der Königin der Nacht: »O zittre und Richter am höchsten Gericht.
nicht, mein lieber Sohn! Du bist un- Adolf Eichmann war seine erste
schuldig, weise, fromm«. Der Saal Begegnung mit dem Deutschland,
ist fast leer. Bach sitzt in der ersten aus dem er geflohen war.
Reihe und lächelt. Gabriel Bach erinnert sich, wie
Bach mag Klavierkonzerte lie- die Nachricht, dass sie Eichmann
ber, vor allem von Beethoven und gefangen hatten, Israel elektrisierte.
Schumann. Er hat selbst Klavier ge- Hitler, Goebbels und Himmler, die
spielt, in Berlin-Charlottenburg. In Gesichter des Nationalsozialismus,
den Dreißigerjahren. Aber er habe waren tot. Adolf Eichmann stand
nicht genug Talent, sagt er. Und für die gnadenlose, zuverlässige
dann kamen so viele andere Sa- deutsche Vernichtungsmaschine im
chen dazwischen. Flucht. Holo- JONAS OPPERSKALSKI / DER SPIEGEL
Holocaust.
caust. Israel. Eichmann. Bach fuhr in den Norden, in die
Als Bach ein Berliner Junge war, Nähe von Haifa, wo Eichmann im
riefen sie ihn Gert, später wurde er Gefängnis saß. Er traf einen blassen
Gabriel. Jetzt, im Alter, scheint es Mann. Gabriel Bach erkundigte sich
manchmal, als redeten die Träger nach Eichmanns Gesundheit, nach
seiner beiden Vornamen gleichzei- seiner rechtlichen Betreuung. Er
tig. Gert und Gabriel. durfte keine inhaltlichen Fragen stel-
An einem Frühlingsabend sitzt Ex-Staatsanwalt Bach: Er denkt jeden Tag an den Prozess len, weil er sonst kein tauglicher An-
Bach in einem weinroten Samt- kläger mehr gewesen wäre. Und
sessel seines Jerusalemer Wohn- nichts wollte er sehnlicher sein als
zimmers und spricht, wie schon im Herbst, war in Tränen aufgelöst, sagt Bach. Er der Mann, der Eichmann anklagte. Er war
über Deutschland. Hinter ihm auf einem machte Wechtenbruch einen Kaffee und 34 Jahre alt, ein junger Staatsanwalt. Er sah
Wandbord stehen die Fotos der toten Fa- beruhigte ihn. Nach einer Viertelstunde Eichmann öfter als seine Familie. Er arbei-
milienmänner. Bachs Vater, sein Schwie- gingen sie zurück in den Gerichtssaal. Der tete in einem Büro nahe der Zelle des Mas-
gervater, sein ältester Sohn. Da ist auch Ankläger und der Verteidiger. Wechten- senmörders. Er las die Akten, er las die Brie-
ein Bild, das Gabriel Bach in der Rolle sei- bruch war in den Zeiten des Holocaust ein fe, in denen seine Opfer um Gnade baten.
nes Lebens zeigt, 1961, als stellvertreten- Kind gewesen, sagt Bach. Dieser sei von Eichmann hatte niemanden verschont.
der Ankläger im Prozess gegen Adolf Eich- dem Grauen überwältigt gewesen. Er denke jeden Tag an den Prozess, sagt
mann, den Organisator des Holocaust. Das Die Geschichte scheint, wie viele von Bach, bis heute.
Bild ist 58 Jahre alt. Gabriel Bachs Geschichten, am Ende der Wenn man das Verhältnis von Deut-
»Ich habe da gerade einen Zeugen be- Versöhnung mit den Deutschen zu dienen. schen und Juden aus dem vergangenen
fragt. Es war der einzige Zeuge, der in einer Er kocht uns Kaffee, er beruhigt uns. Da- Jahrhundert an einem Mann erzählen
Gaskammer war. Als Kind, mit 200 ande- mit wir weitermachen können. wollte, Bach wäre ein Kandidat. Er wurde
ren Kindern. Sie hatten schon abgeschlos- Dieter Wechtenbruch ist neben Bach 1927 in Halberstadt geboren und als Junge
sen, es war dunkel. Die Kinder haben an- einer der letzten überlebenden Akteure aus Deutschland vertrieben, er klagte als
gefangen zu singen, um sich Mut zu ma- des Eichmann-Prozesses. Er ist Ende acht- Mann den Massenmörder Eichmann an,
chen. Und dann öffnete sich die Tür noch zig, lebt in München, möchte aber nicht den Cheforganisator des Holocaust. Er hat
mal. Es war ein Zug mit Kartoffeln in über den Prozess sprechen. Das habe er das Land, in dem er geboren wurde, lange
Auschwitz angekommen, der entladen wer- noch nie getan, sagt er am Telefon, und gemieden. 30 Jahre später kam er aber
den musste. Man hat 30 Kinder aus der das werde er auch nicht mehr ändern. Ich dann doch zurück, weil es aussah, als ver-
Gaskammer geholt. Die anderen wurden solle Bach grüßen. Er könne nur das Beste suchten die Deutschen, die NS-Verbrechen
gleich getötet. Auch die Kinder, die die Kar- über den Kollegen sagen. verjähren zu lassen. Israel schickte ihn, um
das zu verhindern. Bach merkte, wie er »Ich höre gelegentlich von einem wach- Arendts These, brauchten Eichmann als
die Sprache vermisst hatte, die Landschaft, senden Antisemitismus in Deutschland«, Sündenbock. Der Prozess baute ihn zu ei-
das Essen, das Wetter und die Tempera- sagt Bach. »Ist da was dran?« nem Monster auf. Er habe den Tod verdient,
mente, die Schumann und Beethoven mög- Nachdem ich auf seinem roten Sofa eine aber sein Tod bedeute keine Erlösung.
lich gemacht hatten. Er erzählte den Deut- Viertelstunde lang die deutsche Situation »Ich weiß bis heute nicht, warum Han-
schen seine Geschichte. Die Geschichte auseinandergenommen und wieder zu- nah Arendt mein Angebot nicht angenom-
des Mannes, der das personifizierte Böse sammengesetzt habe, den Antisemitismus, men hat, mit mir zu sprechen«, sagt Bach.
zur Strecke gebracht hatte. Sie schien ih- der nie weg war, immer nur unterdrückt, Hat er ihr Buch gelesen?
nen gutzutun. Sie wollten sie immer wie- all die Wut und die Angst, den Osten, den Ȇberflogen. Es stimmt einfach so vieles
der hören. Er erzählt sie bis heute. Westen, die sogenannte Flüchtlingskrise, nicht«, sagt Bach. »In einem dieser Inter-
Wenn deutscher Besuch kommt, holt die Humorlosigkeit, das schlechte Wetter views, die er diesem ehemaligen hollän-
Bach den Umschlag mit den Bildern seines und Björn Höcke, sagt Bach: »Ich habe da- dischen SS-Mann in Argentinien gegeben
Lebens. Es gibt die Fotos, die ihn mit nass von nie irgendwas gespürt. Ich werde in hat, sagt Eichmann: ›Wenn ich eins bereue,
gescheiteltem Haar als Schüler der Theo- Deutschland immer mit so viel Freundlich- dann, dass ich nicht hart genug war, dass
dor-Herzl-Schule in Berlin-Charlottenburg keit empfangen. Es ist unglaublich, wie ich nicht scharf genug war.‹ So redet kein
zeigen, Fotos vom Eichmann-Prozess, nett die Leute zu mir sind.« Mann, der nur ein Befehlsempfänger war.«
Fotos, auf denen er ein Trikot von Es sieht so aus, als würde Bach
Schalke 04 trägt, das er in aus seinem roten Sessel mit Han-
Deutschland geschenkt bekam, nah Arendt reden.
als man erfuhr, er sei als Kind ein »Sie war mit diesem Nazi zu-
Fan des Gelsenkirchener Vereins sammen, das wissen Sie?«, sagt er.
gewesen, weil der dieselben Far- »Heidegger.«
ben trug wie die Fußballmann- Adolf Eichmann ist der einzige
schaft der Theodor-Herzl-Schule. Angeklagte in der Geschichte der
Er hält die Fotos hoch wie Be- israelischen Justiz, der hingerich-
weisstücke. tet wurde. Aber Bach scheint
Es gibt immer Kaffee und Ku- manchmal nicht zu wissen, ob er
chen, wenn man Bach besucht. wirklich tot ist.
Zur Begrüßung steht er in der Tür Es gibt noch die Bücher, die
seiner Jerusalemer Wohnung. Im- Protokolle, aber die Leute, die da-
mer im Anzug. Auf dem Tisch bei waren, sterben aus. Einer der
liegt sein kleiner Taschenkalender letzten Zeugen ist der Ankläger.
mit den Terminen. Da stehen vie- Wenn man Bach ein paar Monate
le Anfragen deutscher Organisa- begleitet, spürt man die verblas-
tionen drin. Politiker, Studenten, senden Erinnerungen, von der sie
Vereine, Klubs. Das vergangene reden, wenn irgendein Jubiläum
JONAS OPPERSKALSKI / DER SPIEGEL
Vor ein paar Jahren hat Barbara sen. Ein Farbtupfer in einem Hol-
Sukowa in Margarethe von Trottas lywoodfilm. Bachs Erinnerungen
Film Hannah Arendt gespielt. Sie müssen auch damit mithalten. In
musste viel rauchen und Sätze den Protokollen von Yad Vashem
aus dem Geschichtsbuch aufsagen. aber spürt man keine Rührung,
Das verzweifelte deutsche Gewis- man spürt Dringlichkeit und Klar-
sen, das mit Heidegger durch den heit in den Worten des Anklägers.
Wald läuft. Gerade brachte Holly- Er zeichnet den Weg nach, den
wood »Operation Finale« heraus, Familienfotos*: »Diesmal bitte kein Eichmann« Földi und dessen Familie aus
eine Räuberpistole, in der Adolf ihrem ungarischen Grenzstädt-
Eichmann von Ben Kingsley gege- chen nach Auschwitz gegangen
ben wird, der auch schon Gandhi spielte Arendt beschreibt den Eichmann-Pro- sind, das Getto, die Zugreisen, die Separa-
und Itzhak Stern, Oskar Schindlers Buch- zess in ihren Texten als Show der Staats- tion, das System. Eichmann.
halter. Vor ein paar Wochen hat der WDR anwaltschaft, mit der eine radikale natio- Als eine Stunde vorbei ist, muss die Axel-
eine App für deutsche Schulen vorgestellt, nalistische Politik Israels gerechtfertigt Springer-Studentin, die die Veranstaltung
in der Zeitzeugen über die deutsche Ge- werden sollte. Sie scheint einen israeli- leitet, ein bisschen drängeln. Sie versucht
schichte erzählen. Sie sollten schnell nach schen Ministerpräsidenten wie Benjamin den Redefluss von Gabriel Bach zu stoppen,
Jerusalem kommen, um Gabriel Bach auf- Netanyahu vorauszusehen. Gabriel Bach bevor er die nächste Geschichte erreicht.
zunehmen. aber hat keine Lust, seine Erfahrungen an Es war sehr interessant und bewegend,
Am nächsten Morgen spricht Gabriel der israelischen Gegenwart zu messen. Er vielen, vielen Dank, wir könnten noch
Bach im Post Hostel in Jerusalem vor Ab- möchte nichts zum Nationalstaatsgesetz stundenlang zuhören, müssen aber leider
solventen der Berliner Axel-Springer-Aka- sagen, nichts zum Konflikt mit den Paläs- weiter.
demie, die die Abschlussreise ihres Jahr- tinensern, nichts zu Netanyahu. Bach nickt. Er sagt: »Haben Sie viel-
gangs nach Israel machen. Bach sitzt auf Er beschreibt den verschlafenen Sprin- leicht noch fünf Minuten?«
einem Stuhl neben einem Billardtisch und ger-Studenten, wie Eichmann nach Bu- Er redet gegen das Vergessen an, bis die
redet eine Stunde lang ohne Pause. Er han- dapest fuhr, um dort die Deportation und Blumen kommen. Der Fahrer bringt ihn
gelt sich von Episode zu Episode. Berlin. die systematische Ermordung von Hun- nach Hause. Die jungen Leute aus Berlin
Amsterdam. Jerusalem. Auschwitz. Der derttausenden ungarischen Juden zu orga- checken aus, manche rauchen noch schnell
Fußtritt des SS-Mannes, der ihn aus Deutsch- nisieren. eine Zigarette auf der Terrasse im hell-
land beförderte, Schalke 04, die Theodor- blauen Jerusalemer Winterhimmel. Der
Herzl-Schule in Charlottenburg. Bach er- * In Bachs Wohnung. Reiseleiter der Delegation sagt mir, interes-
59
sant sei auch Noah Klieger, der Bach lächelte schmal. Nicht
behauptet hatte, Boxer zu sein, stolz, eher pflichtbewusst. Er
um Auschwitz zu überleben. schien auch hier, auf der Hoch-
Auch der sei alt. Man müsse zeit seines Enkels, in seiner Er-
sich beeilen. zählung gefangen zu sein. Er
Klieger stirbt ein paar Tage wird noch gebraucht.
später. Er wurde 92 Jahre alt. Im März starb Rafi Eitan, der
Gabriel Bach ist im März Mossad-Agent, der Eichmann in
92 geworden, seine Tochter Argentinien gefasst hatte. Eitan
Orli, das Mädchen, das früher wurde 92 Jahre alt. Im israeli-
60
Gesellschaft
Im Zeichen der gleich seien die Briten deshalb längst außen vor.
13.30 Uhr, Disziplin 2.1, Ausbeinen und Grobzerlegen –
Buschmann hebelt, hackt und schabt schwitzend an einer
F. BOILLOT / SNAPSHOT-PHOTOGRAPHY
Klöckner
Lebensmittelsicherheit
Sponsoring 2020 will das Unternehmen noch 330 000 Wirtschaft, Kultur und Umwelt ausge-
Deutsche Bank spendet Euro beisteuern, ab 2021 dann gar nichts zeichnet. Die Deutsche Bank lässt die
mehr. Wie es weitergeht, ist offen. 2005 Gründe ihres Ausstiegs offen. Allerdings
deutlich weniger hatten die Bundesregierung und der Bun- hat Vorstandschef Christian Sewing dem
desverband der Deutschen Industrie Konzern einen Sparkurs verordnet. 2018
Die Imagekampagne »Ausgezeichnete mit Blick auf die Fußballweltmeisterschaft hatte die Bank für Kunst-, Kultur- und
Orte im Land der Ideen« muss ab 2021 in Deutschland im Jahr darauf die Stand- Sportprojekte sowie Gemeinnütziges
ohne Finanzspritzen der Deutschen Bank ortinitiative »Deutschland – Land der weltweit bereits nur noch 53,7 Millionen
auskommen. Noch 2018 hatte die ange- Ideen« gegründet. Deren Vorzeigeprojekt Euro spendiert, mithin 27 Prozent weni-
schlagene Bank das Budget mit 900 000 ist die »Ausgezeichnete Orte«-Kampagne. ger als 2016. In den kommenden Jahren
Euro komplett allein finanziert, 2019 sinkt Bis heute wurden Tausende Projekte aus dürfte das gesellschaftliche Engagement
der Beitrag bereits auf 660 000 Euro. Für Bildung, Wissenschaft, Gesellschaft, weiter abnehmen. BAZ, MSA
Verkehr einbarung »bei einer weiteren deutlichen Scholz offenbar auch festschreiben, dass
Bahn erhält weitere Erhöhung des Bundesbeitrags ab 2025 die Bahn die Dividende in Höhe von
um fünf Jahre zu verlängern«, heißt es in 650 Millionen Euro, die sie der Bundes-
Milliarden vom Bund einem internen Papier der Bundesre- regierung als Eigentümerin jedes Jahr
gierung. Dann soll der jährliche Betrag überweist, direkt zurückerhält, um das
Die Deutsche Bahn soll für den Erhalt noch einmal um eine Milliarde auf mehr Geld in die Infrastruktur zu investieren.
ihres Schienennetzes künftig mehr Geld als 6,5 Milliarden Euro steigen, wie es Die auf zehn Jahre verlängerte Laufzeit
von der Bundesregierung bekommen. in Regierungskreisen heißt. Dabei will gibt der Bahn die Möglichkeit, längerfris-
Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) tige Verträge mit Baufirmen abzuschlie-
verhandelt deshalb mit Bahn-Infrastruk- ßen, etwa um Brücken zu sanieren oder
C. HARDT / GEISLER-FOTOPRESS / PICTURE ALLIANCE
tur-Vorstand Ronald Pofalla über die soge- Gleise zu erneuern. Die Bahn bekommt
nannte Leistungs- und Finanzierungsver- zugleich scharfe Auflagen, etwa darüber,
einbarung zwischen Staat und Bahn. Sie wie viele Brücken zu renovieren sind.
soll demnach künftig nicht mehr für fünf Die Investitionen werden gebraucht,
Jahre wie bisher, sondern gleich für zehn damit der Zugverkehr pünktlicher wird
Jahre festgeschrieben werden. Derzeit und die Infrastruktur nicht weiter verfällt.
gibt der Bund jährlich 3,5 Milliarden Euro Nur so kann der in dieser Woche ver-
aus, damit die Bahn ihr Schienennetz kündete sogenannte Deutschlandtakt
unterhalten kann. Bis 2024 soll dieser realisiert werden: Zwischen den deut-
Betrag insgesamt auf rund 5,5 Milliarden schen Großstädten sollen jede Stunde
Euro wachsen. Geprüft werde außerdem Züge verkehren, zwischen Hamburg und
ein Vorschlag des Ministeriums, die Ver- Gleisarbeiter Berlin sogar alle halbe Stunde. GT
63
JONAS RATERMANN / BILD
64
Europawahl 2019
A
m übernächsten Wochenende hat Angela Merkel hat ein Deutscher an der Dann wäre der Weg für Weidmann frei.
Jens Weidmann einen wichtigen Kommissionsspitze oberste Priorität, zumal Dass er auf den Job im imposanten EZB-
Termin. Es ist Tag der offenen sie ihrer Partei beweisen muss, noch durch- Doppelturm im Frankfurter Ostend scharf
Tür in der Bundesbankzentrale setzungsstark zu sein. Finanzminister Olaf ist, ist ein offenes Geheimnis. Die Bundes-
in Frankfurt. Dann öffnet sich das monu- Scholz dagegen favorisiert einen deutschen regierung hat seinen Vertrag als Bundes-
mentale, im Stil des Brutalismus errichtete EZB-Chef. Seine SPD könnte dann das frei bankpräsident zwar erst Anfang des Jahres
Gebäude nahe der Autobahn fürs gemeine werdende Amt des Bundesbankchefs beset- bis 2027 verlängert. Aber noch einmal acht
Volk. Es gibt eine Virtual-Reality-Führung zen, so ist es in der Koalition vereinbart. Jahre in einer Institution arbeiten, die vor
durch den Goldtresor und Weidmanns Doch im Postenpoker ist nur Platz für allem von ihrem früheren Nimbus lebt,
Büro. Der hauseigene Chor »Buba Sin- einen Deutschen. Und so geht es in den aber mit gut 10 000 Mitarbeitern grotesk
gers« tritt auf. Inhaltlicher Höhepunkt sind nächsten Wochen auch um ein Duell zwi- aufgebläht und weitgehend machtlos ist?
»Quizvorträge« mit anschließender Frage- schen Weber und Weidmann, zwischen Weidmann ist erst 51, voller Tatendrang
runde (»Preisstabilität – was ist das?«). Merkel und Scholz. Und die machtbewuss- und offenkundig nicht so anfällig für ma-
Für den Hausherrn Weidmann ist das ten Franzosen zocken auch noch mit. terielle Verlockungen wie sein Vorgänger.
eine Pflichtveranstaltung, schwänzen gilt Der einfachere Teil der politischen Axel Weber, damals ebenfalls mit bes-
nicht. Dabei gibt es für die Karriere des Arithmetik lautet: Damit Weidmann ge- ten Chancen auf den EZB-Chefposten und
Bundesbankchefs an jenem Wochenende winnen kann, muss Weber verlieren. Der Merkels Rückendeckung, hatte 2011 Knall
wahrlich ein wichtigeres Ereignis: die Eu- Fraktionschef der konservativen Europäi- auf Fall hingeworfen, weil ihm die Krisen-
ropawahl. Wenn am Abend des 26. Mai schen Volkspartei (EVP) tritt bei der Eu- politik der Euro-Notenbank nicht passte.
in der EU die Stimmen ausgezählt werden, ropawahl als Spitzenkandidat an. Gewinnt Heute verdient er als Verwaltungsratschef
ist absehbar, ob Weidmann weitere acht der Schweizer Großbank UBS Millionen.
Jahre im Bundesbank-Bunker verbringen Macht Weidmann das Rennen, wäre er
muss. Oder er die Chance hat, ab Novem- »Wenn sich Weber der erste Deutsche an der Spitze der größ-
ber Präsident der Europäischen Zentral- nicht durchsetzen lässt, ten Zentralbank der Welt – und der Erste,
bank (EZB) zu werden, der mächtigsten der für einen harten währungs- und geld-
geldpolitischen Institution des Kontinents. muss Weidmann politischen Kurs steht. Er opponierte ge-
Für Weidmann wäre es die Krönung EZB-Präsident werden.« gen Draghi, als der nach der Finanzkrise
seiner Karriere. Und für viele deutsche 2008 die Eurozone mit unkonventionellen
Sparer die Erfüllung eines Traums: Ein Maßnahmen zu retten versuchte. Weid-
deutscher EZB-Chef, so ihre Hoffnung, er und kann in Rat und Parlament eine mann hielt den vom EZB-Chef propagier-
würde endlich Schluss machen mit Mehrheit hinter sich bringen, wäre Weid- ten Aufkauf von Staats- und Unterneh-
der Niedrigzinspolitik von Amtsinhaber mann als EZB-Chef aus dem Rennen. mensanleihen damals für falsch getimt;
Mario Draghi, mit der Politik des losen Weber kann darauf setzen, dass die EVP Draghis ebenso legendäre wie wirksame
Geldes, die deutsche Sparguthaben und stärkste Fraktion wird und Regierungs- Ansage, notfalls sogar unbeschränkt
Lebensversicherungen entwertet hat. Statt chefs wie Sebastian Kurz (Österreich), Leo Bonds aus notleidenden Mitgliedsländern
südländischer Disziplinlosigkeit herrschte Varadkar (Irland) oder Andrej Plenković zu kaufen (»whatever it takes«), um die
in Europa wieder Geldpolitik nach altem (Kroatien) ihn unterstützen. Doch der Eurozone zu retten, zerpflückte der deut-
Bundesbank-Muster: knappes Geld, hohe CSU-Mann hat mächtige Gegner, vor al- sche »Herr Nein« (SPIEGEL 4/2014) sogar
Zinsen, preußische Strenge. lem Emmanuel Macron. Frankreichs Prä- vor dem Bundesverfassungsgericht.
Weidmanns weitere Karriere hängt von sident lehnt schon die Idee ab, dass ein Dafür gab es durchaus Gründe. Denn
einem irrwitzigen Personalpoker ab. Nach Spitzenkandidat automatisch Anspruch Draghis Zusage senkte den Druck auf
den Wahlen zum Europaparlament sind auf den Topjob in Brüssel haben sollte. Schuldenländer wie Italien, ihre Volkswirt-
die wichtigsten Spitzenämter in der Union Für eine Mehrheit im Parlament wird schaften zu reformieren.
neu zu besetzen. Dass neben der EZB auch Weber Sozialdemokraten, Liberale und Doch als Mitglied im EZB-Rat, der über
die EU-Kommission und der Europäische womöglich Grüne brauchen. Überdies ist den geldpolitischen Kurs in Europa ab-
Rat gleichzeitig neue Chefs kriegen, offen, ob die Staats- und Regierungschefs stimmt, war Weidmann als Vertreter der
kommt rein rechnerisch nur alle 40 Jahre bei der Chefsuche auf das Parlament hören Betonfraktion weitgehend isoliert, im kri-
vor. Bei der Postenvergabe müssen natio- werden. »Wenn sich Weber nicht durch- sengeplagten Südeuropa zeitweise sogar
nale, parteipolitische und geldpolitisch- setzen lässt, muss Weidmann EZB-Präsi- verhasst. Außerhalb Deutschlands glauben
ideologische Interessen beachtet werden. dent werden«, fordert CSU-Finanzexperte inzwischen nur wenige Ökonomen, dass
Die Sache ist, typisch Europa, höllisch und Bundestagsabgeordneter Hans Mi- die Bundesbank-Linie von damals die Eu-
komplex. Denn auf den Job als nächster EU- chelbach. »Das wäre ein Signal, dass in rozone zusammengehalten hätte.
Kommissionspräsident bewirbt sich der Europa wieder eine seriöse und stabile Schon jetzt ist klar: Als EZB-Chef müss-
CSU-Mann Manfred Weber. Für Kanzlerin Geldpolitik gemacht würde.« te Weidmann viele seiner Positionen räu-
men. Seit geraumer Zeit schon bemüht er mehr zu leiden hätte als unter Draghi, er- es Anleihekaufprogramm. »Es wird dann
sich auffällig, den Zwist mit Nochamts- staunen, auch wenn Tria in Italiens Popu- von der Glaubwürdigkeit des Präsidenten
inhaber Draghi herunterzuspielen. Öffent- listenregierung wenig zu sagen hat. abhängen, inwieweit es gelingt, die Öffent-
liche Attacken auf den EZB-Chef verkneift Aber womöglich wissen ohnehin längst lichkeit und die Finanzmärkte von der nach-
er sich. Stattdessen hat er eine PR- und alle, Weidmann eingeschlossen, dass der haltigen Stabilität des Euro zu überzeugen.«
Charmeoffensive gestartet. In Gesprächen Spielraum für eine Geldpolitik nach deut- Issings Notenbanker-Sprech darf man
und Interviews mit Zeitungen aus Süd- schem Muster nicht vorhanden ist. Welt- als Werbung für Weidmann verstehen.
europa versucht er, seine Position zu er- weit haben Notenbanken die Leitzinsen Nur ein Hardliner, der nicht im Ruf steht,
klären, Wogen zu glätten. gesenkt, die Märkte mit billigem Geld ge- sorglos mit dem Geld deutscher Sparer um
Die Presseabteilung der Bundesbank flutet, für Billionen Staatsanleihen aufge- sich zu werfen, so lautet das Argument,
heuerte gar die Madrid-Korrespondentin kauft. Selbst wenn sie gewollt hätte, wäre könne die Deutschen davon überzeugen,
einer deutschen Wirtschaftszeitung an, um der EZB bisher kaum etwas anderes übrig dass es auch in ihrem Interesse ist, Draghis
für spanische Medien zugänglicher zu sein. geblieben, als dem Trend zu folgen. lockere Geldpolitik fortzusetzen.
