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Die tonale Musik: Anatomie der musikalischen Ästhetik
Die tonale Musik: Anatomie der musikalischen Ästhetik
Die tonale Musik: Anatomie der musikalischen Ästhetik
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Die tonale Musik: Anatomie der musikalischen Ästhetik

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Das Buch behandelt die Ästhetik der tonalen Musik. Analysiert werden Klangformen wie Konsonanz, Dissonanz, Tonalität, Takt, Kontrapunkt oder Motiv. Dabei zeigt sich: Alle harmonischen, rhythmischen und melodischen Klanggestalten sind ihrem Wesen nach Verhältnisse des klanglichen Zusammenpassens. Als solche sind sie systematisch aufeinander aufgebaut und bilden ein Ensemble aus acht ästhetischen Prinzipien, denen jeweils ein Kapitel dieses Buches gewidmet ist. In der logischen Abfolge dieser Kapitel wird der innere Zusammenhang von Harmonie, Rhythmus und Melodie offen gelegt. Die Suche nach einer "Bedeutung" der musikalischen Formen ist nicht die Sache dieses Buches. Dann schon eher die schonungslose Kritik der theoretischen Absurditäten, die sich aus jener musikwissenschaftlichen Unsitte ergeben.
LanguageDeutsch
Release dateJul 30, 2013
ISBN9783732220878
Die tonale Musik: Anatomie der musikalischen Ästhetik
Author

Franz Sauter

Franz Sauter ist 1949 in Neustadt an der Weinstraße geboren, verbrachte dort seine Jugend, studierte in Berlin und Hamburg Germanistik, Politologie, Musikwissenschaft und Informatik, arbeitete in Hamburg als Lehrer, Systemanalytiker und Ausbilder für Fachinformatiker, entwickelte währenddessen eine Theorie der tonalen Musik und eine Kritik der Musikwissenschaft. Website: http://www.tonalemusik.de

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    Die tonale Musik - Franz Sauter

    Franz Sauter

    Die tonale Musik

    Anatomie der musikalischen Ästhetik

    Books on Demand

    Das Buch behandelt die Ästhetik der tonalen Musik. Analysiert werden Klangformen wie Konsonanz, Dissonanz, Tonalität, Takt, Kontrapunkt oder Motiv. Dabei zeigt sich: Alle harmonischen, rhythmischen und melodischen Klanggestalten sind ihrem Wesen nach Verhältnisse des klanglichen Zusammenpassens. Als solche sind sie systematisch aufeinander aufgebaut und bilden ein Ensemble aus acht ästhetischen Prinzipien, denen jeweils ein Kapitel dieses Buches gewidmet ist. In der logischen Abfolge dieser Kapitel wird der innere Zusammenhang von Harmonie, Rhythmus und Melodie offen gelegt. Musikalische Erscheinungen, die bisher von Musiktheoretikern nur interpretiert wurden, werden in diesem Zusammenhang erklärt. Von bislang gängigen Dogmen lässt sich die Untersuchung nicht beirren. Das Vorurteil zum Beispiel, der Unterschied zwischen Konsonanz und Dissonanz sei nicht objektiv fassbar, ist für eine rationelle Musiktheorie nicht maßgeblich. Auch der Problematisierung und Relativierung, welche die Tonalität vielfach erfährt, kann sich das Buch nicht anschließen – aus guten Gründen.

