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Bewusstsein,
Anschauung und
das Unendliche bei
Fichte, Schelling
und Hegel
Über den unbedingten
Grundsatz der Erkenntnis
ALBER PHILOSOPHIE B
Andrea Gentile
Bewusstsein, Anschauung und das Unendliche
bei Fichte, Schelling und Hegel
ALBER PHILOSOPHIE A
Andrea Gentile
Bewusstsein,
Anschauung und
das Unendliche
bei Fichte, Schelling
und Hegel
Über den unbedingten
Grundsatz der Erkenntnis
Originalausgabe
Printed in Germany
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
7
Inhalt
8
Inhalt
9
Inhalt
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218
1. Quellen und Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . 218
2. Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225
10
Einführung
Laut Fichte ist die »Philosophie die Wissenschaft an sich, die Wissen-
schaft der Wissenschaft oder die Wissenschaftslehre«. 1 Der erste
Schritt Fichtes ist die Behauptung, dass die Philosophie Wissenschaft
sein müsse, dass sie unbedingt gültig sei. Deswegen muss sie auf
einem absolut sicheren Prinzip aufbauen. Während für Kant die
Philosophie die Kritik der unterschiedlichen Möglichkeiten der
menschlichen Erkenntnis ist, bestimmt Fichte die Philosophie als
Wissenschaftslehre. Nach Fichtes Wissenschaftslehre muss man das
»absolut erste und unbedingte« Prinzip des gesamten menschlichen
Wissens suchen. »Wir haben den absolut-ersten, schlechthin unbe-
dingten Grundsatz alles menschlichen Wissens aufzusuchen. Bewei-
sen, oder bestimmen läßt er sich nicht, wenn er absolut-erster Grund-
satz sein soll. Er soll diejenige Tathandlung ausdrücken, die unter den
empirischen Bestimmungen unsers Bewusstseins nicht vorkommt,
noch vorkommen kann, sondern vielmehr allem Bewusstsein zum
Grunde liegt, und allein es möglich macht.« 2
Wenn man den Begriff der Philosophie als Wissenschaftslehre
analysiert, kann man einige wesentliche Punkte erkennen, die die
Bedeutung von Fichtes »Philosophie der Philosophie« verdeutlichen:
a) Die Philosophie ist Wissenschaft bzw. ist Wissenschaft an sich.
b) Die systematische Form ist das Mittel, mit dem sie ihr Ziel verfolgt
und realisiert. c) Dieses Ziel ist, die Bestimmtheit der Sätze (also der
Theoreme) zu begründen, sie untereinander zu verbinden und sie
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Einführung
12
Einführung
13
Einführung
von Gegensätzen. In Von der Weltseele (1798) wird die Natur vor
allem als »Tätigkeit«, kreative Spontaneität und »Erzeugerin von For-
men und Ereignissen« mit einer unendlichen und unaufhörlichen
Dynamik beschrieben.
Schelling kritisiert sowohl das theoretische Wissen als auch das
praktische. Die Philosophie kann nicht auf einer theoretischen oder
praktischen Vernunft gründen, da beide den Dualismus von Subjekt
und Objekt, Geist und Natur voraussetzen. Die Philosophie geht aus
der Reflexion hervor, aus der Trennung vom Absoluten als der ur-
sprünglichen Identität. Wenn keine Form von Reflexion ein Organon
der Philosophie sein kann, ist es notwendig, einen neuen Horizont für
die Philosophie zu finden. Dieser Horizont basiert auf einer subjekti-
ven Tätigkeit, die zur gleichen Zeit rezeptiv und produktiv ist: Das
Wissen muss ein unmittelbares sein, qualitativ frei, und es soll sich
grundsätzlich von dem theoretischen Wissen unterscheiden, das nicht
frei ist, weil es von den individuellen Darstellungen der Objekte ab-
hängt. »Das transzendentale Wissen ist ein Wissen des Wissens.« 5
Im System des transzendentalen Idealismus legt Schelling dar,
dass die Kunst das einzig wahre und ewige Organon der Philosophie
sei. »Die Philosophie erreicht zwar das Höchste, aber sie bringt bis zu
diesem Punkt nur gleichsam ein Bruchstück des Menschen. Die
Kunst bringt den ganzen Menschen, wie er ist, dahin, nämlich zur
Erkenntnis des Höchsten, und darauf beruht der ewige Unterschied,
und das Wunder der Kunst.« 6 Vor diesem Horizont bildet sich eine
tiefe Verbindung zwischen Kunst und Philosophie: Die Kunst ist der
Höhepunkt des Lebens des Geistes, weil nur das Kunstwerk es mög-
lich macht, das konkrete, äußerliche und reale Zeugnis des Dualismus
zwischen Geist und Natur zu überwinden. Das erste Ziel der intellek-
tuellen Anschauung ist es, die Geschichte des Selbstbewusstseins zu
rekonstruieren, indem sie die volle Übereinstimmung von bewusst
und unbewusst, von Subjekt und Objekt, von Freiheit und Notwen-
digkeit realisiert. Diese Tätigkeit ist nur vom Genie zu leisten, das
beim Hervorbringen eines Kunstwerks einen Sinn für die unendliche
Harmonie hat. Die Schönheit macht mit ihrer ursprünglichen Rein-
heit den Charakter eines vollendeten Werks aus, in dem das Unend-
liche ausgedrückt wird.
5 Ebd., S. 62.
6
Ebd., S. 584.
14
Einführung
15
Einführung
wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig.« Aus diesem Grund
bezeichnet Schelling die Hegel’sche Philosophie als »negativ« bzw. als
die Philosophie, die der »reine Gedanken« sein möchte und die keine
Konfrontation mit etwas Entgegengesetztem, was nicht ausschließ-
lich auf den Gedanken zurückzuführen ist, zulässt. Somit zeigt sich
die Philosophie Hegels als eine leere, spekulative Konstruktion. Laut
Schelling zielen die Philosophie und die Logik Hegels darauf, die Es-
senz der Dinge aufzunehmen; dies jedoch niemals in ihrer reellen
Existenz. Die Hegel’sche Philosophie geht von der Vernunft aus und
betrachtet somit nicht die Ganzheit der Existenz der Wirklichkeit, mit
der sich hingegen die positive Philosophie beschäftigt.
In der Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der
Philosophie (1801) im Paragraphen »Prinzip einer Philosophie in der
Form eines absoluten Grundsatzes« bemerkt Hegel: »Die Philosophie
als eine durch Reflexion produzierte Totalität des Wissens wird ein
System, ein organisches Ganzes von Begriffen, dessen höchstes
Gesetz nicht der Verstand sondern die Vernunft ist; jener hat die Ent-
gegengesetzten seines Gesetzten, seine Grenze, Grund und Be-
dingung richtig aufzuzeigen, aber die Vernunft vereint diese Wider-
sprechenden, setzt beide zugleich und hebt beide auf. An das System
als eine Organisation von Sätzen kann die Forderung gehen, dass ihm
das Absolute, welches der Reflexion zum Grunde liegt, auch nach
Weise der Reflexion, als oberster absoluter Grundsatz vorhanden
sei.« 7
Anhand dieser Betrachtung möchte Hegel aufzeigen, dass das
Ganze, die Totalität, das Absolute, wenn es wirklich konkret, d. h. in
seiner ganzen Wahrheit gedacht werden soll – und nichts anderes ist
mit Spekulation gemeint –, gar nicht anders als in sich widersprüch-
lich gedacht werden kann: als Antinomie. Er erklärt: »Soll das Prinzip
der Philosophie in formalen Sätzen für die Reflexion ausgesprochen
werden, so ist zunächst als Gegenstand dieser Aufgabe nichts vorhan-
den als das Wissen, im allgemeinen die Synthese des Subjektiven und
Objektiven – oder das absolute Denken. Die Reflexion aber vermag
nicht die absolute Synthese in einem Satz auszudrücken, wenn näm-
lich dieser Satz als ein eigentlicher Satz für den Verstand gelten soll;
sie muss, was in der absoluten Identität eins ist, trennen und die Syn-
phie, S. 25.
16
Einführung
these und die Antithese getrennt, in zwei Sätzen, in einem die Iden-
tität, im andern die Entzweiung, ausdrücken.« 8
Mit dieser Ansicht unterstreicht Hegel im Paragraphen »Trans-
zendentale Anschauung« der Differenz des Fichteschen und Schel-
lingschen Systems der Philosophie, dass »das transzendentale Wissen
beides vereinigt: Reflexion und Anschauung. Es ist Begriff und Sein
zugleich. Dadurch, dass die Anschauung transzendental wird, tritt
die Identität des Subjektiven und Objektiven, welche in der empiri-
schen Anschauung getrennt sind, ins Bewusstsein; das Wissen, inso-
fern es transzendental wird, setzt nicht nur den Begriff und seine
Bedingung oder die Antinomie beider, das Subjektive, sondern zu-
gleich das Objektive, das Sein, voraus. Im philosophischen Wissen
ist das Angeschaute eine Tätigkeit der Intelligenz und der Natur, des
Bewusstseins und des Bewusstlosen zugleich; es gehört beiden Wel-
ten, der ideellen und reellen zugleich an – der ideellen, indem es in
der Intelligenz, und dadurch in Freiheit gesetzt ist, – der reellen, in-
dem es seine Stelle in der objektiven Totalität hat, sozusagen als ein
Ring in der Kette der Notwendigkeit deduziert wird. Stellt man sich
auf den Standpunkt der Reflexion oder der Freiheit, so ist das Ideelle
das Erste und das Wesen und das Sein nur die schematisierte Intelli-
genz; stellt man sich auf den Standpunkt der Notwendigkeit oder des
Seins, so ist das Denken nur ein Schema des absoluten Seins.« 9
Im transzendentalen Wissen ist beides vereinigt, Sein und Intel-
ligenz; ebenso ist »transzendentales Wissen und transzendentales
Anschauen Eins und dasselbe; der verschiedene Ausdruck deutet
nur auf das Überwiegende des ideellen oder reellen Faktors. Es ist
von der tiefsten Bedeutung, dass mit so vielem Ernst behauptet wor-
den ist, ohne transzendentale Anschauung könne nicht philosophiert
werden.« 10
Einige Jahre später kritisiert Hegel in der Phänomenologie des
Geistes (1807) die transzendentale Anschauung, bezeichnet sie als
»philosophischen Obskurantismus« und beleidigt so zutiefst Schel-
ling, mit dem er seine ersten philosophischen Gedanken geteilt hatte.
Hegel erklärt in der Differenz des Fichteschen und Schellingschen
Systems der Philosophie von 1801, dass »in der transzendentalen
Anschauung alle Entgegensetzung aufgehoben ist, aller Unterschied
8
Ebd., S. 26.
9 Ebd., S. 31.
10
Ebd.
17
Einführung
der Konstruktion des Universums durch und für die Intelligenz, und
seiner als ein Objektives angeschauten, unabhängig erscheinenden
Organisation vernichtet ist«. 11 Im Gegensatz dazu bestimmt er im
Vorwort der Phänomenologie des Geistes von 1807 »das Resultat die-
ser Vernichtung« mit einer absolut negativen Bedeutung.
Der Begriff »Phänomenologie« wurde zur Zeit Hegels in dem
Werk Neues Organon oder Gedanken über die Erforschung und Be-
zeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung von Irrtum und
Schein (1764) von Johann Heinrich Lambert eingeführt, aber wahr-
scheinlich schon von der Schule Wolffs geprägt. Lambert benutzt ihn
als Titel des 4. Teils (»Phänomenologie oder Lehre von dem Schein«)
seines Neuen Organon und versteht ihn als Studium der Fehlerquel-
len. Die Erscheinung, von der die Phänomenologie die Beschreibung
ist, wird von ihm als trügerische angesehen. Die Phänomenologie
wird als »Lehre von dem Schein« definiert. Die »Theorie des Scheins
und seines Einflusses auf die Richtigkeit oder Unrichtigkeit der
menschlichen Erkenntnis« hat ihm zufolge den Zweck, den »Schein
zu vermeiden, um zu dem Wahren durchzudringen«.
Herder, Novalis und Fichte haben diese Bedeutung des Begriffs
wieder aufgenommen. Auch Hegel folgt dieser philosophischen Tra-
dition und erarbeitet ein persönliches Konzept der Phänomenologie,
das sich jedoch von Kants Interpretation der Phänomenologie in den
Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft (1786) un-
terscheidet.
Kant hatte den Begriff »Phänomenologie« benutzt, um auf den
Teil der »Theorie der Bewegung« zu verweisen, der die Bewegung
oder die Ruhe der Materie in Bezug auf die Modalitäten, in denen
die Materie einem äußeren Sinn und der Rezeptivität erscheint, er-
klärt. Im Gegensatz hierzu nennt Hegel »Phänomenologie des Geis-
tes« die Geschichte der unterschiedlichen Stufen des Bewusstseins,
das durch seine anfänglichen, sinnlichen Erscheinungen seine eigene,
wahre Natur entdeckt, sich also als unendliches und allgemeines Be-
wusstsein entdeckt. In diesem Sinn wird die Phänomenologie des
Geistes von ihm als das »Werden der Wissenschaft oder des Wissens«
identifiziert. Hegel sieht in ihr den Weg, den das einzelne Individuum
zurücklegt und auf dem es schrittweise die Stufen der Formation des
absoluten Geistes durchläuft.
11
Ebd.
18
Einführung
14 Ebd., S. 31.
15
Ebd., S. 167.
16 Ebd., S. 76.
17
Ebd., S. 82.
19
Einführung
Wissen erscheint oder auftritt. Weil Hegel dieses wahre Wissen als
»absolutes Wissen« 18 versteht, handelt es sich bei dieser Phänomeno-
logie um die Epiphanie des Wissens des Absoluten; erst hier hat ihm
zufolge das Wissen das Element der Wissenschaft erreicht, was ihr
reiner Begriff ist. »Die Wissenschaft stellt diese bildende Bewegung
sowohl in ihrer Ausführlichkeit und Notwendigkeit, als das, was
schon zum Momente und Eigentum des Geistes herabgesunken ist,
in seiner Gestaltung dar. Das Ziel ist die Einsicht des Geistes in das,
was das Wissen ist.« 19 Die Phänomenologie ist die Beschreibung des
Werdens der Wissenschaft im Allgemeinen, also des Wissens des
Geistes. »Dies Werden der Wissenschaft überhaupt, oder des Wis-
sens, ist es, was diese Phänomenologie des Geistes darstellt. Das Wis-
sen, wie es zuerst ist, oder der unmittelbare Geist ist das Geistlose,
das sinnliche Bewusstsein. Um zum eigentlichen Wissen zu werden,
oder das Element der Wissenschaft, das ihr reiner Begriff selbst ist, zu
erzeugen, hat es sich durch einen langen Weg hindurch zu arbei-
ten.« 20 Hiermit schließt die Phänomenologie des Geistes: »Was er in
ihr sich bereitet, ist das Element des Wissens. In diesem breiten sich
nun die Momente des Geistes in der Form der Einfachheit aus, die
ihren Gegenstand als sich selbst weiß. Sie fallen nicht mehr in den
Gegensatz des Seins und Wissens auseinander, sondern bleiben in
der Einfachheit des Wissens, sind das Wahre in der Form des Wahren,
und ihre Verschiedenheit ist nur Verschiedenheit des Inhalts. Ihre
Bewegung, die sich in diesem Elemente zum Ganzen organisiert, ist
die Logik oder spekulative Philosophie.« 21 Vor diesem Hintergrund
ist die Phänomenologie die Darstellung des Weges des natürlichen
Bewusstseins zum wahren Wissen. Sie ist der Weg der Seele, die »sich
gereinigt hat und zum Geist strebt«. 22 Die Phänomenologie »kann
von diesem Standpunkte aus, als der Weg des natürlichen Bewusst-
seins, das zum wahren Wissen dringt, genommen werden; oder als
der Weg der Seele, welche die Reihe ihrer Gestaltungen, als durch
ihre Natur ihr vorgesteckter Stationen durchwandert, dass sie sich
zum Geiste läutere, indem sie durch die vollständige Erfahrung ihrer
selbst zur Kenntnis desjenigen gelangt, was sie an sich selbst ist«. 23
18 Ebd., S. 575.
19 Ebd., S. 80.
20 Ebd., S. 78.
21
Ebd., S. 92.
22 Ebd., S. 153.
23
Ebd., S. 152.
20
Einführung
Laut Hegel ist die Aufgabe der Philosophie »das, was ist, zu be-
greifen, denn das, was ist, ist die Vernunft«. 24 Indem er diese Defini-
tion als Grundlage nimmt, behauptet Hegel die Gleichartigkeit von
Vernunft und Wirklichkeit. In der »Vorrede« zu den Grundlinien der
Philosophie des Rechts greift Hegel diese Thematik auf und schreibt:
»Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist ver-
nünftig. In dieser Überzeugung steht jedes unbefangene Bewusstsein,
wie die Philosophie, und hiervon geht diese ebenso bei der Betrach-
tung des geistigen Universums, als des natürlichen, aus.« 25
21
I. Die Untersuchung des unbedingten
Grundsatzes der Erkenntnis.
Die Philosophie der Philosophie und die
Wissenschaft der Wissenschaft.
Die Form der Form und das Wissen des
Wissens in Fichtes Idealismus
Laut Fichte ist sein philosophisches System »das erste System der
Freiheit«, 1 das die Philosophie von dem Problem des Dinges an sich
befreit und sie unabhängig macht, wie er in einem Brief an Baggesen
aus dem Jahre 1795 schreibt. In der Ersten Einleitung in die Wissen-
schaftslehre (1797) bestätigt Fichte diesen Begriff und unterstreicht,
dass das dogmatische Denken das Denken ist, das die Grundlage der
1 »Mein System ist das erste System der Freiheit«. Entwurf eines Brief an J. Baggesen
(1795), GA III/2, S. 298.
23
Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
2
J. G. Fichte, Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre, S. 15.
3 I. Kant, KrV, B 343/A 286.
4
Ebd., B 344/A 287.
24
Das Problem des Dinges an sich und die Noumena als Grenzbegriffe
ein Ding an sich selbst (lediglich durch einen reinen Verstand) ge-
dacht werden soll, ist gar nicht widersprechend; denn man kann von
der Sinnlichkeit doch nicht behaupten, daß sie die einzige mögliche
Art der Anschauung sei. Ferner ist dieser Begriff notwendig, um die
sinnliche Anschauung nicht bis über die Dinge an sich selbst aus-
zudehnen, und also, um die objektive Gültigkeit der sinnlichen Er-
kenntnis einzuschränken (denn das übrige, worauf jene nicht reicht,
heißen eben darum Noumena, damit man dadurch anzeige, jene Er-
kenntnisse können ihr Gebiet nicht über alles, was der Verstand
denkt, erstrecken). Am Ende aber ist doch die Möglichkeit solcher
Noumenorum gar nicht einzusehen, und der Umfang außer der
Sphäre der Erscheinungen ist (für uns) leer, d. i. wir haben einen Ver-
stand, der sich problematisch weiter erstreckt, als jene, aber keine
Anschauung, ja auch nicht einmal den Begriff von einer möglichen
Anschauung, wodurch uns außer dem Felde der Sinnlichkeit Gegen-
stände gegeben, und der Verstand über dieselbe hinaus assertorisch
gebraucht werden könne.« 5
Der Begriff eines Noumenon ist »also bloß ein Grenzbegriff, um
die Anmaßung der Sinnlichkeit einzuschränken, und also nur von
negativem Gebrauche. Er ist aber gleichwohl nicht willkürlich erdich-
tet, sondern hängt mit der Einschränkung der Sinnlichkeit zusam-
men, ohne doch etwas Positives außer dem Umfange derselben setzen
zu können.« 6
Kant bezeichnet einen Begriff als »problematisch«, wenn er kei-
nen Widerspruch enthält. Der Begriff »Noumenon« ist nicht wider-
sprüchlich: Man kann in der Tat nicht behaupten, dass die Sinnlich-
keit die einzige Möglichkeit der Anschauung sei. Außerdem ist das
Noumenon nach Kant ein notwendiger Begriff, um die objektive Gül-
tigkeit der sinnlichen Erkenntnis zu begrenzen. 7 Die Möglichkeiten
der Noumena kann man nicht in Beziehung auf ihre Beziehungen zu
den Bedingungen der realen Möglichkeiten bestimmen, weil ihr Be-
reich und das Feld ihrer Erkenntnis jenseits der Grenzen der Erschei-
nungswelt liegen. Die objektive Realität dieses Begriffs kann nicht
nach den »Bedingungen der Möglichkeit« 8 der Erfahrung aufgestellt
kenntnis und der Idee der Transzendentalphilosophie vgl. J. M. Siemek, Die Idee des
25
Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
werden. Der problematische Begriff wird durch die Fragen nach den
Grenzen der Vernunft 9 und danach, wie es möglich ist, sich im Grenz-
bereich zwischen Phaenomena und Noumena zu orientieren, gerecht-
fertigt. Mit dem Begriff »Noumenon« überschreitet unser Intellekt
nur auf problematische Art und Weise die Sphäre der Sinnlichkeit.
Er kann nicht über diese Sphäre assertorisch hinausgehen, weil er
über keine intellektuelle Anschauung verfügt. Das Noumenon ist
demnach ein Problem, das eng mit der Begrenzung unserer Sinnlich-
keit verbunden ist.
Vor diesem semantischen Horizont erscheint das positive Ele-
ment des Begriffs »Noumenon« als »problematischer Begriff« 10 mit-
tels seiner authentischen Charakteristik: der begrenzenden Funktion
im Bereich der sinnlichen Erkenntnis. Aufgrund dieser Charakteristik
ist der Begriff »Noumenon« keinesfalls willkürlich, sondern not-
wendig, weil er mit der Bestimmung der Grenzen unserer Sinnlich-
keit verbunden ist. Um die Beziehung zwischen den Strukturen des
Transzendentalen und die Bedeutung der Funktion der Begrenzung
des Noumenons als problematischer Begriff zu erklären, bedient sich
Kant der Bezeichnung Grenzbegriff. Was ist ein Grenzbegriff? Was
bedeutet es, sich im Grenzbereich zwischen Phaenomena und Nou-
mena zu orientieren? Welche Funktion haben die Grenzbegriffe in
der Transzendentalphilosophie Kants?
In Bezug auf die Reflexionen zur Metaphysik ist zu bemerken,
dass der Begriff »limes« im Zusammenhang einer Definition immer
auf eine Negation, ein Fehlen, eine Abwesenheit oder einen Mangel
Transzendentalismus bei Fichte und Kant, Hamburg: Meiner 1984; F. Beiser, The Fate
of Reason. German Philosophy from Kant to Fichte, Cambridge (Massachusetts) –
London: Harvard University Press 1993; vgl. auch W. Flach, Die Idee der Transzen-
dentalphilosophie, Würzburg: Königshausen & Neumann 2002.
9
Vgl. L. Hühn, Fichte und Schelling oder: Über die Grenzen menschlichen Wissens,
Stuttgart 1994; R. P. Horstmann, Die Grenzen der Vernunft. Eine Untersuchung zu
Zielen und Motiven des deutschen Idealismus, 2. Auflage, Weinheim: Beltz Athe-
näum 1995; vgl. auch F. Kutschera, Die Wege des Idealismus, Paderborn 2006.
10 Zur Bedeutung des Noumenons als »problematischer Begriff« vgl. H. E. Allison,
26
Das Problem des Dinges an sich und die Noumena als Grenzbegriffe
27
Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
Zur Analyse des Noumenons als »Grenzbegriff« vgl. N. F. Stang, Kant’s Modal
16
28
Der Dualismus zwischen Subjektivität und Objektivität
der Begriffe des Denkens unterscheidet Kant vier Typen von Objek-
ten: a) das Objekt im allgemeinen Sinn; b) den phänomenologischen
Sinn des Objekts, das von der Erfahrung in der sinnlichen Mannig-
faltigkeit gegeben wird und somit die empirische Anschauung impli-
ziert; c) die Einigung mittels der Kategorien und die Einführung aller
Erfahrungen; d) den noumenischen Sinn des Objekts als von der Ver-
nunft notwendig gedachtes Objekt, auch wenn es im Bezug auf seine
Realität nicht erkennbar ist.
Der Begriff »Noumenon« ist, auch wenn dieses in Hinsicht auf
die Beziehung zu den Bedingungen der Möglichkeit 17 der Erfahrung
unerkennbar ist, ein Grenzbegriff oder ein »conceptus terminator«.
Vor diesem Hintergrund ist die »unbedingte« Bedingung das höchste
Ziel der phänomenologischen Objektivität. »Denn das, was uns not-
wendig über die Grenze der Erfahrung und aller Erscheinungen hi-
naus zu gehen treibt, ist das Unbedingte, welches die Vernunft in den
Dingen an sich selbst notwendig und mit allem Recht zu allem Be-
dingten, und dadurch die Reihe der Bedingungen als vollendet ver-
langt. […] und daß folglich das Unbedingte nicht an Dingen, so fern
wir sie kennen (sie uns gegeben werden), wohl aber an ihnen, so fern
wir sie nicht kennen, als Sachen an sich selbst, angetroffen werden
müsse […]« 18
Der Verweis auf die Logik kann nützlich sein, um den Ausgangspunkt
von Fichtes Wissenschaftslehre zu verstehen. Der theoretische Ge-
dankengang Fichtes beruht jedoch nicht nur auf der Begründung der
Logik, sondern bezieht auch das Problem mit ein, das – nach Fichte –
von Kant durch den widersprüchlichen und unhaltbaren Begriff des
Dinges an sich 19 offengelassen wurde. Die Philosophie ist dazu ge-
zwungen, in den Dogmatismus zu münden, wie ihre Geschichte bis
hin zu Kant zeigt, wenn sie bei der Erkenntnis der Präsenz einer
19
J. G. Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, S. 50.
29
Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
Grenze durch ein Ding an sich, von dem die gesamte Welt der Er-
kenntnis abzuleiten ist, beginnt. Dogmatismus und Idealismus 20 ste-
hen in eindeutigem Gegensatz zueinander, aber keiner von beiden
kann den anderen widerlegen. Deshalb hängt die Wahl von einem
von beiden einzig und allein von der Persönlichkeit des jeweiligen
Philosophen ab. Trotz alledem gibt es viele Argumente, die für den
Idealismus sprechen. Der Dogmatismus, der vom Noumenon aus-
geht, leitet den eigentlichen Akt des Denkens vom Objekt ab – jedoch
ist dieser Übergang vom Sein zum Denken unmöglich. Der Idealis-
mus hingegen leitet das Objekt vom Subjekt ab, und der Gedanke
enthält schon das Sein bzw. das Moment des Seins. Auch das prakti-
sche Verhalten des Menschen spricht für den Idealismus: Der Dog-
matiker hat einen schwachen Charakter und erklärt die Aktivität des
Geistes durch die schon bestehende Realität; die Freiheit 21 des Den-
kens ist für ihn ein reines Produkt der Dinge. Der Idealist hingegen
hat Unternehmungsgeist und unterstreicht gegenüber der Realität
der Welt seine Autonomie und seine Freiheit; das Objekt wird vom
Subjekt abgeleitet.
Der tiefe Dualismus zwischen Subjektivität 22 und Objektivität
und zwischen Phaenomena und Noumena wird zu einer unüberwind-
baren Grenze. Dieses Resultat zu negieren bedeutet für Fichte nicht,
einem dogmatischen Idealismus zu folgen, oder zu verneinen, dass
das menschliche Bewusstsein endlich und begrenzt ist. Fichtes Wis-
senschaftslehre ist – anders als die Philosophie Kants – ein transzen-
dentaler Idealismus 23, der die ursprüngliche und nicht zu unterdrü-
Transzendentalität bei Kant«, in: Subjekt als Prinzip? Zur Problemgeschichte und
Systematik eines neuzeitlichen Paradigmas, hrsg. von Achim Lohmar und Henning
Peucker, Würzburg 2003, S. 56–80; vgl. auch A. Rosales, Sein und Subjektivität bei
Kant, Berlin: de Gruyter 2012.
23 Zur philosophisch-theoretischen Analyse des tranzendentalen Idealismus vgl.
F. Kuhne, Selbstbewusstsein und Erfahrung bei Kant und Fichte. Über Möglichkeiten
und Grenzen der Transzendentalphilosophie, Hamburg: Meiner 2007; vgl. C. As-
muth, »Transzendentalphilosophie oder absolute Metaphysik? Grundsätzliche Fragen
30
Der Dualismus zwischen Subjektivität und Objektivität
31
Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
25
Ebd., A 249.
32
Der Dualismus zwischen Subjektivität und Objektivität
»Zwischen Sein und Setzen: Fichtes Kritik am dreifachen Absoluten der kantischen
Philosophie«, in: Anfänge und Ursprünge. Zur Vorgeschichte der Jenaer Wissen-
schaftslehre, hrsg. von Wolfgang H. Schrader, Fichte-Studien, Bd. 9, Amsterdam/At-
lanta 1997, S. 143–162; vgl. S. L. Darwall, »Fichte and the Second Person Standpoint«,
in: Internationales Jahrbuch des deutschen Idealismus 3 (2005), S. 91–113.
33
Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
29 KrV, A 252–253.
30
Ebd., B 306.
34
Der Dualismus zwischen Subjektivität und Objektivität
sen, welches wir durch den Verstand auf einige Art erkennen könn-
ten, zu halten.« 31
Kant verweist, indem er die semantische Unterscheidung zwi-
schen bestimmtem und unbestimmtem Begriff beibehält, auf die
zweifache Bedeutung des Noumenons: das Noumenon im positiven
Sinne und das Noumenon im negativen Sinne. »Wenn wir unter
Noumenon ein Ding verstehen, so fern es nicht Objekt unserer sinn-
lichen Anschauung ist, indem wir von unserer Anschauungsart des-
selben abstrahieren: so ist dieses ein Noumenon im negativen Ver-
stande. Verstehen wir aber darunter ein Objekt einer nichtsinnlichen
Anschauung, so nehmen wir eine besondere Anschauungsart an,
nämlich die intellektuelle, die aber nicht die unsrige ist, von welcher
wir auch die Möglichkeit nicht einsehen können, und das ware das
Noumenon in positiver Bedeutung.« 32 »Die Lehre von der Sinnlich-
keit ist nun zugleich die Lehre von den Noumenen im negativen Ver-
stande, d. i. von Dingen, die der Verstand sich ohne diese Beziehung
auf unsere Anschauungsart, mithin nicht bloß als Erscheinungen,
sondern als Dinge an sich selbst denken muss, von denen er aber in
dieser Absonderung zugleich begreift, dass er von seinen Kategorien,
in dieser Art sie zu erwägen, keinen Gebrauch machen könne, weil
diese nur in Beziehung auf die Einheit der Anschauungen in Raum
und Zeit Bedeutung haben, sie eben diese Einheit auch nur wegen der
bloßen Idealität des Raums und der Zeit durch allgemeine Verbin-
dungsbegriffe a priori bestimmen können. Wo diese Zeiteinheit nicht
angetroffen werden kann, mithin beim Noumenon, da hört der ganze
Gebrauch, ja selbst alle Bedeutung der Kategorien völlig auf; denn
selbst die Möglichkeit der Dinge, die den Kategorien entsprechen sol-
len, läßt sich gar nicht einsehen; weshalb ich mich nur auf das berufen
darf, was ich in der allgemeinen Anmerkung zum vorigen Hauptstü-
cke gleich zu Anfang anführete. Nun kann aber die Möglichkeit eines
Dinges niemals bloß aus dem Nichtwidersprechen eines Begriffs des-
selben, sondern nur dadurch, dass man diesen durch eine ihm korres-
pondierende Anschauung belegt, bewiesen werden. Wenn wir also die
Kategorien auf Gegenstände, die nicht als Erscheinungen betrachtet
werden, anwenden wollten, so müssten wir eine andere Anschauung,
als die sinnliche, zum Grunde legen, und alsdenn wäre der Gegen-
stand ein Noumenon in positiver Bedeutung. Da nun eine solche,
31 Ebd., B 306–307.
32
Ebd., B 307.
35
Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
Was bedeutet Synthesis 34? Worin besteht die Funktion und die Be-
deutung der Synthesis in der Wissenschaftslehre Fichtes? Warum ist
der Begriff »Synthesis« in der Grundlage der gesamten Wissen-
33
Ebd., B 307–309.
34 Der Begriff »Synthesis« (gr. σύνθεσις; lat. synthesis) hat außer den allgemeinen
Bedeutungen Vereinigung, Koordination oder Komposition weitere, bestimmte Be-
deutungen: a) eine erkenntnistheoretische Methode, die im Gegensatz zur Analyse
steht; b) eine intellektuelle Tätigkeit; c) eine dialektische Einheit von Gegensätzen;
d) eine Einheit der Resultate einer Wissenschaft in der Philosophie. Mit der ersten
Bedeutung, also als grundlegende Methode der Erkenntnis, im Gegensatz zur Ana-
lyse, kann man die Synthese als Methode verstehen, die vom Einfachen zum Kom-
positum führt, die von den einzelnen Elementen ausgeht, um zu deren Kombinationen
in den Objekten zu gelangen, deren Natur erklärt werden soll. Die Gegenüberstellung
der zwei Methoden wurde das erste Mal von Descartes ausgesprochen (Méditations
métaphysiques. Objections et réponses suivies de quatre lettres, S. 255); Leibniz be-
stimmt sie wie folgt: »Wir können durch die Synthesis die Wahrheit bestimmen, in-
dem wir vom Einzelnen zum Allgemeinen, vom Einfachen zum Zusammengesetzten,
gehen. Aber die Synthesis ist nicht ausreichend. Durch die Analyse können wir den
Weg im Labyrinth finden« (Nouveaux essais sur l’entendement humain, IV, 2, 7).