Französisch spricht Weidmann seit seiner Zwar sah es vor ein paar Monaten noch Ein strikterer Kurs ließe sich auch in der
Studienzeit in Aix-en-Provence fließend, so aus, als würde sie den Geldfluss zumin- EZB kaum durchboxen. Selbst die weni-
sein Italienisch reicht für leichte Konver- dest in Zukunft langsam drosseln. Die ame- gen Deutschen mit Macht in der EZB,
sation. Bei einem Auftritt in Florenz woll- rikanische Fed hat schon vor zweieinhalb Märkte-Generaldirektor Ulrich Bindseil
ten Schüler sogar Selfies mit ihm machen. Jahren begonnen, die Zinsen anzuheben. sowie Draghis Chefberater Roland Straub,
In vertraulichen Gesprächen streuen sei- Die EZB, so prognostizierten Experten, sind keine Vertreter der deutschen Schule.
ne Leute inzwischen gar, dass Draghi er- werde spätestens im Sommer folgen. Führte Weidmann einen Kurs wie in frü-
folgreich die Eurozone zusammengehalten Doch inzwischen haben sich die Kon- heren Zeiten, würde er intern gegen Wän-
und Weidmann gegen die laxe Geldpolitik junkturaussichten eingetrübt. Was Ökono- de rennen – im sechsköpfigen Direktori-
des Italieners ja eigentlich nie etwas gehabt men als »Normalisierung der Geldpolitik« um, dem Machtzentrum der EZB, wie im
habe. Mit Betonung auf Geldpolitik, denn bezeichnen, ist deshalb ins Stocken gera- Zentralbankrat, in dem auch die Noten-
an seiner Kritik an Draghis »Whatever it ten. Auch in Europa wird die Notenbank bankchefs aller Euroländer sitzen.
takes«-Formel für Anleihekäufe hält Weid- die Zinsen vorerst nicht anheben können. Doch bevor Weidmann seinen Einfluss
mann weiter fest, freilich in der für Noten- Selbst ein Vertreter der alten Bundes- auch nur austesten kann, ist die Bundes-
banker typischen verbalen Haarspalterei: bank-Schule, der frühere EZB-Chefvolks- regierung am Zug. Sie muss, ein entspre-
Draghis Ansage sei damals ja nicht als geld- wirt Jürgen Stark, sieht wenig Spielraum. chendes Wahlergebnis vorausgesetzt, den
politische Maßnahme zu verstehen gewe- »Auch Weidmann könnte nicht über Nacht Widerstand der Franzosen gegen einen
sen, sondern bloß als kommunikative Fin- den Hebel umlegen, dafür sind Regierun- Deutschen an der EZB-Spitze brechen.
te, um die rasenden Kapitalmärkte zu be- gen und Kapitalmärkte zu abhängig von Das Land hat mit Jean-Claude Trichet
ruhigen und der Politik Zeit zu erkaufen. der EZB und umgekehrt. Aber er wäre der schon einmal den EZB-Präsidenten ge-
Die hätten Spanier und Portugiesen seither Richtige, um die hoch politisierte EZB wie- stellt. Aber für Macron steht, wie für Mer-
durchaus erfolgreich für Reformen genutzt. der zu entpolitisieren.« kel, viel auf dem Spiel. Auch ihm ist der
Das sind neue Töne, und Weidmanns Kommt es arg, müsste Weidmann gar zu Kommissionsvorsitz wichtiger, aber er
Appeasement-Politik scheint zu fruchten. ähnlichen Maßnahmen greifen wie Draghi. könnte mit Benoît Cœuré und François
Ausgerechnet Italiens Finanzminister Gio- Ausgerechnet Otmar Issing, Nestor der Villeroy de Galhau zwei Kandidaten ins
vanni Tria äußerte sich zuletzt milde, als strengen deutschen Geldpolitik und eben- Rennen schicken, die mindestens so ange-
die Sprache auf den Deutschen kam. »Es falls Ex-Chefvolkswirt der EZB, bereitet die sehen sind wie Weidmann.
ist nicht sinnvoll, sich auf Sichtweisen aus Deutschen darauf vor. »Nach dem langen Cœuré gehört im EZB-Direktorium seit
der Vergangenheit zu fokussieren, denn Aufschwung ist zu erwarten, dass im Euro- Jahren zu Draghis Küchenkabinett. Eigent-
die Welt wandelt sich, und damit wandeln raum früher oder später ein Konjunkturein- lich stehen rechtliche Hürden dem Auf-
sich die Ansichten der Akteure.« Derartige bruch eintritt.« Dann sei die EZB gefordert, stieg vom einfachen Mitglied des Direk-
Worte aus Europas größtem Krisenland, die Geldpolitik rasch und hinreichend ex- toriums an dessen Spitze entgegen, doch
das unter einem deutschen EZB-Chef wohl pansiv auszurichten. Das wäre etwa ein neu- das stört den Franzosen wenig: Das sei
nichts, was sich nicht lösen lasse. Villeroy
de Galhau ist wie Weidmann Zentralbank-
Stühlerücken im Machtzentrum – das EZB-Direktorium sortiert sich neu chef seines Landes und Pragmatiker. Der
Spross der saarländischen Fliesen- und
Tauben Falken
Keramikdynastie Villeroy spricht so exzel-
tendenziell für lockere Geldpolitik tendenziell für harte Geldpolitik
lent Deutsch wie Weidmann Französisch.
Als Kompromisskandidaten gelten Finn-
Amtszeit endet am Amtszeit endet am Amtszeit endet am lands Zentralbankchef Olli Rehn und sein
31. Oktober 2019 31. Dezember 2019 31. Mai 2019
Vorgänger Erkki Liikanen, sollten weder
Mario Draghi Luis de Guindos Benoît Cœuré Peter Praet Yves Mersch Sabine Berlin noch Paris zum Zug kommen.
Italien Spanien Frankreich Belgien Luxemburg Lautenschläger Weidmann selbst gibt sich offiziell gelas-
Präsident Vizepräsident Deutschland sen, was den Poker um seine Karriere an-
geht. Er ist Tennisspieler, und es heißt, dass
er früher ab und an mal den Schläger von
der rechten in die linke Hand wechselte,
Kandidaten Kandidat Nachfolger nur um seinen Gegner zu verwirren. Mit
taktischen Spielchen also kennt er sich aus.
Tim Bartz, Peter Müller, Britta Sandberg,
Jens Weidmann Olli Rehn Klaas Knot Erkki Liikanen François Villeroy unbekannt Philip Lane Michael Sauga
Deutschland Finnland Niederlande Finnland de Galhau Irland Mail: tim.bartz@spiegel.de
Frankreich
Vom Opfer
der Kanzlei Freshfields Bruckhaus Derin- gierte auf Drehzahl, Neigung, Kurvenver-
ger nahelegen, die der VW-Konzern mit halten, Höhe oder Temperatur. Und nur
der Bearbeitung des Dieselskandals be- auf dem Prüfstand hielt das Auto die Ab-
zum Täter
traut hat. Porsche handelte danach offen- gaswerte ein.
bar mit festem Vorsatz: Der Autoherstel- Dem KBA präsentierte Porsche jedoch
ler wollte seinen Cayenne mit dem Sechs- einen eigenen Test, bei dem ein Cayenne
Zylinder-Dieselmotor in Europa schlicht die Grenzwerte auch erfüllt, wenn er sich
Dieselaffäre Porsche verkaufte weiter verkaufen. nicht im Prüfmodus befindet. Es war of-
seine schmutzigen Autos Das Management hoffte offenbar, dass fenbar nur ein weiterer Versuch, die Wahr-
die deutschen Behörden schon nicht so ge- heit hinter einer Wolke aus Dieselabgasen
auch dann noch weiter, als der nau hinsehen würden wie die Amerikaner. zu verschleiern.
SPIEGEL die Manipulation der Ganz genau wollte es in der Führung auch Denn der Porsche-Test wurde durch
Motoren bereits enthüllt hatte. niemand wissen. Eineinhalb Jahre lang eine Messung, die das Kraftfahrt-Bundes-
gab man sich in Zuffenhausen mit halbher- amt selbst durchführte, »nicht bestätigt«.
zig durchgeführten Abgasmessungen zu- Zudem monierte das KBA in seinem Be-
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BORIS ROESSLER / DPA
BERND HARTUNG
Beladung eines Jets mit Verpflegung, Speisetabletts: Fünf Euro in der Economy Class
Abgekocht
sche Mitarbeiter in Tschechien sein. Die
Lufthansa-Tochter will ihnen 60 Prozent
mehr zahlen als den üblichen Mindestlohn
vor Ort. Trotzdem sind sie für den Kon-
zern weit günstiger als deutsche Arbeits-
Luftfahrt Flüge werden immer billiger, und auch das Bordessen darf kräfte. Ein Teil der Jobs in Deutschland
kaum noch etwas kosten. Die Cateringtochter der Lufthansa lässt das wird deshalb abgebaut – über Altersteil-
Passagierfutter deshalb in Tschechien zubereiten – von Philippinern. zeit oder Aufhebungsverträge.
Bisher hat LSG in Nová Hospoda nur
Flächen angemietet, doch der Konzern
Vor allem asiatische Airlines, die von Die Lufthansa und ihre Tochter LSG ab Herbst 2020 täglich 80 000 Mahlzeiten
der LSG beliefert werden, legen viel Wert versuchen, den Druck der Auftraggeber zusammenstellen, die dann per Lkw an die
auf hochwertiges Essen, aber auch auf re- weiterzugeben – auch an die Beschäftig- jeweiligen Abflugorte transportiert werden.
präsentatives Geschirr im Luxusteil der ten. Mit einem Durchschnittsgehalt von Im Gegenzug werden die vorhandenen
Kabine – bei der südkoreanischen Airline monatlich 2200 Euro brutto stehen die deutschen Küchen in Frankfurt, München,
Asiana kommen Zehntausende Einzelteile LSG-Angestellten am unteren Ende der Köln und Düsseldorf verkleinert.
pro Flug zusammen, die an Bord gebracht Lufthansa-Lohnhierarchie. Altkapitäne Vor allem das Heimatdrehkreuz der
werden müssen. verdienen das Zehnfache, langjährige Flug- Lufthansa, der Flughafen Frankfurt, wäre
Manche Luftlinie aus Übersee kauft begleiter das Drei- bis Vierfache. betroffen. Die LSG fertigt am Hauptstand-
lieber alle Lebensmittel zentral im Heimat- Nun soll der Verdienst bei Teilen der ort in zwei Anlagen. Das eine Werk belie-
land ein, um die Kosten zu drücken. Die Beschäftigten der LSG noch einmal ge- fert Lufthansa-Flüge, das andere bedient
Ware wird dann tiefgefroren in Schiffs- Fremdkunden, darunter Air China, Asiana,
containern etwa nach Europa geliefert United oder Sun Express.
und schließlich beispielsweise nach Frank- Asiatische Airlines Es ist ein gewagtes Unterfangen und ein
furt zur LSG gebracht. Dort macht man legen viel Wert auf hoch- ungewöhnliches dazu. Normalerweise ent-
aus der Lieferung fertige Tabletts, das Es- scheiden Käufer eines Unternehmens, ob
sen muss dann nur noch an Bord aufge- wertiges Essen – und und wie sie ihre Neuerwerbung umgestal-
wärmt werden. repräsentatives Geschirr. ten oder bei Bedarf sanieren. Das gilt vor
Trotz der ständigen Preisdrückerei ist allem für Finanzinvestoren, die auch bei
die Verpflegung auf den Flügen ein erheb- der LSG zum Zuge kommen könnten.
licher Kostenfaktor. Bei einem Boeing- drückt werden – getreu dem mittlerweile Die Lufthansa will sie mit ihrem Philip-
Jumbo werden bis zu sechs Tonnen Ver- schon legendären Spruch des ehemaligen pinen-Projekt an Kreativität nun über-
pflegung an Bord gehievt. Nach der Lan- Lufthansa-Chefs Christoph Franz: »Die trumpfen. Gut möglich, dass sie sich dabei
dung müssen die Reste abtransportiert Zitrone ist nie ausgequetscht.« übernimmt. Vielleicht beendet der neue
und entsorgt werden, und das nach den Sein Nachfolger Spohr will die Herstel- Besitzer das Projekt in Böhmen ja auch,
jeweils gültigen lokalen Umwelt- und Re- lung der Bordmahlzeiten künftig auf zwei bevor es richtig begonnen hat. Zeit wäre
cyclingauflagen. Alles in allem kommen zentrale Produktionsbetriebe konzentrie- noch. Am 10. April fand erst die symboli-
für die Dienste des Caterers pro Langstre- ren, im tschechischen Bor und im rheinhes- sche Grundsteinlegung statt.
ckenumlauf schnell einige Zehntausend sischen Alzey. Sie sollen einige der größe- Dinah Deckstein, Martin U. Müller
Euro zusammen, zu viel nach Ansicht vie- ren Flughäfen in Mitteleuropa bedienen. Mail: martin.mueller@spiegel.de
ler Fluglinien. Allein in Bor sollen über 1000 Mitarbeiter
Vorankommen,
aber kontrolliert.
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Giftige Orangen
Agrarindustrie Früchte aus Brasilien werden in die ganze Welt exportiert, auch nach Deutschland.
Nirgendwo sonst werden solche Mengen schlimmster Pestizide eingesetzt.
J
oão Vítor ist sieben Jahre alt, und Alle Chemiemultis sind in Brasilien ver- Die neue Regelung sieht vor, dass für
wenn er einen Traktor sieht, bricht treten. Bayer betreibt in der Nähe von Rio die Zulassung und Überwachung neuer
er in Tränen aus. »Ein Trecker de Janeiro eine eigene Fabrik. Der mit Wirkstoffe in Zukunft allein das Landwirt-
hat ihm fast den Tod gebracht«, dem früheren Monsanto fusionierte Kon- schaftsministerium zuständig sein soll. Bis-
sagt seine Mutter Mislania Silva dos zern stellt in Brasilien Glyphosat her, das lang können die Umweltbehörde und das
Santos. unter dem Namen »Roundup« vertrieben Gesundheitsministerium bei der Zulassung
Es war ein Donnerstag im August, ein wird. Der umstrittene Wirkstoff ist Markt- ein Veto einlegen.
kräftiger Wind wehte durch die Straßen führer bei den in Brasilien zugelassenen Wissenschaftler und Umweltaktivisten
von Tomar do Geru, einem Städtchen im Pestiziden. »Ein Verbot von Glyphosat warnen, dass Brasilien zu einem »Paradies
armen Nordosten Brasiliens. João Vítor wäre für uns eine Katastrophe«, sagt Luis für Giftimporte aus aller Welt« werden könn-
saß in der Schule, als beißender Nebel Rangel, Staatssekretär im Landwirtschafts- te, so der Biologe und Umweltexperte Fer-
durch die offenen Fenster drang. Er stieg ministerium. nando Carneiro vom staatlichen Forschungs-
von einer Orangenplantage auf, die an das Jährlich werden in Brasilien Pestizide institut Fiocruz. »Bereits verbotene Stoffe
Schulgelände grenzt. im Wert von rund zehn Milliarden Dollar können wieder erlaubt werden«, sagt der
Ein Traktor zog dort seine Bahn, er be- umgesetzt. Ihre Anwendung werde »prak- Menschenrechtsexperte Richard Pearshouse.
sprühte die Bäume mit Pflanzenschutzmit- tisch nicht überwacht«, sagt Larissa Mies Im Juli veröffentlichte er mit der Orga-
teln. Der Wind pustete die giftigen Schwa- Bombardi, Professorin am Institut für nisation Human Rights Watch einen Re-
den über die Mauer direkt in die Schule. Agrogeografie an der Universität São Pau- port über gesundheitliche Schäden und
In den Klassenräumen brach Panik aus, Menschenrechtsverletzungen unter Pesti-
die Kinder keuchten und würgten, ihre Au- zidopfern. Das Fazit: Kinder in Landschu-
gen brannten. len und Anwohner der Plantagen würden
Die Schulleiterin ließ das Gebäude so- »auf regulärer Basis mit hochtoxischen Pes-
fort räumen, doch es war zu spät: Acht tiziden vergiftet«, so Pearshouse.
Kinder und zwei Lehrer mussten ins Kran- Der kleine João Vítor wurde vor einem
kenhaus. João Vítor leide unter einer »aku- Jahr zum ersten Mal ins Krankenhaus ein-
ten Vergiftung durch Pflanzenschutzmit- geliefert, nachdem der Traktor das Insek-
tel«, diagnostizierte eine Amtsärztin. Sie tengift neben der Schule versprüht hatte.
verschrieb ihm Antiallergika. Damals schwoll der Junge am ganzen Kör-
Das Kind ist Opfer eines Dramas, das per an. Er musste die Kleider seines älteren
VICTOR MORIYAMA / DER SPIEGEL
sich täglich in den Dörfern der Agrarmacht Bruders anziehen, weil ihm die eigenen
Brasilien abspielt: Tausende Einwohner nicht mehr passten; er blutete aus der Nase
erkranken an Pestizidvergiftungen. 6591 und hatte Erstickungsanfälle. »Die Ärzte
Fälle vermeldete das staatliche Register sagten mir, dass er ohne Behandlung ge-
für toxipharmakologische Information (Si- storben wäre«, sagt seine Mutter.
nitox) für das Jahr 2015. Mehr als ein Vier- Die Orangen von den Bäumen neben
tel der 200 000 zwischen 1999 und 2015 der Schule, die mit dem Gift besprüht wur-
gemeldeten Vergiftungen betrafen Kinder, Landarbeiter mit Pestizidkanister den, landen als Saft auch in deutschen
die jünger als neun Jahre alt waren, 160 »Ich spüre den Gestank nicht mehr« Kühlschränken: »Wir exportieren nach
von ihnen starben. Wissenschaftler glau- Deutschland und Frankreich«, sagt der
ben, dass die Dunkelziffer um ein Vielfa- Großgrundbesitzer Elizeu Santos, dem die
ches höher ist, weil nur ein Bruchteil der lo. »Ihr Einsatz gleicht oft chemischer Plantage gehört.
Fälle gemeldet wird. Kriegsführung.« Santos war Bürgermeister der Nachbar-
Brasiliens Agroindustrie brüstet sich gern Brasilien verfügt zwar über ein fortschritt- stadt Cristinápolis, er ist ein mächtiger
mit Superlativen. Das Land zählt zur Welt- liches Pestizidgesetz. »Aber wir haben viel Mann in der Region und ein gefürchteter.
spitze beim Export von Soja, Orangensaft, zu wenige Inspektoren, die seine Anwen- Vor drei Jahren wurde er wegen Amtsmiss-
Zuckerrohr, Mais und Kaffee. Die Branche dung überprüfen«, räumt Staatssekretär brauch verurteilt, er soll während seiner
erwirtschaftet einen großen Teil der Devi- Rangel ein. »Ihre Anzahl entspricht nicht Amtszeit von betrügerischen Geschäften
seneinkommen; linke wie rechte Regierun- der Größe unserer Landwirtschaft.« bei öffentlichen Ausschreibungen profi-
gen unterstützten die Großbauern. Sie ge- Unter dem neuen rechtsextremen Prä- tiert haben. Zudem soll er in den Mord an
währten ihnen Steuervorteile und Kredite. sidenten Jair Bolsonaro brauchen die einem Abgeordneten im Jahr 2000 verwi-
Doch der Boom in der Landwirtschaft Großgrundbesitzer erst recht keine Kon- ckelt sein. Er bestreitet die Vorwürfe.
hat eine dunkle Seite: Die Agrarsuper- trollen zu fürchten. Die mächtige Agrolob- Santos residiert in einer Villa mit Swim-
macht Brasilien gehört zu den Weltrekord- by ist eine seiner wichtigsten Stützen im mingpool am Stadtrand von Cristinápolis.
haltern beim Verbrauch von Pestiziden. Kongress. Sie hat einen Entwurf für ein Laut eigenem Bekunden ist er Teilhaber
Praktisch alle Produkte werden mit che- neues Pestizidgesetz eingebracht, über den des brasilianischen Saftherstellers Trop-
mischen Mitteln behandelt, um die Pro- in den nächsten Wochen abgestimmt wer- fruit, der in der Region eine Fabrik betreibt
duktivität zu steigern. den soll. und in die ganze Welt exportiert.
In der Tropfruit-Fabrik werden auch schen Orangensaftkonzentrats, nachdem Die Wissenschaftlerin untersucht die
Orangen verarbeitet, die in Deutschland der Coca-Cola-Konzern die amerikanische Langzeitfolgen von Pestizidvergiftungen
unter dem Fair-Trade-Label GEPA ver- Lebensmittelbehörde auf Carbendazim- bei Landarbeitern. »In Gegenden, wo die
marktet werden. Es finde »keine Vermi- Rückstände in seinem Orangensaft hin- Agroindustrie besonders stark ist, kom-
schung der Orangen bei der Verarbeitung gewiesen hatte – auch in den USA ist der men Krebs, Depressionen und andere
statt«, versichert die GEPA auf ihrer Web- Wirkstoff verboten. Krankheiten, die mit Pestiziden in Zusam-
site. Doch wer hinter der Firma steht, mit Seit diesem Zwischenfall wird das Mittel menhang gebracht werden, besonders häu-
der sie Geschäfte machen, haben die Öko- in Brasilien nur noch bei Produkten fig vor«, sagt sie.
händler offenbar nicht überprüft. eingesetzt, die für den einheimischen Bayer verkaufe Carbendazim in Brasi-
»Wir haben nur zugelassene Produkte Markt bestimmt sind. »Brasilianische Le- lien »ausschließlich für den Einsatz als
verwendet«, sagt Santos. Welche das seien, bensmittel weisen ungewöhnlich hohe Saatgutbehandlungsmittel«, sagt ein Spre-
könne er allerdings nicht sagen. Viele Pes- Rückstände an Carbendazim auf«, sagt cher. Das Unternehmen beziehe den Wirk-
tizide, die in Brasilien erlaubt sind, wurden Marcia Sarpa, Professorin am staatlichen stoff von verschiedenen Quellen in
in Europa längst verboten – manche schon Krebsforschungsinstitut in Rio de Janeiro. Deutschland und China. Bei »sachgerech-
vor über zehn Jahren. ter Anwendung«, so Bayer, seien alle Pro-
Mehr als 100 der 500 Wirkstoffe, die in dukte »sicher für den Anwender und die
Brasilien zugelassen sind, dürfen in der Profitables Geschäft Umwelt«.
EU nicht verwendet werden. Dazu zählt Die größten Agrochemie-Hersteller nach Genau da liegt jedoch das Problem: Vie-
das extrem giftige Herbizid Paraquat. Es Spartenumsätzen* in Milliarden Euro, weltweit le Farmer halten sich nicht an die Vorschrif-
ist ab 2020 zwar auch in Brasilien verbo- ten. Brasiliens Agroindustrie basiert auf
ten, wird bis dahin aber noch vom Schwei- Bayer (inkl. Monsanto) 14,3 Monokulturen, oft erstrecken sich die Plan-
zer Multi Syngenta vertrieben. In der EU tagen über Hunderte Hektar. Die Riesen-
verboten ist auch das Fungizid Carbenda- Syngenta 8,8 felder werden zumeist vom Flugzeug aus
zim, das Bayer in Brasilien unter dem Na- mit Pestiziden besprüht – in Europa ist
men »Derosal« verkauft. Studien zufolge BASF 6,2 diese Praxis in der Regel verboten. Wenn
* in der Sparte
soll Carbendazim möglicherweise für Miss- Agrochemie/ der Wind ungünstig steht, werden die Gift-
bildungen an Föten verantwortlich sein. DowDupont 5,5 Pflanzenschutz;
wolken über Dörfer und Städte verweht.
jeweils letztes
Vor sieben Jahren beschlagnahmte der Geschäftsjahr Wo keine Flugzeuge eingesetzt werden,
FMC 3,6
US-Zoll mehrere Ladungen brasiliani- versprühen Trecker das Gift. Auf kleine-
71
ren Plantagen behandeln Arbeiter fern 150 000 Real Entschädigung
die Pflanzen mit handbetriebenen zahlen müssen, rund 38 000 Euro.
Kanisterpumpen. Das Behältnis mit Der Konzern ist in Berufung gegan-
dem Giftcocktail tragen sie auf dem gen, er schiebt die Schuld auf die An-
Rücken, auf Schutzkleidung verzich- wender. »Nicht einmal für die Medi-
ten sie oft, sie ist zu teuer oder un- kamente sind sie bislang aufgekom-
bequem. men«, sagt Lehrer Alves dos Santos.
Wenige Hundert Meter von der Auch die Witwe Maria Gerlene Sil-
Schule, wo João Vítor vergiftet wur- va Matos wartet vergebens auf eine
de, besprüht der Landarbeiter Jail- Entschädigung. Vor mehr als zehn
ton Domingo dos Santos Orangen- Jahren war ihr Mann an den Folgen
bäume mit einem Insektizid. Das einer Pestizidvergiftung gestorben.
Gift verwahrt er in einer Fantafla- Der Landarbeiter war drei Jahre lang
sche aus Plastik, in einem Eimer ver- beim amerikanischen Fruchtmulti
rührt er den Stoff mit Öl und Wasser. Del Monte angestellt, der im Bundes-
Die milchige Flüssigkeit füllt er in staat Ceará riesige Plantagen be-
einen Kanister, den er auf dem treibt. »Mein Mann rührte den Pes-
Rücken trägt. tizidcocktail an, der auf den Ananas-
Er ist mit einem Kapuzenpulli, feldern versprüht wurde«, sagt sie.
Jeans und Turnschuhen bekleidet. Er habe direkten Kontakt mit den
Immerhin trägt er einen Mundschutz. Chemikalien gehabt.