    Inhalt

    Vorwort

    I. Harmonik

    1. Konsonanz

    a) Harmonie der einfachen Konsonanz

    b) Zusammengesetzte Konsonanz

    c) Theorien über Dur und Moll

    2. Tonalität

    a) Kadenz

    b) Dissonanz

    c) Theorien über Konsonanz und Dissonanz

    d) Tonart

    e) Ursprüngliche Tonalität

    3. Ästhetik der Modulation

    a) Verwandtschaft der Tonarten

    b) Vorgang der Modulation

    c) Tonale Analyse

    II. Rhythmik

    4. Gleichmaß der Harmonienfolge

    a) Verwandlung der Harmonien in Takte

    b) Zerlegung des Taktinhalts

    c) Modulierender Taktinhalt

    5. Gleichmaß der Taktteilung

    a) Gliederung des Taktes

    b) Konstitution der Teilungsstufen

    c) Verschmelzung von Taktsegmenten

    d) Betonungsverhältnisse

    e) Harmonischer Kontrast

    f) Das Generalbass-Zeitalter

    g) Theorien über den Takt

    III. Melodik

    6. Ästhetik der Stufenverhältnisse

    a) Verwandlung tonaler Verhältnisse in Intervalle

    b) Begriff der Melodie

    c) Das Märchen vom Leitton

    d) Alteration

    e) Das Konstrukt eines alterierten Akkords

    7. Kontrapunkt

    a) Polyphonie

    b) Parallelführung der Stimmen

    c) Bewegung in ungleichen Intervallen

    d) Ungleichzeitiges Fortschreiten

    e) Ungleichzeitiges Pausieren

    f) Ursprünglicher Kontrapunkt

    8. Motivik

    a) Begriff des Motivs

    b) Theorien über das Motiv

    c) Das Ding mit den Reflexionsbestimmungen

    d) Die Erhabenheit über den Klanggenuss

    Anhang: Ideologisches Gedankengut zum Thema Musik

    a) Einleitung

    b) Schönbergs Harmonielehre

    c) Hindemiths Unterweisung im Tonsatz

    d) De la Mottes Harmonielehre

    e) Hegels Vorlesungen über die Ästhetik

    f) Adornos Philosophie der neuen Musik

    Nachwort zur 3. Auflage

    Nachwort zur 4. Auflage

    Verzeichnis der verwendeten Notenbeispiele

    Literaturverzeichnis

    „Seit längerer Zeit ist man bemüht, unsere Musik theoretisch zu begründen. Noch immer müssen wir uns gestehen, daß wir eigentlich kein wahres System haben ... Der musikalische Galilei fehlt uns noch ..." (Heinrich Josef Vincent, Die Einheit in der Tonwelt, Leipzig 1862, Vorwort)

    „... eine echte Theorie, eine wissenschaftlich fundierte Musiktheorie, die ihren Namen verdient, ... gibt es indessen noch nicht." (Martin Vogel, Die Lehre von den Tonbeziehungen, Bonn 1975, S. 358)

    Vorwort

    Harmonie, Rhythmus und Melodie sind die drei grundlegenden Wesensmerkmale unserer heutigen Musik, die meist in einem Atemzug genannt werden. Dass sie nur zufällig in der Musik zusammenträfen, wird daher niemand ernsthaft behaupten wollen. Dennoch findet man bisher nirgends eine Darstellung der Musik, die den Nachweis für die notwendige Zusammengehörigkeit dieser drei ästhetischen Charaktereigenschaften erbringt und die musikalischen Begriffe entsprechend entwickelt. Stattdessen werden Harmonik, Rhythmik und Melodik in Musiklehren als Teilgebiete nebeneinander gestellt, die keinerlei inneren Zusammenhang erkennen lassen. Dies ist symptomatisch für einen Zustand der Musikwissenschaft, auf den noch immer das zutrifft, was bereits im 19. Jahrhundert über die Bemühungen um ihre theoretische Fundierung bemerkt worden ist:

    „Alle Versuche der Art sind bis jetzt nicht im stande gewesen, ein wirklich haltbares wissenschaftlich-musikalisches System, nach welchem durch ein Grundprinzip alle Erscheinungen im musikalischen Gebiete als stets notwendige Folgerungen sich dargestellt finden, zu schaffen ... Was aber in musikalischen Lehrbüchern von wissenschaftlicher Begründung niedergelegt ist, hat sich bisher nicht bewährt, weil es teils ... ebensowenig im stande war, ein in sich abgeschlossenes System mit zweifellosen Folgerungen zu schaffen, teils als phantastisches Gebilde aller wissenschaftlichen Grundlage entbehrte." ¹