Nach Kant ist die synthetische Methode die fortschreitende Methode, während die
analytische Methode rückschreitend ist, also vom Objekt ausgeht und zu den Bedin-
gungen führt, die es ermöglichen (Prolegomena, § 5, Anmerkung). Das Vorgehen der
Philosophie ist nach Kant analytisch und das Vorgehen der Mathematik ist synthe-
tisch. Die beiden Begriffe beziehen sich in diesem Zusammenhang jedoch in keiner
Weise auf eine Klassifizierung der Urteile in analytische oder synthetische Urteile. Im
Allgemeinen gilt: So, wie das analytische Vorgehen durch Fakten (die dem Objekt
oder der Situation, die zu lösen ist, innewohnen) charakterisiert ist, die die Vor-
gehensweise selbst leiten und kontrollieren, so ist das synthetische Vorgehen durch
die Abwesenheit dieser Fakten charakterisiert. Letzteres hat den Anspruch, von sich
36
Der Dualismus zwischen Subjektivität und Objektivität
selbst aus die Elemente und ihre Konstrukte zu produzieren. Die zweite Bedeutung
des Begriffs verweist auf die Einheit von Subjekt und Prädikat in dem Satz; sie ver-
weist also auf den Akt oder die intellektuelle Tätigkeit, die diese Einheit hervorbringt.
In diesem Sinne wird der Begriff von Aristoteles verwendet, der sagt, dass »dort, wo
richtig und falsch liegen, auch eine gewisse Synthese der Gedanken herrscht, die der
Synthese ähnelt, die in den Dingen liegt« (De anima, III, 6, 430 a 27); und »das, was
diese Einheit konstituiert, ist der Verstand« (ebd., 430 b 5). Es ist aber vor allem Kant,
der den Begriff »Synthese« benutzt. Er führt jede Art von intellektueller Tätigkeit auf
diese zurück. Er definiert die Synthese im Allgemeinen als »Akt, der die unterschied-
lichen Vorstellungen vereinigt, und der diese Einheit in einem einzigen Bewusstsein
versteht« (KrV, B 102/A 77). Außerdem unterscheidet er unterschiedliche Arten von
Synthese auf der Grundlage der Elemente, die an ihr teilhaben. Er unterscheidet die
reine Synthese, in der das Vielfältige nicht empirisch, sondern a priori (wie die Man-
nigfaltigkeit von Raum und Zeit) gegeben ist, von der empirischen Synthese, in der
das Vielfältige empirisch gegeben ist. Die reine Synthese ist »der ursprüngliche Akt
unserer Erkenntnis« (ebd.). Sie geht jeder Analyse voran, da man nur das analysieren
kann, was schon durch den Akt der Erkenntnis vereint und gegeben wurde. Die reine
Synthese, die a priori möglich ist, kann in die figurative Synthese (synthesis speciosa)
und die intellektuelle Synthese (synthesis intellectualis) unterteilt werden. Während
die intellektuelle Synthese eine reine gedachte Mannigfaltigkeit vereint, ist die figu-
rative Synthese eine Synthese der Mannigfaltigkeit der sensiblen Anschauung bzw.
eine Synthese der Einbildungskraft als »Möglichkeit, die Sinnlichkeit a priori zu be-
stimmen« (ebd., § 24). Das denkende Ich oder die ursprüngliche Apperzeption basie-
ren auf dieser transzendentalen Synthese. Da aber jede Erkenntnis eine Synthese ist
und die tatsächliche Erkenntnis Erfahrung ist, beruht nach Kant die Erfahrung an sich
»auf einer Synthesis nach Begriffen vom Gegenstande der Erscheinungen überhaupt«
(KrV, B 195/A 156). In der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft spricht Kant
von drei Typen der Synthese: a) der Synthese der Apprehension in der Anschauung;
b) der Synthese der Reproduktion in der Einbildung; c) der Synthese der Rekognition
im Begriff (KrV, A 99). Aber sowohl in der ersten als auch in der zweiten Auflage wird
auf die Synthese jede Art oder jede Stufe von Tätigkeit der Erkenntnis zurückgeführt.
Dies ist einer der am meisten diskutierten Aspekte seines Werks. Der Begriff »Syn-
these« verändert sich dann im Idealismus und wird von anderen Philosophen wieder-
aufgenommen und anders interpretiert. Der Begriff mit der Bedeutung »Einheit der
Gegensätze« und dem damit zusammenhängenden Begriff der Dialektik wird zum
ersten Mal von Fichte eingeführt. Das Gesetz der Dialektik ist, dass »keine Antithese
ohne eine Synthese möglich ist, weil die Antithese das Suchen nach dem Gegenteil
des Gleichen ist« (Wissenschaftslehre, § 3, D, 3). Schelling definierte den Prozess als
»Prozess, der von der These ausgeht und zur Synthese führt, also den Prozess, auf-
grund dessen das Ich das Objekt stellt, sich ihm entgegensetzt und es schließlich in
sich selbst versteht« (System des transzendentalen Idealismus, III, Kap. I; S. 58 ff.).
Hegel hingegen bevorzugt anstatt »Synthese« den Begriff »Identität« oder »Einheit«,
37
Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
auch wenn er bemerkt, dass das Wort »Einheit« mehr auf eine subjektive Reflexion als
auf eine Identität verweist. Die Einheit oder die Identität, die eine dialektische Drei-
heit abschließt, ist eine objektive Verbindung. Nach Hegel könnte man sie besser
Untrennbarkeit nennen – ein Begriff, der jedoch leider nicht die positive Natur der
Synthese beinhaltet (Wissenschaft der Logik, I, Buch I, Teil I, Kap. I, Anm. 2, S. 85).
35
J. G. Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, 1794, S. 208.
38
Logik und Wissenschaftslehre
lich, sie sind es so gewiß, so gewiß die erste Synthesis, aus der sie
entwickelt werden, und mit der sie eins, und dasselbe ausmachen,
eine ist; und diese ist eine, so gewiß als die höchste Tathandlung des
Ich, durch die es sich selbst setzt, eine ist. Die Handlungen, welche
aufgestellt werden, sind synthetisch; die Reflexion aber, welche sie
aufstellt, ist analytisch.« 36 Keine Antithesis »ist möglich ohne Syn-
thesis. Mithin wird eine höhere Synthesis als schon geschehen vo-
rausgesetzt; und unser erstes Geschäft muss sein, diese, aufzusuchen,
und sie bestimmt aufzustellen.« 37
36 Ebd., S. 210.
37
Ebd., S. 212.
38 Vgl. J. Benoist, Kant et les limites de la synthèse, Paris: PUF 1996.
39
KrV, B 85/A 61.
39
Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
reinen Erkenntnis aber beruhet darauf, als ihrer Bedingung: dass uns
Gegenstände in der Anschauung gegeben sein, worauf jene ange-
wandt werden können. Denn ohne Anschauung fehlt es aller unserer
Erkenntnis an Objekten, und sie bleibt alsdenn völlig leer. Der Teil der
transzendentalen Logik also, der die Elemente der reinen Verstandes-
erkenntnis vorträgt, und die Prinzipien, ohne welche überall kein Ge-
genstand gedacht werden kann, ist die transzendentale Analytik, und
zugleich eine Logik der Wahrheit.« 40
Die allgemeine Logik abstrahiert von jeglichem Inhalt der Er-
kenntnis. Im Gegensatz hierzu analysiert die transzendentale Logik
die Mannigfaltigkeit der Erkenntnis in Verbindung mit der realen
Möglichkeit der Gegenstände, die in der Erfahrung gegeben sind.
Die transzendentale Logik hat die Aufgabe, den reinen Begriffen des
Intellekts eine Materie zu geben, denn ohne diese Materie hätten sie
keinen Inhalt. Raum und Zeit beinhalten eine Mannigfaltigkeit der
reinen Anschauung a priori und stellen die Bedingungen der Mög-
lichkeit der Rezeptivität dar. »Raum und Zeit enthalten nun ein Man-
nigfaltiges der reinen Anschauung a priori, gehören aber gleichwohl
zu den Bedingungen der Rezeptivität unseres Gemüts, unter denen es
allein Vorstellungen von Gegenständen empfangen kann, die mithin
auch den Begriff derselben jederzeit affizieren müssen. Allein die
Spontaneität unseres Denkens erfordert es, dass dieses Mannigfaltige
zuerst auf gewisse Weise durchgegangen, aufgenommen, und ver-
bunden werde, um daraus eine Erkenntnis zu machen. Diese Hand-
lung nenne ich Synthesis.« 41
Kant versteht aber unter Synthesis »in der allgemeinsten Be-
deutung die Handlung, verschiedene Vorstellungen zu einander hin-
zuzutun, und ihre Mannigfaltigkeit in einer Erkenntnis zu begreifen.
Eine solche Synthesis ist rein, wenn das Mannigfaltige nicht empi-
risch, sondern a priori gegeben ist (wie das im Raum und der Zeit).
Vor aller Analysis unserer Vorstellungen müssen diese zuvor ge-
geben sein, und es können keine Begriffe dem Inhalte nach ana-
lytisch entspringen. Die Synthesis eines Mannigfaltigen aber (es sei
empirisch oder a priori gegeben) bringt zuerst eine Erkenntnis her-
vor, die zwar anfänglich noch roh und verworren sein kann, und also
der Analysis bedarf; allein die Synthesis ist doch dasjenige, was
eigentlich die Elemente zu Erkenntnissen sammelt, und zu einem
40
Logik und Wissenschaftslehre
gewissen Inhalte vereinigt; sie ist also das erste, worauf wir Acht zu
geben haben, wenn wir über den ersten Ursprung unserer Erkennt-
nis urteilen wollen.« 42
Kant hebt, auch wenn er an der Wechselbeziehung zwischen der
Synthese und der Mannigfaltigkeit festhält, oft die semantische Un-
terscheidung zwischen allgemeiner Logik und transzendentaler Lo-
gik, zwischen analytischem und synthetischem Prozess, hervor. Vor
diesem Hintergrund ist es besonders wichtig, die Bedingungen der
Möglichkeit und/oder die Prinzipien, die den subjektiven Prozess der-
jenigen Synthese konstituieren und charakterisieren, die Kant die
»reine Synthese« 43 nennt, aufzufinden und zu bestimmen. Was be-
deutet reine Synthese? Welche Funktionen haben diese Strukturen
dem Transzendentalen gegenüber? Warum ist die Kritik Fichtes an
der Bedeutung der reinen Synthese in der transzendentalen Logik
Kants so wichtig?
»Die reine Synthesis, allgemein vorgestellt, gibt nun den reinen
Verstandesbegriff. Ich verstehe aber unter dieser Synthesis diejenige,
welche auf einem Grunde der synthetischen Einheit a priori beruht:
so ist unser Zählen (vornehmlich ist es in größeren Zahlen merk-
licher) eine Synthesis nach Begriffen, weil sie nach einem gemein-
schaftlichen Grunde der Einheit geschieht. Unter diesem Begriffe
wird also die Einheit in der Synthesis des Mannigfaltigen notwendig.
Analytisch werden verschiedene Vorstellungen unter einen Begriff
gebracht (ein Geschäfte, wovon die allgemeine Logik handelt). Aber
nicht die Vorstellungen, sondern die reine Synthesis der Vorstellun-
gen auf Begriffe zu bringen, lehrt die transzendentale Logik. Das ers-
te, was uns zum Behuf der Erkenntnis aller Gegenstände a priori ge-
geben sein muss, ist das Mannigfaltige der reinen Anschauung; die
Synthesis dieses Mannigfaltigen durch die Einbildungskraft ist das
zweite, gibt aber noch keine Erkenntnis. Die Begriffe, welche dieser
reinen Synthesis Einheit geben, und lediglich in der Vorstellung die-
ser notwendigen synthetischen Einheit bestehen, tun das dritte zum
41
Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
42
Logik und Wissenschaftslehre
»Wenn man davon ausgeht«, sagt Fichte, »dass das erste Prinzip
der Logik A = A« 47 universell anerkannt ist, so ist es trotzdem ein
rein hypothetisches Prinzip der Logik, weil es bedeutet, dass ein ge-
stelltes und bestätigtes A gleich A ist. Ein Beispiel: Wenn das Be-
wusstsein sich den Begriff »Dreieck« vergegenwärtigt, ist dieser Be-
griff sicher da, und das Objekt der Darstellung ist ein Dreieck, auch
wenn keinerlei Notwendigkeit an sich besteht, dieses Objekt dar-
zustellen; es könnte auch sein, dass die Menschen niemals geometri-
sche Figuren, also auch Dreiecke, dargestellt haben. Es gibt nur einen
Fall, in dem das Prinzip A = A nicht hypothetisch, sondern absolut ist
und keiner weiteren Bedingungen bedarf: wenn der Begriff A auf das
Ich verweist, also auf die reine und spontane Tätigkeit des mensch-
lichen Geistes. In diesem Fall kann man nicht sagen, dass, wenn das
Ich gegeben ist, es auch da ist, denn ohne das Ich ist kein Urteil mög-
lich – und demzufolge auch kein Satz, in dem die Logik Gültigkeit
hat. Die Logik besteht nur in Bezug zu den Formen des Wissens, oder
den allgemeinen Bedingungen, nach denen der Prozess des Wissens
vorgeht, ohne auf die besonderen Charakteristika des Inhalts ein-
zugehen. Die Wissenschaftslehre hingegen hat die Aufgabe, beides
aufzuzeigen: »Form und Inhalt des Wissens«. 48
Vor diesem Hintergrund ist die Wissenschaftslehre unbedingt,
da sie die notwendigen Vorgänge, durch die der menschliche Geist
zum Wissen gelangt, vorstellt. Die Logik ist im Gegenteil bedingt,
weil sie aus einem Akt der Abstraktion hervorgeht, der die formalen
Aspekte des Wissens vom Inhalt trennt. Laut Fichte ist die Logik eine
künstliche Tätigkeit, eine Fiktion oder eine Erfindung, die zweifellos
zu einer guten und sicheren Entwicklung der Wissenschaften bei-
tragen, sie jedoch nicht begründen kann. Denn dies ist »die Aufgabe
der Wissenschaftslehre«. 49
47 Ebd.
48
Ebd.
49 J. G. Fichte, Die Wissenschaftslehre. Zweiter Vortrag im Jahre 1804 vom 16. April
43
Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
50
Vgl. R. Loock, »Das Bild des absoluten Seins beim frühen und späten Fichte«, in:
Die Spätphilosophie J. G. Fichtes 1, hrsg. von Wolfgang H. Schrader, Fichte-Studien,
Bd. 17, Amsterdam/Atlanta 2000, S. 83–102 und W. Lütterfelds, »Fichtes Konzept ab-
soluter Einheit (1804) – ein performativer Selbstwiderspruch?«, in: Realität und Ge-
wißheit, hrsg. von Helmut Girndt und Wolfgang H. Schrader, Fichte-Studien, Bd. 6,
Amsterdam/Atlanta 1994, S. 401–422.
51 J. G. Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, S. 206.
52 Ebd.
44
Die Untersuchung des absolut-ersten, schlechthin unbedingten Grundsatzes
um eine Grundlage, die nicht begründet werden kann, weil sie sonst
etwas Höheres voraussetzen würde. Das Prinzip an sich ist selbst si-
cher, weil es unmittelbar ist und nicht durch Begriffe beweisbar ist. Es
ist ein Prinzip, das sicher und wahr ist, weil es einen selbstbegründen-
den Charakter hat. Nur dieses Prinzip kann diesen Charakter haben.
Dieses Prinzip »ist der Grund« – so unterstreicht Fichte – »aller Ge-
wißheit, d. h. alles was gewiß ist, ist gewiß, weil er gewiß ist; und es ist
nichts gewiß, wenn er nicht gewiß ist. Er ist der Grund alles Wis-
sens, 54 d. h. man weiß, was er aussagt, weil man überhaupt weiß;
man weiß es unmittelbar, sowie man irgend etwas weiß. Er begleitet
alles Wissen, ist in allem Wissen enthalten, und alles Wissen setzt ihn
voraus.« 55
Jede Art von Wissen setzt die Emanation 56 des wesentlichen
Prinzips voraus. Des Weiteren erlangt jede Wissenschaft ihre eigene
Sicherheit von dem Prinzip, das sie bestimmt und ihr die Garantie der
Wahrheit gibt. Jedoch ist dieses Prinzip seinerseits in dem einzigen,
unnachweisbaren Prinzip begründet, welches die Basis der Wissen-
schaft von allen Wissenschaften ist und welches als axiomatische Vo-
raussetzung jeglicher bestimmten, sinnvollen Behauptung fungiert.
Die Wissenschaft mit jeder ihrer möglichen Spezifikationen geht von
Prinzipien aus, die sie als Tatsachen ansieht und die sie in bestimmter
Weise weiter entwickelt. Diese Tatsachen sind aus genetischer Sicht
Tätigkeiten, die sich durch eine einzige Identität und Einheit differen-
zieren. Es handelt sich um das wesentliche Prinzip, das eine zentrale
und vorrangige Rolle in der Struktur, im System und in der Ziel-
setzung des transzendentalen Idealismus spielt.
Der transzendentale Idealismus ist für Fichte nicht eine Theorie
unter anderen, sondern die einzig wahre Philosophie, 57 die der
menschliche Geist endlich erkannt und erobert hat. Kant hat es nicht
geschafft, seinen eigenen Entdeckungen eine systematische und ein-
54 Vgl. A. Schmidt, Der Grund des Wissens. Fichtes Wissenschaftslehre in den Ver-
sionen von 1794/95, 1804/11 und 1812, Paderborn 2004.
55 J. G. Fichte, Über den Begriff der Wissenschaftslehre, GA I, 2, S. 121.
schaftslehre 1804, in: Zur Wissenschaftslehre, hrsg. von Helmut Girndt, Fichte-
Studien, Bd. 20, Amsterdam/New York 2003, S. 145–159.
57 Vgl. P. Baumanns, J. G. Fichte. Kritische Gesamtdarstellung seiner Philosophie,
Freiburg 1990; vgl. Ch. Asmuth, »Von der Urteilstheorie zur Bewusstseinstheorie.
Die Entgrenzung der Transzendentalphilosophie«, in: Kant und Fichte – Fichte und
Kant, hrsg. von Christoph Asmuth, Fichte-Studien, Bd. 33, Amsterdam/New York
2009, S. 221–249.
45
Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
58 Zur Struktur und Begründung des »Systems des Wissens« bei Fichte vgl. J. Wid-
mann, Die Grundstruktur des transzendentalen Wissens nach Johann Gottlieb Fich-
tes Wissenschaftslehre (1804), Hamburg 1977 und C. Hanewald, »Absolutes Sein und
Existenzgewißheit des Ich«, in: Zur Wissenschaftslehre, hrsg. von Helmut Girndt,
Fichte-Studien, Bd. 20, Amsterdam/New York 2003, S. 13–25.
46
Die Philosophie der Philosophie und die Wissenschaft der Wissenschaft
theorie«, in: Fichte in Geschichte und Gegenwart, hrsg. von Helmut Girndt, Fichte-
Studien, Bd. 22, Amsterdam/New York 2003, S. 223–236.
61
J. G. Fichte, Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre, S. 205.
47
Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
48
Die Philosophie der Philosophie und die Wissenschaft der Wissenschaft
ein Strahl eines unendlichen Kreises, der von der Mitte ausgeht, die
ihm Leben und Bedeutung gibt. Er führt ins Unendliche und hat die
Fähigkeit, weitere Bestimmungen zu empfangen, bleibt aber immer
mit dem Mittelpunkt verbunden. In diesem Kreis liegt das gesamte
menschliche Wissen, das nicht unbestimmt oder zweifelhaft ist, da es
von einem bestimmten Prinzip ausgeht. Es ist auch kein feststehen-
des quid, das unveränderbar ist und für immer bestehen wird. Es ist
eine schrittweise Entwicklung von besonderen Bestimmungen, eine
Entwicklung, die vom Zentrum ausgeht, um sich fortwährend in dem
unermesslich großen Kreis, in dem sich die vielfältigen geistigen For-
men des menschlichen Lebens überkreuzen und zeigen, auszuweiten.
An diesem Punkt hat Fichte die Einheit 63 des Geistes eingeführt und
die Prinzipien der historischen Entwicklung des Geistes aufgestellt.
Dabei handelt es sich um ein subjektives Zentrum, in dem die unend-
lichen Einzelheiten allgemein werden und einem inneren, tiefliegen-
den Gesetz folgen, das unveränderlich ist und die Einheit des geist-
lichen Lebens darstellt.
Diese besondere Wissenschaft basiert demnach auf einem we-
sentlichen Prinzip, das auch das besondere Prinzip der Wissenschaft
der Wissenschaft ist. Diese geht von einem wesentlichen Prinzip aus
und entwickelt den gesamten Inhalt des Bewusstseins oder – mit an-
deren Worten – konstruiert die Welt. Das wesentliche Prinzip ist
nichts anderes als ein einfacher Akt, durch den das Wissen sich selbst
erkennt. Es konstituiert die transzendentale Einheit des Selbst-
bewusstseins, 64 in der etwas unmittelbar Bestimmtes und Sicheres
existiert. Dieses Prinzip ist der Akt, durch den unsere Erkenntnis sich
selbst erkennt. Außerhalb gibt es nichts Bestimmtes, weil alles, um
bestimmt zu sein, auf dieser ersten Bestimmtheit aufbauen muss. Die
absolute Bestimmtheit ist nicht die Substanz, sondern das Selbst-
bewusstsein. Das menschliche Wissen ist eine Gesamtheit, die auf
sich selbst basiert – so wie die Erdkugel auf der Schwerkraft. Die
Schwerkraft ist das erste Prinzip, weil sie unverwechselbar ist und
keines Nachweises bedarf. Form und Inhalt bedingen sich in ihr
63 Vgl. R. Barth, »Wahrheit als Sein von Einheit. Die gewissheitstheoretische Refor-
mulierung des absoluten Wahrheitsbegriffs in Fichtes Phänomenologie von 1804-II«,
in: Grund- und Methodenfragen in Fichtes Spätwerk, hrsg. von Günter Zöller und
Hans Georg von Manz, Fichte-Studien, Bd. 31, Amsterdam/New York 2007, S. 103–
116.
64 Vgl. Bild, Selbstbewusstsein, Einbildung, hrsg. von A. Schnell und J. Kuneš, Fichte-
49
Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
wechselseitig. Eine Form steht nur für einen bestimmten Inhalt und
umgekehrt. Fichte nennt sie intellektuelle Anschauung, d. h. den Akt,
den unsere Subjektivität vollzieht, indem sie in sich selbst zurück-
geht. 65 Es handelt sich um eine Tätigkeit unserer Subjektivität, eine
Form der Form. Nach Fichte ist das Sein niemals ein prius, sondern
immer eine Setzung des Denkens. Die intellektuelle Anschauung
geht in sich selbst zurück, und das Erkennen erkennt auf unmittel-
bare Art und Weise sich selbst, d. h. es erkennt seine Form als reine
Form; und vor diesem Hintergrund erhebt sich simultan und unmit-
telbar das wahre prius des Bewusstseins – der Akt des Geistes. Die
intellektuelle Anschauung ist eine Erkenntnis der Form des Erken-
nens, und es gibt notwendige Arten des Seins des Bewusstseins oder
des Wissens.
Indem Fichte das Prinzip des Bewusstseins des Bewusstseins de-
finiert, der Form der Form, also des reinen Selbstbewusstseins, 66 er-
öffnet er der modernen Philosophie einen neuen Horizont. Die
künstlichen Konstruktionen der dogmatischen philosophischen Sys-
teme lassen den Dualismus zwischen Subjektivität und Objektivität
offen, und was klar und deutlich bleibt, ist dieses Bewusstsein des
Bewusstseins, das Zentrum des Universums, von dem alles Leben
ausgeht und zu dem es zurückkehrt. Schellings Begriff der Entwick-
lung und der absolute Idealismus Hegels basieren auf dieser An-
schauung. Hegel meint, das größte Verdienst Fichtes sei es, das Wis-
sen des Wissens ans Licht gebracht und somit aufgedeckt zu haben,
dass Subjekt und Objekt im reinen, unmittelbaren Akt des Selbst-
bewusstseins identisch sind. Das Objekt ist jener subjektive Akt des
Wissens, der wiederum zum Objekt des neuen Wissens wird.
65 Vgl. A. Mues, »Die Position der Anschauung im Wissen oder die Position der An-
schauung in der Welt. Der Unsinn der Subjektphilosophie«, in: Grund- und Metho-
denfragen in Fichtes Spätwerk, hrsg. von Günter Zöller und Hans Georg von Manz,
Fichte-Studien, Bd. 31, Amsterdam/New York 2007, S. 29–44.
66 Zur Analyse des reinen Selbstbewusstseins bei Fichte vgl. C. Klotz, »Reines Selbst-
50
Das Ich und die Subjektivität
67 Vgl. G. Zöller, »Das Absolute und seine Erscheinung«, in: Konzepte der Rationali-
51
Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
Die intellektuelle Anschauung des Ichs als reine Tätigkeit wird durch
die philosophische Abstraktion hervorgehoben: Eine konkrete Erfah-
rung steht niemals nur für sich. Sie ist eine notwendige Bedingung
des Bewusstseins, aber als solche nicht ausreichend. Damit ein reelles
52
Die Deduktion des »reellen Bewusstseins«
69 Zur Analyse des Begriffs »Anstoß« bei Fichte vgl. H. Eidam, »Fichtes Anstoß. An-
merkungen zu einem Begriff der Wissenschaftslehre 1794«, in: Die Grundlage der
gesamten Wissenschaftslehre von 1794/95 und der transzendentale Standpunkt,
hrsg. von Wolfgang H. Schrader, Fichte-Studien, Bd. 10, Amsterdam/Atlanta 1997,
S. 191–208; A. K. Soller, »Fichtes Lehre vom Anstoß, Nicht-Ich und Ding an sich in
der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre. Eine kritische Erörterung«, in: Die
Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794/95 und der transzendentale
Standpunkt, hrsg. von Wolfgang H. Schrader, Fichte-Studien, Bd. 10, Amsterdam/
Atlanta 1997, S. 175–190; vgl. J. Rivera de Rosales, »Die Begrenzung. Vom Anstoß
zur Aufforderung«, in: Zur Einheit der Lehre Fichtes. Die Zeit der Wissenschaftslehre
Nova Methodo, hrsg. von Helmut Girndt und Jorge Navarro-Pérez, Fichte-Studien,
Bd. 16, Amsterdam/Atlanta 1999, S. 167–190.
70
J. G. Fichte, Sittenlehre (1798), Einleitung, VI, in: Werke IV, S. 7.
53
Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
das im Dualismus der Vorstellung agiert, ist nicht mehr das absolute
Ich (ohne die Grenzen der philosophischen Abstraktion), sondern ein
bestimmtes Subjekt, das in eine Beziehung mit einem bestimmten
Objekt, die auf einer gegenseitigen Begrenzung beruht, eingebunden
ist. Damit es ein Bewusstsein gibt, reicht es nicht aus, dass Gegensätze
bestehen. Diese Gegensätze müssen ihrerseits auch in einer dialekti-
schen Beziehung und Einheit zueinander stehen, und das Objekt ist
ein Objekt, weil es das Subjekt gibt, und umgekehrt. Mit anderen
Worten: Die Antithese (Ich – Nicht-Ich) des zweiten Prinzips wird in
der Einheit mit dem Bewusstsein zur Synthese. Dies geschieht mittels
der These des ersten Prinzips (das Ich setzt sich selbst), das die ur-
sprüngliche Identität der geistigen Tätigkeit als Bedingung einer je-
den bestimmten und erkennenden Erfahrung sieht. Damit das Ich ein
Objekt denken kann, muss es einen einheitlichen geistigen Akt (The-
se) geben, der als solcher eine intensive Beziehung (Synthese) zwi-
schen dem Objekt in Gedanken und dem Bewusstsein aufbaut, indem
er das Objekt begrenzt (Antithese). So bekommt das Objekt eine Be-
deutung. Die höchste Synthese des reellen Bewusstseins drückt sich
im dritten Prinzip aus: Ich stelle im reinen Ich dem teilbaren (end-
lichen) Ich ein unteilbares (endliches) Nicht-Ich gegenüber.
Fichtes Anliegen ist es, eine genetische Deduktion des allgemei-
nen Bewusstseins zu konstruieren. Wie man sieht, ist das, was am
Anfang der Kette der philosophischen Demonstration steht (das reine
Ich, die unbestimmte Tätigkeit) nicht das, was sich am Anfang der
reellen Erfahrung des Bewusstseins zeigt. These, Antithese und Syn-
these müssen nicht als aufeinanderfolgende Vorgehensweisen, die
vom Geist getrennt sind, verstanden werden, sondern als Ergebnisse
einer philosophischen Analyse. Diese drei Akte sind nichts anderes
als ein einziger Akt, und nur durch Reflexion 71 können die einzelnen
Momente dieses Aktes unterschieden werden.
71Zur Bedeutung des Begriffs »produktive Reflexion« vgl. W. Janke, Fichte: Sein und
Reflexion. Grundlagen der kritischen Vernunft, Berlin: de Gruyter 1970 und
W. Metz, »Die produktive Reflexion als Prinzip des wirklichen Bewusstseins«, in:
Zur Wissenschaftslehre, hrsg. von Helmut Girndt, Fichte-Studien, Bd. 20, Amster-
dam/New York 2003, S. 69–99.
54
Das empirische Ich und das »Ich denke«
55
Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
72 Vgl. K. Cramer, »Kants Ich denke und Fichtes Ich bin«, in: Konzepte der Rationali-
tät. Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus, Bd. 1, Berlin/New York: de
Gruyter 2002, S. 57–92.
73 Vgl. J. G. Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, S. 16.
74 Ebd., S. 181.
Paragraph 1 der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794/95«, in: Rea-
lität und Gewißheit, hrsg. von Helmut Girndt und Wolfgang H. Schrader, Fichte-
Studien, Bd. 6, Amsterdam/Atlanta 1994, S. 1–34; vgl. W. Stelzner, »Selbstzuschrei-
bung und Identität«, in: Fichtes Wissenschaftslehre 1794. Philosophische Resonan-
zen, hrsg. von Wolfram Hogrebe, Frankfurt am Main 1995, S. 126–134.
56
Theoretisches und praktisches Ich
Produkt der Handlung; das Tätige, und das, was durch die Tätigkeit
hervorgebracht wird; Handlung, und Tat sind Eins und ebendasselbe;
und daher ist das: Ich bin Ausdruck einer Tathandlung; aber auch der
einzigen möglichen, wie sich aus der ganzen Wissenschaftslehre er-
geben muß.« 76
Indem das Ich sich selbst setzt, bestimmt es auch, weil es ein
absolutes Ich 77 ist, sein Gegenteil: das »Nicht-Ich« (die Welt der Ob-
jekte). Letzteres kann sich, da es aus dem absoluten Ich resultiert,
diesem nicht entgegensetzen, aber stellt sich dem empirischen Ich
gegenüber. Daraus folgt, dass die beiden Funktionen reines Ich und
empirisches Ich 78 bei Fichte zwei hierarchische Instanzen werden, von
denen die eine (das absolute Ich) die andere setzt. Das reine Ich ist die
ursprüngliche und unmittelbare Gewissheit, von der die Ableitung
des gesamten Systems des Wissens ausgeht. Weil es sich um ein Prin-
zip handelt, dass eine Kette von Nachweisen begründet, kann es selbst
nicht nachgewiesen oder von einer höheren Bedingung bestimmt
werden. Es ist absolute und unbedingte Freiheit. Das erste Prinzip
der Wissenschaftslehre ist folglich: »Das Ich setzt sich selbst.«
Das Ich begrenzt sich, indem es das Nicht-Ich setzt, um sich selbst als
ethische Tätigkeit zu verwirklichen. Die fortdauernde Anstrengung
des Ichs, um die Grenze zu überwinden, die vom Nicht-Ich gesetzt
wird, hat einen praktischen Charakter. Was ist das praktische Ich?
Worin besteht der Unterschied zwischen praktischem und theoreti-
schem Ich?
tem Ich vgl. W. H. Schrader, Empirisches und absolutes Ich. Zur Geschichte des Be-
griffs Leben in der Philosophie Fichtes, Stuttgart-Bad Cannstatt 1972 und P. Paimann,
Die Logik und das Absolute. Fichtes Wissenschaftslehre zwischen Wort, Begriff und
Unbegreiflichkeit, Würzburg 2006.
57
Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
Das theoretische Ich ist ein Ich, weil es mit einem unbestimmten
Nicht-Ich verbunden ist, das es begrenzt und seine Tätigkeit behin-
dert. Im Gegensatz dazu steht das praktische Ich, das danach strebt,
sein Bedürfnis zu befriedigen und sich die Wirklichkeit anzueignen.
Aus dieser Eigenart des Ichs geht das, was sein muss, hervor, die To-
talität des Idealen.
Durch die unaufhörliche Überwindung der Grenze erobert das
Ich seine eigene Freiheit. Die moralische Tätigkeit des praktischen
Ichs ist ein Akt des Subjekts am Objekt, und die empirische Welt
stellt nur das Instrument dar, das notwendig ist, um sie zu zeigen.
Ziel der Tätigkeit ist es, die Unendlichkeit der geistigen Freiheit zu
unterstreichen, die niemals erreicht werden kann, weil die Überwin-
dung des Hindernisses ebenfalls niemals erreicht werden kann. Das
moralische Gesetz besteht im Handeln gemäß Überlegung und Ge-
wissen, also nicht blind und den Impulsen folgend und niemals ent-
gegen seiner eigenen Meinung: Handle immer nach deiner Auffas-
sung der Pflicht, bzw.: Handle deinem Gewissen folgend. Ebenfalls
auf der ethischen Ebene erkennt Fichte die Existenz von anderen In-
dividuen an. In der Tat kann der Einzelne nicht alleine den harten und
unaufhörlichen Kampf zur Überwindung seiner Endlichkeit beste-
hen, sondern braucht jemanden neben sich, der ihm hilft und ihn
dabei unterstützt, seine Aufgabe durchzuführen. Jedes Individuum
muss die eigene Freiheit durch die Möglichkeit der Freiheit des An-
deren begrenzen. Diese gegenseitige Begrenzung nennt sich juristi-
sche Beziehung und konstituiert das Prinzip des Rechts bzw. der Ge-
rechtigkeit. Der Staat muss das Eigentum der Individuen verteidigen.