»Schutzkleidung kann ich mir nicht Als sich seine Augäpfel gelb färb-
leisten«, sagt er. »Außerdem ist es zu ten, dachte sie zunächst, dass er un-
heiß.« Der weiße Nebel, den er über ter Hepatitis leide. »Sein Urin nahm
die Bäume spritzt, verbreitet einen die Farbe von Coca-Cola an«, erin-
Wie sozial
zur Arbeit in ein anderes EU-Land ge-
schickt werden, den dort geltenden Min-
destlohn erhalten. Weil die Löhne aber in
ist Europa?
Europa so unterschiedlich ausfallen, war
Dumping leicht möglich. Künftig sollen
entsandte Arbeitnehmer deshalb den glei-
chen Lohn für gleiche Arbeit wie die hei-
Arbeitsmarkt Die Reform des mischen Kollegen bekommen.
Heil hat die Eckpunkte hierfür nun in
Entsendegesetzes soll Menschen,
REISEAUKTION
einem siebenseitigen Papier festgelegt. Ei-
die in der EU als Arbeitskräfte nen Gesetzentwurf will er bis zum Som-
verschickt werden, vor Ausbeutung mer vorlegen. »Wir wollen Arbeitnehmer
und Unternehmen vor Lohndumping und
schützen. Streit ist programmiert. unfairem Wettbewerb schützen«, sagt er.
Der Lohn entsandter Arbeitnehmer solle
Noch bis 12. Mai 2019
tät eigentlich fest eingeplant. Danach wür- con Valley, ähnlich wie es Facebook-Grün-
N
atürlich kann man sich fragen, ob ne dei Giornalisti«, eine für Redakteure ver- Ansehen des Berufs ging es ähnlich schnell
Italien eine kommunistische Ta- pflichtende Journalistenkammer, die den abwärts: 65 Prozent der Italiener sagen,
geszeitung wie den »Manifesto« Berufsstand vor Pfuschern schützen soll, sie würden Journalisten nicht vertrauen.
noch braucht. Seit bald 50 Jahren soll in dieser Form ebenfalls verschwinden. Friseure schneiden in Umfragen besser ab,
gibt es das Blatt. Die Auflage schrumpft Sogar den Begriff »Journalist« möchte sogar Beamte – und das in Italien.
und schrumpft, und man tritt den Kollegen Crimi überwinden, er spricht lieber von Für Unterstaatssekretär Crimi ist es
nicht zu nahe, wenn man sagt, dass der »Informationsprofis«. Alles weg, alles neu. »eine Frage der Glaubwürdigkeit«, den Zei-
»Manifesto« seine besten Zeiten hinter sich Crimi ist ein Fünf-Sterne-Anhänger der tungen das Geld wegzunehmen. Er wolle
hat; jene, in denen Dario Fo und Umberto ersten Stunde, den Kampf gegen die Presse- ihnen helfen, sagt Crimi, denn »Staatszei-
Eco dort ihre Texte veröffentlicht haben. förderung nennt er einen »Kerninhalt« sei- tungen« traue man nun mal nicht.
Aber das soll jetzt das Ende sein? ner Partei. »Die größten Verbreiter von Tatsächlich ist die Rache an der angeb-
Die Redaktion hat etliche Krisen und Fake News sind die Zeitungen«, sagt Crimi. lichen Lügenpresse ein Gründungsmythos
ein Attentat überlebt. Im Jahr 2000 zün- Das sei im Umgang mit der Fünf-Sterne- der Fünf-Sterne-Bewegung. Es gibt sogar
dete ein Neofaschist vor den Redaktions- Bewegung schon immer so gewesen. Auch ein exaktes Datum, an dem Beppe Grillo
räumen eine Bombe, am 22. Dezember, aus seinen Telefonaten mit Beppe Grillo, dem Journalismus den Krieg erklärte. Den
verpackt wie ein Weihnachtsgeschenk. Sie Komiker, Gründer und graue Eminenz der 25. April 2008.
explodierte vor den Füßen des Attentäters. Partei, hätten die Zeitungen ständig im Im Netz findet man noch Videoaufnah-
Der »Manifesto« habe sieben Leben, sagt Wortlaut zitiert: »Ich meine, woher wollen men von diesem Tag. Zu sehen ist ein bär-
der verantwortliche Direktor Matteo Bar- die das wissen?« tiger Mann, der sich auf dem Turiner Stadt-
tocci, »aber sechs davon haben wir schon Bei den betroffenen Medien geht es ums platz die Seele aus dem Leib brüllt. Beppe
verbraucht«. Überleben. Mehrere italienweit verkaufte Grillo schnaubt und zetert, er kriegt kaum
Bartocci klingt fatalistisch, und das hat Blätter könnte es treffen, ein paar Dutzend noch Luft, und obwohl sein Mikro über-
seinen Grund. Der nächste, ja, der vielleicht Lokalzeitungen und einen Radiosender. Das steuert, hängen Tausende an seinen Lip-
letzte Angriff auf sein Blatt kommt nämlich eigentlich Dramatische daran ist noch nicht pen. »Diese Arschkriecher kriegen unser
von Staats wegen. Die Regierung streicht einmal, dass sich eine Regierung mit der Geld«, schreit er, und zum Applaus wirft
dem »Manifesto« drei Millionen Euro Presse anlegt. Die besondere Tragik für den er die Arme in die Luft wie ein Rockstar.
Presseförderung, rund 40 Prozent seiner italienischen Journalismus liegt darin, dass Grillo hat den »V2-Day« ausgerufen, die
Erlöse. Wie soll man so einen Verlust aus- ihm kaum noch jemand hinterherweint. zweite Ausgabe seines jährlichen Protests
gleichen? Crimis Maßnahme ist nämlich populär, gegen das Establishment. Das V steht für
Der Mann, der für diese besondere nicht nur bei Fans der Fünf-Sterne-Bewe- »Vaffanculo« – »leck mich am Arsch« –,
Pressekrise verantwortlich ist und den sie gung. Gegen Journalisten zu wettern, das aber ein bisschen steht es auch für Vendet-
in der Redaktion des »Manifesto« deshalb haben Politiker hier früher gemerkt als in ta. Grillo nimmt sich Journalisten und Ver-
»il Killer« nennen, ist Vito Crimi, ein anderen Ländern, bringt Punkte beim leger vor, es ist eine Suada gegen die Presse.
freundlicher Mann von 47 Jahren. Er sitzt Volk. Und so lässt sich am Beispiel Italien Er spricht von »Staatsmedien« und »Un-
zwischen massiven Holzmöbeln im Palaz- beobachten, wohin es führt, wenn der wahrheiten«, der Ausdruck »Fake News«
zo Madama, dem römischen Senat. Hass auf die Presse über lange Zeit genährt fällt nur deshalb nicht, weil Donald Trump
Crimi hat in der neuen Regierung einen wird. Wenn Politiker jede unliebsame ihn erst noch populär machen muss. Grillo
Posten mit einschläferndem Titel, aber Nachricht als »bufala« – »Falschmel- will Rache an Italiens Zeitungen nehmen,
enormer Macht. Er ist Unterstaatssekretär dung« – brandmarken und sich zu Opfern weil sie ihn niederschreiben oder ignorie-
für das Verlagswesen, verantwortlich für einer Verschwörung stilisieren; wir gegen ren. Und er hat Zahlen mitgebracht.
die Medienpolitik. Und die bedeutet für sie, Regierung gegen Presse. Irgendwann »Il ›Corriere Mercantile‹ – 2,6 milioni«
Crimi und seine Fünf-Sterne-Partei vor setzt sich dieses Misstrauen fest, bei Lesern schreit Grillo. »Vaffanculo«, schallt es zu-
allem: Anti-Presse-Politik. und Wählern, in Koalitionsprogrammen rück. Er steht vor einer gigantischen Ta-
Das passende Gesetz hat die Regierung und Haushaltsgesetzen. Und möglicher- belle, nacheinander brüllt er die Namen
im Dezember verabschiedet, darin enthal- von Zeitungen ins Volk, dann die Beiträge,
ten sind Kürzungen für einen Großteil der die sie bekommen. »›Il Manifesto‹ – 4,4
Presseförderung, die in Italien bisher aus- Presse in Not milioni«, Hände in die Luft, »Vaffanculo!«
gezahlt wurde. Mehr als 50 Millionen Verkaufte Auflagen großer italienischer Tageszeitungen Anderthalb Jahre später, im Oktober
Euro, reserviert für kleine, strauchelnde Feb. 2009 2009, wird die Fünf-Sterne-Bewegung ge-
Blätter, fallen jährlich weg. In spätestens 520750 466100 Quelle: ADS gründet, zehn Jahre später sitzt sie an den
drei Jahren soll nichts davon übrig bleiben, Hebeln der Macht. Vaffanculo jeden Tag.
bis dahin werden die Zuschüsse für Hun- 265 200 Unterstützer der Fünf-Sterne-Bewe-
derte Zeitungen nach und nach gestrichen. gung sehen die Umwälzung als großen
Für Crimi ist das nur der erste Schritt. Er Frühjahrsputz. Sie deuten auf die histori-
möchte langfristig auch die indirekten För- Feb. 2019 schen Probleme mit der Presseförderung,
derungen beseitigen, etwa die ermäßigte 200650 150300 100550 auf den Missbrauch, der mitunter getrie-
Mehrwertsteuer für Zeitungen. Die »Ordi- »Corriere della Sera« »La Repubblica« »La Stampa« ben wurde. Sie erzählen davon, wie sich
76
beitsmoral, kam dieses Liveradio einer Re-
volution gleich. Das Parlament wurde kon-
trollierbar, von jedem Bürger, per UKW.
Und im Archiv des Senders schlummern,
auf 279 000 Audiokassetten, fünf Jahr-
zehnte italienischer Geschichte.
Etwa eine Äußerung des damaligen Au-
ßenministers Giulio Andreotti aus dem
Jahr 1984: »Es gibt zwei deutsche Staaten,
und zwei sollen es bleiben.« Ein Aus-
spruch, der eine diplomatische Krise nach
sich zog – und vom italienischen Außen-
ministerium sofort heruntergespielt wurde.
Andreotti habe lediglich die »aktuelle
Situation« beschrieben. Das Archiv von
Radio Radicale bewies das Gegenteil.
Für die Regierung zähle das nicht, sagt
die leitende Redakteurin Ada Pagliarulo,
»die wollen einen Schnitt mit der alten
Welt«. Über Pagliarulos Bildschirm flim-
mert eine Agenturmeldung aus dem
Piemont. Ein 69-Jähriger, steht da, habe
aus Protest gegen die mögliche Schlie-
ßung von Radio Radicale seine Nachbarn
mit Parlamentsdebatten in voller Laut-
stärke genervt. Andere gehen in ihrem
Protest noch weiter: Der Journalist und
Politiker Maurizio Bolognetti ist für
Radio Radicale im Hungerstreik, seit
mehr als 70 Tagen.
Für seinen Dienst an der Öffentlichkeit
erhielt der werbefreie Sender bisher
14 Millionen Euro im Jahr. 5 Millionen
wurden schon gestrichen, der Rest soll
folgen. Bis Mai seien die Kosten gedeckt,
sagt Pagliarulo, dann gehe Radio Radicale
das Geld aus.
Seit Ende März lädt Unterstaatssekretär
Crimi Verleger und Journalisten zu regel-
mäßigen Treffen am runden Tisch, um
über die Zukunft der Presseförderung zu
diskutieren. Der »Manifesto« berichtet aus
den Sitzungen, Radio Radicale überträgt
STEPHANIE GENGOTTI / DER SPIEGEL
Venezuela wichtigen Mitarbeiter Guaidós. Sieben Guaidó, der sich in seiner Funktion als
weiteren Abgeordneten entzog der Parlamentspräsident im Januar zum
Der Machthaber Oberste Gerichtshof, der von Maduro Interimsstaatschef erklärte, erkennt die
schlägt zurück kontrolliert wird, die parlamentarische verfassungsgebende Versammlung nicht
Immunität. Fast 70 Volksvertreter sind an. Ebenso halten es die mehr als 50 Staa-
Nach dem gescheiterten Umsturzver- nach Angaben des Parlaments verschärf- ten, die sich hinter ihn gestellt haben.
such seines Widersachers Juan Guaidó ter Repression ausgesetzt, mehrere sitzen Maduro hat unterdessen auch die
nutzt der Autokrat Nicolás Maduro die im Gefängnis. Repression gegen seine außerparlamen-
Schwäche der Opposition, um Guaidós »Maduro will das Parlament zerstö- tarischen Gegner verschärft: Mehr als
wichtigste Bastion zu attackieren: die ren«, sagte Guaidó. Die Richter berufen 2000 Menschen wurden nach Angaben
demokratisch gewählte Nationalversamm- sich darauf, dass das 2015 gewählte Parla- der Menschenrechtsorganisation Foro
lung, deren Präsident Guaidó ist. Am ment seine Legitimität verloren habe, Penal seit Jahresbeginn aus politischen
Mittwoch ließ Maduro den Parlaments- nachdem Maduro eine neue verfassungs- Gründen festgenommen, zumeist während
vize Edgar Zambrano verhaften, einen gebende Versammlung einberief. Kundgebungen gegen das Regime. JGL
PRZEMEK ŚWIDERSKI
gen, arbeiten mit Migranten zug ist ein Kunstwerk. Sein
und Vertretern von sexuellen Schöpfer, Jerzy Janiszewski,
Minderheiten zusammen. ist uns beigesprungen. Er
SPIEGEL: Was hat das mit der will, dass alle demokratisch
Solidarność zu tun? gesinnten Polen Zugang zu
Kerski: Die Solidarność war diesem Symbol der friedli-
einmal ein pluralistisches Kerski chen Revolution haben. JPU
Analyse
Arktischer Teufelskreis
Der Wettlauf der Großmächte um die Rohstoffe der Nordpolarregion beschleunigt den Klimawandel.
Wem gehört der Nordpol? Schon vor mehr als zehn Jahren haben noch weiter gehende Absichten stecken. Auf einer Tagung des
die Russen am nördlichsten Punkt der Erde eine Nationalflagge Arktischen Rats diese Woche in Finnland hat der amerikanische
aus Titan in den Meeresgrund gerammt, um Fakten zu schaffen. Außenminister Mike Pompeo in scharfen Worten versucht, China
Aber auch die Dänen, die Grönland besitzen, erheben Anspruch in die Schranken zu weisen. Er warf dem Rivalen »ein Muster
auf den Nordpol. Bisher waren solche Streitigkeiten eine Kuriosi- aggressiver Verhaltensweisen« vor und warnte Peking davor, in
tät, doch durch den Klimawandel ändert sich das gerade. Je stär- der Arktis »nationale Sicherheitsinteressen« zu verfolgen. Gegen-
ker das nördliche Eis schmilzt, umso entschlossener betreiben die über Moskau wurde Pompeo ebenfalls deutlich: »Wir wissen, dass
globalen Mächte ihren Wettlauf um die Arktis. Neben Russland die russischen Gebietsansprüche in Gewalt ausarten können.«
sind es, wie so häufig, China und die USA, die mitreden wollen, Die kleineren Mitglieder des Arktischen Rats hatten allen
wenn die entlegene Weltregion wirtschaftlich und militärisch Grund, die Washingtoner Machtdemonstration mit Entsetzen zu
erschlossen wird. verfolgen. Denn Pompeo machte klar, dass Amerika die Eis-
Obwohl der nördlichste Zipfel Chinas mehr als tausend Kilome- schmelze vor allem als Chance sieht, an Öl und andere Rohstoffe
ter vom Polarkreis entfernt liegt, propagiert Peking neuerdings zu gelangen, die im Grund des Nordmeers verborgen liegen.
das Projekt einer »polaren Seidenstraße«. Die Rede ist vor allem So zeichnet sich eine tragische Entwicklung ab: In der Arktis,
von günstigen Schifffahrtsrouten durch das Nordmeer, auf denen wo die Erderwärmung bereits dramatische Folgen hat,
die Transportzeit für Waren nach Europa deutlich verkürzt wer- führt sie voraussichtlich dazu, dass bald noch mehr CO frei-
²
den kann. Allerdings argwöhnt die US-Regierung, dass dahinter gesetzt wird. Dietmar Pieper
79
Ausland
In der Sackgasse
Türkei Präsident Erdoğan steht nach der Annullierung der Istanbul-Wahl
vor einer schwierigen Entscheidung: Entweder er
opfert einen Teil seiner Macht – oder den Frieden im Land.
D
er Mann, der seit Anfang der Wo-
che eines der wichtigsten politi-
schen Ämter der Türkei besetzt,
ist kein Politiker, sondern ein Bü-
rokrat: Ali Yerlikaya, 50, hat als Beamter
im Innen- und Gesundheitsministerium ge-
arbeitet und als Gouverneur der Provinz
Istanbul und verschiedener anatolischer
Provinzen. Er ist ein farblos wirkender,
bisher weitgehend unbekannter Mann.
Nun führt er als Interimsbürgermeister
die Amtsgeschäfte in Istanbul – zumindest,
bis die Istanbuler am 23. Juni ein zweites
Mal an die Urnen treten. Bei der regulären
Bürgermeisterwahl am 31. März hatte Op-
positionskandidat Ekrem Imamoğlu die
AK-Partei von Präsident Recep Tayyip Er-
doğan bezwungen. Doch Imamoğlu konn-
te sich nur wenige Tage im Amt halten.
Am Montag erklärte die Wahlkommission
die Abstimmung auf Druck von Erdoğan
für ungültig. Sie rief eine Neuwahl aus und
installierte Yerlikaya als Zwangsverwalter.
Die Annullierung der Istanbul-Wahl
markiert eine Zäsur für die Türkei: Er-
doğan hat zuvor schon die Unabhängigkeit
der Justiz beschnitten und die Medien
weitgehend gleichgeschaltet. Doch indem
der Präsident sich nun erstmals weigert,
ein Wahlergebnis anzuerkennen, das ihm
missfällt, überschreitet er eine Schwelle:
hin zu einem System, in dem ein demo-
kratischer Machtwechsel kaum mehr mög-
lich scheint – es ist ein weiterer Schritt auf
dem Weg der Türkei in die Diktatur.
Die Folgen für das Land könnten dra-
matisch sein, der Ausgang ist nicht vor-
herzusehen: Am Ende könnten Massen-
proteste stehen, ein Volksaufstand, im
schlimmsten Fall gewaltsame Zusammen-
stöße zwischen Anhängern und Gegnern
des Präsidenten.
Denn Erdoğans Vorstoß ist kein Aus-
MURAT KULA / ANADOLU AGENCY / GETTY IMAGES
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demokratische Reformen konzentrieren
sollten, sind erneute Wahlen ein Grund Wahlen Oppositionspolitiker Ekrem Imamoğlu über die Wiederholung
zur Sorge«, kritisiert der türkische Unter- der Abstimmung in Istanbul und seine Strategie gegen Erdoğan
nehmerverband Tüsiad.
LEFTERIS PITARAKIS / AP
legendste Wesenszug unserer demokrati- bürgermeisterwahl in Istanbul, wirkt hin-
schen Tradition, dass das Volk das letzte gegen ruhig, fast zurückgenommen. Er
Wort an der Urne hat«, schrieb Davutoğlu hat für das Interview mit dem SPIEGEL
auf Twitter. Und Gül verglich die Annul- ein Restaurant am Bosporusufer in Istan-
lierung der Istanbul-Wahl mit dem Ver- bul gewählt. Seine Stimme ist leicht an-
such des Verfassungsgerichts 2007, seine geschlagen von den vielen Wahlkampf-
Präsidentschaft zu verhindern. »Es ist eine auftritten der vergangenen Wochen. Imamoğlu: Wir werden das nicht zulas-
Schande, dass wir nicht weiter sind.« sen. Wir haben schon bei der Wahl im
Deshalb glauben manche Beobachter, SPIEGEL: Herr Imamoğlu, ist mit der März ein hervorragendes Kontrollsystem
dass es noch vor der Neuwahl am 23. Juni Annullierung der Istanbul-Wahl die entwickelt. Und dieses Mal sind zwanzig-
zu einer Spaltung der AKP kommen könn- Chance auf faire und freie Wahlen in der mal so viele Menschen für uns im Ein-
te – darüber wird zwar seit Langem spe- Türkei vertan? satz. Es wird keine Probleme geben.
kuliert, doch nun hat der Präsident für sei- Imamoğlu: Die Türkei ist kein Land, SPIEGEL: Erdoğan sagte im Wahlkampf:
ne parteiinternen Gegner wohl eine Gren- das den Kampf für Demokratie wegen »Wer Istanbul regiert, regiert die Türkei.«
ze überschritten. Gül, Davutoğlu und der einer solchen Entscheidung aufgibt. Glauben Sie, er fürchtet inzwischen um
frühere Wirtschaftsminister Ali Babacan, Die Menschen werden bei der Neuwahl seine Macht?
heißt es, wollten eine neue Partei gründen, am 23. Juni eine klare Reaktion Imamoğlu: Ich kann nicht in seinen Kopf
was zu Austritten aus der AKP führen zeigen. Sie werden den Fortbestand blicken. Ich weiß nur, dass jede Herr-
könnte und Erdoğan im Wahlkampf zu- der Demokratie sicherstellen. schaft irgendwann an ihr Ende gelangt.
sätzlich belasten würde. SPIEGEL: Glauben Sie, dass Präsident SPIEGEL: Ex-Präsident Abdullah Gül
Erdoğan war sich dieser Risiken durch- Erdoğan dann eine Niederlage akzep- und Ex-Premier Ahmet Davutoğlu, zwei
aus bewusst. Er hat lange gezögert, in Is- tieren wird? prominente AKP-Politiker, haben die
tanbul die Neuwahl zu erzwingen. AKP- Imamoğlu: Ihm wird keine andere Wahl Annullierung der Wahl kritisiert. Glau-
Funktionäre erzählen, dass Hardliner aus bleiben. ben Sie, dass Ihnen die Intervention
dem Umfeld des Präsidenten, darunter SPIEGEL: Warum boykottieren Sie die der beiden hilft, islamisch-konservative
sein Sohn Bilal und sein Schwiegersohn Abstimmung nicht, wie Parteifreunde Wähler zu überzeugen?
und Finanzminister Berat Albayrak, ihn Ihnen das geraten haben? Imamoğlu: Das glaube ich nicht. Aber
letztlich davon überzeugt haben sollen, Imamoğlu: Ein Boykott macht nur in ich habe mich trotzdem über ihre
dass die Partei es sich nicht leisten könne, Ländern mit einer hoch entwickelten Statements gefreut. Die beiden haben
Istanbul verloren zu geben – mit 15 Mil- Demokratie Sinn, wo die Gesellschaft selbst unter politischer Ungerechtigkeit
lionen Einwohnern ist es die bei Weitem aufschreit. Die Türkei ist noch kein gelitten. Es ist wertvoll, dass sie nicht
größte Stadt der Türkei und zugleich die solches Land. Ein Boykott würde ledig- schweigen über die Ungerechtigkeit, die
Heimat des Präsidenten. lich der Regierung nützen. Wir kämpfen mir widerfahren ist.
Erdoğan braucht die Kontrolle über die an der Urne weiter. SPIEGEL: Die türkische Wirtschaft steckt
Istanbuler Stadtverwaltung, um Familien- SPIEGEL: Haben Sie Sorge, dass Men- in der Krise, die Lira und der Aktien-
mitgliedern und Günstlingen weiterhin schen der Wahl fernbleiben, weil sie index haben diese Woche an Wert ver-
ungestört Aufträge und Privilegien zukom- den Glauben an den demokratischen loren. Würde sich daran etwas ändern,
men lassen zu können. Allein im vergange- Prozess verloren haben? wenn Sie nach der Wahl im Juni ins Rat-
nen Jahr soll die Kommune etwa 20 Millio- Imamoğlu: Nein. Wo immer ich in die- haus zurückkehrten?
nen Euro an drei Stiftungen gezahlt haben, sen Tage hingehe, begegne ich Menschen, Imamoğlu: Die Wirtschaft braucht ein
in denen Erdoğans Sohn Bilal im Vorstand die enthusiastisch sind, die sagen: demokratisches, friedliches, faires
sitzt. Firmen wie die Çalık Holding, die bis »Wir schaffen das, mein Bürgermeister.« Umfeld, um zu funktionieren. Wenn all
2013 von Erdoğan-Schwiegersohn Berat Al- Oder sie rufen unseren Wahlkampf- das nicht existiert, entstehen Krisen.
bayrak geführt wurde, erhalten regelmäßig slogan: »Alles wird gut«. Menschen Vor allem wenn wir wollen, dass Anleger
Staatsaufträge. Die Çalık-Medien trommel- ändern ihre Urlaubspläne, um bei der aus dem Ausland in der Türkei Geld
ten in den vergangenen Wochen besonders Wahl dabei zu sein. Ich garantiere investieren, müssen wir beweisen, dass
heftig für eine Neuwahl. Ihnen, dass die Wahlbeteiligung im Juni in diesem Land Demokratie und Rechts-
Istanbul steht nun ein Wahlkampf bevor, noch höher sein wird als im März. staat existieren. Dafür trete ich an.
wie ihn die Stadt noch nicht erlebt hat. Be- SPIEGEL: Wie reagieren Sie, falls es bei Wir haben Probleme. Aber wir können
reits vor der Wahl im März absolvierte der Neuwahl am 23. Juni zu Manipula- sie als Nation überwinden.