    Das vorliegende Buch über die tonale Musik und die Gesetze ihrer Schönheit ist hervorgegangen aus dem 1980 begonnenen Projekt, eine alte Forderung endlich einmal einzulösen und die musikalischen Grundgestalten systematisch und in sich schlüssig darzustellen. Der Leser soll nunmehr Auskunft darüber erhalten, was harmonische, rhythmische und melodische Strukturen gemeinsam haben, worin sie sich unterscheiden und wie sie innerlich zusammenhängen. Dass eine solche Analyse auch ein paar überraschende Ergebnisse erbringt, liegt in der Natur eines Vorhabens, das sich nicht mit dem bisherigen Erkenntnisstand der Musikwissenschaft zufrieden geben wollte. Der Leser ist also herzlich eingeladen, eine ganze Reihe von ungewohnten Feststellungen und Schlussfolgerungen auf ihre Stichhaltigkeit hin zu überprüfen.


    ¹ Ernst Friedrich Richter, Lehrbuch der Harmonie, Leipzig 1886, Vorwort zur ersten Auflage (von 1853)

    I. Harmonik

    1. Konsonanz

    a) Harmonie der einfachen Konsonanz

    Die tonale Musik ist Musik auf harmonischer Grundlage. Den Schlüssel zu ihrer Ästhetik liefert die Analyse der Dur- und Mollklänge, der Grundklänge der tonalen Musik. Es wird sich dann im Fortgang der Untersuchung herausstellen, wie auf der Harmonie dieser beiden Klangfiguren jegliche Harmonik, Rhythmik und Melodik der tonalen Musik aufgebaut ist.

    Dur- und Mollklänge

    Dur- und Mollklänge sind Dreiklänge, deren Töne miteinander harmonieren. Charakteristisch für diese Dreiklänge sind die Verhältnisse zwischen den drei Tönen, die Grundton, Terz und Quinte heißen. Nur wegen und innerhalb dieser Verhältnisse fungieren Töne als Grundton, Terz oder Quinte. Es ist daher durchaus sachgemäß, dass die Töne Terz und Quinte nach ihrem Verhältnis zum Grundton benannt sind, der seinerseits ohne diese Verhältnisse kein Grundton wäre.

    Das Verhältnis zwischen den Tönen Terz und Quinte ist wiederum eine Terz. Jeder Dur- oder Mollklang enthält in seiner Grundform eine kleine und eine große Terz, die sich zu einer Quinte ergänzen. Beim Durklang liegt die große Terz unten, beim Mollklang oben. Beiden Klangformen gemeinsam ist eine besondere Harmonie, die man Konsonanz nennt. Das Wesen dieser Harmonie soll nun geklärt werden.

    Die Harmonie der Dur- und Mollklänge hängt offensichtlich mit den charakteristischen Schwingungsverhältnissen zusammen, die sich an diesen Klängen feststellen lassen:

    Tonfrequenzen bei zwei Dreiklängen

    Die Frequenzverhältnisse in diesen Klängen sind:

    Die mathematischen Verhältnisse zwischen den Frequenzen harmonierender Töne sind beim Instrumentenbau von Interesse, wo diese Proportionen im Hinblick auf die Abmessungen von Hohlräumen oder Saiten berücksichtigt werden müssen. Eine Orgelpfeife zum Beispiel muss um so länger sein, je tiefer ihr Ton und je kleiner daher die zugehörige Tonfrequenz ist. Die Bünde an einem Gitarrenhals müssen so angebracht sein, dass zwei Töne, die sich wie Grundton und Quinte zueinander verhalten, auf derselben Saite gespielt werden können, weil sich die Längen der zum Schwingen gebrachten Saitenteile wie 2:3 verhalten. Da die Länge einer schwingenden Saite umgekehrt proportional zur Anzahl der pro Sekunde ausgeführten Schwingungen ist, haben die für harmonierende Töne maßgeblichen Zahlenverhältnisse eine anschauliche Erscheinungsform. Es ist daher kein Wunder, dass die Proportion 2:3 als Längenverhältnis von Saitenteilen längst vor der Kenntnis von Tonfrequenzen, nämlich schon im Altertum bekannt war.