Und da diese Verteidigung illusorisch wäre, wenn es Individuen ohne
Eigentum gäbe, muss der Staat auch sichern, dass alle Eigentum und
Arbeit haben. Damit der Staat seine Aufgabe erfüllen kann und damit
er unabhängig und einheitlich ist, muss er im Bewusstsein der Bürger
verankert sein und in ihnen Vertrauen in seine moralische Mission
erwecken. Fichte antwortet auf die Anschuldigungen wegen Atheis-
mus in seinen letzten Schriften damit, dass er neben dem reinen Ich
das wahre und ursprüngliche Prinzip in der absoluten Einheit an-
erkennt: Gott, der sich selbst gleicht und der unveränderlich, ewig
und unendlich ist.
58
Das Gefühl der Begrenzung
»Die reine in sich selbst zurückgehende Tätigkeit des Ich ist in Bezie-
hung auf ein mögliches Objekt ein Streben; und zwar, ein unendliches
Streben. Dieses unendliches Streben ist ins Unendliche hinaus die
Bedingung der Möglichkeit allen Objekts: kein Streben, kein Ob-
jekt.« 79
Das Streben ist die Anstrengung des Ichs, während es sich selbst
setzt, ist also eine Bedingung der Möglichkeit eines jeden Objekts.
Die Anstrengung des Ichs ist zur gleichen Zeit endlich und unendlich.
Die unendliche Anstrengung neigt zur Überwindung jeder Grenze
und jedes bestimmten Hindernisses, das sich dem Ich als Negativum,
als Nicht-Ich, entgegenstellt. Das Zusammentreffen der unendlichen
Tätigkeit des Ichs, sich selbst zu setzen, mit seinem Negativum, das es
behindert, begründet den subjektiven Status des Gefühls.
In der Definition Fichtes ist das Gefühl eine äußere Begrenzung,
die vom Ich gegeben wird, bzw. sein »Nicht-Können«: »Die Äuße-
rung des Nicht-Könnens im Ich heißt ein Gefühl. In ihm ist innigst
vereinigt Tätigkeit – Ich fühle, bin leidend, und nicht tätig; es ist ein
Zwang vorhanden. Diese Beschränkung setzt nun notwendig einen
Trieb voraus, weiter hinaus zu gehen. Was nichts weiter will, bedarf,
umfasst, das ist – es versteht sich, für sich selbst – nicht einge-
schränkt: […] das Gefühl ist lediglich subjektiv.« 80
Ursprünglich geschieht das Zusammentreffen des Ichs mit dem
Nicht-Ich also nicht im Denken, sondern im Fühlen. Es ist für Fichte
kein erkennender Akt, der bei dem Zwang (des Ichs) eine Rolle spielt,
sondern das subjektive Fühlen. Nur durch eine Reflexion über die
subjektiven Bedingungen kann das Ich das Objekt geben und sich
seines Zwangs bewusst werden. Was bedeutet die Tatsache, dass das
Gefühl ausschließlich subjektiv ist? Es bedeutet, dass es ein Sich-
selbst-Fühlen und kein Objekt-Fühlen ist: das Gefühl der eigenen
Kraft, die aber begrenzt und behindert ist; das Gefühl eines Fehlens,
das Gefühl, nicht zu können. Während das Ich über das Gefühl und
seine eigene Schranke nachdenkt, bringt es sein Negativum hervor –
ein reelles Objekt. Außerdem wird es sich der ideellen Notwendigkeit
bewusst, sich die Realität anzueignen, geht so über jedes Objekt
59
Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
hinaus und begibt sich in eine Position, die unrealisierbar und flüch-
tig ist, nämlich die in einer Welt, die von jeglicher Negativität frei ist.
»Es wird demnach, inwiefern es bestimmt ist durch den Trieb,
beschränkt durch das Nicht-Ich. Im Ich ist die immer fortdauernde
Tendenz über sich selbst zu reflektieren, sobald die Bedingung aller
Reflexion – eine Begrenzung – eintritt. Diese Bedingung tritt hier
ein; das Ich muss demnach notwendig über diesen seinen Zustand
reflektieren. In dieser Reflexion nun vergisst das Reflektierende sich
selbst, wie immer, und sie kommt daher nicht zum Bewusstsein. Fer-
ner geschieht sie auf einen bloßen Antrieb, es ist demnach in ihr nicht
die geringste Äußerung der Freiheit, und sie wird, wie oben, ein blo-
ßes Gefühl. Es ist nur die Frage: Was für ein Gefühl?« 81
Die Tätigkeit des Ichs ist einem Objekt zugewandt, oder besser
gesagt: einer Ganzheit von Objekten, die es niemals in sich aufneh-
men kann. In diesem Sinn kann man sagen, dass es sich um eine
Tätigkeit handelt, die immer und notwendigerweise auf ein Objekt
gerichtet ist. In seiner Subjektivität fühlt das Ich sein »Nicht-Kön-
nen«, seine Unbehaglichkeit, seine Grenze. Das Ich muss demnach
notwendig über diesen seinen Zustand reflektieren. Das Bedürfnis,
das Missbehagen und die Leere des Ichs suchen nach Befriedigung;
diese Suche endet nie. »Das Objekt dieser Reflexion ist das Ich, das
getriebene, mithin idealiter in sich selbst tätige Ich; getrieben durch
einen in ihm selbst liegenden Antrieb, mithin ohne alle Willkür, und
Spontaneität. Aber diese Tätigkeit des Ich geht auf ein Objekt, wel-
ches dasselbe nicht realisieren kann, als Ding, noch auch darstellen,
durch ideale Tätigkeit. Es ist demnach eine Tätigkeit, die gar kein
Objekt hat, aber dennoch unwiderstehlich getrieben auf eins ausgeht,
und die bloß gefühlt wird. Eine solche Bestimmung im Ich aber nennt
man ein Sehnen; einen Trieb nach etwas völlig Unbekanntem, das
sich bloß durch ein Bedürfnis, durch ein Mißbehagen, durch eine
Leere, die Ausfüllung sucht, und nicht andeutet, woher? – offenbart.
– Das Ich fühlt in sich ein Sehnen; es fühlt sich bedürftig.« 82
81 Ebd., S. 219.
82
Ebd., S. 218–219.
60
Das Gefühl des Sehnens
Der subjektive Trieb führt das Ich dazu, aus sich hinauszugehen
(idealiter), und so wird es dazu veranlasst, etwas außerhalb von sich
zu produzieren. Da es begrenzt ist, kommt das Gefühl des Sehnens in
ihm auf. Was ist das Gefühl des Sehnens? »Umgekehrt, wenn das Ich
sich nicht als sehnend fühlte, so könnte es sich nicht als beschränkt
fühlen, da lediglich durch das Gefühl des Sehnens das Ich aus sich
selbst herausgeht – lediglich durch dieses Gefühl im Ich und für das
Ich erst etwas, das außer ihm sein soll, gesetzt wird. Dieses Sehnen ist
wichtig, nicht nur für die praktische, sondern für die gesamte Wissen-
schaftslehre. Lediglich durch dasselbe wird das Ich in sich selbst –
außer sich getrieben; lediglich durch dasselbe offenbart sich in ihm
selbst eine Außenwelt. Beide sind demnach synthetisch vereinigt,
eins ist ohne das andre nicht möglich. Keine Begrenzung, kein Seh-
nen; kein Sehnen, keine Begrenzung. Beide sind einander auch voll-
kommen entgegengesetzt. Im Gefühl der Begrenzung wird das Ich
lediglich als leidend, in dem des Sehnens auch als tätig gefühlt.« 83
Durch das Sehnen wird das Ich aus sich selbst hinausgetrieben
und entdeckt so die Außenwelt. Gerade weil das Sehnen von einer
bestimmten und konkreten Begrenzung getrennt ist, ist es die ur-
sprüngliche und unabhängige Manifestation des Zwangs des Ichs.
Trotzdem steht das Sehnen in Beziehung zu einem Objekt, das das
Ich produziert. Das Gefühl des Sehnens und das Gefühl der Begren-
zung stehen in einer wechselseitigen Beziehung zueinander. Wenn
das Ich sich nicht sehnen würde, könnte es sich nicht begrenzt fühlen,
weil es nur dank des Gefühls des Sehnens aus sich hinausgeht. Wenn
es Begrenzung gibt, so gibt es das Sehnen; wo es das Sehnen gibt, da
gibt es auch Begrenzung. Das Ich wird sich in eben dieser Begren-
zung, durch den Zusammenstoß (Nicht-Ich), seiner Endlichkeit be-
wusst, und es bemüht sich, die Realisierung des Ideals an sich zu sein,
das unaufhörlich in der ununterdrückbaren Spannung zwischen Frei-
heit und Unendlichkeit steht. Weil das Ich diese Unendlichkeit nicht
verwirklichen kann (auch aufgrund seiner subjektiv-objektiven Ei-
genstruktur) ist es – und wird es immer – unendlich-endlich und be-
grenzt-unbegrenzt sein. Unter dem Gesichtspunkt der Praxis ist das
Ich für Fichte eben diese Synthese aus unauflösbaren Gegensätzen. Es
stellt sich fortwährend gegen das eigene Negativum, ohne sich aus-
83
Ebd., S. 220.
61
Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
84
Ebd., S. 176.
85 Ebd.
86
Ebd., S. 410.
62
Produktive Einbildungskraft
Wenn die Tätigkeit des Ichs nicht ins Unendliche ginge, könnte
das Ich auch nicht seine Tätigkeit einschränken, Schranken setzen –
was es aber dennoch tun muss. Die Tätigkeit des Ichs besteht im un-
eingeschränkten Sich-Setzen, und dagegen kommt eine Resistenz
auf. Wenn es dieser Resistenz nachgäbe, wäre also diese Tätigkeit,
die die Schranke der Resistenz überwindet, zerstört und verschwun-
den; und deswegen würde das Ich – allgemein gesprochen – nichts
mehr setzen. Aber es muss trotzdem, jenseits dieser Tatsache, etwas
setzen. Es muss eine unbestimmte, unbegrenzte, unendliche Schran-
ke setzen, und um dies tun zu können, muss es selbst unendlich sein.
In diesem Prozess hat die produktive Einbildungskraft, durch die
das Ich sich begrenzt, eine wichtige Funktion. Nur durch die Einbil-
dungskraft kann etwas in den Verstand gelangen. Der Wechsel des
Ichs – dass es sich endlich und unendlich zugleich setzt – ist das Ver-
mögen der Einbildungskraft, die zwischen Endlichem und Unend-
lichem liegt. Die Realität entsteht durch die Einbildungskraft.
63
Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
88
J. G. Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, S. 408.
89 J. G. Fichte, Wissenschaftslehre, 1794, S. 55.
90
J. G. Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, S. 134 f.
64
Produktive Einbildungskraft
91
Ebd., S. 144 f.
65
Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
derselbe Zustand des Ich sind. Dieser Zustand, in welchem völlig ent-
gegengesetzte Richtungen vereinigt werden, ist eben die Tätigkeit der
Einbildungskraft«. 92
Vor diesem Hintergrund ist die produktive Einbildungskraft die
»theoretische und produktive Fähigkeit schlechthin«, die zwischen
Bestimmtheit und Unbestimmtheit, zwischen endlich und unendlich
schwankt und das Ich als Intelligenz erst ermöglicht.
Nach Fichte spielt diese kreative und produktive Funktion der
Einbildungskraft eine bedeutende Rolle im romantischen Idealismus.
Der produktiven Funktion der Einbildungskraft schreibt Fichte eine
größere Bedeutung zu, als Kant ihr in den Grenzen der formalen
Bedingungen zugesteht. Kant sieht in der Einbildungskraft die Fähig-
keit zu Anschauungen auch ohne das Vorhandensein eines Objekts
und unterscheidet zwischen der »produktiven Einbildungskraft« (ex-
hibitio originaria) – der Macht der ursprünglichen Vorstellung des
Objekts, die der Erfahrung vorausgeht – und der »reproduzierenden
Einbildungskraft« (exhibitio derivativa), die »eine vorhergehende
empirische Anschauung im Geist wiedererweckt«. Nur die reinen
Anschauungen des Raumes und der Zeit sind Produkte der produkti-
ven Einbildungskraft. Die reproduzierende Einbildungskraft ist, auch
wenn sie »poetisch« genannt wird, niemals kreativ, da sie keine ge-
gebene Darstellung, die nicht schon vorher der Sinnlichkeit gegeben
war, erschaffen kann. Der Begriff einer produktiven Einbildungskraft
ist nach Kant rein formal, weil er nur die Bedingungen der Anschau-
ung (Raum und Zeit) hervorbringt. Kant gebraucht ihn häufiger in
der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, in der er von einer
Synthese der Produktion der Einbildungskraft spricht, die als Bedin-
gung der begriffsmäßigen Synthese der Apperzeption angesehen
wird.
92 Ebd., S. 147.
93
J. G. Fichte, Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, GA I, 4, S. 219.
66
Intellektuelle Anschauung und Transzendentalphilosophie
94
GA, I, 4, S. 216.
95 Vgl. H. Traub, »Schellings Einfluß auf die Wissenschaftslehre 1804«, in: Schelling.
Zwischen Fichte und Hegel, hrsg. von Christoph Asmuth, Alfred Denker und Michael
Vater, Amsterdam/Philadelphia 2000, S. 77–92.
96 In Bezug auf der semantischen Verbindung zwischen Transzendentalphilosophie
67
Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
einfach oder als rein an. In dieser Selbst-Anschauung liegt seine Es-
senz. Der Philosoph wird sich ihrer bewusst, indem er mit sich selbst
experimentiert. In diesem Sinne ist sein Bewusstsein der Anschauung
das Produkt einer Abstraktion und einer Reflexion. Fichte meint in
der Tat, dass man niemals ein unmittelbares und isoliertes Bewusst-
sein der intellektuellen Anschauung haben kann, und dass man diese
erreicht indem man Rückschlüsse aus offensichtlichen Tatsachen des
Bewusstseins zieht. Kein Handeln eines Bewusstseins ist als Handeln
eines Bewusstseins, eines reellen Ichs, denkbar, ohne dass dieses von
einem Handeln bestimmt wird, das in es zurückkehrt und das als
solches gegeben ist, d. h. ohne die Präsenz der intellektuellen An-
schauung. Letztere wird als Prinzip des Lebens 97 verstanden, das von
innen das Leben des reellen Bewusstseins strukturiert. »Ich kann kei-
nen Schritt tun, weder Hand noch Fuß bewegen, ohne die intellektu-
elle Anschauung meines Selbstbewusstseins in diesen Handlungen;
nur durch diese Anschauung weiß ich, dass ich es tue, nur durch diese
unterscheide ich mein Handeln und in demselben mich, von dem vor-
gefundenen Objekte des Handelns. Jeder, der sich eine Tätigkeit zu-
schreibt, beruft sich auf diese Anschauung. In ihr ist die Quelle des
Lebens, und ohne sie ist der Tod.« 98
Es ist nötig, einen wichtigen Punkt der Theorie der intellektuel-
len Anschauung zu klären: die Möglichkeit ihrer Legitimation. Die
intellektuelle Anschauung ist für den Philosophen ein Faktum; für
das ursprüngliche Ich hingegen ist sie ein Akt. »Sonach findet der
Philosoph diese intellektuelle Anschauung als Faktum des Bewusst-
seins (für ihn ist es Tatsache; für das ursprüngliche Ich Tathandlung),
nicht unmittelbar, als isoliertes Faktum seines Bewusstseins, sondern,
indem er unterscheidet, was in dem gemeinen Bewußtsein vereinigt
vorkommt, und das Ganze in seine Bestandteile auflöst.« 99 Nun ist es
die wichtigste Aufgabe der Transzendentalphilosophie, vom Ereignis
zur Möglichkeit zu gelangen. Es ist notwendig, die Möglichkeit de
jure, die Rechtfertigung eines Prinzips, zu beachten. Dieser Prozess
verwirklicht sich nur, wenn der Glaube an die Wirklichkeit (der intel-
lektuellen Anschauung) fest ist. Er ist der Ausgangspunkt des trans-
97 Vgl. L. Vos, »Der Gedanke des Lebens in den späten Schriften Fichtes«, in: Grund-
und Methodenfragen in Fichtes Spätwerk«, hrsg. von Günter Zöller und Hans Georg
von Manz, Fichte-Studien, Bd. 31, Amsterdam/New York 2007, S. 125–134.
98 J. G. Fichte, Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, GA I, 4, S. 219.
99
GA I, 4, S. 221.
68
Intellektuelle Anschauung und Transzendentalphilosophie
100 Ebd.
101 J. G. Fichte, Wissenschaftslehre nova metodo WS 1798/99 – Nachschrift Krause,
GA IV, 3, S. 335.
102
J. G. Fichte, Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, GA I, 4, S. 223.
103 J. G. Fichte, Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre, in: Fichtes Werke, Bd. 1,
69
Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
selbst?« 104 Laut Fichte ist es die Aufgabe der Philosophie, auf diese
Fragen zu antworten. »Diese Frage zu beantworten ist die Aufgabe
der Philosophie; und es ist meines Bedünkens nichts Philosophie, als
die Wissenschaft, welche diese Aufgabe löst. Das System der von dem
Gefühle der Notwendigkeit begleiteten Vorstellungen nennt man
auch die Erfahrung; innere sowohl, als äußere. Die Philosophie hat
sonach – dass ich es mit anderen Worten sage – den Grund aller Er-
fahrung anzugeben.« 105
104
Ebd., S. 423.
105 Ebd.
106
J. G. Fichte, Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, GA I, 4. S. 219.
70
Der Primat der Ethik in der Zweiten Einleitung in die Wissenschaftslehre
107
Vgl. R. Brandt, »Kants Revolutionen«, in: Kant-Studien 106 (2015), S. 3–35.
108 Zum Verhältnis zwischen dogmatischem Realismus und Idealismus bei Fichte vgl.
L. Schüssler, Die Auseinandersetzung von Idealismus und Realismus in Fichtes Wis-
71
Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
nen Bewusstsein den Glauben an ein außerhalb der Polarität der Vor-
stellung bestehendes Sein teilt und der das erkennende Subjekt im
Ausgang vom Vorhandensein des Objekts erklären möchte. Ein Bei-
spiel hierfür ist die Philosophie von Spinoza. Auf der anderen Seite ist
ein ebenso »dogmatischer Idealismus« derjenige, der das Sein von
einem schon bestehenden Subjekt als geistige Substanz ableiten
möchte. Die Philosophie Berkeleys ist ein Beispiel dafür.
Der kritisch-transzendentale 109 Idealismus hingegen soll den
Widerstand des Nicht-Ichs, das sich dem theoretischen Subjekt (dem
theoretischen Ich) entgegensetzt und es begrenzt, mit einbeziehen,
ohne auf ein schon bestehendes Sein, das von der Tätigkeit des Geis-
tes unabhängig ist, zurückzugreifen. Im Unterschied zu den dogma-
tischen Philosophien vor Kant kann die gesamte Wissenschaftslehre,
weil sie eine transzendentale Lehre ist, nicht vom Ich absehen und es
übergehen. Die Passivität des erkennenden Subjekts mit seiner End-
lichkeit, die sich in der Theorie der Wissenschaftslehre als Tatsache
zeigt, kann auch in der Praxis gründen – im Primat der Ethik.
Auf einer tieferen, ursprünglichen Ebene des Bewusstseins ist
das Ich für Fichte vor allem moralische Freiheit und unaufhörliche
Tätigkeit – es ist praktische Vernunft. Wie Kant gelehrt hat, ist der
moralische Imperativ absolut autonom und unabhängig; das prakti-
sche Ich ist sich selbst Gesetz und bestimmt sich selbst, überwindet
jedes Hindernis und kämpft gegen jede Konditionierung. Auch für
Fichte ist unser Ich – das einzige, das wir kennen – eine unendliche
Vernunft, die die Vollkommenheit anstrebt. Diese bleibt für uns ein
Seinmüssen, ein Ideal, das niemals wirklich erreicht werden kann.
Unser Leben ist ein unaufhörliches Streben nach einer reinen, mora-
lischen Vernunft, eine ewige endliche Annäherung an das Unend-
liche. Unsere Endlichkeit drückt sich in eben diesem Streben aus, das
seiner Natur nach einen Widerstand beinhaltet, der bei seiner Über-
windung nur verschoben, aber niemals ganz entfernt wird. Gäbe es
keinen Zusammenstoß, keinen Widerstand, dann hätte dieses Han-
deln keinen Inhalt und keinen Realitätsanspruch; auch das praktische
Ich verschwände – und mit ihm die Mannigfaltigkeit der individuel-
72
Der Primat der Ethik in der Zweiten Einleitung in die Wissenschaftslehre
len, endlichen und unendlichen Subjekte; und somit wäre dann Raum
für ein leeres Handeln, das von einer unendlichen und unpersön-
lichen Vernunft noch nicht einmal gedacht werden könnte. Das reine
Ich, von dem die Wissenschaftslehre ausgeht, zeigt somit in der Pra-
xis seine wahre Bedeutung: Es ist nicht so sehr ein reelles Prinzip der
Dialektik des lebenden Ichs als ein ideelles Ziel, das unerreichbar
bleibt.
Im ewigen »inneren Kampf des Ichs gegen sich selbst« zeigt sich
der Widerstand in allem, was sich der Vernunft entgegenstellt: die
Natur, die Instinkte und die Gefühle, die noch nicht verstanden und
gebändigt sind. Eine der Fähigkeiten des Ichs, die produktive Einbil-
dungskraft, ist spontan und konstruiert alles in der Form eines Ob-
jekts, eines Nicht-Ichs, das dem theoretischen Ich als im Bereich des
Bewusstseins gegeben erscheint. Die Vorgänge der Einbildungskraft
sind unbewusst; deswegen ist die sinnliche Anschauung als ein un-
abhängiges und schon bestehendes Phänomen, als äußere Natur, in
Wirklichkeit das Produkt eines Vermögens des Ichs. Im Unterschied
zur Position Kants führt die Wissenschaftslehre nicht nur die For-
men, aber auch die Inhalte der Erfahrung auf die transzendentale
Tätigkeit des Ichs zurück.
Das theoretische Ich und seine Endlichkeit wird durch die Tätig-
keit (die Spannung und den inneren Kampf) des praktischen Ichs er-
klärt. Die Vernunft kann weder theoretisch noch praktisch sein. Die
Freiheit der Welt der Moral und der Determinismus der phänome-
nischen Welt, die in Kants Werk einen unauflösbaren Widerspruch
bildeten, sind nun wieder miteinander verbunden, und der »Primat
der praktischen Vernunft«, 110 von dem auch Kant schon sprach, hat
ein festes Fundament.
Dass das Nicht-Ich ein Produkt des Ichs ist, bedeutet jedoch
nicht, dass die Welt eine willkürliche und phantastische Kreation
eines jeden individuellen Subjekts wäre. Man sollte nicht vergessen,
dass die menschliche Vernunft immer endlich ist und niemals kreativ.
Die Phänomene und die Objekte der Erfahrung erscheinen als von
Gesetzen geregelt, die stabil und unabhängig sind, auch wenn sie
110 Zum Primat der praktischen Vernunft bei Fichte vgl. D. Breazeale, »Der fragwür-
dige Primat der praktischen Vernunft in Fichtes Grundlage der gesamten Wissen-
schaftslehre«, in: Die Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794/95 und
der transzendentale Standpunkt, hrsg. von Wolfgang H. Schrader, Fichte-Studien,
Bd. 10, Amsterdam/Atlanta 1997, S. 253–272.
73
Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
von der formativen Tätigkeit a priori des Ichs herrühren. Für Fichte
ist die reelle Konsistenz der Welt, die kein privater Traum ist, durch
die Tätigkeit des Ichs motiviert. Fichte meinte immer, dass sein trans-
zendentaler Idealismus 111 mit der Realismus des allgemeinen Be-
wusstseins zu vereinbaren sei, und lehnte deshalb den Vorwurf des
Solipsismus – aufgrund der Reduzierung des Nicht-Ichs auf eine blo-
ße Erscheinung – ab. Indem er sich von jedem dogmatischen Idealis-
mus distanziert, unterstreicht er, dass die Wissenschaftslehre ein kri-
tischer Idealismus ist, den man einen »Real-Idealismus« oder einen
»Ideal-Realismus« nennen könnte.
111
Vgl. K. Hammacher (Hrsg.), Der transzendentale Gedanke: die gegenwärtige Dar-
stellung der Philosophie Fichtes (Vorträge der Internationalen Fichte-Tagung in
Zwettl/Österreich vom 8.–13. August 1977), Hamburg: Meiner 1981.
74
Philosophie der Freiheit
mus verstehen und realisieren. Diese freie und spontane Tätigkeit des
Menschen als endliches Bewusstsein bringt bei ihrer Verwirklichung
immer ein Hindernis mit sich, ein Hindernis, das niemals absolut sein
kann, weil es nur durch das Bewusstsein aufkommt und nur in Ab-
hängigkeit von ihm bestehen kann. Das bedeutet, dass der ethische
Aspekt der Tätigkeit des Ichs nicht nur ein Aspekt ist, der dem theo-
retischen untergeordnet ist, sondern dass er – im Gegenteil – dessen
wahre und tiefe Essenz ist. Wenn man bedenkt, dass das Nicht-Ich das
Gegenteil des Ichs ist, also eine Begrenzung, einen Mechanismus,
eine Notwendigkeit beinhaltet, ist es nicht schwierig zu verstehen,
dass es genau dem gleichkommt, was normalerweise als Natur be-
zeichnet wird. Vor diesem Hintergrund manifestieren sich die mora-
lische Bedeutung und die offene Struktur der Dialektik Fichtes. Die
Natur besteht nur in ihrer Funktion für die Freiheit, als Instrument
ihrer Realisierung: Denn ohne die Natur, ohne die Grenze, würde die
Spontaneität des Ichs leer, unbestimmt und unverwirklicht bleiben.
Andererseits besteht diese Grenze nur deswegen, um ständig über-
wunden zu werden, und nicht, um der Freiheit im Wege zu stehen.
Wir benötigen einen Inhalt, da er die Voraussetzung der Erkenntnis
ist. Das wahre Ziel unseres Lebens ist jedoch nicht die Erkenntnis,
sondern die Freiheit. Die Tatsache, dass die vollständige und absolute
Realisierung der Freiheit für den Menschen ein Ideal ist bzw. ein Ziel,
dem er fortwährend zustrebt, ist kein Zufall, sondern hängt mit der
Struktur der Freiheit des Menschen zusammen, der ein endliches
Wesen ist, und somit spontan, aktiv und gleichzeitig begrenzt. Auf-
grund dieser Aspekte hat die Philosophie Fichtes einen tiefen Einfluss
auf den romantischen Idealismus. Sie erneuert die Anschauung des
Lebens und steht in einem Gegensatz zu den Formen des Materialis-
mus und des Mechanizismus, die in der Aufklärung vertreten wur-
den, weil die gesamte Realität in ihr mit den moralischen Bestrebun-
gen des Menschen verbunden ist und weil diese Realität als der
Bereich, in dem die Freiheit des Bewusstseins verwirklicht wird, zu
verstehen ist.
Aus dieser Perspektive hat nach Fichte die Freiheit immer einen
ethisch-rationalen Charakter. Ihre Entwicklung – und zwar sowohl
die Entwicklung der Freiheit des Individuums als auch die der Gesell-
schaft, der einzelnen Nationen und der gesamten Menschheit – stellt
eine fortschreitende Eroberung der Rationalität dar, die den Men-
schen von Grund auf charakterisiert. So steht in Fichtes Text über
die Französische Revolution das ethische Ideal im Vordergrund, das
75
Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
die Befreiung des Menschen zum Ziel hat und das die Grundlage des
Urteils über die Legitimität der politischen Ordnungen und der Insti-
tutionen ist. Vor diesem Hintergrund kommt Fichte von der Theorie
des Rechts zur Revolution und unterstreicht, das jeder Wunsch nach
der Unveränderlichkeit einer politischen Ordnung der absoluten Au-
tonomie unseres moralischen Gesetzes widerspricht.
Das Besondere in diesem Zusammenhang ist, das Fichte auf der
Grundlage dieser Philosophie auch in ihren formalsten und abstrak-
testen Bereichen, wie z. B. in der Logik, einen unmittelbaren Akt der
Freiheit aufdeckt, ohne den die Philosophie sich nicht als Wissen-
schaftslehre entwickeln könnte. Der dogmatische Realismus ist nach
Fichte nicht nur deswegen zu verurteilen, weil er ein theoretischer
Fehler ist, sondern auch weil er ein ethisches Verhalten impliziert,
das einer freien und heldenhaften Menschheit nicht würdig ist. In
der Ersten Einleitung zur Wissenschaftslehre bemerkt er, dass die
Wahl einer Philosophie davon abhängt, was für ein Mensch man ist.
Ein philosophisches System ist nicht unbeweglich, sondern vom Geist
des Menschen erfüllt. Das Ich der Objektivität eines unabhängigen
Dinges an sich unterzuordnen, bedeutet, einem praktischen Fatalis-
mus zu verfallen und jede Möglichkeit, die Freiheit zu erklären,
a priori auszuschließen – und damit auch unsere Aufgabe, die Welt
und das Leben umzuformen, auszuschließen. Wenn unsere Philoso-
phie von einem natürlichen System oder von einer Ordnung des ge-
gebenen Seins ausgeht, können wir auf nichts anderes treffen als auf
Determinismus und Notwendigkeit. Im transzendentalen Idealismus
wird jedes Dasein aus der Tätigkeit des Ichs abgeleitet, und zwar als
eine endliche Objektivierung unseres unendlichen Strebens. Zwar be-
findet sich unsere endliche Natur nach jedem überwundenen Hinder-
nis vor einer neuen Aufgabe – es handelt sich noch einmal um ein
Nicht-Ich, das uns widerspricht. Es ist jedoch auch wahr, dass keine
einzelne Realität als solche eine absolut unüberwindbare Schranke
sein kann. Wenn man die Wissenschaftslehre fragen würde, wie die
Dinge an sich aussehen, so könnte sie nur antworten, dass diese aus
der Notwendigkeit unseres Produzierens hervorgehen. Das radikal
Böse im Individuum und auch in der Geschichte fällt für Fichte mit
der geistigen Faulheit und Unbeweglichkeit zusammen, die das Ich
auf die Existenz eines Dinges oder auf die Natur reduzieren. Das Ich
steht am Anfang der Erkenntnis. Insbesondere diese Intention Fichtes
ruft den Enthusiasmus der Romantiker hervor. Friedrich Schlegel be-
grüßt die Wissenschaftslehre als eine der drei grundlegenden Ten-
76
Religion und Moralphilosophie
77
Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
fordern die Proteste des lokalen Konsistoriums heraus. 1806, vor der
Niederlage von Jena, bietet sich Fichte ohne zu zögern als Redner im
Auftrag des Staates für die preußischen Truppen an.
In der Ersten Wissenschaftslehre, in der kein Ding an sich zuge-
lassen ist, gibt es auch keinen Gott, der Sein oder Substanz wäre. Der
Gott beim jungen Fichte steht im Einklang mit dem Gott bei Kant: 114
Wie bei Kant, so ist auch der Gottesbegriff des jungen Fichte mit der
moralischen Ordnung der Zwecke verbunden. Fichte ist dabei noch
radikaler als Kant: Religion ist reine Moral. Wenn die übernatürliche
Ordnung, die sich in jedem von uns als moralischer Imperativ mani-
festiert, durch den Gottesbegriff objektiviert wird, so hängt dies nur
von den Grenzen unserer Intelligenz ab.
Ein derartiger Begriff von Religion ruft harte Anschuldigungen
wegen Atheismus hervor, und das Jahr 1798, das Jahr des höchsten
akademischen und kulturellen Triumphes Fichtes, bedeutet auch
gleichzeitig die Unterbrechung dieser Karriere in Jena. In den auf
diese schmerzhafte Polemik folgenden Jahren überdenkt der Philo-
soph das Thema der Religion neu 115 und führt schließlich die Idee
von Gott als absolutem Sein, von dem das endliche Bewusstsein und
das menschliche Wissen Abbild und Ausdruck ist, in die Wissen-
schaftslehre ein. Es kommen die Verweise auf das Johannes-Evange-
lium und neuplatonische Bezüge auf: Das Wort ist unaussprechliches
Licht, es ist die Einheit von Sein und Gedanken, und es manifestiert
sich in der Welt und in der Geschichte. Gott ist kein totes und objek-
tives Dasein wie in den traditionellen Ontologien, sondern vielmehr
ein unendliches Leben, das nicht zu objektivieren ist und in jedem
endlichen Leben präsent ist.
Fichte und bei Kant«, in: Praktische und angewandte Philosophie, hrsg. von Helmut
Girndt und Hartmut Traub, Fichte-Studien, Bd. 23, Amsterdam: Rodopi 2003.
115
Zur Verbindung zwischen Transzendentalphilosophie und Religion bei Fichte vgl.
M. Ivaldo, Filosofia e religione. Attraversando Fichte, Napoli: La Scuola di Pitagora
Editrice 2016.
78
Die Bestimmung des Menschen und die Epochen der Geschichte
116 Vgl. H. Bergson, La destinazione dell’uomo di Fichte, hrsg. von Felice Ciro Papparo,
79
Die Untersuchung des unbedingten Grundsatzes der Erkenntnis
80
II. Naturphilosophie und
Transzendentalphilosophie.