Erdoğan bis zu neun Auftritte an einem tionen durch die Regierung kommt? Interview: Bülent Mumay
Tag. Er erklärte die Abstimmung zu einer Boykott rieten. Imamoğlu kämpft spätes- wären wohl Massenproteste, wie sie das
»Frage des nationalen Überlebens« und at- tens seit dieser Woche nicht mehr nur um Land seit dem Aufstand um den Istanbuler
tackierte Kontrahenten in einer Schärfe, seinen Posten. Er kämpft in den Augen sei- Gezi-Park 2013 nicht mehr gesehen hat.
die selbst für ihn außergewöhnlich war. Be- ner Anhänger um den Erhalt der Demokra- Damals ging die Polizei mit Gewalt gegen
obachter fürchten, dass die Attacken auf tie in der Türkei. »Es darf nicht sein, dass Demonstranten vor, es kam zu tagelangen
Opposition und Zivilgesellschaft nun noch einige wenige Männer die Demokratie in Straßenschlachten.
einmal zunehmen könnten. der Türkei abwickeln«, sagt er. Innerhalb der Regierung ist die Angst
Erdoğan steht unter Druck wie selten Die Spitzenpolitiker von vier Opposi- vor einem Machtverlust inzwischen so
zuvor in seiner Karriere. Er hat sich stets tionsparteien, darunter der islamistischen groß, dass Erdoğan-Vertraute hinter ver-
als Außenseiter inszeniert, seit er in den Saadet-Partei, haben angekündigt, bei der schlossenen Türen offenbar ein drittes Sze-
Neunzigerjahren wegen vermeintlicher is- Neuwahl zugunsten Imamoğlus auf eine nario diskutieren. Der Präsident, so argu-
lamistischer Umtriebe für kurze Zeit ins erneute Kandidatur zu verzichten. Künst- mentieren manche, könnte die Oberbür-
Gefängnis gesperrt war. Der gescheiterte ler, Musiker, Schauspieler, viele von ihnen germeisterwahl mit Verweis auf die ange-
Putschversuch vom Juli 2016 hat diesen ehemalige Erdoğan-Unterstützer, haben spannte Sicherheitslage verschieben. Auf
Mythos verstärkt. Durch die Annullierung sich öffentlich auf die Seite des CHP-Kan- diese Weise würde er einen Wahlsieg Ima-
der Wahl haben sich für alle Bürger sicht- didaten geschlagen. Imamoğlus Wahl- moğlus fürs Erste verhindern. Entschärfen
bar die Rollen vertauscht: Erdoğan er- kampfslogan »Her şey çok güzel olacak« würde er die Lage nicht. Aufstände in Is-
scheint als Putschist, CHP-Mann Ima- (Alles wird gut) wurde zum Toptrend auf tanbul, der größten Stadt des Landes, wür-
moğlu als Opfer. Twitter. den nicht nur die Türkei an den Rand des
Hinzu kommt, dass der Spitzenkandi- Erdoğan geht mit der Neuwahl in Istan- Kollapses führen. Sie würden sich auch
dat der AKP für Istanbul lustlos und abge- bul ein enormes Risiko ein: Verliert er, ist auf Deutschland auswirken, wo fast drei
kämpft wirkt: Binali Yıldırım war Premier er doppelt blamiert. Der Frust in der AKP Millionen Menschen türkischer Herkunft
und Parlamentspräsident. Er musste offen- würde sich wohl Bahn brechen. Schnell leben, die den Konflikt schnell zu ihrem
bar von Erdoğan zur Bürgermeisterkan- dürfte der Ruf nach einer vorgezogenen eigenen machen könnten.
didatur überredet werden. Nach seiner Präsidentschaftswahl laut werden. Die Tür- Erdoğan war als Politiker lange Zeit vor
Niederlage kündigte er bereits seinen kei könnte in eine Staatskrise schlittern. allem deshalb so erfolgreich, weil er es
Rückzug an. »Ich bin keine Person, die Es ist deshalb kaum vorstellbar, dass Er- schaffte, sich selbst in Krisen eine Hinter-
versucht, eine Wahl zu gewinnen, die be- doğan eine Niederlage zulässt. tür offen zu halten. Nun aber scheint er
reits verloren wurde«, sagte er. Erdoğan Gewinnt er, würden sich Millionen Re- sich und das Land in eine Sackgasse ma-
hat ihn nach Aussagen von AKP-Politikern gierungsgegner um ihren Sieg gebracht növriert zu haben, aus der es keinen ein-
nun angeblich gedrängt, im Juni erneut an- fühlen. Der Verdacht der Manipulation, fachen Ausweg gibt.
zutreten – augenscheinlich mangels Alter- egal ob gerechtfertigt oder nicht, würde Bülent Mumay, Maximilian Popp
nativen. das Ergebnis überschatten. Noch kann Twitter: @Maximilian_Popp
Die Opposition hingegen ist entschlossen Imamoğlu seine Anhänger besänftigen, in-
und geschlossen wie selten. Imamoğlu hat dem er auf die Wahl am 23. Juni verweist. ‣ Lesen Sie auch auf Seite 120
bereits Stunden nach der Wahlannullierung Das ist spätestens nach einer Niederlage Warum die türkische Schriftstellerin Elif
erklärt, als CHP-Spitzenkandidat erneut in nicht mehr möglich. Imamoğlu bliebe Shafak die Annullierung der Bürgermeister-
das Rennen um das Bürgermeisteramt ein- dann gar nichts anderes übrig, als seine wahl für »undemokratisch und falsch« hält
zusteigen, obwohl ihm Parteifreunde zum Leute auf die Straße zu rufen. Die Folge
S
teckt Amerika in einer Verfassungskrise? Das sagte affäre betrifft. Mueller habe ihn von allen Vorwürfen entlastet,
am Mittwoch der Demokrat Jerry Nadler, Vorsitzen- sagt er. Die Untersuchung müsse aufhören.
der des Justizausschusses im US-Repräsentantenhaus. Abgesehen davon, dass gegen Trump weiter Vorwürfe der
Nadler ist eine wichtige Figur in Washington, in sei- Justizbehinderung im Raum stehen, hat der Kongress natür-
nem Ausschuss würde, falls es dazu kommt, der Grundstein lich das Recht, Zeugen anzuhören. Am Mittwoch verschickte
für ein Amtsenthebungsverfahren gegen Donald Trump ge- der Geheimdienstausschuss des Senats eine Vorladung an
legt. Es gehe um alles, sagte Nadler, es gehe um nichts Trumps Sohn Donald Jr, was den Präsidenten kalt erwischte,
Geringeres als die Frage, ob die Vereinigten Staaten eine Re- da der Senat im Gegensatz zum Repräsentantenhaus von
publik blieben oder in eine »tyrannischere Form der Staats- Republikanern kontrolliert wird.
führung« abglitten. Nancy Pelosi, die Sprecherin des Ab- Das Problem aber ist, dass der Kongress nur über begrenz-
geordnetenhauses und derzeit mächtigste Demokratin des te Macht verfügt, sein Kontrollrecht gegenüber der Regierung
Landes, benutzte ähnliche Worte. durchzusetzen. Justizminister Barr muss nicht vor dem Jus-
Verfassungskrise ist ein wuchtiger Begriff, Tyrannei eben- tizausschuss aussagen, er muss den Abgeordneten auch nicht
falls, aber so weit ist es (noch) nicht. Es gibt einen ernsten den ungeschwärzten Mueller-Bericht vorlegen, sondern kann
Konflikt zwischen Trump sich verweigern. Im Kampf
und dem von Demokraten gegen Trump müssen die Ab-
dominierten Abgeordneten- geordneten sich Gerichte als
haus, das ja. Im Mittelpunkt Verstärkung holen. In letzter
steht der Bericht des Russ- Instanz könnte der Oberste
landsonderermittlers Robert Gerichtshof entscheiden, ob
Mueller, veröffentlicht vor alle Erkenntnisse Muellers öf-
drei Wochen in zensierter fentlich werden. Und dort
Form, der sowohl Trump als sind, dank Trump, Konserva-
auch die Opposition noch im- tive in der Mehrheit.
mer beschäftigt. Der Bericht Der Konflikt zeigt, dass
hat Trump nur teilweise ent- die Demokraten anderthalb
lastet. Sehr konkret geht es Jahre vor der Präsident-
im Streit zwischen ihm und schaftswahl immer noch vor
der Opposition um die Frage, dem alten Impeachment-
SUSAN WALSH / AP
83
Anführer Abbas, Mitstreiter aus Burri: »Der Baum ist weg, aber die Wurzeln sind noch da«
Ma radschi ana laja matalib. Abbas nahm sein Smartphone in die »Er ist gefallen!«, brüllte Abbas. »Er ist ge-
(Ich gehe nicht weg, Hand, steckte sich Kopfhörer in die Ohren fallen!«, schrie seine Mutter. Sie sagt heute,
ich habe Forderungen.) und hörte seinen Radiosender im Internet. sie habe so laut gejohlt, dass sie fast fürch-
Revolutionsslogan, Sudan 2019 Er erinnert sich, als er drei Wochen später tete, hysterisch geworden zu sein.
von diesem Tag erzählt, dass ihm auf dem Omar al-Baschir war gefallen.
Bett liegend die Augen zufielen. Abbas Und die Mitglieder der Familie Abbas
W
enige Minuten bevor der Dik- wachte erst auf, als auf seinem Radiosen- waren an diesem Tag nicht nur gewöhn-
tator Omar al-Baschir, der den der gegen Mittag eine Militärmusik ein- liche Bürger des Sudan, die frei atmen
Sudan 30 Jahre lang geknech- setzte, der Soundtrack zu fast jedem Mili- wollten. Sie gehörten in diesem Moment
tet und ausgepresst hatte, am tärputsch. Als die Musik endete, hörte er auch zu den Siegern.
11. April 2019 Geschichte wurde, lag Mo- die Stimme des damaligen Verteidigungs- Denn ihr kleines Haus mit dem Well-
hammed Abbas auf seinem Bett in der ministers Ahmed Awad Ibn Auf. Er sagte, blechdach, in dem es drei Zimmer mit vie-
Hauptstadt Khartum. das Militär habe das Regime beseitigt und len Holzbetten gibt, keinen Fernseher und
Er ruhte sich von den Straßenkämpfen seinen Führer verhaftet. kein Auto vor der Tür, ist seit Jahren eine
der vergangenen Tage aus. Abbas ist 29 Abbas konnte kaum glauben, dass sein Zelle des Widerstands. Hier im traditio-
Jahre alt, der Diktator war schon im Amt, Protest das Undenkbare wirklich möglich nellen Arbeiterbezirk Burri im Nordosten
als er geboren wurde. Baschir war immer gemacht hatte. Er rannte hinüber ins der Stadt haben Mohammed Abbas und
sein Präsident und sein Unterdrücker ge- Wohnzimmer, wo seine Eltern und Ge- fünf seiner langjährigen Freunde die Pro-
wesen. schwister sich schon in den Armen lagen. teste in Khartum vorbereitet. Die Massen-
84
Ausland
demos, die zum Sturz Baschirs führten, wird oder ob die Kräfte aus Baschirs altem Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabi-
wurden befeuert von der Wut der Men- Machtapparat siegen werden. »Der Baum schen Emiraten und Ägypten protegiert
schen über die katastrophale Wirtschafts- ist weg«, sagt Abbas, »aber die Wurzeln wird und sehr schwer aufzulösen sein wird.
lage. Sie verzweifeln darüber, dass Bank- sind noch da.« Seine Mutter sagt: »Die Der Sudan wird in diesen Tagen von
automaten kein Geld hergeben, die Tank- Skorpione sitzen in ihren Löchern. Sie einem Militärischen Übergangsrat geführt,
stellen häufig geschlossen sind und sich kommen nur raus, wenn man Gift drauf- an dessen Spitze Generalleutnant Abdel
lange Schlangen vor den Bäckereien bil- schüttet.« Fattah Abdelrahman Burhan und sein Stell-
den, in denen Brot immer teurer wird. Seit drei Jahrzehnten hat sich im Land vertreter Mohamed Hamdan Daglo stehen.
Aber es hätte diese Proteste nicht gege- zum ersten Mal ein Fenster geöffnet, gibt Die beiden geben sich gegenüber den De-
ben ohne Menschen wie Abbas. es die Chance auf Veränderung. Im staubi- monstranten versöhnlich, doch sie waren
Abbas ist Anführer eines »Widerstands- gen Zentrum Khartums besetzen Protes- jahrelang Baschirs Männer. Daglo befehligt
komitees« im Stadtviertel Burri-Lamab. tierende seit rund einem Monat Straßen- eine rund 30 000 Mann starke Sonder-
Die kleine Zelle, deren Chef er ist, half züge und Plätze um das Hauptquartier der einheit, die Rapid Support Forces, die im
den Hauptorganisatoren der großen Mär- Armee. Tausende pilgern jeden Tag hier- Moment alle strategisch wichtigen Punkte
sche seit dem Beginn der Proteste im De- her. Beim Sit-in skandieren sie Slogans, hal- Khartums besetzt hält. Als Anführer der
zember 2018, auf der Straße den nötigen ten Transparente in den Himmel, malen berüchtigten Dschandschawid-Milizen im
Druck zu erzeugen. Eine kleine Einheit, einander sudanesische Flaggen ins Gesicht. Darfurkonflikt war er für schwere Men-
die mit anderen Zellen in der Stadt ver- Auf einer Eisenbahnbrücke schlagen junge schenrechtsverletzungen verantwortlich.
netzt ist. In ihrem Kern besteht sie aus Männer mit Steinen gegen den Stahl – sie Die Generäle verhandeln mit der Füh-
einem Sicherheitschef, einem Plakatbeauf- erzeugen den Sound dieser Revolution, der rung der Opposition hinter verschlossenen
tragten, einem Einheizer, einem Front- durch die Straßen wabert. Junge Frauen Türen, kaum etwas dringt nach außen.
kämpfer und einem Verhandler.
Mindestens fünf dieser Komitees gibt
es im Bezirk Burri. Das »Sudanesische Wi-
derstandskomitee«, in dem sich die Zellen
seit sechs Jahren lose zusammenschließen,
zählte zu Beginn der Proteste mehr als
30 aktive Gruppen in der Stadt, seither
haben sich viele neue formiert. Die Ge-
schichte der jüngsten Revolution im Sudan
ist deshalb auch eine Geschichte dieser Zel-
len. Nie zuvor haben sich die Protestieren-
den im Land so gut organisiert.
Abbas öffnet am Montag dieser Woche
die Tür zu seinem Haus in Burri, um die
Geschichte seiner Revolution zu erzählen.
Im Wohnzimmer ruht seine Mutter auf
dem Bett, die Kinder drängen sich im sel-
ben Raum, Nachbarn kommen herein. Sie
alle wollen erzählen, wie sie hier den Sturz
mit vorbereitet haben. Wenige Kilometer
entfernt vom Haus fließt träge der Blaue
Nil durch die Stadt. Ein karger Baum ver-
dorrt vor dem Hof in der Sonne, es wird
tagsüber 45 Grad heiß.
Abbas ist ein hochgewachsener Mann Protestierende beim Sit-in in Khartum: Manche kommen, um ein Selfie zu schießen
mit ernsten Zügen, die sich, wenn er er-
zählt, überraschend in ein breites Lächeln
verwandeln können. Er trägt eine beige gehen ohne Kopftuch spazieren, Liebes- Zwar haben die Militärs zugesichert, die
Stoffhose, ein auberginefarbenes T-Shirt, paare berühren einander verstohlen an den Macht nach einer Übergangszeit an eine
seine Füße stecken in Sandalen. Händen. An jeder Ecke entstehen Wand- zivile Regierung abzugeben, doch am
Es ist der erste Tag des Ramadan in die- gemälde, sind Performances zu sehen, ab Sonntag lehnten sie Kernelemente eines
sem Jahr, des islamischen Fastenmonats; und zu weht der süßliche Geruch einer Verfassungsentwurfs der Opposition ab.
Abbas fällt es nicht leicht, tagsüber auf Wasserpfeife vorbei, deren Genuss unter Unsicher ist auch, wie lange eine Über-
Wasser zu verzichten. Aber er sagt, er füh- Baschirs islamistischer Gesetzgebung in gangszeit bis zu freien Wahlen dauern soll-
le sich seinem Gott dann besonders nah. der Öffentlichkeit verboten war. te – sechs Monate, wie es das Militär for-
Mit seiner schwangeren Ehefrau bewohnt Doch Mohammed Abbas sagt, er finde dert, wenn keine Einigung erzielt werden
Abbas das hintere Zimmer im Haus der es gefährlich, sich dem Rausch des Protests könne, oder doch vier Jahre, wie die Op-
Eltern, Aussicht auf etwas Eigenes haben so sehr hinzugeben. Er fürchtet, dass das position es will? Und dann gibt es Streit
die beiden nicht. Sein Abschluss in Jura Sit-in zu einer Art Volksfest verkommt über die Zusammensetzung der Über-
bringt ihm als Regimegegner wenig. Er ar- und dass die Ziele der Opposition dabei gangsregierung. Die Generäle wollen, dass
beitet im Verkauf einer Süßwarenfabrik. verwässern. Denn die Aufgabe, die vor ih- sie höchstens zur Hälfte aus Zivilisten be-
Die vergangenen vier Monate haben nen liegt, ist immens. Das Baschir-Regime steht. Ein oberster Rat soll über der Regie-
ihm und seiner Familie viel zugemutet. hat sich auf einen »tiefen Staat« gestützt, rung stehen, auch hier wollen die Militärs
Und auch jetzt wissen sie nicht, wie die ein fest verwurzeltes Patronagesystem aus die Hälfte der Sitze.
Zukunft des Sudan aussehen wird. Ob ihr Sicherheitsapparat, Ölindustrie, Ministe- Mohammed Abbas und seine Familie
Land die Wende zur Demokratie schaffen rien und islamischer Geistlichkeit, das von macht das wütend. »Wir brauchen einen
Wut über die hohen Brotpreise die Büro- Burri, sie bedrohten, verletzten und ver-
Me
gebäude von Baschirs National Congress hafteten viele Menschen. Vier Demons-
er
TSCHAD
Party anzündeten, fühlten sich viele Be- SUDAN Atbara tranten wurden im Viertel getötet.
wohner Burris davon angestachelt. Sechs ERITREA Die Freunde aus der Zelle, so erzählt es
Tage später, am 25. Dezember, rief die SPA Khartum Abbas, seien immer wütender geworden.
zum ersten Protestmarsch in Khartum auf. Aber sie hätten sich zurückgehalten und
Da
Am selben Tag kontaktierte einer der Or- ur zusätzlich den Posten eines Vermittlers
rf
ÄTHIOPIEN
ganisatoren Abbas. Der rief seine fünf ver- geschaffen. Besetzt mit einem Mann mit
trautesten Freunde aus Burri-Lamab zu- 300 km guten psychologischen Fähigkeiten, der
sammen. SÜDSUDAN mit den Sicherheitskräften sprach, wenn
Zum ersten Mal seit sechs Jahren mar- die Lage zu eskalieren drohte, und ihnen
schierten Tausende durch Khartum und Omar al-Baschir, 75, regierte den Sudan seit einem die Gründe für ihren Protest erklärte. »Wir
forderten den »Sturz des Regimes«. Militärputsch 1989. Im April wurde er nach monate- sind Sudanesen wie ihr. Bringt uns nicht
langen Bürgerprotesten vom Militär abgesetzt.
Abends kam die Zelle in Abbas’ Haus zu- um. Wir tun dies auch für euch.«
86
tärrats in Khartum hatte gesagt,
man wolle kein Chaos dulden.
Niemand im Burri-Zelt weiß,
was das Militär plant, aber die Zel-
le ist fest entschlossen, das Sit-in
so gut es geht zu politisieren, damit
der Kampf weitergehen kann.
Abbas erträgt es in diesen Tagen
kaum, dass die Verhandlungen zwi-
schen Opposition und Armee zu
stocken scheinen. Er wirkt abwe-
send, springt dauernd von seinem
Schemel auf, verschwindet in der
Menge, kommt zurück, telefoniert.
Hält er kurz inne, verliert sich sein
Blick über den Köpfen der Masse.
Abbas blickt an einem jungen Su-
danesen mit Affenmaske vorbei,
der die Flanierenden erschreckt.
Hört die Jugendlichen nicht, die
lustige Lieder grölen. Ein Trunke-
ner hält sich am Burri-Zelt fest, da-
hinter ein Lastwagen, auf dem die
Mitfahrenden sich streiten.
»Wir wollen europäische Stan-
Demonstranten in Khartum: »Wir sind Sudanesen wie ihr, bringt uns nicht um« dards bei Gesundheit, bei Umwelt
und Bildung«, sagt er unvermittelt.
»Der Sudan soll eines der besten
Als Baschir im Februar panisch Teile sei- lich ein wenig selbst gebrauten Alkohol Länder Afrikas werden. Wettbewerbsfä-
ner Regierung auswechselte und den na- zu trinken. hig, mit einer robusten Industrie und ohne
tionalen Notstand ausrief, arbeitete die Es wird für die Verfechter der Demo- Krieg.« Er sagt, er würde in einem neuen
Zelle weiter. In der Nacht vor dem großen kratie eine Mammutaufgabe werden, die Sudan in seinem Traumberuf als Jurist für
Marsch am 6. April konnte Abbas kaum Pluralität dieses Sit-ins auch im Parlament die Rechte der Bürger eintreten.
schlafen, weil er gewusst habe: »Es gibt des Landes abzubilden. Gut möglich, dass Für seine Familie wünscht er sich ein
jetzt keinen Weg zurück. Entweder wir dieser Prozess Jahre oder Jahrzehnte dau- würdevolles Leben mit einem kleinen
sterben, oder es gibt einen Wandel.« ert, wenn das Regime überhaupt Macht Haus und einem eigenen Auto. Wenn sein
Am Ende dieses Tages wiesen die Or- abgibt. Und weil die Vorstellung einer sol- Kind, das demnächst auf die Welt kommt,
ganisatoren die Demonstranten an, sich chen Anstrengung für viele extrem frus- ein Mädchen wird, will er es Salima nen-
beim Hauptquartier des Militärs auf den trierend ist und die angestaute Euphorie nen, das heißt: die Friedliche.
Boden zu setzen. Tausende Menschen lie- sich irgendwie entladen will, entwickelt An einem dieser Abende, an denen die
ßen sich nicht vertreiben, als die Sicher- sich das Sit-in in diesen Tagen zunehmend Zukunft des Sudan fortgeschrieben wird,
heitskräfte schossen und mit Tränengas zum Event. hat die Zelle aus Burri zusammen mit an-
feuerten. Die Armee griff die Protestieren- Mohammed Abbas ist am Dienstag- deren eine Aktion organisiert, die an den
den nicht an, niedrigrangige Soldaten abend in das Zelt der »Löwen von Burri« Ursprung der Proteste erinnern soll.
schützten sie. gekommen, am oberen Ende der größten Gegen 21 Uhr strömen unerwartet Hun-
Das Sit-in vor dem Verteidigungsminis- Proteststraße. Hier finden sich die Freunde derte Menschen aus allen Ecken des
terium ist inzwischen einen Monat alt, die aus der Zelle im Ramadan zusammen, um Camps auf das Verteidigungsministerium
Demonstranten sind immer noch da. Sie gemeinsam das Fasten zu brechen und zu, das im gelben Scheinwerferlicht ruht.
haben mehr als hundert Zelte an den Stra- Strategien für die Zukunft zu entwerfen. Drei Meter vor den Gittern halten sie an.
ßenrändern aufgestellt, in denen Gruppen Abbas hält drei Datteln in der Hand und Stumm erheben Männer und Frauen ihre
ihre Interessen vertreten. Aus Darfur sind wartet auf den Ruf des Muezzins, der das ausgestreckten Arme zum Himmel und
sie mit 17 Autos angereist, um die Besucher Mahl einläutet. Abbas sagt: »Wir dürfen verharren minutenlang. Dann bricht ein
über die Verbrechen des Regimes dort zu jetzt die Gründe für unseren Protest nicht Rhythmus los. »Tasgot bas! Tasgot bas!«,
informieren; Hunderttausende sind den vergessen.« Von den drei zentralen Forde- rufen die Menschen immer lauter. »Es
Reitermilizen des Regimes zum Opfer ge- rungen der Opposition, die in der »Erklä- muss stürzen! Es muss stürzen!«
fallen. Überlebende der Folterknäste er- rung für Freiheit und Wandel« stehen, ist Die bewaffneten Soldaten, die vor dem
zählen ihre Geschichte. Die Mütter der nicht einmal die erste vollständig erfüllt: Ministerium Wache halten, schauen kurz
Märtyrer trauern gemeinsam. Labortech- das Ende des Baschir-Regimes. zu der Menge herüber. Dann senken sie
niker haben sich vereinigt, genauso wie ar- Der Ramadan ist für die Demonstranten ihre Blicke wieder und spielen gelangweilt
beitslose Akademiker und revolutionäre eine kritische Zeit. Abbas weiß, wie auf ihren Handys herum.
Feministinnen. schwach man sich fühlt, wenn man bei ex-
Das Sit-in ist ein Ort, an dem die Di- tremer Hitze den ganzen Tag weder isst
versität dieser Nation auf einmal sichtbar noch trinkt. Er beobachtet, wie die Stim- Video
»Sie lassen sich die Revo-
wird. Viele sind gekommen, weil sie eine mung sich aufheizt. In den Nachrichten lution nicht mehr nehmen«
Zukunftsvision für ihr Land haben. Man- hat er gehört, dass Milizen in der Provinz spiegel.de/sp202019sudan
che kommen auch, um ein Selfie zu Darfur gerade einen Protest brutal nieder- oder in der App DER SPIEGEL
schießen, eine Frau zu finden oder heim- geschlagen haben. Der Vizechef des Mili-
B
rüssel, Gare du Midi. An einem
Montagmorgen im April bahnt
sich Daniel Cohn-Bendit den
Weg zum Ausgang, ein eher klei-
ner Mann mit Rucksack und Rollkoffer,
der sich wenige Minuten später auf den
Rücksitz einer schwarzen Limousine
plumpsen lässt.
»Genau das wollte ich eigentlich nicht
mehr haben«, murmelt Cohn-Bendit, wäh-
rend der Fahrer sein Gepäck verstaut. Er
meint das Pendeln, den Schnellzug nach
Brüssel, den wartenden Chauffeur, der ihn
durch die verstopfte Innenstadt in Rich-
tung Europaviertel fährt. Cohn-Bendit
kommt aus Paris, wo er am Tag zuvor mor-
gens eine Radiosendung moderierte und
am Abend in einer Talkshow saß. Zwi-
schendrin tröstete er am Telefon seinen
Sohn, weil Eintracht Frankfurt, sein Hei-
matverein, gegen Augsburg verloren hatte.
20 Jahre lang, von 1994 bis 2014, saß
Cohn-Bendit als Abgeordneter im Euro-
paparlament, das jetzt wieder gewählt
wird. Mal für die deutschen Grünen, mal
für die französischen. Dann entschied er,
es sei genug, und trat nicht mehr an.
Daniel Cohn-Bendit war so etwas wie
das Wappentier dieses Parlaments, eine
Art personifiziertes Kerneuropa. Als Sohn
jüdischer Flüchtlinge war er jahrelang staa-
tenlos, dann wurde er Deutscher, später
Franzose.