    Die im Zusammenhang mit Dur- und Mollklängen beobachtbaren quantitativen Verhältnisse – die Proportionen 3:2, 5:4 und 6:5 – kennzeichnen jedoch nur die äußeren Verhältnisse zwischen den Tonfrequenzen. Die Frage nach dem harmonischen Charakter dieser Klangverhältnisse ist damit noch keineswegs beantwortet. Harmonie als Kennzeichnung dessen, was beim Erklingen von Dur- und Mollkängen wahrgenommen wird, meint nämlich ein inneres Verhältnis der jeweils zusammenklingenden Töne: ein Verhältnis, worin die Töne zusammenpassen.

    Die Grundlage dafür, dass Wahrnehmungsinhalte zusammenpassen – und darum geht es übrigens bei jeglicher Ästhetik –, liegt stets in der Eigenart dieser Dinge. Im Falle des Dur- und Mollklanges sind es offenbar die Töne selbst, die etwas an sich haben, worin sie übereinstimmen können. Die Beschaffenheit der Töne ist also näher zu betrachten.

    Ein Ton mit einer Frequenz von 500 Hz schwingt definitionsgemäß 500 mal in einer Sekunde, also einmal in zwei Millisekunden. Auf einem Oszillographen erscheinen diese Schwingungen zum Beispiel folgendermaßen:

    Vier Schwingungen eines Tons von 500 Hz

    Regelmäßige Schwingungen sind, wie der Physiker und Mathematiker Jean Baptiste Fourier ganz allgemein nachgewiesen hat, aus einfachen Sinusschwingungen zusammengesetzt. In der Musik spricht man von den Teiltönen eines Tons.² Eine einzelne Schwingung der obigen Form besteht aus vier Teiltönen:

    Überlagerung von Teilschwingungen

    Während der erste Teilton eine Schwingung ausführt, vollführt der zweite zwei, der dritte drei und der vierte vier Schwingungen. Entsprechend schwingen die Teiltöne in der Grundfrequenz, der doppelten, dreifachen und vierfachen Frequenz. Durch Überlagerung der Schwingungen ergibt sich eine Gesamtschwingung der dargestellten Form.

    In der Abbildung ist nur ein einfaches Beispiel gewählt. Musikalische Töne sind gewöhnlich aus sehr viel mehr Teiltönen zusammengesetzt, so dass auch der fünfte, sechste, siebte usw. Teilton mitklingt, also eine ganze Reihe von Teiltönen, deren Frequenz jeweils ein ganzzahlig Vielfaches der Grundfrequenz ist. Die einzelnen Teiltöne können dabei mehr oder weniger stark bzw. laut mitschwingen, so dass sich verschiedene Schwingungsformen ergeben, die wir als besondere Klangfarbe an den Tönen wahrnehmen. Mit Hilfe der Fourier-Analyse kann man feststellen, wie stark die einzelnen Teiltöne im Klang eines Tons enthalten sind. Man erhält so das charakteristische Klangspektrum eines Tons, worin dargestellt ist, bei welcher Frequenz eine Schwingung stattfindet und in welcher Lautstärke.