Intellektuelle Anschauung, ästhetische
Anschauung und produktive Anschauung in
Schellings Idealismus
»Die Schranke wird reell nur durch das Ankämpfen des Ichs
gegen die Schranke.«
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling
1990; W. Jaeschke, »Absolute Subject and Absolute Subjectivity in Hegel«, in: Figuring
the Self. Subject, Absolute, and Others in Classical German Philosophy, hrsg. von
David E. Klemm und Günter Zöller, Albany 1997, S. 193–205; C. Asmuth, »Anfang
und Form der Philosophie. Überlegungen zu Fichte, Schelling und Hegel«, in: Schel-
ling. Zwischen Fichte und Hegel, hrsg. von Christoph Asmuth, Alfred Denker und
81
Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
Aus der Schrift Vom Ich als Prinzip der Philosophie oder Über
das Unbedingte im menschlichen Wissen (1795) lässt sich Schellings
metaphysische Interpretation der Fichteschen Wissenschaftslehre
mit ihrer Unterscheidung von »bedingt« und »unbedingt« und der
Beziehung zwischen diesen beiden Kategorien 2 herauslesen. Dem-
zufolge ist das reine Ich das absolute Ich: nicht eine numerische Ein-
heit des Individuums, sondern das unveränderliche Ein und Alles. Das
Ich ist nicht das Bewusstsein, weder ein Gedanke noch eine Persona-
lität, sondern es entspringt aus der Subjektivität. Laut Schelling ist
Fichtes Freiheitsbegriff sowie sein Begriff der intellektuellen An-
schauung sehr wichtig. Des Weiteren kann eine abgrenzende Bezug-
nahme auf die Philosophie Spinozas den metaphysischen Gedanken
Schellings akzentuieren. Spinoza repräsentiert den Dogmatismus,
weil er das Objekt, das Nicht-Ich als absolut darstellt. Fichte hingegen
hebt durch den Vorrang der intellektuellen Anschauung nicht das
absolute Objekt, sondern das absolute Subjekt hervor.
In seinen Jugendwerken ist bereits absehbar, dass nicht nur in
metaphysischen Interpretationen das Ich als absolutes erscheint, son-
dern auch neue Perspektiven hinzukommen, die den Schelling’schen
Idealismus charakterisieren werden. Im Einzelnen wird Schelling ver-
suchen,
a) die Idee der Vollendung auf den Ebenen der absoluten Sub-
jektivität Fichtes und in Spinozas Philosophie als deren Gegenpol zu
beleuchten und gegeneinander abzuwägen und
b) die Lücken von Fichtes System zu füllen bzw. dessen Grenzen
zu präzisieren, die sich aus der Reduktion auf das reine Nicht-Ich
ergeben; durch diese Reduktion verliert jegliche Identität ihr Spezi-
fisches und ist so gut wie aufgehoben.
Ab 1797 wertet Schelling somit die Natur auf und bemüht sich
um Ergänzungen der Philosophie Fichtes. Jedoch kritisiert er Fichtes
Wissenschaftslehre und definiert den Begriff des Idealismus neu.
»Der Ausdruck des Unbedingten. Schellings Systementwürfe«, in: Die Realität des
Wissens und das wirkliche Dasein: Erkenntnisbegründung und Philosophie des Tra-
gischen beim frühen Schelling, hrsg. von Jörg Jantzen, Stuttgart-Bad Cannstatt 1998,
S. 1–35.
82
Die Einheit von Geist und Natur
Schelling geht von einer Einheit und Identität von Geist und Natur
aus: »Das System der Natur ist das System des Geistes.« 3 Die zentrale
Behauptung lautet: »Wir können den Inbegriff alles bloß Objektiven
in unserem Wissen Natur nennen; der Inbegriff alles Subjektiven
dagegen heiße das Ich, oder die Intelligenz. Beide Begriffe sind sich
entgegengesetzt. Die Intelligenz wird ursprünglich gedacht als das
bloß Vorstellende, die Natur als das bloß Vorstellbare, jene als das
Bewußte, diese als das Bewußtlose. Nun ist aber in jedem Wissen ein
wechselseitiges Zusammentreffen beider (des Bewußten und des an
sich Bewußtlosen) notwendig; die Aufgabe ist: dieses Zusammentref-
fen zu erklären.« 4 »Alles Wissen beruht auf der Übereinstimmung
eines Objektiven mit einem Subjektiven.« 5
Die Übereinstimmung, d. h. die Entsprechung zwischen subjek-
tiven Vorstellungen und äußeren Objekten, bildet die Basis der wirk-
lichen Erkenntnis. »Im Wissen selbst – indem ich weiß – ist Objekti-
ves und Subjektives so vereinigt, daß man nicht sagen kann, welchem
von beiden die Priorität zukomme. Es ist hier kein Erstes und kein
Zweites, beide sind gleichzeitig und eins.« 6
Natur und Geist sind eine innere und verbundene Einheit. Auf
dieser Sichtweise gründet sich der Begriff des ursprünglichen Einen:
das Urselbst oder das absolut Identische setzt sich als principium es-
sendi et cognoscendi in Schellings transzendentalphilosophischem
System durch.
Das Urselbst ist die ursprüngliche Identität des Absoluten, das
den universellen Grund seiner permanenten Harmonie in sich trägt.
Aber was ist nun die Natur, wenn sie nicht das reine Nicht-Ich ist?
Schelling denkt, dass dieses Problem gelöst werden kann, wenn man
3
F. W. J. Schelling, System des transzendentalen Idealismus, S. 53, in: Friedrich Wil-
helm Joseph von Schelling, Werke, Bd. 2, Leipzig 1907, Erstdruck: Tübingen (Cotta)
1800. Der Text folgt dem Abdruck in Schellings Sämtlichen Werken, hrsg. von
K. F. A. Schelling, Stuttgart (Cotta) 1856–1861 (Originalausgabe: Friedrich Wilhelm
Joseph von Schellings sämmtliche Werke [SW], hrsg. von K. F. A. Schelling, Bd. I–
XIV [urspr. erschienen in 2 Abteilungen, 1. Abt.: Bd. 1–10 (I–X); 2. Abt.: Bd. 1–4 (X–
XIV)], Stuttgart/Augsburg 1856–1861).
4
Ebd., S. 13.
5 Ebd.
6
Ebd.
83
Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
eine Existenz annimmt, die in einer Einheit von Idealem und Realem,
von Geist und Natur besteht.
Wenn das Natursystem das System unseres Geistes ist, impli-
ziert dies, dass man auf die Natur übertragen muss, was Fichte selbst
mit Erfolg auf das Leben unseres Geistes angewendet hat. Laut Schel-
ling müssen die gleichen Prinzipien, die den Geist beschreiben, auch
der Natur angemessen sein. Wenn es so ist, dass die Natur die gleiche
Intelligenz zum Ausdruck bringt, die das Ich definiert, dann ist es
notwendig, jene reine Tätigkeit, die Fichte als Wesen des Ichs entdeckt
hat, auf die Natur zu übertragen. Schelling kommt daher zu dem Ent-
schluss, dass die Natur ein Produkt einer unbewussten Intelligenz ist,
die sich, der internen Struktur dieser Intelligenz folgend, teleologisch
weiterentwickelt, d. h. die nachfolgenden Ebenen konstituieren sich
nach inneren und strukturierten Zwecken.
Die Natur ist die totale Objektivität und zugleich vom formati-
ven Impuls unserer Subjektivität durchwirkt. Sie ist Freiheit und
Subjektivität in fieri. 7 Die Natur stellt die »Odyssee des Geistes« dar,
der suchend in sich selbst flieht; sie ist die weltlich gewordene Idee
zwischen Fortführung und Begrenzungen. Der Geist identifiziert sich
mit dem Ich und der Philosophie, die sich mit dem transzendentalen
Idealismus auseinandersetzt. Der Geist ist die lebende Intelligenz,
und diese macht intellektuelle Anschauung möglich.
Das Prinzip der Schelling’schen Naturphilosophie ist das folgen-
de: Die Natur muss der sichtbare Geist sein, der Geist muss die un-
sichtbare Natur sein. Hier, in der absoluten Einheit des Geistes in uns
und der Natur außerhalb von uns, ist das Problem gelöst, wie es mög-
lich ist, eine Natur außerhalb von uns zu denken. Die Natur ist die
»Odyssee des Geistes«.
84
Natur als graduelle Erweiterung der unbewussten Intelligenz
Wenn der Geist und die Natur von denselben Prinzipien abstammen,
muss sich in der Natur eine ähnlich sich ausbreitende, dynamische
Kraft finden, die einer Schranke gegenübersteht, wie in Fichtes Be-
griff des Ichs. Aber der Widerstand dieser Schranke hält die um sich
greifende Kraft nur augenblickshaft auf, da letztere kontinuierlich
und dynamisch fortschreitet, um dann von der nächsten Schranke
aufgehalten zu werden, usw. Jede Phase des Zusammentreffens von
expansiver und limitierender Kraft entspricht der Entstehung einer
Stufe der Natur, die so mit der Zeit immer reicher wird. Das erste
Zusammentreffen von positiver, expansiver und negativer, begren-
zender Kraft bringt die Materie hervor (die also ein dynamisches Pro-
dukt der Kräfte ist). Das Wiederaufnehmen der Expansion der unend-
lichen, positiven Kraft und das wiederholte Zusammentreffen mit der
negativen, begrenzenden Kraft bringt den universalen Mechanismus,
den allgemeinen dynamischen Prozess hervor. An diesem Punkt ver-
wendet Schelling die wissenschaftlichen Entdeckungen seiner Zeit
(mit denen er sich viel befasst hat), um die beweglichen Manifestatio-
nen der Kräfte, ihre Polaritäten und Gegensätze anhand des Mag-
netismus, der Elektrizität und des Chemismus nachzuweisen.
Dieses Denkschema dient ihm auch dazu, die höchste organische
Stufe der Natur zu erklären. Schelling beruft sich in diesem Zusam-
menhang auf die Prinzipien der Empfindlichkeit und der Nachbil-
dung, die den Wissenschaftlern seiner Zeit wichtig waren. Analog zu
diesen Prinzipien stehen auf einer höheren Stufe, aber durch eine
vergleichbare Dynamik charakterisiert, der Magnetismus, die Elektri-
zität und der Chemismus. Zusammenfassend kann man sagen, dass
für Schelling die Natur auf einer einzigen und identischen Kraft (der
unbewussten Intelligenz) basiert, die sich wie oben erklärt zusam-
mensetzt und sich schrittweise auf immer höheren Stufen manifes-
tiert, um schließlich zum Menschen zu gelangen, bei dem das Be-
wusstsein, die Intelligenz, zur Erkenntnis wird.
85
Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
Wie ist die Beziehung zwischen der Seele der Welt und der Natur des
Menschen? Was ist der Sinn des Lebens? Welches ist der wichtigste
Aspekt, der die Natur des Menschen ausmacht?
Für die Beantwortung dieser Fragen sind einige Aussagen von
Schelling von besonderer Bedeutung: Es gibt ein einheitliches Prin-
zip, das die anorganische und die organische Natur verbindet. Die
einzelnen Dinge der Natur konstituieren die Glieder einer Kette des
Lebens. Und jedes Glied ist für die gesamte Kette unabdingbar. Das
Leben ist der »Atem des Universums«, die Materie ist erstarrter
Geist. Das, was als nicht lebendig in der Natur erscheint, ist nur
schlafendes Leben. 8
Es ist verständlich, dass Schelling das antike Konzept der Welt-
seele als Hypothese zur Erklärung des universellen Organismus wie-
der aufnehmen und populär machen konnte. Diese seit Platon pro-
minente theoretische Figur ist nach Schelling nichts anderes als die
unbewusste Intelligenz, die die Natur hervorbringt und trägt. Sie
kommt jedoch erst durch die Geburt des Menschen zum Bewusstsein.
Der Mensch, der Teil der Unendlichkeit des Kosmos ist, erscheint
zwar aus physischer Sicht sehr klein, ist aber das letzte Ziel der Natur,
weil sich in ihm der Geist manifestiert, der auf allen anderen Stufen
der Natur verborgen bleibt. Auch in der Konstruktion des transzen-
dentalen Idealismus legt Schelling wie in der Naturphilosophie den
Schwerpunkt auf die Polarität der Kräfte und nimmt so das Prinzip
von Fichte, wenn auch abgewandelt, wieder auf.
Der Gedankengang Schellings ist folgender: Das Ich ist die ur-
sprüngliche Tätigkeit, die unendlich ist. Es handelt sich um eine pro-
duktive Tätigkeit, die sich selbst zum Objekt wird (sie ist also selbst-
schöpferische intellektuelle Intuition). Aber die reine, unendliche
Produktion des Ichs muss sich auch Schranken setzen, um nicht nur
zu produzieren, sondern auch Produkt werden zu können. Die Tätig-
keit des Ichs setzt nicht nur seiner Unendlichkeit eine Schranke, son-
dern überwindet diese auch Schritt für Schritt, um eine immer
8 Vgl. Th. Buchheim, Eins von Allem. Die Selbstbescheidung des Idealismus in Schel-
lings Spätphilosophie, Hamburg: Meiner 1992; vgl. M. Blumentritt, Begriff und Me-
taphorik des Lebendigen. Schellings Metaphysik des Lebens 1792–1809, Würzburg
2007.
86
Die Weltseele und die Natur des Menschen
87
Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
phie unterscheidet. Sie ist nämlich deren Synthese und beruht auf
einer einheitlichen und ursprünglichen Tätigkeit, die der Grund der
beiden anderen Momente des Systems ist.
88
Schellings Naturphilosophie: »Natura naturans« und »Natura naturata«
14 Ontologisch geht die »natura naturata« aus der »natura naturans« hervor, gnoseo-
logisch entwickeln wir die Idee der »natura naturans« aus der Gegebenheit der »na-
tura naturata«. Vgl. dazu W. Wieland, »Die Anfänge der Philosophie Schellings und
die Frage nach der Natur«, in: Materialien zu Schellings philosophischen Anfängen,
hrsg. von M. Frank und G. Kurz, Frankfurt am Main 1975; vgl. H. H. Holz, »Der
Begriff der Natur in Schellings spekulativem System. Zum Einfluß von Leibniz auf
Schelling«, in: Natur und geschichtlicher Prozeß. Studien zur Naturphilosophie
F. W. J. Schellings, hrsg. von H. J. Sandkühler, Frankfurt am Main 1984, S. 221.
15 Vgl. H. Folkers, »Zum Begriff des Individuums in der Identitätsphilosophie Schel-
lings«, in: Philosophie der Subjektivität? Zur Bestimmung des neuzeitlichen Philoso-
phierens, Bd. 2, hrsg. von Hans Michael Baumgartner und Wilhelm G. Jacobs, Stutt-
gart-Bad Cannstatt 1993, S. 403–409; vgl. B. Rang, Identität und Indifferenz: eine
Untersuchung zu Schellings Identitätsphilosophie, Frankfurt am Main 2000.
89
Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
90
Die transzendentale Begründung der Naturphilosophie
ches ist die Funktion und was ist das Ziel der Naturphilosophie Schel-
lings? Warum nimmt die Naturphilosophie einen so besonderen Platz
in seinem transzendentalen Idealismus ein?
Das Zustandekommen dieser Frage selbst ist für ihn das Ergebnis
einer ursprünglichen Trennung, einer Entzweiung von Mensch und
Natur, mit der wesentlich die Entstehung der menschlichen Freiheit
verbunden ist. 18 Nach dem in der Aufklärung beliebten Modell pos-
tuliert Schelling die Wiedergewinnung der verlorenen ursprüng-
lichen Einheit von Mensch und Natur durch die Freiheit. Schelling
stellt sich die Frage, wie ein Ding eine Wirkung auf ein freies Wesen
haben kann, das selbst nicht Ding ist. Das System der Natur könne
nicht mechanizistisch erklärt werden, denn der lebendige Organis-
mus ist nicht Ursache oder Wirkung eines Dings außerhalb seiner
selbst, sondern er »produziert sich selbst, entspringt aus sich selbst« 19
in einer Bewegung, die stets zu sich selbst zurückkehrt. Wie für Kant
ist es auch für Schelling die Charakteristik des lebenden Organis-
mus, 20 Ursache und Wirkung seiner selbst zu sein, notwendige Wech-
selwirkung zwischen Teilen und Ganzem; das Leben »organisiert sich
selbst, d. h. es gründet sich auf einen Begriff«. 21
Die Natur ist eine »Odyssee des Geistes«, und indem sie sich
sucht, flieht sie vor sich selbst, während sie in Wirklichkeit jene ide-
elle Welt ist, die zwischen fortwährenden Schranken liegt. Die Natur-
philosophie ist ein Teil des zweiteiligen Systems, dessen anderer Teil
die Philosophie des Geistes ist. Schelling geht vom Objektiven aus,
um zur Subjektivität und zur Freiheit zu gelangen.
Mit der Schrift Ideen zu einer Philosophie der Natur als Ein-
leitung in das Studium dieser Wissenschaft beginnt die eigentliche
Naturphilosophie Schellings. In dieser Schrift formuliert Schelling
sowohl einen grundsätzlichen programmatischen Entwurf der Natur-
philosophie als auch die Idee der Naturphilosophie 22 im Allgemeinen.
Philosophie Schellings im Ausgang von Kant, Stuttgart-Bad Cannstatt 1990 und vgl.
K. Gloy, »Die Naturauffassung bei Kant, Fichte und Schelling«, in: Realität und Ge-
wißheit, hrsg. von Helmut Girndt und Wolfgang H. Schrader, Fichte-Studien, Bd. 6,
Amsterdam/Atlanta 1994, S. 253–275.
21 F. W. J. Schelling, Ideen zu einer Philosophie der Natur als Einleitung in das Stu-
91
Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
»Spekulative Physik und Erfahrung. Zum Verhältnis von Experiment und Theorie in
Schellings Naturphilosophie«, in: Schelling. Seine Bedeutung für eine Philosophie der
Natur und der Geschichte, hrsg. von Ludwig Hasler, Stuttgart-Bad Cannstatt 1981,
S. 129–138.
26 Vgl. D. Engelhardt, »Prinzipien und Ziele der Naturphilosophie Schellings. Situa-
tion um 1800 und spätere Wirkungsgeschichte«, in: Schelling. Seine Bedeutung für
eine Philosophie der Natur und der Geschichte, hrsg. von Ludwig Hasler, Stuttgart-
Bad Cannstatt 1981, S. 77–98; vgl M. L. Heuser-Keßler, Die Produktivität der Natur.
Schellings Naturphilosophie und das neue Paradigma der Selbstorganisation in den
Naturwissenschaften, Berlin 1986.
92
Die Unterschiede zwischen Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
93
Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
In Von der Weltseele wird die Natur vor allem als Tätigkeit, krea-
tive Spontaneität und Erzeugerin von Formen und Ereignissen erläu-
tert, die sich durch unendliche und unaufhörliche Dynamik auszeich-
net. Aber wie äußert sich und auf was basiert diese dynamische
Tatkraft der Natur? Sie äußert und manifestiert sich in einer Polarität
von entgegengesetzten Kräften: der negativen Kraft (Repulsion; Ab-
stoßung) und der positiven Kraft (Anziehung). Aus beiden resultiert
die Geschichte der Natur, die drei Stufen, drei reelle Kräfte aufweist:
Die erste Stufe ist die Stufe der Materie oder der Realität. Es handelt
sich um die unorganische Stufe: Magnetismus, Elektrizität und Che-
mismus. In diesem Zusammenhang nutzt Schelling die neuesten wis-
senschaftlichen Entdeckungen seiner Zeit von Galvani, Volta und La-
voisier, um eine »spekulative Physik« auszuarbeiten. 31 Die zweite
Stufe ist die Stufe des Lichts; dieses ist die Manifestation oder Ema-
nation der Natur als Idealität. Die dritte Stufe ist die Stufe des Orga-
nismus oder der Einheit, die Synthese von Realität und Idealität, an
deren Spitze der Mensch steht. Die Charakteristiken (Polarität, Fina-
lität, Einheit und Totalität) der Natur gründen auf der Weltseele, die
den Organismus vereinheitlicht; durch diese Stufen wird die Natur
sich im Menschen ihrer selbst bewusst. Die Naturphilosophie geht
von der Objektivität aus und durchläuft die natürlichen Zustände.
Sie verweist auf die Erscheinung des Menschen und auf die Mani-
festation der Vernunft, die jede Stufe der Realität begründet. Die
Transzendentalphilosophie ist zur Naturphilosophie komplementär
und befasst sich nicht nur mit der beobachtenden Vernunft und der
Philosophie, die im weitesten Sinne abstrakt und spekulativ ist, son-
dern auch mit dem Selbstbewusstsein und mit der Vernunft, die im
Leben verwurzelt ist. Die Subjektivität wird sich, indem sie sich selbst
bestimmt, schrittweise ihrer Produktivität bewusst. Beide, Naturphi-
losophie und Transzendentalphilosophie, heben hervor, dass das Wis-
sen seinen Inhalt selbst produziert. Erstere zeigt, dass die lebendige
Realität ein empfindsamer Organismus ist, der auch sein eigenes Ab-
bild hervorbringt, also das Wissen von sich selbst. Letztere, die Trans-
zendentalphilosophie, macht die Selbstrealisierung des Geistes in der
31Vgl. R. Lauth, »Die Genese von Schellings Konzeption einer rein aprioristischen
spekulativen Physik und Metaphysik aus der Auseinandersetzung mit Le Sages spe-
kulativer Mechanik«, in: Kant-Studien 75 (1984), S. 76; vgl. B. O. Küppers, Natur als
Organismus. Schellings frühe Naturphilosophie und ihre Bedeutung für die moderne
Biologie, Frankfurt am Main 1992, S. 73.
94
Die Unterschiede zwischen Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
95
Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
96
Der Begriff des Transzendentalen in Schellings Idealismus
97
Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
Schelling kritisiert sowohl das theoretische Wissen als auch das prak-
tische. Die Philosophie kann nicht auf einer theoretischen oder prak-
tischen Vernunft gründen, da beide den Dualismus von Subjekt und
Objekt, Geist und Natur voraussetzen. Die Philosophie geht aus der
Reflexion hervor, aus der Entzweiung vom Absoluten als ursprüng-
licher Identität. 44 Wenn aber keine Form von Reflexion ein Organon
der Philosophie sein kann, ist es notwendig, einen neuen Horizont für
die Philosophie zu finden. Dieser Horizont basiert auf einer subjekti-
ven Tätigkeit, die zugleich rezeptiv und produktiv ist. Das Wissen
muss ein unmittelbares sein, qualitativ frei, und es soll sich grund-
sätzlich von dem theoretischen Wissen unterscheiden, das nicht frei
41 Ebd., S. 29.
42 Ebd.
43 Ebd., S. 124.
98
Was heißt anschauen?
45 Zur Korrelation zwischen der intellektuellen Anschauung und dem Akt des Selbst-
bewusstseins vgl. G. Römpp, »Sich-Wissen als Argument. Zum Problem der Theo-
retizität des Selbstbewusstseins in Schellings System des transzendentalen Idealis-
mus«, in: Kant-Studien 80 (1989), S. 303–323; vgl. D. Sturma, »Grund und Grenze.
Erträge der idealistischen und analytischen Philosophie des Selbstbewusstseins«, in:
Deutscher Idealismus und die analytische Philosophie der Gegenwart. Internationa-
les Jahrbuch des Deutschen Idealismus, Bd. 3, Berlin/New York: de Gruyter 2005,
S. 38–58.
46
I. Kant, De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis, I, § 10.
99
Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
47 I. Kant, Prolegomena, § 8.
48 I. Kant, KrV, B 132.
49
I. Kant, Fortschritte der Metaphysik, S. 120.
50 I. Kant, KrV, B 76.
51
I. Kant, De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis, II, § 10.
100
Was heißt anschauen?
für die Romantiker dieselbe Art von Erkenntnis, durch die der abso-
lute Geist oder der Schöpfer sich selbst erkennt oder in der er ein
Aspekt oder ein Moment ist.
Im Unterschied zu Kant vertritt Schelling die Auffassung, dass
die Transzendentalphilosophie immer von der intellektuellen An-
schauung begleitet sein muss und dass das Ich eine fortlaufende in-
tellektuelle Anschauung ist, weil es sich selbst erschafft. Schelling
zufolge ist Philosophie ohne intellektuelle Anschauung nicht mög-
lich. »Uns allen wohnt ein geheimes, wunderbares Vermögen bei,
uns aus dem Wechsel der Zeit in unser innerstes, von allem, was von
außen her hinzukam, entkleidetes Selbst zurückzuziehen und da un-
ter der Form der Unwandelbarkeit das Ewige anzuschauen; diese An-
schauung ist die innerste, eigenste Erfahrung, von welcher allein alles
abhängt, was wir von einer übersinnlichen Welt wissen und glau-
ben.« 52 Diese intellektuelle Anschauung ist das Vermögen, »gewisse
Handlungen des Geistes zugleich zu produzieren und anzuschauen,
so daß das Produzieren des Objekts und das Anschauen selbst absolut
eins ist«. 53 Sie ist »der Punkt, wo das Wissen und das Absolute und
das Absolute selbst eins sind«. 54
Aus dieser Perspektive ist die intellektuelle Anschauung 55 nach
Schelling die Transformation der Subjektivität in eine höhere Tätig-
keits- und Wissensform, in der das Bewusste und das Unbewusste
sich decken und die Kontraposition von Subjekt und Objekt aufgeho-
ben wird. Die Existenz der Anschauung ist die Garantie, dass die Phi-
losophie ihre Aufgabe erfüllen kann. »Die ganze Philosophie geht
aus, und muß ausgehen von einem Prinzip, das als das absolute Prin-
zip auch zugleich das schlechthin Identische ist. Ein absolut Einfaches,
Identisches läßt sich nicht durch Beschreibung, überhaupt nicht
durch Begriffe auffassen oder mitteilen. Es kann nur angeschaut wer-
den. Eine solche Anschauung ist das Organon aller Philosophie. Aber
diese Anschauung, die nicht eine sinnliche, sondern eine intellektuel-
lings System des transzendentalen Idealismus«, in: System als Wirklichkeit: 200 Jahre
Schellings System des transzendentalen Idealismus, hrsg. von Christian Danz, Claus
Dierksmeier und Christian Seysen, Kritisches Jahrbuch der Philosophie, Bd. 6, Würz-
burg 2001, S. 23–39.
101
Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
le ist, die nicht das Objektive oder das Subjektive, sondern das absolut
Identische, an sich weder Subjektive noch Objektive, zum Gegen-
stand hat, ist selbst bloß eine innere, die für sich selbst nicht wieder
objektiv werden kann: sie kann objektiv werden nur durch eine zweite
Anschauung. Diese zweite Anschauung ist die ästhetische.« 56 Aber
wie kann man nachweisen, dass die ästhetische Anschauung wirklich
existiert und dass sie kein unbeweisbares Postulat ist? Gerade dieses
Problem bringt Schelling dazu, eine tiefe Bindung zwischen Kunst
und Philosophie einzuführen: Die Kunst bildet mit ihrer Essenz und
Reinheit den Höhepunkt des Lebens des Geistes.
102
Intellektuelle Anschauung, ästhetische Anschauung und produktive Anschauung
103
Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
flieht; denn durch die Sinnenwelt blickt nur wie durch Worte der
Sinn, nur wie durch halbdurchsichtigen Nebel das Land der Phanta-
sie, nach dem wir trachten. Jedes herrliche Gemälde entsteht dadurch
gleichsam, daß die unsichtbare Scheidewand aufgehoben wird, welche
die wirkliche und idealische Welt trennt, und ist nur die Öffnung,
durch welche jene Gestalten und Gegenden der Phantasiewelt, welche
durch die wirkliche nur unvollkommen hindurchschimmert, völlig
hervortreten. Die Natur ist dem Künstler nicht mehr, als sie dem Phi-
losophen ist, nämlich nur die unter beständigen Einschränkungen er-
scheinende idealische Welt, oder nur der unvollkommene Wider-
schein einer Welt, die nicht außer ihm, sondern in ihm existiert.« 60
Schelling zufolge ist ein System vollendet, wenn es auf sein An-
fangsstadium zurückgeführt worden ist. »Ein System ist vollendet,
wenn es in seinen Anfangspunkt zurückgeführt ist. Aber eben dies
ist der Fall mit unserem System. Denn eben jener ursprüngliche
Grund aller Harmonie des Subjektiven und Objektiven, welcher in
seiner ursprünglichen Identität nur durch die intellektuelle Anschau-
ung dargestellt werden konnte, ist es, welcher durch das Kunstwerk
aus dem Subjektiven völlig herausgebracht und ganz objektiv gewor-
den ist, dergestalt, daß wir unser Objekt, das Ich selbst, allmählich bis
auf den Punkt geführt, auf welchem wir selbst standen, als wir anfin-
gen zu philosophieren.« 61
104
Kunst und Philosophie über die Grenzen der Vernunft
62 Ebd., S. 302.
63 Zur Verbindung zwischen Philosophie der Kunst und Schellings System des trans-
zendentalen Idealismus vgl. T. Kisser, »Wie kann eine allgemeine Theorie der Wirk-
lichkeit ihre eigene Wahrheit zeigen? Bemerkungen und Fragen zu Struktur und
Funktion der Kunst in Schellings System des transzendentalen Idealismus«, in:
Grundlegung und Kritik. Der Briefwechsel zwischen Schelling und Fichte 1794–1802,
hrsg. von Jörg Jantzen, Thomas Kisser und Hartmut Traub, Fichte-Studien, Bd. 25,
Amsterdam/New York 2005, S. 133–150.
105
Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
64
F. W. J. Schelling, System des transzendentalen Idealismus, S. 25.
106
Der Unterschied und die Beziehung zwischen Begrenztem und Unbegrenztem
65
Ebd., S. 54.
107
Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
setzens zugleich auch jenes gesetzt wäre.« 66 Wie ist aber diese seman-
tische Korrelation zwischen subjektiver Tätigkeit des Ichs und der
Unterscheidungsbeziehung zwischen »begrenzt« und »unbegrenzt«
genau beschaffen?
»Daß das Ich nicht nur begrenzt sei, sondern auch sich selbst
anschaue als solches, oder dass es, indem es begrenzt wird, zugleich
unbegrenzt sei, ist nur dadurch möglich, daß es sich selbst als be-
grenzt setzt, die Begrenzung selbst hervorbringt.« 67 Die Tatsache,
dass das Ich eine Begrenzung hervorbringt, bedeutet nach Schelling,
dass das Ich sich selbst als »absolute Tätigkeit hervorhebt und d. h., es
hebt sich überhaupt auf. Dies ist aber ein Widerspruch, der aufgelöst
werden muß, wenn nicht die Philosophie in ihren ersten Prinzipien
sich widersprechen soll.« 68
Die ursprüngliche unendliche Tätigkeit des Ichs begrenzt das Ich
und ist somit (im Selbstbewusstsein) eine endliche Tätigkeit. Dies
zeigt sich daran, dass man nachweisen kann, dass das Ich nur so weit
unbegrenzt ist, wie es begrenzt ist, und dass es nur so weit begrenzt
ist, wie es unbegrenzt ist. »Dass das Ich nicht nur begrenzt sei, son-
dern auch sich selbst anschaue als solches, oder daß es, indem es be-
grenzt wird, zugleich unbegrenzt sei, ist nur dadurch möglich, daß es
sich selbst als begrenzt setzt, die Begrenzung selbst hervorbringt.« 69
66 Ebd., S. 55.
67 Ebd., S. 56.
68 Ebd.
69
Ebd.
70 Ebd.
71
Ebd., S. 58.
108
Das Ankämpfen des Ichs gegen die Schranke
72 Ebd., S. 59.
73
Vgl. D. Unger, Schlechte Unendlichkeit. Zu einer Schlüsselfigur und ihrer Kritik in
der Philosophie des Deutschen Idealismus, Freiburg/München: Alber 2015.
74
F. W. J. Schelling, System des transzendentalen Idealismus, S. 59.
109
Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
sich selbst begrenzt sei; damit es begrenzt sei, muß die Schranke un-
abhängig sein von der begrenzten Tätigkeit, damit begrenzt für sich
selbst, abhängig vom Ich.« 75
Schelling bemerkt, dass die Schranke vom Ich abhängt. Das
heißt: Im Ich ist außer der begrenzten eine weitere Tätigkeit, von
welcher es unabhängig sein muss. »Es muß also außer jener ins Un-
endliche gehenden Tätigkeit, die wir, weil sie allem reell begrenzbar
ist, die reelle nennen wollen, eine andere im Ich sein, die wir die
ideelle nennen können. Die Schranke ist reell für die ins Unendliche
gehende, oder – weil eben diese unendliche Tätigkeit im Selbst-
bewußtsein begrenzt werden soll – für die objektive Tätigkeit des Ichs,
ideell also für eine entgegengesetzte, nicht-objektive, an sich unbe-
grenzbare Tätigkeit, welche jetzt genauer charakterisiert werden
muß.« 76
75 Ebd.
76
Ebd.
110
Ideelle und reelle Tätigkeit des Ichs
Angeschaut-werdens und Seins liegt die Natur des Ich. Dadurch, daß
die reelle Tätigkeit begrenzt ist, muß sie auch angeschaut, und da-
durch, daß sie angeschaut wird, auch begrenzt werden; beides muß
absolut eines sein.« 77
Beide Tätigkeiten, ideelle und reelle, setzen sich wechselseitig
voraus. Die reelle, ursprünglich ins »Unendliche« strebende, aber für
das Selbstbewusstsein zu begrenzende Tätigkeit ist nichts ohne die
ideelle, für welche sie in ihrer Begrenztheit unendlich ist: »Hinwie-
derum ist die ideelle Tätigkeit nichts, ohne anzuschauende, begrenz-
bare, eben deswegen reelle. Aus dieser wechselseitigen Vorausset-
zung beider Tätigkeiten zum Behuf des Selbstbewußtseins wird der
ganze Mechanismus des Ich abzuleiten sein.« 78
So wie sich beide Tätigkeiten wechselseitig voraussetzen, so set-
zen auch Idealismus und Realismus einander voraus: »Reflektiere ich
bloß auf die ideelle Tätigkeit, so entsteht mir Idealismus, oder die
Behauptung, daß die Schranke bloß durch das Ich gesetzt ist. Reflek-
tiere ich bloß auf die reelle Tätigkeit, so entsteht mir Realismus, oder
die Behauptung, daß die Schranke unabhängig vom Ich ist. Reflektie-
re ich auf beide zugleich, so entsteht mir ein Drittes aus beiden, was
man Ideal-Realismus nennen kann, oder was wir bisher durch den
Namen transzendentaler Idealismus bezeichnet haben.« 79
Laut Schelling ist die Idealität der Schranke der grundlegende
Aspekt, der den Bereich der theroetischen Philosophie charakterisiert,
während die Realität der Schranke der grundlegende Aspekt ist, der
den Bereich der praktischen Philosophie definiert: »In der theoreti-
schen Philosophie wird die Idealität der Schranke erklärt (oder: wie
die Begrenztheit, die ursprünglich nur für das freie Handeln existiert,
Begrenztheit für das Wissen werde), die praktische Philosophie hat
die Realität der Schranke (oder: wie die Begrenztheit, die ursprüng-
lich eine bloß subjektive ist, objektiv werde) zu erklären. Theoretische
Philosophie also ist Idealismus, praktischer Realismus, und nur beide
zusammen bilden das vollendete System des transzendentalen Idea-
lismus.« 80
77 Ebd., S. 60.
78
Ebd.