Jemanden wie ihn kann Europa gerade
gut gebrauchen. Die Fliehkräfte zerren am
Vertrauen, auch zwischen Nachbarn, die
ganze Union wirkt fragil. Besonders jetzt,
da zwischen Deutschland und Frankreich
beim Brexit, bei der Handels- und der
Klimapolitik ein Graben klafft und sich
nicht einmal mehr die Spitzendiplomaten
Mühe geben, diesen zu verdecken. Wie
sollen 27 Staaten gemeinsame Sache ma-
chen, wenn sich die zwei größten und
mächtigsten misstrauisch anstarren?
Schon vor Monaten hat Daniel Cohn-
Bendit einen Plan gefasst, wie dem ver-
zagten Europa auf die Sprünge zu helfen
JEROME BONNET / DER SPIEGEL
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Cohn-Bendit. Deshalb spricht er in Berlin »Seid ihr von der Judäischen Volksfront?« sagt Cohn- Bendit. Aber manchmal wache
vor, diskutiert in der Böll-Stiftung mit Mit- – »Quatsch, wir sind die Volksfront von er morgens auf und ärgere sich: »Ich hätt
gliedern der Grünenspitze über Macron Judäa.« es machen sollen«, denke er dann. Die Zei-
und erklärt, warum Paris so handelt, wie Mögen Europas Probleme noch so sub- tung »Libération« attestierte Cohn-Bendit
es handelt. In Frankreich sitzt er bei Wahl- stanziell sein, da ist auch noch Raum für einmal einen »narcissisme joyeux«, einen
kampfveranstaltungen von En marche auf Eifersüchteleien. Dabei gibt es sie, die fröhlichen Narzissmus, das trifft es ganz
dem Podium, schwärmt von der deutschen Schnittmenge: Beide Parteien wollen, dass gut. Er ist kein murrender alter Mann, im
Konsensdemokratie und dem Erfolg der die EU weiter zusammenwächst, dass sie Gegenteil. Aber wie so viele andere ist
deutschen Grünen. Er ist auf einer Art Mis- eigenständiger wird, auch in der Außen- auch er überzeugt davon, es am besten zu
sion. Manchmal wirkt er dabei wie ein und Sicherheitspolitik. Dass sie sich mehr wissen.
Kind, das versucht, die Scheidung seiner fürs Klima und die ökologischen Belange Fragt man ihn, wie er die französische
Eltern aufzuhalten. einsetzt. Das alles soll, so wünscht man es Spitzenkandidatin finde, überlegt er kurz.
Emmanuel Macron träumt schon seit ei- sich bei den Grünen wie bei En marche, »Sie kennt sich ganz gut aus«, sagt er. Ihre
ner Weile von einem grünliberalen Block am liebsten gut gelaunt vonstattengehen. Stimme sei halt etwas dünn.
der »Progressiven« im Europaparlament, Weniger graugesichtig, weniger fatalistisch. Fragt man ihn, wie er die Spitzenkandi-
einem Bollwerk gegen die Nationalisten, Jünger, irgendwie. daten der Grünen finde, sagt Cohn-Bendit,
gegen die Rechtspopulisten. Von ihm an- Auf einem Wahlplakat der Grünen er wolle nicht unhöflich sein. Aber auf den
geführt. Das hat er mit gewohnt großer steht: »Perfekt ist Europa nicht. Aber ein Plakaten sehe er vor allem Robert Habeck
Geste kundgetan, was vielleicht nicht ganz verdammt guter Start«. Fast wortgleich und Annalena Baerbock, die Parteivor-
so klug war, weil die Deutschen großen warb Macron für sich während der Präsi- sitzenden.
Gesten traditionell misstrauen. Den Platz dentschaftskampagne. »Als ich Spitzenkandidat war, war da
Nummer zwei auf seiner Liste, gleich hin- Es ist kompliziert. Und die Probleme, kein Parteichef auf dem Plakat, sondern
ter der Spitzenkandidatin, belegt Pascal die Cohn-Bendit und seinem Plan von ei- ich«, sagt Cohn-Bendit. Der Slogan dazu:
Canfin, einer der prominentesten Grünen ner privilegierten Partnerschaft zwischen »Der Eurofighter«. In gewisser Weise passt
Frankreichs, bis er zu Macrons En marche En marche und den Grünen begegnen, das immer noch. Cohn-Bendit ist jetzt
überlief. »Natürlich werden wir den euro- gleichen exakt jenen, die auch zwischen 74 Jahre alt; die roten Haare, die ihm einst
päischen Grünen die Möglichkeit geben, den privilegierten Partnern Deutschland zu seinem Spitznamen Dany le rouge ver-
sich uns anzuschließen«, sagte Canfin neu- und Frankreich auftreten. Man ist zuerst halfen, sind längst weiß. Eine schmale Me-
lich im französischen Radio. tallbrille, Sommersprossen, manchmal
Auch dieser Satz kam nicht so gut an. wirkt sein Gesicht beinahe jungenhaft.
Zwei seiner ehemaligen Parteifreunde, »Er ist der 2016 hat er Emmanuel Macron, damals
Sven Giegold, Spitzenkandidat der deut- brillanteste Staatschef, Wirtschaftsminister, bei einer Podiums-
schen Grünen, und der Belgier Philippe diskussion kennengelernt, seitdem berät
Lamberts, schrieben ihm daraufhin einen den ich je er ihn.
offenen Brief, in dem sie ihn des Verrats getroffen habe.« Der Fahrer hält vor einem Tagungshotel
bezichtigen: »Die europäischen Grünen an der Rue de la Loi, im Europaviertel.
haben bestimmt nicht auf E. Macron ge- Viel Glas, viel Beton, Cohn-Bendit spricht
wartet, um sich für die europäische Sache einmal befremdet von der Arroganz des hier zu Studenten einer Businessschool.
zu engagieren«, steht da, es klingt ziemlich jeweils anderen. Aber schließlich einigt »Jeder kennt Daniel«, stellt ihn der Semi-
beleidigt. Das Angebot, als Grüne gemein- man sich doch. Manchmal zumindest. narleiter vor. Er erzählt die Anekdote, als
sam mit En marche einen Block zu bilden, Ein Sattelschlepper versperrt die Spur Cohn-Bendit im Parlament wieder mal sei-
empfindet Giegold als Unverschämtheit. auf dem Boulevard du Régent, Cohn-Ben- ne Redezeit überzog und der damalige Par-
In Paris ist die Wahrnehmung, naturge- dit schüttelt den Kopf: »Müsste verboten lamentspräsident Martin Schulz versuchte,
mäß, eine andere: Macron habe »viel poli- werden in der Innenstadt«, murmelt er. ihn zu stoppen.
tisches Kapital in das Umweltthema ge- Sein Telefon brummt, es ist der Büroleiter »Monsieur Cohn-Bendit«, begann Schulz.
steckt«, sagt sein Wahlkampfleiter. Vor des französischen Umweltministers. »Ta gueule«, antwortete der. Schnauze.
allem im Ausland werde der französische Im vergangenen Sommer wollte Emma- Hi, bonjour, sagt er jetzt. Er spricht auf
Präsident mittlerweile als Anführer in Sa- nuel Macron Cohn-Bendit selbst als Um- Englisch, frei; er beleidigt niemanden. Sei-
chen Klimaschutz wahrgenommen. weltminister in sein Kabinett holen; dieser ne Rede ist eine Ermutigung, ein Hoch auf
Grünenchefin Annalena Baerbock wird hat abgelehnt. Zum Ministersein sei er dieses Europa, das jetzt so viele Probleme
leicht schnippisch, wenn es um die Fran- nicht gemacht, sagt er. Im Parlament muss bereitet. Cohn-Bendit hasst es, wenn alles
zosen und ihre Selbstdarstellung geht. En man nicht die Klappe halten, weil der Chef schlechtgeredet wird.
marche sei »nun auch nicht die erste pro- anders denkt. Cohn-Bendit hat auch noch »Das Parlament hat hier die Kriege er-
europäische Partei im Parlament«, sagt sie. einen zweiten Job ausgeschlagen: Macron setzt«, ruft er vom Podium.
Macrons Ansatz sei ihr »zum Teil zu inter- wollte ihn zum Spitzenkandidaten seiner »Ich bin 1945 geboren. Warum, glauben
gouvernemental«, auch der »Kerneuropa- Partei für die Europawahl machen. Sie, haben meine Eltern mich gezeugt?
gedanke« störe sie. Ihr sei es lieber, »wenn Wenn du meinst, dass du das machen Weil sie wieder Hoffnung hatten!«
unterschiedliche Parteien um die besten musst, sagte seine Frau dazu bloß. Er ist der Sohn deutscher Juden, die
Lösungen für Europa miteinander ringen, Warum also nicht? 1933 nach Frankreich flohen. Im Pariser
statt in einem grauen Einheitsblock zu ver- Er zuckt die Schultern. Zu alt. Er will Exil saßen Walter Benjamin und Hannah
schmelzen«. nicht wie Berlusconi sein, der jetzt auch Arendt bei den Eltern am Tisch.
Wenn aber Parteien miteinander ringen, wieder fürs EU-Parlament kandidiert. Am Ende sagt er, fast heiser: »Wenn ihr
die doch eigentlich das Gleiche wollen, Oder wie Bernie Sanders, der »mit seinen in ein paar Jahren noch was mitentschei-
was können sie dann erreichen? 150 Jahren« noch mal als Präsidentschafts- den wollt, dann braucht ihr Europa. Das
Wer jetzt, kurz vor der Wahl, mit Grü- kandidat in den USA antritt. müsst ihr jetzt einfach mal kapieren.«
nen und En-marche-Leuten redet, fühlt »Diese alten Männer, die denken, sie Sein Plädoyer mag routiniert sein, die
sich ein bisschen wie bei Monty Python. seien unersetzlich, ich find das so bockig«, Zuhörer reißt es trotzdem mit. Cohn-Ben-
90
Sport
»Es kommt schon vor, dass ich nach Spielen mit einer ordentlichen Krawatte nach Hause komme.« ‣ S. 92
ERFOLGE
L E E SMI T H / RE UT E RS
Deutscher Deutscher DFL- DFL-
Champions-
Meister Meister Supercup Supercup
League-
DFB-Pokal Finalist
2011 2012 2013 2014 2015 2016 2018 2019
2008 bis
2015
Als Trainer hat er schon viele Erfolge gefeiert, doch der große Nach dem Halbfinalsieg mit Liverpool gegen Barcelona sagte er
internationale Titel fehlt Jürgen Klopp, 51, bis heute. 2013 war jetzt: »Ich weiß, was alle über mich und Endspielniederlagen
er am dichtesten dran, verlor aber mit Dortmund im Champions- sagen, und das stimmt auch. Andererseits ist es das vierte Finale,
League-Finale gegen Bayern München kurz vor Schluss mit 1:2. in dem wir sind, und allein das ist schon etwas Besonderes.«
zugesprochen … SPIEGEL: Der letzte Spandauer verwarf. sollten Sie besser nicht schreiben.
Preuß: Ich saß auf der Auswechselbank Damit war klar: Treffen Sie, ist Hannover SPIEGEL: Warum nicht, das klingt doch
und sprach ein kleines Stoßgebet: Bitte Pokalsieger. Kam da das Nervenflattern? nach einer richtig guten Party.
mach das Ding rein! Und dann Preuß: Stimmt auch wieder.
erlöste uns Darko Brguljan mit Okay, dann ist das in Ordnung.
einem Wurf in die lange Ecke Also, irgendwann ging es durch
gegen vier Blöcke, ich habe es die Reihen: Wo ist eigentlich
später auf Video gesehen. der Pokal? Keiner wusste es.
SPIEGEL: Auf Video? Doch wie es in Mannschaften
Preuß: Ich konnte das nicht üblich ist, wird die Verantwor-
mit ansehen, guckte während tung gern mal weitergeschoben,
des Wurfs auf den Boden. im Zweifel an die Jüngsten –
SPIEGEL: Es ging dann in das irgendjemand wird sich dann
entscheidende Fünfmeterwerfen, schon gekümmert haben.
Ihr Trainer nominierte Sie als SPIEGEL: Wann tauchte er wie-
fünften und letzten Schützen. der auf?
JENS WITTE
SPIEGEL: Herr Kimmich, Sie wohnen mit- SPIEGEL: Warum hat der FC Bayern so SPIEGEL: Trainer Niko Kovač wurde vor-
ten in einem Ausgehviertel in München, schwankend gespielt? geworfen, er habe die Mannschaft nicht
am Gärtnerplatz. Ist das Leben dort für Kimmich: Wir haben zwischenzeitlich im Griff.
einen Spieler des FC Bayern nicht zu an- immer mal wieder unser Selbstvertrauen Kimmich: Steht der FC Bayern nicht auf
strengend? verloren. Wir gerieten in einen Strudel. Platz eins, wird immer alles hinterfragt.
Kimmich: Nein, überhaupt nicht. In Mün- Wir merkten, dass wir Spiele verlieren Das ist einfach so. Es wurde kritisiert, dass
chen halten die Leute eine natürliche Dis- können, obwohl wir insgesamt besser wa- wir nicht so dominant wie in den Jahren
tanz. Ich bewege mich daher in meinem ren. Einfach weil vorn die Tore nicht fielen, zuvor waren. Zusätzlich gelangten zeitwei-
Viertel wie jeder andere auch. Ich gehe oder weil wir hinten Fehler machten. Der se interne Dinge nach außen. Das hat die
einkaufen, in Restaurants, in Cafés. Ich Respekt der Gegner war weniger gewor- Sache noch befeuert. So war es schwierig,
genieße das. den. In den Jahren zuvor hatte ich immer Ruhe reinzubekommen.
SPIEGEL: Wie fahren Sie zur Arbeit? das Gefühl, dass sich in der Bundesliga ge- SPIEGEL: Viele Spieler behaupten, sie wür-
Kimmich: Früher habe ich das Auto ge- gen uns eigentlich nur ganz wenige Teams den nicht mitbekommen, was öffentlich
nommen, inzwischen setze ich mich ab wirklich was ausgerechnet haben. Die über sie gesagt und geschrieben wird.
und zu aufs Rad. Die Isar Kimmich: Da habe ich mei-
entlang, den Giesinger Berg ne Zweifel (lacht). Jeder hat
hoch, dann bin ich fast schon doch soziale Kontakte. Da
am Trainingsgelände an der erhält man ja auch ein Feed-
Säbener Straße. back. Man kann sich nicht
SPIEGEL: Dort steigen Sie abschotten.
vom Rad ab und tauchen in SPIEGEL: Lesen Sie die Be-
die Welt des FC Bayern ein. notungen im »Kicker«, in der
Wie kommen Sie mit dem »Bild«-Zeitung?
Erwartungsdruck klar, der bei Kimmich: Ich gucke mir das
diesem Verein herrscht? hin und wieder an, um mit de-
Kimmich: Man wächst da ren Bewertungen meinen per-
rein. Es ist speziell hier. Ein- sönlichen Eindruck von mei-
LUKAS BARTH-TUTTAS / EPA-EFE / REX
SPIEGEL: Diese Saison hatten die Exper- erziele selbst Treffer. Ich trage direkt dazu Kimmich: Mein ehemaliger Coach in der
ten viel zu bemängeln am Spiel des FC bei, ob ein Spiel mit einem Erfolg oder ei- Jugendmannschaft des VfB Stuttgart, Tho-
Bayern. Die allzu defensive taktische Aus- nem Misserfolg endet. Das ist eine ganz mas Schneider, der heute zum Stab der
richtung in vielen Spielen. Arrivierte Spie- neue Rolle, eine viel größere Verantwortung. Nationalmannschaft gehört, sagte mir:
ler wie Stürmer Robert Lewandowski blie- SPIEGEL: Sie gestikulieren auf dem Spiel- Josh, du verschwendest deine Kraft. Du
ben hinter ihren Möglichkeiten. feld, treiben die Kollegen an, mit gerade lässt dich zu schnell runterziehen. Du
Kimmich: Das ist ja das Schöne am Fuß- mal 24 Jahren. Woher kommt der Mut, musst die negative in positive Energie um-
ball, dass alle Experten sind. Mein Papa sich so zu exponieren? wandeln. Als ich anfangs noch allein in
spricht auch manchmal so, als hätte er Kimmich: Im Fußball reicht es nicht, wenn München gelebt habe, habe ich negative
den allergrößten Fußballverstand von man es allein versucht. Fußball ist ein Erlebnisse oft tagelang analysiert. Meine
allen (lacht) . Wenn ich eine Torchance Teamsport. Alle müssen den Sieg wollen. Gedanken haben sich im Kreis gedreht,
vergeben habe, sagt er: ich habe keinen Abstand
»Joshua, den hätte ich ge- bekommen. Inzwischen
macht.« klappt es immer besser.
SPIEGEL: Sie wollen damit SPIEGEL: Wie schalten Sie
andeuten, die Kritik sei ab?
meist unberechtigt? Kimmich: Es kommt schon
Kimmich: Nein. Aber es vor, dass ich nach Spie-
ist manchmal schon so, len mit einer ordentli-
dass die Leute nicht wissen chen Krawatte nach Hause
können, wie die Vorgaben komme. Aber mit meiner
für uns Spieler sind. Von Freundin rede ich kaum
Robert Lewandowski wer- über Fußball. Sie hat ein
den allgemein Tore erwar- gutes Gespür, wie sie mich
tet. Aber: Es gibt Spiele, auf andere Gedanken brin-
in denen der Trainer sagt, gen kann. An freien Tagen
Robert, heute musst du unternehmen wir viel, fah-
defensiv mehr machen. ren in die Natur, die Berge.
Dann macht er eben mal Da wird der Kopf wieder
kein Tor. Diesen Plan kennt frei.
draußen keiner. SPIEGEL: Wie lange haben
SPIEGEL: Sie spielen die Sie gebraucht, um die ver-
vierte Saison in München, korkste Weltmeisterschaft
gelten inzwischen als Füh- in Russland zu verarbeiten?
rungsspieler. Wie haben Sie Kimmich: Das war schwie-
das so schnell geschafft? rig. Das war ein Extrem-
Kimmich: Das ist ein Pro- ereignis. Wir sind nicht
zess. Als ich als Zweitliga- durch Pech ausgeschieden,
spieler von RB Leipzig sondern wir waren richtig
nach München gekommen schlecht. Das hat mich lan-
bin, neben den Kollegen ge beschäftigt.
in der Kabine saß, die SPIEGEL: Was lief schief in
Weltmeister waren, die die Russland?
Champions League gewon- Kimmich: Wir sind mit
MATTHIAS ZIEGLER / DER SPIEGEL
men, Serge war noch gar nicht im Kader. vestoren aus China und Arabien, die ihre
Das muss man akzeptieren. Der Bundes- Klubs mit Milliarden aufpumpen und alles
trainer muss das große Ganze im Blick aus dem Gleichgewicht bringen?
haben. Und eines darf man nicht ver- Kimmich: Kann ich verstehen. Der Markt
gessen: Joachim Löw hat in den vergan- wird mit Geld geflutet, damit ein paar Ver-
95
Sport
Mutter. Sein Vater stellt selbst gepressten sie hörte, wie es dazu gekommen sein soll-
Apfelsaft auf den Tisch. Dann beginnt Ole te, notierte sie: »dringende Empfehlung
B. über seine Zeit im Nachwuchszentrum einer rechtsmedizinischen Vorstellung«.
der SG Flensburg-Handewitt und den Die Eltern von Ole B. verzichteten auf
Abend des 17. März 2016 zu erzählen. eine Strafanzeige, weil sie mit den Eltern
Den Abend, der sein Leben in eine andere eines der Täter befreundet waren. Sie er-
Richtung lenkte. Den Abend, über den er fuhren, dass er vorher selbst Opfer der
lange nicht reden konnte. »Wenn ich da- Ex-Handballer Ole B. Zange geworden war. »Es war ein Fehler,
mit konfrontiert werde«, sagt er, »kom- »Ich fühlte mich wehrlos« nicht die Polizei gerufen zu haben«, sagt
men aus der Düsternis wieder diese Ge- die Mutter heute. »Wir haben auf diese
danken.« Freundschaft Rücksicht genommen, ohne
Ole B. war schon mit 14 Jahren ein Ass die Brustwarzen um. Die Zange liege in an unseren Sohn zu denken.«
auf Linksaußen. Er spielte in der Landes- einer Schatulle. Die Ältesten würden sie Ole B. stammt aus einer handballbegeis-
auswahl in Schleswig-Holstein, der Deut- wie eine Reliquie aufbewahren. terten Familie. Seine Mutter war selbst am-
sche Handballbund interessierte sich für Das radikale Ritual wurde stets abends bitionierte Handballerin, seine Tante ar-
ihn. 16 Tore warf er einmal in einer Partie. durchgeführt, wenn kein Trainer oder Be- beitet für einen Handballbundesligisten,
Die Akademie der SG Flensburg-Han- treuer mehr anwesend war. »Mehrere seine Schwester spielte in der Landesaus-
dewitt ist ein Sehnsuchtsort für Handball- Male im Monat kam das vor«, erinnert wahl. Für seine Eltern erschien das Inter-
talente in ganz Deutschland. Im Foyer hän- sich Ole B. Einige Jungs hätten mit den nat der perfekte Ort für ihren Sohn.
gen die Bilder der Vereinslegenden: Tor- Schmerzen geprahlt, die sie dabei erlitten Sie forderten die Akademieleitung um-
wart Jan Holpert mit der Meisterschale, hatten. »Die grinsten dann und sagten: gehend auf, die Sache aufzuklären. Mit
Linksaußen Lars Christiansen im Wurf, ›Meine Nippel sind jetzt ganz schwarz.‹« diesem Schritt glaubten sie, dem Ritual ein
Trainer Ljubomir Vranjes nach dem Cham- Kurz vor Weihnachten 2015 war er erst- für alle Mal ein Ende zu bereiten.
pions-League-Sieg 2014. mals an der Reihe, es war wohl nur ein Wenig später berichtete die Leitung in ei-
Als Ole B. einzog, war der helle Bau Test. »Da haben sie noch nicht richtig zu- nem Rundbrief an alle Eltern über »die Zan-
mit der schlichten Architektur gerade ein- gelangt«, erzählt Ole. »Ich habe gedroht: ge«: »Dieses Ritual durchlaufen alle Neuen
geweiht worden. Die geladene Prominenz Wenn ihr das bei mir macht, dann gehe einmal, und besonders in der Anfangsphase
rühmte die Infrastruktur des 2,2 Millionen ich richtig ab.« Da hätten sie von ihm ab- wurde es wohl auch mal wiederholt einge-
Euro teuren Komplexes, die Multifunk- gelassen. Um sich vor der Zange zu schüt- setzt für Jungs, die sich ›so richtig daneben-
benommen haben‹.« Fast jeder, so hätten nicht kracht, ist es nicht Handball«, Die Körperverletzung zeige »nach wie vor
die Gespräche ergeben, habe dieses Ritual schreibt Ex-Profi Stefan Kretzschmar in ihre vor allem emotionale Wirkung«, be-
»durchlaufen«. Jedoch sei eine Grenze seinem Buch. Er werde nach der Karriere gründeten sie ihre Kündigung. Sie suchten
»deutlich überschritten« worden, das Ritual die Schmerzen vermissen, sagte Oliver ärztliche Hilfe. »Posttraumatisches Belas-
sei »sofort einzustellen«. Roggisch, Teammanager der deutschen tungssyndrom« lautete der Befund. »Das
Suspendiert wurde keiner der Täter, wo- Nationalmannschaft, als er noch Profi war. war so massiv, dass wir das nicht allein in
möglich weil die B-Jugend gerade um die Der Kölner Sportpsychiater Valentin den Griff bekamen«, sagt die Mutter. Fast
deutsche Meisterschaft spielte. Ole B. kann Markser war selbst Handballbundesliga- ein Jahr sei ihr Sohn in Therapie gewesen.
sich nicht erinnern, dass überhaupt Strafen spieler. »Die meisten Rituale sind harmlos Das Ritual gebe es nicht mehr, betont
ausgesprochen wurden. Auf SPIEGEL-An- und dienen der Aufnahme der jungen Spie- Volquardsen heute, ihnen seien »keine wei-
frage sagt der Geschäftsführer der Akade- ler in die Mannschaft. Aber jeder neue teren Vorfälle bekannt geworden«. Es sei
mie, Lewe Volquardsen, es seien »pädago- Spieler ist auch ein Konkurrent«, sagt er. eine Sportpsychologin eingestellt worden.
gische Maßnahmen« ergriffen worden: Zur Bei den Ritualen gehe es »um die Demons- »Wir glauben, dass wir stärker gewapp-
Strafe habe man den Jugendlichen Küchen- tration der Macht der älteren und etablier- net sind«, sagt Döring. Die Zange sei sei-
dienst, Stubendienst, Außendienst und ten und um die Unterwerfung der neuen nerzeit »einkassiert« und dann »vernich-
Kochen verordnet, eine »Riesenpalette«. jüngeren Spieler«. Die Rituale dienten tet« worden. »Aber wir wären ein bisschen
In dem Elternbrief gibt es noch einen dazu, »die eigene Angst und Schwäche auf blauäugig zu glauben, dass das nicht wie-
Passus. Die Akademie wolle »auch der Tat- Kosten der anderen zu bekämpfen und der stattfinden wird.«
sache Rechnung tragen, dass wir bei den das Selbstwertgefühl zu stabilisieren«. Ver- Ole B. hat sich inzwischen stabilisiert.
Jungs ein großes Bedürfnis nach Ritualen letzungen wie in Flensburg seien ihm aus Seine Schulnoten, die sich nach dem Über-
sehen« und diese, sofern gewaltfrei, auch dem Handball nicht bekannt. griff dramatisch verschlechtert hatten, sind
»positive Effekte aufweisen können«. Bei der Aufarbeitung der Übergriffe in wieder besser geworden. Vor Kurzem hat
Ludger Jungnitz ist einer der Autoren der Flensburger Akademie spielte das see- er sein Abitur geschrieben. Diesen Zeit-
der Studie »Gewalt gegen Männer«. Der lische Leid von Ole B. offenbar keine wich- punkt wollte er abwarten, bevor er seine
Soziologe glaubt, der harte Körpereinsatz tige Rolle. Irgendwann forderte ihn Aka- Geschichte öffentlich macht.
der Handballer bedinge geradezu schmerz- demiedirektor Michael Döring auf, er solle Den Traum, Handballprofi zu werden,
volle Initiationsrituale. »Wenn Härte und sich bemühen, sich wieder in die Gruppe hat Ole B. aufgegeben. Er schwimmt jetzt
die Unterdrückung des Schmerzes ein zu integrieren; er sei nun der »Buhmann«, bei der DLRG. Mit Handball kommt er
Kern des Handballs sind, dann muss man, weil er das Ritual zum Thema gemacht nur noch zufällig in Berührung – wie im
auch wenn es zynisch klingt, diese Dinge habe. So zumindest erinnert sich Ole B. vergangenen Herbst, als er im Urlaub alte
vorher einüben. Schmerzen auszuhalten, Das stimme so nicht, erwidert Döring. Kumpel traf. Sie hätten ihm erzählt, was
sich in Hierarchien einzuordnen oder un- Aber sie hätten in der Tat befürchtet, »dass sie von einigen Jungen aus der Flensburger
terzuordnen, so funktioniert leider immer es zu einer Isolierung von Ole in der Grup- Akademie gehört hätten: Das Ritual sei
noch die Sozialisation von Männlichkeit.« pe kommen könnte«. dort wieder durchgeführt worden.