    Klangspektrum eines Geigentons von 440 Hz

    Der Klang eines Tons ergibt sich aus seiner inneren Zusammensetzung. Dass ein Ton immer Klangcharakter hat, ist einerseits ziemlich natürlich, da mechanische Schwingungen schon aus physikalischen Gründen ein mehr oder weniger ausgeprägtes Klangspektrum besitzen. Der Reichtum der musikalischen Töne an Teiltönen ist andererseits schon weniger natürlich, denn er ist das Ergebnis eines ausgeklügelten Instrumentenbaus. Die Klangfülle der Töne wird durch verschiedenste Techniken zuwege gebracht: durch die Positionierung des Geigenbogens beim Streichen über die Saite, durch Resonanzkörper, durch Koppelung von Orgelregistern usw. Der Klang wird in der Musik eben um seiner selbst willen kultiviert, er ist zum Objekt des Genusses ausgestaltet.

    Die Beschaffenheit der Töne, durch die sie zum Harmonieren prädestiniert sind, lässt sich also so zusammenfassen: Es handelt sich um klangvolle Töne, insofern sie aus einer ganzen Reihe von Teiltönen zusammengesetzt sind. Auf die Besonderheit der Klangfarbe kommt es bei der Harmonie offensichtlich nicht an. Man kann den klangvollen Ton daher schematisch darstellen, indem man von der Schallintensität der einzelnen Teiltöne abstrahiert:

    Schematisches Klangspektrum des klangvollen Tons

    In dieser Darstellung sind die Frequenzen logarithmisch skaliert. Dies hat den Vorteil, dass gleiche Frequenzverhältnisse als gleiche Abstände erscheinen, wie es der Vorstellung der Musiker am nächsten kommt, die diese Sichtweise von der Notenschrift, der Tastatur des Klaviers usw. gewohnt sind.

    Vergleicht man die Klangspektren zweier Töne, deren Frequenzen sich wie 3:2 verhalten, so kann man feststellen, dass jeder zweite Teilton des oberen Tons in der gleichen Frequenz schwingt wie jeder dritte Teilton des unteren Tons.

    Konsonanzschema der Quinte

    Die beiden klangvollen Töne haben also zusammenfallende Teiltöne. Im Zusammenklang der Töne überlagern sich die Schwingungen der gemeinsamen Teiltöne jeweils zu einer Teilschwingung, bei der auch die Fourier-Analyse nicht angeben kann, welchem Ton welcher Anteil an der Schallintensität eines Teiltons angehört. Nur in der schematischen Trennung der Töne wird der unterschiedliche Ursprung des betreffenden Teiltons verdeutlicht.

    Nun zeigt sich, inwiefern die beiden Töne einer Quinte harmonieren: Sie passen als klangvolle Töne zusammen aufgrund einer Übereinstimmung ihrer Klangteile. Dieser Effekt soll einfache Konsonanz heißen.³

    Das Harmonieren klangvoller Töne ist dabei, wie gesagt, unabhängig von der besonderen Klangfarbe der Töne. Im Klangspektrum von Tönen können daher einzelne Teilschwingungen völlig fehlen, ohne dass dies den Effekt der Konsonanz schmälert. Dies gilt zum Beispiel für die Klarinette, die keine geradzahligen Teiltöne im Klangspektrum ihrer Töne hat. Die Koinzidenz von Teiltönen schließt auch den Fall ein, dass die Teilschwingung eines Tons auf einer Frequenz liegt, die bloß ein Vielfaches der Grundfrequenz eines andern Tones ist. Dass diesem andern Ton an der betreffenden Stelle ein Teilton fehlt, ist für das Ohr kein Grund, die prinzipielle Zuordnung von Schwingungen zu einer Grundschwingung zu ignorieren. Die gehörte Schwingung hat daher Teiltoncharakter für beide Töne auch dann, wenn sie von ihrer Entstehung her gesehen nur einem der beiden Töne angehört. Einfache Konsonanz ist also genau genommen die Harmonie von Zusammenklängen, in denen Schwingungen vorkommen, die für die zusammenklingenden Töne gleichermaßen Teiltoncharakter haben.