79 Ebd.
80
Ebd., S. 61.
111
Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
81 Ebd., S. 64.
82 Ebd.
83 Ebd.
84
Ebd.
85 Vgl. S. Schwenzfeuer, Natur und Subjekt. Die Grundlegung der schellingschen
112
Die Deduktion des Absoluten im Akt des Selbstbewusstseins
113
Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
91 Ebd., S. 72.
92
Ebd., S. 65.
114
Das Selbstbewusstsein als ein Streit absolut entgegengesetzter Tätigkeiten
93
Ebd., S. 66.
94 Ebd.
95
Ebd., S. 67.
115
Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
96 Ebd., S. 68.
97
Ebd., S. 69.
98 Ebd., S. 72.
99
Ebd., S. 73.
116
Die Epochen des Selbstbewusstseins
117
Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
seins und zeigt auf, dass das Ich als Prinzip der Philosophie, als abso-
lute Freiheit in seiner Selbstproduktion nicht unmittelbar in Erschei-
nung tritt. Das Ich ist diese unendliche Tätigkeit und zeigt sich selbst,
indem es sich objektiviert und endlich wird. Das Ich begrenzt sein
reines, unbegrenztes Produzieren, um zu produzieren und Produkt
zu werden. Daher entfalten sich zwei entgegengesetzte Kräfte, die
die Basis des gesamten inneren Lebens des Selbstbewusstseins sind:
die unbegrenzt-unendlich-reelle Tätigkeit und die begrenzend-end-
lich-ideelle Tätigkeit.
Die erste Epoche des Selbstbewusstseins, die die Gleichheit von Geist
und Natur voraussetzt, umfasst drei unterschiedliche Akte. Diese be-
stimmen den Weg von der »ursprünglichen Empfindung« zur »pro-
duktiven Anschauung« und äußern sich in den drei Kräften der Ma-
terie und in den drei Momenten ihres Aufbaus. Schelling ist der
Auffassung, dass die Materie nichts anderes sei als der angeschaute
Geist, dessen Tätigkeiten im Gleichgewicht sind. Diese erste Epoche,
die auf dem ursprünglichen Akt (der Empfindung und der produ-
zierenden Anschauung) basiert, ist durch antagonistische Aktivitäten
gekennzeichnet, die sich gegenseitig begrenzen und die ein Gleichge-
wicht erreicht haben. Gemeinsam bringen sie ein Produkt hervor: die
reine Materie, d. h. die Materie, die Ausdruck des Gleichgewichts der
entgegengesetzten Aktivitäten ist. Den Faktoren der produktiven An-
schauung, den entgegengesetzten Tätigkeiten des Ichs, entsprechen
die konstruktiven Faktoren der Materie, die entgegengesetzten Kräf-
te, die nichts anderes als ruhende, gefestigte, gleichsam erstarrte
Tätigkeiten sind. Der unbegrenzten, reellen (positiven) Tätigkeit ent-
spricht die expansiv-repulsive Kraft; der begrenzenden, ideellen
(negativen) Tätigkeit entspricht die anziehende Kraft. Jedoch ver-
wirklichen sich Anschauung und Materie nur in der dritten, synthe-
tischen Tätigkeit und in der dritten, produktiven und kreativen Kraft.
Diesen drei Kräften entsprechen die drei Dimensionen der Materie
(Länge, Breite und Dicke) und die drei Stufen des dynamischen Pro-
zesses (Magnetismus, Elektrizität, chemischer Prozess).
Der erste Akt, von dem die gesamte Geschichte der Intelligenz
ausgeht, ist der ursprüngliche, der noch nicht vom Unbewussten des
118
Von der ursprünglichen Empfindung zur produktiven Anschauung
Ichs befreit ist. Das Ich ist ursprünglich ein Kampf zwischen zwei
entgegengesetzten Tätigkeiten: der reellen und der ideellen. Das intu-
ierende, anschauende Ich erkennt sich in der reellen Tätigkeit als be-
grenzt und intuiert seine Grenzen. Die ideelle Tätigkeit wird zu der
Funktion, die es dem Ich erlaubt, sich als begrenzt wahrzunehmen.
Empfinden heißt, die Schranke als ein Gefühl, das auf einem Nicht-
Ich beruht, in sich zu finden.
Die Möglichkeit der Empfindung beruht nach dieser Deduktion:
»a) auf dem gestörten Gleichgewicht beider Tätigkeiten. Das Ich kann
also auch nicht in der Empfindung schon sich als Subjekt-Objekt,
sondern nur als einfaches begrenztes Objekt anschauen, die Empfin-
dung also ist nur diese Selbstanschauung in der Begrenztheit; b) auf
der unendlichen Tendenz des ideellen Ichs sich in dem reellen an-
zuschauen. Dies ist nicht möglich, als mittelst dessen, was die ideelle
Tätigkeit (das Ich ist jetzt sonst nichts) und die reelle miteinander
gemein haben, d. h. vermittelst des Positiven in ihr; das Gegenteil
wird also vermittelst des Negativen in ihr geschehen. Das Ich wird
also auch jenes Negative in sich nur finden, d. h. nur empfinden
können.« 102
Das Ich könnte sich nicht als begrenzt empfinden, wenn das ide-
elle Ich nicht versuchen würde, sich selbst als reell zu sehen. Da es
sich nicht selbst als objektiv begrenzt und als anschauendes Objekt
erkennen kann, sieht es seine Begrenzung nicht. Diese Unmöglich-
keit begründet die Wirklichkeit der Empfindung. »Die Realität der
Empfindung beruht darauf, daß das Ich das Empfundene nicht an-
schaut als durch sich gesetzt. Es ist Empfundenes, nur insofern es
das Ich anschaut als nicht gesetzt durch sich. Daß also das Negative
durch das Ich gesetzt sei, können zwar wir, aber unser Objekt, das Ich,
kann es nicht sehen, aus dem sehr natürlichen Grund, daß angeschaut
und begrenzt werden vom Ich eins und dasselbe ist. Das Ich wird
(objektiv) begrenzt dadurch, daß es sich (subjektiv) anschaut; nun
kann aber das Ich nicht zugleich sich objektiv anschauen und sich
anschauen als anschauend, also auch nicht sich anschauen als begren-
zend. Auf dieser Unmöglichkeit, im ursprünglichen Akt des Selbst-
bewußtseins zugleich sich Objekt zu werden und sich anzuschauen
als sich Objekt werdend, beruht die Realität aller Empfindung.« 103
119
Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
104
Ebd., S. 107.
120
Von der produktiven Anschauung zur Reflexion
Die Produktion der ersten Epoche 107 ist noch »blind und ohne Be-
wusstsein«. Die zweite Epoche, die von der produktiven Anschauung
zur Reflexion fortschreitet, hat zum Ziel, aufzuzeigen, wie das pro-
duktive Ich schrittweise sich selbst erkennt. Welches sind die Phasen,
die den Weg der Subjektivität zur produktiven Anschauung und zur
Reflexion konstituieren und charakterisieren? Was ist Reflexion?
»Die erste Epoche schließt mit der Erhebung des Ichs zur Intel-
ligenz […]. Aber das Ich, indem es anschauend ist, ist auch im Pro-
duzieren völlig gefesselt und gebunden und kann nicht zugleich An-
schauendes sein und Angeschautes. Die Produktion ist nur darum
eine völlig blinde und bewußtlose. Nach der hinlänglich bekannten
Methode der Transzendental-Philosophie tritt also jetzt die Frage ein,
wie das Ich, welches bis jetzt bloß für uns anschauend und Intelligenz
ist, dasselbe auch für sich selbst werde, oder als solches sich anschaue.
Nun läßt sich aber schlechterdings kein Grund denken, der das Ich
121
Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
108
F. W. J. Schelling, System des transzendentalen Idealismus, S. 128.
109 Ebd., 140.
110
Ebd.
122
Von der produktiven Anschauung zur Reflexion
123
Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
In der dritten Phase, die von dem schrittweisen Übergang »von der
Reflexion bis zum absoluten Willensakt« charakterisiert ist, ana-
lysiert Schelling die Begriffe »Reflexion«, »transzendentale Abstrak-
tion« und »transzendentaler Schematismus«. Der Standpunkt der
Reflexion ist identisch mit dem Standpunkt der Analysis, es kann also
auch »von demselben aus keine Handlung im Ich gefunden werden,
die nicht schon synthetisch in dasselbe gesetzt wäre. Wie aber das Ich
124
Reflexion, transzendentale Abstraktion und transzendentaler Schematismus
selbst auf den Standpunkt der Reflexion gelange, dies ist weder bis
jetzt erklärt, noch kann es vielleicht überhaupt in der theoretischen
Philosophie erklärt werden. Dadurch, daß wir jene Handlung, ver-
möge welcher die Reflexion in das Ich gesetzt wird, auffinden, wird
sich der synthetische Faden wieder anknüpfen und von jenem Punkt
aus ohne Zweifel ins Unendliche reichen.« 117
Vor dem Hintergrund dieses Gedankengangs schreibt Schelling,
dass »die Intelligenz, solange sie anschauend ist, mit dem Angeschau-
ten eins und von demselben gar nicht verschieden ist; so wird sie zu
keiner Anschauung ihrer selbst durch die Produkte gelangen können,
ehe sie sich selbst von den Produkten abgesondert hat, und da sie
selbst nichts anderes als die bestimmte Handlungsweise ist, wodurch
das Objekt entsteht, so wird sie zu sich selbst nur dadurch gelangen
können, daß sie ihr Handeln als solches absondert von dem, was ihr in
diesem Handeln entsteht, oder, was dasselbe ist, vom Produzier-
ten […]. Jenes Absondern des Handelns vom Produzierten heißt im
gewöhnlichen Sprachgebrauch Abstraktion.« 118
Die Abstraktion wird als die erste Bedingung der Reflexion be-
stimmt. Wie ist das Verhältnis von Reflexion und Abstraktion? Was
ist die Funktion und die Finalität der Abstraktion? Welches sind die
Grenzen und die Möglichkeiten der Abstraktion im subjektiven Pro-
zess der Reflexion vor einem transzendentalen Horizont?
»Als die erste Bedingung der Reflexion erscheint also die Abs-
traktion. Solange die Intelligenz nichts von ihrem Handeln Verschie-
denes ist, ist kein Bewußtsein desselben möglich. Durch die Abstrak-
tion selbst wird sie etwas von ihrem Produzieren Verschiedenes,
welches letztere aber eben deswegen jetzt nicht mehr als ein Handeln,
sondern nur als ein Produziertes erscheinen kann.« 119
Schelling bringt den Begriff »Abstraktion« zuerst mit dem Be-
griff des »Urteils« und schließlich mit dem Konzept »Schematismus«
in Verbindung. »Wenn nun aber Begriff und Objekt ursprünglich so
übereinstimmen, daß in keinem von beiden mehr oder weniger ist als
im andern, so ist eine Trennung beider schlechthin unbegreiflich
ohne eine besondere Handlung, durch welche sich beide im Bewußt-
sein entgegengesetzt werden. Eine solche Handlung ist die, welche
durch das Wort Urteil sehr expressiv bezeichnet wird, indem durch
117
Ebd., S. 179.
118 Ebd., S. 180.
119
Ebd.
125
Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
120
Ebd., S. 182.
126
Die Philosophie der Identität im System der gesamten Philosophie
121
Ebd., S. 190.
122 Ebd.
123
Ebd., S. 182.
127
Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
128
Die Philosophie der Identität im System der gesamten Philosophie
124 Zur Analyse des Begriffs »Bewusstsein« nach Schelling vgl. V. Jankélévitch,
129
Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
Die Lösung des Problems bringt eine Revision der gesamten Pro-
blematik des Absoluten mit sich. Schelling akzeptiert es mittlerweile,
als Pantheist bezeichnet zu werden, aber nur, wenn man unter Pan-
theismus versteht, dass alles, was ist, in Gott ist, und nicht umge-
kehrt, dass Gott alles ist. Außerdem akzeptiert Schelling, dass man
Gott als Person betrachtet (was Spinoza und Fichte ausgeschlossen
hatten). Die Gegensätze, die für Schelling vorher im Absoluten ver-
eint wurden, versteht er nun als im Kampf mit dem Absoluten be-
griffen: Gott hat eine dunkle und blinde Seite, die der irrationale
Wille ist, und eine positive und rationale Seite. Das Leben Gottes ist
der Sieg des Positiven über das Negative. Gott ist nicht nur reiner
Geist, sondern auch Natur.
In der letzten Phase seiner Philosophie setzt sich Schelling mit Hegel
auseinander und entwickelt eine klare semantische Unterscheidung
zwischen »negativer« und »positiver Philosophie«. 126 Der Gedanken-
weg Schellings schließt mit der Polemik gegen das philosophische
System Hegels. Letzterer wird angeklagt, die vitalen Gründe des
Idealismus auf ein geschlossenes, logisches und dialektisches Schema
zu reduzieren, das abstrakt ist. Schelling sieht in der Philosophie He-
gels eine Art von Philosophie, die alles in der Entwicklung der Idee
aufgehoben wissen möchte und so ein logisches, sich selbst genügen-
des System begründet. Die Totalität des Reellen wird mit dem Ratio-
nalen identifiziert: »Was vernünftig ist, das ist wirklich, und was
wirklich ist, das ist vernünftig.« Aus diesem Grund bestimmt Schel-
ling die Hegel’sche Philosophie negativ, nämlich als eine Philosophie,
Existierenden und der Raum. Vernunfthintergründe einer Welt äußerer Dinge nach
Schellings Darstellung des Naturprocesses von 1843/44«, in: Kant-Studien 106
(2015), S. 36–66.
126 Zur semantischen Unterscheidung zwischen negativer und positiver Philosophie
vgl. S. Jürgensen, »Schellings logisches Prinzip: Der Unterschied in der Identität«, in:
Schelling. Zwischen Fichte und Hegel, hrsg. von Christoph Asmuth, Alfred Denker
und Michael Vater, Amsterdam/Philadelphia 2000, S. 113–143; vgl. M. Guschwa,
Dialektik und philosophische Geschichtserzählung beim späten Schelling, Würzburg:
Ergon 2013.
130
Schellings Kritik an Hegel
die der reine Gedanke sein möchte und die keine Konfrontation mit
etwas Gegensätzlichem zulässt, das nicht ausschließlich auf den Ge-
danken zurückzuführen ist. Somit zeigt sich die Philosophie Hegels
als eine leere, spekulative Konstruktion. Laut Schelling zielen die Phi-
losophie und die Logik Hegels darauf, die Essenz der Dinge zu er-
fassen; dies jedoch niemals in ihrer reellen Existenz. Die Hegel’sche
Philosophie geht von der Vernunft aus und beachtet somit nicht die
Ganzheit der Existenz der Wirklichkeit, mit der sich hingegen die
positive Philosophie beschäftigt.
Eine solche Philosophie wie die Hegel’sche ist negativ, »weil es
ihr nur um die Möglichkeit (das Was) zu thun ist, weil sie alles er-
kennt, wie es unabhängig von aller Existenz in reinen Gedanken ist;
zwar werden in ihr existierende Dinge deducirt (sonst wäre sie nicht
Vernunft, d. h. apriorische Wissenschaft, denn das a priori ist dieß
nicht ohne ein a posteriori), aber es wird in ihr darum nicht deduziert,
daß die Dinge existieren; negativ ist jene, weil sie auch das Letzte, das
an sich Actus (daher gegenüber von den existierenden Dingen über-
existierend ist), nur im Begriff hat. Positiv dagegen ist diese; denn sie
geht von der Existenz aus, der Existenz, d. h. dem actu Actus-Seyn
des in der ersten Wissenschaft als notwendig existirend im Begriff
(als natura Actus seyend) Gefundenen.« 127
Man muss nun die beiden Formen der Philosophie verbinden.
»Ist aber gleich die positive Philosophie eine von der negativen abge-
setzte und andere, so ist demungeachtet der Zusammenhang, je die
Einheit beider zu behaupten. Die Philosophie ist doch nur Eine, näm-
lich die Philosophie, die sowohl ihren Gegenstand sucht, als ihren
Gegenstand hat und ihn zur Erkenntnis bringt. Die positive ist es,
die auch in der negativen eigentlich ist, nur noch nicht als wirkliche,
sondern erst als sich suchende: wie dieß diese ganze nun zu Ende
gekommene Entwicklung gezeigt hat.« 128 Vor welchem Horizont ist
eine Verbindung oder Synthese zwischen beiden Philosophien mög-
lich? Warum ist die semantische Unterscheidung zwischen positiver
und negativer Philosophie so wichtig für die letzte gedankliche Phase
Schellings? Was ist die Funktion und was ist das Ziel einer negativen
Philosophie? Was ist positive Philosophie?
127
F. W. J. Schelling, Philosophische Einleitung in die Philosophie der Mythologie,
S. 604.
128
Ebd., S. 606.
131
Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie
129
Vgl. D. Korsch, Der Grund der Freiheit. Eine Untersuchung zur Problemgeschich-
te der positiven Philosophie und zur Systemfunktion des Christentums im Spätwerk
Schellings, München 1980.
132
Schellings Kritik an Hegel
130
Vgl. M. Gabriel, Der Mensch im Mythos. Untersuchungen über Ontotheologie,
Anthropologie und Selbstbewusstseinsgeschichte in Schellings »Philosophie der My-
thologie«, Berlin/New York: de Gruyter 2006.
133
III. Die Wechselbeziehung »endlich –
unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
»Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das
ist vernünftig. In dieser Überzeugung steht jedes unbefange-
ne Bewusstsein, wie die Philosophie, und hiervon geht diese
ebenso in Betrachtung des geistigen Universums aus, als des
natürlichen.«
134
Transzendentale Anschauung, Reflexion und Subjektivität
System als eine Organisation von Sätzen kann die Forderung gesche-
hen, daß ihm das Absolute, welches der Reflexion zum Grunde liegt,
auch nach Weise der Reflexion, als oberster absoluter Grundsatz vor-
handen sei.« 1
Anhand dieser Betrachtung möchte Hegel aufzeigen, dass das
Ganze, die Totalität, das Absolute, wenn es wirklich konkret, d. h. in
seiner ganzen Wahrheit gedacht werden soll (und nichts anderes ist
mit Spekulation gemeint), gar nicht anders als in sich widersprüchlich
gedacht werden kann: als Antinomie. Er erklärt: »Soll das Prinzip der
Philosophie in formalen Sätzen für die Reflexion ausgesprochen wer-
den, so ist zunächst als Gegenstand dieser Aufgabe nichts vorhanden
als das Wissen, im allgemeinen die Synthese des Subjektiven und
Objektiven oder das absolute Denken. Die Reflexion aber vermag
nicht die absolute Synthese in einem Satz auszudrücken, wenn näm-
lich dieser Satz als ein eigentlicher Satz für den Verstand gelten soll;
sie muß, was in der absoluten Identität eins ist, trennen und die Syn-
these und die Antithese getrennt, in zwei Sätzen, in einem die Iden-
tität, im andern die Entzweiung, ausdrücken.« 2
Ebenfalls in der Differenz des Fichteschen und Schellingschen
Systems der Philosophie schreibt Hegel, dass der Verstand, da Wissen
die Synthese von Subjektivität und Objektivität ist, zugleich die Iden-
tität (A = A) und die Nicht-Identität (A = B) behaupten muss. Dies
führt jedoch zur Verstrickung in eine Antinomie. Einziger Ausweg
ist: entweder die Nicht-Identität zu negieren oder auf die Wahrheit
des Wissens zu verzichten. Hegel unterstreicht daher: »[W]enn man
bloß auf das Formelle der Spekulation reflektiert und die Synthese
des Wissens in analytischer Form festhält, so ist die Antinomie, der
sich selbst aufhebende Widerspruch, der höchste formelle Ausdruck
des Wissens und der Wahrheit.« 3 Insofern die Spekulation »von der
Seite der bloßen Reflexion angesehen wird, erscheint die absolute
Identität in Synthesen Entgegengesetzter, also in Antinomien; die
relativen Identitäten, in die sich die absolute differenziert, sind zwar
beschränkt, und insofern für den Verstand und nicht antinomisch;
zugleich aber weil sie Identitäten sind, sind sie nicht reine Verstan-
desbegriffe; und sie müssen Identitäten sein, weil in einer Philosophie
phie, hrsg. von H. Brockard und H. Buchner, Hamburg: Meiner 1979, S. 25.
2 Ebd., S. 26–27.
3
Ebd., S. 28.
135
Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
kein Gesetztes ohne Beziehung aufs Absolute stehen kann; von der
Seite dieser Beziehung aber ist selbst jedes Beschränkte eine (relative)
Identität, und insofern für die Reflexion ein antinomisches; und dies
ist die negative Seite des Wissens, das formale, das von der Vernunft
regiert, sich selbst zerstört. Außer dieser negativen Seite hat das Wis-
sen eine positive Seite, nämlich die Anschauung. Reines Wissen, das
hieße Wissen ohne Anschauung, ist die Vernichtung der Entgegen-
gesetzten im Widerspruch; Anschauung ohne diese Synthese Ent-
gegengesetzter ist empirisch, gegeben, bewußtlos.« 4
Die Spekulation ist somit zum Denken des Absoluten bestimmt,
das der damit notwendig verbundenen Erfahrung der Antinomie
standhält und sich vor ihr nicht in die vermeintlichen Sicherheiten
des reflektierenden Verstandes flüchtet. »Das Vermögen der Speku-
lation« heißt sowohl bei Hegel als auch bei Schelling Vernunft, die
vom Verstand unterschieden wird. Dieser soll von sich aus den Wi-
derspruch ausschließen, weil der Widerspruch irrational ist. Mit die-
sem Begriff der Spekulation haben Hegel und Schelling den traditio-
nellen Begriff der Dialektik übernommen und zugleich grundlegend
neu formuliert. Dies wird offensichtlich, wenn man den Hegel’schen
Begriff der Dialektik mit dem Schelling’schen Begriff in den Vor-
lesungen über die Methode des akademischen Studiums von 1803
konfrontiert. 5
Die Wege von Hegel und Schelling trennen sich sowohl aus phi-
losophischer Sicht als auch aus persönlicher, als es darum geht, die in
der Perspektive des abstrakten Verstandes irrationale Spekulation
nun selber rational zu bestimmen. Es ist interessant, zu bemerken,
dass Hegel in der Differenz des Fichteschen und Schellingschen Sys-
tems der Philosophie von 1801 noch mit der Schelling’schen Lehre
der intellektuellen Anschauung übereinstimmt und erklärt: Das Ab-
solute, d. h. die absolute Identität zwischen Subjektivität und
Objektivität, erscheint dem Verstand als eine Form der Antinomie;
im Gegensatz dazu erscheint die Vernunft als das Vermögen der Spe-
kulation und erfasst in der »Nacht des Verstands« auch die Identität
des in der Antinomie Entgegengesetzten, und zwar als nicht-empiri-
sche, intellektuelle oder transzendentale Anschauung. »Dadurch,
dass die Anschauung transzendental wird, tritt die Identität des Sub-
4
Ebd., S. 30.
5 Vgl. F. W. J. Schelling, Studium generale. Vorlesungen über die Methode des aka-
demischen Studiums, hrsg. von Glockner, Stuttgart: Kröner 1954, S. 81.
136
Transzendentale Anschauung, Reflexion und Subjektivität
phie, S. 32.
7 Ebd., S. 31.
8
Ebd.
137
Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
hatte. Hegel erklärt in der Differenzschrift von 1801, dass »in der
transzendentalen Anschauung alle Entgegensetzung aufgehoben,
aller Unterschied der Konstruktion des Universums durch und für
die Intelligenz, und seiner als ein Objektives angeschauten, unabhän-
gig erscheinenden Organisation vernichtet [ist]«. 9 Im Gegensatz dazu
beschreibt er im Vorwort der Phänomenologie des Geistes von 1807
das Resultat dieser Vernichtung in einem absolut negativen Sinne.
In der Differenzschrift erklärt Hegel, dass das philosophische
System Schellings die Natur nicht nur als negatives Moment der un-
endlichen Tätigkeit des Ichs auffasse, sondern auch als Erschaffung
und Entwicklung seiner selbst: Es gibt eine Einheit von Geist und
Natur, von Subjektivität und Objektivität, von Ideellem und Reellem,
und am Ursprung dieser Einheit steht das gleiche Prinzip. Aber was
liegt diesem Prinzip zugrunde? Warum ist die kritische Interpretation
dieses Prinzips als Ursprung dieser Einheit und Synthese in der He-
gel’schen Philosophie so wichtig?
Laut Hegel möchte Schelling in der Natur die gleichen Momente
der Selbsterschaffung wiederfinden, die er in der Wissenschaftslehre
Fichtes in der Tätigkeit des Ichs gefunden hatte. So kommt er zu dem
Schluss, dass die Natur ein unbewusstes Produkt der Intelligenz ist
und dass sie sich Schritt für Schritt weiterentwickelt: von der Materie
über das Organische bis hin zum Menschen, in dem schließlich die
Intelligenz zur Erkenntnis reift. Der Mensch ist so das höchste Ziel
der Natur; in ihm offenbart sich der Geist, der auf allen anderen Stu-
fen der Natur versteckt bleibt. Schelling nutzt die wissenschaftlichen
Entdeckungen seiner Zeit (den Magnetismus, die Elektrizität, den
Chemismus) und vertritt die Auffassung, dass die Natur sich durch
das Aufeinandertreffen zweier fundamentaler Kräfte realisiere: An-
ziehung und Abstoßung, die die unterschiedlichen Stufen der Natur
hervorrufen. Das Prinzip der Naturphilosophie Schellings lautet:
»Die Natur ist der sichtbare Geist, der Geist ist die unsichtbare Na-
tur.« Wenn die Natur ein unbewusster Geist ist, kann man sie nicht
mehr als eine Ganzheit von Phänomenen, die durch notwendige Ge-
setze geordnet werden, ansehen. Die Natur kann nicht als Mechanis-
mus verstanden werden, da sie ein lebendiger Organismus ist; der
Organismus zeigt sich in der Tat als ein mechanisch Mehrfaches, das
zwar aus einzelnen Teilen besteht, aber auch in sich eine Einheit hat,
9
Ebd.
138
Transzendentale Anschauung, Reflexion und Subjektivität
10
Vgl. W. Schmied-Kowarzik, Von der wirklichen, von der seyenden Natur: Schel-
lings Ringen um eine Naturphilosophie in Auseinandersetzung mit Kant, Fichte und
Hegel, Stuttgart-Bad Cannstatt 1996.
11 Vgl. W. C. Zimmerli, »Die Frage nach der Philosophie. Interpretation zu Hegels
Differenzschrift«, in: Hegel-Studien, Beiheft 12, Bonn: Bouvier 1974; vgl. R. Stern,
Hegel, Kant and the Structure of the Object, New York 2006.
12 Vgl. M. Gabriel, »The Mythological Being of Reflection. An Essay on Hegel, Schel-
ling, and the Contingency of Necessity«, in: M. Gabriel und S. Žižek, Mythology,
Madness and Laughter. Subjectivity in German Idealism, London/New York: Conti-
nuum 2009, S. 15–94.
139
Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
die Objekte als von den Darstellungen bestimmt und modifiziert an.
Und hier liegt der Widerspruch: Im ersten Falle postuliert man, dass
die sinnliche Welt über dem Gedanken steht, im zweiten Falle, dass
der Gedanke über der sinnlichen Erkenntnis steht. Weder das theo-
retische Bewusstsein noch das moralische können das Organon der
Philosophie sein, weil sie diese Gegenüberstellung von Subjekt und
Objekt, Geist und Natur voraussetzen. Nur die ästhetische Aktivität,
die Kunst, ist das Organon der Philosophie. Sie ist der Höhepunkt des
Lebens des Geistes, da nur das Kunstwerk ein konkretes, reales Zeug-
nis von der Möglichkeit gibt, die Trennung von Geist und Natur zu
überwinden. Schelling sieht in der ästhetischen Tätigkeit die einzige
Möglichkeit, intuitiv das Absolute als Identität von unbewusster Na-
tur und bewusstem Geist zu erkennen. Im Kunstwerk drückt sich das
Unendliche in endlichen Formen aus. Die Kunst ist die einzige und
ewige Enthüllung des Absoluten.
In der Schelling’schen Auffassung der Kunst und der ästheti-
schen Tätigkeit als einziger Möglichkeit, die Einheit von Realem und
Idealem, von Subjekt und Objekt zu erreichen, sieht Hegel die neue
Konzeption des Absoluten, die sich qualitativ tiefgehend von Kants
und Fichtes Bestimmungen des Subjekts, des Ichs und des Selbst-
bewusstseins unterscheidet. In der Definition Schellings ist das Ab-
solute die ursprüngliche Identität von Ich und Nicht-Ich, Subjekt und
Objekt, Geist und Natur als coincidentia oppositorum.
Das Absolute verwirklicht sich nur durch eine ursprüngliche
Anschauung, nämlich die der Philosophie, die eine absolute und be-
dingungslose Wissenschaft ist, weil ihr Ursprung nicht in den Grund-
sätzen anderer Wissenschaften liegt. Dieses Absolute wird bereits
Vernunft genannt, und die Philosophie ist die Sichtweise der Ver-
nunft. Alles ist Vernunft und Vernunft ist alles. All das, was vernünf-
tig ist, ist wirklich. Diese absolute Identität ist unbegrenzt und kann
nie aufgehoben werden.
Laut Schelling besteht die echte Philosophie in der Darstellung
dieser unaufhebbaren absoluten Identität. Alles ist Identität von Na-
tur und Subjektivität – ein Prinzip, das nur Spinoza erkannt hatte,
jedoch ohne einen vollständigen Beweis geliefert zu haben. Die ein-
zelnen Dinge gehen aus der qualitativen Differenzierung jener zwei
Kräfte (Anziehung und Abstoßung) hervor, in denen sich das Abso-
lute äußert. Hierbei überwiegt entweder das subjektive Moment oder
das objektive Moment.
Schelling akzeptiert weder das künstlerische Schaffen (welches
140
Die Wechselbeziehung von Endlichem und Unendlichem
das Endliche aus der Handlung des freien Willens des Schöpfers er-
wachsen lässt) noch den Spinozismus (der das Endliche widerlegt,
indem alles auf Gott zurückgeführt wird). Er nimmt folglich das an-
tike gnostische Konzept wieder auf, nach dem die Existenz der Dinge
und deren Herkunft eine ursprüngliche Loslösung, eine Abkehr von
Gott voraussetzen. Und das ist das zentrale Thema der theosophi-
schen Phase der Schelling’schen Philosophie.
Erst die Überprüfung und die Umformung der eigentlichen The-
matik des Absoluten in der letzten Phase der Philosophie Schellings
bringt die Lösung des hier dargestellten Problems mit sich: Die Ge-
gensätze, die Schelling zuerst im Absoluten als vereinigt angesehen
hatte, sind für ihn nun in der Philosophie der Mythologie und in der
Philosophie der Offenbarung durch einen Kampf untereinander im
Absoluten charakterisiert. In Gott liegen ein obskures, irrationales
Prinzip und zugleich ein positives, rationales Prinzip. Das Leben Got-
tes entfaltet sich als ein Sieg des Positiven über das Negative. Das
menschliche Drama eines Kampfes zwischen Gut und Böse, zwischen
Freiheit und Zwang, ist nichts anderes als die Widerspiegelung eines
ursprünglichen Konfliktes zwischen den gegensätzlichen Kräften in
Gott.
13
Vgl. J. Russon, Infinite Phenomenology: The Lessons of Hegel’s Science of Experi-
ence, Evanston: Northwestern University Press 2015.
14
Zur Korrelation »endlich – unendlich« in Hegels Philosophie vgl. Das Endliche und
141
Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
das Unendliche in Hegels Denken, hrsg. von L. Illetterati und F. Menegoni, Stuttgart:
Klett-Cotta 2003.
15 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 343.
16
Vgl. G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, I, Teil I, Kap. II, S. 161–162 und
S. 163.
17
G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 252.
142
Die Wechselbeziehung von Endlichem und Unendlichem
frei hervor; und indem sie endlich für das Bewußtsein Gegenstand ist,
als das, was sie ist, so ist das Bewußtsein Selbstbewußtsein.« 18
Im romantischen Idealismus dient dieses Konzept des »Unend-
lichen« 19 dazu, die Wirklichkeit als solche zu rechtfertigen und den
Anspruch des abstrakten Verstandes, die unüberwindbaren Grenzen
des Verstandes zu beurteilen und zu bestimmen, abzulehnen. Durch
den Begriff der Unbegrenztheit und der Unendlichkeit der Macht ist
jede einzelne Wirklichkeit das, was sie sein muss. Das Unendliche
benötigt, um zu sein, nichts, was außer ihm liegt, und ist deswegen
die unbegrenzte Macht des Daseins.
Dieses Konzept der Unendlichkeit kann man bis zu Plotin zu-
rückverfolgen, der in den Enneaden das Unendliche als Unbegrenzt-
heit der Macht definiert hat. Für Hegel ist die Unendlichkeit die
Wirklichkeit selbst, weil sie eine unbegrenzte Macht der Verwirk-
lichung, d. h. eine absolute Macht ist. Aus dieser Sicht ist das Endliche
irreal und findet seine Wirklichkeit nur im Unendlichen und als Un-
endliches.