Viele Handballer sind stolz auf das Neun Monate nach dem Vorfall holten Erik Eggers
Image als beinharte Athleten. »Wenn es die Eltern ihren Sohn zurück nach Hause.
97
Wissenschaft+Technik
»Es ist Zeit, auf den Mond zurückzukehren. Diesmal, um zu bleiben.« ‣ S. 100
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Migration auf Facebook Werbetreibenden ermöglicht, Zielgrup-
pen zu identifizieren. Beispielsweise:
Wenn eine Naturkatastrophe eine Menschen aus Puerto Rico über 35 in
Region heimsucht, bleibt Betroffenen oft Florida. Die Daten, die sie erhielten,
nichts anderes übrig, als zu flüchten. Wie stimmten ungefähr mit den offiziellen
groß die Gruppe der Migranten ist, lässt Zahlen überein: Mehr als 150 000 Men- Menschen sterben im Jahr weltweit
sich jedoch oft erst Monate später ab- schen sind demnach geflohen. Forscher- durch Würfelquallen wie die Seewespe,
schätzen. Drei Forscher, darunter Emilio kollegen kritisieren, dass Facebook- vielleicht mehr. Diese Wesen verfügen
Zagheni vom Max-Planck-Institut für Daten unzuverlässig und intransparent über eines der stärksten Gifte des Tier-
demografische Forschung in Rostock, seien. Monica Alexander, eine der Co- reichs. Eine flüchtige Berührung schon
wollen jetzt eine Möglichkeit gefunden Autorinnen der Studie, verteidigt die bereitet grausame Schmerzen – und
haben, Migrationsströme deutlich schnel- Methode als gute Ergänzung zu klassi- kann zu Herzversagen führen. Austra-
ler als bislang abzubilden: mit Facebook. schen Erhebungen. »Trotz all der Probleme lische Forscher haben mithilfe der Gen-
Die Forscher wollten wissen, wie viele bekommen wir Daten, die demografische schere Crispr/Cas9 möglicherweise
Puerto Ricaner im Jahr 2017 vor dem Veränderungen verfolgbar machen.« In ein Gegengift gefunden und es erfolg-
Hurrikan »Maria« auf das US-amerikani- Krisenzeiten, so die Autoren, seien »digi- reich an Mäusen getestet. Ob es auch
sche Festland flüchteten. Sie nutzten tale Brotkrumen« besser als nichts. RED beim Menschen funktioniert, ist unklar.
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Sucht
Kommentar
Mehr Druck auf Impfmuffel, das ist die Stoßrichtung des Gesetz- kiert werden, das zeigt eine in Fachkreisen viel beachtete Studie
entwurfs von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU). des amerikanischen Sabin Vaccine Institute aus dem Jahr 2018.
Eltern, die ihre schulpflichtigen Kinder nicht impfen lassen, müss- Die Analyse von 53 Ländern ergab, dass relativ laxe Länder (wie
ten dann bis zu 2500 Euro Strafe zahlen. Auch Kindertagesstätten Schweden) teilweise sogar besser abschneiden als Länder mit Impf-
könnten zur Kasse gebeten werden, wenn sie nicht geimpfte pflicht und Impfstatuserfassung (wie Italien). Wie kann das sein?
Kinder zulassen. Das klingt entschlossen, und es ist vernünftig. Der Schlüssel zum Erfolg liegt, das deutet die Studie an, in der
Aber Gesetze allein reichen leider nicht. Art, wie Impfungen organisiert werden: transparent, systematisch
Das Zauberwort lautet: Herdenimmunität. Laut den aktuellen überwacht, ohne großen Aufwand für die Bevölkerung. So könnte
Zahlen des Robert Koch-Instituts waren im Jahr 2017 in Deutsch- es wirksam sein, säumige Familien einfach per Mail an den Impf-
land rund 97 Prozent der Schulanfänger einmal gegen Masern termin zu erinnern. Kinderärzte fordern daher ein nationales
geimpft, aber nur rund 93 Prozent zweimal. Die beste Schutzwir- Impfregister. Vor allem aber mangelt es noch an einem der wich-
kung haben jedoch diejenigen, die zweimal gepikst worden sind. tigsten Impfstoffe: Aufklärung. 45 Prozent der Deutschen
Und nur wenn das bei 95 Prozent der Menschen in der Welt so ist, fühlen sich bei dem Thema unzureichend informiert, das ergab
kann sich die Krankheit nicht mehr ausbreiten; irgendwann, so eine Umfrage der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung.
die Hoffnung, wären die Masern dann ausgerottet. Um dies hin- Die notwendigen Nachbesserungen vorzunehmen kostet aller-
zubekommen, müssten Gesetze von anderen Maßnahmen flan- dings Zeit – ein Gesetzentwurf ist fix geschrieben. Yannick Ramsel
E
ine geheimnisvolle Mitteilung er- nächst einen regelmäßigen Frachtverkehr nie Licht gefallen. Hier herrschen immerzu
schien Ende April beim Kurznach- zum Erdtrabanten aufbauen. Das Mond- Minustemperaturen, tiefer als minus 180
richtendienst Twitter. Urheber landemodul »Blue Moon«, das Bezos’ Fir- Grad Celsius.
war Blue Origin, die ehrgeizige ma seit drei Jahren entwickelt, soll in der Und deswegen ist es hier, in der hyper-
und stets verschwiegene Raumfahrtfirma Lage sein, pro Flug Nutzlasten von bis zu kalten ewigen Finsternis, zu einem faszi-
im Privatbesitz von Amazon-Gründer Jeff 6,5 Tonnen zu seinem rund 400 000 Kilo- nierenden Phänomen gekommen: Unten
Bezos. Das Unternehmen sandte einen meter entfernten Ziel zu bringen. im Krater liegt vermutlich Eis, und
Tweet in die Welt, der ein hinreißendes Seine langfristigen Ziele sind wohl noch zwar viel davon. Der Mond ist eben kei-
Foto eines Segelschiffs im Eismeer zeigte. ehrgeiziger: Nach und nach sollen Roboter neswegs staubtrocken, wie Forscher lange
Darüber die Datumsangabe: »9. 5. 2019«. dort eine Station errichten, in der Men- dachten.
Sonst nichts. schen permanent leben können, Forscher, Das Wasser in den vielen Kratern am
Die kryptische Botschaft machte in den Techniker, auch Touristen. Nord- und Südpol stammt entweder aus
sozialen Netzwerken im Nu Furore. Denn Wann seine Mondrakete erstmals fliegen wasserhaltigen Asteroiden und Kometen,
die Aufnahme zeigte die »Endurance«, das soll, verriet Bezos nicht. Die ersten Men- die hier über die Ewigkeiten hinweg ein-
Schiff, mit dem der legendäre Entdecker schen will er aber 2024 auf den Mond brin- geschlagen sind. Oder es ist auf dem Mond
Ernest Shackleton vor mehr als 100 Jahren gen. Und der erste Test seines neuen Rake- entstanden, als Protonen aus dem Sonnen-
auf Antarktis-Expedition ging. tentriebwerks steht diesen Sommer an. wind und die sauerstoffreiche Oberfläche
Das Schiff wurde bekanntlich zer- Bezos schwärmte, wie schon öfter, vom miteinander in Wechselwirkung traten.
quetscht im Packeis, es sank, Shackleton Shackleton-Krater als Landeplatz. Der Auf jeden Fall konnte das Wasser nie ir-
führte statt der geplanten Expedition eine Krater liegt am Südpol des Mondes. Seine gendwohin. Es steckt in der sogenannten
dramatische Rettungsmission an und ern- Kältefalle, bereit für künftige Mondmen-
tete dafür bleibenden Ruhm. Seit 1994 ist schen, die es für ihren Eigenkonsum
auch ein Krater direkt am Südpol des Mon- Am Kraterrand scheint die schmelzen. Sie können es auch per Elek-
des nach Shackleton benannt – er gilt For- Sonne fast permanent, trolyse aufspalten in Wasserstoff und Sau-
schern schon lange als idealer Standort für erstoff und daraus Atemluft sowie Rake-
eine Mondkolonie. bei bis zu minus 60 Grad tentreibstoff herstellen – für den Rückflug
Somit lag der Verdacht in der Luft: Am ist es relativ behaglich. zur Erde oder für eine weitere Mission,
9. Mai würde Blue Origin bekannt geben, zum Beispiel gen Mars.
dass die Firma zum Mond fliegen werde. All das mag irre klingen, aber Unsinn
Und genau so kam es. In Washington, Form ist fast perfekt schüsselförmig, er hat ist es nicht. Die bemannte Raumfahrt, bis-
um 16 Uhr Ortszeit, stellte Bezos am Don- einen Durchmesser von 21 Kilometern und her die exklusive Domäne staatlicher Ak-
nerstag im Beisein eines alten »Apollo 17«- ist rund vier Kilometer tief. Entstanden ist teure, steht unmittelbar vor einer Zeiten-
Astronauten staunenswerte Pläne vor. Be- er, als vor rund 3,6 Milliarden Jahren ein wende. Private Firmen wie Bezos’ Blue
zos, trotz milliardenteurer Scheidung der großer Gesteinsbrocken einschlug. Der Origin, Elon Musks SpaceX oder Virgin
reichste Mensch der Welt, will zum Erd- Schauplatz künftiger Mondmissionen ist Galactic von Richard Branson sind dabei,
trabanten: »Es ist Zeit, auf den Mond zu- damit etwa so alt wie das Leben auf der neue Wege ins All zu finden und damit
rückzukehren«, sagte er. »Diesmal, um zu Erde. auch dessen Nutzung durch den Menschen
bleiben.« Den Krater zeichnen ein paar Eigen- zu revolutionieren.
Bezos will offenbar den Grundstein le- schaften aus, die ihn zur idealen mensch- In den vergangenen Jahrzehnten haben
gen für nichts Geringeres als eine dauerhaf- lichen Heimstatt fern der Erde machen. wenige Staaten für unvorstellbar viele
te menschliche Besiedelung des Erdtraban- Am Kraterrand scheint die Sonne fast per- Milliarden an Steuergeldern weniger als
ten. Mehr als 45 Jahre sind vergangen seit manent. Über Solarmodule könnten sich 600 Menschen in den Weltraum entsandt.
der letzten Stippvisite von insgesamt nur Siedler oder Roboter hier beinahe ohne Das erklärte Ziel der jetzt angetretenen
zwölf US-Astronauten auf dem Mond. Seit- Unterbrechung mit elektrischer Energie Raumfahrtfirmen im Besitz von Multimil-
her haben ihn Sonden und Satelliten be- versorgen. liardären ist es, mehr Erdlinge sicher und
sucht, doch niemand aus Fleisch und Blut. Die Temperaturen in dieser Gegend lie- preiswert ins All zu bringen und dort neu-
Jetzt will Multimilliardär Bezos ein neues gen zwischen minus 40 und minus 60 artige Branchen und bessere Perspektiven
Kapitel in der Geschichte der bemannten Grad, sie sind damit relativ behaglich und für die Menschheit entstehen zu lassen.
Raumfahrt aufschlagen – und den bisher konstant, verglichen mit der sonst auf dem Bezos vergleicht die kommende Epoche
so nahen und doch so fernen Mond quasi Mond beobachteten Schwankungsbreite gern mit der Frühzeit des Internets. So wie
zum achten Kontinent der Erde machen. von minus 150 bis plus 100 Grad Celsius. sich in diesem vor Jahren plötzlich Aber-
Der Amazon-Gründer möchte mit ei- In die Tiefe des Kraters aber ist in all tausende kreative Start-ups tummelten und
nem vollautomatischen Raumschiff zu- den Jahrmilliarden seiner Existenz noch die alte Welt umstießen, so könnte auch
QUELLE: BLUEORIGIN.COM
Künftiges Ziel Shackleton-Krater, geplante Landefähre »Blue Moon« (Simulation): »Auf den Mond zurückkehren, um zu bleiben«
101
Technik
»Wenn man jemandem im fortgeschrit- März auch die letzten beiden Studien zu
TH E AU THOR( S) ( 2019) , PUBLISHED BY OXFORD UN IVERSIT Y PRESS ON BEHALF OF THE GUARAN TORS OF »BRAIN «
Protein, ebenfalls ein typisches Merkmal Verborgener Gedächtniskiller?
der Alzheimerkrankheit, blieb erfolglos
(siehe Abbildung). Was war da los? Litt
die Frau an einer anderen Form der De-
menz? Hatte eine Minderdurchblutung ihr
Gehirn geschädigt? Konnte ein Vitamin-
mangel oder eine Infektionskrankheit
schuld sein? Das Rätselraten begann –
mehr als 20 Demenzformen sind im inter-
nationalen medizinischen Klassifikations-
system beschrieben.
Doch die Wahrheit sollte erst nach dem
Tod der Patientin ans Licht kommen. Als Quelle:
»Brain – A Journal
die Mediziner das Gehirn sezierten, stell- of Neurology«
ten sie eine gänzlich neue, im Klassifika-
tionssystem bislang fehlende Diagnose:
»Limbic-predominant age-related TDP-43 1 Mit der Positronenemissions- 2 Die Aufnahme einer 86-jährigen Frau mit Alzheimer-
encephalopathy«, kurz: Late. Denn statt tomografie (PET) wurde im Gehirn symptomen blieb ohne pathologischen Befund. Nach ihrem
auf Beta-Amyloid waren die Ärzte in be- eines 91-jährigen Demenzkranken Tod fanden sich bei der Obduktion im Gehirn Ansammlungen
stimmten Hirnregionen auf TDP-43 gesto- das für die Alzheimerkrankheit des Proteins TDP-43, das offenbar mit einer anderen Form
ßen, ein Protein, das sich typischerweise typische Eiweißbruchstück von Altersdemenz (Late-Demenz) einhergeht. Bei der spä-
im Gehirn hochbetagter Menschen ab- Beta-Amyloid in großer Menge teren Obduktion des 91-jährigen Demenzkranken fand sich
nachgewiesen (rot gefärbte Bereiche). im Gehirn neben Beta-Amyloid ebenfalls TDP-43.
lagert und dort – darauf deutet zumindest
ein statistischer Zusammenhang hin –
ganz ähnliche Symptome auslösen kann
wie Alzheimer. forum, ergebe eine Diagnose wie die Late- denen sich die Auswirkungen von TDP-43
Jetzt fordert ein internationales Team Demenz, die man erst nach dem Tod per untersuchen lassen, um auch die Grund-
von 35 Wissenschaftlern in der renommier- Obduktion stellen könne, weil es keine lagenforschung auf diesem Gebiet voran-
ten Fachzeitschrift »Brain«, das bereits vor Biomarker und keine bildgebenden Ver- zutreiben.
mehr als einer Dekade entdeckte TDP-43 fahren gebe, um sie vorher nachzuweisen? »Wir brauchen die besten Wissenschaft-
endlich ernst zu nehmen. Bei etwa 15 bis Zudem ist noch weitgehend unklar, über ler und die besten Ressourcen, um uns mit
20 Prozent der alten Patienten mit Alzhei- welche Mechanismen genau das TDP-43- der Komplexität des alternden Gehirns
mersymptomen, errechneten die Forscher, Protein überhaupt zu einer Demenz füh- auseinanderzusetzen«, so Peter Nelson
liege in Wahrheit eine Late-Demenz vor – ren soll. Im Vergleich zur Alzheimerfor- von der University of Kentucky, der Erst-
zumindest unter anderem. schung steht die Late-Demenzforschung autor des »Brain«-Artikels.
Denn der Demenz vieler Hochbetagter noch ganz am Anfang. Demenz, so sinniert Nelson, sei viel-
liegt wahrscheinlich oft ein ganzes Puzzle Bei aller Kritik könnte das Vorhaben leicht ein bisschen wie Krebs. »Es gibt vie-
an Gehirnveränderungen zugrunde. So wis- der 35 Wissenschaftler doch der Demenz- le verschiedene Untertypen. Deshalb müs-
sen die Forscher inzwischen, dass bei Alz- forschung wieder Leben einhauchen. Denn sen wir viele verschiedene Therapien fin-
heimerpatienten, die zusätzlich TDP-43 im den Medizinern ist die Hoffnung auf eine den, maßgeschneidert für den einzelnen
Gehirn haben, die kognitiven Fähigkeiten wirksame Alzheimertherapie in naher Patienten.« Veronika Hackenbroch
besonders schnell nachlassen. Zukunft abhandengekommen, seitdem im
103
Wissenschaft
Aufgetaucht
Tiere Der Omurawal ist elf Meter lang,
wiegt 20 Tonnen und lebt küstennah – wie konnte
die Wissenschaft ihn so lange übersehen?
Jetzt hat ein US-Biologe das wundersame Geschöpf erforscht.
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BIOSPHOTO / WILDLIFE
Tropenbewohner Omurawal: Bei Zusammenkünften schallen dumpfe Gesänge durchs Wasser
im Flugzeug, sollte es zur nächsten Begeg- Das änderte sich erst, als Cerchio sein Wenig später bestätigte ein DNA-Test
nung kommen. Es war auf dem Rückflug Forschungsprojekt auf das Gebiet rund um den Verdacht. 2015 veröffentlichte Cer-
in die USA, als Cerchio mit seinem Sitz- das idyllische Inselchen Nosy Iranja, etwas chio seinen Fund, die ersten Filmaufnah-
nachbarn ins Gespräch kam. Begeistert weiter südwestlich, verlagerte. Es ist an men von Omurawalen gingen um die
erzählte der vom Whalewatching, und er der Kante des Festlandsockels gelegen, Welt. Die Berichterstattung bescherte Cer-
zeigte Fotos. Verblüfft erkannte der For- Cerchio wollte von dort aus Mikrofone in chio nicht nur viel Aufmerksamkeit, son-
scher, dass einer der Wale, die der Tourist die Tiefe absenken, um die Gesänge der dern auch Post aus Übersee: Australien,
abgelichtet hatte, den beiden Tieren vor Blauwale aufzunehmen. Es zeigte sich, Sri Lanka, Ägypten – von überall melde-
Nosy Be verdächtig ähnlich sah. dass er mitten in den Lebensraum der ten sich Leute, die diese Walart gesichtet
Gleich nach der Ankunft rief Cerchio vermeintlichen Brydewale gezogen war. haben wollten. Und als Cerchio die Zu-
aufgeregt sein Team an, um es zu dem Ort Von nun an konnten die Wissenschaftler schriften inspizierte, stellte er fest: oftmals
zu schicken, den die Whalewatcher fre- den Tieren fast täglich bei der Krillernte zu Recht.
quentiert hatten. Da erlebten die Forscher zusehen. Irgendwann kam das Boot ihnen Die DNA-Analyse offenbart, dass die
ihre nächste Überraschung: Einer der so nahe, dass die Forscher eine Videoka- Omurawale eine rund acht Millionen Jah-
Bootsführer, der sie seit Jahren hinaus aufs mera ins Wasser halten konnten. Als Cer- re lange Evolutionsgeschichte von den grö-
Meer gefahren hatte, kannte die geheim- chio die Aufnahmen sah, war ihm sofort ßeren Bryde- und Seiwalen trennt. Bryde-
nisvollen Wale. »Er hat nur nie etwas da- klar: Nein, dies waren keine Brydewale. und Omurawal sind sich genetisch also
von erzählt. Wir haben immer über Del- Den Ausschlag gab ein Exemplar, das nicht ähnlicher als Schimpanse und
fine gesprochen«, sagt Cerchio. sich genüsslich vor der Kamera wälzte. Mensch.
Tatsächlich sichteten die Forscher nun Erst rückte es die eine, dann die andere Seine Videos hatten Cerchio unvermit-
weitere Wale, auch drei neue Gewebepro- Flanke ins Bild – fast, als wollte es seine telt zum führenden Experten für Omura-
ben wanderten ins Gefrierfach. Doch die asymmetrische Färbung zur Schau stellen: wale gemacht. Umgehend startete er ein
Begegnungen blieben sporadisch, noch im- links dunkel, rechts hell, genau wie es die Forschungsprojekt, das die Lebensweise
mer glaubten die Wissenschaftler, sie hät- Entdecker des Omurawals anhand eines der kaum bekannten Spezies ergründen
ten es mit Brydewalen zu tun. Kadavers beschrieben hatten. sollte. Noch liegt vieles im Dunkeln. Doch
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Erfinder Fassbaender
mit Carbonkettenblatt,
künstliche Spinnensei-
de, BMW-i8-Montage
»Stärker als Stahl, zäher
als Kevlar«
sondern zuerst die tragenden Struktur- urteilt Airbus-Ingenieur Peter Sander. Und zersetzen. Das wäre zweifellos ein ökolo-
elemente des Fahrzeugs. Maik Ziegler (inzwischen bei Hyundai) gischer Triumph, wenn auch nur ein Etap-
Als Blechersatz für die Außenhaut des schrieb als Lkw-Entwickler bei Daimler pensieg auf dem Weg zum müllfreien Pla-
Fahrzeugs, so Kureks Gedanke, sei der an AMC: »Ich muss Ihnen anerkennend neten. Die Kunststoffsohle bliebe nach der
teure Kohlefaserwerkstoff verschwendet. mitteilen, dass Sie diese Technologie mit Kompostierung übrig.
Verfüge das Auto dagegen über ein klug einfachen Mitteln zum Optimum getrie- Vor allem wäre das grüne Gewissen mit
konstruiertes Skelett aus in Harz versie- ben haben.« Ökosneakers ein kostspieliger Luxus. Der
geltem Carbongarn, könne dieses auch die Kurek hofft nun auf einen »Wandel in Spinnenschuh, schätzt Römer, wäre im
Crashsicherheit garantieren. Die Außen- kleinen Schritten«, der an den Knoten- Moment spürbar teurer als das Topmodell
hülle müsste dann mehr oder weniger nur punkten der Karosseriestruktur beginnt im Programm. Adidas ist bisher über einen
noch den Regen abhalten. und am Ende zu einer radikalen Verände- Prototyp nicht hinausgekommen.
Die technische Lösung zu Kureks Kon- rung im Fahrzeugbau führen kann. Auch Ob Kohlefaser oder Seidengarn, solche
zept lieferte der Sindelfinger Ingenieur Naturfasern wie die Spinnenseide sieht er Materialien schlau und sparsam an den
Peter Fassbaender, ein schrulliger Einzel- als mögliche Kandidaten, wenngleich die Stellen einzusetzen, an denen sie ihre Vor-
gänger des Konstruktionswesens, dessen Hürden hier noch größer sind. Anders als teile ausspielen können, wird der Weg in
Vater schon bei Daimler diente. Fassbaen- bei Kohle- und Glasfasern gebe es noch die Zukunft sein. Als Gegenentwurf zur
der ersann eine Methode, Carbon- und an- zu wenig gesichertes Wissen über die Fes- Carbonmaterialschlacht von BMW zeich-
dere Fasern über ein Werkzeug zu wickeln, tigkeit dieser Materialien. net Konstrukteur Kurek ein Auto von mor-
sodass ausschließlich die schlanke Struktur Der Trumpf des Spinnenfadens wird sei- gen mit einem schlanken, aber robusten
entsteht, die für die Festigkeit des Bauteils ne Elastizität sein, schätzen die Airbus- Knochengerüst aus Faserwerkstoff, um-
nötig ist. Anders als bei der sonst üblichen Konstrukteure. Er könnte zum Beispiel geben von einer dünnen, günstigen Kunst-
Verarbeitung von Fasermatten gibt es Vogeleinschläge an den Tragflächen besser stoffhaut. Ein solches Fahrzeug könnte
hier keinen Verschnitt. Mit weit geringe- abfedern als Carbonbauteile, die nach je- so leicht sein wie der VW Golf von 1974
rem Materialeinsatz erhält man die gleiche dem Malheur dieser Art ausgetauscht wer- und so crashsicher wie ein Pkw heutigen
Stabilität. den müssen. Die Zugfestigkeit der Spin- Standards.
Begonnen hatte Fassbaender als passio- nenseide hingegen ist zwar legendär, aber Die Wirklichkeit des aktuellen Fahr-
nierter Radsportler mit einem ultraleichten nicht annähernd so hoch wie die von zeugbaus spottet indes solchen Visionen.