    Dass Teiltöne unter Umständen subjektiv wahrgenommen werden können, obwohl sie objektiv nicht vorhanden sind; dass bei entsprechender Eingewöhnung der Ohren auch Verhältnisse zwischen Sinustönen – selbst bei gesonderter Darbietung in Kopfhörern – für Konsonanz gehalten werden können; dies alles widerlegt nicht den Begriff der Konsonanz, sondern belegt allenfalls die Anfälligkeit der Wahrnehmung für Täuschungen, die unter Mitwirkung anderer Geisteskräfte wie Gedächtnis, Vorstellungskraft, Verstand und Interesse zustande kommen können.

    Vergleicht man die Schemata verschiedener Konsonanzen, so kann man feststellen, dass das Ausmaß der Koinzidenz der Teiltöne durch das Verhältnis der Gesamtschwingungen der Töne ausgedrückt werden kann: Bei der Quinte entspricht das Schwingungsverhältnis 3:2 einer Harmonie, bei der jeder zweite Teilton des einen Tons mit jedem dritten des andern zusammenfällt. Das Frequenzverhältnis der großen Terz (5:4) korrespondiert mit einer Harmonie, bei der jeder fünfte Teilton des einen Tons mit jedem vierten des andern zusammenfällt.

    Konsonanzschema der großen Terz

    Die auffallenden Zahlenverhältnisse, die für harmonische Zusammenklänge charakteristisch sind und die sich demgemäß an den Längenproportionen schwingender Saiten oder Luftsäulen ablesen lassen, haben also ihren Grund im Klangaufbau der Töne. Die Proportionen, die in den äußeren Verhältnissen der Töne beobachtet werden können, sind die notwendige Erscheinung eines inneren Verhältnisses, das die klangvollen Töne aufgrund ihrer inneren Struktur haben. Nicht in den Zahlenverhältnissen liegt das Wesen der Harmonie, sondern im Zusammenpassen der Töne auf Basis ihres Klangcharakters.

    Der Unterschied im Maß des Harmonierens, der an den Konsonanzschemata abgelesen werden kann, wird beim akustischen Vergleich der Tonverhältnisse intuitiv empfunden. Da die stärkere oder schwächere Harmonie der zusammenklingenden Töne mit der Proportion ihrer Frequenzen zusammenhängt, die leicht zu ermitteln ist, entsteht der Anschein, als ob die Frequenzverhältnisse selbst einen harmonischen Charakter hätten. Die theoretische Vertiefung dieser Verwechslung landet denn auch konsequent bei der Zahlenmystik, die sich dem Glauben widmet, die einem Zusammenklang immanente Harmonie der Töne sei eine Eigenschaft der zugehörigen äußeren Zahlenproportionen.

    In der Harmonie eines Dur- oder Mollklangs fasst sich die Konsonanz von Quinte und Terzen zusammen:

    Konsonanzschema von Dur- und Mollklang

    Die bloße Zusammenfassung der Konsonanzen im Dreiklang verstärkt den Effekt der einfachen Konsonanz. Denn der Zusammenklang von zwei Konsonanzen schließt automatisch eine dritte Konsonanz ein, deren Harmonie somit als Gratisgabe hinzukommt. Dies gilt für Dur und Moll gleichermaßen. Die schematische Darstellung ihrer Konsonanz zeigt allerdings auch einen spezifischen Unterschied in der harmonischen Struktur von Dur und Moll.

    Beim Durklang erstrecken sich die Koinzidenzen von Teilschwingungen über mehr Frequenzen als beim Mollklang. Dies liegt zum einen daran, dass diese Koinzidenzen beim Durklang breiter gestreut sind, während sie beim Mollklang mehr auf Frequenzen konzentriert sind, an denen alle drei Töne gemeinsame Teilschwingungen haben. Zum andern gibt es im Durklang insgesamt mehr Übereinstimmung. Innerhalb der oben dargestellten Bandbreite hat der Durklang zwölf mal gemeinsame Teilschwingungen, wo der Mollklang nur zehn solche Koinzidenzen aufweist. Dieser harmonische Unterschied ist die Grundlage dafür, dass Musiker Dur und Moll intuitiv vom Klang her unterscheiden können. Auch die größere Konsonanz des Durklangs wird beim akustischen Vergleich bemerkt.