Daher ist die Unendlichkeit das Absolute. Es ist zur gleichen Zeit
Objekt und Subjekt der Philosophie und wird oft unterschiedlich de-
finiert. Es bleibt weiterhin durch seine positive Unendlichkeit charak-
terisiert und ist jenseits von jeder endlichen Wirklichkeit. Außerdem
trägt es jede endliche Wirklichkeit in sich.
Im Vorwort der Phänomenologie des Geistes legt Hegel dar, dass
das Absolute das wesentliche Ergebnis ist, das erst am Ende der Ent-
wicklung Wirklichkeit ist. Auf der Grundlage dieses Prinzips identi-
fiziert sich der absolute Geist mit den höchsten Stufen der Wirklich-
keit, insofern er sich selbst als das Prinzip des unendlichen
Selbstbewusstseins in der Religion, in der Kunst und in der Philoso-
phie bestimmt. Deshalb ist das Absolute ohne Einschränkungen,
ohne Grenzen, ohne Bedingungen. Das Absolute ist die Wirklichkeit,
welche auf Grenzen und Bedingungen verzichtet. Es ist die höhere
Wirklichkeit des Geistes oder die höhere Wirklichkeit Gottes. Das
Absolute ist das wahre Unendliche.
18 Ebd., S. 254.
19 Zum Begriff der Unendlichkeit bei Hegel vgl. M. Baum, »Zur Vorgeschichte des
Hegel’schen Unendlichkeitsbegriffs«, in: Hegel-Studien 11 (1976), S. 89–124 und
U. Majer, »Das Unendliche als eine bloße Idee«, in: Revue Internationale de Philoso-
phie 186 (1993), S. 319–341.
143
Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
20
G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse,
in: Werke, Bd. 10, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1971, S. 202.
21
Ebd., S. 143–144.
144
Hegels Kritik an Kant
22 Ebd., S. 144.
23 Zur Hegel’schen Kritik an der Philosophie Kants und Fichtes vgl. W. C. Zimmerli,
»Fichte contra Hegel. Umwertungsversuche in der Philosophiegeschichte«, in: Zeit-
schrift für philosophische Forschung 28 (1973), S. 600–606 und W. Janke, »Die drei-
fache Vollendung des Deutschen Idealismus. Schelling, Hegel und Fichtes ungeschrie-
bene Lehre«, in: Fichte-Studien Supplementa, Bd. 22, hrsg. von Helmut Girndt,
Amsterdam/New York 2009.
145
Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
Sinn dieser Philosophie anzusehen, daß sie von Reinhold als eine
Theorie des Bewußtseins, unter dem Namen Vorstellungsvermögen,
aufgefaßt worden ist. Die Fichte’sche Philosophie hat denselben
Standpunkt, und Nicht-Ich ist nur als Gegenstand des Ich, nur im
Bewußtsein bestimmt; es bleibt als unendlicher Anstoß, d. i., als
Ding-an-sich. Beide Philosophien zeigen daher, daß sie nicht zum Be-
griffe und nicht zum Geiste, wie er an und für sich ist, sondern nur,
wie er in Beziehung auf ein Anderes ist, gekommen sind.« 24
In der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im
Grundriß bemerkt Hegel, dass »in der kritischen Philosophie […]
das Denken so aufgefasst [wird], dass es subjektiv und dessen letzte,
unüberwindliche Bestimmung die abstrakte Allgemeinheit, die for-
melle Identität sei; das Denken wird so der Wahrheit als in sich kon-
kreter Allgemeinheit entgegengesetzt. In dieser höchsten Bestim-
mung des Denkens, welche die Vernunft sei, kommen die Kategorien
nicht in Betracht. Der entgegengesetzte Standpunkt ist, das Denken
als Tätigkeit nur des Besonderen aufzufassen und es auf diese Weise
gleichfalls für unfähig zu erklären, Wahrheit zu fassen.« 25
Diese Aussage von Hegel lässt den radikalen Unterschied zwi-
schen den beiden Denkern erkennen: Bei Kant überwiegt ein gnoseo-
logischer Ansatz, der von der Bestimmung der Grenzen der mensch-
lichen Vernunft charakterisiert ist. Hegel überschreitet genau diese
Grenzen, um zu einer Erkenntnis der unendlichen Vernunft zu ge-
langen, die durch die Revolution des absoluten Idealismus 26 zum
Ausdruck kommt. Wenn man Kants Transzendentalphilosophie folgt,
ist die Erkenntnis abhängig von den reinen Formen a priori der Sinn-
lichkeit und den Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis, mit-
tels deren die Subjektivität das empirische Material und die gegebene
Mannigfaltigkeit ordnet. Dieser Prozess bringt methodologische
Konsequenzen mit sich: Die reine Erkenntnis unterscheidet sich von
der empirischen, die Welt der Phaenomena ist von der Welt der Nou-
mena getrennt, die Sinnlichkeit unterscheidet sich vom Intellekt und
die Welt der Noumena, der Dinge an sich, geht über die Erkenntnis-
S. 202–203.
25 Ebd., S. 148.
Untersuchung über den Weg von Kant zu Hegel, Leipzig 1910 und W. Vossenkuhl,
»Das System der Vernunftschlüsse«, in: Architektonik und System in der Philosophie
Kants, hrsg. von H. F. Fulda und J. Stolzenberg, Hamburg: Meiner 2001.
146
Hegels Kritik an Kant
27
Vgl. R. Wahsner, Der Widerstreit von Mechanismus und Organismus. Kant und
Hegel im Widerstreit um das neuzeitliche Denkprinzip und den Status der Naturwis-
senschaft, Hürtgenwald 2006.
28 Vgl. A. F. Koch, »Die schlechte Metaphysik der Dinge. Metaphysik als immanente
Metaphysikkritik bei Hegel«, in: Metaphysik, hrsg. von Karl Ameriks und Jürgen
Stolzenberg, Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus, Bd. 5, Berlin, New
York 2007, S. 189–210.
29
Vgl. R. Kroner, Von Kant bis Hegel, 2 Bde., Tübingen: Mohr/Siebeck, 3. Aufl. 1977
und X. Tilliette, Untersuchungen über die intellektuelle Anschauung von Kant bis
Hegel, Stuttgart: Frommann-Holzboog 2015.
147
Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
hängt von den gegebenen Objekten ab. Auch aus moralischer Sicht ist
der Mensch ein endliches Sein. 30 Durch den Willen hat der Mensch
die Freiheit, zu entscheiden, seine Maximen mit dem moralischen
Imperativ in Einklang zu bringen. Auch die Möglichkeit des ästheti-
schen Urteils gründet als solche auf der endlichen Natur des Men-
schen, also auf der Begrenzung seiner Möglichkeiten der Erkenntnis,
weil diese das Objekt nicht als Ganzes bestimmen, sondern nur des-
sen Form. Diese Unterschiede zwischen den beiden Denkern spiegeln
sich im ethischen Gedanken wider. In Kants praktischer Vernunft ist
Gott ein Ideal, das unbeweisbar ist. Für Hegel hingegen ist das Gött-
liche Ganzheit, ein innerer Prozess. Es ist die unendliche Vernunft,
die sich in der Realität entfaltet.
30
Vgl. R. Langthaler, Geschichte, Ethik und Religion im Ausgang von Kant. Philoso-
phische Perspektiven zwischen skeptischer Hoffnungslosigkeit und dogmatischem
Trotz, Berlin: Akademie-Verlag 2014.
148
Bewusstsein, Erfahrung und Gewissen
dies sein Wesen erfaßt, wird es die Natur des absoluten Wissens
selbst bezeichnen.« 31 Infolge dieser Notwendigkeit ist dieser Weg
»zur Wissenschaft selbst schon Wissenschaft und nach ihrem Inhalt
hiermit Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins«. 32
Das »unmittelbare Dasein des Geistes, das Bewußtsein, hat die
zwei Momente in sich: das Wissen und die dem Wissen negative Ge-
genständlichkeit. Indem in diesen Elementen sich der Geist ent-
wickelt und seine Momente auslegt, so kommt ihnen dieser Gegen-
satz zu, und sie treten alle als Gestalten des Bewußtseins auf. Die
Wissenschaft dieses Wegs ist Wissenschaft der Erfahrung, die das
Bewußtsein macht.« 33
Die Phänomenologie des Geistes ist die Wissenschaft der Erfah-
rung des Bewusstseins, weil dieses ein allgemeines Phänomen des
Geistes ist: Das Bewusstsein ist »das unmittelbare Dasein des Geis-
tes« 34, ist also die allgemeine, phänomenologische Existenz des Geis-
tes und vereint somit in sich die Bedeutungen Selbstbewusstsein,
Vernunft, Geist und Religion. »Geist ist also Bewußtsein überhaupt,
was sinnliche Gewißheit, Wahrnehmen und den Verstand in sich be-
greift, insofern er in der Analyse seiner selbst, das Moment festhält,
daß er sich gegenständliche, seiende Wirklichkeit ist, und davon abs-
trahiert, daß diese Wirklichkeit sein eignes Fürsichsein ist. Hält er im
Gegensatz das andre Moment der Analyse fest, daß sein Gegenstand
sein Fürsichsein ist, so ist er Selbstbewußtsein. Aber als unmittel-
bares Bewußtsein des an und fürsichseins, als Einheit des Bewußt-
seins und des Selbstbewußtseins ist er das Bewußtsein, das Vernunft
hat, das, wie das Haben es bezeichnet, den Gegenstand hat als an sich
vernünftig bestimmt, oder vom Werte der Kategorie, aber so, daß er
noch für das Bewußtsein desselben den Wert der Kategorie nicht hat.
Er ist das Bewußtsein, aus dessen Betrachtung wir soeben herkom-
men. Diese Vernunft, die er hat, endlich als eine solche von ihm an-
geschaut, die Vernunft ist, oder die Vernunft, die in ihm wirklich und
die seine Welt ist, so ist er in seiner Wahrheit; er ist der Geist, er ist
das wirkliche sittliche Wesen.« 35
Was aber ist dann das Bewusstsein? Hegel erinnert »an die abs-
trakten Bestimmungen des Wissens und der Wahrheit, wie sie an
31 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 166.
32 Ebd.
33
Ebd., S. 90.
34 Ebd.
35
Ebd., S. 592.
149
Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
36 Ebd., 76.
37 Zur semantisch-philosophischen Analyse des Bewusstseins in Hegels Philosophie
vgl. E. Behler, »Die Geschichte des Bewußtseins. Zur Vorgeschichte eines Hegel’schen
Themas«, in: Hegel-Studien 7 (1972), S. 169–216 und C. Iber, »Hegels Paradigmen-
wechsel vom Bewusstsein zum Geist«, in: Hegels Einleitung in die Phänomenologie
des Geistes, hrsg. von Jindrich Karásek, Jan Kuneš und Ivan Landa, Würzburg 2006,
S. 125–140.
150
Bewusstsein, Erfahrung und Gewissen
151
Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
42 Ebd., S. 821.
43
Vgl. D. Heidemann, »Kann man sagen, was man meint? Untersuchungen zu He-
gels sinnlicher Gewissheit«, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 84/1 (2002),
S. 46–63.
152
Die Bedeutung des »Selbstbewusstseins« im Idealismus
44
G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 260.
45 G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse,
S. 213.
46 Vgl. U. Utz, »Selbstbezüglichkeit und Selbstunterscheidung des Bewusstseins in
der Einleitung der Phänomenologie des Geistes«, in: Hegels Einleitung in die Phäno-
menologie des Geistes, hrsg. von Jindrich Karásek, Jan Kuneš und Ivan Landa, Würz-
burg 2006, S. 158–162.
47
Vgl. W. Jaeschke, »Das Selbstbewusstsein des Bewusstseins«, in: Hegel als Schlüs-
seldenker der modernen Welt, hrsg. von Thomas Sören Hoffmann, Hamburg 2009,
S. 15–30.
153
Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
154
Die Bedeutung des »Selbstbewusstseins« im Idealismus
52
Vgl. B. Bowman, »Kraft und Verstand. Hegels Übergang zum Selbstbewusstsein in
der Phänomenologie des Geistes«, in: Hegels Phänomenologie des Geistes, hrsg. von
Klaus Vieweg und Wolfgang Welsch, Frankfurt am Main 2008, S. 153–168.
155
Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
Die Möglichkeit des Menschen, Ich zu sagen, die in die Welt des Geis-
tes führt, ist nur durch eine intersubjektive Beziehung möglich.
Am Anfang konfrontieren sich die Individuen als Bewusstseins-
formen in der Zeit des Lebens wie unmittelbare Existenzen. Das
Selbstbewusstsein jedoch, als eigentliche menschliche Welt, kann
nur die Unmittelbarkeit des natürlichen Lebens aufgreifen: Die
Beziehung zum Tod ist hier notwendig, um die menschliche Subjek-
tivität von den Fesseln der gegebenen Existenz zu befreien. Das
Selbstbewusstsein kann sich als absolut unabhängig von jedem un-
mittelbaren Wesen geben, wenn es sich als fähig erweist, das Leben
zu verneinen. Es negiert das Leben in sich selbst, auch wenn es so das
eigene Leben riskiert. Es negiert außerdem das Leben in sich selbst
und negiert es im Anderen und zielt auf dessen Tod. Die Beziehung
zwischen den beiden Selbstbewusstseinen, die beide entschieden da-
nach streben, als unkonditionierte Freiheit anerkannt zu werden,
stellt sich als ein Kampf für das Leben und für den Tod dar. Ein jedes
möchte erkannt werden, möchte aber nicht im Anderen erkennen,
um sich nicht abhängig zu zeigen. Falls der Kampf mit dem Tod eines
der Selbstbewusstseine endet, kann man davon ausgehen, dass das
Wiedererkennen fehlt. Die Tötung des Gegners ist eine natürliche
und unmittelbare Negation des Lebens und zerstört die dialektische
Beziehung. Man kann nicht von einem Toten erkannt werden.
Damit eine dialektische, spirituelle Negation stattfinden kann,
darf das Andere nicht als selbständiges Selbstbewusstsein vorhanden
sein, sondern muss ein lebendiges Wesen mit einem abhängigen Be-
wusstsein sein. Derjenige, den als ersten die Angst überwältigt, zieht
sich vom Kampf zurück und zeigt damit eine größere Verbundenheit
zur Natur als der Mensch zur Freiheit. Er entzieht sich dem Kampf
als untergebenes Selbstbewusstsein. Nur indem man sein Leben aufs
Spiel setzt, bleibt man frei. Das Selbstbewusstsein wird nicht als
wesenseigene Essenz in der Zeit des Lebens betrachtet. Das Andere,
das das Leben herausgefordert hat, hat sich über die tierische Knecht-
schaft des Lebens erhoben: Es ist das herrschaftliche Selbstbewusst-
sein. Die komplexe Herr-Knecht-Dialektik, die in einem Umsturz
der Ausgangspositionen mündet, ist nicht im realistischen Sinne zu
verstehen und auch nicht einer bestimmten historischen Phase zu-
geordnet. Es handelt sich um ein begriffliches Moment, das in abs-
trakter Art und Weise von der phänomenologischen Erfahrung iso-
liert ist.
Eher als ein Stadium der menschlichen Geschichte repräsentiert
156
Die Bedeutung des »Selbstbewusstseins« im Idealismus
157
Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
seins in der von ihm gegebenen, dauerhaften Form des Produkts ob-
jektiviert. Die Befreiung vom unmittelbaren Sein, die der Herr durch
die abstrakte Auseinandersetzung mit dem Tod erreicht, wird beim
Knecht zu dem konkreten und langwierigen Prozess, sich von der
Abhängigkeit von der Natur zu emanzipieren.
Die Kultur als Befreiung von der Äußerlichkeit der Welt ist eine
Errungenschaft, die nicht vom arbeitenden Knecht wahrgenommen
wird; sie wird vielmehr von einer neuen Art von Selbstbewusstsein
vertreten, das in der Geschichte im Stoizismus zum Ausdruck
kommt. So wie durch die Arbeit den Dingen die Form des Subjekts
gegeben und das Andersartige entfernt wird, so bestimmt der Gedan-
ke die allgemeine Form des Ichs von jedem gedachten Objekt. Der
weise Stoiker ist fähig, sich unter jeglichen äußerlichen Bedingungen
wiederzufinden: Das Selbstbewusstsein befreit von Sklavenketten, so
wie es vom Handeln und Leiden befreit, und es zieht sich immer in
die einfache Essenz des Gedankens zurück. Es handelt sich um eine
abstrakte und leere Freiheit, die über den zufälligen Unterschieden
des Lebens steht, sie ignoriert, aber auch bestehen lässt.
Die nachfolgende Figur des Skeptizismus greift direkt das be-
stimmte Sein an, von dem der Stoiker sich einfach nur zurückzog.
Die zerstörende Kritik des Skeptikers entzieht dem Gedanken jede
negative Kraft und löst so das naive Vertrauen in die Objektivität
der Welt auf. Diese Figur ist nichts anderes als die bewusste Erfah-
rung der dialektischen Bewegung des Gedankens, die die Nichtigkeit
einer jeden vollständigen Endlichkeit des Inhalts und die Armut jeder
bestimmten Realität aufzeigt. Das Selbstbewusstsein als »unbegrenz-
te« Subjektivität 54 impliziert absolute Freiheit und Selbstsicherheit.
Dieser Aspekt ist gegen das skeptische Bewusstsein gerichtet, das
zufällig, aber besonders ist. Daraus resultiert ein destabilisiertes
Selbstbewusstsein, das zwischen den Extremen der Selbstsicherheit
einerseits und der Mobilität des Ichs andererseits, das sich von den
Unterschieden und der Mannigfaltigkeit beeinflussen lässt, schwankt.
Die innere Spaltung des skeptischen Bewusstseins kommt im
unglücklichen Bewusstsein zum Ausdruck. These und Antithese zei-
gen sich an den gegensätzlichen Figuren des Knechts und des Herrn
158
Die Bedeutung des »Selbstbewusstseins« im Idealismus
und kommen nun durch die innere Krise des Bewusstseins zum Aus-
druck. Das Bewusstsein lebt das Drama des Subjekts, das seine Au-
thentizität verloren hat, da es bis zu den Grenzen der reinen Sub-
jektivität vorgedrungen ist.
Am Anfang, der vom Geist des Judentums bestimmt ist, pro-
jiziert das Bewusstsein die eigene, allgemeine Charakteristik außer-
halb seiner selbst und identifiziert sich mit der zufälligen und wan-
delbaren Seite. Es entwürdigt sich vor einem transzendenten und
unnahbaren Gott als nichtige Existenz. Als das Allgemeine sich in
Christus, dem Symbol der Einzigartigkeit, äußert, gibt es eine Hoff-
nung auf Versöhnung. Die christliche Religion jedoch sucht ver-
gebens die Ewigkeit, ein unbegrenztes Jenseits, das nicht erkennbar
und nicht erreichbar ist und das verschwindet, sobald man es ergrei-
fen möchte. Die mittelalterliche asketische Lebensweise mit ihrer
Verneinung der Welt und ihrer Ablehnung des Fleisches beinhaltet
und veranschaulicht den Versuch des Bewusstseins, sich von der
Nichtigkeit der eigenen Individualität zu befreien und das Ich, das
das Einswerden mit dem Unendlichen verhindert, zu vernichten.
Hegel leitet aus dem Sinn und der Bedeutung des Selbstbewusst-
seins den Begriff des Bewusstseins ab, der mit den Figuren des Kamp-
fes um Leben und Tod, Stoizismus, Skeptizismus, unglücklichem Be-
wusstsein und mit der Herr-Knecht-Beziehung verbunden ist. »Der
sich selbst wissende Geist ist in der Religion unmittelbar sein eigenes
reines Selbstbewusstsein.« 55
Diese Überlegungen machen deutlich, inwiefern im Hegel’schen
transzendentalen Idealismus dem Begriff Selbstbewusstsein eine
ganz andere Bedeutung zugewiesen wird als in Kants Kritizismus.
Kant stellt in einer Anmerkung der Anthropologie in pragmatischer
Hinsicht seine Definition der Begriffe »Bewusstsein« und »Selbst-
bewusstsein« vor und unterstreicht den semantischen Unterschied
zwischen Reflexion, Rezeptivität, Wahrnehmung und empirischer
und reiner Apperzeption: »Wenn wir uns die innere Handlung (Spon-
taneität), wodurch ein Begriff (ein Gedanke) möglich wird, die Refle-
xion, die Empfänglichkeit (Rezeptivität), wodurch eine Wahrneh-
mung (perceptio), d. i. empirische Anschauung möglich wird, die
Apprehension, beide Akte aber mit Bewusstsein vorstellen, so kann
das Bewusstsein seiner selbst (apperceptio) in das der Reflexion und
S. 896.
159
Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
das der Apprehension eingeteilt werden. Das erstere ist ein Bewusst-
sein des Verstandes, das zweite der innere Sinn; jenes die reine, dieses
die empirische Apperzeption, da dann jene fälschlich der innere Sinn
genannt wird. In der Psychologie erforschen wir uns selbst nach un-
seren Vorstellungen des inneren Sinnes; in der Logik aber nach dem,
was das intellektuelle Bewusstsein an die Hand gibt. Hier scheint uns
nun das Ich doppelt zu sein (welches widersprechend wäre): a) das Ich,
als Subjekt des Denkens in der Logik, welches die reine Apperzeption
bedeutet (das bloß reflektierende Ich), und von welchem gar nichts
weiter zu sagen, sondern das eine ganz einfache Vorstellung ist.
b) Das Ich, als Objekt der Wahrnehmung, mithin des inneren Sinnes,
was eine Mannigfaltigkeit von Bestimmungen enthält, die eine inne-
re Erfahrung moglich machen.« 56
Das Selbstbewusstsein ist also nicht das (empirische) Bewusst-
sein (von sich). Es ist das rein logische Bewusstsein, das das Ich von
sich als Subjekt des Gedankens in der philosophischen Reflexion hat.
In der reinen transzendentalen Apperzeption hat man das Bewusst-
sein von einem reinen Ich, das Kant in der ersten Auflage der Kritik
der reinen Vernunft als stabiles und fortdauerndes Ich, das das Korre-
lat von all unseren Vorstellungen ist, beschreibt, während in der
zweiten Auflage dieses Ich eine rein formale Funktion erhält, ohne
eigene Realität, jedoch eine Bedingung jeder Erfahrung, ja sogar das
höchste Prinzip der Erkenntnis darstellt, weil es eine Bedingung der
Möglichkeit der objektiven Synthese ist, in der die Erfahrung besteht.
Aufgrund seiner funktionalen oder formalen Natur ist das reine Ich
oder das transzendentale Selbstbewusstsein kein unbegrenztes Ich.
Fichte macht aus Kants funktionalem Konzept ein substantielles
Konzept: Das Ich wird zum unbegrenzten Ich. Es ist absolut und krea-
tiv und sieht das Selbstbewusstsein als Selbsterschaffung. Das Selbst-
bewusstsein ist demnach nicht nur das Prinzip der Erkenntnis, son-
dern auch das Prinzip der Realität; das Prinzip ist nicht als Kondition
zu verstehen, sondern es drückt eine Kraft oder eine produktive Tä-
tigkeit aus. Sich selbst reproduzierend, produziert das Ich gleichzeitig
das »Nicht-Ich«: die Welt, das Objekt, die Natur. Fichte sagt, dass man
an nichts denken kann, ohne gleichzeitig an sein Ich 57 zu denken. Es
ist nicht möglich, den Begriff des Selbstbewusstseins zu abstrahieren.
Dieses Konzept des Selbstbewusstseins ist in Wirklichkeit das kreati-
160
Das »unglückliche Bewusstsein« in der Phänomenologie des Geistes
ve Prinzip der Welt und laut Fichte ist das Ich eines jeden die einzige,
höchste Substanz. Außerdem kritisiert er Spinoza, indem er sagt, dass
die Essenz der kritischen Philosophie auf der Tatsache beruhe, dass
das absolute Ich unbedingt 58 und unbestimmbar ist. Dieser Begriff
des Selbstbewusstseins 59 spielt eine wichtige Rolle im ästhetischen
Idealismus Schellings. Schelling zufolge ist das Selbstbewusstsein
eine absolute Tätigkeit, und durch diese wird nicht nur das Ich in sich
selbst bestimmt, sondern alles ist auch vom Ich bestimmt. Die Tätig-
keit ist gleichzeitig ideell und reell. Durch diesen Akt wird »das Ide-
elle reell und das Reelle ideell«. 60
58 Ebd., § 3, 6.
59 Vgl. G. Römpp, Ethik des Selbstbewusstseins. Der Andere in der idealistischen
Grundlegung der Philosophie: Kant, Fichte, Schelling, Hegel, Berlin: Duncker &
Humblot 1999.
60
Vgl. F. W. Schelling, System des transzendentalen Idealismus, III, Vorwort.
161
Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
61
Vgl. G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, I, IV, B.
162
Die Phänomenologie des Geistes
163
Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
65
Ebd., S. 167 und S. 93.
164
Die Phänomenologie des Geistes
66 Ebd., S. 31.
67 Ebd., S. 167.
68 Ebd., S. 52.
Philosophie, hrsg. von Otto Pöggeler, Freiburg/München: Alber 1977, S. 59–74 und
R. K. Westphal, »Hegels Phenomenological Method«, in: The Blackwell Guide to
Hegel’s Phenomenology of Spirit, hrsg. von Kenneth R. Westphal, Chichester 2009,
S. 15–24.
165
Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
73
Ebd., S. 76.
74 Vgl. L. Siep, Der Weg der Phänomenologie des Geistes, Frankfurt am Main: Suhr-
kamp 2000.
166
Die Phänomenologie des Geistes
oder jener bloßen Erscheinung des Wissens, wie sie sich auf der Stufe
des unmittelbaren Geistes oder des geistlos-sinnlichen Bewusstseins
findet.
Die Phänomenologie des Geistes ist die phänomenologische Be-
schreibung des langen Weges, durch den sich der unmittelbare Geist
als sinnliche Gewissheit 75 in einem mühsamen Bildungsprozess hin-
durchzuarbeiten hat, bis hin zu dem Stadium, in dem das eigentliche,
nicht mehr bloß scheinhafte Wissen erscheint oder auftritt. Weil He-
gel dieses wahre Wissen als absolutes Wissen 76 versteht, handelt es
sich bei dieser Phänomenologie um die Epiphanie des Wissens des
Absoluten; erst hier hat ihm zufolge das Wissen das Element der
Wissenschaft, erreicht, was ihr reiner Begriff ist. »Die Wissenschaft
stellt diese bildende Bewegung sowohl in ihrer Ausführlichkeit und
Notwendigkeit, als das, was schon zum Momente und Eigentum des
Geistes herabgesunken ist, in seiner Gestaltung dar. Das Ziel ist die
Einsicht des Geistes in das, was das Wissen ist.« 77
Die Phänomenologie ist die Beschreibung des Werdens der Wis-
senschaft im Allgemeinen, also des Wissens des Geistes. »Dies Wer-
den der Wissenschaft überhaupt, oder des Wissens, ist es, was diese
Phänomenologie des Geistes darstellt. Das Wissen, wie es zuerst ist,
oder der umittelbare Geist ist das Geistlose, das sinnliche Bewußtsein.
Um zum eigentlichen Wissen zu werden, oder das Element der Wis-
senschaft, das ihr reiner Begriff selbst ist, zu erzeugen, hat es durch
einen langen Weg hindurch zu arbeiten.« 78 Hiermit schließt die Phä-
nomenologie des Geistes. »Was er in ihr sich bereitet, ist das Element
des Wissens. In diesem breiten sich nun die Momente des Geistes in
der Form der Einfachheit aus, die ihren Gegenstand als sich selbst
weiß. Sie fallen nicht mehr in den Gegensatz des Seins und Wissens
auseinander, sondern bleiben in der Einfachheit des Wissens, sind das
Wahre in der Form des Wahren, und ihre Verschiedenheit ist nur
Verschiedenheit des Inhalts. Ihre Bewegung, die sich in diesem Ele-
mente zum Ganzen organisiert, ist die Logik oder spekulative Phi-
losophie.« 79
Vor diesem Hintergrund ist die Phänomenologie 80 die Darstel-
167
Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
thode der Phänomenologie des Geistes«, in: Hegels Einleitung in die Phänomenologie
des Geistes, hrsg. von Jindrich Karásek, Jan Kuneš und Ivan Landa, Würzburg 2006,
S. 21–34.
81 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 153.
82
Ebd., S. 152.
168
Logik, Naturphilosophie und Philosophie des Geistes
169
Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
S. 62–63.
85 Ebd., S. 63.
86
G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, S. 44.
170
Logik, Naturphilosophie und Philosophie des Geistes
S. 67.
88 Ebd., S. 68.
89
Ebd., S. 63.
171
Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
90
Ebd., S. 14.
91 Ebd., S. 19.
92
Ebd., S. 16.
172
Logik, Naturphilosophie und Philosophie des Geistes
andersartigen Rolle, die sie der Erfahrung zuweist. Die Bedeutung der
Erfahrung für die Entstehung der Philosophie der Natur wird von
Hegel besonders betont. Dass die Erfahrung als Grundlage der Phi-
losophie fungiere, wird hingegen verneint. Die Grundlage von allem
wissenschaftlichen Wissen ist die Notwendigkeit des Begriffs. 93 Nicht
die Begriffsbestimmung des Objekts muss der empirischen Erschei-
nung entsprechen, sondern das Phänomen muss die Begriffsbestim-
mung aufzeigen.
Was ist laut Hegel die Natur? In der Einleitung der Enzyklopädie
(unter dem Titel »Betrachtungsweisen der Natur«) definiert Hegel
das Konzept Natur so: »Die Natur ist als ein System von Stufen zu
betrachten, deren eine aus der andern notwendig hervorgeht und die
nächste Wahrheit derjenigen ist, aus welcher sie resultiert, aber nicht
so daß die eine aus der andern natürlich erzeugt würde, sondern in
der innern den Grund der Natur ausmachenden Idee. Die Metamor-
phose kommt nur dem Begriffe als solchem zu, da dessen Verände-
rung allein Entwicklung ist. Der Begriff aber ist in der Natur teils nur
inneres, teils existierend nur als lebendiges Individuum; auf dieses
allein ist daher existierende Metamorphose beschränkt.« 94
Die Natur, die in ihrem Wesen heilig ist, ist lebendiges, unmit-
telbares Werden des Geistes: »Dieses sein letzteres Werden, die
Natur, ist sein lebendiges, unmittelbares Werden; sie, der entäußerte
Geist, ist in ihrem Dasein nichts, als diese ewige Entäußerung ihres
Bestehens und die Bewegung, die das Subjekt herstellt.« 95
Hegel bemerkt: »[D]ie Idee, welche für sich ist, nach dieser ihrer
Einheit mit sich betrachtet, ist sie Anschauen; und die anschauende
Idee Natur. Als Anschauen aber ist die Idee in einseitiger Bestim-
mung der Unmittelbarkeit oder Negation durch äußerliche Reflexion
gesetzt. Die absolute Freiheit der Idee aber ist, daß sie nicht bloß ins
Leben übergeht, noch als endliches Erkennen dasselbe in sich schei-
93 Vgl. C. Spahn, Lebendiger Begriff – begriffenes Leben. Zur Grundlegung der Phi-
losophie des Organischen bei G. W. F. Hegel, Würzburg 2007.
94
G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse,
S. 31.
95
G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 590.
173
Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
nen läßt, sondern in der absoluten Wahrheit ihrer selbst sich ent-
schließt, das Moment ihrer Besonderheit oder des ersten Bestimmens
und Andersseins, die unmittelbare Idee als ihren Widerschein, sich
als Natur frei aus sich zu entlassen.« 96
Die negative Natur der Natur – ihre sich gegen die Idee ver-
schließende Andersheit – bedingt auch ihre innere Struktur: »Die
Natur hat sich als die Idee in der Form des Andersseins ergeben. Da
die Idee so als das Negative ihrer selbst oder sich äußerlich ist, so ist
die Natur nicht äußerlich nur relativ gegen diese Idee (und gegen die
subjektive Existenz derselben, den Geist), sondern die Äußerlichkeit
macht die Bestimmung aus, in welcher sie als Natur ist.« 97 Die Na-
tur 98 ist also nicht äußerlich in ihrem Verhältnis zu Idee und Geist,
sondern sie ist in sich selbst äußerlich. Sie besitzt kein synthetisches
Prinzip, das ihr eine innere Einheit gibt.
»Die Idee als Natur ist: a) in der Bestimmung des Außereinan-
der, der unendlichen Vereinzelung, außerhalb welcher die Einheit der
Form, diese daher als eine ideelle nur an sich seiende, und daher nur
gesuchte ist, die Materie und deren ideelles System – Mechanik; b) in
der Bestimmung der Besonderheit, so daß die Realität mit immanen-
ter Formbestimmtheit und an ihr existierender Differenz gesetzt ist –
ein Reflexionsverhältnis, dessen Insichsein die natürliche Individua-
lität ist, – Physik; c) in der Bestimmung der Subjektivität, in welcher
die realen Unterschiede der Form ebenso zur ideellen Einheit, die sich
selbst gefunden und für sich ist, zurückgebracht sind, – Organik.« 99
»Der Widerspruch der Idee, indem sie als Natur sich selbst äu-
ßerlich ist« 100 – das ist der Ausgangspunkt der Hegel’schen Natur-
philosophie. In ihrer inneren Struktur und in ihrer organischen und
dynamischen Ganzheit ist »die Natur an sich ein lebendiges Ganzes;
die Bewegung durch ihren Stufengang ist näher dies, daß die Idee sich
als das setze, was sie an sich ist; oder was dasselbe ist, daß sie aus ihrer
Unmittelbarkeit und Äußerlichkeit, welche der Tod ist, in sich gehe
um zunächst als Lebendiges zu sein, aber ferner auch diese Bestimmt-
S. 393.
97 Ebd., S. 24.
98 Vgl. A. Schlemm, Wie wirklich sind Naturgesetze? Auf Grundlage einer an Hegel
174
Hegels Definition des »Geistes«
heit, in welcher sie nur Leben ist, aufhebe, und sich zur Existenz des
Geistes hervorbringe, der die Wahrheit und der Endzweck der Natur
und die wahre Wirklichkeit der Idee ist.« 101
vgl. M. F. Bykova, »Der Begriff des Geistes in Hegels Phänomenologie des Geistes«,
in: Phänomen und Analyse. Grundbegriffe der Philosophie des 20. Jahrhunderts in
Erinnerung an Hegels Phänomenologie des Geistes (1807), hrsg. von Wolfram Ho-
grebe, Würzburg 2008, S. 32–42.