Flaschenhalter für Rennräder. Inzwischen Kohlefasern. Deutschlands führende Autokonzerne brin-
ist sein patentiertes Konstruktionsprinzip Für die Naturmaterialien spricht auch gen derzeit die ersten Stromkolosse nach
zentraler Baustein des AMC-Angebots. ihre Umweltverträglichkeit. Amsilk hat Tesla-Rezept auf den Markt. Den vorläufi-
Die ersten Fahr- und Flugzeugkonzerne für Adidas eine Textilie für einen Turn- gen Masserekord hält der Audi e-tron 55
setzen die Technik in Form von Struktur- schuh aus der Spinnenseide hergestellt. quattro mit 2565 Kilogramm Leergewicht.
bauteilen wie Aggregateträgern und Sta- Der Stoff, beteuert Chefwissenschaftler Der Vorsprung durch Technik, Audis
bilisatoren ein. Lin Römer, sei durch Mikroorganismen ewiges Motto, kann auch in die falsche Rich-
»Das Ergebnis ist atemberaubend. Et- komplett abbaubar und würde sich in tung ausgebaut werden. Christian Wüst
was Besseres habe ich noch nicht gesehen«, einem Misthaufen binnen weniger Monate
Literatur Alltag so streng getaktet wie überwacht. Autorin malt literarisch aus, wovon es
Seltene Phänomene Die künstlichen Gehirne der allgegenwär- heute schon reale Skizzen gibt, vom thera-
tigen Roboter werden akribisch gepflegt; peutischen Klonen bis zur elektronischen
Der Zukunftsroman braucht den Zusatz Handarbeit, Fantasie und Eigensinn sind Dauerbespitzelung beispielsweise in Chi-
»düster« schon lange nicht mehr – Jules seltene Phänomene geworden. Ein Fähn- na. In ihren Themen ist diese Dystopie
Verne selig, 1905 verstorben, war wohl der lein Widerständiger aber hat sich in den also geradezu klassisch, in drei Aspekten
letzte berühmte Vertreter heiterer Science- Wäldern zusammengefunden, und eine hebt sie sich wohltuend von ihrem Genre
Fiction. Auch in dem neuen Buch der von ihnen schreibt ihren Bericht, »um ab: elegante Kürze, bissiger Humor und
Französin Marie Darrieussecq (»Schwei- Zeugnis abzulegen, in ein Heft selbstver- sprachliche Verve. ES
nerei«) sieht das Leben in der nächsten ständlich, mit einem Holzbleistift mit
Marie Darrieussecq: »Unser Leben in den
Epoche trostlos aus: Die Natur ist auf Re- Grafitmine, das gibt es noch: nichts, wo- Wäldern«. Aus dem Französischen von Frank
servate geschrumpft, der menschliche mit man online gehen könnte«. Die Heibert. Secession; 110 Seiten; 18 Euro.
Wie es ist
Sex mit dem Priester? Comedy zumindest glauben machen. Am
Ende stellte sich heraus, dass die von
Die namenlose Heldin der TV-Serie Autorin und Schauspielerin Phoebe Wal-
»Fleabag« mag viele Probleme haben, ler-Bridge erfundene und dargestellte Als ich noch studierte, habe
darunter eine tote Mutter, eine tote junge Londonerin Sex nur dafür ich mit ein paar Freunden
beste Freundin, ein schlecht laufendes nutzte, um sich über die großen Ver- Ferien mit Behinderten
Meerschweinchen-Café – Mangel an luste in ihrem Leben hinwegzutrös- gemacht. So hieß das da-
Sex gehört nicht dazu. So wollte es uns ten. Zu Beginn der zweiten Staffel, mals, heute sagt man: »Men-
die ab dem 17. Mai bei Amazon Prime schen mit Behinderungen«.
verfügbar ist, hat sie nun dem unver- Es war ein ziemlich wildes
bindlichen Sex abgeschworen. Prompt Unternehmen, das heute ganz ausge-
trifft sie auf einen umwerfend charman- schlossen wäre: etwa zehn junge Men-
ten Priester. Ist der zölibatär Lebende schen mit einer gleich großen Gruppe
ihre Chance auf Rettung – oder die größte von Kindern, die einen ohne Ausbil-
sexuelle Eroberung, die sie machen dung, die anderen mit Besonderheiten
BBC / AMAZON PRIME
109
Eine Heimreise
Pop Israel ist Gastgeber des Eurovision Song Contest. Hier zeigt sich, wie dicht
Weltfremdheit und Bedeutung im Showgeschäft zusammenliegen – und
warum das Land perfekt ist für dieses seltsame Schlagertreffen. Von Alexander Osang
110
Kultur
D
er Titel, mit dem Israel an Raketenangriffe seit 2014. Der Tote ist sen werden, in der sich Israel befindet. PIJ
dem diesjährigen Eurovision- Moshe Agadi aus Aschkelon. Er war und ESC. Dann aber ertönt eine Sirene
Wettbewerb teilnimmt, heißt 58 Jahre alt, ein Gemüsehändler. Schrap- und zerreißt diesen Eindruck. Die Welt-
»Home«. nelle trafen ihn in den Oberkörper und presse stürzt in den kleinen Schutzraum
Der Interpret, Kobi Marimi, singt von den Magen. in dem Haus des Mannes, der hier vor ein
Berggipfeln, die er barfuß hinaufstürmt, Im Garten des Opfers liegen Pampelmu- paar Stunden starb. Es ist die Speisekam-
er umarmt das Wasser und spürt die Sonne sen herum, die vom Baum fielen, den die mer. Reporter aus Taiwan, Oklahoma,
auf der Haut. Irgendwann weiß er: »I am Rakete gefällt hatte, als sie hier in den frü- Deutschland und Norwegen stehen mit
someone.« hen Morgenstunden einschlug. Jetzt ist es ein paar entfernten Verwandten des Toten
Kobi Marimi sagt, er habe vier verschie- später Vormittag in Aschkelon. Im Obst- sowie Nachbarn in dem kleinen Raum,
dene Lieder ausprobiert, die ihm für den garten steht Lieutenant Colonel Jonathan während es draußen knallt und donnert.
Wettstreit geschrieben wurden. »Home« Conricus, Presseoffizier der israelischen Der Boden bebt. Nach fünf Minuten wer-
passe am besten. Es beschreibe seine Reise. Armee, und zählt die Journalisten durch, den die Journalisten zum Presse-Van ge-
Er sei ein dicker Junge gewesen. Er habe die gerade aus Tel Aviv und Jerusalem an- beten, aber auf dem Weg dahin heulen
jedes Jahr mit seinen Schwestern, auch die gereist sind, um die Wirkung der Angriffe wieder die Sirenen. Man hat hier in
dick, den Eurovision-Wettbewerb gesehen. aus Gaza zu begutachten. Aschkelon 30 Sekunden, bis die Rakete
An den Sieg von Dana International, der »Wo kommt ihr her?«, fragt er. da ist, heißt es. Manchmal weniger. Das
transsexuellen Popsängerin, die 1998 für Ein Mann aus Oklahoma ist da. Eine medizinische Personal, Polizisten und Ein-
Israel antrat, könne er sich leider kaum er- Frau aus Quebec. Taiwan. Hongkong. Ja- heimische legen sich auf die Bürgersteige,
innern. Er war erst sechs Jahre alt. Erin- pan. Aus Europa sind vertreten: Deutsch- die Hände überm Kopf, die Weltpresse
nerungen habe er an den Wettbewerb von land, Frankreich, Norwegen und Spanien. rennt zurück in den Schutzraum. Dreimal
2005, als Griechenland gewann und Israel »Oklahoma«, sagt Conricus. »Hah.« geht das so.
Vierter wurde. Shiri Maimon sang damals: Der Mann zuckt mit den Schultern. Bis man einen Eindruck hat, wie ver-
»Die Stille, die bleibt«. Er habe geweint. Lieutenant Colonel Conricus erklärt, letzlich sich die Leute im Süden Israels füh-
Später habe er abgenommen. Als Netta dass bislang 550 Raketen aus Gaza ab- len müssen.
im vorigen Jahr nach ihrem Sieg mit »Toy« geschossen worden seien. Er spricht von Eine der Raketen trifft eine nahe gele-
auf dem Rabin-Platz empfangen wurde, der Sprengkraft der Rakete, die hier eine gene Zementfabrik. Zwei Männer sterben
stand er am Fenster seiner Wohnung. dort in diesem Moment. Als wir zu der
Nun sei er an der Reihe. Ein Traum wer- Fabrik fahren, um die Einschlagstelle zu
de war. Er trete vor 200 Millionen Leuten »Die Message ist Liebe«, begutachten, zerstört eine weitere Rake-
auf, in seiner Heimatstadt Tel Aviv. Der sagt die armenische te einen Van ein paar Kilometer weiter
ESC wirkt in dieser Erzählung wie ein Le- südlich.
ben. Mit Anfang, Ende und Bestimmung. Kandidatin. »Amazing«, Auf der Fahrt zurück Richtung Norden
Ein einziger Schlager. sagt der Moderator. zeigt ein israelischer Fotograf die Bilder,
»And now I’m done. I’m coming home«, die er von den Raketen gemacht hat. Klei-
heißt es im Lied. ne goldene Punkte im wolkenlosen hell-
»Jetzt, mit 27, bin ich jemand«, sagt Drei-Meter-Betonwand umwarf, einen blauen Himmel über Aschkelon.
Kobi Marimi. »Darum geht es. Hoffnung. Krater in den Gartenboden riss und Moshe »Vielleicht waren es auch unsere Ab-
Ermutigung. Eine Reise. Eine Heimreise.« Agadi tötete, der eine Zigarette auf der fangraketen vom Iron Dome«, sagt der
»Sind Sie zufrieden mit der Heimat, in Terrasse rauchte. Er spricht von Reaktio- Fotograf. »So genau kann man das nicht
die Sie reisen?« nen der israelischen Armee, von der Re- erkennen.«
»Ja«, sagt Kobi. »Ich bin immer zufrie- gierungsbildung, der internationalen Lage Es ist ein perfektes Bild für unsere Ge-
den. Ich habe mich entschieden, immer sowie dem bevorstehenden Unhabhängig- fühlslage.
zufrieden zu sein.« keitstag, dem bevorstehenden Ramadan Im Autoradio bitten sie Trauergäste,
Er lächelt. Er sitzt im dunklen Büro sei- und dem bevorstehenden Eurovision- nicht zur Beerdigung von Moshe Agadi,
nes Managers am Stadtrand von Tel Aviv. Wettbewerb. dem Gemüsehändler, zu kommen, weil die
Er trägt Jeans, Turnschuhe, einen Pullover »Der PIJ guckt ganz genau auf den ein Terrorziel sei. Der Mann, der im Van
und riecht nach der Zigarette, die er gerade ESC«, sagt Jonathan Conricus. gesessen habe, sei tot, sagen die Nachrich-
im Hof geraucht hat. Er hat natürlich ein Es kommt sicher nicht häufig vor, dass ten. Es ist das vierte Opfer der Raketen-
richtiges Leben, in dem er als Barkeeper der Islamische Dschihad (PIJ) und der eu- angriffe an diesem Tag. Der Fahrer unseres
gearbeitet und vor ein paar Wochen ge- ropäische Gesangswettbewerb in einem Autos wohnt in einem Kibbuz an der Gren-
wählt hat. In diesem anderen, dem Euro- Satz genannt werden. PIJ und ESC. Rake- ze. Er schläft mit seiner Familie jede Nacht
vision-Leben, aber darf er nicht sagen, ten und Schlager. Hier in diesem Obstgar- im Schutzraum. Wenn du die Sirene hörst,
wen. Der Blick seines Managers ist uner- ten kommt alles zusammen. Schlagerrake- musst du sofort an den Straßenrand, raus
gründlich. Sie haben ihm einen Smoking ten. Eine andere Heimat als in Israels Wett- aus dem Auto und auf den Boden, sagt er.
gegeben, die Backgroundsänger und das bewerbssong. Aber doch: home. Eine App, die jeden Raketenalarm in Israel
Lied. Kobi Marimi ist in seinem Schlager In der Ferne rumpelt es. Ab und zu meldet, bringt mein Handy in der Hosen-
eingesperrt wie in einer Pralinenschachtel. schaut der Oberstleutnant über seine tasche wie eine Hummel zum Summen.
Er darf jetzt keine Fehler machen. Er ist Schulter. Er gibt eine kleine Tour. Wir lau- Bis zum Abend kommen 690 Raketen aus
auf der Heimreise, aber noch nicht da. Not fen durch den Garten wie über einen Tat- Gaza. Israel beschießt Ziele im Gazastrei-
home yet. ort. Die Pampelmusen. Die vernarbten fen. Es gibt 25 Tote und verwackelte Bilder
Am Morgen bevor in Tel Aviv die Pro- Hauswände. Die Glassplitter. Der Staub. von zerstörten Häusern und Autos in den
ben zu den Halbfinals der Eurovision- Der Aschenbecher, in dem vermutlich Abendnachrichten. Sie nennen es nicht
Sänger beginnen, wird rund 50 Kilometer noch die letzte Kippe von Moshe Agadi Krieg.
weiter südlich ein Mann von einer Rakete liegt. Ein angebundener, herrenloser Krieg ist am Ende auch nur ein Wort.
aus dem Gazastreifen getötet. Es ist das Hund namens Johnny. Alles wirkt choreo- Am Montagmorgen heißt es von paläs-
erste israelische Opfer palästinensischer grafiert. So als müsste die Gefahr bewie- tinensischer Seite, es gebe eine Waffen-
ruhe. Die israelische Seite hat das bislang Im Eurovision-Regelwerk heißt es: habe. Die Hallen sind klimatisiert. Die Fra-
nicht bestätigt, als auf dem Expo-Gelände »Der ESC ist eine unpolitische Veranstal- gen der Reporter und die Antworten der
in Tel Aviv die armenische Sängerin Srbuk tung. Alle teilnehmenden Rundfunkan- Sänger dürfen nichts mit der realen Welt
zu ihrer ersten Probe antritt. Ihr Beitrag stalten einschließlich der ausrichtenden zu tun haben. Aber alle Teilnehmer wur-
heißt »Walking Out«. Er läuft auf Bildschir- Rundfunkanstalt haben dafür Sorge zu den gebeten, sich vor ihrem israelischen
men in der Empfangshalle. Draußen sind tragen, dass innerhalb ihrer jeweiligen Lieblingshintergrund filmen zu lassen. Die-
bestimmt 30 Grad, hier drinnen vielleicht Delegationen und Teams alle erforderli- se Postkarten können beweisen, dass der
15, und das ist nicht der einzige Unterschied. chen Schritte unternommen werden, um Schlagerzirkus diesmal in Israel haltge-
Im Pressezentrum kann man vom Sponsor sicherzustellen, dass der ESC in keinem macht hat und nicht in Aserbaidschan.
MyHeritage einen DNA-Test machen las- Fall politisiert und/oder instrumentalisiert Srbuk hat Masada gewählt. Das ist die
sen. Celine Dion, Netta und Abba machten wird.« Wüstenfestung, die jüdische Freiheits-
auch mit, sagt der Vertreter. Es dauert nur Die isländischen Teilnehmer Hatari wur- kämpfer lange gegen die übermächtigen
fünf Minuten. Am Tresen akkreditieren sich den auf ihrer Pressekonferenz nach dem Römer verteidigten. Am Ende töteten sich
zwei Männer aus Eisenach, die seit 20 Jah- Nahostkonflikt gefragt. Die Band, die in die letzten Aufrechten selbst, um nicht in
ren das Land Thüringen mit Eurovision- Bondage und SM-Geschirr auftritt, hatte Gefangenschaft zu geraten. Die Römer fan-
Nachrichten versorgen. Sie retten sich in sich in der Vergangenheit propalästinen- den eine verlassene Festung vor. Masada
die Halle wie auf eine Insel. Sie leben in sisch geäußert und sollte nun etwas zum gilt bis heute als Symbol des jüdischen Frei-
der Schlagerwelt. Sie erklären, wer die Fa- aktuellen Bombardement der Israelis in heitswillens. Schulklassen werden hier
voriten seien, Holland und die Schweiz, Gaza sagen. geführt, Soldaten wurden vereidigt. Es ist
und sagen, dass sie sich freuen würden, »Wir halten uns hier auf der Bühne an einer der dramatischsten Orte Israels.
wenn Sergey Lazarev gewinne, der russi- die Regeln wie alle anderen auch«, sagte Wieso also Masada?
sche Sänger. Sie würden im kommenden der Sänger. »Über die Geschichte weiß ich nichts«,
Jahr gern nach Moskau. Es muss etwas un- Als die Reporter weiter drängten, sagte sagt Srbuk. »Aber die Landschaft ist atem-
glaublich Beruhigendes haben, wenn man er: »Natürlich hoffen wir, dass die Besat- beraubend.«
die Welt aus dieser Perspektive betrachten zung bald vorbei ist und Frieden kommt.« »Amazing«, sagt der israelische Mode-
kann. Mit Eurovision sozusagen. Die bei- Das hat für Verstimmung bei den Orga- rator. Wenn er Schmerz verspürt, lächelt
den Männer sind seit 20 Jahren verheiratet, nisatoren gesorgt. Das ESC-Regelwerk er ihn weg.
sagen sie. Es gibt ESC-Experten, wie es wird nun berücksichtigt. Dann kommt die irische Teilnehmerin
Dopingexperten gibt und Fachleute für Der israelische Moderator, der neben auf die Bühne. Die Sängerin wird nach ih-
Dressurreiten. Sie sehen nur anders aus. der armenischen Sängerin auf der Bühne rer Haarfarbe gefragt, nach ihrer kleinen
Nach ihrer Probe kommt die armeni- sitzt, kommentiert ihre Antworten mit den Tochter und nach ihrem Krankenschwes-
sche Kandidatin zum Meet and Greet in Worten »terrific«, »awesome«, »specta- terkurs.
die Pressekonferenz. Es sind noch nicht cular«, »amazing« oder »sweet«. Die meisten Fragen stellt Alistair Birch
viele Journalisten da. Im Saal sitzen vor »I love, love, love your song«, sagt der aus Melbourne. Er ist für die Agentur
allem Begleiter von Srbuk, die rote Trai- Moderator. »Willst du deine Botschaft Eurofile.TV hier, die den australischen
ningsanzüge mit dem Schriftzug Armenien sagen?« Markt mit ESC-Nachrichten versorgt. Er
auf dem Rücken tragen wie eine Gewicht- »Die Message ist: Wir sollten die Liebe ist seit 2006 dabei. Athen. Damals, sagt
hebernationalmannschaft. nicht töten. Die Liebe sollte uns nicht tö- er, sei der deutsche Teilnehmer Texas
Srbuk trägt ein T-Shirt, auf dem sie ten«, sagt Srbuk. Lightning gewesen, eine Countryband mit
selbst zu sehen ist. »Amazing«, sagt der Moderator. dem Komiker Olli Dittrich am Schlagzeug.
Die Fragen beziehen sich auf Tanzschrit- Am Ende bittet er die armenische Sän- Woher er das weiß? Er weiß es eben. Außer-
te, Frisuren und Videos. Es sind freund- gerin noch zu erklären, warum sie sich bei dem hat er in den Neunzigern lange in Ber-
liche Fragen. ihrer »Postkarte« für Masada entschieden lin gelebt. Er ist eigentlich IT-Experte und
hat damals das Datennetzwerk für die Stasi-
unterlagenbehörde aufgebaut. Er kann das
Wort akzentfrei aussprechen. Er trägt ein
kariertes Jackett, Weste und Einstecktuch
und ist, mit seinem Hintergrund, der per-
fekte Schlagerreporter.
Er würde nie eine politische Frage stel-
len. Er kennt die Regeln. Politische Fragen
sind nicht erlaubt. Die Bands dürfen nicht
mehr als sechs Mitglieder haben. Werbung
ist verboten. Tiere sind verboten. Kein
Song darf länger als drei Minuten sein.
»Es ist ein Wettkampf«, sagt er. »Es gibt
Regeln.«
Wieso darf Australien dann an einem
europäischen Schlagerwettbewerb teil-
nehmen?
»Es gibt mehrere Gründe. Vor allem
ILIA YEFIMOVICH / DPA
112
Sie erzählte, wie sie der ESC erlöst
habe. Wie er ihr geholfen habe, an sich
zu glauben. Wie er ihr die Türen zur Welt
geöffnet habe. Vor zwei Jahren habe sie
noch für Bier und Essen gesungen und
geglaubt, dass sie das fette Mädchen sei,
das keine Liebe verdiene. Sie habe den
Bullys, die sie gemobbt hätten, geglaubt,
sagte sie.
»Aber dann habe ich mich neu erfunden.
Und plötzlich akzeptierten mich die Leute.
Ich entschuldige mich nicht, ich bin, wer
ich bin, ich liebe, wie ich aussehe und wo
ich herkomme«, sagte sie.
Sie bedankte sich bei den anwesenden
Journalisten dafür, dass sie diese, ihre Bot-
schaft in die Welt trugen. Sie strahlte.
Die erste Frage kam aus Schweden. Der
Kollege wollte wissen, wie sie über die
Boykottaufrufe denke, die man überall auf
der Welt höre.
Netta Barzilai hörte nicht auf zu lachen.
»Der ESC wurde nach dem Zweiten
Weltkrieg gegründet, um eine zerrissene
Welt zu heilen«, sagte Netta. »Wir haben
gerade den Holocaust-Gedenktag. Ich
muss Sie nicht an diese schreckliche Zeit
erinnern. All diese verschiedenen Natio-
nen stehen zusammen auf der Bühne. Es
ist ein Festival des Lichts. Menschen, die
das boykottieren, verbreiten Dunkelheit.
Ich bin auf jedem großen Event in Euro-
pa, vor allem dort, wo es um die Voraus-
PEDRO FI_ZA / NURPHOTO / GETTY IMAGES
D
er Fortschritt trägt einen roten Sussex setzt sich für Frauenrechte ein, mit Höhepunkten wie Nacktaufnahmen
Bart und lächelt wie ein quer trägt mit Sendungsbewusstsein immer bei einem Besäufnis und einer Spaßver-
gestelltes Kirchenfenster. Der mal wieder ethisch korrekt produzierte kleidung mit Naziuniform, und Meghans
Herzog von Sussex, bekannter Mode und ist als Tochter einer schwarzen Vorleben als Geschiedene, als Serien-
als Prinz Harry, noch bekannter als »Party- Mutter und eines weißen Vaters auch darstellerin und Botschafterin für Men-
prinz« und »Dirty Harry«, inzwischen ge- ethnisch eine Neuerung im royalen Gen- schenrechte ergeben – erst recht mit
läuterter Ehemann, verkündete die Geburt pool. Sie zeigt den Armen und Kranken ihrer vergleichsweise stürmischen Liebes-
seines ersten Kindes vor der Presse mit gegenüber so wenig Scheu wie die 1997 geschichte – eine Mixtur, die mehr Tem-
den Worten: »Wie die Frauen perament, aber auch mehr Nähe
das schaffen, geht über meinen suggeriert als das Streberpaar im
Verstand!« Das ist, nicht nur Kensington-Palast.
nach Maßgaben der britischen Beide Paare allerdings sorgen
Monarchie, ein enthusiastischer vermutlich auch in ihrer Gegen-
Ausdruck des Feminismus. sätzlichkeit dafür, dass die bri-
Soweit die Überlieferung tische Monarchie inzwischen
reicht, war es unter werdenden beliebt ist wie seit Jahrzehnten
Vätern der britischen Aristokra- nicht. In dem von der Brexit-
tie üblich, sich die Zeit der We- Pfuscherei erschöpften Eng-
hen bis zum ersten Babyschrei land, wirtschaftlich strauchelnd
mit Drinks oder auch Polo zu und durch ätzende Debatten
vertreiben; der Großvater des über Einwanderung und Bri-
Prinzen soll während der Geburt tishness gespalten, ist das Kö-
des Thronfolgers Charles Squash nigshaus eine Konstante, auf die
gespielt haben. Dieser Prinz im- sich die meisten einigen kön-
merhin war bei Harrys Geburt nen: irgendwie unnütz, aber
1984 dabei, soll aber bei dessen doch good to have, mit Soap-
Anblick kopfschüttelnd gesagt qualitäten und ansehnlichen
haben: »O Gott, ein Junge. Und Hauptdarstellern – und durch
dazu auch noch mit roten Haa- sein schieres Überleben ein
ren.« Die auskunftsfreudige Quantum Trost in der deprimie-
Lady Diana gab später zu renden Gegenwart.
Protokoll, in diesem Moment Das Baby selbst wurde der
sei »etwas in mir zerbrochen«. Öffentlichkeit zwei Tage nach
In diesem wie in vielem war seiner Geburt präsentiert. Mut-
die »Prinzessin der Herzen« ter und Vater strahlten jene
die – allerdings exzellent ge- Mischung aus gerührter Glück-
föhnte – Normalität: Die blutige seligkeit und Überwältigung aus,
Viecherei einer natürlichen Ge- die ebenso erfreulich wie durch-
DOMINIC LIPINSKI / AP
burt wird zwar mit der Ausschüt- schnittlich ist. Allerdings wiegte
tung von körpereigenen Boten- der Vater das Kind, das, Andeu-
stoffen belohnt, die den Schmerz tungen aus gut unterrichteten
auch in der Erinnerung mil- Kreisen zufolge, genderneutral
dern – ein Umstand, der für das aufwachsen soll. Was möglicher-
Fortbestehen der Menschheit Eltern Meghan, Harry, Neugeborenes in Windsor weise bedeutet: nicht nur hell-
sorgt. Doch die Anteilnahme der Gut in Szene gesetzte Imperfektion blaue Strampler und Ritter und
Väter war bis vor nicht allzu lan- Autos im Kinderzimmer und
ger Zeit ein Desiderat, erst recht in der verstorbene Lady Diana, vor allem aber keine Abrichtung zur Fuchsjagd. Mit
Öffentlichkeit; auch darin waren die briti- ergänzen sie und ihr Ehemann das Paar Sicherheit aber wird ihm wohl das Schick-
schen Royals ein getreues Abbild des zivi- William und Kate um einen beachtlichen sal seines Großvaters Charles erspart blei-
lisatorischen Durchschnitts. Und von einer Schuss gut in Szene gesetzter Imperfek- ben, der eine große Zeit seiner Jugend in
so fassungslosen Anerkennung wie dieser tion. einem Ertüchtigungsinternat für Knaben
am Montagnachmittag war das Abendland Während der erstgeborene Sohn des zubrachte, das er als die Hölle auf Erden
bei der Geburt von Harry vor 34 Jahren Thronfolgers Charles und seine stets un- bezeichnete. Der Name des Kindes soll
noch ganze Zeitalter des Gemüts entfernt. tadelige Gattin ihre öffentlichen Termine Archie sein, auf den ihm eigentlich
Der rothaarige Prinz und seine bürger- so kontrolliert abwickeln wie ihr Familien- zustehenden Titel, Earl of Dumbarton,
liche Frau, die amerikanische Schauspie- leben, geben Meghan und Harry dem haben die Eltern laut britischen Medien
lerin Meghan Markle, 37, sind für das Wunsch nach Menschlichkeit mehr und verzichtet. Auch hier Fortschritt, noch
Königshaus ein Modernisierungsschub in vor allem gemischtere Nahrung. Harrys ohne Bart. Elke Schmitter
mehrfacher Hinsicht: Die Herzogin von Taumeln durch Pubertät und Adoleszenz,
115
Kultur
»menschlichen Fehler«.