    Der konsonante Dreiklang perfektioniert das Prinzip der Harmonie, die in seinen Komponenten, den konsonanten Zweiklängen, enthalten ist. Für Quinte und Terzen folgt daraus, dass ihre eigentliche harmonische Potenz in ihrer Bestimmung als untergeordnete Momente in der Harmonie des konsonanten Dreiklangs zur Geltung kommt. Ihre harmonische Rolle in der tonalen Musik ist ganz entsprechend: Die Quinte ist ein Klang, der nur in den Klangverhältnissen von Dur und Moll Bestand hat. Sie ist in der einen oder anderen Weise durch Terzen unterteilt. Ebenso sind große und kleine Terzen keine selbständigen Harmonien, sondern jeweils Bestandteil entweder eines Dur- oder eines Mollklangs.

    b) Zusammengesetzte Konsonanz

    Der Musiker unterscheidet die Grundform eines Dur- oder Mollklangs von den übrigen Formen, bei denen einzelne Töne um eine oder mehrere Oktaven versetzt erklingen oder durch entsprechende Töne ergänzt sind. Diese Unterscheidung ist maßgeblich für die praktische Handhabung der Harmonien in der tonalen Musik.

    Grundform, Umkehrungen und erweiterte Formen des C-Dur-Klangs

    Alle diese Klänge heißen C-Dur, obwohl sie durchaus verschieden sind: Es klingen darin Töne von unterschiedlicher Anzahl und Höhenlage zusammen. Andererseits handelt es sich hierbei nicht um eine zufällige Namensgleichheit, wie sie etwa bei Personen gegeben ist, die alle Paul heißen. Vielmehr geht es hier um eine sachgerechte Zusammenfassung von Klängen unter einem Sammelbegriff. Die Redeweise vom C-Dur-Klang beruht also darauf, dass aufgrund einer tatsächlichen Gemeinsamkeit dieser Klänge von deren Unterschieden abstrahiert wird. Wovon aber wird abstrahiert und was ist die Gemeinsamkeit all dieser Klänge?

    Zunächst einmal klingen alle diese Klänge sehr ähnlich. Insofern ist die Gemeinsamkeit der Formen eines Dur- oder Mollklangs ihre Zugehörigkeit zu einer Familie von Klängen, die sich beim Anhören nur wenig unterscheiden. Diese Gemeinsamkeit, die der Musiker intuitiv erfasst, liegt jedoch auf der Ebene der unmittelbaren Erscheinung und begründet noch keine begriffliche Abstraktion, die gegenüber Irrtümern und Wahrnehmungstäuschungen Bestand haben kann. In der Biologie zum Beispiel ist die äußerliche Ähnlichkeit von Tierarten zwar Ausgangspunkt einer ersten Klassifikation, aber nicht auch schon der Weisheit letzter Schluss. So sind Wale allem Anschein zum Trotz keine Fische, sondern Säugetiere.

    Wenn Musiker einen Dur- oder Mollklang unabhängig von seiner besonderen Erscheinungsform identifizieren, so abstrahieren sie von einem Unterschied, der in der Tat nur eine harmonische Nuance darstellt. Es handelt sich um jenen Unterschied, der sich bemerkbar macht, wenn man in einem Zusammenklang einen Ton durch einen anderen ersetzt oder ergänzt, der eine oder mehrere Oktaven höher oder tiefer liegt. Das Klangverhältnis der Oktave stiftet offensichtlich von Haus aus keine wesentlichen harmonischen Unterschiede.