104 G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse,
S. 17.
175
Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
Die Natur ist die Offenbarung des Geistes, und der Geist ist
Gott, der die Welt aus Freiheit geschaffen hat: »Das Absolute ist der
Geist; dies ist die höchste Definition des Absoluten. Diese Definition
zu finden und ihren Sinn und Inhalt zu begreifen, dies kann man
sagen, war die absolute Tendenz aller Bildung und Philosophie, auf
diesen Punkt hat sich alle Religion und Wissenschaft gedrängt; aus
diesem Drang allein ist die Weltgeschichte zu begreifen. Das Wort
und die Vorstellung des Geistes ist früh gefunden, und der Inhalt der
christlichen Religion ist, Gott als Geist zu erkennen zu geben. Dies,
was hier der Vorstellung gegeben, und was an sich das Wesen ist, in
seinem eigenen Elemente, dem Begriffe, zu fassen, ist Aufgabe der
Philosophie, welche so lange nicht wahrhaft und immanent gelöst ist,
als der Begriff und die Freiheit nicht ihr Gegenstand und ihre Seele
ist.« 105 Die Bestimmtheit des Geistes ist daher die Manifestation. Er
ist »nicht irgend eine Bestimmtheit oder Inhalt, dessen Äußerung
und Äußerlichkeit nur davon unterschiedene Form wäre, so daß er
nicht Etwas offenbart, sondern seine Bestimmtheit und Inhalt ist die-
ses Offenbaren selbst. Seine Möglichkeit ist daher unmittelbar un-
endliche, absolute Wirklichkeit.« 106
Vor diesem Horizont sind die Begriffe »Möglichkeit« und »ab-
solute Wirklichkeit« mit den Begriffen »Offenbaren« und »Werden
der Natur« verbunden. »Das Offenbaren, welches als die abstrakte
Idee unmittelbarer Übergang, Werden der Natur ist, ist als Offen-
baren des Geistes, der frei ist, Setzen der Natur als seiner Welt; ein
Setzen, das als Reflexion zugleich Voraussetzen der Welt als selbstän-
dige Natur ist. Das Offenbaren im Begriff ist Erschaffen derselben als
seines Seins, in welchem er die Affirmation und Wahrheit seiner
Freiheit sich gibt.« 107
Der wesentliche Zweck einer Philosophie des Geistes kann des-
halb »nur der sein, den Begriff in die Erkenntnis des Geistes wieder
einzuführen«. 108 Die Bestimmungen und Stufen des Geistes sind we-
sentlich »nur als Momente, Zustände, Bestimmungen an den höhern
Entwicklungsstufen. Es geschieht dadurch, daß an einer niedrigern,
abstraktern Bestimmung das Höhere sich schon empirisch vorhanden
zeigt, wie z. B. in der Empfindung alles höhere Geistige als Inhalt oder
176
Verstand und Vernunft: die Grenzen des Verstandes
deutung bei den Philosophen: 1. die allgemeine Bedeutung der Fähigkeit zu denken
und 2. die bestimmte Bedeutung einer besonderen, kognitiven Tätigkeit. Diese zweite
Bedeutung ist in dreierlei Art und Weise verstanden worden: a) als intuitiver Intellekt
b) als handelnder Intellekt; c) als verstehender Intellekt oder Intelligenz. Diese all-
gemeine Bedeutung hat sich in der philosophischen Tradition bis zur Romantik erhal-
ten. Thomas von Aquin drückt sie durch die Gegenüberstellung des Intellekts und der
Sinne aus. Der Begriff Intellekt impliziert eine gewisse innere Erkenntnis; »intellige-
re« ist ein inneres Lesen (»intus legere«). Dies wird evident, wenn man den Unter-
schied zwischen dem Intellekt und den Sinnen betrachtet: Das Feld der sinnlichen
Erkenntnis ist die äußere, sinnlich wahrnehmbare Qualität, und »die intellektuelle
Erkenntnis dringt bis zur Essenz der Dinge vor« (Summa theologiae, II, S. 2). Zur
gleichen allgemeinen Bedeutung gelangt man, wenn man, wie Locke, den Begriff
177
Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
hat der Verstand? Was ist Vernunft? Laut Hegel sieht der Verstand
das Endliche (oder alle Einheiten, die uns umgeben und die wir ken-
nen, weil wir Menschen sind) als Begriffe, die antithetisch zueinander
stehen. Die Vernunft hingegen versteht, dass kein endlicher Begriff
selbstgenügsam in sich ist und dass jeder mittels der anderen in der
Totalität der Dialektik der Gegensätze verstanden werden will.
In der Einleitung zur Geschichte der Philosophie bemerkt Hegel,
dass die Meinung, die Philosophie befasse sich nur mit Abstraktio-
nen, während die Anschauung unseres empirischen Selbstbewusst-
seins das Gefühl 112 unserer selbst und der Sinn des Lebens das Kon-
krete an sich seien, ein verbreitetes Vorurteil ist. In der Tat lebt die
Philosophie im Bereich des Gedankens. Sie hat es also mit der Uni-
versalität zu tun. Ihr Inhalt ist aber nur aufgrund ihrer Form abstrakt,
während die Idee an sich wesentlich und konkret ist, weil sie die Ein-
heit der unterschiedlichen Bestimmungen ist. Insofern differiert die
vernünftige Erkenntnis von der reinen Erkenntnis des Verstandes. Es
ist die Aufgabe der Philosophie, gegenüber dem Verstand zu klären,
dass die Wahrheit und die Idee nicht aus leeren Abstraktionen beste-
hen, »sondern aus der allgemeinen Erkenntnis, die mit der besonde-
ren Erkenntnis verschmilzt«. 113
Diejenigen Philosophien, die dem Bereich der Kriterien des Ver-
standes verschlossen bleiben und die Gegenüberstellung von End-
lichem und Unendlichem 114 beibehalten, machen diese zerrissene Si-
tuation deutlich, welche sowohl auf der subjektiven als auch auf der
dem Willen gegenüberstellt. Das Vermögen zu denken heißt Intellekt, und die Fähig-
keit zu wollen heißt Wille: »[S]ie sind zwei Fähigkeiten der Seele, die Fähigkeit ge-
nannt wird« (Essay Concerning Human Understanding, II, 6, 2). Leibniz verstand
unter Intellekt »die Perzeption, die mit der Fähigkeit der Reflexion verbunden ist«.
(Nouveaux Essais sur l’entendement humain, II, 21, 5). Diese Bedeutung wird von
Wolff wieder aufgenommen (Psychologia empirica, § 275). Die Definition des »Intel-
lekts« als »Fähigkeit zu denken« ist im 18. Jahrhundert verbreitet und Kant wieder-
holt sie häufig. Bei Kant ist der Intellekt die Fähigkeit, »das Objekt der empirischen
Anschauung zu denken« (KrV, Einleitung, I) oder »die Kraft im Allgemeinen zu er-
kennen« (Anthropologie, I, § 6, 40).
112 Vgl. F. Schick, »Die Rolle des Gefühls in der Genese des Bewußtseins. Überlegun-
gen zu Hegel und Fichte«, in: Materiale Disziplinen der Wissenschaftslehre. Zur
Theorie der Gefühle, hrsg. von Wolfgang H. Schrader, Fichte-Studien, Bd. 11, Ams-
terdam/Atlanta 1997, S. 331–349.
113 Vgl. G. W. F. Hegel, Einführung in die Geschichte der Philosophie, S. 60.
114
Zur semantischen Korrelation zwischen Endlichem und Unendlichem vgl. R. Bub-
ner, »Das Endliche und das Unendliche und der Übergang«, in: Kant und der Früh-
idealismus, hrsg. von Jürgen Stolzenberg. Hamburg 2007, S. 45–58.
178
Verstand und Vernunft: die Grenzen des Verstandes
115 Vgl. J. D. Hodt, Hegel segreto. Ricerche sulle fonti nascoste del pensiero hegeliano,
118
Vgl. J. G. Fichte, Wissenschaftslehre, 1794, II, S. 184.
179
Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
für den Verstand selbständig und existent. Der Verstand ist insofern
durch Unbeweglichkeit und durch einfache, fixierende Bestimmun-
gen charakterisiert. 119 Diese Unbeweglichkeit ist falsch; das zeigt sich
etwa daran, wie der Verstand die Beziehung zwischen Unendlichem
und Endlichem versteht und dadurch dem schlechten Unendlichen 120
Raum gibt. Das Fixieren, das Immobilisieren, das Festhalten und das
absolute Bestimmen der endlichen Begriffe werden zu den wichtigs-
ten Tätigkeiten des Verstandes. Diesen Tätigkeiten steht die Aktivität
der Vernunft gegenüber, die der dialektischen Tätigkeit entsprechend
die in sich geschlossene Individualität der Verstandesbestimmungen
aufhebt und überwindet. Diese eigentliche Funktion des Verstandes,
die allgemeinen Prinzipien des Denkens anzuschauen, wurde schon
von Thomas von Aquin und in der scholastischen Philosophie neben
der allgemeinen Funktion des Intellekts erkannt. 121
Kant unterschied vom allgemeinen Intellekt den Verstand als ein
Erkenntnisvermögen, das neben dem Urteil und der Vernunft steht.
Der Begriff Verstand, sagt Kant, wird auch in einem besonderen Sinn
verstanden, wenn er als Teil einer Trennung dem Intellekt im all-
gemeinen Sinn, also »als höhere Möglichkeit, die aus Intellekt, Ur-
teilskraft und Vernunft besteht, untergeordnet wird«. 122 In diesem
Sinne ist der Verstand das Vermögen, zu urteilen; dieses Urteil ist
ein bestimmendes, also ein Urteil, dessen Gesetzmäßigkeiten das na-
türliche Objekt im Allgemeinen (und insbesondere seine Form) be-
gründen. Diese Gesetze sind vom Verstand a priori vorgeschrieben,
also als Prinzipien seiner Arbeitsweise gegeben. 123 In diesem Sinne,
als Urteilsvermögen, ist der Intellekt nicht intuitiv, steht also nicht in
direkter Beziehung zum Objekt. Er steht vielmehr in einem mittel-
baren Verhältnis zum Objekt, weil es sich um das Urteil einer Dar-
stellung handelt und somit, nach Kant, um die Darstellung einer Dar-
stellung. Aber er ist auch intuitiv im Sinne des intuitiven Verstandes
bei Aristoteles. Er steht in unmittelbarer Beziehung zu den Gesetzen
oder den grundlegenden Prinzipien, die die Basis der Wissenschaft
und der Struktur ihrer Objekte sind. Der Unterschied zwischen der
aristotelischen und der kantischen Auffassung lässt sich folgender-
180
Vernunft, Realität und Wirklichkeit
maßen erläutern: Nach Aristoteles hat der Verstand die Aufgabe, die
ursprünglichen Prinzipien, die von der demonstrativen, darstellenden
Wissenschaft benutzt werden, zu formulieren und zu erklären; nach
Kant nutzt der Verstand die Prinzipien, die ihn konstituieren und die
er nicht auszuformulieren braucht, indem er seine Aufgabe, zu urtei-
len, erfüllt. Diese beiden Alternativen sind in der Geschichte die ein-
zigen, die den Intellekt als spezifische, intuitive Möglichkeit interpre-
tieren.
»Das was ist zu begreifen, ist die Aufgabe der Philosophie, denn das,
was ist, ist die Vernunft.« 124 Indem er diese Definition als Grundlage
nimmt, erklärt Hegel die Gleichartigkeit von Vernunft und Wirklich-
keit. Was ist Vernunft? Welches ist die Bedeutung und was ist die
Funktion des Begriffs »Vernunft« bei Hegel? Wie ist die Beziehung
zwischen Vernunft, Realität und Wirklichkeit?
Im Vorwort zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts
greift Hegel diese Thematik auf und schreibt: »Was vernünftig ist,
das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig. In dieser
Überzeugung steht jedes unbefangene Bewußtsein, wie die Philoso-
phie, und hiervon geht diese ebenso in Betrachtung des geistigen Uni-
versums aus als des natürlichen.« 125
Der erste Teil der Aussage Hegels »was vernünftig ist, das ist
wirklich« meint, dass das Vernünftige Wirklichkeit wird und sich in
konkreten Formen zeigt. Ein vernünftiges Ideal wird früher oder spä-
ter Wirklichkeit. Und wenn es nicht wirklich wird, heißt das, dass es
nicht vernünftig ist. Hegel ist der Auffassung, dass die politischen
Ideale und Manifeste deshalb nie verwirklicht worden sind, weil sie
nicht vernünftig und somit wertlos sind; sie sind vergängliche Phan-
tasien ohne Sinn und Bedeutung. Um zu wissen, ob eine Ideologie
richtig und vernünftig ist, muss man sie in der Geschichte verwirk-
licht sehen.
Der zweite Teil der Aussage »was wirklich ist, das ist vernünftig«
weist darauf hin, dass in allem Wirklichen (in der Natur und in der
Geschichte) eine innere Rationalität bzw. Vernunft liegt. Die Wirk-
181
Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
lichkeit, bzw. die Gesamtheit der natürlichen Phänomene und der his-
torischen Ereignisse, ist keine chaotische Materie, die vom Zufall be-
stimmt wird. Sie durchläuft eine logische Entwicklung und ist die
Manifestation einer vernünftigen Struktur (Idee oder Vernunft), die
der Natur unbewusst und dem Menschen bewusst ist. »Denn das Ver-
nünftige, was synonym ist mit der Idee, indem es in seiner Wirklich-
keit zugleich in die äußere Existenz tritt, tritt in einem unendlichen
Reichtum von Formen, Erscheinungen und Gestaltungen hervor, und
umzieht seinen Kern mit der bunten Rinde, in welcher das Bewußt-
sein zunächst haust, welche der Begriff erst durchdringt, um den in-
neren Puls zu finden und ihn ebenso in den äußeren Gestaltungen
noch schlagend zu fühlen.« 126
Die Vernunft ist wirklich, weil sie sich in konkreten Formen in
der Wirklichkeit äußert; sie ist kein abstraktes oder ideales Konzept,
sondern in der konkreten Welt wiederzufinden, da alles, was sich rea-
lisiert, einen Grund dafür hat, sich zu realisieren. Alles, was existiert
(das Wirkliche), ist eine konkrete Manifestation der Vernunft; in der
Wirklichkeit gibt es nur Platz für den Gedanken, und jedes Ereignis
ist, vielleicht unbewusst, von einer gewissen rationalen Struktur be-
stimmt.
Das Vernünftige ist »das an und für sich Allgemeine«. 127 »Das an
und für sich seiende Allgemeine ist überhaupt das, was man das Ver-
nünftige nennt und was nur auf diese spekulative Weise gefaßt wer-
den kann.« 128 Die Vernünftigkeit besteht, abstrakt betrachtet, »über-
haupt in der sich durchdringenden Einheit der Allgemeinheit und der
Einzelheit, und hier konkret dem Inhalte nach in der Einheit der ob-
jektiven Freiheit, d. i., des allgemeinen substantiellen Willens, und
der subjektiven Freiheit, als des individuellen Wissens und seines be-
sondere Zwecke suchenden Willens, und deswegen der Form nach in
einem nach gedachten, d. h. allgemeinen Gesetzen und Grundsätzen
sich bestimmenden Handeln. Diese Idee ist das an und für sich ewige
und notwendige Sein des Geistes.« 129
Hegel stellt eine semantische Beziehung zwischen Vernünftig-
keit, Allgemeinheit und Einzelheit her, um die Übereinstimmung
von Vernunft und Wirklichkeit zu erklären und um den Begriff der
182
Vernunft, Realität und Wirklichkeit
183
Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
des überwindet. Sie ist positiv, weil sie das Allgemeine, in dem das
Einzelne enthalten ist, hervorbringt. 134 Dies bedeutet, dass sie die
Dinge oder die realen Bestimmungen enthält, die nichts anderes sind
als ihre besonderen Manifestationen. Die Negation der formalen Lo-
gik ist unter diesem Gesichtspunkt ein Ausdruck der Vernunft. Man
denke nur an Benedetto Croces Ablehnung der formalen Logik, die
auf jener Hegel’schen Identität von Vernunft und Wirklichkeit be-
ruht, die sich in der Form der Identität von Philosophie und Geschich-
te zeigt. Die Vielfältigkeit der Wirklichkeit, der Dinge und der Er-
fahrung scheint aufgrund der Trennung der Philosophie von der
empirischen Wissenschaft in ihrer Ganzheit nicht durch den reinen
Begriff der Philosophie bestimmt werden zu können. Diese Separa-
tion kann mittels der Synthese von Philosophie und Geschichte über-
wunden werden. 135
Im Idealismus Hegels beinhaltet die Übereinstimmung von
Wirklichkeit und Vernünftigkeit auch die Übereinstimmung von
Sein und Seinmüssen. 136 Das, was vernünftig ist, ist wirklich, und
was wirklich ist, ist vernünftig: Es ist gut, dass es ist. In diesem
Zusammenhang kritisiert Hegel die Haltung der Aufklärer zur Wirk-
lichkeit. Die Aufklärer machen aus dem Verstand den Richter der
Geschichte. Dabei vergessen sie jedoch, dass die Wirklichkeit immer
das ist, was sein muss. Die aufklärerische Kritik drückt nur individu-
elle Bedürfnisse und Bestrebungen aus; es sind die Träume der ewig
Unglücklichen, die die Welt verbessern möchten, ohne zu bemerken,
dass die Welt schon so ist, wie sie sein soll. Hegel möchte mit der
Feststellung, dass Wirkliches und Vernünftiges von gleicher Identität
ist, nicht sagen, dass alles, was passiert, bis ins kleinste Detail als ver-
nünftig (und deswegen notwendig und richtig) anzusehen ist. Wahr
ist, dass das Wirkliche rational ist, also notwendig; es ist aber nicht
wahr, dass alles, was in einem bestimmten Moment existiert, auch
wirklich ist. Hegel unterscheidet zwischen wirklich und existent.
Nur die tiefsten und allgemeinsten Aspekte der Existenz sind wirklich
und deswegen vernünftig. Einige besondere Äußerungen der Exis-
tenz hingegen sind in Wahrheit nicht wirklich. In der Politik z. B. sind
es nicht die Gefühle und die Leidenschaften der Individuen, die wirk-
184
Vernunft, Realität und Wirklichkeit
lich sind, sondern der Staat und seine Einrichtungen. Genauso ist es
in der Natur. Das einzelne Phänomen ist nicht wirklich, z. B. nicht das
Schillern des Regenbogens; wirklich sind jedoch die Gesetze der Phy-
sik, die diese Phänomene hervorrufen. Wirklich ist also für Hegel
nicht das Einzelne, das Individuum, sondern das Universale. Auch
wenn man die Existenz des Zufalls in der Natur und in der Geschichte
zulässt, sind für Hegel die Grundstrukturen des Universums und die
Grundlagen unserer Welt notwendig und rational.
Und wenn das Wirkliche rational ist, muss die Philosophie die
Wirklichkeit akzeptieren, ohne ihr alternative Ideale entgegenzuset-
zen (denn die Wirklichkeit ist schon, wie sie sein soll). Die Aufgabe
der Philosophie ist, nach Hegel, die historische Wirklichkeit wahr-
zunehmen und sie mittels der Vernunft zu erklären. Insbesondere
die Rechtsphilosophie sollte die Vernünftigkeit, also das Positive der
aktuellen Epoche und ihrer politischen Einrichtungen, etwa des Staa-
tes, aufzeigen. Nach Hegel hat die Philosophie ihre eigene, authenti-
sche Zeit, die im Gedanken verstanden wird. »Was das Individuum
betrifft, so ist ohnehin jedes ein Sohn seiner Zeit; so ist auch die Phi-
losophie, ihre Zeit in Gedanken erfaßt.« 137
Die Philosophie kommt nicht über ihr eigenes Zeitalter hinaus
und kann nicht in die Zukunft schauen; sie darf nicht Förderin des
Fortschritts sein und hat nicht die Aufgabe, neue Epochen zu dekla-
rieren. Sie versucht hingegen das Jetzt zu verstehen und durch Re-
flexion dessen innere Notwendigkeit zu beweisen. Sie hat nicht die
Aufgabe, die Gesellschaft zu verändern, zu bestimmen oder zu leiten;
sie soll die Gesellschaft erklären. Die Philosophie kann die Wirklich-
keit allerdings nur am Ende eines Realisierungsprozesses erklären.
Eine historische Zeitspanne kann nur am Ende ihrer Entwicklung ver-
standen werden, wenn sie sich in ihrer Ganzheit gezeigt hat.
»Doch es ist Zeit, dieses Vorwort zu schließen; als Vorwort kam
ihm ohnehin nur zu, äußerlich und subjektiv von dem Standpunkt
der Schrift, der es vorangestellt ist, zu sprechen. Soll philosophisch
von einem Inhalte gesprochen werden, so verträgt er nur eine wissen-
schaftliche, objektive Behandlung, wie denn auch dem Verfasser Wi-
derrede anderer Art als eine wissenschaftliche Abhandlung der Sache
selbst, nur für ein subjektives Nachwort und beliebige Versicherung
gelten und ihm gleichgültig sein muß.« 138 Hegel vergleicht die Phi-
185
Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
losophie mit der heiligen Eule Minervas, die erst nach Sonnenunter-
gang in der Dämmerung zu fliegen beginnt. Mit dieser Metapher
möchte Hegel sagen, dass die Philosophie aufkommt, nachdem eine
Zivilisation ihren Entwicklungsprozess durchlaufen hat und ihr Un-
tergang beginnt. So kam beim Untergang der ionischen Staaten in
Kleinasien die ionische Philosophie auf. Der Niedergang Athens
brachte die Philosophie des Platon und des Aristoteles hervor. In
Rom verbreitete sich die Philosophie beim Untergang der Republik
und mit der Diktatur der Kaiser.
Vor dem Hintergrund dieser Gedanken über die philosophisch-
semantische Beziehung zwischen Vernunft, Realität und Wirklichkeit
ist es interessant, die Unterschiede zwischen dem Vernunftbegriff in
Hegels absolutem Idealismus und dem Vernunftbegriff der Aufklä-
rung und des kantischen Kritizismus aufzudecken. Welche Bedeu-
tung hat der Begriff der Vernunft während der historischen Ent-
wicklung des deutschen Idealismus? Welche Funktion hat er? Wie
entwickelt sich seine philosophisch-semantische Bedeutung in der
schrittweisen Umformung vom Kritizismus Kants zum absoluten
Idealismus Hegels? Bei Kant hat der Begriff der Vernunft semantisch
und funktional seine Wurzeln im Vernunftbegriff des Empirismus.
Lockes Empirismus sah in der Vernunft eine grundlegende Bestim-
mung, die die einzige wirkliche Neuerung des modernen Begriffs ge-
genüber dem klassischen Konzept darstellte: Sie ist ein Organon so-
wohl der wahrscheinlichen als auch der gewissen Erkenntnis. Locke
zufolge erkennt die Vernunft die »notwendige und unzweifelhafte
Verbindung« 139 zwischen allen Begriffen der menschlichen Erkennt-
nis. Dadurch war die Vernunft für jene Funktion qualifiziert, die ihr
die Aufklärung des 18. Jahrhunderts zuwies: nämlich das Prinzip
einer radikalen Traditionskritik und einer radikalen Erneuerung der
menschlichen Erkenntnis zu sein. In diesem Sinne hat Kant versucht,
das aufklärerische Ideal der Vernunft zu verwirklichen. Einerseits
identifizierte er die Vernunft mit der Freiheit zur Kritik. Andererseits
wollte er die Vernunft vor ihr eigenes Gericht bringen und eine Kritik
der reinen Vernunft einführen, die die Felder, Bereiche, Grenzen und
»Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis« 140 bestimmt.
Der Philosoph aus Königsberg erkennt den diskursiven Charak-
139
Vgl. J. Locke, Essay Concerning Human Understanding, IV, 17, 2.
140Vgl. B. Dörflinger, Das Leben theoretischer Vernunft. Teleologische und prakti-
sche Aspekte der Erfahrungstheorie Kants, Berlin/New York: de Gruyter 2000.
186
Vernunft, Realität und Wirklichkeit
187
Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
siert und setzt das Konzept der Vernunft als Erörterung voraus. Als
Erörterung ist die Vernunft eine Deduktion; und als Deduktion hat
sie ein einziges Prinzip, das das Ich ist. Die Gleichungen, auf denen
diese Doktrin basiert, sind die folgenden: Vernunft = deduktives Wis-
sen; deduktives Wissen = Realität; Realität und Wissen konstituieren
und charakterisieren den eigentlichen Kern des Selbstbewusstseins. 143
S. 302.
188
Das Wirkliche, die Wirklichkeit und die Verwirklichung
phie als eine Form von Idealismus im doppelten Sinn, 145 einerseits,
weil die wahre Realität eine Idee ist, also der Gedanke, der Geist, das
Absolute, die Vernunft; andererseits, weil die Idealität die Nicht-Rea-
lität dessen ist, was wir endlich nennen. Für Hegel existiert das End-
liche nicht für sich, sondern nur in einem Zusammenhang von Bezie-
hungen. Mit anderen Worten: Wenn die Realität ein einheitliches
Ganzes ist, ist das, was existiert, ein Teil davon. Das Endliche existiert
nur im Unendlichen und aufgrund der Existenz des Unendlichen.
Seine Philosophie ist als eine Art pantheistischer Monismus definiert
worden, weil Hegel in der Welt (dem Endlichen) die Manifestation
des Absoluten (des Unendlichen) sieht.
Wenn die Realität auf einem unendlichen Entwicklungsprozess
gründet, kann sie sich nur am Ende dieses Prozesses durch den Geist
als das, was sie wirklich ist, offenbaren. »Die Wahrheit ist das Ganze«,
sagt Hegel in der Einleitung der Phänomenologie des Geistes, um zu
unterstreichen, dass man das wahre Absolute nur am Ende des Ent-
wicklungsprozesses erkennt. Erst wenn der Prozess vollendet ist,
kann man die Rationalität dieses Prozesses vollständig verstehen.
Wahrheit und Realität durchlaufen einen dynamischen und dialekti-
schen Prozess, weil sie von einem Subjekt ausgehen, um dann zu ihm
zurückzukehren, nachdem sie verstanden haben, dass das Objekt, das
unabhängig und gegenläufig scheint, nichts anderes als ein Ausdruck
des Subjekts ist. Diese geistige Realität, die das Ganze, die Totalität,
also die Ganzheit eines jeden Dinges ist und außerhalb deren nichts
ist, wird von Hegel das Absolute 146 und das Unendliche genannt. Die
einzelnen Phänomene der Natur und der Geschichte repräsentieren
hingegen das Endliche. Das Absolute ist keine Gesamtheit von auto-
nomen Teilen, die unabhängig voneinander existieren können, son-
dern es ist ein ganzheitlicher Organismus, in dem jeder Teil dialek-
tisch an andere Teile gebunden ist und nicht ohne sie sein kann. Die
einzelnen historischen Tatsachen und die einzelnen Phänomene der
Natur sind für Hegel nicht autonom und lassen sich nicht aus sich
erklären, sondern nur in einer Kette von anderen Fakten und Phäno-
menen. Die historischen Tatsachen existieren innerhalb dieser Kette
145 Vgl. F. P. Hansen, Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus, Berlin:
de Gruyter 1989.
146
Zur Verbindung zwischen dem Absoluten und dem Unendlichen bei Hegel vgl.
A. Peperzak, Selbsterkenntnis des Absoluten. Grundlinien der Hegelschen Philoso-
phie des Geistes, Stuttgart: Frommann-Holzboog 1988.
189
Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
und lassen sich daher nur innerhalb der gesamten menschlichen Ge-
schichte erklären. Die Phänomene der Natur hingegen lassen sich nur
innerhalb der Naturwissenschaften erklären. Zwei Beispiele: Das his-
torische Ereignis der Schlacht von Issos 333 v. Chr. und das naturwis-
senschaftliche Phänomen, dass das Gewicht von Wasserstoff gleich
eins ist, sind unumstößliche Wahrheiten, haben aber keinen Sinn
für sich selbst. Man kann sie nur verstehen, wenn sie in den Kontext
der Geschichte oder der Wissenschaft eingebettet werden. Genau be-
trachtet, existieren Fakten und Phänomene, lassen sich aber nur in
Bezug zum Absoluten erklären. Es sind endliche Momente, deren
Existenz durch das Ganze, das Unendliche, gerechtfertigt wird. Der
Sinn der These Hegels, dass sich »das Endliche im Unendlichen auf-
löst«, ist der: Die endlichen Ereignisse der Natur und der Geschichte
können nur innerhalb des Absoluten erklärt werden. Das Absolute,
von dem Hegel spricht, ist nicht nur der Geist oder das Unendliche; es
wird auch Idee oder Vernunft genannt, weil es von einer innewoh-
nenden Rationalität charakterisiert ist. Laut Hegel sind »Vernunft«
und »Wirklichkeit« identisch.
Was versteht Hegel unter ›Idee‹ ? Warum ist die semantische Unter-
scheidung zwischen Idee und Begriff im System der Philosophie He-
gels so wichtig? Nach der synthetischen Definition Hegels ist »die
Idee die absolute Einheit des Begriffs und der Objektivität«. 147 »Die
Idee ist das Wahre an und für sich, die absolute Einheit des Begriffs
und der Objektivität. Ihr ideeller Inhalt ist kein anderer als der Be-
griff in seinen Bestimmungen; ihr reeller Inhalt ist nur seine Darstel-
lung, die er sich in der Form äußerlichen Daseins gibt und diese Ge-
stalt in seiner Idealität eingeschlossen, in seiner Macht, so sich in ihr
erhält. Die Definition des Absoluten, daß es die Idee ist, ist nun selbst
absolut. Alle bisherigen Definitionen gehen in diese zurück. Die Idee
ist die Wahrheit; denn die Wahrheit ist dies, daß die Objektivität dem
Begriffe entspricht, nicht daß äußerliche Dinge meinen Vorstellun-
S. 367.
190
Was heißt »Idee« in Hegels subjektiver Logik?
gen entsprechen; dies sind nur richtige Vorstellungen, die Ich Dieser
habe. In der Idee handelt es sich nicht um Diesen, noch um Vorstel-
lungen, noch um äußerliche Dinge. Aber auch alles Wirkliche, inso-
fern es ein Wahres ist, ist die Idee, und hat seine Wahrheit allein
durch und kraft der Idee.« 148
Nach Hegel garantiert die Philosophie den intelligiblen Charak-
ter der Erkenntnis, dem zufolge nichts wirklich ist, außer der Idee.
Die Idee ist das Synonym von vernünftig. Die Idee ist die bewusste
Identität von Form und Inhalt. »Die Philosophie hat es mit Ideen, und
darum nicht mit dem, was man bloße Begriffe zu heißen pflegt, zu
tun, sie zeigt vielmehr deren Einseitigkeit und Unwahrheit auf, sowie
daß der Begriff (nicht das, was man oft so nennen hört, aber nur eine
abstrakte Verstandesbestimmung ist) allein es ist, was Wirklichkeit
hat und zwar so, daß er sich diese selbst gibt. Alles, was nicht diese
durch den Begriff selbst gesetzte Wirklichkeit ist, ist vorübergehen-
des Dasein, äußerliche Zufälligkeit, Meinung, wesenlose Erschei-
nung, Unwahrheit, Täuschung usf. Die Gestaltung, welche sich der
Begriff in seiner Verwirklichung gibt, ist, zur Erkenntnis des Begriffs
selbst, das andere, von der Form, nur als Begriff zu sein, unterschie-
dene wesentliche Momente der Idee.« 149 In ihrer konkreten Bedeu-
tung ist die Form die Vernunft als begriffsmäßige Erkenntnis, wäh-
rend der Inhalt die Vernunft als substantielle Essenz sowohl der
ethischen als auch der natürlichen Wirklichkeit ist. Die philosophi-
sche Idee ist die bewusste Identität von beiden. »Dies ist auch, was
den konkreteren Sinn dessen ausmacht, was oben abstrakter als Ein-
heit der Form und des Inhalts bezeichnet worden ist, denn die Form in
ihrer konkretesten Bedeutung ist die Vernunft als begreifendes Er-
kennen, und der Inhalt die Vernunft als das substantielle Wesen der
sittlichen, wie der natürlichen Wirklichkeit; die bewußte Identität
von beidem ist die philosophische Idee.« 150
Die Idee zeichnet sich durch zwei wesentliche Momente aus: den
Begriff und die Realisierung dieses Begriffs, das Universale und das
Einzelne. »Die Idee vereint das Subjektive und das Objektive in sich
selbst. Das Formieren ist insofern die der Idee angemessenste Besitz-
nahme, weil sie das Subjektive und Objektive in sich vereinigt, übri-
148
Ebd., S. 368.
149 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 72.
150
Ebd., S. 62.