Ai: So einfach ist es nicht. Das Werk be-
fand sich an der Fassade des bekanntesten
Museums in Kopenhagen. Das Auto hat
sich nicht von allein dorthin gefahren, je-
mand hat sich das genau überlegt. Und das
Angebot zur Entschuldigung kam erst,
nachdem wir Klage eingereicht hatten. Wir
werden durch dieses Verfahren wohl eher Künstler Ai: »Die Leute sagen, ich sei so deutsch«
116
SPIEGEL: Fühlen Sie sich in würfe machen, lieben Trump,
Deutschland noch willkommen? weil er gegen China ist. Das sagt
Ai: Einerseits ja, die Ausstellung doch alles.
in Düsseldorf wird eine der größ- SPIEGEL: Trotzdem haben Sie
ten sein, die ich je hatte. Anderer- noch ein Atelier in Peking. Wa-
seits weigerte sich die Berlinale, rum?
den Film »Berlin, I Love You« zu Ai: Es sind sogar noch zwei von
zeigen. Das hat mich doch beun- ursprünglich drei Ateliers.
ruhigt. SPIEGEL: Eigentlich erstaunlich,
SPIEGEL: Der Film ist Teil einer angesichts Ihrer Haltung.
Reihe, die aus lauter Liebeserklä- Ai: Ich wurde ja nie davon abge-
rungen an Städte besteht. Im Juni halten, Kunst zu schaffen, meine
kommt er in die Kinos. Sie haben künstlerische Produktion lässt
eine Episode gedreht, die heute man in Ruhe. Selbst als ich im Ge-
aber fehlt. Wie lief das alles ab? fängnis war, sagte man mir, ich
Ai: 2014 erhielt ich eine Anfrage, solle einfach bei meiner Kunst
ich war noch in China, stand un- bleiben, von Politik würde ich
ter Hausarrest, aber meine Le- nichts verstehen. Sie fanden, dass
bensgefährtin Wang Fen lebte meine Kunst nicht nach Kunst
mit unserem Sohn bereits in Ber- aussieht, aber sie haben erkannt,
lin. Sie ist Filmemacherin und dass ich eine gewisse Bekanntheit
war begeistert von der Idee, einen hatte, mir wurde sogar ein poli-
Kurzfilm über diese Stadt zu ma- Abbildung einer Werbebroschüre auf Ais Instagram-Seite tischer Posten angeboten. Es ist
chen. Unser Sohn sollte in dem »Im Vergleich zur Kommunistischen Partei ist jeder Gegner klein« ihre Art, damit umzugehen. So
Film eine wichtige Rolle spielen. sind die Menschen. Und es sind
Er in Berlin, ich in China, wir sky- eben Menschen, keine Monster –
pen miteinander, über alle Grenzen hin- Ai: Filme, an denen ich beteiligt bin, zeigt so wie in Deutschland nach 1933 nicht alle,
weg. Das war die Idee. sie offenbar nicht. »The Rest«, eine Doku- die hinter Hitler standen, Monster waren.
SPIEGEL: Sie wurden observiert, wie sollte mentation über Flüchtlinge, hat sie dieses SPIEGEL: Aber sie haben monströse Ver-
das klappen? Jahr abgelehnt. Alles ist vergiftet durch brechen mitverantwortet.
Ai: Ursprünglich wollten wir den chinesi- die Rücksichtnahme auf China. Ai: Ja, und nun wollen alle alles richtig ma-
schen Teil heimlich in China drehen. Die SPIEGEL: Als Sie 2015 China verlassen chen und verteufeln sogar eine Armbewe-
Produzenten wollten ein Filmteam ein- durften, hieß es, das sei insbesondere dem gung. Damit Gesinnungen zu unterbinden
schmuggeln. Doch nachdem ich ausreisen Einsatz der deutschen Bundeskanzlerin ist eine Illusion.
konnte, war das nicht nötig. Wir haben zu verdanken. Wie denken Sie heute über SPIEGEL: Was wird in der Düsseldorfer
den größten Teil des Films in Berlin ge- ihre Haltung gegenüber China? Schau zu sehen sein?
dreht. Damals, 2015, wollten wir die Dreh- Ai: Ich respektiere Angela Merkel. Das ist Ai: Arbeiten, die so noch nie zusammen
arbeiten während der Berlinale live über- alles nicht so einfach. Jede Nation denkt ausgestellt werden konnten, schon auf-
tragen, aber wir mussten die Leinwand natürlich zuerst an die eigenen Interessen grund ihrer Größe. In der Tate Modern in
weit weg vom Festivalgeschehen aufstel- und nicht an die Menschenrechte, so ist es London hatte ich hundert Millionen Son-
len. Tesiro, ein chinesischer Schmuckher- einfach. nenblumenkerne aus Porzellan ausgestreut,
steller, war Hauptsponsor der Berlinale. SPIEGEL: Ihre Kritiker werfen Ihnen vor, nun wurden sie nach Düsseldorf geschickt.
SPIEGEL: Der Film wurde dann für die Sie griffen die Pekinger Regierung nicht Und es werden all die Stahlstreben ausge-
Berlinale 2019 eingereicht, dort aber ab- mehr an, seit Sie im Westen leben. Sie wi- breitet, die wir nach dem Erdbeben von
gelehnt. Allerdings war Ihr Beitrag zu die- chen geradezu auf andere Themen aus, Sichuan aus den zusammengestürzten
sem Zeitpunkt längst herausgeschnitten etwa auf das Schicksal der Flüchtlinge. Schulen geholt haben. Kein Museum bis-
worden. Ai: Ich zerbreche mir sehr wohl den Kopf her hatte genug Platz, alle zu zeigen, in
Ai: Es hätte dennoch eine öffentliche Dis- über China. Ich trage China sozusagen in Düsseldorf geht das. Das ist großartig,
kussion um meine Episode und den Ein- mir. Aber jetzt, wo ich nicht mehr dort denn es ist mein wichtigstes Werk.
fluss der chinesischen Regierung gegeben. lebe, wäre eine solche Kritik zu einfach. SPIEGEL: Es handelt von den Kindern, die
Das hätte die Berlinale bestimmt nicht ge- SPIEGEL: Wirklich? starben, weil ausgerechnet die Schulen
wollt. Ich kann sogar verstehen, dass sich Ai: Ja, es käme mir unehrlich vor, wie eine nicht erdbebensicher waren.
die Produzenten gezwungen sahen, die Masche. Mein Anwalt ist seit fünf Jahren Ai: Wir werden die Namen der ums Leben
Episode herauszuschneiden. Sie konnten in Haft. Für nichts. Er ist in Gefahr, ich bin gekommenen Schulkinder dokumentieren.
nicht riskieren, dass Verleiher irgendwo es nicht. Viele, die mich für meine Kunst Wir zeigen auch neuere Arbeiten, etwa
auf der Welt den Film nicht ins Programm kritisieren, sind Chinesen. Aber selbst die- ein Rettungsboot aus Bambus, Kleidung,
nehmen, weil ich daran beteiligt war. jenigen von ihnen, die im Ausland leben, die Flüchtlinge im Lager zurückgelassen
SPIEGEL: Ihr berühmter Name ist doch sprechen oft kein Englisch, sie wissen nicht, haben. Ich glaube, diese Ausstellung wird
eher ein Verkaufsargument. wie oft ich mich im Internet über politische sehr aktuell, sehr herausfordernd wirken.
Ai: Ich habe viele Freunde unter chinesi- Missstände äußere, ob sie nun China be- Interview: Lars-Olav Beier, Ulrike Knöfel
schen Filmemachern. Von ihnen weiß ich, treffen oder andere Länder. Als Künstler
wie vorsichtig Investoren und ganze Festi- geht es mir um das Thema der Menschen-
Exklusiv-Video
vals sind, wenn es um regimekritische rechte. Deshalb fahre ich in die Flüchtlings- Die zensierte
Künstler oder Filme geht. lager, deshalb setze ich mich mit den Stu- Episode
SPIEGEL: Die Berlinale verwehrt sich ge- denten auseinander, die vor einigen Jahren spiegel.de/sp202019aiweiwei
gen Zensurvorwürfe. Sie zeigt durchaus in Mexiko verschwunden sind. Diese chi- oder in der App DER SPIEGEL
regimekritische chinesische Filme. nesischen Freiheitskämpfer, die mir Vor-
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von acht Wochen, beginnend mit dem Belastungsdatum, die Erstattung des belasteten Betrags verlangen. Es gelten dabei die mit meinem Kreditinstitut vereinbarten Bedingungen.
Kultur
120
Autorin Shafak in London
»Ich mag kein Schubladendenken«
Spiel mit den Block zu diktieren, bevor diese die Ausstellung überhaupt be-
treten haben. So erklärte Andrew Bolton, der den Titel »Wen-
dy Yu Curator in Charge of the Costume Institute« trägt, einer
Identitäten Reporterin der »Vogue«, Camp sei ein Fragezeichen, das sich
nicht zu einem Ausrufezeichen geradebiegen ließe. »Ich möch-
te«, so Bolton, »dass die Leute die Ausstellung verlassen und
sich fragen: Was ist Camp? Das ist die Kraft und Poesie hinter
Ausstellungskritik Das New Yorker Metropolitan Camp, dass man konstant versucht, es zu definieren.«
Museum of Art erklärt, was »Camp« ist. Derart gewappnet also betreten wir die Ausstellungsräu-
me im Metropolitan Museum. Die Wände sind pinkfarben
gestrichen, aus Lautsprechern kommt Judy Garlands
Ein Sommer
zum Verlieben!
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unbeschwertes
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www.spiegel.de/leserbriefe, Fax: 040 3007-2966
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HERAUSGEBER Rudolf Augstein SPIEGEL PLUS Alexander Neubacher Tel. +27 21 4261191
(1923–2002) DEIN SPIEGEL Leitung: Bettina Stiebel,
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Nachrufe
John Lukacs, 95 Peter Mayhew, 74
Populismus sah er als die Er verkörperte eine der
größte Gefahr, als Bedro- populärsten Figuren der
hung der Zivilisation Filmgeschichte, ohne dass je
schlechthin. Der amerikani- ein Kinobesucher sein
sche Historiker und Viel- Gesicht zu sehen bekam
schreiber (über 30 Bücher, oder seine echte Stimme
zahllose Essays und Rezen- hörte. Denn der Brite Peter
sionen) zitierte regelmäßig Mayhew spielte in den
Alexis de Tocquevilles War- »Star Wars«-Filmen von
nung vor der »Tyrannei der 1977 bis 2015 den gut-
Mehrheit«. John Lukacs, in mütigen Weltraumkrieger
Ungarn geborener Sohn Chewbacca, ein affenartiges
einer jüdischen Mutter und Wesen, das seinen Kumpel
eines katholischen Vaters, Han Solo alias Harrison
überlebte die ungarische Ford um zwei Köpfe über-
Kollaboration mit den deut- ragt. Mayhew verschwand
schen Nationalsozialisten komplett in seinem Kostüm,
und floh nach dem Zweiten einer Maske und einem
IMAGO
Weltkrieg vor den kom- verfilzten Ganzkörperfell
munistischen Machthabern
Jean Vanier, 90 nach Amerika. Dank
Es begann 1964 in einem heruntergekommenen Haus in Geschichtsstudium und her-
Trosly-Breuil nördlich von Paris: Jean Vanier lud zwei vorragender Englischkennt-
Männer mit geistigen Behinderungen ein, dort mit ihm zu nisse fand Lukacs 1947
Die Scheue
G Jeden Tag denke sie darüber nach, ihren
Instagram-Account zu löschen, sagte
Elizabeth Olsen, 30, Schauspielerin und
Model, dem Glamourmagazin »Harper’s
Bazaar« schon vor einem Jahr. Sie frage sich
immer wieder, warum sie dort überhaupt
aktiv sei. Dabei ist Olsen ein Vollprofi, von
Kindheit an als kleine Schwester der be-
rühmten Olsen-Zwillinge mit dem Geschäft
der Popularität vertraut – und sie weiß ganz
genau, was sie tut: das Image einer auf
Privatsphäre bedachten, scheuen Künstlerin
pflegen. Das Interview fand kurz vor der
Premiere von »Avengers: Infinity War« statt.
Olsen habe »zu ihrem Entsetzen« bereits
1,1 Millionen Follower auf Instagram, schrieb
»Harper’s Bazaar« damals, obwohl sie erst
kurz dabei sei. Sie wolle ihren Account nach
der Filmpremiere löschen, sagte sie. Ganz
bestimmt. Heute, einen weiteren »Avengers«-
Film später, in dem sie wieder die schöne
Scarlet Witch gespielt hat, existiert ihr Insta-
gram-Account weiterhin. Olsen folgen
inzwischen 4,9 Millionen Menschen. Sie hat
EYEVINE
im vergangenen Jahr weniger als 30 Posts
abgesetzt, scheu eben. KS
sellers »Fifty Shades of Grey« bedroht, entführt. Die ganze beteuerte, ausführlich über
hat den albanischen Botschaf- Darstellung sei »völlig unrea- das Land in Südosteuropa
ter in Großbritannien gegen listisch«, seine Landsleute recherchiert zu haben, ein
sich aufgebracht. Schon lange würden viel zu negativ be- Buch über Organisierte Krimi-
warteten Fans der Erotiktri- schrieben, klagt der Diplomat. nalität habe sie auch konsul-
logie auf ein neues Buch von Eine Rezensentin des ameri- tiert – und ihr Mann habe
E. L. James, 56. Jetzt erschien kanischen Magazins »Enter- gelernt, albanische Eintöpfe
»The Mister«, in dem sich ein tainment Weekly« teilt seine zu kochen. KS
127
»Die Energiewende ist zu einer Überlebensfrage geworden.
Wir können sie zwar schaffen, aber nicht nach der
Devise: Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass!«
Otto Ohmsen, Kaltenkirchen (Schleswig-Holstein)
Strom selbst erzeugen Das alte Dilemma: Alle wollen den großen Mit Erschrecken habe ich zur Kenntnis
Wurf, aber keiner will getroffen werden. genommen, dass lediglich 675 Bundesbe-
Nr. 19/2019 Murks in Germany – Energie-
Klaas Ockenga, Haßloch (Rhld.-Pf.) dienstete an dem Projekt »Energiewende«
wende: Wie eine große Idee am deutschen
Kleingeist scheitert arbeiten, also einem Jahrhundertprojekt,
Statt einige deutsche Regionen mit dem das für die Zukunft nicht nur dieses Landes
Vielen Dank für diesen gelungenen Artikel. Bau großer Stromleitungen unter Druck von existenzieller Bedeutung ist. Das sind
Ich selbst habe in meinem Haus, natürlich zu setzen, durch die dann überwiegend weniger als zwei Prozent der Menschen,
in einem sehr kleinen Ausmaß, genau Ihre der Strom für andere fließt, sollten besser die für die Kommunalverwaltung Mün-
Schlussfolgerung beherzigt. Jeder Normal- alle Regionen gedrängt werden, den über- chens arbeiten, die Zahl der Beschäftigten
bürger kann, wenn er nur bereit ist, eine wiegenden Teil des bei ihnen gebrauchten allein im dortigen Baudezernat dürfte um
riesige Energiemenge einsparen, ohne sich Stroms selbst regenerativ zu erzeugen. ein Mehrfaches höher liegen. Wenn sich
einzuschränken. Auch sollten sie einen Teil davon selbst diese Menschen auch noch auf zig Referate
Uwe Neuses, Cuxhaven (Nieders.) speichern können. Regionale Energiege- verschiedener Ministerien verteilen, ist der
nossenschaften sollten gefördert werden, Erfolg eines solchen Mammutprojekts fak-
Die Energiewende war das Vorzeigepro- um das Interesse vieler Bürger(innen) an tisch ausgeschlossen.
jekt der Regierung Schröder und Fischer den neuen Anlagen zu steigern. Hans Cronau, Hannover
ab dem Jahr 1998. Seltsamerweise wurde Clemens Niemann, Herford (NRW)
einige Jahre später mit aller Mediengewalt »Vorwärts, wir müssen zurück!«
gegen dieses Umweltprojekt zu Felde ge-
Nr. 19/2019 Die Aufregung über Juso-Chef
zogen. Auch der SPIEGEL spielte damals
Kevin Kühnert ist groß – dabei
munter mit. Es hat letztlich Fukushima be- teilen viele SPD-Leute seine Ansichten
nötigt, um ein endgültiges Umdenken her- PAUL LANGROCK / ZENIT / LAIF
beizuführen. Wenn es möglich ist, bis 2050 Mich verstört die Debatte. Wir hatten
die totale Abkehr von den klimaschädli- doch hierzulande bereits ein Lehrstück
chen Energien zu schaffen, dann darf keine namens DDR, Anschauungsmaterial über
Zeit mehr verloren werden. Das geht al- 40 Jahre. Da ist für jeden etwas dabei, von
lerdings nicht zum Nulltarif. Und hier ist Vollbeschäftigung über Kita-Versorgung
die gesamte Bevölkerung gefordert. Es bis hin zum Staatseigentum. Vor 30 Jahren
geht schlichtweg nicht, dass in Pervertie- Braunkohlekraftwerk Jänschwalde hätten viele entgegnet: »Geh doch nach
rung des Naturschutzgedankens der Greif- drüben!« So kurz kann manches Gedächt-
vogel Roter Milan als Vorwand herange- Die jetzige Energiewende begann nicht nis sein. Fast schon skurril, dass einige
zogen wird, um Windanlagen zu verhin- nach Fukushima 2011, sondern mit dem SPD-Kader Verständnis oder gar Sympa-
dern. Oder Bürgerinitiativen gegen die Energiekonzept 2010, verabschiedet von thien für diese Thesen aufbringen. Da wird
Erdverkabelung des zu transportierenden der damaligen schwarz-gelben Bundesre- mancher ehemalige Stammwähler seufzen:
Stromes aus den Windparks auftreten. gierung mit einem bisher unveränderten Alles richtig gemacht, Volkspartei ade!
Dipl.-Ing. Anton Maier, St. Johann im Pongau (Österr.) Katalog von Planzielen bis 2050. Nur die Christoph Schönberger, Aachen
geplante Verlängerung der Laufzeiten der
In Ihrem Artikel werden Genehmigungs- Kernkraftwerke wurde danach korrigiert. Endlich hat die SPD einen jungen Mann,
verfahren als großes Problem für die Um- Der große Webfehler im Anschluss daran der sich traut zu sagen, was andere nur den-
setzung der ambitionierten Klimaziele be- war nicht, dass noch nicht gleich der Ab- ken. Herr Kühnert hat etwas aufgebrochen,
nannt. Sie beschreiben beispielsweise einen schied von der Kohle eingeleitet wurde – das schon vor Jahren hätte geschehen sol-
Windpark im Hunsrück, ich denke an einen der wird in der Stromerzeugung schwer len. Es muss etwas gegen den Turbokapi-
im Reichswald im Kreis Kleve am Nieder- genug –, sondern dass die Energiewende talismus getan werden, und darum ist die-
rhein, der zum Glück wegen eines Mäuse- bislang hauptsächlich Stromwende geblie- ser Anstoß wichtig für die Partei und für
bussard-Vorkommens gestoppt wurde. Wa- ben ist. Im Wärmemarkt sowie im Ver- uns Mitbürger, die für das Rumgeeiere der
rum müssen wertvolle Waldflächen geop- kehrssektor ist viel zu wenig gewagt wor- Parteien keinen Nerv mehr haben. Ich dan-
fert werden, um Klimaziele zu erreichen? den. Der Abschied von Öl und Gas wurde ke Herrn Kühnert für die frischen Worte.
Ein Unsinn, der dem naturliebenden Men- zu spät eingeleitet. Allerdings muss man Rainer Schober, Gumbsheim (Rhld.-Pf.)
schen nicht vermittelbar ist. Anderswo sind die nationalen Klimaziele auch relativie-
es die Trassen, die die Menschen zum Pro- ren. Deutschlands Anteil an den globalen Kevin Kühnert hat einen Punkt. Vermögen
test treiben. Bitte, liebe Politik, sag Ja zum CO -Emissionen liegt nur bei rund zwei ist in Deutschland extrem ungleich verteilt.
²
Umbau des deutschen Energiesystems, Prozent. Wichtig für eine internationale Und es wird auch ungerecht besteuert. Das
aber ohne Zerstörung der Natur und ohne Vorbildfunktion ist nicht die genaue natio- sollte tatsächlich geändert werden. Auch
unzumutbare Belastung der Menschen. Bit- nale Zieleinhaltung, sondern der funktio- wenn Kühnerts Vorschläge überspitzt sind,
te, lieber SPIEGEL, hinterfrage den Unsinn, nierende nachhaltige Richtungswechsel im Korrekturen an der aktuellen Situation
Windparks in Waldgebieten zu bauen. gesamten Energiesystem. sind überfällig: Das Steuersystem ist zu-
Walter Senger, Kleve (NRW) Dr. Kai van de Loo, Bochum tiefst ungerecht. Wir brauchen beispiels-
weise eine gute Erbschaftsteuer. Gab es marktet. Und solange er willfährige publi- ren in der SPD – so gut hat sich das lange
früher, gibt es beispielsweise in den USA zistische Helfer hat, steht der Karriere bei nicht mehr angefühlt.
auch heute noch! Und eine Mindeststeuer einer paralysiert wirkenden, hilflosen Par- Dietrich Dürr, Sinzheim (Bad.-Württ.)
von zehn Prozent sollte es auch geben. tei nichts mehr im Wege.
Das schadet auch den Unternehmen nicht. Günther Müller, Käshofen (Rhld.-Pf.)
Im Olymp
Aber es sorgt für mehr Steuereinnahmen,
und damit kann viel Gutes getan werden. »Vorwärts, Genossen, wir müssen zurück!« Nr. 18/2019 SPIEGEL-Gespräch mit dem
Arzt Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt
Matthias Jäger, Minden (NRW) Kevin Kühnerts Ziel scheint es zu sein, die und dem Physiotherapeuten Klaus Eder
Volkspartei SPD wieder hinter das Godes- über die Malaisen der Nationalspieler und
berger Programm zu einer sozialistischen die Irrungen ihrer Branche
Arbeiterpartei zurückzuführen, die herr-
schenden Verhältnisse von heute mit den Auf vier Seiten darf Müller-Wohlfahrt wie
Antworten von vorgestern umzugestalten. ein lieber Märchenonkel von seinem Kön-
Das Godesberger Bekenntnis zur Markt- nen erzählen, das ihn so abhebt vom Rest
wirtschaft, mit der Einschränkung von der sportmedizinischen Ärzteschaft. Ich
UWE STEINERT / IMAGO
Karl Schiller: »So viel Markt wie möglich, kenne allerdings keine Statistik, die bele-
so viel Planung wie nötig«, das Bekenntnis gen würde, dass die Behandlungszeit nach
zur Landesverteidigung und das Hervor- Verletzungen bei Bayern München kürzer
heben von Grundwerten waren damals ist als die in der sogenannten Provinz. Und
elementar für die Entwicklung zur Volks- wenn man sich selbst so in den Olymp
Jungsozialist Kühnert partei. Und die Warnung von Herbert erhebt, merkt man vermutlich gar nicht
Wehner vor der Rückkehr sozialistischer mehr, was in der Realität geschieht: dass
Welche Ironie, dass Herr Kühnert sich auf Utopien – »Glaubt einem Gebrannten!« – es nämlich jede Menge gut ausgebildete
das Ahlener Programm der CDU berufen sorgten damals für den Erfolg, zuerst in Sportärzte gibt, die mit geschultem Blick,
kann! der Partei, dann im Volk. Die heutigen of- geübten Fingern und dem Kopf eines Ul-
Cornelius Hüdepohl, Tecklenburg (NRW) fensichtlichen Fehlentwicklungen lassen traschallgerätes in der Hand Muskelver-
sich nur durch Regulierungen innerhalb letzungen erkennen, einschätzen und be-
Danke für den ausgewogenen Bericht, der der Marktwirtschaft lösen, nicht durch handeln können. Deshalb fährt auch nicht
nicht in das allgemeine Bashing mitein- planwirtschaftliche Ansätze. jeder verletzte Spieler nach München.
stimmt, wenn einer mal über den Teller- Fred Kletzin, Friesenheim (Bad.-Württ.) Manche meiden sogar den Weg dahin.
rand hinausblickt. Was wir brauchen, sind Dr. Joachim Schubert, Sportarzt, Bochum
Politiker, die sich noch eine Utopie bewah- Die Triebfeder für den Erfolg der Markt-
ren können und langfristig denken und die wirtschaft ist das private Unternehmertum
Umsetzung planen wollen – nicht nur von mit seinem Engagement und seiner großen
Wahl zu Wahl und unter der Fuchtel von Einsatzbereitschaft. Wo der Sozialismus
Lobbyisten der Groß- und Agrarindustrie oder der Kommunismus das Sagen hat,
oder von Digitalkonzernen. Die inzwi- herrscht bittere Armut. Die DDR war 1989
129
Hohlspiegel Rückspiegel
Zitate
Der ehemalige Telekom-Chef
René Obermann bezieht sich in seinem
Gastbeitrag für das »Handelsblatt«
Jetzt im auf den SPIEGEL-Artikel »Mehr Staat
wagen« (Nr. 6/2019):
Handel Es wird für Europa schwerste Konsequen-
zen haben, wenn wir wichtige Technolo-
giefragen nicht schneller entscheiden und
umsetzen. Der SPIEGEL bringt es auf den
Punkt: »Was sich in autokratisch oder
Aus einem Schreiben streng präsidial geführten Ländern wie
des Amtsgerichts Hamburg China und den USA regeln lässt, wird im
kakofonen Europa zur Herkulesaufgabe.«
Jeder fordert das lückenlose 5G-Netz, al-
Aus der »Neuen Westfälischen«: »Der lerdings möglichst ohne Elektrosmog und
sogenannte kleine Bürger wird von Staat Antennen. Oder Stromtrassen für die
und Wirtschaft gegängelt, muss sich mit Netzstabilität, aber nicht durch unsere
Mindestlöhnen zufriedengeben, die zum Natur gebaut.
Himmel schreien und die dann auch
noch zur Tafel gehen müssen, während Der Sport-Informations-Dienst über die
unsere hohen Würdenträger wie Könige Folgen einer SPIEGEL-Recherche (»Heute
bedient werden und im Luxus leben.« keine Exzesse, bitte«, Nr. 36/2018) für
die Deutsche Reiterliche Vereinigung FN:
Keine
Mindest-
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