    Konsonanzschema der Oktave

    Im Zusammenklang erscheint die Oktave als Zweiklang von unübertrefflicher Konsonanz, weil der komplette Klang des oberen Tons mit dem halben Klang des unteren Tons zusammenfällt. Was sich im harmonischen Vergleich als Ähnlichkeit darstellt, ist dasselbe, was in der Wahrnehmung des Zusammenklangs als besonders starke Harmonie erscheint: die Übereinstimmung der Klänge in den Frequenzen ihrer Teiltöne. Bei der Realisierung von Dur- und Mollklängen und demgemäß in der ganzen Harmonik, die auf Dur und Moll aufgebaut ist, wird also von der Harmonie der Oktave abgesehen.

    Die Vernachlässigung der Oktave in der Bestimmung von Dur- und Mollklängen ist der Sache nach allerdings keine Missachtung der Oktave, sondern ihre Berücksichtigung. Die musikalische Behandlung der Oktave entspricht ganz ihrer harmonischen Eigenart. Dass aus der Oktave nur eine unwesentliche harmonische Differenz hervorgeht, ist ja nur die andere Seite eines Superlativs der Konsonanz. Die Bedeutungslosigkeit der Oktave in der Sphäre, in der es um die harmonische Identität der Klänge geht, ist die Form, in der ihre absolut beherrschende Stellung in der Harmonik der tonalen Musik zur Geltung kommt. Insofern ist die Oktave prinzipiell eingeschlossen in der Harmonik der Dur- und Mollklänge oder, was dasselbe ist, im Wesen der Konsonanz.

    Was auf die Dur- und Mollklänge insgesamt zutrifft, gilt auch für ihre Komponenten, die Terzen und Quinten. Auch diese sind abstrakt aufzufassen und ihrem harmonischen Wesen nach festzuhalten gegen ihre besonderen Erscheinungsformen:

    Umkehrung der Quinte und der großen Terz

    Die Quarte (4:3) ist harmonisch dasselbe wie die Quinte (3:2), und die kleine Sexte (8:5) dasselbe wie die große Terz (5:4), wie bereits Rameau bemerkte.⁵ Der Grund liegt offensichtlich in der Harmonie der Oktave, die das Klangbild von Quarte und Sexte bestimmt. Die Harmonie der solchermaßen abgewandelten Formen von Quinte und Terzen soll daher zusammengesetzte Konsonanz heißen.

    Die Quarte als zusammengesetzte Konsonanz

    Die gestrichelten Linien im Konsonanzschema der Quarte kennzeichnen einen gedachten Ton, der mit dem oberen Ton der Quarte eine Oktave, mit dem unteren eine Quinte bildet. Sie verdeutlichen den Vermittlungsschritt zur harmonischen Konstitution der Quarte. Die Harmonie der Quarte ist nicht auf die unmittelbare Koinzidenz der Teiltöne in diesem Zusammenklang reduziert, sondern vereinigt die Harmonie von Oktave und Quinte in sich:

    4:3 = (2:3)·(2:1)

    Die praktische Gleichsetzung der verschiedenen Formen von Dur- und Mollklängen lässt also einen Schluss zu auf die spezifische Leistung der musikalischen Wahrnehmung, Klangverhältnisse intuitiv in ihre einfachen Bestandteile zu zerlegen.

    Wollte man das, was die Quarte ist und was der Musikhörer an ihr wahrnimmt, adäquat darstellen, so könnte man das Schwingungsverhältnis in der Form 22:3 schreiben. Es ist dies aber auch nur eine mathematische Bebilderung der zusammengesetzten Konsonanz auf der Ebene der äußeren Frequenzverhältnisse. Auf dieser Ebene ist die Konsonanz ohnehin nicht zu fassen, und die Formel

    3:2 = 4:3

    erscheint als mathematischer Unsinn. Entsprechend erscheint in den Schwingungsverhältnissen der Unterschied zwischen einfacher und zusammengesetzter Konsonanz ausgelöscht. Theoretiker, welche die äußere Erscheinung der Harmonien mit ihrem Wesen verwechseln, siedeln die Quarte

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