191
Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
gens nach der qualitativen Natur der Gegenstände und nach der Ver-
schiedenheit der subjektiven Zwecke unendlich verschieden.« 151
Der Hegel’sche Begriff »Idee« unterscheidet sich grundlegend
von dem Begriff »Idee« bei Platon, ebenso von den gleichnamigen
Begriffen im Rationalismus Descartes’ und in der Transzendentalphi-
losophie Kants. Bei Platon ist die »Idee« (eîdos) das Modell der Reali-
tät und die Wahrheit der Erkenntnis und hat also eine Bedeutung, die
man als metaphysisch bezeichnen kann. Bei Descartes hat die Idee
eine ganz andere Bedeutung. Er spricht von klaren und bestimmten
Ideen, und versteht darunter die wahren Erkenntnisse; die Bedeutung
ist so nicht mehr metaphysisch und ontologisch, sondern eindeutig
gnoseologisch. Für Kant sind die transzendentalen Ideen (die drei Ide-
en der Seele, der Welt und Gottes) keine Erkenntnisse, sondern Be-
griffe, denen kein Objekt entsprechen kann. Die transzendentalen
Ideen 152 sind nicht Teil der erkennenden, sondern der begrifflichen
Sphäre; sie haben jedoch eine Tendenz ins Metaphysische, die uns,
wie auch Kant selbst, zum Gedanken Platons zurückführt. Bei Hegel
bekommt das Wort »Idee« eine qualitative und tiefgehende Bedeu-
tung. Nach der synthetischen Definition in der Enzyklopädie ist die
Idee die absolute Einheit des Begriffs und der Objektivität. 153 Sie ist
der Begriff, der sich in der Welt der Organismen, der Lebenden und
des Lebens realisiert.
In der Wissenschaft der Logik, in dem mit »Objektivität« betitel-
ten Teil, beschreibt Hegel den Prozess, durch den sich der Begriff
realisiert, und postuliert so eine äußere Realität. Mit Hilfe von Kant
erreicht Hegel eine Stufe, 154 auf der die mechanische Struktur der
physischen Welt nicht an sich ist, aber aufgrund der Leistung des
Intellekts existiert, wie Kant sagen würde, oder aufgrund der Leis-
tung des Vernunftbegriffs, wie Hegel darlegt. So beginnt das Begrei-
fen sich zu realisieren, auch wenn es noch in einem unvollendeten
Stadium ist, weil die doppelte Struktur des Urteils bestehen bleibt.
Auch die Theologie beinhaltet für Hegel, im Gegensatz zu Kant, eine
entscheidende Tugend, die nicht einem Urteil zugehörig ist, das von
außen über die Einzelheiten reflektiert, sondern eine formale Struk-
S. 367.
154 Vgl. M. Wladika, Kant in Hegels Wissenschaft der Logik, Frankfurt am Main:
192
Dialektik und Synthesis
tur aufweist, die weniger dem Urteil als dem Syllogismus eigen ist.
Der Begriff realisiert sich selbst also besser, weil er teleologisch die
Objektivität prägt und formt, wie es in der Sphäre des Lebens ge-
schieht. Für Hegel ist das Moment der inneren Zielsetzung das Mo-
ment, in dem die Realisierung des Begriffs und sein Einfluss auf die
Objektivität die Vollendung erreichen. So gelangt man zur Ideenwelt.
Hegel erklärt, dass die Idee weder eine metaphysische Wesenheit ist
(wie bei Platon) noch eine Erkenntnis (wie bei Descartes) noch ein
Begriff, der über die mögliche Erkenntnis hinausgeht, sondern dass
sie die Einheit von Begriff und Objektivität darstellt; in der Logik
Hegels bedeutet das Wort Idee genau dies.
Die Idee drückt also die Einheit von Begriff und Objektivität aus.
Aber was ist die absolute Idee, die der Endpunkt der Hegel’schen Lo-
gik ist? Die Idee, der dritte Teil der Doktrin des Begriffs, hat eine
eigene Entwicklung. Hegel beschreibt das Leben als Idee, die sich in
der Form von Unmittelbarkeit zeigt. Es führt zur Einheit von Begriff
und Objektivität, die Idee genannt wird. Die Unmittelbarkeit bringt
ihrerseits eine dialektische Entwicklung mit sich, so dass auf das Le-
ben die Ideen des Wahren und des Guten folgen, also das theoretische
und das praktische Leben. Am Ende steht die absolute Idee. Hegel
sagt, dass der Begriff sich selbst realisiert hat (und dies geschieht erst,
nachdem man die Sphären des Lebens, der Praxis und der Theorie
durchquert hat). Die absolute Idee ist die Vollendung ihrer eigenen
Logik.
Die Dialektik ist nicht nur ein logisches Gesetz, das dazu dient, die
Wirklichkeit oder das ontologische Gesetz der Entwicklung der Rea-
lität zu verstehen, sondern auch das Gesetz, das das Werden bestimmt
und untrennbar mit ihm verbunden ist. Aber warum ist das Werden
als dynamischer Prozess untrennbar mit der dialektischen Logik ver-
bunden? Welches ist das Prinzip, das das Werden in der Realität cha-
rakterisiert? Welches ist das Fundament, das die Wahrhaftigkeit der
dialektischen Logik Hegels garantiert?
Das Absolute ist nach Hegel vor allem das Werden. Das Gesetz,
das das Werden bestimmt, ist also das Gesetz des Absoluten, die Dia-
lektik. Die Dialektik ist das Gesetz der Vernünftigkeit, das universelle
193
Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
155 Vgl. K. Düsing, Subjektivität und Freiheit. Untersuchungen zum Idealismus von
194
Dialektik und Synthesis
195
Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
196
Zum Begriff der Spekulation
197
Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
156 Vgl. T. W. Adorno, »Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Drei Studien zu He-
198
Die dialektische Negation als Überwindung der Grenze
157 Vgl. G. Olañeta, Dialektik als subjektive und objektive Reflexion. Eine Diagnose
199
Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
200
Die Vernunft und der Weg des »Bewusstseins« zum Wissen
Art von Sein 163: wie im Fall der Idee, die sich in der Natur als etwas
anderes manifestiert, um dann im Geiste zu sich zurückzukehren –
wenn man sich an den breiten Rahmen der Hegel’schen Dialektik
hält –, genauso aber auch in jedem der Momente der Entwicklung
der Idee in der Logik (der Wissenschaft der reinen Idee), von der Phi-
losophie der Natur angefangen bis zur Philosophie des Geistes.
163 Vgl. F. Chiereghin, Rileggere la Scienza della logica di Hegel, Roma: Carocci 2012.
164
G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 45.
201
Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
stehen, was wirklich von Bedeutung und wirksam ist bzw. was im
Gegenteil nur nebensächlich und unbedeutend ist.
Hegel zufolge kann die Vernunft nur eine philosophische Speku-
lation ausarbeiten, wenn sie sich selbst zum Absoluten erhebt. Um
das Absolute im Bewusstsein aufzubauen, muss man die Begrenzun-
gen des Bewusstseins verneinen und überwinden und so das em-
pirische Ich zum traszendentalen Ich, zur Vernunft und zum Geist
führen. 165 Die Phänomenologie des Geistes ist von Hegel mit dem
Ziel verfasst worden, das empirische, menschliche Bewusstsein zum
Geist und zum »absoluten Wissen« 166 zu leiten. Was ist das absolute
Wissen?
»Das absolute Wissen ist die Wahrheit aller Weisen des Bewußt-
seins, weil, wie jener Gang desselben es hervorbrachte, nur in dem
absoluten Wissen die Trennung des Gegenstandes von der Gewißheit
seiner selbst vollkommen sich aufgelöst hat und die Wahrheit dieser
Gewißheit sowie diese Gewißheit der Wahrheit gleich geworden ist.
Die reine Wissenschaft setzt somit die Befreiung von dem Gegensatz
des Bewußtseins voraus. Sie enthält den Gedanken, insofern er eben-
sosehr die Sache an sich selbst ist, oder die Sache an sich selbst, inso-
fern sie ebensosehr der reine Gedanke ist.« 167
Von diesem Standpunkt aus kann die Phänomenologie »als der
Weg des natürlichen Bewußtseins, das zum wahren Wissen dringt,
genommen werden; oder als der Weg der Seele, welche die Reihe
ihrer Gestaltungen, als durch ihre Natur ihr vorgesteckter Stationen
durchwandert, daß sie sich zum Geiste läutere, indem sie durch die
vollständige Erfahrung ihrer selbst zur Kenntnis desjenigen gelangt,
was sie an sich selbst ist«. 168 In der Phänomenologie ist der Mensch
nicht weniger mit einbezogen als das Absolute. In der Hegel’schen
Philosophie kann das Endliche vom Unendlichen, das Einzelne vom
Universalen nicht getrennt werden, denn das Unendliche offenbart
sich im Endlichen und das Absolute ist das Prinzip aller Wirklich-
keit. 169 Die Phänomenologie des Geistes ist der Weg, der das begrenz-
te Bewusstsein zum unendlichen Absoluten führt. 170 Dieser Weg
168
G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 152.
169 Ebd., S. 32.
170
Vgl. R. P. Horstmann, »Hegels Ordnung der Dinge. Die Phänomenologie des
202
Die Vernunft und der Weg des »Bewusstseins« zum Wissen
stimmt mit dem Weg überein, den das Absolute gegangen ist und
noch geht, um zu sich selbst zu gelangen (und vom Anderssein in sich
zu gehen). Die Phänomenologie ist ein notwendiger Schritt und ihre
Methodologie kann nur streng wissenschaftlich oder dialektisch sein.
In der Phänomenologie des Geistes gibt es zwei Bereiche, die sich
überschneiden – oder zwei Gedankenlinien, die parallel geführt wer-
den: a) den Bereich, der sich aus jenem Weg ergibt, den der Geist in
der Geschichte der Welt durchlaufen hat, um zu sich selbst zu ge-
langen; dieser Weg ist für Hegel der Weg, durch den der Geist sich
realisiert und sich selbst erkannt hat; b) den Bereich eines jeden ein-
zelnen, empirischen Individuums, das denselben Weg gehen muss,
um sich seiner selbst bewusst zu werden. Die Geschichte des Be-
wusstseins des Individuums kann nichts anderes sein als das Durch-
laufen der Geschichte des Geistes. Die phänomenologische Einfüh-
rung der Philosophie ist genau das Durchlaufen dieses Weges. Der
Einzelne muss die unterschiedlichen Entwicklungsstufen des univer-
salen Geistes durchlaufen. 171 Diese Stufen sind die der Geschichte der
Zivilisation, die das individuelle Bewusstsein wiedererkennt und wie-
derfinden muss. Es handelt sich sozusagen um eine Projektion. Der
Geist, der sich entwickelt und schließlich erscheint, ist das Bewusst-
sein im weitesten Sinne des Begriffs, der bedeutet, sich des Anderen
(sei es eines inneren oder äußeren Anderen) bewusst zu sein. Das
Bewusstsein beinhaltet immer eine bestimmte Beziehung zwischen
einem Ich und einem Objekt, eine Beziehung »Subjekt – Objekt«.
Der Gegensatz »Subjekt – Objekt« ist also ein Unterscheidungsmerk-
mal des Bewusstseins. Die Aufgabe der Phänomenologie besteht in
der schrittweisen Vermittlung dieser Gegensätzlichkeiten, um sie zu
überwinden. In der Tat ist das Ziel, das Hegel verfolgt, die Überwin-
dung der Trennung von Bewusstsein und Objekt und der Beweis, dass
das Objekt nichts anderes als das Selbst des Bewusstseins ist, also das
Selbstbewusstsein, jenes Selbstbewusstsein, das seit Kant im Mittel-
punkt der Philosophie steht und das Hegel wissenschaftlich in einen
dialektischen Prozess einbetten möchte.
Zusammengefasst beinhaltet der phänomenologische Weg fol-
gende Schritte: a) Bewusstsein; b) Selbstbewusstsein; c) Vernunft;
d) Geist; e) Religion; f) absolutes Wissen. Hegel stellt die These auf,
203
Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
204
Die Vernunft und der Weg des »Bewusstseins« zum Wissen
ist. Die phänomenologischen Stufen der Vernunft 174 sind die Stufen
des Geistes, der sich als Vernunft offenbart. Die höchste Stufe besteht
darin, dass nun sowohl das Bewusstsein als auch die Vernunft gewiss
sind, die Einheit des Gedankens zu sein. Der nächste Schritt ist, eben
dies nachzuweisen. Darauf folgen drei weitere Stufen: a) die Ver-
nunft, die die Natur betrachtet; b) die handelnde Vernunft; c) die Ver-
nunft, die sich bewusst wird, Geist zu sein. 175
Der vierte Schritt ist der des Geistes. Die Vernunft verwirklicht
sich in einem freien Volk und dessen Institutionen und ist das Be-
wusstsein, dass sich wieder mit der eigenen ethischen Natur verbin-
det. Dies ist der Geist. Der Geist ist das Individuum, das eine Welt
begründet, die sich im Leben eines freien Volkes realisiert. Der Geist
ist also die Einheit des Selbstbewusstseins in der totalen Freiheit und
Unabhängigkeit. Es ist nur einleuchtend, dass die Figuren auf dem
weiteren phänomenologischen Weg zu Figuren der Welt werden, zu
Stufen der Geschichte, die uns den Geist zeigen, der sich durch diese
Entfremdung verwirklicht, wiederfindet und zuletzt selbst erkennt.
Die phänomenologischen Stufen des Geistes sind: a) der Geist an sich
als Sittlichkeit, die von der griechischen und römischen Welt her-
rührt; b) der Geist, der sich selbst fremd wird, was für die Wider-
sprüche der Neuzeit charakteristisch ist; c) der Geist, der sich seiner
selbst gewiss wird.
Die Phänomenologie zeigt noch eine weitere Stufe, bevor sie das
absolute Wissen erreicht. In der Religion und ihren unterschiedlichen
Manifestationen wird sich der Geist seiner selbst bewusst, jedoch nur
aus der Sicht des Bewusstseins, das um seine absolute Essenz weiß.
Die Religion ist das Selbstbewusstsein des Absoluten. Aber dieses
Selbstbewusstsein ist noch begrenzt, ist noch nicht in der vernünfti-
gen Form des Begriffs gegeben. Nachdem sich die Idee in der Ge-
schichte als Freiheit verwirklicht hat, schließt sie ihre Rückkehr zu
sich selbst im absoluten Sich-selbst-Erkennen ab. Der absolute Geist
ist folglich die Idee, die sich auf absolute Art und Weise selbst er-
kennt: Dieses Selbstbewusstsein ist das Selbstbewusstsein von Gott,
bei dem der Mensch eine große Rolle spielt. Diese Selbstkenntnis des
Geistes ist keine mystische Anschauung, sondern ein dialektischer
Prozess, der dreiteilig ist. Er realisiert sich in der Kunst, in der Reli-
174
Vgl. J. Hyppolite, Genesi e struttura della Fenomenologia dello spirito, Firenze: La
Nuova Italia 2002.
175
G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 70.
205
Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
gion und in der Philosophie. Dies sind die drei Formen, durch die wir
Gott kennen und er sich selbst. Sie verwirklichen sich jeweils durch
die sinnliche Intuition (Ästhetik), die Darstellung des Glaubens und
den reinen Begriff. Dies sind die drei Formen, durch die wir Gott
erkennen und Gott sich selbst erkennt. Sie werden durch die empiri-
sche Anschauung (Ästhetik), die Glaubensvorstellung und den reinen
Begriff realisiert.
Die Identität des Vernünftigen mit dem Wirklichen im absoluten
Idealismus Hegels zu verstehen, bedeutet nicht nur ein Problem der
Philosophie zu lösen, sondern auch die besondere Bedeutung der Ge-
schichte aufzudecken. Diese These Hegels darf nicht nur im metho-
dologischen Sinne interpretiert werden, als wäre sie das Resultat der
Anwendung einer bestimmten Methode (der dialektisch-spekulati-
ven), sondern sie ist das Resultat der Identität von Vernunft und
Wirklichkeit. Wie die Phänomenologie des Geistes zeigt, ist die Er-
oberung des spekulativen oder absoluten Wissens das notwendige
Ergebnis der gesamten geschichtlichen Entwicklung 176 des mensch-
lichen Bewusstseins und seiner Erkenntnismöglichkeiten, von den
einfachsten Formen des natürlichen, allgemeinen Bewusstseins bis
hin zu den höheren Formen. Die Philosophie ist keine individuelle,
sondern eine absolute Erkenntnis, die sich selbst und ihre Geschichte
gefunden und verstanden hat. Das Problem der Wahrheit liegt also
außerhalb einer jeden Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, Me-
thode und Inhalt, Vernunft und Wirklichkeit. Das Problem der Wahr-
heit wird zur inneren Suche nach der Totalität der Erkenntnis: Die
Wahrheit ist das Ganze. Aber das Ganze ist niemals die Gesamtheit
der Momente, sondern die organisch-dialektische und dynamische
Totalität.
Was ist der subjektive Geist? Welche Bedeutung hat die semantische
Unterscheidung zwischen subjektivem Geist, objektivem Geist und
absolutem Geist im philosophischen System Hegels?
Die erste Stufe des Geistes, der subjektive Geist, betrifft die in-
dividuelle Dimension der menschlichen Existenz. Die dialektische
Überwindung der Natur manifestiert sich zuerst in der Seele, die ein
176
Ebd., S. 43.
206
Subjektiver Geist und objektiver Geist
177
Vgl. F. Beiser, After Hegel, Princeton NJ: Princeton University Press 2016.
207
Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
leeren Charakter auf, da sie auf dem einfachen Verbot basiert, die
Persönlichkeit des Anderen zu verletzen. Die Versuche der Natur-
rechtsphilosophie und des Kontraktualismus, die komplexe Wirklich-
keit der politischen Institutionen zu begründen, erscheinen Hegel
sinnlos und absurd.
Die juristischen Normen implizieren in ihrer äußerlichen Ob-
jektivität nur einen formalen Gehorsam und keine innerliche Betei-
ligung oder Zustimmung. Der Schritt zur moralischen Sphäre voll-
zieht sich durch die Verinnerlichung der Pflicht, die im Kontrast zum
statutarischen Gesetz steht. Der freie Wille spiegelt sich in der sub-
jektiven Tiefe des Bewusstseins selbst wider und identifiziert sich
nicht mehr mit dem gegebenen Objekt, dem privaten Besitz. Die Per-
son im juristischen Sinn wird zum moralischen Subjekt. Die innere
Freiheit charakterisiert für Hegel die moderne Form der Individuali-
tät; sie hat sich der Welt durch das Christentum manifestiert, das der
einzelnen Person einen unendlichen Wert gibt. Hegels Urteil über das
Christentum und die Trennung der Sittlichkeit von der klassischen
Welt hat sich verändert. In seinen ersten Schriften erschienen diese
Aspekte als Verfallserscheinungen. Nun sind es wichtige Schritte zu
einer bestimmten Menschlichkeit, die der Vollendung bedarf. Das
Prinzip der Innerlichkeit wird durch die protestantische Reformation
bestätigt und in der praktischen Philosophie Kants wird es theoretisch
klar dargelegt. Der Bürger des modernen Staates identifiziert sich im
Unterschied zum Bürger der griechischen Polis nicht unkritisch und
unmittelbar mit den kollektiven Werten und Normen; er kann es
auch nicht wie der Untertan eines despotischen Staates hinnehmen,
blind bestimmten Auflagen zu gehorchen. Die Forderungen des Bür-
gers an die politische und soziale Ordnung müssen auf dem Herz,
dem Bewusstsein und der Vernunft beruhen. Bevor man ein guter
Bürger wird, muss man die kantische unbedingte Selbstbestimmung
des Willens erreicht haben. Der moderne Staat muss entsprechend die
Subjektivität wie ein Heiligtum schützen, dessen Entweihung ein Sa-
krileg wäre. Der moralische Aspekt stellt aber nur einen Moment der
Dialektik des objektiven Geistes dar und wird schließlich überwun-
den. Wenn die reine Intention des Bewusstseins als absolut angese-
hen wird, wie bei Kant, dann macht man sich von einem abstrakten,
moralischen Formalismus abhängig, einem Seinmüssen, das kein be-
grenzter Inhalt befriedigen kann. Die Freiheit bleibt in einem leeren,
engen Raum des Inneren eingeschlossen und nutzt sich in einer Rhe-
torik des Müssens um des Müssens willen ab.
208
Subjektiver Geist und objektiver Geist
Die Pflicht hat durch die ethischen Aufgaben, die jedes Individu-
um betreffen, einen konkreten Inhalt. Diese Aufgaben sind von der
familiären, sozialen und politischen Rolle des Individuums in der be-
stehenden Ordnung bestimmt. Das Gute ist kein unerreichbares Ideal
des reinen Bewusstseins, sondern eine historische und soziale Welt,
die gegenwärtig ist: im hier und jetzt als Rationalität im dynamischen
Prozess. Die Sittlichkeit konstituiert die dialektische Synthese der
Objektivität des Rechts und der Subjektivität der Moral, weil sie in
der überindividuellen Realität der Gesetze und der Institutionen und
gleichzeitig in der bewussten Teilnahme des Einzelnen existiert. In
der universalen sittlichen Natur eines Volkes, also in einem System,
das durch Werte definiert ist, die sich in einer bestimmten politischen
Konstitution ausdrücken, erkennt das Individuum die eigene Wahr-
heit und gewinnt jene konkrete Konsistenz, die den abstrakten Figu-
ren, etwa der Person im juristischen Sinn oder dem moralischen Sub-
jekt, fehlt.
In der Familie, der ersten Sphäre der Sittlichkeit, ist die natür-
liche und zufällige Beziehung der Geschlechter durch geistige Liebe
gekennzeichnet, auf der die Ehe basiert. Hegel lehnt Kants Definition
der Ehe als Vertrag als schimpflich ab. Die Familie als sittliche Ge-
meinschaft steht auf einem höheren Niveau als die isolierten und abs-
trakten juristischen Personen. Das Patrimonium ist eine Bedingung
des familiären Lebens, die Erziehung der Kinder ist seine Erfüllung
und realisiert sich in ihrer zweiten Geburt oder geistigen Geburt.
Durch die Figur des Kindes als autonome Person vollzieht sich die
Öffnung der Familie in Richtung auf die Arbeitswelt und die bürger-
liche Gesellschaft, die zweite Sphäre der Sittlichkeit. Die erste Stufe
der bürgerlichen Gesellschaft ist nach Hegel das System der Bedürf-
nisse, das von Adam Smiths Theorie der politischen Ökonomie beein-
flusst ist. Die konkreten Subjekte, die besondere Bedürfnisse und Fä-
higkeiten haben, folgen ihren eigenen, individuellen Interessen. Die
historische Entwicklung der modernen Wirtschaft ist der Triumph
des privaten Geistes, der keine kollektiven Zielsetzungen beachtet
und die Ablösung des Einzelnen von der Gemeinschaft verstärkt.
Die bürgerliche Gesellschaft ist also der negative Aspekt der Sittlich-
keit. Sie ist das Feld des privaten und individuellen Interesses, in dem
alle gegen alle kämpfen. In der Aufteilung der Arbeit in der Gesell-
schaft kehrt sich der Egoismus des Einzelnen und seine scheinbare
Isolierung in ein soziales System von universalen Abhängigkeiten
um, in dem das Wohlbefinden des Einzelnen mit dem Wohlbefinden
209
Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
und dem Recht aller übereinstimmt. 178 Dies ist nichts anderes als die
Theorie der unsichtbaren Hand von Smith, die besagt, dass die Auto-
matismen der kapitalistischen Wirtschaft, ohne dass die Subjekte da-
von wissen, die privaten Interessen in Richtung eines kollektiven
Wohlstandes führen. Hegel denkt jedoch über die Ergebnisse dieser
blinden Notwendigkeit weniger optimistisch und vertritt die Auffas-
sung, dass sie ein unzureichender Faktor für den sozialen Zusammen-
halt seien, der gleichsam unter der sittlichen und politischen Würde
eines Staates liege. Auch wenn er zugibt, dass das Prinzip der Indivi-
dualität als bürgerliche Freiheit, das Talent und Intelligenz stimuliert,
ein positiver Gewinn der Neuzeit sei, beklagt er die unvermeidbaren
Konflikte im System der Bedürfnisse. In dem Maße, in dem sich die
Kluft zwischen Armut und Reichtum vertiefe, vermehrten sich die
Arbeiten, die unsicher und ungesund sind. Der Unterhalt des Einzel-
nen hänge von der blinden Bewegung der Wirtschaftsmaschine ab,
die in höchst zufälliger Art und Weise sein Wohlergehen oder seinen
Niedergang bestimme.
Der zweite Schritt der bürgerlichen Gesellschaft, die Verwaltung
der Justiz, ändert nicht viel an diesem Bild, weil sie die Aufgabe hat,
die Rechte des Besitzes und der freien Verfügung zu garantieren. Da-
mit sind die Aspekte der öffentlichen Sicherheit und der verschiede-
nen gesellschaftlichen Stände und Schichten eng verbunden. Hegel
konzipiert diesbezüglich eine interventionistische Politik, die die
Dysfunktion des privaten Geistes korrigieren soll. Die öffentlichen
Einrichtungen sollen die zerstörerischen Tendenzen der Interessen-
konflikte bremsen und allen den Unterhalt garantieren. Hegel meint,
dass die Lösung des Problems der Armut die partielle Begrenzung der
Eigentumsrechte rechtfertigen kann; Letztere sind nämlich nicht hei-
lig und unverletzbar. Die Schichten und Stände seiner Zeit spielen in
seiner Philosophie für die Bedürfnisse der Gesellschaft und die politi-
sche Einheit des Staates eine vermittelnde Rolle. Die organische Ko-
häsion der Gesellschaft drückt sich im System der Klassen aus, weil
eine Gesellschaft nur in einer organischen Ganzheit existieren kann.
Die natürliche Klasse ist mit der Erde und der Tradition verbunden;
die Klasse der Arbeiter in Industrie und Handel ist Teil der dyna-
mischen Welt der Geschicklichkeit und des Reichtums; die Klasse
der Intellektuellen wird von Hegel als Übergang von der privaten
Sphäre der Gesellschaft zur öffentlichen des Staates erklärt.
178
Vgl. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 55.
210
Subjektiver Geist und objektiver Geist
Die Konzeption des Staates, drittes und letztes Moment der Sitt-
lichkeit, beinhaltet viele Themen, die jahrzehntelang im Mittelpunkt
der Interessen Hegels stehen. Schon während seiner Frankfurter Zeit
hatte er seine frühere Idee der Philosophie als eines polemischen Ge-
gensatzes zur Realität aufgegeben. Nun versucht er durch ein tief-
gehendes Studium der politischen Ökonomie die moderne Welt zu
analysieren. Seine theoretische Arbeit ist eng mit der besonderen po-
litischen Erfahrung seiner Generation verflochten, die ohne Zweifel
die ereignisreichsten Jahre der Weltgeschichte erlebte. Die letzten
Seiten der Phänomenologie des Geistes schreibt Hegel kurz vor der
Schlacht von Jena (1806), in der das Heer Napoleons die Preußen
besiegt. Mit großer Begeisterung erzählt er in einem Brief, Napoleon
auf seinem Pferd gesehen zu haben. Napoleon ist für ihn die Welt-
seele, die sich in einem Individuum konzentriert. In der napoleo-
nischen Politik der Erneuerung Europas sieht er die Verwirklichung
der positiven Prinzipien der Revolution und die Überwindung ihrer
Grenzen. Nach dem Wiener Kongress stellt sich Hegel nicht auf die
Seite der reaktionären Kräfte, sondern er meint, dass die Restauration
die wichtigen juristischen und politischen Fortschritte, die Frankreich
der gesamten Menschheit für immer gegeben habe, nicht zerstören
könne. Das Modell eines rationalen Staates ist die konstitutionelle
Monarchie, die teilweise vom preußischen Staat repräsentiert wird,
dessen höchste kulturelle Autorität nun der Philosoph selbst mit sei-
nem Lehrstuhl in Berlin ist. Die napoleonische Ordnung oder die
konstitutionelle Monarchie sind in den Schriften seiner reiferen Jahre
jedoch niemals einfache Ideale. Die Philosophie kann, insbesondere
wenn es sich um politische Philosophie handelt, der Welt keine Ideale
vorgeben. Ihre Aufgabe ist es, zu verstehen, was wirklich ist, denn
was wirklich ist, ist vernünftig. Noch mehr als in der Natur liegt in
der historisch-sozialen Welt die Idee, die sich auf einer Ebene unter-
halb der nebensächlichen Erscheinungen als immanente Substanz
oder Ewigkeit in ihrer Wirksamkeit erweist. Es entwickelt sich ein
unendlicher Kampf gegen eine Welt, die abstrakt die einzelnen nega-
tiven Elemente einer Einrichtung oder einer politischen Ordnung iso-
liert, um eine oberflächliche Kritik daran zu üben. Aus dieser speku-
lativen Faulheit resultiert schließlich die Flucht ins reine Seinmüssen
von impotenten politischen Idealen, die subjektiv der objektiven
Wirklichkeit der Vernunft gegenübergestellt werden. Hegel wendet
sich in den Grundlinien der Philosophie des Rechts mit großer Ab-
lehnung (mit der sich auch persönliche Motive vermischen) gegen
211
Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
212
Subjektiver Geist und objektiver Geist
181 Vgl. E. L. Goodfield, Hegel and the Metaphysical Frontiers of Political Theory,
183
Ebd., S. 89.
213
Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
als reiner Willkür wird die positive und konkrete Freiheit des Einzel-
nen, die in der Familie und in der bürgerlichen Gesellschaft objekti-
viert wird, nicht durch den Staat begrenzt, sondern kommt nur durch
ihn zur Entfaltung. Die wahrhafte Freiheit realisiert sich in der Sub-
stanz der universalen Sittlichkeit, in der die Rechte und Pflichten zu-
sammenfallen: Alles, was der Mensch ist, ist er dank des Staates. In
diesem liegt seine Essenz.
Was ist der absolute Geist? Welche Rolle spielt der absolute Geist im
philosophischen System Hegels? Was ist das absolute Wissen? Im
Hegel’schen System ist der Staat Teil des Moments des objektiven
Geistes. Jedoch wird dieser im dialektischen Prozess vom Reich der
absoluten Idee überholt, wie Hegel dieses Reich nennt, das in
»Kunst«, »Religion« und »Philosophie« unterteilt ist. Es sind haupt-
sächlich die Formen des kulturellen Lebens, die Teil der Sphäre des
absoluten Geistes sind. Die höchste und universelle Aktivität des
Menschen liegt in der ästhetischen Produktion, in der religiösen Hal-
tung und in der philosophischen Reflexion. Es ist wichtig, daran zu
erinnern, dass Hegel zwischen dem Bereich des »Endlichen«, in dem
die Sittlichkeit (also der Staat) liegt, und dem Bereich des »Unend-
lichen« unterscheidet, der niemals einer Sache, die außerhalb von
ihm ist, untergeordnet sein kann. Deswegen sollte die höchste geisti-
ge Aufgabe niemals von einer externen Macht beeinflusst werden,
sondern Frucht einer wirklichen Freiheit, Ausdruck des Geistes eines
Volkes sein.
Kunst, Religion und Philosophie unterscheiden sich nicht auf-
grund ihres Inhalts, sondern aufgrund ihrer Form: Die Kunst trifft
in Form sinnlicher Anschauung, die Religion in Form einer Darstel-
lung und die Philosophie als reiner Begriff auf die absolute Idee. Die
Kunst oder die Schönheit kann jedoch die Wahrheit nur mittels eines
sinnlichen Elements erfassen; die Religion in ihrer höchsten Mani-
festation (dem Christentum) zeigt das Absolute durch das Abbild
eines persönlichen Gottes und verweist hiermit auf die Trennung
von Gott und Welt im unglücklichen Bewusstsein. Dies sind Formen,
die nicht vollständig dem absoluten Geist entsprechen, da dieser nur
in der philosophischen Vermittlung die Wahrheit findet. Die Philoso-
phie ist nicht nur die Einheit von Kunst und Religion, sondern führt
214
Der absolute Geist: Kunst, Religion und Philosophie
184 Vgl. K. Drilo, Leben aus der Perspektive des Absoluten. Perspektivwechsel und
215
Die Wechselbeziehung »endlich – unendlich« in Hegels absolutem Idealismus
216
Der absolute Geist: Kunst, Religion und Philosophie
185
Vgl. N. Bobbio, Studi hegeliani, Torino: Einaudi 1997, S. 125.
217
Literatur
Fichte J. G., Fichtes Werke, hrsg. von I. H. Fichte, Berlin: de Gruyter 1971
(11 Bde.) (Nachdruck von J. G. Fichtes sämtliche Werke, hrsg. von I. H. Fichte.
8 Bde., Berlin: Veit 1845–1846 und J. G. Fichtes nachgelassene Werke, hrsg.
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August Schelling veranstalteten Sämtlichen Werken Bd. I, 3, S. 3–268.)
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losophie (1799), in: Historisch-kritische Ausgabe, Bd. I, 8, hrsg. von Manfred
Durner und Wilhelm G. Jacobs, Stuttgart-Bad Cannstatt 2004, S. 20–86. (Ent-
spricht in den von Karl Friedrich August Schelling veranstalteten Sämtlichen
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Schelling veranstalteten Sämtlichen Werken, Bd. I,4, S. 107–212.
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den wahren Begriff der Naturphilosophie, und die richtige Art ihre Probleme
aufzulösen vom Herausgeber (1801), in: Historisch-kritische Ausgabe, Bd. I,
10, hrsg. von Manfred Durner, Stuttgart-Bad Cannstatt 2009, S. 83–106. (Ent-
spricht in den von Karl Friedrich August Schelling veranstalteten Sämtlichen
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(auch enthalten in: Ausgewählte Schriften in sechs Bänden, hrsg. von Man-
fred Frank, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985, Bd. 5).
Schelling F. W. J., Philosophie der Mythologie (1842) (= Schellings sämtliche
Werke, Abteilung II, Bd. II) (Auch enthalten in: Ausgewählte Schriften in
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sechs Bänden, hrsg. von Manfred Frank, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985,
Bd. 6.)
Schelling F. W. J., Philosophie der Offenbarung, Erster Band, Erstes Buch: Ein-
leitung in die Philosophie der Offenbarung oder Begründung der positiven
Philosophie (= Schellings sämtliche Werke, Abteilung II, Bd. III) (Auch ent-
halten in: Ausgewählte Schriften in sechs Bänden, hrsg. von Manfred Frank,
Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985, Bd. 5.)
Schelling F. W. J., Philosophie der Offenbarung, Erster Band, Zweites Buch: Der
Philosophie der Offenbarung erster Theil (= Schellings sämtliche Werke, Ab-
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